365 40 2MB
German Pages 355 [356] Year 2020
Jens Petersen Machiavellis Gesetzgebungslehre
Jens Petersen
Machiavellis Gesetzgebungslehre
Professor Dr. iur. Jens Petersen, Universität Potsdam
ISBN 978-3-11-063952-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064314-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063977-3 Library of Congress Control Number: 2020936979 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsübersicht Einleitung
1
14 § Gesetze und Einrichtungen I. Die D i s c o r s i als Werk der Renaissance 14 . Rückbesinnung auf den Geist der Antike 14 15 . Perspektivwechsel auch im Blick auf Recht und Gesetz a) Zwang der äußeren Notwendigkeit als Handlungsmotiv 16 16 aa) Ironie der Geistesgeschichte bb) Anschein der Sittlichkeit 17 cc) Berufung auf die Moralphilosophen 20 21 dd) Selbstverpflichtung zur Gesetzgebungslehre b) Gesetzesverständnis und transnationale Perspektive 22 c) D i s c o r s i und P r i n c i p e im Hinblick auf die 24 Gesetzgebung aa) Zusammenhang zwischen gutem Heerwesen und guten 24 Gesetzen bb) Nachrangige Berücksichtigung der Gesetze im 25 Principe d) Mangel an Urteilskraft als anthropologische Konstante 28 aa) Menschliche Unzufriedenheit mit dem 29 Gegenwärtigen bb) Unvernünftigkeit grundloser Heilserwartungen 29 cc) Faktische und immanente Grenzen der Willensfreiheit 30 . Gesetze vor dem Hintergrund anthropologischer Grunderfahrungen 32 a) Unterschwelliger taciteischer Einfluss 33 b) Negatives Menschenbild 35 aa) Schlechtigkeit des Menschen als Grund der 36 Gesetze bb) Gesetze zum Schutz vor Verleumdungen 39 c) Rechtssicherheit durch gerichtsförmige Entscheidung 40 d) Verhaltenssteuernde Wirkung von Gesetzen und Einrichtungen 41 . Gesetze als Instrumente im Ständekampf 43 a) Gesetze in Rom und Florenz 44 aa) Gesetz versus Gewalt 44
VI
Inhaltsübersicht
bb) Gesetzliche Lösung um den Preis der Rechtsgleichheit 47 cc) Vermittlung durch Gesetz versus gesetzliche 48 Siegerjustiz dd) Weiser Gesetzgeber in der G e s c h i c h t e v o n Florenz? 50 51 b) Gesetze und Ungerechtigkeiten in Florenz c) Machiavellis Gerechtigkeitssinn im Vergleich mit 52 Dantes . Zersetzung des Rechts durch Denunziationen 55 a) Machiavelli als Leser des Tacitus? 56 57 b) Originäre Einsichten am Beispiel der Lektüre des Livius II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum 58 . Zeitlich-dynamisches Gesetzesverständnis 59 59 a) Berücksichtigung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten aa) Veränderung der historischen Perspektive 59 bb) Entscheidung von Privatrechtsstreitigkeiten nach 61 Präzedenzfällen b) Privatrechtsgeschichte als Erfahrungsraum 61 62 . Berücksichtigung geographischer Gegebenheiten a) Dezentrale Gesetzgebungsautonomie und Nachahmung weiser 63 Gesetzgeber b) Abhängigkeit der Gesetze von räumlich-klimatischen Verhältnissen 65 c) Zeitgeschichtlicher Horizont des Gesetzesverständnisses 66 III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit 68 68 . Gesetz zur Gefahrenabwehr a) Weiser Gesetzgeber versus evolutionäres Rechtsverständnis 69 b) Gefahr als Anfangsgrund aller Gesetzgebung 71 aa) Druchbrechung der Gewohnheit und Gesetzeserlass 71 72 bb) Entartung der Herrschaftsformen . Entstehung der Gerechtigkeit 73 74 a) Kein Gesellschaftsvertrag 76 b) Nachahmung zur Selbsterhaltung IV. Kreislauf der Regierungsformen 77 . Wandel der Erscheinungsform der Gerechtigkeit 78 a) Gerechtigkeit als Attribut der Klugheit 78 b) Gerechtigkeit unter der Bedingung guter Regierung 80
Inhaltsübersicht
V.
VII
. Gerechtigkeit als Gleichgewichtszustand 81 a) Gleichgewicht ohne Rechtsgleichheit 82 83 b) Zyklentheorie in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z c) Die G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z als Komplement der Discorsi 84 85 . Übergang der Herrschaftsformen und ihre Entartungen 88 . Perspektivwechsel des Rechtsdenkens a) Anerkennung einer ‚civilità‘ 88 90 b) Angedeutete Rechtsgleichheit c) Zeitenwende im Rechtsverständnis 92 . Demokratie und Entwicklungsgesetz 93 94 a) Einbeziehung der Sterblichkeit b) Berücksichtigung des Erfahrungswissens 94 . Vorzugswürdige Mischformen 96 96 a) Informationsteilung und Erfahrungsaustausch b) Zusammengesetzte Regierungsformen als Zeugnis weiser 97 Gesetzgebung Kontingenz und Relativität des Rechts 98 . Zufall im Rahmen der Staatsbegründung 98 a) Abhängigkeit der Staatsverfassung von der Belegenheit des 99 Ortes 101 b) Geschichtlicher Zufall als Faktor der Gesetzgebung . Neuzeitliches Rechtsverständnis 102 a) Abhängigkeit der Gesetzgebung von den 103 Standortfaktoren b) Wettstreit um Freiheitsrechte als Grund guter Gesetze 104 . Gesetze als Erziehungsmittel zur Freiheit 106 a) Nachahmung als konstitutives Merkmal der Staatsordnung 107 108 b) Sittenbildende Gesetze . Gesetze als freiheitsfördernde Handhabe gegen Willkürakte 111 a) Gesetze als Rechtsschutz und Rechtsgrundlage für Anklagen 111 112 b) Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols 113 . Legitimation von Morden rivalisierender Gesetzgeber a) Moralfreie Bewertung des Brudermordes 114 aa) Verteilung der Befugnisse als Legitimation? 114 bb) Vorwand des Gemeinwohls und Verbrämung der Herrschsucht 116
VIII
Inhaltsübersicht
b) Vorbild guter Gesetzgeber 117 c) Kainsmal seiner Gesetzgebungslehre
118
120 § Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht 120 120 . Gesetzliche Immunisierung des Gemeinwesens 120 a) Gesetzliche Gegenmittel b) Mindestzahl der Richter 122 123 c) Unabhängigkeit der Rechtsprechung . Unentbehrlichkeit religiöser Einrichtungen 123 a) Einschüchterung der Gläubigen im Interesse der 125 Staatserhaltung aa) Aufrechterhaltung des Scheins 126 bb) Täuschung und Sinneswahrnehmung 127 cc) Eintracht der Republik durch Schürung der Gottesfurcht 129 130 b) Herrschsucht innerhalb religiöser Institutionen aa) Hypothetische Betrachtungsweise 131 bb) Kritik religiöser Institutionen 132 c) Gesetzesverletzung und Berufung der Gesetzgeber auf 133 Gott aa) Verbindungslinie von Religions- und Rechtssoziologie 134 bb) Berufung des Gesetzgebers auf die Religion 134 135 II. Gerechtigkeit und Frieden . Recht auf Meinungsfreiheit in den Grenzen der Achtung der Religion 135 137 . Generalpräventiv ausgerichtete Gesetzgebung . Herrschsucht der Mächtigen und Freiheitsbedürfnis des Volkes 138 . Zufallsbedingte Formierung der Gesellschaftsordnung 139 . Einrichtung gesetzlicher Institutionen als Sicherheitsgarantie 140 . Bindung des Herrschers an die Gesetze 142 142 a) Herstellung des Gleichgewichts 143 b) Praktische Konkordanz . Gerechtigkeitsgefühl des Volkes und Kraft der öffentlichen Meinung 144 III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit 145 . Grenzenloser Ehrgeiz als anthropologische Konstante 146
Inhaltsübersicht
IX
. Ungleichheit als Nährboden für den Verlust der Freiheit 147 a) Gesetzesanpassung bei Verfestigung der Ungleichheit 147 b) Sittenverbesserung durch rigorose 149 Gesetzesanwendung c) Durchbrechung der Rechtsgleichheit 150 . Regionale Rechtschaffenheit nach Maßgabe handelspolitischer 150 Präferenzen a) Institutionen und Gesetze als Ausdruck der 151 Gerechtigkeitsvorstellungen b) Landestypische Besonderheiten 152 c) Langlebigkeit der Gebräuche und Sitten 153 155 . Prinzipielle Gleichheit als Bedingung der Republik a) Angestammte Gleichheit als Indiz für die Staatsform der Republik 156 156 b) Maßregelung des Ehrgeizes durch die Gesetze . Unvererblichkeit der Weisheit des Gesetzgebers 158 158 a) Beschränkte Lebensdauer des weisen Gesetzgebers b) Solons Gesetzgebung 159 IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen 160 160 . Beständige Einrichtungen und wandelbare Gesetze 161 a) Wechselbezüglichkeit von Gesetzen und Sitten 161 b) Anpassungsbedürftigkeit der Gesetze . Wirkungslosigkeit der Gesetze 162 a) Einbringung von Gesetzesvorschlägen 163 b) Gesetzgebungsvorschläge in der G e s c h i c h t e v o n Florenz 164 aa) Überraschende Einbringung eines revolutionären 165 Gesetzes bb) Gescheiterte Gesetzesreform 166 167 c) Ungeeignete Gesetze zur Besserung der Menschen d) Gesetze gegen Zügellosigkeit 168 V. Geschichtliche Gesetzmäßigkeiten 170 170 . Geschichte als magistra vitae . Ambivalente Einschätzung des Volkes 171 172 a) Allgegenwärtige Angst des Volkes vor Strafe 173 b) Gesetzliche Gratifikationen VI. Gesetzgebung und Bindung 174 . Gesetze als Heilmittel nach Maßgabe der Geeignetheit und Erforderlichkeit 175 . Antizipative Sicherung von Rechtspositionen 177
X
Inhaltsübersicht
. Notstandsgesetzgebung 178 . Legislatorische Selbstbeschränkung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 179 a) Repressives Gesetzesverständnis trotz Selbstbindung öffentlicher Gewalt 179 b) Bindung des Gesetzgebers an die selbstgeschaffenen 179 Gesetze c) Gesetzliche Selbstbeschränkung und zwangsweiser 180 Befehl . Zwischenergebnis 181 VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft 182 182 . Rückwirkung von Gesetzen a) Gesetze mit Tendenz zur Umverteilung 183 b) Erschüttertes Vertrauen in die Gesetzgebung 184 185 . Revolutionäre Umverteilung durch Gesetze a) Ackergesetz als Zankapfel 186 aa) Rückführung der Gesetzeszwecke auf anthropologische 186 Grunderfahrungen bb) Gesetzeseinbringung und Gesetzesumgehungen 187 cc) Aufrechterhaltung des Freistaats durch Streit in 188 gesetzlichen Bahnen 190 b) Gesetzgeberische Zurückhaltung c) Besitzverhältnisse als Ursache von Umwälzungen 192 aa) Gesetzwidrige Umverteilungen im alten Rom 193 195 bb) Erosion des Rechtsbewusstseins . Gesetze zur Erhaltung der Freiheit 196 a) Eigennutz im Rahmen der Gesetzgebung 197 197 b) Wehrhaftigkeit der Gesetze . Gesetzesbindung 198 201 . Gerechtigkeitsempfinden des Volkes a) Politische Wirksamkeit der öffentlichen Meinung 201 b) Gesetzgebung und Wissenszusammenrechnung 202 aa) Gesetzgebung und Aufrechterhaltung der Ordnung 203 bb) Einbeziehung der Gesetzgebung anderer 204 Rechtsordnungen . Gesetze als Bedingung konstanter Herrschaft 204
Inhaltsübersicht
XI
§ Gesetzgebung und Machtausübung 206 I. Rückbesinnung auf die Freiheit 206 206 . Gesetze zur Bändigung von Neid und Angst a) Vergangenheit und Gegenwart im werkimmanenten Zusammenhang 207 209 b) Gesetzgebung und Selbstgerechtigkeit der Richter 210 c) Rechtstraditionen und Lebensformen im Vergleich d) Gute Gesetzgebung als Ausweg 211 212 . Freiheit und Religion a) Passive Heilserwartung versus virtú 213 b) Religiöses Fehlverständnis als Ursache des Rückgangs der 214 Freistaaten c) Religion, Sprache und Machtentfaltung 215 d) Religionssoziologie avant la lettre 216 217 . Freiheit, Bevölkerungspolitik und Privateigentum a) Ursachenforschung nach dem Wohlstand der Nationen 217 218 b) Bevölkerungspolitik und Gesetzgebung c) Zweifelhafte Analogien zur Natur 220 aa) Irrationale Angst vor der Überbevölkerung 220 bb) Gesetze der Natur und vorgesetzlicher 221 Naturzustand 223 . Herrschaft der Steuergesetze und Abgabengerechtigkeit a) Steuerreform nach Leistungsfähigkeit in der G e s c h i c h t e von Florenz 223 224 b) Gleichmäßigkeit der Besteuerung c) Revolutionäre Rückwirkung der Steuergesetze 225 aa) Besteuerung von Anlage- und Umlaufvermögen 227 bb) Symmetrische Gegenrede anhand der Gesetzeszwecke 227 cc) Dialektik der Gesetzgebung oder verderblicher 228 Mittelweg? dd) Scheitern des Gesetzes an den Machtverhältnissen 230 ee) Herrschaft der Gesetze im Steuerrecht 231 II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und 232 Herrschens . Rechtsfrieden trotz imperialistischer Grundgesinnung 233 . Belassung der Gesetze zugunsten der Unterworfenen 234 a) Gesetzesrelativismus 235 b) Gesetzesgestattung als Trugbild der Freiheit 236
XII
Inhaltsübersicht
c) Gesetzespragmatismus 238 d) Widerspruch zwischen D i s c o r s i und P r i n c i p e ? 239 e) Fortgeltung der Gesetze und Abgabenverpflichtungen zur 241 Erhaltung der Herrschaft . Gesetzeszynismus? 241 a) Kompromisslosigkeit gegenüber den 242 Rechtsunterworfenen b) Gewährung von Freiheit und Recht auf Widerruf 245 245 aa) Absage an die aristotelische Mesotes-Lehre bb) Abhängigkeit des Wahren und Rechten von der Durchsetzbarkeit 246 246 c) Rechtsdenken und Rangdenken III. Gerechtigkeit und Klugheit 248 . Gerechtigkeitsgefühl und erlittene Ungerechtigkeiten 248 a) Wirkungslosigkeit der Gesetze gegen Einflussnahmen Privater 249 250 b) Funktion der Einrichtungen neben den Gesetzen . Vorsichtiges Rechtsdenken und Subsidiaritätsprinzip 251 . Zurückhaltung des Gesetzgebers durch Dezentralisierung und Subsidiarität 253 . Zwischenergebnis: Gesetze als Instrumente des 254 Machterhalts § Herrschaft der Gesetze 255 255 I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung . Immunisierung der Gesetze gegen Verfallserscheinungen 256 a) Virtú des Einzelnen in den D i s c o r s i und der G e s c h i c h t e 257 von Florenz aa) Gesetze als ‚Ordonnanz der Gerechtigkeit‘ 257 259 bb) Verfall der Gesetze und Fall des Einzelnen () Beharrungskräfte eines reformunwilligen Klientelsystems 260 () Wirkungslosigkeit neuer Gesetze gegenüber alten Einrichtungen 261 b) Selbstheilungskräfte des Staates und gesetzliche 263 Heilmittel
Inhaltsübersicht
XIII
. Erneuerung des Gemeinwesens durch Gesetz oder Einzelpersönlichkeit 264 a) Gesetze als Instrumente der Selbstheilung des 265 Gemeinwesens aa) Republik zur Förderung des Gemeinwohls 265 () Abstimmung der Gesetze mit den 265 Einrichtungen () Paradox erscheinende Effizienzerwägungen 266 267 bb) Ungebrochener Freiheitssinn () Gleichschritt von Gesetzesübertretungen und Sittenverfall 267 268 () Vorrang der Gesetze vor den Parteiungen () Aufleben des Freiheitssinns und des Gerechtigkeitssinns 269 cc) Erinnerung an die Ahndung von Gesetzesübertretungen 269 270 () Generalprävention statt Spezialprävention () Verbleibendes Strafbedürfnis 271 b) Alternative von Gesetzgebung und Einzeldekret 271 272 c) Individualistische Prägung 274 . Gesetze in den unterschiedlichen Regierungsformen 274 a) Herrschaft der Gesetze in Frankreich b) Verhängnisvolle Mischverfassungen 276 c) Herrschaftsverlust durch Gesetzbruch 277 278 . Rechtspsychologie und Rechtsökonomik avant la lettre a) Kosten-Nutzenabwägung anstelle moralischer Handlungsanleitung 279 280 b) Gesetzesgehorsam als Risikominimierung . Kosten- und Nutzenabwägung an Stelle der Ethik 281 282 II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse . Gesetzliche Vorsorge gegen den Sittenverfall in der Republik 283 a) Beschränkte Wirksamkeit von Gesetzen in verkommenen Freistaaten 283 b) Gesetzliche Vorsoge in der Republik und Gesetze in Händen 284 des Herrschers c) Neidbedingte Fehleinschätzung der Gesetze 285
XIV
Inhaltsübersicht
. Zeitlich-dynamisches Moment bei Gesetzen und Sitten 286 a) Abhängigkeit der Stabilität der Gesetze von wandelbaren Sitten 286 aa) Erfolgsabhängigkeit von den politischen Zuständen 287 bb) Wechselbezüglichkeit im werkimmanenten 288 Zusammenhang b) Anpassung des Handelns der Rechtssubjekte an die 289 Zeitverhältnisse aa) Diversifizierung und unterschiedliche Anpassungsfähigkeit 290 290 bb) Berücksichtigung individuellen Wissens c) Grenzen individueller Leistungsfähigkeit gegenüber dem Staatswesen 292 293 III. Unrecht und niedrige Beweggründe . Fortwirkung erlittenen Unrechts 293 295 . Wettbewerbsdenken infolge des Neides . Unmündigkeit und Armut der Rechtsunterworfenen 296 a) Gesetzlich verordnete Armut zur Verhinderung der Bestechung 298 299 b) Aufschlussreiches Fehlzitat des Tacitus 301 . Erinnerung an Ungerechtigkeiten IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze 302 . Lehren aus der Gesetzgebung der florentinischen 302 Geschichte a) Gesetzesgehorsam als Freiheit unter dem Gesetz 303 b) Virtú des Gerechten 305 307 . Gehorsamsverschaffung durch Gesetzesbefolgung . Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Mitteln 308 a) Öffentliche und private Mittel in der G e s c h i c h t e v o n Florenz 309 310 b) Unterscheidung in den D i s c o r s i c) Vergleich mit den anderen Schriften 311 312 . Gesetze als Mittel zum Aufstieg a) Transparenz zur Durchsetzung der Leistungsgerechtigkeit 313 b) Neubewertung der Öffentlichkeit 314
Inhaltsübersicht
. Gerechtigkeit und Gesetz in Machiavellis G e s c h i c h t e v o n Florenz 315 315 a) Dezente Andeutungen des korruptiven Machterhalts 317 b) Gesetz als rhetorisches Stilmittel c) Prävention durch die Milde der Gesetze 317 319 . Vertragsbruch, geheimer Vorbehalt und Recht zur Lüge 319 a) Diplomatische Selbsterhaltung b) Recht zur Lüge 320 321 c) Politische Klugheit und Gerechtigkeit § Schlussbetrachtung
323
328 Literaturverzeichnis I. Werke von Niccolò Machiavelli 329 II. Sekundärliteratur Personenverzeichnis
338
328
XV
Einleitung Niccolò Machiavelli genießt in der Geistesgeschichte einen zweischneidigen Ruf:¹ Einerseits gilt er als kalter Stratege realpolitischen Machtdenkens, das von Grund auf amoralisch ausgerichtet zu sein scheint,² dem Herrscher zur Hinterlist rät und Verstellung für eine unerlässliche Voraussetzung politischen Handelns erachtet, wovon sein berühmtestes Werk handelt,³ in dem er einem ungeschminkten Realismus huldigt:⁴ „Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. (…) Ich lasse also alles beiseite, was über Herrscher zusammenphantasiert wurde, und spreche nur von der Wirklichkeit.“⁵ – ‚E molti si sono immaginati repubbliche e principati che non si sono mai visti né conosciuti in vero essere. Perché gli è tanto discosto da come si vive a come si doverrebbe vivere, che colui che lascia quello che si fa, per quello che si doverrebbe fare, impara piú presto la ruina che la perservazione sua. (…) Lasciando adunque addreto le cose circa uno principe immaginate, e discorrendo quelle che sono vere‘ (P XV). Die philosophische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen bedeutete für ihn also in zeitgemäßer Ermangelung theoretischer Durchdringung,⁶ die erst mit
W. Preiser, Das Machiavelli-Bild der Gegenwart, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952) 1; W. Kersting, Machiavelli-Bilder. Zum gegenwärtigen Stand der Machiavelli-Forschung, Philosophisches Jahrbuch 94 (1987) 162. B.-A. Scharfstein, Amoral Politics. The Persistent Truth of Machiavellism, 1995. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 23, präzisiert zutreffend den politikwissenschaftlichen Gehalt seiner Lehre: „Machiavelli lehrte nur politische Theoretiker, nicht die Fürsten selbst, neue Lektionen.“ – In der Tat konnte er die Medici in puncto List und Lüge nichts Neues lehren. Machiavelli, Il Principe, 1532. Dazu etwa D. Sternberger, Machiavellis ‚Principe‘ und der Begriff des Politischen. Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Band XII, Nr. 2, 2. Auflage 1975; V. A. Rudowski, The Prince. A Historical Critique, 1992; V. Dreier, Die Architektur politischen Handelns. Machiavellis „Il Principe“ im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie, 2005. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 63. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 54. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 888, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass „Machiavelli kein Philosoph ist“. Zur zuletzt zitierten Stelle im Text ebenda, S. 898. https://doi.org/10.1515/9783110643145-000
2
Einleitung
David Hume einen entscheidenden Fortschritt machte,⁷ ein neuartiges praktisches Problem,⁸ dessen Lösung Machiavelli gleichwohl nicht vor naturalistischen Fehlschlüssen bewahrte.⁹ Der Widerstreit zwischen dem Leben, wie es ist, und dem, wie es sein sollte, markiert für ihn gleichwohl eine schlechthin existenzielle Unterscheidung, stellt sie doch die elementare Frage der Selbsterhaltung, deren Beantwortung sich eher aus den Tatsachen als aus den Normen ergibt.¹⁰ Daher verwundert es nicht, dass man bei Machiavelli bereits ansatzweise rechtssoziologische Beobachtungen vorfinden kann.¹¹ Dieser Realismus, der die Rechtstatsachen politisch betrachtet, prägt im P r i n c i p e seinen Blick und führt zu einer Beschränkung des behandelten Stoffs. Andererseits wird Machiavelli vielfach missverstanden, weil die Handlungsanleitungen des P r i n c i p e nicht für das private Miteinander gedacht sind, sondern den politisch Mächtigen ins Stammbuch geschrieben sind, ein Gegeneinander voraussetzen und zudem unter gewissen Bedingungen stehen:¹² „Betrug ist überall schändlich, nur im Kriege ist er lobenswert und rühmlich.“¹³ – ‚Ancora
D. Hume, A Treatise on Human Nature, 1739 (Traktat über die menschliche Natur, Üb. Th. Lipps, 1906, II. Teil, S. 245). J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 3, präzisiert weiterführend: “Hence, Machiavelli’s political thought does not simply supplant an idealist ought with a more realistic is; rather, it elaborates an entirely new ought for political thinking and practice – an ought in which the vulgar assume an unprecedented prominent role. (…) Machiavelli’s political thought represents nothing less than an entirely innovative vision for how politics and popular empowerment should be conceptualized and practiced in the future.” Hervorhebungen auch dort. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996 (= Etica e politica: riflessioni sul Principe di Machiavelli, in: La legittimità del politico, 1990, S. 11– 39), S. 137, der einprägsam vom „Pathos der Wahrheit“ spricht, „das er mit Nietzsche teilt“. Doch gehört nach Hösles scharfsichtiger Kritik (S. 143) zu „seine(n) zahlreichen Irrtümern“, dass er als „naturalistischer Denker (…) den Menschen ausschließlich als Teil der Natur sieht. Aber auf naturalistischer Basis lassen sich, wie die neuzeitliche Philosophie seit Hume weiß, wie aber Machiavelli noch nicht wußte, Normen nicht begründen“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 251: „Als Fundament seiner historischen und politischen Analyse akzeptierte Machiavelli nur die pure Faktizität der politischen Wirklichkeit: alle das TatsächlichGegebene überschießenden normativen Anforderungen werden von ihm schroff zurückgewiesen“. Vgl. S. Baer, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, 2011, S. 5 ff. Näher V. Reinhardt/S. Saracino/R. Voigt (Hg.), Der Machtstaat. Niccolò Machiavelli als Theoretiker der Macht im Spiegel der Zeit, 2015; zu einem rechtlichen Aspekt auch J. Petersen, Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 393.
Einleitung
3
che lo usare la fraude in ogni azione sia detestabile, nondimanco nel maneggiare la guerra è cosa laudabile e gloriosa‘ (D III 40). Wie auch immer man zu ihm stehen mag, seine Bedeutung für die juristische Ideengeschichte steht außer Frage.¹⁴ Im Schatten seines berühmten Werks über den P r i n c i p e stehen aber nach wie vor seine D i s c o r s i ,¹⁵ die er ebenfalls während seiner Zeit unfreiwilliger politischer Abstinenz auf seinem ererbten und eher bescheidenen Landgut in San Casciano schrieb¹⁶ und die entgegen landläufiger Meinung sein Hauptwerk bilden.¹⁷ In den D i s c o r s i geht es auffallend häufig um die Gesetzgebung, deren Bedeutung für Machiavelli im bisherigen Schrifttum nur vereinzelt gesehen worden ist.¹⁸ Dass Machiavelli überhaupt eher von den Politikwissenschaftlern und Historikern vertieft behandelt wurde, weniger dagegen vonseiten der Juristen, könnte daran liegen, dass er selbst nicht hinlänglich in juristischen Kategorien dachte.¹⁹ Umso wichtiger ist es daher, diejenigen Stellen seines Werkes kritisch zu sichten, an denen er die Gesetzgebung berücksichtigte. Wie wichtig Machiavelli die Gesetzgebung innerhalb seines Hauptwerkes nämlich ist, verrät schon der Umstand, dass er beinahe um Verständnis werbend zu Beginn des neunten Kapitels sagt: „Manchem mag es vorkommen, ich hätte zu vieles in der römischen
Aus dem teils älteren Schrifttum F. Vorländer, Über die Bedeutung der Lehren Machiavellis für die wissenschaftliche Staatskunst, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 17 (1861) 496; A. Schmidt, Niccolò Machiavelli und die allgemeine Staatslehre der Gegenwart, 1907; A. Elkan, Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 119 (1919) 427; R. Zippelius, Über den Denkstil Niccolò Machiavellis, Festgabe für G. Küchenhoff 1967, S. 359. Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, 1531. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 249, zu seinem vielzitierten Brief vom 10.12.1513 an Vettori, in dem er seinen Alltag schildert. Dazu anschaulich St. Greenblatt, Will in the World. How Shakespeare became Shakespeare, 2004, p. 389. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 132, meint aus gutem Grund, dass der Principe „die staatstheoretische und geschichtsphilosophische Breite und Tiefe von Machiavellis Hauptwerk, der ‚Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‘ (…) nicht aufzuweisen“ hat. Die Discorsi sind „mehr eine Theorie gerechter politischer Institutionen im Sinne der klassischen politischen Philosophie, während der Principe sich mit einem politischen Ausnahmezustand befaßt.“ – Zu den ‚gerechten politischen Institutionen‘ in diesem Sinne gehören aber gerade auch die Gesetze. Grundlegend G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958); siehe auch Q. Skinner, Machiavelli, 1981 (Niccolò Machiavelli zur Einführung, 6. Auflage 2013, Üb. M. Suhr, S. 89 ff.). V. Hösle, Vico und die Idee der Kulturwissenschaft, Einleitung zur Meiner-Ausgabe 1990, S. LIV: „was einen der Hauptmängel seiner (sc. Machiavellis) Staatstheorie ausmacht“. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 902, diagnostiziert ebenfalls den „von Machiavelli vernachlässigten Zusammenhang der Macht mit Recht“.
4
Einleitung
Geschichte übergangen, da ich noch nichts über die Gesetzgeber der Republik, über ihre religiösen und militärischen Einrichtungen erwähnt habe.“²⁰ – ‚Ei parrà forse ad alcuno che io sia troppo trascorso dentro nella istoria romana, non avendo fatto alcuna menzione ancora degli ordinatori di quella republica, né di quelli ordini che alla religione o alla milizia riguardassero.‘ (D I 9). Von daher verwundert es nicht, dass er im Folgenden oft gleichsam in einem Atemzug von den Gesetzen und Einrichtungen spricht, wobei freilich diese tendenziell dauerhaft und jene unbeständig sind. Die meisten Stellen zur Gesetzgebung finden sich also in den D i s c o r s i , deren Einteilung daher auch den Aufbau des folgenden Buches prägt. Dass in den D i s c o r s i die Gesetzgebung eine so bedeutende Rolle spielt, liegt daran, dass dort in Anlehnung an das Geschichtswerk des Titus Livius vornehmlich, wenngleich nicht ausschließlich, die Staatsform der Republik behandelt wird. Dementsprechend geht die vorliegende Behandlung von den D i s c o r s i aus und betrachtet den P r i n c i p e gleichsam flankierend. Im Hinblick auf dieses berühmteste Werk Machiavellis soll ein vergleichbares Buch eines Zeitgenossen aus der reichhaltigen Fürstenspiegel-Literatur kontrapunktisch berücksichtigt werden,²¹ nämlich dasjenige von Erasmus von Rotterdam.²² Auch er behandelt in seinem nur selten wahrgenommenen Werk die Gesetzgebung,²³ dies jedoch in so illustrativer Weise, dass die eher in konventionellen Bahnen vorgehende Darstellung des großen Humanisten den Blick für Machiavellis wirkungsmächtigere Neubestimmung schärft.²⁴ Darüber hinaus werden aber auch aus den weniger
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 36. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 260: „Konkret hieß das für den großen Humanisten Erasmus von Rotterdam, Machiavellis Jahrgangs-Genossen, den christlichen Fürsten zur Selbstaufopferung, notfalls zum freiwilligen Machtverzicht zu erziehen, wenn sich dazu nur die Alternative des Machtmissbrauchs bot: Lieber die Macht als die eigene moralische Integrität aufzugeben, so hatte schon das Motto antiker Fürstenerzieher wie des stoischen Philosophen Seneca gelautet. Die Macht von der traditionellen Moral freizusprechen, wie es Machiavelli im ‚Fürsten‘ tat, war vor diesem Hintergrund ein Schritt von beispielloser Kühnheit“. Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 165. J. Huizinga, Erasmus, 1924, Kapitel 17, sieht ihn als politischen Denker eher kritisch und zeigt Verständnis für die vergleichsweise geringe Resonanz und Wirkungsmacht seiner Ansichten über den Fürsten. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25, kontrastiert treffend und arbeitet scharfsichtig die paradox anmutende potentielle Förderung des Gemeinwohls durch unchristlich anmutende
Einleitung
5
bekannten Schriften Machiavellis diejenigen Stellen behandelt, an denen er die Gesetzgebung in Betracht zieht. Es sind mehr, als man meinen könnte, und vor allem solche, die in der bisherigen Rezeption praktisch kaum je wahrgenommen wurden.²⁵ Wenn man namentlich seine besonders ergiebige, aber in dieser Hinsicht noch kaum je durchgängig untersuchte G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z berücksichtigt, sieht man schnell, dass Machiavelli es mitnichten nur mit den Mächtigen hält, sondern seinem päpstlichen Auftraggeber aus dem Hause Medici gegenüber unverblümt auch diejenigen historischen Erfahrungen vor Augen führt, aus denen sich ergibt, dass die Erniedrigten und Beleidigten aus dem einfachen Volk vor den Mächtigen durch die Gesetze und Einrichtungen nicht hinlänglich geschützt wurden, weil deren Wirksamkeit durch die tatsächlichen Machtverhältnisse faktisch außer Kraft gesetzt und rechtlich durchkreuzt wurden.²⁶ Sogar im P r i n c i p e leuchtet diese Sympathie mit dem einfachen Volk auf, das vor allem in Frieden und Freiheit leben möchte,²⁷ während die Mächtigen stets von unersättlicher Herrschsucht getrieben werden, durch die sie das Volk drangsalieren: „Außerdem kann man die großen Herren nie zufriedenstellen. Denn das Streben des Volkes ist rechtschaffener als das der großen Herrn, da diese das Volk unterdrücken wollen, das Volk dagegen nur nicht unterdrückt werden möchte“²⁸ – ‚Oltre a questo non si può con onestà satisfare a’ grandi, e sanza iniuria di altri, ma sí bene al populo; perché quello del populo è piú onesto fine che quello de’ grandi, volendo questi opprimere e quello non essere oppresso.‘ (P IX).
Empfehlungen heraus: „1516, kurz nach Machiavelli, schreibt Erasmus seine Institutio principis Christiani für Karl, König von Spanien und später Kaiser. Während diese Spiegel die Fürsten christliche Tugenden lehrten, besteht die verstörende Originalität von Machiavellis Buch in der Botschaft, dass zumindest der gute Fürst nicht alle diese Tugenden haben sollte. Im Gegenteil, er sollte einige Charakterzüge zeigen, welche die christliche Tradition scharf verdammte, und dies nicht nur, um sich selbst zu erhalten, sondern auch, um das Interesse seines Gemeinwesens zu fördern.“ Hervorhebung auch dort. Machiavelli, Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217 (= Sommario delle cose della città di Lucca, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 715) ist beispielhaft zu nennen. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 90 f. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 893 f., kontrastiert wirkungsvoll: „Anders als Carl Schmitt ist Machiavelli kein politischer Existentialist, er nimmt vielmehr Partei für den Stadtbürger, für den friedlichen Bürger, der seine politische Freiheit schätzt, um diese für den Schutz eines privaten Lebens in Sicherheit und Wohlstand zu nutzen.“ Siehe auch J. P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology, 1997. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn)‚ 4. Auflage 1972, S. 40.
6
Einleitung
Die Verachtung, die Machiavelli dem vorgeblich unverständigen, mitunter impulsiv handelnden Volk an vielen Stellen seines Werks entgegenbringt,²⁹ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit einem bemerkenswerten Gerechtigkeitssinn dessen berechtigte Bedürfnisse einzuschätzen wusste und ihm sehr viel wohler gesonnen ist als den Mächtigen.³⁰ Vor allem aber hat er als einer der ersten Denker der frühen Neuzeit die vom Gerechtigkeitsempfinden des Volkes ausgehende Kraft der öffentlichen Meinung erkannt (D I 58), deren Geringschätzung auch dem Mächtigsten verderblich werden kann (P XV). Mit untrüglicher Menschenkenntnis hat er jedoch auch die Gefahr des daraus folgenden opportunistischen Populismus gesehen, dessen er in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z einen scheinbar Freisinnigen, in Wirklichkeit aber Machtversessenen zeiht, der dadurch zur Anlaufstelle der Gesetzlosigkeit wurde: „Um sich Ansehen zu geben, hatte er immer eine entgegengesetzte Meinung als die Großen verteidigt, und wohin er das Volk sich neigen sah, dahin wandte er, um dessen Wohlwollen zu erwerben, seine Autorität. So war er aller Zwistigkeiten und Neuerungen Haupt, und alle, die etwas Ungesetzliches zu erwirken wünschten, wandten sich an ihn.“³¹ – ‚Aveva costui, per darsi reputazione, sempre opinione contraria ai piú potenti tenuta; e dove ci vedeva inclinare il popolo, quivi per farselo piú benivolo la sua autorità voltave; in modo che di tutti i dispareri e novità era capo, e a lui rifuggivono tutti quelli che alcuna cosa estraordinaria di ottenere desideravono‘ (IF II 22). Vor diesem Hintergrund kann aber wohl auch Machiavelli wohlwollender beurteilt und nicht mehr nur als kühler und eben ‚machiavellistisch‘ gesonnener Machtstratege gewürdigt werden.³² Hinsichtlich seiner Menschenkenntnis war
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 92 f., 150. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 240: „Daß er sich eher für das ‚Volk‘ entscheidet als für die ‚Großen‘, geht schon deutlich aus dem hervor, was er (…) über die Organisation von Rom, Venedig, Sparta und über die Überlegenheit Roms gegenüber den beiden anderen Städten sagt. (…) Seine Sympathie gehört zweifelsohne dem Volk, man braucht nur an seine berühmten Polemiken gegen die ‚Edelleute‘ und ihre geringe politische und bürgerliche Virtù zu denken“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 107. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 59, bemerkt scharfsichtig: „Aus dieser Ambivalenz seiner Argumentation ergibt sich derjenige seiner Rezeption – und die seines Namens, der zu den sehr wenigen gehört, die zu einem Appellativ wurden: Machiavelli ist eben der Prototyp eines Menschentyps, ohne den die moderne Politik nicht mehr funktioniert“.
Einleitung
7
ihm ohnehin kaum jemand ebenbürtig. Dass liebedienerischer Opportunismus den Schmeichler keinen Schritt weiter bringt und seine Glaubwürdigkeit untergräbt, wusste er besser als seine Zeitgenossen:³³ „Man macht genug den Narren, wenn man gegen seine wahre Meinung lobt, spricht, sieht und handelt, nur um dem Machthaber zu gefallen.“³⁴ – ‚Ed assai si fa il matto, laudando, parlando, veggendo, faccendo cose contro allo animo tuo per compiacere al principe‘ (D III 2). Lässt man die üblichen Vorurteile einmal beiseite und legt stattdessen das Augenmerk auf sein Hauptwerk, also die D i s c o r s i , blickt dabei ergänzend auf den P r i n c i p e , ohne seine sehr viel umfangreichere G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z und die kleineren Schriften außer Acht zu lassen, dann ergibt sich gerade in Bezug auf sein Gesetzesverständnis ein überraschend ausgewogenes Bild, dessen Anblick, freilich mit Abstrichen, auch für die heutige Gesetzgebung noch lohnend ist. Wenn man zudem berücksichtigt, dass es weltweit ungezählte Rechtsordnungen gibt, in denen rechtsstaatliches Gedankengut und die rule of law keinen Platz haben, dann können sich Machiavellis D i s c o r s i deswegen als hilfreich erweisen, weil er die Härte des politischen Geschäfts nicht verschleiert, gleichwohl aber Bedingungen angibt, unter denen die von ihm favorisierte Staatsform der Republik ermöglicht werden kann.³⁵
V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 230, zeigt allerdings an brieflichen Beispielen treffend, dass Machiavelli selbst nicht immer danach handelte, auch wenn er im Anschluss ein trotziges Selbstverständnis aufscheinen ließ, das sich psychologisch erklären lässt: „Die Selbsterniedrigung wurde nur dadurch erträglich, dass ihr die stolze Selbstbehauptung auf dem Fuße folgte“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 280. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 142, hat das so mustergültig herausgearbeitet, dass es zur Gänze wiedergegeben sei: „Das Problem des ‚Principe‘ Machiavellis ist nicht, einen idealen Staat zu entwerfen und anzugeben, welche Spielregeln in ihm gelten sollen; das war die Fragestellung der traditionellen politischen Philosophie. Machiavellis Problem ist weitaus schwieriger, weil er folgende Frage zu beantworten sucht: Auf welchem Wege soll man zu einem solchen idealen Staat gelangen, zu einem Staat, der diesen Namen verdient und in dem, nach seiner Stabilisierung, republikanische Institutionen und rechtliche Spielregeln gelten können? Dieses Problem ist durchaus noch aktuell, denn auch wenn die innenpolitische Lage in den meisten Ländern der Ersten Welt eine derartige Stabilität erreicht hat, daß etwaigen Unruhestiftern gegenüber der gesetzliche Rechtsweg ausreicht, so bleibt doch eine auf rechtsstaatlichem Wege alleine schwerlich zu meisternde innenpolitische Unruhe das Los zahlreicher politischer Gebilde der Dritten Welt, die die Prinzipien des modernen Staates – etwa den Respekt vor dem Gesetz unabhängig vom Eigeninteresse – noch nicht verwirklicht haben.“ Hervorhebungen nur hier.
8
Einleitung
Dabei dürfen allerdings die mitunter unzumutbaren Härten und Kanten nicht abgeschliffen werden (D I 9),³⁶ die sich unserem von der Aufklärung geprägten Rechtsdenken mehr denn je widersetzen, zumal da sich in jüngster Zeit zunehmend Despotien entwickeln, wo man sie bereits überwunden glaubte.³⁷ Deren heimlicher Lehrmeister war aus den eingangs geschilderten Gründen seit jeher Machiavelli, dessen Denken dabei freilich zuweilen banalisiert und unter Missachtung seiner eigentlich beabsichtigten Aussagen instrumentalisiert wurde. Vor allem merken jene – zumeist kleptokratisch gesonnenen – Despoten nicht, wie Machiavelli sie über die Zeiten durchschaut hatte: „Unter anderen schändlichen Mitteln, die sie anwandten, erließen sie Gesetze, die irgendeine Handlung verboten. Dann waren sie selbst die ersten, die Anlaß zu deren Übertretung gaben. Sie bestraften aber die anderen Übertreter erst, wenn sie sahen, daß viele sich einen ähnlichen Verstoß zuschulden kommen ließen. Dann erst fingen sie mit der Bestrafung an, nicht aus Eifer zur Aufrechterhaltung des Gesetzes, sondern aus Gier die Strafe einzuziehen.“³⁸ – ‚Ed intra l’altre disoneste vie che tenevano, e’ facevano leggi e proibivono alcuna azione; dipoi erano i primi che davano cagione della inosservanza di esse, né mai punivano gli inosservanti, se non poi quando vedevano assai essere incorsi in simile pregiudizio, ed allora si voltavano alla punizione, non per zelo della legge fatta, ma per cupidità di riscuotere la pena‘ (D III 29). Die vorliegende Darstellung kann allerdings auch jene Stellen nicht außer Betracht lassen, die Anlass zu den vulgärtheoretischen Engführungen Machiavellis boten; vor allem darf sie bei aller Bewunderung der Scharfsicht Machiavellis nicht der Versuchung erliegen zu rechtfertigten, was nicht zu legitimieren ist. Nur mit der gebotenen kritischen Durchdringung lässt sich ohne falsche Pietät aussondern, was einerseits allenfalls zeitgebunden zu begreifen ist, und andererseits zu bewahren, was der zeitgenössischen Gesetzgebung dienlich sein kann.³⁹ Dass diese gerade bei komplexen Regelungsmaterien zunehmend bezahlten Rat von ökonomisch denkender Seite oder gar Interessenvertretern sucht, ist nämlich ein alarmierendes Zeichen.⁴⁰ Auch in dieser Hinsicht lässt sich von Machiavelli ler-
Zu einem entsprechenden Versuch, der einen ebenso polarisierenden Denker betrifft, bereits J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020. Grundlegend V. Hösle, Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart, 2019. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 364. V. Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 2018, hat dies jüngst grundlegend, auch im Hinblick auf die hermeneutischen Probleme der Jurisprudenz, ausgearbeitet. J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017; ders., Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019; jeweils an verschiedenen Stellen.
Einleitung
9
nen, der wie kaum ein anderer die Gefahren erkannt hat, die sich aus der Entgegennahme privater Zuwendungen zu vorgeblich öffentlichen Zwecken ergeben (D III 28).⁴¹ Anders als der Titel der vorliegenden Abhandlung zu versprechen scheint, soll hier kein Lehrgebäude Machiavellis im Hinblick auf die Gesetze vorgestellt werden, zumal es das nicht gibt. Umso weniger können immer und unter allen Umständen anwendbare Handlungsanweisungen aus seiner Sicht erwartet werden, weil er so nicht dachte, sondern den jeweiligen Umständen und Gegebenheiten folgte, die er mit den ihm zugänglichen historischen Tatsachen abglich. Seine ‚Gesetzgebungslehre‘ meint daher eher einen Inbegriff derjenigen mitunter diffusen und anlassbezogenen Aussagen, die er an den verschiedensten Stellen seines reichhaltigen Gesamtwerks unsystematisch angeordnet hat. Wenn die äußere Gliederung den D i s c o r s i folgt, so geschieht dies mit dem permanenten Seitenblick auf die anderen Werke, freilich weniger den P r i n c i p e , der zu einseitig auf den Herrscher zugeschnitten ist, als vielmehr die unerschöpfliche und bislang noch viel zu wenig beachtete G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z ,⁴² die ihm die Zügellosigkeit und Endlichkeit des Menschen vergegenwärtigte, von der nicht zuletzt Sinn, Reichweite und Grenzen der Gesetze abhingen.⁴³
Bündig dazu J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 84: “Machiavelli’s proposed solution is to favor reputation earned for public goods over those earned for private goods (D III. 28)”. Grundlegend J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, der in konsequenter Durchführung seines treffenden Titels mit mustergültiger Klarheit den Principe (p. 21– 44), die Discorsi (p. 45 – 68) und die Geschichte von Florenz (p. 69 – 108) einer erhellenden Lektüre unterzieht und dabei insbesondere letztere gründlich durchdenkt. Er untertreibt nicht, wenn er im Ausgangspunkt in Aussicht stellt (p. 1 f.): “The book offers original readings of crucial themes within Machiavelli’s three major – each, in its own way, scandalous – political writings”; Hervorhebung nur hier. Zum besseren Verständnis, nicht zuletzt im Hinblick auf die Discorsi, bereits ders., Machiavellian Democracy, 2011. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 348, hat nur zu recht, wenn er davon ausgeht, dass „die Istorie fiorentine niemals geschrieben worden wären (das heißt mit solchem historischen Scharfblick), wenn Machiavelli nicht vorher den Principe und die Discorsi abgefaßt hätte, wenn er sich nicht über eine lange Zeitstrecke mit den Widersprüchen, Schwierigkeiten und den inneren Gründen des Zerfalls seiner Stadt beschäftigt hätte.“ Und auch die letzten Sätze dieser gründlichsten Darstellung des politischen Denkens Machiavellis gelten wohl nicht von ungefähr dessen Geschichte von Florenz (ebenda, S. 349): „Danach werden die Istorie fiorentine neue Probleme aufwerfen, neue Perspektiven und die Grundzüge einer großen Deutung bestimmter Augenblicke der italienischen Geschichte weisen. Doch auch diese Schrift ist im Grunde beherrscht von dem Verzicht aufs Handeln und dem Wissen darum, daß eine ganze Epoche der Geschichte Italiens nunmehr endgütig abgeschlossen ist“.
10
Einleitung
Am deutlichsten kommt dies an dem in dieser Hinsicht kaum je beachteten Beginn des vierten Buches zum Ausdruck, der die Abhängigkeit der Gesetze von bestimmten Bedingungen, darüber hinaus aber auch die Bedingtheit menschlichen Lebens mit einer Ausgewogenheit und Klarheit schildert, die es rechtfertigt, den Gedanken zur Einstimmung in das Folgende zusammenhängend wiederzugeben: „Die Städte, besonders die, welche nicht gut geordnet sind, die sich unter dem Namen Republiken verwalten, ändern häufig ihre Regierungen und Verfassungen nicht durch die Freiheit und die Knechtschaft, wie viele glauben, sondern durch die Knechtschaft und die Zügellosigkeit. Nur der Name der Freiheit wird von den Dienern der Zügellosigkeit, dies sind die Volksmänner, und von den Dienern der Freiheit, dies sind die Edlen, gepriesen. In der Tat wollen beide weniger den Gesetzen noch den Menschen untergeben sein. Wahr ist, wenn es sich ereignet – doch es ereignet sich selten –, daß die Stadt so glücklich ist, einen weisen, tugendhaften und mächtigen Bürger zu besitzen, von dem Gesetze ausgehen, wodurch diese Leidenschaft der Edlen und der Volksmänner beruhigt oder auf eine Weise in Schranken gehalten werden, daß sie nichts Böses wirken können – dann kann man die Stadt frei nennen, kann man den Staat für dauerhaft und fest halten. Denn, auf gute Gesetze und Einrichtungen gegründet, bedarf er nicht wie die andern der Verdienste eines Mannes, der ihn erhält.⁴⁴ Mit solchen Gesetzen und Einrichtungen waren viele alte Republiken, deren Staaten langes Leben hatten, ausgestattet.⁴⁵ Solche Gesetze und Einrichtungen entbehrten und entbehren alle die, welche häufig ihre Regierungsform von der Tyrannei zur Anarchie und umgekehrt geändert haben und ändern. Wegen der mächtigen Feinde, die jede dieser beiden Regierungsformen hat, ist keine und kann keine beständig
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 369 f., folgert aus diesem Satz: „Freiheit kann es nach Machiavells Überzeugung nur da geben, wo die ambizione der Menschen, bei den Popolanen die Tendenz zur Zügellosigkeit, durch Gesetze und Institutionen gebändigt ist. Republikanische Freiheit – das ist für Machiavelli neben der Machtausübung durch das Volk immer auch die Anerkennung von Gesetzen, zu deren Beachtung alle Staatsbürger verpflichtet sind. Nur wenn weder Adlige noch Reiche oder Kleriker diesen Gesetzen überhoben sind, kann Machiavelli zufolge von der Freiheit der Bürger die Rede sein.“ Weiter oben (S. 332) sieht er den zitierten Satz als Beleg einer für Machiavelli unausgesprochen bestehenden Voraussetzung: „Nur unter der Bedingung, daß sich die Kräfte der virtù und der necessità zugunsten der staatlichen Ordnung auswirken, ist der Staat nicht auf die überragenden Fähigkeiten eines uomo virtuoso angewiesen.“ Hervorhebungen auch dort. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 140, deutet dies aristotelisch: „Machiavellis Analyse hat sich offensichtlich von der mesotes-Lehre des Aristoteles beeinflussen lassen. Zwischen Knechtschaft und Zügellosigkeit, Lust nach ungebundener Macht und Lust nach Herrschaftslosigkeit wird die republikanische Freiheit, wird die Republik zerdrückt“.
Einleitung
11
sein. Die eine gefällt den Guten nicht, die andere mißfällt den Weisen; die eine kann leicht Böses tun, die andere tut nur schwer das Gute; in der einen haben die Übermütigen zu viel Gewalt, in der anderen die Zügellosen, und beide müssen sie durch das Verdienst eines Mannes erhalten werden, der entweder durch den Tod hinschwinden oder durch Mühe und Sorgen untüchtig werden kann.“⁴⁶ – ‚Le città, e quelle massimamente che non sono bene ordinate, le quali sotto nome di republica si amministrano, variano spesso i governi e stati loro, non mediante la libertà e la servitú, come molti credono, ma mediante la servitú e la licenza. Perché della libertà solamente il nome dai ministri della licenza, che sono i popolani, e da quegli della servitú, che sono i nobili, è celebrato, desiderando qualunque di costoro non essere né alle leggi, né agli uomini sottoposto. Vero è che quando pure avviene (che avviene rade volte) che per buona fortuna della città surga in quella un savio, buono e potente cittadino, da il quale si ordinino leggi per le quali questi umori de’ nobili e de’ popolani si quietino o in modo si ristringhino che male operare non possino, allora è che quella città si può chiamare libera e quello stato si può stabile e fermo giudicare: perché sendo sopra buone leggi e buoni ordini fondato, non ha necessità della virtú di uno uomo, come hanno gli altri, che lo mantenga. Di simili leggi e ordini molte republiche antiche, gli stati delle quali ebbono lunga vita, furono dotate; di simili ordini e leggi sono mancate e mancano tutte quelle che spesso i loro governi dallo stato tirannico a licenzioso e da questo a quell’altro hanno variato e variano; perché in essi, per i potenti nimici che ha ciascuno di loro, non è né puote essere alcuna stabilità: perché l’uno non piace agli uomini buoni, l’altro dispiace a’ savi, l’uno può fare male facilmente, l’altro può fare bene con difficultà; nell’uno hanno troppa autorità gli uomini insolenti, nell’altro gli sciocchi: e l’uno e l’altro di essi conviene che sia dalla virtú e fortuna di uno uomo mantenuto, il quale o per morte può venire meno o per travagli diventare inutile‘ (IF IV 1).⁴⁷ In diesem gehaltvollen Proömium kommen nicht nur die Zentralbegriffe der virtú, der fortuna und der necessità, sondern auch viele Themen der D i s c o r s i im Allgemeinen und der Gesetzgebungslehre Machiavellis im Besonderen leitmotivartig zum Vorschein:⁴⁸ der Wandel der Regierungsformen instabiler Gemeinwesen; das taciteische Grundmotiv der hehren Berufung auf die Freiheit, die
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 211 f. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 69 – 105, hat den Mythos einer konservativen Wende durch die Geschichte von Florenz, insbesondere das darin im Verhältnis zu den beiden bekannteren Werken vorgeblich vollzogene andersartige Verständnis der Rolle des Volkes, überzeugend wiederlegt, wie im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung punktuell immer wieder gezeigt werden soll. Siehe auch M. Fischer, Well-Ordered License. On the Unity of Machiavelli’s Thought, 2000.
12
Einleitung
in Wahrheit Zügellosigkeit verbrämt oder zumindest in diese umzuschlagen droht;⁴⁹ der Unwille des Volkes unter fremder Herrschaft bzw. der Mächtigen, unter den Gesetzen zu leben; der seltene Glücksfall eines selbstlosen und weisen Gesetzgebers, dessen Vermächtnis gute Gesetze und Einrichtungen sind, die eine Republik unabhängig von einem einzelnen Herrscher machen; das häufigere Gegenbild der Anarchie und Tyrannei, die trotz ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit gleichsam spiegelbildlich an denselben Übeln leiden und daher oft ineinander übergehen. Wenn der P r i n c i p e sein berühmtestes Werk ist und die D i s c o r s i sein wichtigstes sind, dann ist die vergleichsweise am wenigsten beachtete G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z vielleicht dasjenige, welches den großen taciteischen Geschichtswerken am ähnlichsten ist, und zwar aufgrund seines durchaus nicht zersetzenden anthropologischen Pessimismus‘, seiner Seitenblicke auf die verborgenen Motive der Handelnden, der rhetorischen Brillanz der darin wiedergegebenen oder stilisierten Reden, der Klarsicht seiner prägnanten Urteile und des untrüglichen Blicks auf die die Schwächen der Menschen spiegelnden und immer nur notdürftig, niemals dauerhaft ausgleichenden Gesetze. Erst in der Zusammenschau dieser großen Werke mit den kleineren politischen Schriften lässt sich etwas herausdestillieren, das zwar keinerlei systematischen Anspruch erhebt,⁵⁰ weil es das Recht gerade nicht erschöpfend, sondern immer nur beiläufig und damit letztlich unzureichend betrachtet,⁵¹ aber eine Vielzahl von originellen Einsichten mit einer weichenstellenden Auswirkung auf das moderne
Dazu M. L. Colish, The Idea of Liberty in Machiavelli, Journal of the History of Ideas 32 (1971) 323; siehe auch W. Jens, Libertas bei Tacitus, Hermes 84 (1956) 331, 343. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 219, zeigt beiläufig, warum das auch gar nicht möglich wäre: „Die Discorsi entspringen also dieser komplexen Gemüts- und Geistesverfassung: nicht als ein System von Maximen und ‚allgemeinen‘ Betrachtungen über die Natur des Staates – der überall gleich ist, weil er an einem ewigen Moment des menschlichen Handelns teilhat –, sondern als Buch voller Überlegungen über die italienische und florentinische Geschichte, als politisches Werk, das seine Tiefgründigkeit und Bedeutung aus der es beherrschenden und bestimmenden Untersuchung gewinnt, als Spiegelbild zweier Jahrhunderte kommunaler und herrschaftlicher Geschichte“. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 149, hat diesen Mangel erkannt und legt den Finger in die Wunde: „Die Vernachlässigung der Bedeutung des Rechts macht im übrigen eine der schwächsten Seiten von Machiavellis Theorie über das Verhältnis von Moral und Politik aus. Das Recht ist ein bedeutendes Verbindungsglied beider, obgleich auch es, zumal wenn es sich als rein positives Recht versteht und nicht mehr auf dem Naturrecht gegründet ist, ein brutales Hilfsmittel im Machtkampf werden kann“.
Einleitung
13
Denken bereithält,⁵² die auch ein halbes Jahrtausend nach ihrer Niederschrift noch bemerkenswert sind,⁵³ und hier nur trotz ihres oft situativen Charakters, ihres scheinbar losen Zusammenhangs, ihrer Zentrierung auf die florentinischen Verhältnisse, ihres infolge geschichtlicher Kontingenz nicht für alle Fälle im Vorhinein bestimmbaren Anwendungsbereichs als Machiavellis Gesetzgebungslehre bezeichnet werden.⁵⁴
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 887, zeigt hier die paradigmatische Bedeutung der Gedanken Machiavellis für die Geistesgeschichte unter Berücksichtigung seiner Absichten klarsichtig auf: „Diese für das moderne Denken symptomatische Verzweigung in eine normative und in eine ‚realistische‘ Theorie der Herrschaft geht auf das frühe 16. Jahrhundert zurück. Niccolò Machiavelli bringt den inzwischen eingetretenen Prozess der Vergegenständlichung der instrumental verfügbaren Macht, wenn auch nicht auf den Begriff, so doch zum Ausdruck. Er will mit den – aus funktionalistischer Sicht an historischen Beispielen entwickelten – Stabilitätsbedingungen politischer Herrschaft gleichzeitig die empirischen Bedingungen für die politische Verfassung eines wohlgeordneten Gemeinwesens erklären.“ Hervorhebungen auch dort. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 54. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 219, der als ein bedeutender Machiavelli-Kenner gleich nochmals zu Wort kommen soll, hat am Beispiel des Hauptwerkes dieses induktive Verfahren, das gleichwohl zu allgemeinen Erkenntnissen über den Staat führen kann, herausgestellt: „Die Discorsi sind aber kein Werk abstrakter gelehrter Konstruktion; es geht ihnen nicht um die Bedeutung des Staates ‚im allgemeinen‘ (zumal Machiavelli dieser melancholischen Problematik gänzlich fern steht), sondern um die des Florentiner Staates im besonderen; und nur durch diese scharfsinnige Erkenntnis der Beschränktheit dieser historischen Situation gelingt es ihm, eine Auffassung zu umreißen, in der seine Erfahrung des Stadtstaates zurücktritt und sich bereits die ersten Anzeichen des modernen Staates melden“.
§ 1 Gesetze und Einrichtungen I. Die D i s c o r s i als Werk der Renaissance Die D i s c o r s i enthalten das Meiste über die Gesetzgebung aus Machiavellis Feder. Da sie vornehmlich die Freistaaten, also die Republiken, berücksichtigen, in denen Gesetze naturgemäß eine größere Bedeutung haben als in Alleinherrschaften, können sie zudem die größere Geltungskraft für die heutige Gesetzgebung entfalten.⁵⁵ Doch sind sie unverkennbar aus dem Geist der Renaissance geschrieben.⁵⁶
1. Rückbesinnung auf den Geist der Antike Die D i s c o r s i sind nicht zuletzt deswegen für die juristische Ideengeschichte so bemerkenswert, weil sie ein typisches Werk der Renaissance darstellen.⁵⁷ Obwohl sie nämlich einerseits Gedanken über Politik und Staatsführung enthalten, und schon von daher die mittelalterliche Tradition hinter sich lassen, bildet das Geschichtswerk des Titus Livius erklärtermaßen ihre Grundlage.⁵⁸ Die von ihm berichteten Geschehnisse bilden gleichsam den roten Faden, entlang dessen Machiavelli scheinbar beiläufig seine eigenen Vorstellungen über Politik und
Pointiert V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 265 f.: „In drei Büchern, zwei Vorworten und insgesamt 142 Kapiteln stellt der selbsternannte Gesetzgeber Machiavelli die ewig gültigen Regeln der perfekten Republik auf“. J. Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, 2. Auflage 2015, S. 250. K. Stierle, Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016, S. 7, spricht in einer auch für den vorliegenden Zusammenhang passenden Weise von „der Grunderfahrung der Renaissance“ als „der unendlichen Vielfalt der Welt und des Menschen. (…) Gespräch und Diskurs treten in der Renaissance in spannungsreiche Verhältnisse.“ Ausführlicher noch ebenda, S. 93: „Die Renaissance ist die europäische Epoche, wo, wie nie zuvor, die Welt der Diskurse von der Idee des Gesprächs durchdrungen wird, das Gespräch zum Paradigma einer neuen Geselligkeit und einer neuen Hinwendung zur Welt wird, getragen vom Verlangen und der Hoffnung nach einer Unmittelbarkeit des Zugangs zur Welt der Erfahrung wie zu den Grundfragen des menschlichen Daseins.“ – Diese auf Montaigne gemünzten Worte dürften erst recht für den Verfasser der Discorsi – in ihrer Art ebenfalls Gespräche – gelten. Allgemein dazu F. Chabod, Machiavelli and the Renaissance, 1958; J. R. Hale, Machiavelli and Renaissance Italy, 1961. J. H. Whitfield, Discourses on Machiavelli, 1969, kehrt Titel und Zielrichtung sinnigerweise um. Ebenfalls von Livius inspiriert wurde später H. Taine, Essai sur Tite-Live, 1856. https://doi.org/10.1515/9783110643145-001
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
15
Staatsführung entwickelt.⁵⁹ Es ist also diese Rückbesinnung auf den Geist der römischen Antike einerseits und die Ausrichtung dieses Geistes auf Individualität und Handlungsautonomie ohne kirchliche Bindung andererseits, die Machiavellis D i s c o r s i zu einem besonders bemerkenswerten Werk der Renaissance machen. Das zeigt sich zudem anhand eines eigentümlichen Perspektivwechsels. Auch im Hinblick auf das Recht lässt sich nämlich möglicherweise am Beispiel Machiavellis etwas ausmachen, das mit der Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance Gemeinsamkeiten hat.⁶⁰
2. Perspektivwechsel auch im Blick auf Recht und Gesetz Machiavellis Blick auf Recht und Gesetz ist ein von Grund auf anderer, als er im Mittelalter vorherrschte; allerdings ist er in politischer Hinsicht auch nicht deckungsgleich mit den antiken Vorbildern.⁶¹
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 89, sieht die dem scheinbar redundanten Titel immanente untergründige Teleologie: “Hence the full title of the Discourses draws our attention to a united and free Italy, freed and united by a hegemonial republic, be it Rome or Florence, and not by a Prince. In a becomingly subdued manner, Machiavelli suggests a practical alternative to the practical proposal proclaimed in the last chapter of the Prince”. Aus dem unüberschaubaren kunstgeschichtlichen Schrifttum grundlegend E. Panofsky, Die Perspektive als ‚symbolische Form‘, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, 1927, S. 258 ff. (= Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Hg. H. Oberer/E. Verheyen, 1980, S. 99, 126), mit dem aufgrund seiner an der Herrschaft ausgerichteten Diktion auch für den vorliegenden Zusammenhang bemerkenswerten Schlusssatz: „Es ist daher kein Zufall, wenn diese perspektivische Raumanschauung in dem bisherigen Verlauf der künstlerischen Entwicklung zweimal sich durchgesetzt hat: das eine Mal als Zeichen eines Endes, als die antike Theokratie zerbrach, – das andere Mal als Zeichen eines Anfangs, als die moderne Anthropokratie sich aufrichtete“. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 54 f., hat dies am deutlichsten herausgearbeitet: „Die These, daß die neuzeitliche Politische Philosophie die bisherige Entwicklungslinie einer Vertiefung der Kluft von sozialem Sein und Sollen fortsetzt, könnte insofern als Täuschung erscheinen, als sie zunächst einmal fast alle ihre Energien der Überwindung jenes Dualismus widmet, in welchem sich der Gegensatz von Moral und Politik im Mittelalter ausgeprägt hatte – also des Dualismus von Staat und Kirche. Gerade dieser Sachverhalt könnte – zumal bei Machiavelli (…) – den Eindruck erwecken, als ob sich nach dem Maximum einer dualistischen Entgegensetzung die Bewegung wieder umkehre und die Neuzeit zu jener Einheit von Moral und Politik zurückfinde, die die antike Philosophie charakterisiert hatte. Doch so richtig dies in einem bestimmten Sinne auch ist, so einseitig wäre dieser Eindruck. Denn der Begriff des Politischen, den Machiavelli mit ähnlichem Pathos wie die antiken Philosophen durchdenkt, hat gegenüber der griechischen und römischen Version eine große Wandlung durchgemacht“.
16
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
a) Zwang der äußeren Notwendigkeit als Handlungsmotiv Für die Vergegenwärtigung seiner Gedanken weiterführend ist der Umstand, dass Machiavelli die Beschäftigung mit der Antike nicht allein um ihrer selbst willen pflegte, sondern auch ganz pragmatische Lehren und Handlungsanleitungen für die Zukunft zu gewinnen hoffte:⁶² „Kluge Männer pflegen nicht grundlos und zu Unrecht zu sagen, wer die Zukunft voraussehen wolle, müsse die Vergangenheit betrachten, denn alle Begebenheiten dieser Welt haben immer ihr Seitenstück in der Vergangenheit. Dies kommt daher, daß sie von Menschen vollbracht werden, die stets die gleichen Leidenschaften haben oder gehabt haben. Dieselben Ursachen müssen aber notwendig dieselben Wirkungen haben“⁶³ – ‚Sogliono dire gli uomini prudenti, e non a caso né immeritamente, che chi vuole vedere quello che ha a essere, consideri quello che è stato: perché tutte le cose del mondo in ogni tempo hanno il proprio riscontro con gli antichi tempi. Il che nasce perché essendo quelle operate dagli uomini che hanno ed ebbono sempre le medesime passioni, conviene di necessità che le sortischino il medesimo effetto‘ (D III 43).
aa) Ironie der Geistesgeschichte Auch wenn man diese stereotype Übertragbarkeit aus moderner Sicht kaum mehr annehmen wird,⁶⁴ besteht der eigentlich interessante Gedanke in der Prämisse, dass die menschlichen Laster und Leidenschaften konstant geblieben sind. Darin liegt eine tiefere anthropologische Wahrheit, die auch und gerade für das Rechtsund Gesetzesverständnis bedeutsam ist. Daher wird sie im Folgenden an verschiedenen Stellen vertieft (D II 14; III 16). Eine Ironie der Geistesgeschichte besteht darin, dass die D i s c o r s i ebenso wie der P r i n c i p e nach Jahren politischer Erfahrung in einer Zeit äußerster Erfolglosigkeit unter bedrängtesten wirtschaftlichen Verhältnissen entstanden, und vor allem dem einen – vergeblich
Vgl. dazu auch A. Riklin, Machiavellis Klugheitslehre politischer Führung, 1989. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 396. Die Stelle kann zugleich als Beleg für etwas dienen, das H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 250, der sie selbst in anderem Zusammenhang zitiert (S. 254), beobachtet hat: „Mit dem Unterschied zwischen ‚einem klugen Kopf‘ und ‚jedem‘ begründet Machiavelli zugleich seinen Anspruch, Politik als eine Kunst zu lehren. Politik als Kunst – das ist etwas grundsätzlich anderes als jene Vorstellung von der Politik als einer Unterdisziplin der Ethik oder der Theologie, wie sie in der Antike oder im Mittelalter vorgeherrscht hat. Politik hat bei Machiavelli ihre eigenen Gesetze und Regeln, die beherrscht sein wollen, soll das angestrebte Ziel auch erreicht werden. Nicht mehr der gute Wille, sondern die Fähigkeit zum Erfolg ist für ihn die wichtigste Eigenschaft der politisch Handelnden“. G. Mann, Geschichtsphilosophie von Plato bis Hegel, in: Der Sinn der Geschichte (Hg. L. Reinisch), 1961, S. 18.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
17
unternommenen – Ziel galten, wieder eine Rolle im politischen Leben zu spielen, stattdessen aber zeitlos gültige Werke wurden, obwohl sie ihren primären Zweck verfehlten. So galt angesichts seiner bedrängten wirtschaftlichen Lage in Sorge um seine unterhaltsbedürftige Familie wohl auch für ihn selbst, was er im dritten Buch der D i s c o r s i wiederholt: „Ich habe schon an anderer Stelle gesagt, wie nützlich für alle menschlichen Handlungen der Zwang der Not ist und zu welchem Ruhm er schon geführt hat. Wie einige Moralphilosophen gesagt haben, hätte der Mensch mit seinen Händen und seiner Zunge, den beiden edelsten Werkzeugen für seinen Ruhm, zu seiner Vervollkommnung nichts so Großartiges hervorgebracht, noch würden seine Werke je eine solche Höhe erreicht haben, wenn ihn nicht die Not dazu getrieben hätte.“⁶⁵ – ‚Altre volte abbiamo discorso quanto sia utile alle umane azioni la necessità, ed a quale gloria siano sute condutte da quella e come da alcuni morali filosofi è stato scritto, le mani e la lingua degli uomini, duoi nobilissimi instrumenti a nobilitarlo, non arebbero operato perfettamente né condotte le opere umane a quella altezza si veggono condotte, se dalla necessità non fussoro spinte‘ (D III 12). Die deutsche Übersetzung (‚Not‘) kann Machiavellis ‚necessità‘ nur unzureichend abbilden, weil es sich dabei um einen Schlüsselbegriff seines Denkens handelt, der auch die Notwendigkeit im weiteren Sinne bezeichnet.⁶⁶
bb) Anschein der Sittlichkeit Es ist interessant, dass sich Machiavelli hier überhaupt auf die Moralphilosophen beruft, wird er doch für gewöhnlich mit einer eher amoralischen Haltung im
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 323. Eingehend K. Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli, 1967, passim, auch zum Verhältnis der beiden anderen Zentralbegriffe der virtú und der fortuna. Im Hinblick auf die beiden letztgenannten Begriffe spannt H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 3.1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, 2006, S. 23 f., einen ideengeschichtlichen Bogen, der unausgesprochen bis zu Nietzsche reicht: „Wenn Machiavelli virtù und fortuna als gleich starke Mächte darstellt, dann zeigt dies das neue Maß der Verunsicherung. Welche der Mächte siegen wird, läßt sich eigentlich nicht vorhersagen. Der Aufruf zum Handeln und zur Entschlossenheit läuft bereits leer, lange bevor der Nihilismus und der inhaltsleere Aktivismus hervortreten werden, welche Kinder des 19. und 20. Jahrhunderts sind.“ Zu dem Motiv des im Machiavelli-Zitat aufscheinenden ‚aus der Not gesetzten Anfangs’ im Sinne Kleists, mit dem man es vielleicht andeutungsweise vergleichen kann, J. Petersen, Heinrich von Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ im Spiegel der mündlichen Prüfung, Jura 2011, 818.
18
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
ausschließlichen Interesse des Machterhalts in Verbindung gebracht,⁶⁷ die folgende Stelle aus dem P r i n c i p e eindrucksvoll zu bestätigen scheint:⁶⁸ „Man muß sich also merken, daß man sich durch gute Taten ebenso wie durch schlechte Haß zuziehen kann. Deshalb ist ein Herrscher, der die Macht behaupten will, oft gezwungen, amoralisch zu handeln; ich führte dies oben bereits aus. Denn wenn die Partei – mögen es das Volk, die Soldaten oder die Großen sein –, die du nach deiner Meinung zur Behauptung deiner Herrschaft brauchst, verderbt ist, so mußt du dich ihr anpassen, um ihr zu gefallen; dabei ist dir ein Verhalten nach moralischen Grundsätzen schädlich.“⁶⁹ – ‚E qui si debbe notare che l’odio si acquista cosí mediante le buone opere, come le triste: e però, come io dissi di sopra, uno principe volendo mantenere lo stato è spesso sforzato a non essere buono. Perché, quando quelle università, o populi o soldati o grandi che si sieno, della quale tu iudichi avere, per mantenerti, piú bisogno, è corrotta, ti conviene seguire l’umore suo per satisfarle: e allora le buone opere ti sono nimiche‘ (P XIX). Das darf man jedoch, wie der Vergleich der deutschen Übersetzung (‚amoralisch‘ bzw. ‚nach moralischen Grundsätzen‘) mit den betont nüchternen und nicht moralphilosophisch aufgeladenen Worten Machiavellis zeigt, nicht unzulässig dahingehend vereinfachen, dass er sich gegen jede Form der Moral wendet. Denn gerade dahinter kann sich eine eigentümliche Moral bzw. eine Form der Sittlichkeit verbergen, die das Gemeinwohl nicht vollständig außer Betracht lässt.⁷⁰ Auch hier muss man Machiavelli an den Maßstäben seiner Zeit messen,
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 899, fasst dies unter Berücksichtigung der Vorreiterstellung und Berücksichtigung der Bedeutung des Rechts am deutlichsten zusammen: „Als erster Theoretiker richtet er den wissenschaftlichen Blick auf die funktionale Spezifizierung und Ausdifferenzierung eines rechtlich verfassten politischen Systems, zeichnet die Selbststabilisierung der Macht als dessen intrinsischen Sollwert aus und betrachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und historischen Begebenheiten, die politischen Institutionen und Gesetze unter dem Gesichtspunkt einer systemischen Logik der Machterhaltung“. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 97, präzisiert in begrifflicher Hinsicht: „Amoralität ist also ein Wesensmerkmal reiner Kratologie“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn)‚ 4. Auflage 1972, S. 81. Dieser hat in seiner eindrucksvollen Übersetzung natürlich nicht verkannt, dass Machiavelli nicht von ‚amoralisch‘ oder ‚moralisch‘ spricht, sondern sich bewusst für diese freie Übertragung entschieden, wie Fn. 255 auf S. 136 zeigt. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 27, hat dies in Abgrenzung zu den überlieferten Fürstenspiegeln (zu denen er mit Recht auch den von Erasmus zählt) am deutlichsten herausgearbeitet: „Machiavellis Angriff auf die Tugenden der traditionellen Fürstenspiegel fehlt daher
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
19
um ihm gerecht zu werden.⁷¹ So abstoßend der offen empfohlene Opportunismus gegenüber den als verdorben erkannten Entscheidungsträgern auch ist, hat Machiavelli vordringlich die Möglichkeit der Selbsterhaltung des Gemeinwesens im Sinn, weil er wusste, um wieviel schlimmer die Alternative des Bürgerkriegs war. Ohne seine aus heutiger Sicht anstößigen Ratschläge im Geringsten rechtfertigen zu wollen oder den Bruch mit der abendländischen Naturrechtstradition zu übersehen,⁷² ist festzustellen, dass der erzeugte Anschein der Sittlichkeit, den er vor allem für den unerlässlichen Umgang mit moralisch verdorbenen Kreaturen sich zuzulegen empfiehlt, moraltheoretisch etwas anderes ist als ein vollkommen amoralisches Handeln.⁷³ Es ist sozusagen die Moral der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens, in der sich die Erkenntnis spiegelt, dass ein gesetzlich geordneter Staat allemal den Vorzug verdient vor der Anarchie des Naturzustandes oder den Verheerungen des Bürgerkriegs. nicht jede moralische Substanz. Er misst den moralischen Wert einer Politik an der Nützlichkeit für das Gemeinwesen des Fürsten, einer Nützlichkeit, die über den Fürsten hinausgeht, aber nicht über sein Gemeinwesen. Eine universalistische Ethik ist ihm fremd (…). Zudem behauptet Machiavelli nicht, dass derjenige, der mit Entschiedenheit und Härte handelt, immer durch den richtigen Beweggrund motiviert wird. (…) Aber Machiavelli wird sich für moralisch gerecht gehalten haben, an den Machtwillen eines Fürsten zu appellieren, wenn er auf diese Weise positive Folgen erwarten konnte. (…) Vielleicht können wir sagen, dass seit Machiavelli Ethikern die beängstigende Möglichkeit bewusst wurde, dass der Kanon der Tugenden, sowohl der antiken wie der christlichen Tradition, nicht notwendigerweise konsistent ist. Auch wenn wir den intrinsischen Wert all dieser Tugenden hochschätzen, müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass sie negative Folgen haben können, die den Zwecken widersprechen, die anderen Tugenden, und vielleicht sogar diese Tugenden selbst, zu erreichen versuchen. Wir stehen so vor dem Dilemma, dass intrinsisch attraktives Verhalten schädlich sein kann, während abstoßendes Verhalten – sogar Verhalten, das aus verabscheuungswürdigen Motiven erfolgt – sozial weit nützlicher sein kann“. J. G. Fichte, Über Machiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften, 1807, Gesamtausgabe I 9, S. 222, 225 f., hat das schon vergleichsweise früh gesehen und gewährt ihm gleichsam mildernde Umstände: „Diese Beschränktheit in die Einsichten des Mannes in die Moral, und die daher entstehende Beschränktheit seiner Sprache, in der er übrigens nur die Schuld seines Zeitalthers teilte, keineswegs aber sie selbst verwirkt hatte, muß man vor allen Dingen begriffen haben.“ Zu dieser Stelle J. Petersen, Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927 f. Zu ihr in diesem Zusammenhang ebenso tiefdringend wie weiterführend J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 266 Anmerkung 5, am Beispiel von Livius, Ab urbe condita I 22, auf den D III 2 anspielt: „Tullus handelt offensichtlich auf unmoralische Weise (…) und seine scheinheilige Freundlichkeit (…) ist geradezu ekelerregend. Gleichzeitig ist es nicht wahr, daß Tullus sich nicht um die Sittlichkeit kümmert. Sein unmoralisches Verhalten zielt auf den Schein des Sittlichen, der auch in der Politik unverzichtbar ist“.
20
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
cc) Berufung auf die Moralphilosophen Es handelt sich bei der Berufung auf die Moralphilosophen wohl zumindest auch um eine Form versteckter Moralkritik. Er gibt damit nämlich auf eine rhetorisch einnehmende Weise zu verstehen, dass auch die Moralphilosophen zumindest nicht ausschließlich annehmen, dass menschliches Handeln allein durch den guten Willen, sondern mitunter durch schiere Not veranlasst werde:⁷⁴ „Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nach dem es die Notwendigkeit erfordert.“⁷⁵ – ‚Onde è necessario, volendosi uno principe mantenere, imparare a potere essere non buono e usarlo e non usarlo secondo la necessità‘ (P XV). Auch hier fällt auf, dass Machiavelli nicht von der Moral spricht. Denn nicht sie begründet aus seiner Sicht das Gesetz des Handelns, sondern die schiere Notwendigkeit. Dieser äußeren Notwendigkeit verdanken daher wohl auch die D i s c o r s i ihre Entstehung. Nach seinem Selbstverständnis konnte er während der Zeit seines unfreiwilligen Exils in der Praxis wenig bewirken, zumindest aber mit seinem aus langjähriger politischer Erfahrung gereiften Rat helfen. Sein Pflichtbegriff, an dem man ihn gerechterweise wird messen müssen, war wohl ein anderer als derjenige der herkömmlichen Moralvorstellung.⁷⁶ Machiavelli verdeutlicht ihn mit möglicherweise autobiographischem Hintergrund gegen Ende des Proömium des zweiten Buchs seiner D i s c o r s i :⁷⁷ „Denn es ist Pflicht eines rechtschaffenen Mannes, das Gute, das er wegen der Ungunst der Zeiten und des Schicksals selbst nicht ausführen konnte, anderen zu lehren, damit viele dazu fähig werden und es vielleicht einer davon, den der Himmel mehr begünstigt, verwirklichen kann.“⁷⁸ – ‚Perché gli è offizio di uomo buono, quel bene che per la maglinità de’ tempi e della
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 899: „Denn die Rhetorik seiner Darstellung verrät unmissverständlich das persönliche Motiv, das Machiavelli im Anblick des zerrissenen und korrumpierten Italiens seiner Zeit antreibt – den tiefen Schmerz über den Verlust der politischen Tugenden der Antike, der Gleichheit und Freiheit der Bürger, des dienenden Ethos der Amtsträger, der Größe und der Einheit der Republik.“ Hervorhebung auch dort. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn)‚ 4. Auflage 1972, S. 63. J. Petersen, Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S 275, spricht angesichts der niederschmetternden Erfahrungen Machiavellis bei dem Versuch, erneut eine politische Stellung einzunehmen, nicht von ungefähr von dem „im II. Buch vorherrschenden schroffen und moralisierenden Ton“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 163.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
21
fortuna tu non hai potuto operare, insegnarlo ad altri, acciocché sendone molti capaci, alcuno di quelli piú amato dal cielo possa operarlo‘ (D II Proemio).
dd) Selbstverpflichtung zur Gesetzgebungslehre Hierin kommt ebenso eine ganz eigenartige Ausprägung der Moral zum Vorschein, nämlich eine Verpflichtung der Weitergabe von Erfahrungswissen oder ursprünglicher Einsichten an diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, zum tatkräftigen Handeln imstande sind. Auch der zur Untätigkeit Verdammte, als der sich Machiavelli gesehen haben mochte, kann jedoch durch lehrende Tätigkeit zur Selbsterhaltung des Gemeinwesens, idealerweise der Republik, maßgeblich beitragen. Diese Stelle dürfte eines der wichtigsten autobiographischen Zeugnisse innerhalb seines Hauptwerkes bedeuten, weil sie sich als das Ergebnis eines Nachdenkens über die eigene Lage darstellt, an dessen Ende die Möglichkeit einer Selbstbehauptung und nachträglichen Sinngebung unfreiwilliger Untätigkeit steht. Der Einzelne, dem das Geschick politisches Handeln zum Nutzen der Republik verwehrt, der sich aber seines politischen Erfahrungswissens sicher ist, kann ihr immer noch dienen, indem er lehrend auf diejenigen einwirkt, die politische Verantwortung tragen. In gewissem Sinne ist diese Selbsterkenntnis ein für die Renaissance bezeichnender Gedanke, weil er die Entfaltungsmöglichkeit des Individuums durch lehrende und bildende Weitergabe im Sinne des Gemeinwohls dort voraussetzt, wo scheinbar ausweglose und unfruchtbare Untätigkeit möglich ist.⁷⁹ Sein Blick auf die von unerbittlicher Zwangslage diktierten Entstehungsbedingungen ist für sein Gesetzesverständnis deswegen aufschlussreich, weil er zugleich zeigt, welcher Art die Ursachen menschlichen Handelns wirklich sind und nicht in idealistischer Färbung sein könnten (P XV). Denn da für ihn nun einmal feststeht, dass die Menschen hauptsächlich dann etwas unternehmen, wenn sie durch die Notwendigkeit – ‚necessità‘ – dazu gezwungen sind, so liegt für Machiavelli nahe, dass sie in einer vergleichsweise ruhigen, freiheitlichen und zwangsfreien Staatsform wie der Republik zum Quietismus neigen, wenn sie nicht durch ge-
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234, definiert das Gemeinwohl in den Discorsi so, dass es „nichts anderes bedeutet als das politische Zusammenwirken aller Kräfte eines Staates in seiner Regierung und in diesem Sinn die summarische Formel der gesamten spezifisch politischen Problematik dieses Werks darstellt“.
22
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
setzliche Anreize zu tatkräftigem Handeln veranlasst werden.⁸⁰ Tatkräftig, also mit virtú, handeln kann aber auch derjenige, welcher der Republik sachverständig rät, welche Gesetze erforderlich sind, um die in der menschlichen Natur wurzelnden Mängel auszugleichen und das Gemeinwesen zu erhalten. Das wäre eine Art Selbstverpflichtung zur Gesetzgebungslehre.
b) Gesetzesverständnis und transnationale Perspektive Die allgemeinen Betrachtungen der Vorrede des zweiten Buchs scheinen auf den ersten Blick wenig mit der Gesetzgebung zu tun zu haben. Doch prägen die anthropologischen Beobachtungen diese maßgeblich, weil sie buchstäblich seine Weltsicht aufscheinen lassen:⁸¹ „Wenn ich den Lauf der Dinge bedenke, so finde ich, dass die Welt stets dieselbe geblieben ist. Es gab auf ihr immer ebenso viel Gutes wie Schlechtes, nur wechselten das Schlechte und das Gute von Land zu Land.⁸² So ist uns bekannt, dass die Macht der alten Reiche infolge des Wechsels der Sitten einem ständigen Wechsel unterlag. Die Welt blieb jedoch immer dieselbe, nur mit dem Unterschied, dass sich ihre gesammelten Energien zunächst in Assyrien entluden, dann in Medien und Persien, bis sie schließlich auf Italien und Rom übergingen.“⁸³ – ‚E pensando io come queste cose procedino, giudico il mondo sempre essere stato ad uno medesimo modo, ed in quello essere stato tanto di buono quanto di cattivo; ma variare questo cattivo e questo buono di provincia in provincia, come si vede per quello si ha notizia di quegli regni antichi, che variavano dall’uno all’altro per la variazione de’ costumi, ma il mondo restava quel medesimo. Solo vi era questa differenza, che dove quello aveva prima allogata la sua virtú in Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 97 f., ist mit guten Gründen und Verweisen auf den Beginn des ersten Buchs (I 3/4) der Auffassung, dass die Gesetze die Rechtsunterworfenen zur virtú erziehen. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 86: “But this difference, he holds, is due entirely to a difference in education and in knowledge of ‘the world’.” Siehe dazu auch B. Guillemain, Machiavel. L’anthropologique politique, 1977; zur politischen Weltsicht H.-J. Diesner, Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historischeKlasse, Band 132, Heft 3, 1992; dazu E. Vollrath, Neue Machiavelli-Literatur, Zeitschrift für historische Forschung 20 (1995) 505. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 255, kommentiert zur Vermeidung von Missverständnissen und Veranschaulichung des Maßstabs: „Machiavelli hat mit seiner These von der Konstanz der menschlichen Natur keineswegs alle Menschen gleichgesetzt, sondern unterscheidet sie nach dem Maß, in dem sie virtù und pietà besitzen. Die römischen Bürger aus der Zeit der Republik und seine eigenen italienischen Zeitgenossen hat er alles andere als gleich angesehen. So verwandelt er unter der Hand die menschliche Natur wieder in eine durchaus dynamische Größe“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 161.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
23
Assiria, la collocò in Media, dipoi in Persia, tanto che la ne venne in Italia ed a Roma‘ (D II Proemio). Das erscheint auf den ersten Blick trivial, zumal da das Diktum von der immer gleichbleibenden Welt noch affirmativ wiederholt wird. Auf der anderen Seite kann man aber auch diese globale Betrachtung als ein für die Renaissance bezeichnendes neues Weltverständnis begreifen,⁸⁴ das zwar zentripetal nach Italien und Rom führt, aber eben doch nicht unbedingt eurozentrisch geprägt ist, weil es außereuropäische Kulturen in den Blick nimmt (D I 1).⁸⁵ Der darin mitgedachte beständige Wechsel der Sitten je nach Ländern, von denen sie herrührten, ist aber auch für das Gesetzesverständnis bedeutsam. Denn Sitten haben sich eben immer in bestimmten Ländern entwickelt und ausdifferenziert, selbst wenn sie durch eine temporäre Vormachtstellung in andere Länder hinüberwirkten. Aufschlussreich ist schließlich, dass Machiavellis Zentralbegriff der virtú nicht den tatkräftigen Menschen vorbehalten ist, sondern sich offenbar auch auf den Lauf der Welt als geschichtsprägende Kraft beziehen kann, die bald hier und bald dort einen Schwerpunkt setzt, ohne dass die Welt selbst sich ändert – ebenso wie die Menschen sich mit ihren allgegenwärtigen Lastern der Herrschsucht und des Neides ändern.Wenn Machiavelli von der Welt (‚mondo‘) spricht, dann spricht er immer zugleich vom Menschen.⁸⁶ So gesehen ist der in der Bezugnahme der
St. Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, 2012, S. 16, betont am Beispiel von Lukrez, De rerum natura, die eigentümliche Verbindung zwischen intensivem Erkenntnisstreben und einem gewissen hedonistischen Grundzug, wobei er interessanterweise und durchaus kontraintuitiv Machiavellis politische Theorie einbezieht: „Nach meiner Meinung, und ganz sicher nicht nur nach dieser, war es die Renaissance, die von allen in der Nachfolge der Antike stehenden Kulturen am genauesten verkörpert hat, was Lukrez’ Sinn für Schönheit und Lust ausmacht und was er zu einem legitimen, den Menschen würdigen Streben entfaltet. (…) Es war fast so etwas wie ein Reflex, dass auch Werke, die anscheinend weit entfernt waren von jeglicher ästhetischer Ambition – Machiavellis Untersuchungen politischer Strategien, Walter Raleighs Beschreibung von Guyana, Robert Burtons enzyklöpädische Darstellung seelischer Krankheit –, in einer Weise ausgeführt wurden, die intensivstes Vergnügen erzeugte“. C. Lévi-Strauss, Von Montaigne zu Montaigne, 2018; J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 6. Hierin könnte der Beginn einer untersuchungswürdigen geistesgeschichtlichen Linie bestehen, die bis zu Vicos ‚mondo civile‘ reicht; zu ihm J. Petersen, Giambattista Vicos theologisch geprägte Rechtsphilosophie, Jahrbuch für Italienisches Recht 31 (2018) 85, 121. Zu einem anderen diesbezüglichen Gesichtspunkt, der bei allen Unterschieden hinsichtlich des jeweiligen Verständnisses der Vorsehung sogar die Gesetze berücksichtigt, G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 294: „Man beachte dabei aber, daß der Vorsehungsglaube, zu dem Machiavelli zu neigen scheint, keine Doktrin ist, die (…) etwa mit der von Vico auf eine Stufe zu stellen wäre. (…) Man beachte, daß Machiavelli hier (sc. D I 18) in einer Vico vorausahnenden
24
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
virtú auf die Welt zum Ausdruck kommende Anthropomorphismus ein Zugeständnis an seine Zyklentheorie, das jedoch zugleich daran erinnert, dass es – ganz im Sinne des Weltbildes der Renaissance – auch im Lauf der Geschichte letztlich die im einzelnen handelnden Menschen sind, die im Mittelpunkt stehen und nicht davon losgelöst waltende Kräfte.
c) D i s c o r s i und P r i n c i p e im Hinblick auf die Gesetzgebung Indem Machiavelli im Proömium des zweiten Buchs der D i s c o r s i diejenigen Kulturen aufscheinen lässt, die während einer längeren Zeit eine Vormachtstellung innehatten und schon aus ökonomischen Gründen expandierten, kündigt sich dort bereits unausgesprochen an, dass er in diesem Buch nicht zuletzt den römischen Imperialismus mit behandelt: „Durch die Tapferkeit seiner Heere erkämpfte es das Imperium, und durch seine Verfassung, und die ihm eigene Staatskunst, die sein erster Gesetzgeber begründet hatte, gelang es ihm, seine Eroberungen zu halten, wie unten in mehreren Betrachtungen ausführlich gezeigt werden wird.“⁸⁷ – ‚Perché la virtú degli eserciti gli fecero acquistare lo imperio; e l’ordine del procedere ed il modo suo proprio e trovato dal suo primo latore delle leggi, gli fece mantenere lo acquistato: come di sotto largamente in piú discorsi si narrerà‘ (D II 1).
aa) Zusammenhang zwischen gutem Heerwesen und guten Gesetzen Die für die Begründung der Vorherrschaft entscheidende virtú, die offenbar auch Personenmehrheiten, wie hier ganzen Heeren, zukommen kann, bedarf zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der gewonnenen Herrschaft weiterer Faktoren, die scheinbar nur im normativen Bereich gründen.⁸⁸ Hier wird zwar der Zusam-
Ausdrucksweise von ‚äußeren Züchtigungen‘ spricht, die für die Größe Roms notwendig waren, während im älteren Kapitel dasselbe Problem sich spontan in die dramatische Frage verwandelt hatte, ob der Niedergang durch menschliche Kraft ausgehalten und ob die Verderbnis eindeutig aus den Einrichtungen und Gesetzen des Staates verbannt werden könne.“ – Insgesamt harrt wohl das Verhältnis der rechtsrelevanten Gedanken Machiavellis zur Rechtsphilosophie Vicos noch einer näheren Untersuchung. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 164. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 135, zitiert aus einer Denkschrift Machiavellis an seine Heimatstadt, in der er ihren Oberen bittere Einsichten ins Stammbuch schreibt, und kommentiert dies treffend: „So mußten sie sich in einer Denkschrift ihres Sekretärs harte Wahrheiten anhören: ‚Jeder weiß, dass jedes Imperium, jedes Königreich, jedes Fürstentum, jede Republik, ja jeder Mensch, der anderen befiehlt, bis herab zum Kapitän einer Barke, über Gerechtigkeit und Waffen verfügen muss. Von Gerechtigkeit habt Ihr nicht viel,
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
25
menhang der Ausweitung des Reichs mit der Verfassungs- und Gesetzgebung augenscheinlich, weil deren Beständigkeit und Solidität überhaupt erst eine Ausweitung des Reichs ermöglichen. Doch darf man nicht übersehen, dass Machiavelli die Gesetzgebung einstweilen an die Person eines bestimmten Gesetzgebers bindet, hier also des Romulus, dessen virtú die Bestandsgarantie des Gemeinwesens untermauert und an sich zieht, indem er neben der militärischen Gewalt den Stellenwert der Gesetzgebung zur Erhaltung der Herrschaft erkennt. Dafür lässt sich im Übrigen auch eine Stelle im P r i n c i p e anführen, die nicht nur den werkimmanenten Zusammenhang beider Hauptwerke, sondern auch die notwendigerweise enge Beziehung zwischen Heerwesen und Gesetzgebung in Alleinherrschaften veranschaulicht: „Und doch bringt nichts einem Mann, der neu zur Macht emporsteigt, so viel Ehre wie der Erlaß neuer Gesetze und die Neuordnung des Heerwesens. Wenn diese Dinge auf guter Grundlage aufgebaut und Größe in sich haben, so verschaffen sie ihm Verehrung und Bewunderung.“⁸⁹ – ‚E veruna cosa fa tanto onore a uno uomo che di nuovo surga, quanto fa le nuove legge ed e’ nuovi ordini trovati da lui: queste cose, quando sono bene fondate et abbino in loro grandezza, lo fanno reverendo e mirabile‘ (P XXVI). Der zweite Satz ist allerdings mehr als eine bloße Affirmation des ersten, weil er auf diskrete Weise die Bedingung stellt, dass insbesondere die Gesetze auf einem guten Fundament gründen. Davon handelt Machiavelli gegen Ende des ersten Buchs der D i s c o r s i , worauf hier schon einmal verwiesen sei (D I 58).
bb) Nachrangige Berücksichtigung der Gesetze im P r i n c i p e Allerdings zeigt sich am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Gesetzgebung und Heerwesen auch der grundlegende Unterschied zwischen dem Anliegen der D i s c o r s i und des P r i n c i p e .⁹⁰ Denn dessen Untersuchungsgegenstand be-
von Waffen gar nichts. Dabei könnt ihr das eine wie das andere bekommen, nämlich durch ein ordnungsgemäß beschlossenes und aufrechterhaltenes Waffengesetz.‘ Die Republik Florenz war ihrer eigenen Einschätzung nach die beste der politischen Welten. In der Rangfolge ihres Zweiten Kanzlers aber figurierte sie noch hinter den Küstenfischern!“ – Auch dieses eher beiläufige amtliche Schreiben veranschaulicht Machiavellis Gesetzgebungslehre, zumal da er, über die pointierende Darstellung der Regelungsnotwendigkeit hinaus und seinerzeit gewiss nicht selbstverständlich, die Ordnungsmäßigkeit des Zustandekommens des Gesetzes hervorhebt. Dieser Gesichtspunkt wird uns auch in seiner Geschichte von Florenz noch in verschiedenen Variationen begegnen (IF III 15; VII 3). Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 108. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 895 f., veranschaulicht die Gegenläufigkeit und zieht an späterer Stelle Konsequenzen für die Gesetzgebung: „Il Principe (…) und Discorsi (…) verhalten sich zu-
26
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
grenzt Machiavelli gerade in dieser Hinsicht, indem seine Beweisführung dort auf das Heerwesen zuläuft und er die Gesetze außer Betracht lässt:⁹¹ „Wir haben oben darauf hingewiesen, daß ein Staat gute Grundlagen haben muß; sonst geht er rettungslos zugrunde. Die wichtigsten Grundlagen, die alle Staaten haben müssen, sowohl die neugegründeten, als auch die altererbten oder die aus beiden gemischten Staaten, sind gute Gesetze und ein gutes Heer. Da es aber keine guten Gesetze geben kann, wo ein gutes Heer fehlt, und da, wo das Heer gut ist, auch die Gesetze gut sein müssen, will ich auf die Gesetze nicht weiter eingehen und nur vom Heerwesen sprechen.“⁹² – ‚Noi abbiamo detto di sopra come a uno principe è necessario avere e’ sua fondamenti buoni; altrimenti di necessità conviene che ruini. E’ principali fondamenti che abbino tutti li stati, cosí nuovi come vecchi o misti, sono le buone legge e buone arme: e, perché e’ non può essere buone legge dove non sono buone arme, e dove sono buono arme conviene sieno buono legge, io lascerò indietro el ragionare delle legge e parlerò delle arme‘ (P XII). Ob dieser Schluss vom unverzichtbar guten Heer auf die damit einhergehenden guten Gesetze wirklich zwingend ist oder ob Machiavelli nicht vielmehr die Aufmerksamkeit des Widmungsträgers aus dem Hause Medici lieber auf das Heerwesen lenken statt ihn mit dem mühevollen Erlass guter Gesetze behelligen wollte, kann man wohl unterschiedlich einschätzen.⁹³
einander wie die pars destruens, in der Machiavelli Phänomene der entgleisenden Macht und des politischen Versagens beschreibt, zur pars construens. (…) Mit der Absicht, diese Gesetzmäßigkeit der Reproduktion von Macht zu entschlüsseln, fasst Machiavelli auch das Verhältnis von Recht und Politik ins Auge: Politische Herrschaft ist die Verfügung über rechtlich konstruierte Macht; sie basiert gleichermaßen auf ‚guten Gesetzen‘ wie einem ‚guten Militärwesen‘ als der Deckungsreserve von staatlicher Gewalt und zwingendem Recht. Nicht auf den Gesetzgeber, auf die Gesetze kommt es an – und letztlich auf die Grundgesetze, die eine Herrschaftsordnung einrichten“. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 58, fasst nicht ohne unterschwellige Ironie lapidar zusammen: “We learn now that good arms are the necessary and sufficient condition for good laws”. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 49. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 156, beurteilt diesen Gedanken im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommende Interdependenz im Ausgangspunkt zutreffend, dann aber im Hinblick auf die dem Gedanken innewohnende Teleologie etwas blauäugig: „Hier werden als feste Grundlagen der Staaten (ob neu, alt oder vermischt) unmißverständlich sowohl das Heerwesen als auch die Gesetze, der verfassungsmäßige wie der militärische Aufbau bezeichnet; auch sagt Machiavelli nicht, daß, wenn die ersteren fehlen, die zweiten jene wettmachen könnten. Der Sinn des Textes ist ohne jeden Zweifel, daß dort, wo es keine guten Gesetze gibt, unweigerlich auch keine guten Waffen sind. Machiavelli sagt lediglich, weil offensichtlich die beiden Komplexe sich gegenseitig bedingen, habe er wohl das Recht, aus dem besonderen Anlaß der Abhandlung einen davon herauszugreifen.“ – Aber die Ausübung dieses ‚Rechts‘ lässt die
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
27
Es dürfte sich eher um einen Vorwand handeln, um die Gesetzgebung im P r i n c i p e außen vor lassen zu können und sie den D i s c o r s i vorzubehalten. Man kann die Stelle daher als eine unausgesprochene Außenverweisung auf die D i s c o r s i begreifen, in denen das dem P r i n c i p e eher peinliche Problem guter Gesetzgebung eingehend erörtert wird. Das ist zugleich der Grund dafür, warum hier schwerpunktmäßig die im Hinblick auf die Gesetzgebung besonders ergiebigen D i s c o r s i sowie die auf Gesetze bezogenen Passagen der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z behandelt werden, während der P r i n c i p e vornehmlich dort zu Rate gezogen wird, wo er eine diesbezügliche Einsicht erhellt oder den werkimmanenten Zusammenhang zu veranschaulichen geeignet ist. Denn Gesetze haben in der Staatsform der Republik den größten Stellenwert. Deshalb ist von ihnen in jenen Werken hauptsächlich die Rede, die davon handeln, also den D i s c o r s i und der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z . Im P r i n c i p e dagegen geht es vordringlich um Alleinherrschaften, in denen die namensgebende Gestalt selbst der Gesetzgeber ist. Allerdings wusste Machiavelli aus der florentinischen Geschichte nur zu gut, dass auch in der Republik die Waffengewalt der Magnaten stets die Oberhand gegen noch so gutgemeinte Gesetze behielten: „Die ganze Stadt stand unter Waffen; die Signoren und die Gesetze waren durch die Wut der Mächtigen ohnmächtig geworden.“⁹⁴ – ‚Era la città tutta in arme: i Signori e le leggi erano dalla furia de’ potenti vinte‘ (IF II 18). Deutlicher noch spricht er es in einem politischen Text aus: „Zwischen Privatleuten halten Gesetze, schriftliche Abmachungen und Verträge Treu und Glauben ein, doch zwischen den Mächtigen gelten nur die Waffen.“⁹⁵ – ‚Perché fra gli uomini privati, le leggi, le scripte, e’ pacti fanno observare la fede, et fra e’ signori la fanno solo observare l’armi.‘⁹⁶
Gesetze bewusst in den Hintergrund treten, so dass der Autor ihre Bedeutung letztlich doch eher verschämt anklingen lässt, als dass er dem Adressaten der Abhandlung gegenüber wirklich darauf besteht. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 99. Üb. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 116, mit umsichtiger Einführung des Zitats und weiterführendem Kommentar: „Dafür schlummern jedoch in allen Menschen die gleichen Anlagen. Man kann daher durch die richtigen Staatseinrichtungen, gepaart mit guten Gesetzen, aus den Menschen der Gegenwart wieder alte Römer machen. (…) Auch diese Feststellung kommt ohne jede Spur von Bedauern aus“. Machiavelli, Parole da dirle sopra la provisione del danaio, facto un poco di proemio et di scusa, 1503, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 12, 14.
28
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
d) Mangel an Urteilskraft als anthropologische Konstante Von erfahrungsmäßig gewonnener Gültigkeit im Sinne einer gesetzmäßigen Verallgemeinerbarkeit sind für Machiavelli auch zu Beginn des zweiten Buchs die schlechten Eigenschaften des Menschen, die in der conditio humana wurzeln.⁹⁷ Der darin zum Ausdruck kommende anthropologische Pessimismus steht in einem zwar nicht notwendigen, aber doch naheliegenden Zusammenhang mit dem Menschenbild der Renaissance.⁹⁸ Allerdings muss man dies mit dem entscheidenden Vorbehalt versehen, dass der Mensch aus Machiavellis Sicht mehr vermögen würde, als er denkt, wenn er nur seiner Urteilskraft vertraute, die freilich getrübt ist durch seine Unselbständigkeit, welche die Verantwortlichkeit für sein Misslingen und seine Fehleinschätzung bei den zeitlichen Umständen sucht. „Wo sich der Mensch also über sein Urteil beklagen sollte, schiebt er die Schuld auf die Zeiten.“⁹⁹ – ‚E dove quegli ne doverebbono accusare il giudizio loro, ne accusano i tempi‘ (D II Proemio). Es ist also eher die selbstverschuldete Unmündigkeit, um es in kantischer Diktion anzudeuten, welche die Befangenheit des Menschen in der conditio humana mit sich bringt.
W. E. Mayer, Machiavellis Geschichtsauffassung und der Begriff der virtù. Studien zu seiner Historik, 1912, S. 52. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 263 f., betont mit Recht die soziologischen und ökonomischen Gesichtspunkte: „In dem Menschenbild der Renaissance, das die Ungeselligkeit des Menschen stärker betonte als die Geselligkeit, spiegeln sich die ökonomischen und politischen Veränderungen, durch die sich die mittelalterliche Gemeinschaft in der frühneuzeitliche Gesellschaft transformiert und mit der entfesselten Konkurrenz der neuen homines oeconomici eine Geisteshaltung freigesetzt hatte, von der die politische Gemeinschaft zunehmend als Instrument zur Beförderung der eigenen ökonomischen Interessen angesehen wurde. In seinem anthropologischen Pessimismus, der These von der permanenten Korruptibilität des Menschen, hat Machiavelli diese Entwicklungen zusammengefaßt und seiner politischen Theorie zugrunde gelegt. Seine mehrfach wiederholte Forderung, den Menschen so zu sehen, wie er ist, und nicht, wie er sein sollte, kann im Lichte dieser politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen auch als Mahnung an seine Zeitgenossen interpretiert werden, diesen neuen Faktoren endlich Rechnung zu tragen und nicht länger einem historisch überholten Menschenbild anzuhängen.“ Hervorhebungen auch dort. Zurückhaltender J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 898: „Von Haus aus sind die Menschen, welcher Herkunft und Stellung auch immer, weder besonders gut noch besonders böse“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 163.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
29
aa) Menschliche Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen Hierzu hatte Machiavelli bereits früher erkannt, „dass die Natur die Menschen so geschaffen hat, dass sie zwar alles begehren, aber nicht alles erreichen können.“¹⁰⁰ – ‚ché la natura ha creato gli uomini in modo che possono desiderare ogni cosa e non possono conseguire ogni cosa‘ (D I 37). Auch in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z setzt er dieses bis auf die Stoiker zurückgehende anthropologische Dilemma als unabänderlich selbstverständlich gegeben voraus, wenn er zur Erklärung einer historischen Entwicklung nachsichtig begründet, dass „die Menschen gleichgültig sind gegen das, was sie haben können, und was sie nicht haben können, begehren“¹⁰¹ – ‚e perché gli uomini sono piú lenti a pigliare quello che possono avere che non sono a desiderare quello a che non possono aggiugnere‘ (IF II 31).¹⁰² Hieran erkennt man beispielhaft, dass nicht nur die staatlichen Verhältnisse, sondern vor allem die Menschen mit ihren Wünschen Gegenstand seiner Beobachtungen sind und dass er jene deshalb so genau zu beschreiben vermag, weil er diese nur zu gut kennt. Zugleich zeigt sich daran, was sich noch am Beispiel einer weiteren Stelle bestätigen wird, dass Machiavelli das menschliche Trachten zeitlich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerlegt. Die Enttäuschung über das Gegenwärtige und das Hoffen auf eine völlig unsichere Zukunft prägen die Lage des Menschen.¹⁰³
bb) Unvernünftigkeit grundloser Heilserwartungen Die daraus resultierende Unzufriedenheit des Menschen, die damit zusammenhängt, dass er immer mehr erreichen und erwerben will, als seinen Fähigkeiten entspricht, wird im Vorwort des zweiten Buchs noch einmal ausgeweitet: „Über-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 100 f. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 120. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 86, hat das Umfeld dieser Stelle ausgelotet und gelangt im Rahmen der Untersuchung bestimmter Akte der Unterdrückung zu einer für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Einsicht, die womöglich paradigmatisch für das durch wechselseitige Gewalt, Unterdrückung und Erpressung geprägte Verhältnis zwischen Volk und Adel jener Zeit ist: “Instead, perhaps the plebs had good reason to view these wealthy guildsmen as their oppressors, and therefore to expect that some measure of justice would be served as a result of such executions”. Bei allen tiefgreifenden Unterschieden, vor allem im Hinblick auf das jeweilige Verständnis der Religion, ähnelt die schonungslose Bestandsaufnahme der Lage des Menschen dem anthropologischen Ausgangspunkt Blaise Pascals; näher J. Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016.
30
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
dies sind die menschlichen Wünsche unersättlich, da die menschliche Natur alles begehrt und alles will, das Schicksal uns aber nur wenig gewähren kann. Hieraus entsteht im menschlichen Herzen ewige Unzufriedenheit und Überdruss an allem, was man besitzt. So wird die Gegenwart getadelt, die Vergangenheit gelobt und die Zukunft herbeigesehnt, obwohl man keinen vernünftigen Grund dazu hat.“¹⁰⁴ – ‚Sendo, oltra di questo, gli appetiti umani insaziabili, perché avendo dalla natura di potere e volere desiderare ogni cosa, e dalla fortuna di potere conseguitarne poche, ni risulta continuamente una mala contentezza nelle menti humane, ed uno fastidio delle cose che si posseggono: il che fa biasimare i presenti tempi, laudare i passati e desiderare i futuri, ancora che a fare questo non fussono mossi da alcuna ragionevole cagione‘ (D II Proemio). Diese Stelle belegt sein prinzipielles Vertrauen in die menschliche Vernunft, allerdings nur sofern sie sich auf ihre Möglichkeiten besinnt und die Unvernünftigkeit grundloser Heilserwartungen erkennt. Zudem zeigt sich hier, dass Machiavelli auch ein großer Aphoristiker war, dessen aus der Wirklichkeit abgezogenen Lebenserfahrungen über sein politisches Denken hinaus bemerkenswert sind, dieses aber ebenso maßgeblich prägen, wie sie auch sein Verständnis der Gesetze beeinflussen, welche die Mängel der Menschennatur bestmöglich ausgleichen müssen.
cc) Faktische und immanente Grenzen der Willensfreiheit Allerdings sind der menschlichen Vernunft und Tatkraft – virtú – durch das Schicksal – fortuna – Schranken gesetzt.¹⁰⁵ Eine im Hinblick auf die menschlichen Begehrlichkeiten und ihre Grenzen wegweisende Stelle, die diese Be-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 163. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 130 – 134, zeichnet anhand eines Briefs an Soderini den Gedankengang Machiavellis im Entstehungsprozess seiner Hauptwerke nach und arbeitet eine überraschende Anthropozentrik der Fortuna heraus: „Die Tüchtigkeit des Menschen und die Kraft der Dinge, oder, um sich Machiavellis Sprache zu bedienen, la virtu und la fortuna, beschäftigen aufs neue das Denken des Mannes, der die realen Komponenten einer historischen Situation zu verstehen suchte. (…) Die ‚Natur‘ des Menschen sprengt also das Gleichgewicht zwischen Virtu und Fortuna zugunsten der letzteren und zwingt Machiavell, sein ganzes Augenmerk auf jenen obersten Zweck des politischen Handelns zu richten, dem alle Mittel aufgeopfert werden müssen. (…) Nicht nur deshalb, weil die Überlegungen über die Rolle des Menschen in der Geschichte ihn dahin bringen, das Problem der Politik in eine den großen Werken sehr ähnliche Sicht zu rücken, sondern auch, weil er nach gründlicher Untersuchung der Dinge zu dem Schluß gelangt, daß die Fortuna keine transzendente Gottheit ist, sondern sich aus der Begrenztheit der menschlichen Natur ergibt, weshalb sie immer auf diesen menschlichen Ursprung bezogen werden kann, der ihre Voraussetzung ist“.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
31
schränkung berücksichtigt, findet sich zudem im P r i n c i p e zur Willensfreiheit, die ja die Voraussetzung des unbegrenzten menschlichen Wollens ist: „Da wir einen freien Willen haben, halte ich es nichtsdestoweniger für möglich, daß Fortuna zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel uns selber überlässt.“¹⁰⁶ – ‚Nondimanco, perché il nostro libero arbitrio non sia spento, iudico potere essere vero che la fortuna sia arbitra della metà delle azioni nostre, ma che etiam lei ne lasci governare l’altra metà, o presso, a noi‘ (P XXV). Diese Annahme ist aber auch deswegen von Bedeutung, weil sie den menschlichen Willen qualitativ in eine Beziehung zum Schicksal und beide sogar annäherungsweise nach Art eines Halbteilungsgrundsatzes quantitativ ins Verhältnis zueinander setzt. Denn auch die Willensfreiheit kann aus Machiavellis neuzeitlicher Sicht nicht in starrer scholastischer Tradition verstanden werden, nach welcher der Wille der Ort böser Handlungen ist.¹⁰⁷ Vielmehr interessiert ihn vordringlich, welche immanenten Grenzen der Willensfreiheit im Tatsächlichen gesetzt sind, weil sie gleichsam a priori diejenigen Dinge ausblendet, die man problemlos erreichen könnte, und dasjenige in das Blickfeld menschlicher Begehrlichkeit rückt, was nicht zu haben, eben darum aber umso mehr noch Objekt der Begierde ist – und das heißt für Machiavelli nicht zuletzt: die Herrschsucht der Mächtigen.¹⁰⁸ Die Unbeständigkeit des menschlichen Schicksals, die Machiavelli am eigenen Leib erfahren hat, ist ihm auch für sein Werk eine Lehre:¹⁰⁹ „Denn die menschlichen Dinge sind immer in Bewegung, sie steigen oder fallen.“¹¹⁰ – ,Perché essendo le cose umane sempre in moto, o le salgono o le scendano‘ (D II Proemio). Auch diese Beobachtung mutet auf den ersten Blick simpel an. Jedoch Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 102. H. Friedrich, Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, 1942, S. 91; J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 33; dort auch zu J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Band 2, 10. Auflage 1908, S. 227. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 228 f., kontrastiert wirkungsvoll: „Selbst Dante, der (…) sich dann als Gegensatz in großen Lobespreisungen über den ‚freien Willen‘ ergeht, glaubt, daß die inneren Gründe der Krise in dem wahnsinnigen Ehrgeiz der Menschen zu suchen seien, die anstatt nach Eintracht und Glück in dem friedvollen Rahmen des Reiches zu streben, sich gegeneinander stellen und die Welt mit Blut tränken. (…) Machiavelli hat bei den Florentiner Schriftstellern (…) sicher bei Dante und vielleicht auch bei Marsilius über die ständigen Krisen seiner Stadt und des ‚italischen Reiches‘, die Kämpfe zwischen den politischen Gruppen, die Exilierten und Rückkehrer, die Verbote und Konfiszierungen gelesen. Doch wo diese Schriftsteller klagen, versucht er zu begreifen, wo sie sich Schmähreden und Jammern hingeben, wirft er das ‚historische‘ Problem der Florentiner Institutionen aufs neue auf“. H.-J. Diesner, Virtù, Fortuna und das Prinzip Hoffnung bei Machiavelli, 1993. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 161.
32
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
ist sie ebenfalls Ausdruck einer neuen Weltsicht, die alles scheinbar Beständige, wie es mittelalterlicher Perspektive entspricht,¹¹¹ in Auflösung begriffen sieht.¹¹² Montaigne wird diese permanente Bewegung, in der die Dinge sind, noch konsequenter zu einem allgemeinen Lebensprinzip machen.¹¹³ Die Lehren der Kirche und ihrer aus Machiavellis Sicht zutiefst unglaubwürdigen Vertreter, vornehmlich der Kirchenoberen, haben für ihn ihre Gültigkeit und Vorbildfunktion verloren (D I 2). Auch der Gesetzgeber tut sonach gut daran, auf den Menschen mit all seinen schlechten Eigenschaften zu schauen, die in ihrem Zusammenwirken von Neid, Missgunst und Unzufriedenheit überall auf der Welt dieselben sind, während sich die Sitten in territorialer Unterschiedlichkeit wandeln.
3. Gesetze vor dem Hintergrund anthropologischer Grunderfahrungen Die Grundlage für die D i s c o r s i bilden aber nicht nur die Bücher der ersten Dekade des Geschichtswerks des Livius,¹¹⁴ sondern vor allem ein pessimistisches Menschenbild,¹¹⁵ das eher dem des römischen Historikers Tacitus entspricht, den er öfter unausgesprochen zu berücksichtigen scheint, als er ihn ausdrücklich erwähnt: „Doch Tacitus, dem viele andere Schriftsteller beistimmen, behauptet
Zum historischen und gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, 1973; W. Ullmann, Individuum und Gesellschaft im Mittelalter, 1974. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 315, veranschaulicht dies am Beispiel der virtú, der ja gleichsam auf subjektiver Ebene dieses im obigen Zitat aufscheinende energetische und dynamische Moment zu eigen ist: „Die Herausstellung der moralisch nicht weiter normierten Energie und Kompetenz als der entscheidenden politischen Grundsubstanzen war mit den Vorstellungen, die die politische Theorie des Mittelalters mit den subjektiven Voraussetzungen eines Politikers verbunden hatte, nicht mehr zu vereinbaren“. Grundlegend K. Stierle, Montaigne und die Moralisten, 2016, S. 57 ff.; vgl. auch J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 141, folgert pointiert: “Machiavelli’s Livy is a character of Machiavelli”. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 264: „Dieser anthropologische Pessimismus bildet den systematischen Ausgangspunkt von Machiavellis politischen Überlegungen.“ An späterer Stelle (S. 271) gibt er zu bedenken: „Der Machiavellismus hat den anthropologischen Pessimismus zum Dogma gemacht, Machiavelli hingegen hat dies an keiner Stelle seiner Schriften getan. Ohne Zweifel hat auch er den Menschen eher als schlecht denn als gut bezeichnet, doch war dies für ihn keine apriori feststehende Wahrheit, sondern eine historisch-flexible Diagnose.“ Allerdings lassen sich kaum ermunternde Gegenbeispiele finden.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
33
das Gegenteil.“¹¹⁶ – ‚Nondimeno, Cornelio Tacito, al quale molti altri scrittori acconsentano, in una sentenza conchiude il contrario, quando ait‘ (D III 19).¹¹⁷
a) Unterschwelliger taciteischer Einfluss Auch wenn das, was Tacitus vorgeblich in der zuletzt zitierten Stelle gesagt haben soll, so nicht in seinen Werken steht, wie weiter unten noch näher darzulegen sein wird, zeigt es, wie sehr ihn Machiavelli schätzt, der unter den Historikern – von Livius natürlich abgesehen – nur Sallust (D III 6) und Thukydides als Autoritäten gelten lässt (D III 16). Darüber hinaus zitiert Machiavelli Tacitus beispielsweise, ohne ihn freilich zu erwähnen, im zehnten Kapitel des ersten Buches, wo er ersichtlich auf das Proömium der Historien Bezug nimmt.¹¹⁸ Allerdings muss man sich vor vorschnellen Verkürzungen hüten, weil die Art der Darstellung in den Geschichtswerken des römischen Historikers einerseits und der florentinischen Geschichte Machiavellis eine durchaus unterschiedliche ist.¹¹⁹ Auch lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, welche Werke des Tacitus Machiavelli im Zeit-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 341. Skeptisch allerdings R. Mellor, Tacitus, 1993, p. 139: “The first edition of Tacitus, lacking only Annals 1– 6, was printed in Venice in 1470. The Florentine statesman Niccolo Machiavelli made some use of that edition as he worked on his Discourses on the First Ten Books of Livy and The Prince after his exile in 1513. (…) Despite their close links in the minds of later Renaissance thinkers, Machiavelli was less influenced by Tacitus’s ideas than he was attracted by the antimonarchial aphorisms which could buttress his own arguments in his later, and overtly republican, Discourses. Machiavelli’s essential pragmatism was his basic link with Tacitus; both men were realists who examined actual (rather than ideal) men and institutions”. Tacitus, Historiae, I 2. Diese und viele andere Erwähnungen des Tacitus bei Machiavelli führten zu einer geistesgeschichtlichen Strömung, die man den ‚Tacitismus‘ bzw. ‚Tacitismo‘ nennt. Auf diese wichtige und eminent einflussreiche Richtung soll hier nicht weiter eingegangen werden; aus dem überaus reichhaltigen Schrifttum etwa G. Toffanin, Machiavelli e il Tacitismo, 1921; gegen ihn J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960; wichtig ferner R. Syme, Roman Historians and Renaissance Politics, in: Society and History in the Renaissance, Folger Library, 1960; M. Schellhase, Tacitus in Renaissance Political Thought, 1976; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, S. 99. H. Gmelin, Personendarstellung bei den Florentinischen Geschichtsschreibern der Renaissance, 1927, S. 21 f., hat das am deutlichsten herausgearbeitet: „Neben dieser Objektivität macht sich besonders in den zahlreichen Episoden eine starke plastisch-dramatische Wirkung geltend. Diese kommt (sc. bei Machiavelli) weniger aus einer ursprünglich dramatischen Anschauung, wie etwa bei Tacitus, wo das Dramatische selbst noch in die Charakteristiken eindringt, als vielmehr aus einem logischen Drang nach Präzisierung und Verdeutlichung des Geschehens.“ Zu dem genannten Eindringen des Dramatischen in die Charakteristiken umfassend J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, mit vielen Beispielen.
34
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
punkt der Fertigstellung des P r i n c i p e (1513) bzw. der D i s c o r s i (1516) ganz oder zumindest ausschnittweise gelesen hatte, wenn man bedenkt, dass etwa die erste Hexade der Annalen seinerzeit nur in einer einzigen Handschrift vorlag, die allerdings der Medici-Familie gehörte (‚Mediceus I‘) und damit Machiavelli wenigstens zu Zeiten seiner Verbannung und damit der Niederschrift seiner Hauptwerke kaum zugänglich gewesen sein dürfte.¹²⁰ Eher möglich gewesen wäre dies erst bei der Abfassung der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z (1520 – 1525), die eine Auftragsarbeit des Medici-Papstes Clemens VII. war und in deren zweitem Buch er die Annalen auch einmal ausdrücklich zitiert: „Und das Wort Fluentiner muß man als verdorbenes Wort betrachten, da Frontinus und Tacitus, die fast zu Plinius‘ Zeit schrieben, Florenz und Florentiner sagten. Schon zu Tiberius Zeit regierte es (sc. Forenz) sich nach der Sitte der anderen Städte, und Tacitus berichtet, es seien Florentinische Gesandte zum Kaiser gekommen, zu bitten, daß die Wasser der Chiana nicht auf ihr Land abgeleitet würden“¹²¹ – ‚E quello vocabolo ‚fluentini‘ conviene che sia corrotto, perché Frontino e Cornelio Tacito, che scrissono quasi che ne’ tempi di Plinio, gli chiamono Florenzia e florentini; perché di già ne’ tempi di Tiberio secondo il costume delle altre città d’Italia si governavano, e Cornelio referisce essere venuti oratori florentini allo imperadore a pregare che l’acque delle Chiane non fussero sopra il paese loro sboccate‘ (IF II 2). Die in Bezug genommene Stelle aus den Annalen findet sich im ersten Buch.¹²² Daraus kann man im Übrigen schließen, dass er zumindest einige Passagen der ersten Hexade, möglicherweise durch briefliche Exzerpte, gekannt haben muss, wenn er nicht doch das ganze Werk gelesen hat.¹²³ Es geht daher im
F. Mehmel, Machiavelli und die Antike, Antike und Abendland 3 (1948) 173. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 75. Tacitus, Annales, I 79: ,orantibus Florentinis, ne Clanis solito alveo demotus in amnem Arnum transferretur idque ipsis perniciem adferret.ʻ Zum Umfeld dieser Stelle J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 149 ff. Womöglich verhielt es sich bei den Annalen des Tacitus ebenso wie bei Lukrez, De rerum natura, von dem St. Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, 2012, S. 228 f. zu berichten weiß: „Zur gleichen Zeit, in der Savonarola seine Zuhörer dazu drängte, die dämlichen Atomisten auszulachen, kopierte sich ein junger Florentiner stillvergnügt den gesamten Text von De rerum natura. Später wird man dem Einfluss dieses Textes in den berühmten Büchern nachspüren, die dieser Mann geschrieben hat, doch nicht einmal hat er das Gedicht oder seinen Autor direkt erwähnt. Dazu war er zu schlau. Die Handschrift der Kopie allerdings wurde 1961 eindeutig identifiziert: Es war die von Niccolo Machiavelli selbst, er hatte die Kopie gefertigt. Sie wird in der Bibliothek des Vatikan aufbewahrt.“ An anderer Stelle spricht St. Greenblatt (Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurde, 2019, S. 120) in
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
35
Folgenden nicht um gleichwie geartete ‚tacitistisch‘ ausgerichtete Bestrebungen, sondern eher nur um das tendenziell pessimistische Menschenbild, das Tacitus zu eigen war und sich in den Werken Machiavellis, vor allem aber der Funktion, die er den Gesetzen zuweist, spiegelt,¹²⁴ wenngleich nicht übersehen werden darf, dass der Einfluss des Thukydides,¹²⁵ der seinerseits für Tacitus vorbildhaft gewesen sein dürfte,¹²⁶ bedeutend war (D III 16).¹²⁷
b) Negatives Menschenbild Dieses negative Menschenbild Machiavellis ist für sein Verständnis der Gesetze prägend, weil diese auszugleichen haben, was die menschliche Schwäche verursacht, und ihr zugleich für die Zukunft verhaltenssteuernd entgegenzuwirken haben. Bezeichnend hierfür ist der Beginn des dritten Kapitels des ersten Buches der D i s c o r s i : „Alle, die über Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Bleibt irgendeine Schlechtigkeit eine Zeit lang verborgen, so hat dies eine verborgene diesem Zusammenhang, aber auch darüber hinaus treffend von „Machiavellis kluge(r) Verschwiegenheit.“ (Üb. T. Roth). J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 67, der davon ausgeht, dass „sich Machiavellis Tacituskenntnis auf die Historien und den zweiten Annalenteil (sowie vielleicht die Kleinen Schriften) beschränkt“, gibt auf S. 76 zu bedenken: „Wenn Machiavelli schließlich von der Schlechtigkeit der Menschen handelt, so möchte man auch hier sich an Tacitus erinnert fühlen, der nicht besser von den Menschen dachte – jedoch ist es nicht dasselbe, ob man sich mit oder ohne Kenntnis von der christlichen Erbsünde in solcher Weise über die Menschen äußert.“ – Das setzt indes einen christlichen Glauben voraus, von dem angesichts seiner Ausführungen über die christliche Religion die Frage ist, ob Machiavelli darauf wirklich vertraute. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 265 Anmerkung 5, spricht sich für folgende Reihung aus: „Die tiefsten Einsichten in die Logik der Macht findet man zweifelsohne bei Thukydides. Thukydides wurde von Hobbes übersetzt, der der feinsinnigste Machtanalytiker nach Machiavelli und vor Carl Schmitt ist. Aber auch Titus Livius, Machiavellis Lieblingsautor ist in dieser Hinsicht bemerkenswert.“ – Man könnte sich fragen, ob nicht Tacitus nach Thukydides und vor Machiavelli zu nennen wäre, der aus solchen Sentenzen einiges gelernt haben dürfte: ‚nihil rerum mortalium tam instabile ac fluxum est quam fama potentiae non sua vi nixae‘ (Annales 13, 19, 1). R. Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1960) 37. Grundlegend K. Reinhardt, Thukydides und Machiavelli, in: Die Krise des Helden. Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, 1962, S. 52. Ferner G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 12, 46.
36
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Ursache, die nicht eher erkannt wird, als bis die Schlechtigkeit zum Ausbruch gekommen ist. Dann enthüllt sie die Zeit, welche man die Mutter aller Wahrheit nennt.“¹²⁸ – ‚Come dimostrano tutti coloro che ragionano del vivere civile, e come ne è piena di esempli ogni istoria, è necessario a chi dispone una republica ed ordina leggi in quella, presupporre tutti gli uomini rei, e che li abbiano sempre a usare la maglinità dello animo loro qualunque volta ne abbiano libera occasione; e quando alcuna maglinità sta occulta un tempo, procede da una occulta cagione, che per non si essere veduta esperienza del contrario non si conosce; ma la fa poi scoprire il tempo, il quale dicono essere padre d’ogni verità‘ (D I 3).¹²⁹
aa) Schlechtigkeit des Menschen als Grund der Gesetze Die universelle und allgegenwärtige Schlechtigkeit des Menschen ist für Machiavellis Gesetzesverständnis also deswegen prägend, weil sie den Grund der Schaffung aller Einrichtungen und Gesetze bedingt. Gerade weil der Mensch aus seiner Sicht von Grund auf schlecht ist, bedarf er bestimmter Einrichtungen und vor allem der Gesetze. Von daher erklärt sich auch der erste Satz der D i s c o r s i , der eine besondere Ausprägung der Schlechtigkeit der Menschennatur zum Ausgangspunkt macht: „Neue Einrichtungen zu treffen oder neue Staatsordnungen zu schaffen, ist bei der neidischen Natur des Menschen immer ebenso gefährlich gewesen, wie die Entdeckung unbekannter Meere und Länder; denn die Menschen neigen mehr dazu, die Handlungen anderer zu tadeln als zu loben.“¹³⁰ – ‚Ancora che per la invida natura degli uomini sia sempre suto non altrimenti periculoso trovare modi ed ordini nuovi che si fusse cercare acque e terre incognite, per essere quelli piú pronti a biasimare che a laudare le azioni d’altri‘ (D I Proemio). Neid und Missgunst der Menschen sind dem Menschen von Grund auf unaufhörlich zu eigen (D III 16).¹³¹
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 17. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 263, stellt diese Sätze sogar seinem Kapitel über den anthropologischen Pessimismus Machiavellis voran und kontrastiert: „Während die Aufklärung den Gedanken der Perfektibilität ins Zentrum ihres Menschenbildes stellt, hat Machiavelli die Korruptibilität des Menschen als sein herausstechendes Charakteristikum angesehen.“ Die Konsequenz, die daraus für ihn folgt, zieht er auf S. 266: „Die Grundhypothese der prinzipiellen menschlichen Korruptibilität eröffnet so der Politik einen Handlungsbereich, der immer wieder die Grenzen des ethisch Zugelassenen überschreitet“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 4. Tacitus, Agricola, 1, 1, mit dem Machiavelli den anthropologischen Pessimismus teilt, sieht übrigens ebenfalls im ersten Satz seines Frühwerkes, in dem die virtus eine herausgehobene Rolle
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
37
Interessant an diesem ersten Satz dieses bedeutenden literarischen Werkes der Renaissance ist der Vergleich zwischen dem Gefahrengrad der neidischen Menschennatur mit der Erschließung neuer Ozeane und Kontinente.¹³² Mensch und Natur werden dergestalt in eine Beziehung zueinandergesetzt, dass das Laster des Neides in brillanter rhetorischer Stilisierung gleichsam als Naturkonstante erscheint. Zugleich nimmt Machiavelli kaum mehr als zwei Jahrzehnte nach der Entdeckung Amerikas an den Unwägbarkeiten der Erschließung neuer Lebensräume Maß für die Bestimmung der Gefahr, die vom menschlichen Neid ausgeht. Die Annahme der Schlechtigkeit des Menschen und die darauf gegründete Einsicht in die Unerlässlichkeit entsprechender Einrichtungen und Gesetze, welche die menschliche Bosheit im Zaum halten, die sich sonst unweigerlich bahnbrechen würde, durchzieht die Abhandlung wie ein roter Faden.¹³³ Das zeigt sich beispielsweise zu Beginn des siebten Kapitels des ersten Buches, der eine entsprechende Handlungsanweisung formuliert:¹³⁴ „Denen, die in
spielt, den Neid als Grundübel an: ,ignoratiam recti ac invidiamʻ; dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 12. W. Leidhold, Die Neuentdeckung der Alten Welt – Machiavelli und die Analyse der internationalen Beziehungen, Der Staat 31 (1992) 87, kommentiert die Stelle treffend: „Machiavelli vergleicht hier sein theoretisches Unternehmen mit der Entdeckung neuer Meere und Kontinente (…). Dieser Einfall, dieses concetto spielt mit dem Anspruch seines Programmes, das sich der Alten Welt – vornehmlich, doch nicht exklusiv Rom – zuwendet, um sie neu zu entdecken. Denn er wird sie durch einen Bruch mit den gängigen traditionellen Perspektiven in neuem Licht aufscheinen lassen“. A. O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg (Üb. S. Offe), 1987, S. 21: „Machiavelli ahnte wahrscheinlich, dass eine realistische Staatstheorie die Kenntnis der menschlichen Natur voraussetzte, aber seine zwar treffenden Äußerungen zu diesem Thema finden sich unsystematisch über sein Werk verstreut“. R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 233 ff., erklärt diesen Zusammenhang im Sinne des Untertitels seines Buches vor dem Hintergrund der Renaissance in einer soziologisch anspruchsvollen Weise, die auch die Tradition der antiken Autoren einbezieht, in der sich Machiavelli einerseits – wenn auch nicht epigonenhaft – sieht, über die er jedoch in der ihm eigenen Originalität entscheidend hinausgeht: „Dies Ausweichen in die gemischte Herrschaftsform hat aber zur Voraussetzung, daß die Menschen von Haus aus grundböse sind, sodaß sie sich in keiner reinen Herrschaftsform erhalten können; vielmehr müssen alle Gesetze so gebildet sein, daß sie ein Regulativ bilden gegen das Durchbrechen der bösen und schlechten Instinkte bei den Herrschern und den Beherrschten. (…) In Wahrheit aber strömt in diese Sätze seine ganze Erbitterung über die Schwächlichkeit seines Zeitalters ein und die theoretische Gewandung ist seinem Empfinden nur äußerlich, was vor allem dann klar wird, wenn er betont, wo von selbst gut gehandelt werde, sei ein Gesetz nicht nötig. Das Zusammenleben steht aber immer unter Gesetzen, die nichts mit Gut oder Böse zu schaffen haben, sondern nur Ausdruck der sozialen Ordnung sind. Erst wenn diese Ordnung vergeht, beginnt das Anklagen. (…) Diese Auffassung aber von der Funktion der Gesetze als einem ‚Mittel‘, um die
38
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
einem Staatswesen eingesetzt sind, um über seine Freiheit zu wachen, kann man keine nützlichere und notwendigere Befugnis geben, als das Recht, diejenigen Bürger, die sich in irgendeiner Weise gegen die bestehende Ordnung vergangen haben, vor dem Volk oder vor irgendeiner Behörde oder einem Rat anklagen zu können. (…) Nichts macht daher einen Staat geschlossener und dauerhafter als eine Einrichtung, durch welche sich die Erregung, die aus solchen Misshelligkeiten entsteht, auf gesetzlichem Weg entladen kann.“¹³⁵ – ‚A coloro che in una città sono preposti per guardia della sua libertà, non si può dare autorità piú utile e neccessaria quanto è quella di potere accusare i cittadini al popolo o a qualunque magistrato o consiglio, quando peccassono in alcuna cosa contro allo stato libero. (…) E però non è cosa che faccia tanto stabile e ferma una republica, quanto ordinare quella in modo che l’alterazione di quegli omori che l’agitano abbia una via da sfogarsi ordinata dalle leggi‘ (D I 7).¹³⁶ Es handelt sich dabei gleichsam um Selbstheilungskräfte der Republik.¹³⁷ Entscheidend ist für Machiavelli die Selbstreinigung des Gemeinwesens auf gesetzlichem Weg, also nicht durch gewaltsame Selbstjustiz. Gesetze können auf diese Weise die fehlgeleitete Energie in geordnete Bahnen lenken. Was auf den ersten Blick befremdlich wirkt, nämlich die Anklagemöglichkeit, die scheinbar nur zu leicht als Instrument niederträchtiger Denunziationen verstanden werden kann, enthüllt sich nach Machiavellis Verständnis, wenn man ein größeres Übel in den Blick nimmt, das erfahrungsgemäß aus der Menschennatur hervorgeht und
Menschen zusammenzuzwingen, die auch bei Polybios sich findet, ist in der Tat bei Machiavelli nicht nur aus alten Schriftstellern angelesen, sondern sie wird bewußt verwendet, um die Krise zu ihrem schärfsten Ausdruck emporzusteigern. Denn er kannte sehr wohl aus der Antike die all diesen Lehren am entschiedensten entgegenstehende Theorie über die Entstehung des Rechts, nach der das Gesetz nicht etwa geschaffen wird um eines bestimmten Zweckes willen, sondern gleichursprünglich ist mit einem göttlichen Geist, der auch dem Menschen von Haus aus eine soziale Natur gegeben hat (Cicero). Da ihm aber der soziale Zusammenhang der Menschen in der Krise zum Problem wurde, mußte er diese Lehre zurückweisen und ihr die aufreizende Konstruktion von der ursprünglichen Schlechtigkeit der Menschen gegenüberstellen (…)“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 29. E. Benner, Machiavelli’s Ethics, 2009, p. 372, paraphrasiert: “as to order it in such a mode so that those alterning humors that agitate it can be vented in a way ordered by the laws”. Zu dieser Stelle ferner A. Jellamo, Machiavelli e Platone: armonie dissonanti, in: La filosofia politica di Machiavelli (a cura di G. M. Chiodi/R. Gatti), 2015, S. 159, 161. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 26, folgert unter anderem aus diesem Kapitel mit Auswirkung auf die Gesetzgebung “it should be noted that Machiavelli contends not only that a healthy republic ought to authorize the people to choose magistrates (…) but also that a republic authorize them to discuss and ultimately decide legislation in assembly and to judge political trials collectively”.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
39
seines Erachtens unschädlich gemacht werden kann, sofern eine entsprechende Anklagemöglichkeit besteht.
bb) Gesetze zum Schutz vor Verleumdungen Dieses größere Übel ist das moralische Laster der Verleumdungen. Daraus erklärt sich, dass Machiavelli in der soeben zitierten Stelle einen gesetzlichen Weg zu bahnen anmahnt, vermittels dessen in einer im Vorhinein klar bestimmten Weise vor bestimmten Behörden, die eigens dazu eingerichtet sind, die Möglichkeit bestehen muss, Verleumdungen entgegenzutreten. Der Schutz vor Verleumdungen kann seines Erachtens eben nur in den Bahnen des Rechts erfolgen, die zu Institutionen führen, aufgrund derer Sicherheit – und das bedeutet eben auch Rechtssicherheit – vor unbilligen Verleumdungen geschaffen wird.¹³⁸ Am Beispiel einer hier nicht weiter interessierenden Begebenheit aus dem Geschichtswerk des Livius gelangt er zu der Annahme, wie schrecklich sich Verleumdungen auswirken können:¹³⁹ „Daraus zeigt sich, wie verabscheuungswürdig in Freistaaten wie überhaupt in jedem anderen Staatswesen Verleumdungen sind; man darf zu ihrer Unterdrückung kein Mittel scheuen. Zu ihrer Verhütung gibt es keine bessere Einrichtung, als den Anklagen ein weites Feld einzuräumen, da Anklagen den Freistaaten ebenso viel nützen, wie Verleumdungen ihnen schaden. Zwischen beiden ist der große Unterschied, daß man bei Verleumdungen keine Zeugen braucht und es überhaupt keine Möglichkeit zur Nachprüfung ihrer Richtigkeit
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234, stellt die Zielrichtung klar, die er freilich etwas zu einseitig bestimmt: „Machiavelli blickt also auf die Bürgerrechte nur unter dem Gesichtspunkt der Stärke und des Funktionierens des Staates; das Gesetz, dessen Vorhandensein er in den Strukturen eines wohlgeordneten Staates fordert, steht der Stärke nicht entgegen, sondern ist selber Stärke und ein Band, das die Untertanen zusammenhält und verhindert, daß sie sich gegen den Staat richten; auf diese Weise wird es nötig, wenn das Gesetz nicht ausreicht, sich einer anderen Art der Stärke zu bedienen, die diesen Strukturen wieder zu Leben verhelfen und sie erneuern kann, wenn die wechselhaften Zeiten und die Veränderungen am Volkskörper sie als unzulänglich erscheinen lassen.“ – Allerdings kann durch einen starken Institutionsschutz zumindest reflexartig auch dort Individualschutz vermittelt werden, wo dieser nicht primäres Ziel ist; vgl. J. Petersen, Das Bankgeheimnis zwischen Individualschutz und Institutionsschutz, 2005. J. Huber, Guicciardinis Kritik an Machiavelli. Streit um Staat, Gesellschaft und Geschichte im frühneuzeitlichen Italien, 2004, S. 148 ff. – Die in diesem Titel zum Ausdruck kommende Kritik Francesco Guicciardinis kann hier nicht behandelt werden, weil dies den Umfang des vorliegenden Themas sprengen würde. Die unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf die Gesetzgebung sind im Übrigen bereits mustergültig ausgearbeitet worden von J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 79.
40
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
gibt, so daß jeder von jedem verleumdet werden kann. Nicht aber kann ein jeder angeklagt werden, da bei Anklagen vollgültige Beweismittel die Berechtigung der Anklage zeigen müssen. Man klagt vor Behörden, vor dem Volk, vor einem Rat an. Aber verleumdet auf Plätzen und in Hallen.“¹⁴⁰ – ‚È da notare per questo testo quanto siano, nelle città libere ed in ogni altro modo di vivere, detestabili le calunnie; e come per reprimerle si debba non perdonare a ordine alcuno che vi faccia a proposito. Né può essere migliore ordine a torle via che aprire assai luoghi alle accuse, perché quanto le accuse giovano alle republiche tanto le calunnie nuocono; e dall’una all’altra parte è questa differenza, che le callunie non hanno bisogno né di testimone né di alcuno altro particulare riscontro a provarle, in modo che ciascuno e da ciascuno può essere calunniato; ma non può già essere accusato, avendo le accuse bisogno di riscontri veri e di circunstanze che mostrino la verità dell’accusa. Accusansi gli uomini a’magistrati, a’ popoli, a’ consigli; calunnionsi per le piazze e per le logge‘ (D I 8).
c) Rechtssicherheit durch gerichtsförmige Entscheidung Die zuletzt zitierte Sentenz zeigt beispielhaft, wie gedankenreich und sprachmächtig Machiavelli mit einer wirkungsvollen Antithese und einer Anapher die historischen Erfahrungen zum Ausdruck und zu einer ganz neuen Einsicht bringt, die in ihrer grellen Kontrastierung aus den Erfahrungen der Rechtsgeschichte und des Alltagslebens zu einer ganz neuartigen Idee werden. Gesetzmäßig geregelte Zuständigkeitsverteilungen auf der einen Seite und den Rechtsfrieden zersetzende üble Nachrede auf der anderen Seite werden einander entgegengestellt.Wiederum widersetzt sich zwar zunächst das Gerechtigkeitsgefühl seinem Postulat, dass man die Anklagemöglichkeiten tunlichst erweitern solle, wäre damit doch dem Denunziantenunwesen Tür und Tor geöffnet.¹⁴¹ Machiavelli setzt dies aber dadurch ins rechte Verhältnis, dass er ein womöglich noch größeres Übel, das jedoch fest in der Menschennatur verankert ist, auftreten lässt und ausmalt, wie schlimm es um die Welt bestellt wäre, wenn keine Möglichkeit bestünde, sich gegen Verleumdungen in den Formen des Rechts zu wehren.¹⁴² Erneut ist es der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, den er be-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 33. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. vii, sieht in dieser Anklagemöglichkeit mit Recht eine derjenigen Institutionen, die nach Machiavellis Vorstellung die Demokratie zusammenhalten; er bezeichnet sie als “political trials in which the entire citizenry acts as ultimate judge over prosecutions and appeals”. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 272 f., deutet dies wohl trotz aller profunden Sachkenntnis um die damaligen Bedingungen schon begrifflich,
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
41
schwört.¹⁴³ Denn Machiavelli setzt voraus, dass alle Anklagen gerichtsförmig behandelt werden, klar eingegrenzten Beweismöglichkeiten unterstehen und vor einer besonderen Öffentlichkeit verhandelt werden, die gleichsam ein formalisiertes Gegenmittel schafft für Verleumdungen, die ihrer Natur nach allgegenwärtig wirken und so die gesamte Republik aus den Fugen geraten lassen können. Diese Willkür hemmende Förmlichkeit des Verfahrens, die Machiavelli in besonderer Weise beobachtet, begegnet auch an anderen Stellen, vor allem beim Zustandekommen von Gesetzen (IF III 15; VII 3).¹⁴⁴
d) Verhaltenssteuernde Wirkung von Gesetzen und Einrichtungen Vor dem Hintergrund dieses gedanklichen Ausgangspunktes, den man wegen der auf der Hand liegenden Bedenken gegen die vielfältigen Anklagemöglichkeiten zwar mitnichten teilen muss, aber nachvollziehen kann, wenn man bedenkt, dass Machiavelli selbst auf unsicherer Tatsachengrundlage vernommen und gefoltert
aber auch inhaltlich (wie schon auf S. 211) zu ‚nietzscheanisch‘, um nicht zu sagen ‚machiavellistisch‘, und damit auch bezüglich der Folgerung nicht widerspruchsfrei: „Im politischen Prozess geht es nicht um Schuld oder Unschuld. Sie sind vielmehr ein notwendiges Mittel, um den Großen selbst eine heilsame Furcht vor dem Staat und seinen Gesetzen einzuflößen. Vor diesen sind an sich alle gleich. Doch da die Vornehmen eher dazu neigen, die Verfassung zu missachten, müssen sie vorsorglich angeklagt und verurteilt werden, auch wenn sie sich konkret nichts zuschulden kommen ließen, allein zur Warnung und Abschreckung. Das war pure republikanische Staatsräson, in Härte und Unerbittlichkeit ihrem fürstlichen Gegenstück mindestens ebenbürtig, und erneut eine Umwertung aller Werte. Denn in den real existierenden Republiken lagen die Verhältnisse genau umgekehrt: Hier verfolgten die Justizbehörden die Kleinen unnachsichtig und ließen die großen Verbrecher laufen. Machiavellis höchster Wert aber lautet: Recht ist, was dem Staat nützt. Wen die Härte des Gesetzes unschuldig trifft, muss klaglos in seine Vernichtung einstimmen“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 395, hat dies am deutlichsten herausgearbeitet: „Dennoch – und das ist in der Rezeption der Machiavellischen Theorie häufig genug übersehen worden – war Machiavelli alles andere als ein theoretischer Vertreter staatlicher Willkürpolitik. Immer wieder hat gerade er Rechtssicherheit und möglichst große Beteiligung der Bürger an der Lösung der politischen Aufgaben gefordert. Er hat dies freilich nicht getan, weil er ein überzeugter Vertreter der Menschenrechte oder ein Anwalt der Demokratie gewesen wäre, sondern weil er nur unter den Bedingungen der Rechtssicherheit und einer weitreichenden politischen Partizipation der Bürger die innere Stabilität des Staates auf lange Sichert als gesichert ansah“. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 94, legt auf die für Machiavelli so wichtige Frage des Zustandekommens der Gesetze ebenfalls besonderes Augenmerk: “The Council of the Commune passes the new laws (FH III.15).” Repräsentativ für seine Genauigkeit bei der Betrachtung der Gesetzgebungsverfahren ist auch seine gedankenreiche Hypothese in: ders., ebenda, p. 133 f.
42
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
worden ist, gelangt er immerhin dazu, die möglichen Übel zueinander ins Verhältnis zu setzen: „Verleumdungen sind umso häufiger, je seltener Anklagen sind und je weniger vom Staat für ihre Anbringung gesorgt ist. Deshalb muss der Gesetzgeber eines Freistaats Einrichtungen schaffen, damit man jeden Bürger ohne Furcht und ohne Rücksicht in den Anklagezustand versetzen kann. Ist dies geschehen und wird es auch beachtet, so müssen Verleumder streng bestraft werden; denn sie können sich über ihre Strafe nicht beschweren, da ihnen ja der Weg offenstand, gegen den Anklage zu erheben, den sie heimlich verleumdet haben.“¹⁴⁵ – ‚Usasi piú questa calunnia dove si usa meno l’accusa, e dove le città sono meno ordinate e riceverle. Però uno ordinatore d’una republica debbe ordinare che si possa in quella accusare ogni cittadino sanza alcuna paura o sanza alcuno rispetto; e fatto questo e bene osservato, debbe punire acremente i calunniatori: i quali non si possono dolere quando siano puniti, avendo i luoghi aperti a udire le accuse di colui che gli avesse per le logge calunniato‘ (D I 8). Bevor man diese Forderung kritisiert, muss man ihre innere Folgerichtigkeit würdigen. Dem schleichenden Gift der Verleumdungen, die ihrer Art nach heimlich und allgegenwärtig wirken, wird ein Gegengift zubereitet, das dieses Übel unschädlich macht. Nicht zuletzt darin besteht die Funktion der Gesetze,¹⁴⁶ wenn man es in der für Machiavelli bezeichnenden Weise mit medizinischen Anleihen begreiflich machen möchte (D III 49).¹⁴⁷ Vor allem der Gerechtigkeitsgesichtspunkt, dass der Verleumder bei Bestehen entsprechender Einrichtungen und Anklagemöglichkeiten seinerseits hätte gerichtlich klagen können, ist nicht von der Hand zu weisen, zumal da dies einen Zuwachs an Rationalität im Rahmen der Rechtsdurchsetzung verspricht.¹⁴⁸ Das begründet nämlich sogar eine prä-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 34. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 887, hat darüber hinaus die Bedeutung für ‚einen systemfunktionalistischen Begriff der Macht‘ als das Besondere und eigentlich Neue seiner Gedanken auf den Punkt gebracht: „Aber der Bruch mit der Tradition erschöpft sich nicht in der moralischen Neutralisierung der Macht. Das Revolutionäre seiner Gedanken, nämlich die retrospektiv erkennbare Weichenstellung für einen systemfunktionalistischen Begriff der Macht weist über den zeitgenössischen Interpretationshorizont hinaus“. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 20 f., erblickt hierin einen aristotelischen Gedanken, nachdem er zuvor in ähnlichem Zusammenhang einen sallustianisch gefärbten ausgemacht hat: „Und wenn Aristoteles alles das, was man in der Gesetzgebung als heilsam für die Verfassung erkenne, auch als Mittel zur Erhaltung derselben bezeichnet, so spricht er im wesentlichen einen ähnlichen Gedanken aus“. Näher J. Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, § 1.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
43
ventive Möglichkeit, die den Rechtsfrieden dadurch aufrechterhält, dass jeder Betroffene sich seinerseits schon im Vorhinein innerhalb seiner gesetzlich statuierten Anklagemöglichkeiten wehren kann.¹⁴⁹ Die verhaltenssteuernde Wirkung solcher Einrichtungen und Gesetze soll also dazu dienen, das Gemeinwesen gegen üble Nachrede zu immunisieren, die es ansonsten zersetzen könnte.
4. Gesetze als Instrumente im Ständekampf Innehalten muss man jedoch, wenn man den nachfolgenden Befund liest: „Rom hatte in dieser Hinsicht, wie bereits erwähnt, gute Einrichtungen, unsere Stadt Florenz dagegen immer schlechte. Auch hatten die in Rom getroffenen Einrichtungen viele gute Wirkungen, die in Florenz bestehende Unordnung viele schlimme Folgen. (…) Hätte es in Florenz eine Einrichtung zur Anklage der Bürger und zur Bestrafung der Verleumder gegeben, so wären zahllose Unruhen, die aus diesem Mangel entstanden sind, vermieden worden.“¹⁵⁰ – ‚Questa parte, come è detto, era bene ordinata in Roma, ed è stata sempre male ordinata nella nostra città di Firenze. (…) Che se fusse stato in Firenze ordine di accusare i cittadini e punire i calunniatori, non seguivano infiniti scandoli che sono seguíti‘ (D I 8).Wenn man das Possessivpronomen im italienischen Original (‚nostra‘) bedenkt, das Machiavelli seiner Heimatstadt voranstellt, fragt man sich unwillkürlich, ob er Florenz nicht nur als den ihm am besten bekannten Ort mit all seinen Missständen beschreibt, dessen ganze Geschichte er ja im Übrigen verfasst hat, sondern auch wegen ei J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 9, setzt diese für sein theoretisches Fundament wichtige Möglichkeit der Anklageerhebung unter Berücksichtigung der Gesetzgebung zum Grade des möglichen Republikanismus‘ Machiavellis ins Verhältnis: “In particular, Machiavelli’s critique of the tradition demonstrates how republicanism explicitly justified the free hand that the wealthy and public officials enjoy at the expense of the general populace within republics; and his writings advocate class-specific magistracies and popularly inclusive assemblies through which common citizens might make elites more accountable and within which common citizens might effectively deliberate and decide upon laws and policy themselves.” Zum besseren Verständnis der institutionellen Gegebenheiten und Machtverhältnisse wichtig auch ders., Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 101: “Machiavelli criticizes the Florentine people for totally excluding the nobles from the highest magistracies, but (…) Machiavelli’s account of actual events suggests that they ultimately had no choice.” Die allgemeine Formel, die auch Machiavellis zeitlich-dynamischer Betrachtungsweise angemessen Rechnung trägt, entwickelt der Autor, ebenda, auf p. 102: “Modern and ancient republics, in Machiavelli’s view, exhibit vastly different institutional-constitutional frameworks within which historically constant popular and aristocratic appetites operate and interact.” Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 34.
44
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
gener erlittener Unbill im Rahmen seiner Verbannung, als deren Ursache er nicht zuletzt anonyme Denunziationen ausgemacht haben dürfte.¹⁵¹ Entscheidend ist bei aller Berücksichtigung autobiographischer Besonderheiten freilich auch hier der Sachgesichtspunkt der ordnungsstiftenden Wirkung von Anklagemöglichkeiten zur Vermeidung öffentlicher Unruhen.¹⁵²
a) Gesetze in Rom und Florenz Man versteht die im Ausgangspunkt betrachtete Stelle, an der er Rom und Florenz einander gegenüberstellt, besser, wenn man eine Passage aus dem Beginn des dritten Buchs seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z ergänzend berücksichtigt.¹⁵³ Wieder einmal geht es um die Zwistigkeiten von Adel und Volk: „Dies hielt Rom uneinig, dies hat – wenn es erlaubt ist, Kleines mit Großem zu vergleichen – Florenz geteilt erhalten. Die Wirkungen aber, die in beiden Städten daraus hervorgingen, waren verschieden.“¹⁵⁴ ‚Questo tenne disunita Roma; questo, se gli è lecito le cose piccole alle grandi agguagliare, ha tenuto diviso Firenze‘ (IF III 1).
aa) Gesetz versus Gewalt Interessant ist hieran nicht nur der von Machiavelli zugrunde gelegte Maßstab, nach dem er das mittelalterliche Florenz größenmäßig dem antiken Rom unterordnet, was ersichtlich nicht territorial gemeint ist, sondern eher einen Abstand hinsichtlich der Dignität einhält, wie es übrigens auch Dante gegen Ende seiner Allgemein zum Florenz der Renaissance unter Berücksichtigung Machiavellis H. Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republic Liberty in the Age of Classicism and Tyranny, 1955; R. v. Albertini, Das florentinische Staatsbewusstsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, 1955; C. C. Baylay,War and Society in Renaissance Florence, 1961; G. Brucker, The Civic World of Early Renaissance Florence, 1977; P. Godman, From Poliziano to Machiavelli. Florentine Humanism in the High Renaissance, 1998. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 164, fasst prägnant zusammen: “As Machiavelli demonstrates so well, citizens come to see their own interests most clearly and manage to avow them most articulately through political practices in which they participate directly (D I.47, I.58) and through institutional arrangements in which they discuss and decide not only the appointment of magistrates but also and especially legislation and public prosecutions (D I.58, D I.7– 8)”. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 264, belegt anhanddessen den werkimmanenten Zusammenhang mit dem Kapitel der Discorsi über das Ackergesetz, von dem noch die Rede sein wird. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 150.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
45
Commedia unternimmt, wo Florenz als Fremdkörper und Inbegriff ungerechter Verhältnisse erscheint.¹⁵⁵ Sodann ist die kausale Betrachtungsweise weiterführend, die den Wirkungszusammenhang vergleicht, indem die jeweils eingesetzten Instrumente wie Heilmittel hinsichtlich ihrer Wirksamkeit unterschieden werden: „Die Feindschaften, welche im Anfang in Rom zwischen Volk und Edlen bestanden, wurden durch Worte, die von Florenz durchs Schwert entschieden.“¹⁵⁶ – ‚Perché le nimicizie che furono nel principio in Roma intra il popolo e i nobili, disputando, quelle di Firenze, combattendo, si difinivano‘ (IF III 1). Roher Gewalt im Einzugsbereich der Stadt seines Untersuchungsgegenstandes stand in Rom also die Beredsamkeit gegenüber, mit der die Ständekämpfe, jedenfalls nach Machiavellis idealisierender Betrachtung, ausgefochten wurden.¹⁵⁷ Die Waffen waren also in Rom ungleich kultivierter als in Florenz. Vor allem nämlich schlossen die permanenten Dispute, durch die der Widerstreit ausgefochten wurde, die Jurisprudenz mit ein, indem sie das Recht wortwörtlich setzten, Senatsbeschlüsse fassten und Gesetze verabschiedeten. Dementsprechend anspruchsvoller waren die Unterschiede hinsichtlich der Wirkungen, die sich gleichsam symmetrisch gestalteten, wenn im einen Fall das Wort, im anderen schiere Gewalt herrscht:¹⁵⁸ „Die von Rom endeten mit einem Gesetz, die von Florenz mit der Verbannung und dem Tode vieler Bürger.“¹⁵⁹ – ,Quelle di Roma con una legge, quelle di Firenze con lo esilio e con la morte di molti
Dante, Paradiso XXXI 39; dazu J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 131. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 150. Tacitus, Dialogus de oratoribus, 41, der die Höhe der Beredsamkeit zum Niedergang des Gemeinwesens in ein Verhältnis setzt, ist, wie überhaupt die gesamte Schrift, in diesem Zusammenhang bemerkenswert; dazu näher J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 3. Ob Machiavelli den Dialogus gelesen hat, der zu den sogenannten kleinen Schriften gehört, von denen selbst J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 67, für möglich hält, dass Machiavelli sie gekannt haben könnte, ist freilich nicht erweislich. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 92, diagnostiziert allerdings mit guten Gründen an bestimmten Stellen der Geschichte von Florenz Brüche bzw. Inkosistenzen im Hinblick auf das Proömium zum dritten Buch. Dass die betreffenden Passagen auch im Hinblick auf die Gesetzgebung weiterführend sind, zeigt folgende Beobachtung: “Once again, contradicting his own statements at the start of Book III, Machiavelli shows here that the plebs, who heretofore had been completely excluded from these arrangements, ask for the passage of laws that benefit the entire citizenry and not just themselves as the prevailing party”. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 150.
46
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
cittadini terminavono‘ (IF III 1).¹⁶⁰ Roms überragende Kulturleistung, das Recht, hatte sich auch in diesem Punkt durchgesetzt.¹⁶¹ Das Gesetz erscheint nicht nur als Instrument des Rechts, sondern auch als folgerichtiges Produkt einer Streitigkeit, die mit Worten ausgetragen wurde. Der mit noch so fintenreich eingebrachten Gesetzen (die von der anderen Seite umgangen wurden) ausgetragene Streit ist aus Machiavellis Sicht schon deswegen vorzugswürdig, weil er die jedenfalls verderbliche Gewalt bannt. Gerade diese Übereinstimmung der gewählten Waffe mit dem, was den Konflikt beendet, stellt Machiavelli rhetorisch überaus wirkungsvoll dar, indem er unaufdringlich den Gesichtspunkt hervorhebt, dass letztlich jedes Gesetz eine Zusammenstellung von Worten ist. Rede und Widerrede in der römischen Geschichte führten evolutorisch dazu, dass sich die widerstreitenden Interessen in einem Gesetz materialisierten. Demgegenüber nimmt sich der vergleichende Befund in der florentinischen Geschichte ernüchternd und primitiv aus: Der gewaltsam ausgetragene Konflikt kennt keine andere Lösungsmöglichkeit als Exil oder Tod des Unterworfenen. Grundlose Gewalt aber lehnt Machiavelli prinzipiell ab.¹⁶²
Siehe dazu auch J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 70. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 224, hat dies ohne Bezugnahme auf die vorliegende Stelle, aber mutatis mutandis passend auch zu dieser herausgearbeitet: „Dabei wirkt sich der polemische Hinweis um so schärfer aus, als Machiavelli das römische Beispiel historisch bestimmt und verdeutlicht: denn in Rom wie auch in Florenz waren die Einrichtungen der Stadt anfänglich ‚mangelhaft‘ (insofern sie monarchistisch waren), weshalb Rom ebenfalls große Gefahren durchlaufen hatte. Doch gerade der Zwietracht zwischen den beiden ‚Ordnungen‘ (sc. der Patrizier und Plebejer), die (als Folge der erwähnten Mangelhaftigkeit der archaischen Institutionen) so lange und so tiefgehend das innere Leben der Stadt beunruhigte, entsprangen später ihre Größe und ihr Aufstieg über alle Mächte der Welt. Diese beiden römischen Ordnungen erschöpften sich nämlich keinesfalls im sinnlosen und ermüdenden Spiel von Siegen, Niederlagen, Beschlagnahme, Verbannungen und Begnadigungen; ihnen gelang es, Rechtsinstitutionen auszuarbeiten, die aus diesen Kämpfen das Rückgrat und die Lebenskraft des römischen Staates machten. Das geschah in Florenz nicht, und so kam es zum Untergang der Stadt.“ Hervorhebung nur hier. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 138, fasst Machiavellis Auffassung unter Verweis auf P VII besonders deutlich zusammen und stellt den Zusammenhang zum Widerstreit von Gemeinwohl und Einzelinteressen dar: „Man könnte sagen, daß für Machiavelli die Politik das Machtvakuum verabscheut. Wo ein solches Machtvakuum, wenn auch nur für kurze Zeit, existiere, bringe es naturgemäß Anarchie hervor, die nicht ein Zustand ohne Macht, sondern die Herrschaft brutaler Gewalt sei. Da Machiavelli zutiefst davon überzeugt ist, daß Krieg und Gewalt Übel seien, fordert er eine starke Staatsgewalt, die um des Gemeinwohls
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
47
bb) Gesetzliche Lösung um den Preis der Rechtsgleichheit Es folgt allerdings eine für Machiavelli bezeichnende Pointe, nachdem es zunächst so ausgesehen hat, als habe sich die unbedingte Überlegenheit der römischen Antike ergeben: „Die (sc. Wirkungen) von Rom führten die Stadt von Gleichheit zu einer sehr großen Ungleichheit der Bürger, die von Florenz haben es von Ungleichheit zu einer wunderbaren Gleichheit gebracht.“¹⁶³ – ‚Quelle di Roma da una ugualità di cittadini in una disagguaglianza grandissima quella città condussono; quelle die Firenze da una disagguaglianza a una mirabile ugualità l’hanno ridutta‘ (IF III 1). Gewiss schwingt hier Sarkasmus mit, weil mitunter gerade die Besten Verbannung oder Tod traf, wie Machiavelli selbst im Hinblick auf das Exil am eigenen Leib erfahren musste. Denn dadurch, dass hervorragende Geister gewaltsam aus dem Gemeinwesen geschieden wurden, trat zugleich eine nivellierende Wirkung im Hinblick auf das verbleibende Mittelmaß der in Florenz überlebenden Einwohner ein.¹⁶⁴ Gleiches gilt, wenn die Mächtigen vertrieben werden, wie Machiavelli an etwas späterer Stelle ebenfalls mit einer vernehmlichen Spur von Schärfe zu erkennen gibt, die einmal mehr seine Menschenkenntnis veranschaulicht:¹⁶⁵ „Da jedoch durch den Sturz der Großen die Bürger schon zu solcher Gleichheit gekommen waren, daß man mehr Ehrfurcht vor den Magistraten hatte als früher gewöhnlich, so beabsichtigten sie, auf gesetzlichem Wege und ohne Privatgewalttätigkeit zu Werke zu gehen.“¹⁶⁶ – ‚E perché già i cittadini per la rovina de’ grandi erano in tanta ugualità venuti che i magistrati erano, piú che per loro addietro non solevano, riveriti, disegnavano per la via ordinaria e sanza privata violenza prevalersi‘ (IF III 2). Mit der Verbannung der Mächtigen gewinnt nämlich willen die Partikularinteressen bricht, die sich gegen jenes Wohl stemmen.“ Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 150. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 255, macht auf diese Ausnahme von der sonst eher statischen Betrachtung der Niedrigkeit der Menschennatur durch Machiavelli aufmerksam: „Die römischen Bürger aus der Zeit der Republik und seine eigenen italienischen Zeitgenossen hat er alles andere als gleich angesehen. So verwandelt er unter der Hand die menschliche Natur wieder in eine durchaus dynamische Größe (…) Was Machiavelli als eine konstante Größe ansetzt, ist also nicht die menschliche Natur in ihrer historisch ausgeformten Gestalt, sondern vielmehr ihr ‚Rohstoff‘, die Summe der menschlichen Leidenschaften und Fähigkeiten. Sie sind stets dieselben und der sich immer gleichbleibende Motor der geschichtlichen Entwicklung“. Tacitus, Historiae, 1, 1, 1, hat auch dies vorausgesehen: ,Magna illa ingenia cessereʻ. Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 87, 438. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 153.
48
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wieder einen höheren Stellenwert, die vordem durch Korruption und Einflussnahme gelähmt war. Das führt nicht nur zu einer höheren Akzeptanz ihrer Entscheidungen, sondern macht gewaltsame Selbstjustiz verzichtbar, wenn man auch von amtlichen Stellen gesetzmäßige Entscheidungen erwarten kann.
cc) Vermittlung durch Gesetz versus gesetzliche Siegerjustiz Aber auch im Hinblick auf die altrömische Praxis mit ihrer überragenden Rechtskultur im Wege der Gesetzgebung erkennt Machiavelli den wunden Punkt:¹⁶⁷ Gerade die Rechtsentwicklung und Schaffung bewundernswerter Gesetze führte zu einer tiefgreifenden Ungleichheit zwischen Patriziern und Plebejern,¹⁶⁸ die das römische Gemeinwesen von Grund auf prägte.¹⁶⁹ Das geschah namentlich durch das Zwölftafelgesetz, auf das Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z offenbar anspielt, wenn er sagt, dass die Ständekämpfe in Rom mit einem Gesetz endeten (IF III 1).¹⁷⁰ Die gegenüber der florentinischen vergleichsweise friedliche Entwicklung und Beilegung des Konflikts durch ein Gesetz vollzieht sich aus Machiavellis Sicht also um den Preis der Rechtsgleichheit. Machiavelli analysiert sodann die unterschiedliche Zielsetzung, aus der die jeweiligen Wirkungen hervorgingen. In Florenz habe man auf einen
Grundlegend zu dem im Text vorausgesetzten Begriff P. Mankowski, Rechtskultur, 2016. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 90, zeigt dies am Beispiel der noch näher zu behandelnden Agrargesetzgebung: “By the time that the Gracchi actually enacted such legislation, the nobility had amassed from the fruits of empire such economic power, and the citizen-soldiery had been reduced to such egregious poverty and abject servility, that no successful recourse short of a wholesale refounding of the republic is available to potential reformers”. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 231, stellt den geistesgeschichtlichen und werkimmanenten Zusammenhang mit den allfälligen Kautelen des Gesetzgebers her: „Bei Machiavelli hingegen bedeuten die Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern kein Augenblicksereignis, keine Episode, die mit irgendeinem anderen Vorfall oder einer beliebigen Epoche auf eine Stufe zu stellen wäre; sie sind eine so beständige und unausweichliche Realität, daß sogar Staaten ihretwegen zusammenbrechen, wenn der Gesetzgeber nicht Vorsorge getroffen hat (und nicht ständig Vorsorge trägt), ihre elementare Kraft einzudämmen“. Tacitus, Annales, 3, 27, 1, stellt die von Machiavelli wohl gemeinte Entwicklung in einer gehaltvollen Periode dar: ,Pulso Tarquinio adversum patrum factiones multa populus paravit tuendae libertatis et firmandae concordiae, creatique decemviri et, accitis quae usquam egregia, compositae duodecim tabulae, finis aequi iurisʻ. D. Flach, Tacitus in der Tradition der antiken Geschichtsschreibung, 1973, S. 184: „Daß Tacitus die Zwölftafelgesetzgebung als Endpunkt einer zum Ausgleich hindrängenden Entwicklung, als finis aequi iuris ansah, beruht indessen nicht auf eigenmächtiger Vergröberung der römischen Verfassungsgeschichte“.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
49
kompromisslosen Ausschluss des Adels hingearbeitet. In Rom dagegen sei es um eine vermittelnde Lösung durch ein beiderlei Belangen Rechnung tragendes Gesetz gegangen, mit dem Adel und Volk gleichermaßen leben konnten. Der Adel habe zwar nachgeben müssen, doch seien die Einbußen so erträglich gewesen, dass es gewaltlos vonstatten gegangen sei. Diesen Weg hält Machiavelli für gerecht, den florentinischen hingegen für einen Ausdruck von Siegerjustiz: „Da also das Verlangen des römischen Volkes billiger war, waren die Verletzungen der Edlen erträglicher. (…) und nach einigem Streite kam man überein, ein Gesetz zu geben, wodurch das Volk befriedigt wurde und die Edlen in ihren Würden blieben. Das Verlangen des florentinischen Volkes hingegen war beleidigend und ungerecht. Mit größerer Kraft rüstete sich daher der Adel zu seiner Verteidigung, und deshalb kam es zum Blutvergießen und zur Verbannung der Bürger. Die Gesetze, welche hierauf erlassen wurden, waren nicht um gemeinschaftlichen Nutzen, sondern allein zugunsten des Siegers gegeben.“¹⁷¹ – ‚E perché il desiderio del popolo romano era piú ragionevole, venivono ad essere le offese ai nobili piú sopportabili; tale que quella nobilità facilmente e sanza venire alle armi cedeva; di modo che, dopo alcuni dispareri, a creare una legge dove si sodisfacesse al popolo, e i nobili nelle loro dignità rimanessero, convenivano. Dall’altro canto, il desiderio del popolo fiorentino era ingiurioso e ingiusto, tale che la nobilità con maggiori forze alle sue difese si preparava, e perciò al sangue e allo esilio si veniva de’ cittadini; e quelle leggi che di poi si creavono, non a comune utilità, ma tutte in favore del vincitore si ordinavano‘ (IF III 1).¹⁷² Das Interessante an dieser Wertung ist, dass Machiavelli den gesetzgeberischen römischen Kompromiss adelt, während er sonst in seinem Werk, vor allem in allen drei Büchern der D i s c o r s i , jedweden Mittelweg verschmäht (D I, 27; II, 23; III 2, 40). Gegen Ende der D i s c o r s i hat Machiavelli seine Einsicht des verderblichen Mittelwegs ausdrücklich Livius zugeschrieben, der an der betreffenden Stelle übrigens explizit die Gesetze nennt (D III 40).¹⁷³
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 151. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 151, veranschaulicht anhand dieser Stelle mit guten Gründen die tiefgreifenden Unterschiede, die zwischen seiner und der Sichtweise von L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, bestehen. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 19 Fn. 3, präzisiert mit dem Verweis auf Livius, Ab urbe condita 9, 3: „Die bekannte Erzählung, wie Gavius Pontius die Römer im caudinischen Engpass zur Uebergabe nötigt; der Vater des Pontius rät diesem, die Römer entweder niederzumachen oder unversehrt zu entlassen: cum filius aliique principes pereunetando exsequerentur, quid si media via consilii
50
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
dd) Weiser Gesetzgeber in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z ? Aber letztlich wiegt die Herstellung von Frieden und Gerechtigkeit höher, die Machiavelli ebenfalls in den D i s c o r s i hervorhebt (D I 10). Daher sollte man daraus auch nicht künstlich einen werkimmanenten Widerspruch konstruieren. Machiavelli wusste nämlich nur zu gut, dass der Bürgerkrieg zu den schlimmsten Übeln seiner Zeit gehörte,¹⁷⁴ den es unter allen Umständen zu verhindern galt (D I 2).¹⁷⁵ Er war kein engstirniger Prinzipienfanatiker, sondern pragmatisch genug, wenn es mit allfälliger Kompromissbereitschaft darum ging, diesen größtmöglichen Missstand abzuwenden. Zur Erreichung dieses Zweckes war ihm aus der römischen Geschichte stets die Lehre gegenwärtig, dass ein Gesetz, mit dem alle wohl oder übel leben können, zwar keine optimale Lösung bildete, aber allemal besser war, als ein dekretiertes Gesetz, das für die unterlegene Partei einer Unterwerfungserklärung gleichkam, die immer nur so lange hielt, wie die Kräfteverhältnisse, die zum vorübergehenden Sieg geführt hatten, aufrechterhalten blieben. Allerdings hält Machiavelli an etwas späterer Stelle noch eine Pointe bereit, die darauf anspielt, dass Rom mit dem Ende der Republik durch die Diktatur Caesars, spätestens aber in der Kaiserzeit schließlich noch in die Alleinherrschaft abgeglitten ist, in der von Gesetzen nicht mehr die Rede war, weil nur noch ein Wille galt. In dieser Hinsicht sah Machiavelli zugunsten seiner Heimatstadt immerhin noch alle Möglichkeiten. Doch lässt er einstweilen offen, ob die Republik willens und in der Lage wäre, die daran geknüpfte Bedingung eines weisen Gesetzgebers zu erfüllen, der somit nun auch in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z begegnet, nachdem er zuvor bereits in den D i s c o r s i wiederholt genannt wurde (D I 1, 9): „Während Rom, als seine Tapferkeit sich in Hochmut verwandelt hatte, dahin kam, daß es sich ohne einen Fürsten nicht erhalten konnte, ist Florenz dahin gekommen, daß es leicht durch einen weisen Gesetzgeber unter jede Regierungsform gebracht werden könnte.“¹⁷⁶ – ‚E dove Roma, sendosi quella loro virtú convertita in superbia, si ridusse in termine che sanza avere un principe non si caperetur, ut et dimitterentur incolumes et leges eis iure belli victis imponerentur ,ista quidem sententia, inquit, ea est, quae neque amicos parat nec inimicos tollitʻ“. Diese Einsicht prägt auch noch das Denken des mehr als ein halbes Jahrhundert jüngeren Michel de Montaigne; vgl. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 1 und passim. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 138, paraphrasiert den Gedanken Machiavellis treffend: „Und nur die Härte garantiere die Aufrechterhaltung staatlicher Macht; wer energisch gegen zentrifugale Kräfte vorgehe, werde zwar getadelt; aber nur durch seine Härte verhindere er Bürgerkriege und unendliches Elend.“ Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 151 f.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
51
poteva mantenere, Firenze a quel grado è pervenuta che facilmente da uno savio datore di legge potrebbe essere in qualunque forma di governo riordinata‘ (IF III 1). Die Bedingung eines weisen Gesetzgebers, der keine Dynastie begründen möchte, sondern ausschließlich dem Interesse des Allgemeinwohls verpflichtet handelt, ist allerdings schwerlich erfüllbar.
b) Gesetze und Ungerechtigkeiten in Florenz Die Ausführungen gegen die Zustände in Florenz, die hier nur beispielhaft zitiert wurden, sind innerhalb seines Werkes so zahlreich und mannigfaltig, dass in ihnen wohl nicht nur historisches Anschauungsmaterial zu sehen ist, sondern zugleich eine Auseinandersetzung mit den ihm selbst widerfahrenen Ungerechtigkeiten, die vielleicht auch, was bei Verleumdungen durchaus naheliegt, zum Verlust seiner Stellung führten, der ihn zwang, an eine neue Beschäftigung zu denken und eben die D i s c o r s i zu schreiben.¹⁷⁷ Das wird besonders deutlich, wenn man erneut seine G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z zurate zieht.¹⁷⁸ Auch an dieser Stelle geht es, wenngleich in einem früheren Stadium, als zuletzt geschildert, um das Verhältnis der Aristokraten zum einfachen Volk. In einer Zeit, da die Streitigkeiten zwischen Adel und Volk besonders stark waren und das Volk ausnahmsweise die Oberhand hatte, während der Adel um Milderungen der Gesetze ersuchte, schildert Machiavelli das Für und Wider anschaulich: „Wenn man glauben könnte, dass sich die Edlen durch Milderung der Gesetze zufriedengeben, so würde diese Milderung gut sein. Allein ihr Stolz sei so groß, daß sie sich nie anders als gezwungen beruhigen würden. Viele andere, weiseren und ruhigeren Gemütes, hielten dafür, daß die Milderung der Gesetze wenig, der Kampf hingegen viel bedeute. Ihre Meinung ging durch, und es wurde
Siehe zum Ganzen J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, 1975 (dazu J. P. McCormick, Pocock, Machiavelli and Political Contingency in Foreign Affairs: Republican Existentialism Outside (and Within) the City, History of European Ideas; Special Issue commemorating the 40th anniversary of J.G.A. Pocock’s The Machiavellian Moment 43, 2017, 171); H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984; dazu H. Klenner, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 70 (1984) 146. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 13, verdeutlicht die Schwierigkeiten guter Gesetzgebung ebenfalls unter Verweis auf die florentinische Geschichte: “A ‚wise legislator‘, Machiavelli insists, could have imposed an appropriate constitutional order upon the Florentine Republic (FH III.1), which might have properly institutionalized social conflict along ‚natural‘ class lines (FH II.12). Instead, the city’s either naively ‚good‘ leaders, like Giano della Bella, or imprudently ‚bad‘ leaders, like Walter Brienne, permit or encourage social discord to persist in ever more chaotic and variegated ways”.
52
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
verordnet, daß zur Anklage der Edlen Zeugen nötig seien.“¹⁷⁹ – ‚E se si credesse che rimanessero contenti mitigando le leggi, che sarebbe bene mitigarle; ma che la superbia loro era tanta che non poserieno mai se non forzati. A molti altri, piú savi e di piú quieto animo, pareva che il temperare le leggi non importassi molto, e il venire alla zuffa importassi assai: di modo che la opinione loro prevalse, e provvidono che alle accuse de’ nobili fussero necessari i testimoni‘ (IF II 14). Auch hieran sieht man, wie wichtig Machiavelli Anklagemöglichkeiten gegen die Mächtigen sind, dass er aber andererseits die Wichtigkeit unabhängiger Zeugen hervorhebt, wie er es bereits in den D i s c o r s i als selbstverständlich vorausgesetzt hatte (D I 8).¹⁸⁰ So entstand zeitweise ein gedeihliches, von außen ungestörtes Miteinander, das an das in den D i s c o r s i gelobte goldene Zeitalter erinnert (D I 10). Jedoch wurde es nur zu bald durch die für Machiavelli unausweichlichen und für Florenz typischen innenpolitischen Verwerfungen zerrieben: „Obgleich zwischen Edlen und Volk einiger Unwille und Argwohn herrschte, so sah man doch keine üble Wirkung, sondern alle lebten in Frieden und Eintracht. Und wäre dieser Friede nicht durch neue Feindschaften im Innern gestört worden, so durfte er die äußern nicht fürchten.“¹⁸¹ – ‚E benché intra i nobili e il popolo fusse alcuna indignazione e sospetto, nondimeno non facevono alcuno maligno effetto, ma unitamente e in pace ciascuno si viveva. La qual pace, se dalle nuove inimicizie dentro non fusse stata turbata, di quelle di fuora non poteva dubitare‘ (IF II 15).
c) Machiavellis Gerechtigkeitssinn im Vergleich mit Dantes Dass Machiavelli einen sehr feinen Gerechtigkeitssinn für erlittene Ungerechtigkeiten und Zurücksetzungen besaß, wissen wir auch aus seinen diplomatischen
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 94 f. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 245 f., kommentiert mit einem auf die Gesetzgebung zielenden Scharfblick: „Und im folgenden Kapitel, wo er nicht mehr von Anschuldigungen, sondern offen von Verleumdungen spricht und deren zersetzende Wirkung herausstreicht, gibt er eine erschöpfende Schilderung des unheilvollen Prozesses, nach dem die politischen Gegensätze in Florenz nicht durch eine Ausweitung der Gesetze und der staatlichen Institutionen aufgehoben werden, sondern feindselige Parteibildungen zur Folge haben, so daß sich das Gefüge des Staates in einem verkrampften Rhythmus zersplittert und wieder zusammenfindet. Die Verleumdungen sind also zugleich Folge und Ursache der gesellschaftlichen und politischen Unordnung; sie deuten auf Zersetzung und politisches Mißverhältnis hin, das zwar noch nicht an seiner äußersten Grenze angelangt ist, doch klar diesem tödlichen Punkt zustrebt“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 95.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
53
Schreiben an die florentinische Regierung, als er noch im Amt war.¹⁸² Die Vehemenz, mit der er gegen die florentinischen Zustände schreibt und über sie richtet, erinnert an einen großen anderen aus Florenz Vertriebenen, nämlich seinen Landsmann Dante Alighieri, den er in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z im Hinblick auf seinen klugen politischen Rat gebührend herausstellt: „Da beide Parteien unter Waffen standen, bewaffneten die Signoren durch Dantes Rat und Klugheit, der damals Signor war, ermutigt, das Volk, vereinigten viele aus dem Stadtgebiet mit ihm und zwangen die Häupter der Parteien, die Waffen niederzulegen.“¹⁸³ – ‚E trovandosi in arme ambedue le parti, i Signori, de’ quali era in quel tempo Dante, per il consiglio e prudenza sua presono animo e feciono armare il popolo, al quale molti del contado aggiunsono; e di poi forzorono i capi delle parti a posare le armi‘ (IF II 18). Wie nah ihm Dante bei allen Unterschieden in der, hier mittelalterlichen, dort neuzeitlichen Weltsicht¹⁸⁴ – allerdings nur scheinbar – ist,¹⁸⁵ veranschaulicht im Übrigen nicht nur ein Zitat aus den D i s c o r s i (D I 11),¹⁸⁶ sondern auch eine
V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 81, zitiert einen Brief Machiavellis, in dem er sich darüber beklagte, dass er für die gleiche Arbeit im Rahmen einer diplomatischen Mission schlechter bezahlt wurde und weniger Spesen erhielt: „Daher scheint es mir gegen jede göttliche und menschliche Gerechtigkeit, wenn ich weniger Lohn bekomme als er.“ – Es ist bemerkenswert, dass er, der seinen Zeitgenossen durchaus nicht immer als gläubig galt, sich hier emphatisch und zweifellos um seiner Forderung in rhetorischer Stilisierung größeren Nachdruck zu verleihen, auf die göttliche Gerechtigkeit berief, die ihm sonst weniger heilig war als die menschliche. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 99. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 24, erinnert zudem an eine in der Antike wurzelnde Traditionslinie, die über Dante zu Machiavelli führt: “A venerable tradition, most notably represented by Dante, recognizes the Roman Caesars to be the heirs of Alexander”. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 228, hat diese Divergenz als anerkannter Kenner beider Denker im Hinblick auf die jeweilige Beurteilung der Institutionen und politischen Konstruktionen paradigmatisch herausgestellt: „Was bei den Chronisten, Historikern, politischen Schriftstellern und selbst bei Dante bald heftige und schmerzliche Schmähung, bald sehnsüchtiges Schwärmen von einer verlorenen Welt der Güte und Lauterkeit und dann wieder einfacher Hinweis auf einen Fehler in den Institutionen ist, wird bei Machiavelli Kraft und Wille zu historischem Verständnis, die Absicht, auf historischer Ebene die Ursache all des Unglücks zu ergründen und in einer geeigneten politischen Konstruktion alle Widersprüche und Mängel zu integrieren, die die historische Untersuchung in den Strukturen von Florenz und Italien aufzeigte.“ Hervorhebung nur hier. Es handelt sich um eine Terzine aus dem Purgatorio (VII, 121– 123), die Machiavelli wörtlich zitiert. Im 53. Kapitel zitiert er interessanterweise sogar Dantes staatsphilosophische ‚Monarchia‘.
54
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
weitere Stelle seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , an der wohl nicht von ungefähr die Geltung eines bestimmten Gesetzes betont wird:¹⁸⁷ „Den Häuptern der Regierung schien es daher gut, um weniger Feinde zu haben, die Zahl derselben zu vermindern, und sie beschloßen, daß alle Rebellen wieder eingesetzt werden sollten, die ausgenommen, welchen namentlich im Gesetze die Rückkehr verboten wurde. Demnach blieb der größere Teil der Ghibellinen und einige der weißen Partei, worunter Dante Alighieri (…) verwiesen.“¹⁸⁸ – ‚Donde a’ capi del governo parve che fusse bene per avere meno nimici diminuire il numero di quegli; e perciò, deliberorono che tutti i rebelli fussero restituiti, eccetto quelli a chi nominatamente nella legge fusse il ritorno vietato. Donde che restarono fuori la maggior parte de’ ghibellini e alcuni di quegli di parte bianca, intra i quali furono Dante Aldighieri (…)‘ (IF II 24). Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss allerdings auch gesagt werden, dass Machiavelli in einem ‚Discorso o Dialogo intorno alla nostr lingua‘ Dante in dialogischer Form äußerst kritisch, ja sogar sehr ablehnend gewürdigt hat.¹⁸⁹ Dass die namentliche Bezugnahme auf einen bestimmten Delinquenten in einem Gesetz fragwürdig war, brauchte Machiavelli nicht eigens zu erwähnen, zumal da ihm das aus den antiken Quellen geläufig war.¹⁹⁰ An späterer Stelle lässt er zumindest durchblicken, dass es sich um ein anrüchiges Einzelfallgesetz handelt, wie er es auch noch in anderem Zusammenhang in geradezu selbstverständlicher Beiläufigkeit – ‚fu fatta una legge per virtú della quale‘ (IF VIII 2) – erwähnt, mit dem die Erhebung eines zum Volksmann gemachten Ritters
Dante, Paradiso XXXI, 37-39; dazu J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 131. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 109 f. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 284 f., erklärt die Gründe einleuchtend in geradezu juristischer Sprache: „Man muss seinem Vaterland dienen, auch wenn es sich als undankbar erweist: So lautet die Maxime des Discorso. Gegen sie verstieß ausgerechnet der größte der italienischen Dichter, Dante Alighieri. Deswegen macht ihm Machiavelli zweihundert Jahre nach seinem Tod den Prozess. In dessen Verlauf nimmt er den Verfasser der Göttlichen Komödie in ein unbarmherziges Kreuzverhör. (…) Doch in Wahrheit geht es längst um Machiavelli selbst, der der Meinung war, ihm sei von Florenz dasselbe Unrecht zugefügt worden wie Dante.“ Aufschlussreich auch bereits zu einem anderen Werk ebenda, S. 281, wonach Machiavelli „seinen großen Landsmann genau studiert hat, um ihn danach ins Komische zu wenden“. Tacitus, Annales, 3, 27, 3, spielt auf das gegen Cicero gerichtete Einzelfallgesetz des Clodius Pulcher an: ‚iamque non modo in commune, sed in singulos homines latae quaestiones‘. Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1.
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
55
durchkreuzt werden sollte:¹⁹¹ „Er war dadurch fähig, Signor zu werden; als er aber diese Würde zu bekleiden erwartete, wurde ein Gesetz gegeben, daß kein zum Volksmann gemachter Großer Signor sein dürfe.“¹⁹² – ‚E per questo era a potere essere de’ Signori abile diventato, e quando egli aspettava di sedere in quel magistrato, si fece una legge che niuno grande fatto popolano lo potesse esercitare‘ (IF III 4). Es liegt also zumindest nahe, dass der größte Missstand, an dem das florentinische Gemeinwesen aus Machiavellis Sicht litt, genau mit demjenigen übereinstimmt, an dem er selbst gescheitert ist. Insofern muss man die bewundernswerte Stringenz seiner Gedankenführung vorsichtshalber immer auch mit seinen Erfahrungen abgleichen, die ihm einerseits seine enorme Menschenkenntnis eingegeben haben, andererseits aber auch eine gewisse Radikalität verleihen, die ihn mitunter gerade dort abstoßend erscheinen lässt, wo er paradoxerweise am menschlichsten urteilt.
5. Zersetzung des Rechts durch Denunziationen Den Kritiker darf dies freilich nicht dazu verführen, nur autobiographisch zu psychologisieren. Anzusetzen ist daher weniger bei seiner Perhorreszierung der florentinischen Verhältnisse, die ihm immerhin ein vielfältiges Anschauungsmaterial der Schlechtigkeit des Menschen zur Seite stellen, als vielmehr bei der Idealisierung der römischen Einrichtungen, die er ja in der zitierten Stelle besonders hervorhebt.¹⁹³
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 157, berichtet in anderem Zusammenhang zutreffend von gegen den Adel erlassenen ‚Maßnahmegesetzen‘, die auch nach heutiger Diktion von den hier in Rede stehenden ‚Einzelfallgesetzen‘ zu unterscheiden sind. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 155. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 244, wonach „Machiavelli, wenn er von Rom spricht und anhand seines Beispiels eine vollkommene systematische Theorie eines freien Staates entwirft, keineswegs die schmerzliche Wirklichkeit seiner Zeit vergessen hat, zumal nichts anderes als diese Wirklichkeit mit ihren Kämpfen,Wunden und Widersprüchen Machiavelli dazu bewog, eine ideale Geschichte von Rom zu verfassen, die im Grunde nichts anderes darstellt als seine eigene Staatslehre.“ – Man könnte hinzufügen: und seine eigene Gesetzgebungslehre.
56
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
a) Machiavelli als Leser des Tacitus? Das ist umso erstaunlicher, als er als Leser des Tacitus gerade den größten Missstand der frühen Kaiserzeit kennen musste, der in den unzähligen unberechtigten Anzeigen besteht, die Senatsgericht und Kaisergericht erreichten.¹⁹⁴ Denn kaum etwas vergiftete das Gemeinwesen so sehr, wie die unzähligen Denunziationen, die trotz und gerade wegen aller Gesetze – paradigmatisch ist die Ehegesetzgebung¹⁹⁵ – zu permanentem Verrat und willkürlichen Verurteilungen führten.¹⁹⁶ Man mag dagegen einwenden, dass auch dies noch keine immanente Kritik an Machiavelli ist, weil er ja gerade nicht ausdrücklich von Tacitus, sondern von Livius handelt, dessen Geschichtswerk er zum Ausgangspunkt nimmt. Aber gerade in dieser Hinsicht ist eine der weiter oben genannten versteckten Stellen aufschlussreich, an denen er Tacitus, ohne ihn ausdrücklich zu nennen, zu Wort kommen lässt: „Er wird sehen, daß die Angeber belohnt wurden, die Sklaven gegen ihre Herren und die Freigelassenen gegen ihren Patron aufgewiegelt wurden und die, die keine Feinde hatten, von ihren Freunden ermordet wurden.“¹⁹⁷ – ‚Vedrà premiare gli calunniatori, essere corrotti i servi contro al signore, i liberti contro al padrone; e quelli a chi fussero mancati inimici, essere oppressi dagli amici‘ (D I 10).¹⁹⁸ Auch diese Stelle spielt, wie erinnerlich, an das Proömium der Historien an.¹⁹⁹ Es steht allerdings in einem werkimmanenten Zusammenhang zu einer Reihe anderer Stellen aus den Annalen des Tacitus, also seinem Hauptwerk, das die Schlechtigkeit der Menschennatur in allen, bevorzugt dunklen Farben schildert.²⁰⁰ Es sind dies vor allem Stellen über Freunde, die einander verraten, um in Vgl. nur J. Bleicken, Senatsgericht und Kaisergericht, 1962, mit weiteren Nachweisen. D. Nörr, Planung in der Antike. Über die Ehegesetze des Augustus, in: Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys (Hg. H. Baier), 1977, S. 309, zu dem Übel der allgegenwärtigen Anzeigen aufgrund behaupteter oder wirklicher Verstöße gegen die Ehegesetzgebung des Kaisers Augustus. Tacitus, Annales, 3, 24– 28. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 42. Zur Sklaverei zu Zeiten Machiavellis juristisch und moraltheoretisch, aber auch religionssoziologisch und wegen der beschränkten Anreizwirkung rechtsökonomisch aufschlussreich H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 134 f.: „In Florenz, wo Sklavenhaltung bis ins 16. Jahrhundert anzutreffen war, bestimmte ein Gesetz aus dem Jahre 1364, daß jedermann Sklaven einführen, verkaufen und halten dürfe, sofern diese nicht katholischen Glaubens seien. Dabei war der Vorrang der ökonomischen gegenüber den religiösen Imperativen durchaus sichergestellt: Der Nachweis des katholischen Glaubens war nicht durch die Taufe, sondern nur durch katholische Eltern zu erbringen, was der zu erwartenden Taufwilligkeit der Sklaven einen Riegel vorschob“. Tacitus, Historiae, 1, 2, 3: ,et quibus deerat inimicus, per amicos oppressiʻ. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 124, hält Machiavellis Präferenz, an bestimmten Stellen Tacitus an Stelle des Livius zu zitieren, ebenfalls für bemerkenswert: “It is also significant
I. Die Discorsi als Werk der Renaissance
57
Prozessen die günstigere Beschuldigtenstellung zu erhalten.²⁰¹ Nicht von ungefähr bietet das grassierende Delatorenunwesen, also die Vielzahl unberechtigter Anzeigen auf der Grundlage von Gesetzen, die gerade dies geboten oder wenigstens nahelegten, den Anlass für eines der berühmtesten Worte des Tacitus über die Gesetze:²⁰² ‚et corruptissima re publica plurimae leges‘.²⁰³ Die meisten Gesetze gelten im verdorbensten Staat.
b) Originäre Einsichten am Beispiel der Lektüre des Livius Diese Vorstellung steht derjenigen Machiavellis diametral entgegen. Natürlich kann man auch hiergegen wiederum einwenden, dass Machiavelli eben gerade nicht Tacitus zum Ausgangspunkt nimmt,²⁰⁴ mag er ihn auch unausgesprochen zitieren, sondern eben Livius.²⁰⁵ Doch spricht er generell von den Zuständen Roms, wo die entsprechenden Einrichtungen und Gesetze in dieser Hinsicht, nämlich um Verleumdungen entgegenzuwirken, mustergültig gewesen seien – eine Prämisse, die man in dieser Allgemeinheit schwerlich teilen kann, wenn man wiederum den womöglich größten römischen Historiker zurate zieht.²⁰⁶ Es geht hier nicht darum, den einen Geschichtsschreiber gegen den anderen auszuspielen und Machiavellis primäre Quelle zu diskreditieren oder ihm gar gedankliche Inkonsequenzen nachzuweisen.²⁰⁷ Eher kann man daran aufzeigen, wie originell
that the first historian explicitly quoted as stating a general cause, the cause of a kind of human conduct, is not Livy but Tacitus”. Tacitus, Annales, 15, 56, 4 und öfter. Dazu eingehend J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 1 ff. Tacitus, Annales, 3, 27, 3. C. A. Helvétius, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung (Hg. und Üb. G. Mensching, 1972, S. 119) nennt interessanterweise im Zusammenhang mit kognitiven Fähigkeiten nicht von ungefähr Machiavelli und Tacitus in einem Atemzug, wenn er zu bedenken gibt, dass „Menschen mit einem guten Gedächtnis für gewöhnlich keine genialen Köpfe waren und man sie deshalb niemals mit einem Machiavell, Newton oder Tacitus gleichsetzen wird“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 15: „Wie kaum ein anderer Theoretiker in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit verstrickt und mit ihnen auch in der Praxis befaßt, entwickelte er seine Theorie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Denken der Antike, vor allem dem politischen Realismus des römischen Historikers Titus Livius.“ Siehe auch ebenda, S. 257: „Die Autorität, die die Bibel für das Mittelalter dargestellt hatte, wird hier abgelöst von dem Bericht, den Titus Livius von der Frühphase der römischen Republik gegeben hat“. R. Syme, The Roman Revolution. 1939, S. 1, lässt bereits im ersten Satz seines berühmten Werks erkennen, dass dies für ihn Tacitus ist. J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 63 ff., analysiert den möglichen Einfluss des Tacitus auf
58
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Machiavelli auch und gerade dort urteilt,²⁰⁸ wo er scheinbar nur den Livius kommentiert.²⁰⁹ Insofern sind die D i s c o r s i , auch was das Gesetzesverständnis betrifft, durchaus Selbstgespräche im besten Sinne, in denen Machiavelli eher anlässlich der Lektüre des livianischen Geschichtswerkes zu originären Einsichten findet,²¹⁰ die weniger die historische Vorlage vermitteln als vielmehr den eigenen Erfahrungshorizont und Scharfsinn unter Beweis stellen.²¹¹
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum Gleich zu Beginn seiner D i s c o r s i entwickelt Machiavelli einen soweit ersichtlich von Grund auf neuartigen Gedanken, indem er zeigt, wie sich Gesetze nicht nur in der Zeit entwickeln, sondern auch von den räumlichen Gegebenheiten Machiavelli, warnt aber vor Übertreibungen. Ähnlich bereits F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson, 2. Auflage 1925, S. 30. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 54 f., bezeichnet ihn aus gutem Grund als den „originellsten und bedeutendsten Denker der Renaissance“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 226 f., erklärt den auch in juristischer, rechtsgeschichtlicher und rechtssoziologischer Hinsicht aufschlussreichen Grund: „Es braucht somit nicht zu verwundern, daß das Werk, in dem Machiavelli versuchte, die Ergebnisse aller seiner langen Überlegungen über die Geschichte von Florenz zu vereinen, ausdrücklich so zahlreiche Untersuchungen über die römische Geschichte enthält und sogar als systematischer Kommentar (zumindest nach seiner Absicht) über die ersten zehn Bücher des Livius aufgefaßt sein will. Denn nur durch die Untersuchung dieser vollkommen politischen Formen, dieser außergewöhnlichen Fähigkeit, den großen Problemen des politischen Lebens gegenüberzutreten, ohne sich von ihnen beherrschen oder überwältigen zu lassen, gelingt es Machiavelli, seiner Deutung der Florentiner und italienischen Geschichte Ausdruck zu geben und die Grundzüge seiner Staatsauffassung zu entwerfen. (…) Und wenn das erste Buch der Discorsi ganz offensichtlich ein politisches und kein historisches Werk ist, so kann man doch auch sagen, daß seine Größe gerade in Machiavellis Fähigkeit liegt, die politischen Probleme immer in ihrem historischen Ausmaß zu sehen, seine Untersuchung nicht bei abstrakten Formen rechtlich-politischer Organisation verharren zu lassen, sondern ihre konkrete historische Entwicklung zu verfolgen, so daß die Lösung des Problems sich aus den Tatsachen selbst ergibt.“ Hervorhebungen nur hier. Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 164, bewegt sich demgegenüber eher auf der Linie der herkömmlichen Fürstenspiegel, indem er Zurückhaltung in der Gesetzgebungstätigkeit anmahnt und eher wenige, dafür möglichst gute und für den Staat heilsame Gesetze anregt: ‚Dabit igitur operam, non ut multas condat leges, sed ut quam optimas, maximeque reipublicae salutares‘. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 78, nennt die Discorsi „sein längstes und in mancher Hinsicht originellstes Werk der politischen Philosophie“.
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum
59
abhängen. Der erstgenannte Gesichtspunkt scheint noch vergleichsweise konventionell zu sein, weil er buchstäblich in historischen Bahnen verläuft und zeitlich zurückschaut, was seit jeher – zumal bei den römischen Historikern – üblich war.
1. Zeitlich-dynamisches Gesetzesverständnis Und doch finden sich auch und gerade hier Elemente einer gänzlich neuartigen Sichtweise, die veranschaulicht, dass es sich eben um ein Werk der Renaissance im doppelten Sinne handelt: zunächst einmal, was die Wiedergeburt der Antike betrifft, weil die Beispiele dem Schicksal Roms entlehnt sind: „Liest man, wie die Stadt Rom gegründet wurde, welche Gesetzgeber sie hatte und welche Einrichtungen getroffen wurden, so wundert man sich nicht, dass sich mehrere Jahrhunderte lang eine außerordentliche Tüchtigkeit in dieser Stadt erhalten hat und dass sich aus diesem Gemeinwesen später ein Weltreich entwickelt hat.“²¹² – ‚Coloro che leggeranno quale principio fusse quello della città di Roma, e da quali latori di leggi e come ordinato, non si maraviglieranno che tanta virtú si sia per piú secoli mantenuta in quella città; e che dipoi ne sia nato quello imperio al quale quella republica aggiunse‘ (D I 1).
a) Berücksichtigung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten Die Gesetze und Einrichtungen werden also als ein stabilisierendes Element begriffen, das entwicklungsgeschichtlich Garant für die Ausdehnung der Stadt zum Weltreich wurde.
aa) Veränderung der historischen Perspektive Allerdings ist dieser Aspekt, wenn man ihn auf die Renaissance zurückführt, ein eher äußerlicher, vielleicht gar plakativ anmutender, der auch anderswo stehen könnte. Eigentümlich ist demgegenüber eine Beobachtung im Vorwort der D i s c o r s i , die sich nur vorderhand im Bedauern darüber erschöpft, dass die historischen Vorbilder so selten nachgeahmt und studiert würden. Vielmehr ist der dortige Gesichtspunkt deswegen so außergewöhnlich und für die Renaissance bezeichnend, weil er eine Veränderung der historischen Perspektive bietet: „Dies wundert und betrübt mich zugleich, umso mehr, als ich sehe, wie man bei bür-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 7.
60
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
gerlichen Rechtsstreitigkeiten oder bei Krankheiten stets auf die Urteile oder Heilmittel zurückgreift, die von den Alten gefällt oder angewendet wurden; denn die bürgerlichen Gesetze sind nichts anderes als die Urteile der Rechtsgelehrten früherer Zeiten, die, in ein System gebracht, Muster für unsere heutigen Richter sind.“²¹³ – ‚Non posso fare che insieme non me ne maravigli e dolga. E tanto piú quanto io veggo nelle differenzie che intra cittadini civilmente nascano, o nelle malattie nelle quali li uomini incorrono, essersi sempre ricorso a quelli iudizii o a quelli remedii che dagli antichi sono stati iudicati o ordinati: perché le leggi civili non sono altro che sentenze date dagli antiqui iureconsulti, le quali, ridutte in ordine, a’ presenti nostri iureconsulti iudicare insegnano‘ (D I Proemio).²¹⁴
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 5. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 87, der diese kaum je gewürdigte Stelle erwähnt, sieht von ihrem konkreten juristischen Inhalt ab und abstrahiert, während sie für den vorliegenden Zusammenhang – womöglich aber auch bei Machiavelli selbst – wortwörtlich von Interesse ist: “But he does not make this remark on the jurists in order to say that he will do in regard to ancient political practice what the present-day jurists do (or perhaps what their ancient and medieval teachers did) in regard to ancient judicial practice. He makes that remark in order to show that in limited or subordinate matters modern men do imitate the ancients and thus to lead up to the demand that modern man should imitate the ancients in the greatest matters.” – Aber es ist fraglich, ob man das Anschauungsmaterial dieses Beispiels – zumal an derart prominenter Stelle – als so beiläufig bagatellisieren kann. Das führt im Übrigen zu einer erklärungsbedürftigen Asymmetrie, weil Strauss, unmittelbar im Anschluss an diese Stelle das nachfolgende der Medizin entlehnte Beispiel Machiavellis inhaltsgetreu versteht und dadurch aufwertet. Seine Erklärung, “the modern physicians (…) are more interesting to Machiavelli than the modern lawyers” (ebenda, p. 87), mag aufgrund der noch zu behandelnden Medizin-Vergleiche Machiavellis tendenziell stimmen, erklärt aber mitnichten alles, weil es in den Discorsi gleichwohl mehr um Recht als um Medizin geht und daher Beispiele aus dem Rechtsleben einen mehr als zufälligen Stellenwert haben. Auch seine folgende Beweisführung vermag diese Zweifel nicht vollends auszuräumen: “The anatomy of the mixed bodies is the indispensable condition for elaborating any reliable rules regarding the treatment of mixed bodies, whereas no equivalent of anatomy is needed in order to reduce to rules the decisions of the ancient lawyers: the lawyers can and must take for granted the law, the positive law which is not a mixed body but a product of a mixed body, and they cannot go back behind that product. In the context, the reference is to something like rules in the case of the lawyers and the complete silence about rules in the case of physicians is a sign of the fact that law occupies a lower rank than medicine.” (p. 87 f.). – Aber wenn Machiavelli nur das hätte sagen wollen, dann hätte ein beiläufiger Satz in der ihm eigenen unmissverständlichen Sprache an Stelle zweier ausführlicher Beispiele genügt. Denn dass die Juristen eben nur die jeweils geltenden Gesetze ihrer Zeit als gegeben hinnehmen und anwenden müssen, während die Mediziner vor den immer gleichmäßig geltenden natürlichen Gesetzmäßigkeiten stehen, ist kaum mehr als ein Gemeinplatz. Doch Machiavelli weiß, dass er für seine Beweisführung gerade auch juristisches Anschauungsmaterial benötigt, weil die Gesetze einen so großen Stellenwert in der wohlgeordneten Republik haben. Man kann Strauss aber wohl nur gerecht werden, wenn man den von ihm unausgesprochen zu Beginn seines Werkes zugrunde gelegten
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum
61
bb) Entscheidung von Privatrechtsstreitigkeiten nach Präzedenzfällen Machiavellis Verwunderung und Bedauern über die allfällige Anlehnung an die historischen Vorbilder und Geschehnisse führt ihn nämlich zu einer Betrachtung, die, wenn man die Geschichte des evolutionären Rechtsdenkens betrachtet, ganz und gar neuartig ist. Obwohl er dort im Unterschied zu seiner sonst eher staatstheoretischen Begründung interessanterweise privatrechtliche Streitigkeiten zum Ausgangspunkt nimmt, ist dieser Gedanke, soweit ersichtlich, noch nirgends in der historischen Privatrechtstheorie berücksichtigt worden,²¹⁵ obwohl er an so prominenter Stelle, immerhin dem Vorwort eines Hauptwerkes des Staatstheoretikers, steht. Sieht man einmal von dem für sich betrachtet bereits bemerkenswerten Gleichlauf von Jurisprudenz und Medizin ab, der sich bei Machiavelli durchgängig findet, so ist, wenn man nur das Recht betrachtet, der Übergang von den Urteilen in Privatrechtsstreitigkeiten zu allgemeinen Gesetzen geradezu verblüffend. Machiavelli setzt hier offensichtlich voraus, dass bürgerlichrechtliche Streitigkeiten zunächst seit jeher nach Präzedenzfällen entschieden worden sind. Die tragenden Gründe früherer Rechtsfälle, die in Urteilen ihren Niederschlag fanden, wurden auf spätere, von der Interessenlage her Gleichzuachtende übertragen. Das freilich ist für sich betrachtet noch nicht weiter bemerkenswert.
b) Privatrechtsgeschichte als Erfahrungsraum Perspektivisch neuartig ist dagegen die Beobachtung, dass die privatrechtlichen Gesetze dasselbe darstellen, was der Sache nach bedeutende Juristen in Urteilssprüchen abgesetzt haben. Machiavelli mag hier die Tätigkeit der großen römischen Juristen vor Augen gehabt haben. Dafür spricht, dass er den Vorbildcharakter dieser Urteile unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen Systems zusammenfasst.²¹⁶ Daher leuchtet ein, dass Machiavelli, was eingangs der Be-
Gleichlauf mit den Werken Platons über den Staat und die Gesetze berücksichtigt, aus denen sich das auch von Strauss angenommene Rangverhältnis ergibt; ebenda, p. 15: “Machiavelli presented his political teaching in two books, the Prince and the Discourses on the First Ten Books of Livy. Plato too presented his political teaching in two books, the Republic and the Laws. But Plato made it perfectly clear that the subject-matter of the Laws is of lower rank than that of the Republic or that the Laws is subordinate to the Republic.” Dann sollte man freilich ergänzend auch noch eine Stelle zur Gesetzgebung bei Aristoteles hinzunehmen, die sich gegen Ende findet; vgl. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 292: “To turn from modern hypotheses to the facts vouched for by Aristotle, sophistic political science was either identical with rhetoric or subordinate to it, and somehow concerned with teaching the art of legislation by collecting renowned laws”. Statt aller M. Auer, Der Privatrechtsdiskurs der Moderne, 2016. Hierzu aus moderner privatrechtswissenschaftlicher Sicht C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983.
62
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
trachtung ungewöhnlich schien, nämlich in einem staatsrechtlich gefärbten Diskurs privatrechtliche Aspekte der Rechtsentwicklung zu berücksichtigen, gerade dadurch folgerichtig argumentiert. Denn das römische Zivilrecht gilt mit Recht seit jeher als außerordentliche Kulturleistung der Römer, während das Staatsrecht – wenn man es überhaupt in Anlehnung an Theodor Mommsen so nennen möchte²¹⁷ – vor allem von den Gebräuchen und Einrichtungen der Vorfahren lebte.²¹⁸ Scheinbar historisch pedantisch und deskriptiv vorgehend, begründet Machiavelli mit wenigen Worten die Entwicklung von Gesetzen aus Urteilen unter dem Gesichtspunkt eines Systems. Dahinter steht ersichtlich die Vorstellung, dass die Geschichte im Allgemeinen und die Rechtsgeschichte im Besonderen einen Erfahrungsraum bildet, der eine Vielfalt von empirischen Einzelheiten zu unzähligen Rechtsfällen in sich aufgenommen hat.²¹⁹ Von dort aus ist es nicht mehr weit zu einer ähnlichen Einsicht eines anderen großen Denkers der frühen Neuzeit, nämlich Michel de Montaigne, der ebenfalls historische Gesetze als Anschauungsmaterial und gleichsam geronnene Empirie betrachtete. Auch er schöpfte aus den Quellen der Alten.²²⁰
2. Berücksichtigung geographischer Gegebenheiten Mit dem zuletzt Bedachten zusammen hängt ein weiterer Perspektivwechsel, der sich diesmal weniger in der Zeit als vielmehr im Raum vollzieht. Auch dies geschieht jedoch nicht übergangslos und ahistorisch, sondern ebenfalls mit Blick auf geschichtliche Entwicklungen. So erläutert er in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z am Beispiel der späteren Republik Venedig seine Vorstellung bevölkerungspolitischer und ökonomischer Prosperität trotz ungünstiger Belegenheit:²²¹ „Da nun die Natur diesem Übelstand nicht abhelfen kann, so muß es die Betriebsamkeit der Menschen tun (…). Die Stadt Venedig ist ein Beispiel dafür. Obgleich sie an einem sumpfigen ungesunden Orte gelegen ist, so machten ihn dennoch die vielen Bewohner, die auf einmal hier zusammengekommen sind,
Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3. Auflage 1887. R. Syme, Oligarchy at Rome: A Paradigm for Political Science, Diogenes 141 (1988) 56. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 887. Näher J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. Siehe zu Venedig auch J. Cervelli, Machiavelli e la crisi dello Stato Veneziano, 1974.
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum
63
gesund.“²²² – ‚E perché la natura non può a questo disordine supplire,è necessario supplisca la industria. (…) Il che dimostra la città di Vinegia, posta in luogo paduloso ed infermo; nondimeno i molti abitatori che ad un tratto vi concorsono lo renderono sano‘ (IF II 1). Diese Annahme hält womöglich auch heutigen bevölkerungsökonomischen Ansichten noch stand, weil der Gewerbefleiß so vieler Menschen auch volkswirtschaftliche Prosperität verspricht.²²³ Zudem zeigt ihm gerade die Entstehung dieser Republik, wie das Schicksal von Flüchtlingen, die es an einen exponierten Ort verschlagen hat, zur Schaffung spezifischer Gesetze führte: „Venedig entstand, als sich viele Leute auf einige Inseln an der Spitze des Adriatischen Meeres geflüchtet hatten, um den Kämpfen zu entgehen, die tagtäglich durch das Eindringen immer neuer Barbarenschwärme nach dem Zerfall des Römischen Reichs Italien heimsuchten. Diese Flüchtlinge begannen ohne die Weisungen eines eigenen Oberhaupts jene Gesetze zu schaffen, die ihnen zu ihrer Erhaltung besonders geeignet erschienen.“²²⁴ – ‚L’altra (sc. Vinegia), sendosi molti popoli ridotti in certe isolette che erano nella punta del mare Adriatico, per fuggire quelle guerre che ogni dí per lo avvenimento di nuovi barbari dopo la declinazione dello imperio romano nascevano in Italia, cominciarono infra loro, sanza altro principe particulare che gli ordinasse, a vivere sotto quelle leggi che parevono loro piú atte a mantenerli‘ (D I 1).²²⁵
a) Dezentrale Gesetzgebungsautonomie und Nachahmung weiser Gesetzgeber Wichtig ist Machiavelli offenbar die Feststellung, dass es keine von oben aufgezwungenen, sondern selbst geschaffene Gesetze im Interesse der Selbsterhaltung waren, die sich die Versprengten gaben. Die dezentrale Gesetzgebungsautonomie ist für ihn offenbar ein besonderes Kennzeichen künftiger Republiken.Wurde hier gleichsam aus der Not eine Tugend gemacht, so verhält es sich dort anders, wo der
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 73. Vgl. nur J. Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 7. J. Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, 2. Auflage 2015, S. 250, begründet diesen Übergang vom Hochmittelalter in die Renaissance eindrucksvoll: „Da die vermeintlich gottgefügten Ordnungsprinzipien Papst und Kaiser in Italien keine Stabilität mehr garantieren konnten, erprobten die aufkommenden italienischen Stadtstaaten eine Vielfalt von Regierungsformen, die wie beispielsweise im Falle von Venedig ausgeklügelte Systeme der Machtbalance hervorbrachten. In den unterschiedlichen Ansätzen brach sich die Einsicht bahn, dass die Organisation des Gemeinwesens jeweils neu zu entwerfen war. (…) Ihre Vollendung fand diese Entwicklung im frühen 16. Jahrhundert bei Niccolò Machiavelli“.
64
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Gründer einer Stadt erst eine geeignete Örtlichkeit für die Ansiedlung finden muss. Die folgende Schilderung ist im italienischen Original noch bezeichnender für Machiavellis Denken, weil darin die zentralen Begriffe der virtú und der necessità zum Ausdruck kommen: „Seine Größe erkennt man an zwei Dingen, an der Wahl des Orts und an den Gesetzen, die er erlassen hat. (…) Wo aber die günstige Lage eines Landes Müßiggang zur Folge haben könnte, muss man dafür Sorge tragen, daß die Gesetze Pflichten auferlegen, zu denen die günstige Lage nicht zwingt. Man muss weise Gesetzgeber nachahmen, die in lieblichen und fruchtbaren Ländern gelebt haben, wo die Menschen leicht träge und zu jeder männlichen Anstrengung untauglich werden. Um den Nachteilen vorzubeugen, welche die milde des Klimas dadurch verursacht, das die Menschen zum Müßiggang verleitet, haben weise Gesetzgeber die wehrfähigen Männer zu regelmäßigen Übungen gezwungen. (…) So hat das Königreich Ägypten trotz der außerordentlichen Annehmlichkeit seiner Landschaft durch den Zwang seiner Gesetze die vorzüglichsten Männer hervorgebracht.“²²⁶ – ‚La virtú del quale si conosce in duo modi: il primo è nella elezione del sito, l’altro nella ordinazione delle leggi. (…) E quanto a quell’ozio che le arrecasse il sito, si debbe ordinare che a quelle necessità le leggi la costringhino che il sito non la costrignesse; ed imitare quelli che sono stati savi ed hanno abitato in paesi amenissimi e fertilissimi e atti a produrre uomini oziosi ed inabili a ogni virtuoso esercizio, che per ovviare a quelli danni i quali l’amenità del paese mediante l’ozio arebbe causati, hanno posto una necessità di esercizio. (…) Intra i quali fu il regno degli Egizii che non ostante che il paese sia amenissimo, tanto potette quella necessità ordinata dalle leggi che ne nacque uomini eccellentissimi‘ (D I 1).²²⁷ Auf den ersten Blick klingt diese Betrachtung skurril. Ein Übriges tut die Hervorhebung der Wehrhaftigkeit mitsamt ihrer Kontrastierung durch den Müßiggang.²²⁸ All das wirkt antiquiert und vorurteilsbeladen. Noch stärker würde
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 9 f. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 92, erklärt den Stellenwert, den gerade Ägypten für Machiavelli hat, so: “If the good is the old, the best must be the oldest. From this we understand why Machiavelli in the first chapters praises the kingdom of Egypt so highly.” – So richtig das ist, darf über dem zeitlichen Argument das legislatorische nicht übersehen werden, weil Machiavelli eben nicht nur die älteste Zeit, sondern auch einen besonders weiten Raum voraussetzt, in dem klimaspezifische Gesetze gelten. Ebenso zeigt sich hieran, dass Strauss den juristischen, insbesondere gesetzgeberischen Gehalt der Discorsi, wie bereits an früherer Stelle (p. 87 ff.) tendenziell zu geringschätzt. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 320, kommentiert zeitgeschichtlich: „Er konnte sich in dieser Auffassung durch die geschichtliche Entwicklung von Florenz bestätigt sehen, in der die Phase
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum
65
dies hervortreten, wenn man die hier weggelassenen Sätze mit ihren mannigfaltigen Beispielen aus der Geschichte anderer Länder hinzuzöge. Allerdings ist es nur die auf ferne Länder ausgeweitete und bereits oben angestellte Beobachtung, wonach die zum Quietismus verführende Ruhe durch gesetzliche Impulse aufgebrochen und das Handeln der Rechtsunterworfenen angespornt werden soll.²²⁹ So scheint also nicht nur der allgemeine Satz, wonach weise Gesetzgeber nachzuahmen sind, legislatorisch bedeutsam zu sein, auch wenn er natürlich kaum mehr ist als eine Floskel, zumal da er eine selten erfüllbare Bedingung in sich trägt. Immerhin ist die Imitation bewährter Vorbilder für Machiavelli bezeichnend, der an späterer Stelle einmal allgemein feststellt, dass überhaupt alles, was wir machen, in der Nachahmung der Natur besteht (D II 4). Diese unscheinbare Feststellung lenkt den Blick auf das Naturverständnis der Renaissance.²³⁰
b) Abhängigkeit der Gesetze von räumlich-klimatischen Verhältnissen Daher lohnt es sich, bei der zuletzt wörtlich zitierten Stelle zu verweilen, an der es ja auch um geographisch-klimatische Besonderheiten ging. Denn letztlich ist gerade dieser Gesichtspunkt der Erweiterung des Raums und der Perspektive durchaus neuartig, obwohl oder gerade weil er aus einer gedanklichen Neuordnung überkommenen historischen Materials gefunden wurde. Denn die Abhängigkeit der Gesetze von den räumlich-klimatischen Verhältnissen ist ein Gesichtspunkt, von dem man bisher überwiegend annahm, dass er von Montesquieu in seinem geistesgeschichtlichen wegweisenden Werk über den Geist der Gesetze der kulturellen Blüte der Stadt zugleich eine Periode politischen Niedergangs und ökonomischer Stagnation war“. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 97 f., erblickt darin eine zwangsweise verordnete Anleitung zur virtú, auch wenn er es nicht auf diese Stelle bezieht. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1927, S. 164 f., beschreibt dies in einer Weise, die dem im Text Zitierten nur scheinbar widerspricht, es in Wahrheit aber wohl sogar bestätigt: „Der Naturbegriff der Renaissance ist weitgehende Freigabe der Welt aus einer vorgeprägten Dienstbarkeit für den Menschen, gerade weil der Mensch kraft seiner autonomen Vernunft für fähig gehalten wird, sich einer sich selbst zugewandten Natur gewachsen zu zeigen – bis hin zur Vorstellung von ihrer Überwältigung und Beherrschung, die nicht mehr der Vollzug einer teleologischen Struktur sein kann.“ H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 243, kommentiert die Stelle, indem er einen gedanklichen Gleichlauf herausarbeitet, der auch für das vorliegende Thema bedeutsam ist: „Das eigentlich Neue des Naturbegriffs der Renaissance liegt neben dem Verzicht auf jeden transzendent-symbolischen Gehalt in der Verdrängung des göttlichen Eingriffs in den Naturzusammenhang. (…) Parallel zu dieser Entwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens hat Machiavelli den Gedanken einer weltimmanenten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit geschichtlicher Abläufe begründet“.
66
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
herrührte.²³¹ Seine Berücksichtigung des Klimas der jeweiligen Länder für die Gewichtung der Sitten, aus denen wiederum Gesetze hervorgingen, hat ihm viel Spott eingetragen, zumal da sie, wie man in der Tat an vielen Stellen seines Werkes nachweisen kann, vielerlei Vorurteile versammelte.²³² Sieht man aber von diesen zeitbedingten Fehleinschätzungen ab, so ist der zugrundeliegende Gedanke Montesquieus, wonach die klimatischen Verhältnisse bestimmte Sitten und Gebräuche nach sich ziehen und diese wiederum im Laufe der Zeit gesetzlich verankert wurden, ein durchaus neuartiger und vor allem neuzeitlicher, den man im Übrigen annäherungsweise auch schon bei dem bereits genannten Montaigne finden kann.²³³ Denn was bei diesem Perspektivwechsel oft belächelt wurde, nämlich die Abhängigkeit der Gesetze von den klimatischen Bedingungen, lässt sich ebenso gut als geistesgeschichtlicher Fortschritt dergestalt würdigen, dass an die Stelle einer eurozentrischen Sichtweise mit einem Mal eine globale tritt. Es werden nämlich nunmehr völlig andere Rechtsordnungen, die auf anderen Kontinenten galten, mit in die Betrachtung einbezogen. Dies hat, wenn man es auf Montaigne und Montesquieu beschränkt, gewiss auch mit der Entdeckung völlig neuer Teile der Welt zu tun.²³⁴
c) Zeitgeschichtlicher Horizont des Gesetzesverständnisses Im Vergleich dazu stand der 1469 geborene Machiavelli, der zur Zeit der Entdeckung Amerikas gerade einmal 23 Jahre alt war,²³⁵ noch in einem anderen zeit-
Ch.-L. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (Üb. E. Forsthoff, 1951), Band I, 14. Buch: Von den Gesetzen in ihrer Beziehung zur Natur des Klimas, S. 310 ff. Siehe zu beiden die eigenwillige Gegenüberstellung von M. Joly, Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu, 1864; dazu W. v. Bredow, Realität als Persiflage. Über Maurice Joly und seinen ‚Dialogue aux Enfers‘, Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte 35 (1986) 435. Die Fragwürdigkeiten deuten bereits die Kapitelüberschriften an; vgl. Ch.-L. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (Üb. E. Forsthoff, 1951), ebenda, S. 315, Drittes Kapitel: „Widerspruch in den Charakteren gewisser südlicher Völker“; S. 316, Viertes Kapitel: „Die Ursache der Unveränderlichkeit der Religion, der Sitten, der Lebensgewohnheiten und der Gesetze in den Ländern des Orients“; Fünftes Kapitel: „Darüber, dass die schlechten Gesetzgeber die durch das Klima bedingten Laster befördert, die guten sich ihnen widersetzt haben“. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, Vorwort. C. Lévi-Strauss, Von Montaigne zu Montaigne, 2018. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 911, setzt interessanterweise Machiavelli altersmäßig zum knapp eineinhalb Jahrzehnte jüngeren Vitoria ins Verhältnis und stellt auf derselben Seite mit rechtlicher Konnotation fest, die wohl für Machiavelli gilt, auch wenn ihm die Einzelheiten zur Rechtspraxis der spanischen Krone unbekannt und gleichgültig gewesen sein werden: „Die abenteuerlich-heroische Entdeckung eines bisher unbekannten Kontinents musste die Gemüter
II. Entwicklung der Gesetze in Zeit und Raum
67
geschichtlichen Horizont.²³⁶ Aber die Richtung, die er dem Gesetzgebungsverständnis durch seine historische Rechts- und Sittenvergleichung gegeben hat, ist eine ähnliche. Seine auf den ersten Blick durchaus kontraintuitive Einsicht, dass gerade die klimatisch und landschaftlich angenehmsten Orte der Erde eine strenge Gesetzgebung erfordern, die der Bequemlichkeit entgegenwirkt und damit der langfristigen Selbsterhaltung dient,²³⁷ wird man hinsichtlich ihrer Prämissen heute ebenso wenig teilen können wie die ganz ähnlich ausgerichteten Montesquieus.²³⁸ Sie ist wohl nur vor dem Hintergrund der anthropologischen Grundannahme Machiavellis diskutabel, dass die Menschen seit jeher zur Bequemlichkeit neigen,²³⁹ wie überhaupt sein Menschenbild ein pessimistisches ist, auch wenn er die Befähigung der Menschen zum Guten an einigen Stellen voraussetzt.²⁴⁰ der Zeitgenossen faszinieren. Der König hatte, bevor er 1513 die ersten Gesetze für die Kolonien erließ, eine Kommission einberufen, um den Rat von Theologen, insbesondere von Spezialisten des Kirchen- und Zivilrechts einzuholen“. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 85, stellt diesen Zusammenhang am Beispiel der moralischen Bewertung heraus: “The Discourses cannot be described simply as a book on republics. At the beginning, Machiavelli indicates the intention of the book by presenting himself as another Columbus, as the discoverer of a hitherto unexpected moral continent, as a man who has found new modes and orders.” Er verfolgt diesen Gedanken weiter (p. 87): “This would indicate that the reduction to rules of what the good historians teach is a trivial or pedantic business altogether unbecoming a new Columbus”. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 33 f., hat herausgearbeitet, dass man offenbar einen Gedanken Herodots mitlesen muss, um Machiavellis Originalität zu ergründen: „Herodotʻs Einfluss scheint auch für die Betrachtungen massgebend gewesen zu sein, welche Machiavelli am Anfang der Discorsi über die Frage nach der besten Lage einer Stadt anstellt. (…) Indessen entscheidet sich Machiavelli für die Wahl einer fruchtbaren Gegend, nur meint er, der Gesetzgeber müsse dafür sorgen, dass die Menschen durch die Gesetze zu den Verpflichtungen gezwungen würden, zu denen sie die Lage nicht zwinge“. Zur Verbindungslinie zwischen den beiden Denkern und einem dritten vgl. L. A. Althusser, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, 1987. Speziell zu Machiavelli und Rousseau R. W. Grant, Hypocrisy and Integrity: Machiavelli, Rousseau, and the Ethics of Politics, 1997; eingehend und weiterführend J. P. McCormick, Rousseau’s Rome and the Repudiation of Populist Republicanism, Critical Review of International Social and Political Philosophy 10 (2007) 3; ders., Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 109 ff. Tacitus, Agricola, 3, 1: ,inertiae dulcetudoʻ. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 269, erklärt die scheinbare Aporie auf eine Weise, die nicht von ungefähr auch die Funktion der Gesetze einbezieht: „Es handelt sich jedoch bei diesem scheinbaren Widerspruch um die – zugegebenermaßen von Machiavelli nicht hinreichend explizierte – Differenz zwischen der ‚Rohnatur‘ der Menschen, der Fülle ihrer Bedürfnisse, die in fortge-
68
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Dagegen kann man ihm nicht unterstellen, dass er in vorurteilbehafteter Weise etwaigen Eigenschaften oder gar Lastern bestimmter Bewohner anderer Länder mit entsprechend strengen Gesetzen entgegenzuwirken hoffte. Dies meinte wohl auch Montesquieu nicht, auch wenn ihm eine gewisse kulturelle Vorurteilslastigkeit vorgehalten wurde. Der Vorzug seiner Klimatheorie des Rechts besteht bei allem, was man gegen sie vorbringen kann, gegenüber derjenigen Machiavellis vielleicht am ehesten darin, dass Montesquieu die prägende Kraft der Sitte noch deutlicher erkannte, während Machiavelli unvermittelt durch Gesetze Verhaltensänderungen bewirken wollte, wenngleich er zumindest implizit davon ausging, dass Gesetze und Sitten miteinander Schritt halten, und es zwischen ihnen zumindest eine Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit gibt (D I 18).
III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit Der unbedingte Glaube Machiavellis an Ge- und Verbote, der sich auch an anderen Stellen zeigt (D I 3/4), erscheint prima vista als Mangel seiner rechtlichen Einschätzungen. Doch ist es wohl wiederum eher die Illusionslosigkeit seiner Beobachtung der Menschennatur in tatsächlicher Hinsicht, die ihm diese normative Korrekturbedürftigkeit eingibt. Zugleich muss man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er gerade unter Berücksichtigung der Vergrößerung des Blickwinkels auch in rechtlicher Hinsicht seiner Zeit weit voraus war, gerade weil er die Abhängigkeit der Erfordernisse der Rechtsordnung von den jeweiligen Zeitverhältnissen erkannte (D III 9).
1. Gesetz zur Gefahrenabwehr Die zuletzt geübte Kritik, dass Machiavelli zu sehr von der Zwangsläufigkeit und Unerlässlichkeit von Gesetzen ausgeht, muss daher, wenn man ihn immanent
schrittenen gesellschaftlichen Organisationsformen im Gegensatz zu dem ursprünglichen Naturzustand, der ‚Hütte Adams‘, den Fortbestand und die Stabilität der politischen Ordnung gefährden und darum als böse und schlecht gekennzeichnet werden, und ihrer möglichen politischhistorischen Ausformung, in der die menschliche Natur durch die Gesetze den Erfordernissen des Staates, seiner inneren Stabilität und äußeren Entfaltung, so angepaßt ist, daß sie diese zu befördern vermag und darum von Machiavelli auch als gut bezeichnet und als virtù gepriesen werden kann.“ Hervorhebung nur hier. Damit wird beiläufig vorausgesetzt, was die Gesetze funktional auszugleichen haben, wenn man an die erwartbare oder zumindest einzukalkulierende menschliche Schwäche denkt.
III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit
69
kritisieren möchte – was ja ein Gebot intellektueller Rechtschaffenheit ist²⁴¹ – dahingehend eingeschränkt werden, dass er diesen Primat des Gesetzes seiner gesamten rechtstheoretischen Vorstellung unterordnet, aber eben auch voraussetzungslos entwickelt.
a) Weiser Gesetzgeber versus evolutionäres Rechtsverständnis Machiavelli unterscheidet, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, zwischen solchen Rechtsordnungen, die gleichsam mit einem Mal von einem wirkungsmächtigen Gesetzgeber geschaffen wurden und anderen, die sich erst im Laufe der Zeit allmählich entwickelten:²⁴² „So verschieden ihr Ursprung war, so verschieden waren auch ihre Gesetze und Einrichtungen. Einigen wurden gleich bei ihrer Gründung oder bald danach die Gesetze, und zwar alle auf einmal, von einer einzigen Persönlichkeit gegeben wie den Spartanern von Lykurg; andere erhielten ihre Gesetze bei Gelegenheit und nach und nach entsprechend ihren Schicksalen wie Rom. Glücklich das Volk, das einen Weisen hervorbringt, der ihm bleibende Gesetze gibt, unter denen es lange Zeit sicher leben kann!“²⁴³ – ‚E parlerò di quelle che hanno avuto il principio lontano da ogni servitú esterna, ma si sono subito governate per loro arbitrio o come republiche o come principato, le quali hanno avuto, comme diversi principii, diverse leggi ed ordini. Perché ad alcune, o nel principio d’esse o dopo non molto tempo, sono state date da uno solo le leggi e ad un tratto, come quelle che furono date da Licurgo agli Spartani: alcune le hanno avute a caso ed in piú volte e secondo li accidenti, come ebbe Roma. Talché felice si può chiamare quella republica la quale sortisce uno uomo sí prudente che gli dia leggi ordinate in modo che, sanza avere bisogno di ricorreggerle, possa vivere sicuramente sotto quelle‘ (D I 2).²⁴⁴
V. Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, passim; dazu J. Petersen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 99 (2013) 434. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 48, stellt die nötige Grundierung für das Folgende prägnant heraus, indem er die scheinbar vordergründige Paraphrase unausgesprochen auf Machiavellis Intention zurichtet: “Lycurgus purportedly established economic equality by distributing land equally among all citizens, by banning foreign trade, and by imposing strict sumptuary laws.” Wichtig auch seine Folgerung auf S. 51: “Be that as it may, the controversies and instability that emerged as a result of these laws accentuate how difficult it is to peacefully legislate economic equality within republics.” – Diese Einsicht dürfte in der Tat auch Machiavelli bei der Ausarbeitung der Discorsi verinnerlicht haben. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 11. Machiavelli, Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227, 244, stellt Lykurg
70
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Der zuletzt zitierte preisende Ausruf legt nahe, welche Form der Begründung einer Rechtsordnung Machiavelli favorisiert. Auch hier klingt das Postulat der Nachahmung weiser Gesetzgeber nach (D I 1). Allerdings geht er an anderer Stelle durchaus davon aus, dass auch weise Gesetzgeber – er nennt dort neben dem bereits angesprochenen Lykurg noch Moses und Solon²⁴⁵ – „sämtlich nur deshalb Gesetze zum allgemeinen Wohl geben konnten, weil sie sich die Macht dazu genommen hatten“²⁴⁶ – ‚e’ quali poterono, per aversi attribuito un’autorità, formare leggi a proposito del bene comune‘ (D I 9). Es ist also bei aller Weisheit als notwendiger Bedingung für ihn auch ein resoluter Akt vonnöten, um die Gesetze kraftvoll zu implementieren. So ausgeprägt Machiavellis Sinn für evolutiv sich entwickelnde Rechtsordnungen wie etwa die römische ist,²⁴⁷ so wenig kann er verhehlen, dass er der Figur eines alles voraussehenden Rechtssetzers, der aufgrund der schieren Dauer der Geltung seines Gesetzeswerkes im Stande zu sein scheint, in die Zukunft zu sehen, für die vorzugswürdige Alternative hält: „Über 800 Jahre hat Sparta die Gesetze Lykurgs befolgt, ohne sie anzutasten und ohne daß eine gefährliche Umwälzung stattgefunden hätte. Weit schlechter daran sind die Staaten, die sich keinem weisen Gesetzgeber gefügt haben und die sich selbst eine neue Ordnung geben mussten. Von diesen aber ist am unglücklichsten der Staat, in dem gar keine Ordnung herrscht.“²⁴⁸ – ‚E si vede che Sparta le osservò piú che ottocento anni sanza corromperle o sanza alcuno tumulto pericoloso: e pel
und Solon als Gesetzgeber den Philosophen Aristoteles und Plato gegenüber, gleich als ob er damit seinem päpstlichen Auftraggeber das Verhältnis von machtvoller Praxis und ohnmächtiger Theorie zueinander veranschaulichen wollte: „Aristoteles und Plato wollten der Welt beweisen, daß, wenn sie nicht wie Solon und Lykurg einen freien Staat gründen konnten, sie nicht aus Unwissenheit unterließen, sondern aus Mangel an Macht und Gelegenheit.“ V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 133, zeigt, dass es bei allen Unterschieden zum platonischen Staat phänotypische Gemeinsamkeiten gibt, die aber nicht über die genotypischen Unterschiede hinwegsehen lassen: „Indes finden sich selbst (bzw. gerade) bei dem Begründer des objektiven Idealismus, bei Platon also, Ratschläge, die man im umgangssprachlichen Sinne machiavellistisch nennen könnte; ich denke an seine Theorie der edlen Lügen, das heißt an seine Empfehlung Mythen einzusetzen, um das Volk zur Befolgung der Moral anzuhalten (…). Aber nichtsdestoweniger sind Moral und Politik für Platon wie für Aristoteles Zwillingswissenschaften.“ Siehe allgemein zu Lykurg als Gesetzgeber bei ihm P. Schröder, Niccolò Machiavelli, 2004, S. 63. Pointiert J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 901: „Moses interessiert ihn nur als Heerführer.“ – Man darf hinzufügen: und als Gesetzgeber. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 37 f. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 267. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 11 f.
III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit
71
contrario tiene qualche grado d’infelicità quella città che non si sendo abbattuta a uno ordinatore prudente, è neccessitata da se medesima riordinarsi. E di queste ancora è piú infelice quella che è piú discosto dall’ordine‘ (D I 2).
b) Gefahr als Anfangsgrund aller Gesetzgebung Das größtmögliche Übel ist für Machiavelli die Anarchie, also die völlige Unordnung und Rechtlosigkeit, die für ihn zugleich Gesetzlosigkeit darstellt.²⁴⁹ Der Anfang aller Ordnung durch ein Gesetz, mithin auch ein solches, durch das das Gemeinwesen erst konstituiert oder von neuem begründet wird, ergibt sich aus der Gefahr:²⁵⁰ „Denn die Mehrzahl der Menschen stimmt einem neuen Gesetz, das eine Neuordnung im Staat bezweckt, nur zu, wenn dessen Notwendigkeit unmittelbar vor Augen liegt. Da diese Notwendigkeit aber nur bei Gefahr eintreten kann, so geht der Staat leicht zugrunde, bevor er seine Vollkommenheit erreicht hat.“²⁵¹ – ‚Perché gli assai uomini non si accordano mai ad una legge nuova che riguardi uno nuovo ordine nella città, se non è mostro loro da una necessità che bisogni farlo; e non potendo venire questa necessità sanza pericolo, è facil cosa che quella republica rovini avanti che la si sia condotta a una perfezione d’ordine (D I 2).
aa) Druchbrechung der Gewohnheit und Gesetzeserlass Den Beweis für diese Annahme sieht er wiederum in der Geschichte Roms geführt, in der Eintracht zwischen Plebejern und Aristokraten, welche von Seiten letzterer immer nur in unaufrichtiger Weise zur Schau getragen wurde.²⁵² Nur solange die In dieser Hinsicht dachte Montaigne, durch die ständigen Bürgerkriege seiner Zeit erschüttert, ähnlich; vgl. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25, zeigt überzeugend, was gleichsam spiegelbildlich auch hier gilt, nämlich dass dieser Gesichtspunkt der Herrschaftssicherung zur Gefahrenabwehr auch für den Principe gilt: „Denn nur starke Staaten können das Gedeihen ihrer Bevölkerung sichern, indem sie die Gefahr abwehren, die Aufruhr unter den Bürgern und Angriffe anderer Länder darstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es dem Fürsten erlaubt, ja, er ist sogar verpflichtet, Eigenschaften zu entwickeln, welche die Tradition als lasterhaft bezeichnet“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 37 f. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 229 f., verallgemeinert sinnfällig, indem er zunächst abstrahiert, meint aber, wie das im Folgenden nicht Zitierte zeigt, gerade auch die Standeskämpfe zwischen Plebejern und Patriziern: „Machiavellis These ist in ihren wesentlichen Zügen äußerst einfach: wenn in jeder Stadt zwei ‚Stimmungsrichtungen‘ herrschen,
72
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Patrizier das Volk brauchten, verstellten sie sich ihm gegenüber: „Dies ist ein Beweis für meine obige Behauptung, dass die Menschen nur von der Not gezwungen etwas Gutes tun. Wenn ihnen freie Wahl bleibt und sie tun können, was sie wollen, gerät alles sofort in Verwirrung und Unordnung. Darum sagt man: ‚Hunger und Armut machen die Menschen arbeitsam, Gesetze machen sie gut‘.Wo von selbst ohne Gesetz gut gehandelt wird, sind Gesetze nicht nötig; hört aber die gute Gewohnheit auf, so ist sogleich das Gesetz nötig.“²⁵³ – ‚La quale cosa fa testimonianza a quello che di sopra ho detto, che gli uomini non operono mai nulla bene se non per necessità; ma dove la elezione abonda, e che vi si può usare licenza, si riempie subito ogni cosa di confusione e di disordine. Però si dice che la fame e la povertà fa gli uomini industriosi, e le leggi gli fanno buoni‘ (D I 3). Machiavelli vertraut also nicht um jeden Preis auf den freien Willen, sondern setzt eher auf die einschleifende Macht der Gewohnheit, deren Nachlassen sogleich die Erforderlichkeit gesetzlicher Regelungen mit sich bringt. Die Gesetze stiften ihrerseits dann nicht nur Recht, sondern zwangsläufig auch ein sittliches Bewusstsein, jedoch nicht um seiner selbst willen, sondern eher als willkommene Folge erforderlicher Gesetzgebung.²⁵⁴
bb) Entartung der Herrschaftsformen Machiavelli kann sich also durchaus einen Zustand ohne Gesetze unter der Voraussetzung, dass alle das Gute wollen, vorstellen.²⁵⁵ Allein er glaubt nicht daran, dass so etwas, wenn überhaupt möglich, von Dauer sein könnte. Seinem pessimistischen Menschenbild entspricht daher auch die Vorstellung, dass jede
nämlich die des einen, der befehlen will, und die des anderen, der nicht unterdrückt werden will, so ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, ihre Gründe zu verstehen und den einen nicht zugunsten des anderen zu vernichten, sondern beiden eine angemessene politische Ausdrucksmöglichkeit zu geben. Das im Zusammenhang mit der Geschichte Roms aufgeworfene Problem könnte nicht aufschlußreicher sein“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 13. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 5: „Und erst durch das Gesetz entstehen nach Machiavelli in der menschlichen Seele die übrigen sittlichen Begriffe“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 366, kommentiert den zitierten Gedanken und denkt ihn werkimmanent fort: „Wie Machiavelli die Notwendigkeit der Gesetze im Zerfall des Ethos einer politischen Gemeinschaft gesehen hat, so sieht er die Notwendigkeit des uomo virtuoso im Zerfall der Gesetze. Was aber umgekehrt auch heißt: Wo die Gesetze geachtet werden, ist kein uomo virtuoso (mehr) von Nöten, wo durch ethische Überzeugungen und Gewohnheiten die Verhältnisse im Lot sind, müssen sie rechtlich nicht normiert werden.“ Hervorhebung auch dort.
III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit
73
Staatsordnung, gleichviel ob sie eine Alleinherrschaft, eine Aristokratie oder eine Demokratie ist, immer die Tendenz hat, in Unordnung auszuarten: „Denn die Alleinherrschaft wird leicht zur Tyrannis, die Herrschaft einer bevorrechtigten Schicht mit Leichtigkeit zur Oligarchie und die Demokratie artet unschwer zur Anarchie aus. Führt also der Gründer eines Staatswesens eine dieser drei Regierungsformen ein, so ist dies nur für kurze Zeit. Es lässt sich durch kein irdisches Mittel verhindern, dass sie in ihr Gegenteil ausartet; denn gut und schlecht sind einander in diesem Fall sehr ähnlich.“²⁵⁶ – ‚Perché il Principato facilmente diventa tirannico; gli Ottimati con facilità diventano stato di pochi; il Popolare sanza difficultà in licenzioso si converte. Talmente che se uno ordinatore di republica ordina in una città uno di quelli tre stati, ve lo ordina per poco tempo, perché nessuno rimedio può farvi a fare che non sdruccioli nel suo contrario, per la similitudine che ha in questo caso la virtute ed il vizio‘ (D I 2). Das italienische Original bringt die Ähnlichkeit zwischen ‚virtute‘ und ‚vizio‘ durch Machiavellis plastischen und unprätenziösen Stil besser zum Ausdruck, als es eine noch so gute Übersetzung könnte.
2. Entstehung der Gerechtigkeit Dieses Umschlagen prinzipiell vorzugswürdiger Regierungsformen in ihre jeweiligen Schreckensbilder der Anarchie, Oligarchie und Tyrannis veranschaulicht Machiavelli durch eine Vorstellung vom Kreislauf der jeweiligen Regierungsformen, die in dieser Form, allerdings nicht seine ureigene Schöpfung ist,²⁵⁷ weil vieles bereits bei Polybios zu finden ist.²⁵⁸ Man darf jedoch nicht übersehen, dass es prägende Unterschiede gibt, die auch und gerade die Gesetze und Einrichtungen betreffen.²⁵⁹ Machiavelli fand zudem in der italienischen Geschichte rei-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 12. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 62, zu diesem Gedanken. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, fasst dies unter Verweis auf Triantafallis (Niccolò Machiavelli e gli scrittori greci, 1985, S. 9 – 21) zusammen: „An der Spitze seiner Discorsi (I.2) stellt Machiavelli eine Untersuchung allgemeiner Natur, die sich mit der Einteilung der Verfassungen, der Entstehung der sittlichen Begriffe und dem Uebergang der Verfassungen ineinander beschäftigt. Dieselbe ist, wie man schon früh bemerkt hat, im wesentlichen aus dem sechsten Buch des Polybius entnommen und zwar zum Teil wörtlich entlehnt, zum Teil freier nachgebildet“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 230, hat dies am deutlichsten herausgearbeitet: „Die revolutionäre Kraft dieses einfachen und festen Gedankengangs ist leicht begreiflich. Es genügt, ihn mit dem Text des VI. Buches des Polybios zu vergleichen, um den
74
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
ches Anschauungsmaterial; Alleinherrschaften, die aus angestammten Familien bestanden und an Tyrannei grenzten, waren die Regel, wie Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z exemplarisch veranschaulicht: „In einem Teil hatten sich die Vicarien oder Tyrannen bemächtigt (…). Lucca allein und Siena lebten unter eigenen Gesetzen.“²⁶⁰ – ‚Parte erano dai loro vicari o tiranni occupate (…) Lucca solo e Siena con le loro legge vivevano‘ (IF I 39). Nicht zuletzt die Medici kultivierten im eigenen Herrschaftsinteresse ein meritokratisches Denken, das den Schein der Gerechtigkeit wahrte.²⁶¹ Freiheit unter dem Gesetz war somit die krasse und immer gefährdete Ausnahme, mochte das Volk diesen Zustand, dessen Dasein die Mächtigen freilich im eigenen Interesse vorspiegelten, auch noch so sehr wünschen (P IX).
a) Kein Gesellschaftsvertrag Anstelle eines bukolischen Naturzustandes, in dem keiner dem anderen gram ist, wie es gerade bei den antiken Autoren häufig vertreten wurde,²⁶² geht Machiavelli interessanterweise zunächst von einer ganz geringen Bevölkerungsdichte aus und gelangt erst dort, wo die Population zunimmt zu der Vorstellung, dass sich die Menschen zusammentaten, wobei sie dem Stärksten folgten: „Daraus entstand der Begriff von ehrenvoll und gut im Gegensatz zu verderblich und böse; denn man sah, dass es bei den Menschen Hass und Mitleid erweckte, wenn einer seinem Wohltäter Unrecht zufügte, dass die Undankbaren getadelt und die Dankbaren geehrt wurden; überdies sagte sich jeder, es könnte ihm dasselbe Unrecht Abstand zu ermessen. Auch bei Polybios ist die gemischte Staatsverfassung, die in den Einrichtungen und Gesetzen des Staates alle in ihm wirkenden Kräfte ausdrückt, als Möglichkeit der Überwindung des zwangsläufig in einfachen Verhältnissen liegenden Mißverhältnissen dargestellt. (…) Doch gerade hierin liegt der große Unterschied zwischen den beiden Schriftstellern“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 69; dort, wo im Text die Klammer steht, folgt eine Aufzählung regionaler Familiendespotien: „die Este in Ferrare, Modena und Reggio; die Manfredi in Faenza; die Aldiosi in Imola; die Ordelaffi in Forli; die Malatesti in Rimini und Pesaro; die Varano in Camerino“ etc. Eingehend zu den regionalen Eliten V. Reinhardt, Die großen Familien Italiens, 1992, S. VII ff. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 42, analysiert hellsichtig: „In ihren propagandistischen Verlautbarungen präsentierten sich die Medici geradezu als Gralshüter der republikanischen Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Aufstieg nach Verdienst“. Lukrez, De rerum natura, 1126 ff.; 1147 ff.; Ovid, Metamorphoses 1, 89 f.: ,aurea prima sata est aetas, quae vindice nulloʻ. Ferner Tacitus, Annales, 3, 26, 1: ,Vetustissimi mortalium, nulla adhuc mala libidine, sine probro scelere eoque sine poena aut coercitionibus agebantʻ. Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 165 f.
III. Vom Gesetz zur Gerechtigkeit
75
zugefügt werden. Um ähnlich Übel zu vermeiden, entschloss man sich, Gesetze zu schaffen und Strafen gegen Zuwiderhandelnde einzuführen. Hieraus entstand der Begriff der Gerechtigkeit.“²⁶³ – ‚Da questo nacque la cognizione delle cose oneste e buone, differenti dalle perniziose e ree: perché, veggendo che se uno noceva a suo benificatore ne veniva odio e compassione intra gli uomini, biasimando gl’ingrati ed onorando quelli che fussero grati, e pensando ancora che quelle medesime ingiurie potevano essere fatte a loro, per fuggire simile male si riducevano a fare leggi, ordinare punizioni a chi contrafacessi: donde venne la cognizione della giustizia‘ (D I 2).²⁶⁴ Es gibt für Machiavelli also keinen gleichwie gearteten Gesellschaftsvertrag, sondern nur pragmatischen Gehorsam gegenüber dem, der die größte Aussicht auf Wehrhaftigkeit, Selbsterhaltung und Gefahrenabwehr verspricht. Der dafür anempfohlene Gesetzesgehorsam liegt ganz auf der Linie einer seiner fragmentarisch überlieferten Sentenzen: „Denn sie geboten es den Mächtigen ja auch und gerade diejenigen Gesetze zu befolgen, die sich gegen sie richten und ihre Befugnisse einschränken. Es ist daher sicher, zum Befehlen von denen zu nehmen, die nie jemand anderem als den Königen und Gesetzen gehorcht haben, statt Männer die von ihren Einkünften leben.“²⁶⁵ Gesetzesgehorsam wird hier offenbar als Verpflichtung (allein) gegenüber der Obrigkeit verstanden. Jede Zuwiderhandlung gegen jene Gesetze erschüttert das Rechtsbewusstsein auf das Nachhaltigste.²⁶⁶ Aufschlussreich daran ist auch die Begründung der Moral, die nicht so sehr aus elementaren Kategorien von Gut und Böse folgt, sondern eher die Einteilung nach Gefühlen der Dankbarkeit und des Undanks für das entscheidende Kriterium hält. Undankbarkeit wiederum „entsteht entweder aus Geiz oder aus Argwohn“²⁶⁷ – ‚Questo vizio della ingratitudine nasce o dall’avarizia o da il sospetto‘ (D I 29). Die daraus resultierende Gerechtigkeit ist keiner metaphysi-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 13. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 374: „Erst diese gesetzliche Kodifizierung von Gut und Böse durch den Staat führt den Begriff der Gerechtigkeit herauf“. Machiavelli, Verschiedene Sätze, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 253. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 9. Auflage 1970, S. 32, hat dies am deutlichsten herausgearbeitet: „So folgt aus der Natur des Menschen die allgemeinste Aufgabe der Staatskunst. Sie soll die rasende Eile, in welcher die menschliche Natur zur Korruption stürzt, aufhalten; Tatkraft, Tapferkeit, Rechtsbewußtsein, Friedlichkeit durch die Mittel der Gesetze und Religion erhalten und erneuern.“ Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 82.
76
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
schen Überhöhung zugänglich,²⁶⁸ sondern eher eine Klugheitsregel zur langfristigen Selbsterhaltung, wie sie folgerichtig sogar im P r i n c i p e begegnet:²⁶⁹ „Auch ist ein Sieg nie so eindeutig, daß der Sieger nicht einige Rücksicht nehmen müßte, besonders auf die Gerechtigkeit“²⁷⁰ – ‚Di poi le vittorie non sono mai sí stiette, che el vincitore non abbia ad avere qualche respetto, e massime alla iustizia‘ (P XXI).²⁷¹
b) Nachahmung zur Selbsterhaltung Das eigentlich Neue dieser Sichtweise besteht darin, dass sich Machiavelli gleichsam in die Situation der Rechtsunterworfenen hineinversetzt. Zwar hat Adam Smith später in seiner ‚Theorie der ethischen Gefühle‘ eine scheinbar ähnliche Vorstellung entwickelt, nach welcher das jeweilige Gefühl Sympathie oder eben das Gegenteil davon bewirkt.²⁷² Doch kann man Machiavellis Begründung damit keinesfalls gleichsetzen, weil es ihm eher um die Erlernung von moralischen Gefühlen der Dankbarkeit und des Undanks geht, die der schlichten Selbsterhaltung dienen.²⁷³ Eher begreift man am Beispiel dieser Stelle, warum
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 901: „Machiavelli (…) ist frei von einer metaphysischen Betrachtung der Welt, er bricht mit dem Christentum auf andere Weise“. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 27, zeigt die potentiell Wohlfahrt stiftende Wirkung dieser vorderhand unmoralischen Haltung, die aber deswegen nicht von vornherein verdammt oder als unethisch eingestuft werden dürfe: „Traditionelle Tugenden werden so in den Bereich bloß scheinbarer Werte degradiert, wenn sie der Selbsterhaltung schaden. Das scheint ein bloß egoistisches Kriterium zu sein, um wahre Tugend zu definieren, aber Machiavelli zeigt bald, dass es ihm um das Interesse des Volkes geht“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 94. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 488 f., zum Umfeld dieser Stelle. A. Smith, Theory of Moral Sentiments, 1759. Dazu J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, § 1. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 97, erklärt die tatsächlichen Ursachen und ordnet ihn geistesgeschichtlich ein: „Unter dem Eindruck der schweren Krisen der Florentiner Republik fragt die politische Theorie Machiavellis nicht mehr nach den Bedingungen eines guten und tugendhaften Lebens der Bürger, wie dies das politische Denken des Hochmittelalters ebenso wie das der Antike getan hatte, sondern konzentriert sich allein auf die Dauerhaftigkeit, die innere Stabilität und äußere Expansionsfähigkeit der staatlichen Gemeinschaften. Alle anderen Imperative treten für sie hinter der absoluten Norm der Selbsterhaltung des Staates zurück. Insofern die elementare Kategorie der Neuzeit, der Gedanke der Selbsterhaltung, den Kern seines Denkens ausmacht, ist Machiavelli der erste politische Theoretiker der Neuzeit“.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
77
Friedrich Nietzsche Machiavelli so viel abgewinnen konnte, da er in seiner ‚Genealogie der Moral‘ stellenweise ähnlich argumentierte.²⁷⁴ Machiavelli geht es also auch hier eher um eine von ihm ohnehin favorisierte Form der Nachahmung, die er auch im P r i n c i p e im Hinblick auf die Antike propagiert: „denn nach meiner Meinung ist es genug, wenn man sie notgedrungen nachahmt“²⁷⁵ – ‚io iudico ch’eʼ bastino a chi fussi necessitato, imitargli‘ (P VIII). Grob undankbares Verhalten ist nicht nachahmungswürdig, weil man leicht erkennt, dass es sich in letzter Konsequenz auch gegen einen selbst richten kann. Da jeder in dieser Hinsicht gleich dachte, wurden Gesetze unerlässlich. Es ist also wiederum der Gesichtspunkt der Gesetzgebung durch die Einsicht in die Notwendigkeit zur Gefahrenabwehr, die Machiavelli weiter oben festgestellt hat. Auffällig ist, wie beiläufig der Begriff der Gerechtigkeit eingeführt wird, der von allen höchsten Gütern, Kardinaltugenden und Ähnlichem entkoppelt wird, und eher als pragmatische Regel rein deskriptiven Charakters besteht und eigentlich keine konstitutive Bedeutung mehr aufweist.
IV. Kreislauf der Regierungsformen Nachdem Machiavelli auf diese Weise nicht nur die Regierungsform der Alleinherrschaft entwickelt hat, sondern zugleich auch den Begriff der Gerechtigkeit entfaltet, gelangt er alsbald zur Entartung dieser Herrschaftsform:²⁷⁶ „Infolge-
F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/ M. Montinari), Band 5, Zweite Abhandlung. Siehe auch J. P. McCormick, Dangers of Mythologyzing Technology and Politics: Nietzsche, Schmitt and the Antichrist, Philosophy and Social Criticism 21 (1995) 55. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 34. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 219, zeichnet den werkimmanenten Zusammenhang und die geistesgeschichtliche Linie nach, die zu Machvelli führt und von ihm aus weiter zu Vico reicht: „Im Gegensatz zum Principe (wo jedes scholastische Verfahren in der unmittelbaren Erkenntnis konkreter Probleme überwunden ist) stößt man bei den Discorsi gleich im ersten Buch auf ein weitgefaßtes, sorgfältig durchdachtes Kapitel, in dem Machiavelli sich unverzüglich wieder der alten Frage der Phänomenologie der Regierungsformen zuwendet, wo er auch wie ein Platon, Aristoteles und Polybios von den drei guten und den drei schlechten Regierungsformen spricht und sich schließich auch jener Idealvorstellung von der ‚gemischten Regierung‘ verschreibt, die zwei Jahrhunderte später Giambattista Vico, auf den Spuren ‚seines Tacitus‘ und vielleicht auch Bodins, energisch als eine rein wissenschaftliche Konstruktion, ohne jegliche konkrete Entsprechung in der Wirklichkeit der Dinge erklären sollte.“ V. Hösle, Vico und die Idee der Kulturwissenschaft, Einleitung zur Meiner-Ausgabe 1990, S. LIV, präzisiert und bringt zugleich eines der für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Defizite des Staats-
78
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
dessen folgte man später bei der Wahl eines Oberhaupts nicht mehr dem Stärksten, sondern dem Verständigsten und Gerechtesten. Als man aber später daranging, das Oberhaupt durch Erbfolge und nicht durch Wahl zu bestimmen, begannen die Erben sofort zu entarten, dachten nicht mehr an die wirkungsvollen Maßnahmen ihrer Vorfahren und glaubten, die Herrscher hätten nichts weiter zu tun, als die anderen an Prunk, Zügellosigkeit und jeder Art von Lüsten zu übertreffen.“²⁷⁷ – ‚La quale cosa faceva che avendo dipoi a eleggere uno principe, non andavano dietro al piú gagliardo, ma a quello che fusse piú prudente e piú giusto. Ma come dipoi si cominciò a fare il principe per successione e non per elezione, subito comonciarono li eredi a degenerare dai loro antichi, e lasciando l’opere virtuose pensavano che i principi non avessero a fare altro che superare gli altri di sontuosità e di lascivia e d’ogni altra qualità di licenza‘ (D I 2).
1. Wandel der Erscheinungsform der Gerechtigkeit Erneut erstaunt die Beiläufigkeit, mit der die Gerechtigkeit den Verlauf des Geschehens begleitet, aber in keiner Weise mitbestimmen kann. Immerhin wandelt sich aus Machiavellis Sicht offenbar auch die Erscheinungsform der Gerechtigkeit. Sie ist eben nicht notwendigerweise bei der Macht angesiedelt. Vielmehr wird, solange der Herrscher noch gewählt wird, für denjenigen votiert, der der Weiseste und Gerechteste zu sein verspricht.
a) Gerechtigkeit als Attribut der Klugheit Gerechtigkeit wird hier immerhin zu einem Attribut der Klugheit, so dass die klassischen Kardinaltugenden zumindest zeitweilig noch einen gewissen Nachhall bei den Regierungsformen finden, auch wenn sie ihre konstitutive Bedeutung verloren haben, sondern eher deklaratorisch sind. Als verhängnisvoll erweist sich für Machiavelli jedoch der Übergang von der Wahlmonarchie zur Erbmonar-
denkens Machiavellis auf den Punkt: „An Bodin wird Vico besonders fasziniert haben, daß er Machiavellis Entdeckung der Eigengesetzlichkeit des Politischen mit juristischen Kategorien untermauerte – Kategorien, die bei Machiavelli fehlen.“ R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 33, ordnet Bodins Kritik an Machiavelli religions- und rechtssoziologisch ein. Zu Vico und seiner Bewunderung für Tacitus, allerdings auch seiner Skepsis gegenüber Bodin, in rechtsphilosophischer Hinsicht J. Petersen, Giambattista Vicos theologisch geprägte Rechtsphilosophie, Jahrbuch für Italienisches Recht 31 (2018) 85. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 13.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
79
chie.²⁷⁸ Denn jetzt versagt das Prinzip der Bestenauslese, weil die Erben keinerlei persönliche Gewähr für hinreichende Befähigung bieten, dafür aber das Risiko bergen, nurmehr ihren persönlichen Lastern nachzugehen.²⁷⁹ Hier tritt erneut Machiavellis pessimistisches Menschenbild in Erscheinung. Er verdeutlicht dies am Beispiel der römischen Kaiser, die für ihn ganz generell dann gut sind, wenn sie „als gute Herrscher entsprechend den Gesetzen regierten.“²⁸⁰ – ‚consideri ancora quello che è diventato principe in una republica quanta laude, poiché Roma fu diventata Imperio, meritarono piú quelli imperadori che vissero sotto le leggi e come principi buoni, che quelli che vissero al contrario‘ (D I 10). Es gibt für Machiavelli aber noch ein markantes Kriterium in Gestalt der Herrschaftserlangung und Sukzession, das darüber entscheidet, wer zu den guten Kaisern zählte:²⁸¹ „Alle Kaiser, die durch Erbgang zur Regierung kamen, waren schlechte Regenten, mit Ausnahme von Titus; alle, die durch Adoption zur Regierung gekommen sind, waren gute Regenten, wie die fünf Kaiser von Nerva bis Marc Aurel; sobald das Reich wieder an einen Erben fiel, geriet es sogleich in Verfall. Ein Machthaber sollte sich daher die Zeiten von Nerva bis Marc Aurel vor Augen halten und sie mit den früheren und späteren vergleichen; dann möge er wählen, in welchen Zeiten er lieber geboren wäre und in welchen er lieber regiert hätte.“²⁸² – V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 475, zu dieser Form unter Berücksichtigung von P II mit einer wichtigen teleologischen Erwägung diesbezüglicher Gesetze, die wohl ganz im Sinne von Machiavellis Gesetzgebungslehre ist: „Relativ am leichtesten ist er (sc. der Aufstieg eines Amtsinhabers), wenn er durch Erbfolge eintritt; denn dann entspricht die Neubesetzung eines Amtes, die selbst im stabilsten sozialen System der Tod immer neu erforderlich macht, althergebrachten Gesetzen, deren latente Funktion gerade darin besteht, aufreibende und gefährliche Machtkämpfe unnötig, ja unmöglich zu machen“. Tacitus, Historiae, 1, 16, die sog. Galba-Rede, könnte hier zusätzlich Pate gestanden haben. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 386 Anmerkung 97, nennt in ähnlichem Zusammenhang Tacitus, Historiae, 1, 18, wo die Adoption des Piso geschildert wird, meint aber wohl ebenfalls 1, 16. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 40. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 35, sieht in der Fürsprache Machiavellis zugunsten der durch Adoption weitergereichten Herrschaft einen aristotelisch gefärbten Gedanken: „Denn die menschliche Natur treibt sie an, ihre Gewalt zu missbrauchen und über der Sucht nach der Befriedigung ihrer Gelüste die Gesetze zu vergessen und zu verachten. Ein durch Adoption erneuertes Fürstentum ist daher in einem unverdorbenen Staate das Ideal Machiavelli‘s und die Begründer eines solchen stellt er den Begründern einer Republik als ebenbürtig zur Seite.Wir dürfen annehmen, dass Machiavelli die erste Anregung zu dieser Theorie von Aristoteles empfangen hat“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 41.
80
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
‚Perché tutti gl’imperadori che succederono all’imperio per eredità, eccetto Tito, furono cattivi; quelli che per adozione, furono tutti buoni, come furono quei cinque da Nerva a Marco: e come l’imperio cadde negli eredi, e’ ritornò nella sua rovina (D I 10).
b) Gerechtigkeit unter der Bedingung guter Regierung Auch hieran lässt sich ersehen, dass Vieles, was man seit langem mit dem Begriff ‚machiavellistisch‘ in Verbindung bringt,²⁸³ dem Namensträger nicht unbedingt gerecht wird.²⁸⁴ Das vielzitierte Adjektiv hat im Laufe der Geistesgeschichte eine Eigendynamik erlangt und ist in einer Weise moralisch aufgeladen worden, die weit über die Absichten dessen hinausgehen, auf den es sich dem Namen nach beruft, der freilich auch nicht unschuldig an diesem Neologismus ist. Zumindest zeigen die D i s c o r s i , dass, anders als manche Stellen des P r i n c i p e nahelegen, wenigstens nicht überall eine Anleitung zur List und Verschlagenheit im Sinne der Erhaltung der Herrschaft geboten, sondern das Ideal einer Herrscherpersönlichkeit verfolgt wird, die Frieden und Gerechtigkeit erstrebt:²⁸⁵ „Wenn ein Staat gut regiert wird, wird er auch immer sehen, dass der Herrscher sich inmitten seiner zuverlässigen Bürger und die Welt in Frieden und Gerechtigkeit lebt. Er wird den Senat geachtet und die Behörden mit den ihnen gebührenden Ehren bedacht sehen. Die Reichen genießen ihren Reichtum; Adel und Verdienst werden herausgehoben; überall herrschen Ruhe und Wohlstand. Es gibt keinen Streit, keine Zügellosigkeit, keine Bestechung und keinen Ehrgeiz. Es ist das goldene Zeitalter, wo jeder seine eigene Meinung haben und vertreten kann.“²⁸⁶ – ‚Perché
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 567, wonach Machiavelli „zunächst einmal bekannt ist als Systematiker ‚machiavellistischer‘ Techniken der Machterhaltung und -erweiterung. Auch wenn darin nicht seine eigentliche Bedeutung liegt, ist die ungehemmte Ausbildung strategischer Rationalität im Rahmen der Politischen Philosophie als wichtige Neuerung der Moderne anzuerkennen.“ Zum Machiavellismus siehe aus dem älteren Schrifttum Ch. Benoist, Le Machiavélisme,Vol. I-III, 1907– 1936; sowie ferner R. de Mattei, Dal premachiavellismo all‘ antimachiavellismo, 1969; J. Macek, Machiavelli e il machiavellismo, 1980. M. Stolleis, Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, 1980. Aus dem schwer überschaubaren Schrifttum F. Gilbert, Machiavelli und Guicciardini in Sixteenth Century Florence, 1965; ders., Machiavelli e il suo tempo, 1977; G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958). Dazu übergreifend etwa E.-O. Czempiel, Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga, 1998. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 41.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
81
in quelli governati da’ buoni vedrà un principe sicuro in mezzo de’ suoi sicuri cittadini, ripieno di pace e di giustizia il mondo: vedrà il Senato con la sua autorità, i magistrati co’ suoi onori, godersi i cittadini ricchi le loro ricchezze, la nobilità e la virtú esaltata, vedrà ogni quiete ed ogni bene; e dall’altra parte, ogni rancore, ogni licenza, corruzione e ambizione spenta: vedrà i tempi aurei dove ciascuno può tenere e difendere quella opinione che vuole‘ (D I 10). Allerdings stehen alle diese erfreulichen Folgen unter der Bedingung, dass der Staat gut regiert; gerade daran fehlt es jedoch infolge der Schlechtigkeit der Menschen allzu häufig.
2. Gerechtigkeit als Gleichgewichtszustand Dieses Ideal ist denkbar weit entfernt von aller realpolitischen Härte, welche Machiavelli oft nachgesagt wird und die auch in der Tat sein Staatsdenken im Sinne eines unbedingten Machterhalts zur Vermeidung von Anarchie und Bürgerkrieg prägt.²⁸⁷ Allerdings hat er gerade in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z gesehen, und gezeigt, dass solche idealen Zustände immer nur kurz bestehen können, in denen „alle in Frieden und Eintracht lebten“²⁸⁸ – ‚unitamente e in pace ciascuno si viveva‘ (IF II 15). Denn sie werden sofort wieder von innenpolitischen Verwerfungen gefährdet, die der allgegenwärtige Zorn und Neid hervorbringen.
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 898 f., umreißt den Standpunkt Machiavellis in aller Schärfe: „Für Machiavelli ist die Wahrscheinlichkeit einer stetigen Reproduktion der Macht eines bestehenden Regimes der einzig verlässliche Maßstab, wonach Herrschaftsordnungen beziehungsweise politische Verfassungen zu bewerten sind. Für ein ‚gutes‘ Regime zählen letztlich weder Freiheit, Sittlichkeit oder politische Vernunft der Bürger noch die Gerechtigkeit der Gesetze, weder das Niveau und die Verteilung des Wohlstandes noch die religiöse Gesinnung und der Bildungsstandard des Volkes, die Tapferkeit der Soldaten und so weiter. Obwohl diese Indikatoren für die Qualität der Einrichtungen einer Stadt oder eines Fürstentums von Bedeutung sind, zählen sie nicht wegen ihres intrinsischen Wertes, sondern zunächst nur insofern, als sie unter den jeweils gegebenen Umständen einen funktionalen Beitrag zur Stabilität eines gegebenen Regimes leisten.“ – Zu dieser ungeschminkten Bestandsaufnahme steht also nicht im Widerspruch, dass insbesondere die Gerechtigkeit der Gesetze, die für Machiavelli gewiss nicht um ihrer selbst willen als Endzweck angestrebt wird, nicht unterschätzt werden darf, weil sie von der öffentlichen Meinung der Rechtsunterworfenen durchaus wahrgenommen wird und dadurch auch das Machtmonopol des Staates stabilisiert. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 95.
82
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
a) Gleichgewicht ohne Rechtsgleichheit Dass es andererseits kein Zustand völliger Rechtsgleichheit ist, mag man als zeitbedingt verstehen, wenn auch nicht billigen. Doch wäre die Vorstellung universeller Rechtsgleichheit für einen aus antiken Quellen schöpfenden Staatstheoretiker wie Machiavelli ohnehin vollkommen unverständlich.²⁸⁹ Gerechtigkeit erscheint ihm also eher als ein Gleichgewichtszustand:²⁹⁰ „Ich bin überzeugt, dass dies das wahre politische Leben und die wahre Ruhe für ein Gemeinwesen wäre, wenn man die Dinge auf diese Weise im Gleichgewicht halten könnte. Da aber alle menschlichen Dinge in Bewegung sind und nicht feststehen können, müssen sie steigen oder fallen; und zu vielem zwingt die Not, wozu die Vernunft nicht rät.“²⁹¹ – ‚E sanza dubbio credo che potendosi tenere la cosa bilanciata in questo modo, che e’ sarebbe il vero vivere politico e la vera quiete d’una città. Ma sendo tutte le cose degli uomini in moto, e non potendo stare salde, conviene che le salghino o che le scendino, e a molte cose che la ragione non t’induce, t’induce la necessità‘ (D I 6). Der abschließende Chiasmus dieser Überlegung ist im italienischen Original mit der mittigen Wortwiederholung (‚t’induce, t’induce‘) besonders wirkungsvoll angeordnet, weil Vernunft (‚ragione‘) und Notwendigkeit (‚necessità‘) – einer von Machiavellis Schlüsselbegriffen – weit auseinanderstehen und diese bedeutungsvoll ans Ende gesetzt ist, weil sie schließlich zwangsläufig die Oberhand gewinnt. Er hält also gelegentlich gleichsam inne, indem er den erstrebenswerten Zustand von Gleichgewicht und Gerechtigkeit aufleuchten lässt, ohne sich freilich etwas darüber vorzumachen, dass dies nie von Dauer sein kann, weil gerade das zeitlich-dynamische Moment seinem Denken innewohnt und daher auch für die Gesetzgebung von prägender Bedeutung ist.²⁹²
Zu den Quellen im Einzelnen G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage 1990, S. 164 f., hat – durchaus im Sinne seiner Theorie der Interdependenz der Ordnungen, also der Wirtschafts-, Rechts-, Gesellschafts- und Staatsordnung – unter Rückgriff auf F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson, 2. Auflage 1925, das Gleichgewichtsproblem zu einem bestimmenden Faktor der Staatslehre Machiavellis erhoben: „Das Gleichgewichtsproblem ist universeller Natur. (…) Machiavelli hat diesen Gedanken der Balance in seine Staatslehre übernommen und auf das Kräfteverhältnis der italienischen Staaten angewendet.“ Siehe dazu auch J. Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 28. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 231, hat den Zusammenhang mit den Gesetzen und Einrichtungen soweit ersichtlich als erster erkannt: „Wenn auch die gemischte Verfassung die einzige Lösung des politischen Problems der ‚Stimmungsrichtungen‘ darstellt, so
IV. Kreislauf der Regierungsformen
83
b) Zyklentheorie in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Wiederum ist es der Gesichtspunkt allgegenwärtiger Gefahr und Notwendigkeit, der zu – mitunter vernunftwidrigen – Regelungsnotwendigkeiten führt. Vor allem aber ist es die zuletzt genannte Bewegung, in der alle menschlichen Dinge jederzeit sind, wie der angesprochene Kreislauf der Regierungsformen verdeutlicht.²⁹³ Darüber hinaus zeigt dies auch der Anfang des fünften Buches seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , in der das Bewegungsgesetz und die Zyklentheorie Machiavellis ihren Ausdruck findet: „Die Länder pflegen zumeist bei ihren Veränderungen von der Ordnung zur Unordnung zu kommen und dann von neuem von der Unordnung zur Ordnung überzugehen. Es ist von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, stille zu stehen. Wie sie daher ihre höchste Vollkommenheit erreicht haben und nicht mehr steigen können, müssen sie sinken. Ebenso, wenn sie gesunken sind, durch die Unordnungen zur tiefsten Niedrigkeit herabgekommen, und also nicht mehr sinken können, müssen sie notwendig steigen. So sinkt man stets vom Guten zum Übel und steigt vom Übel zum Guten. Denn die Tapferkeit gebiert Ruhe und die Ruhe Müßiggang, der Müßiggang Unordnung, die Unordnung Verfall. Ebenso entsteht aus dem Verfall Ordnung, aus der Ordnung Tapferkeit,²⁹⁴ hieraus Ruhm und Glück.“²⁹⁵ – ‚Sogliono sind dessen ungeachtet die Dinge der Welt wechselhaft und ‚steigen empor oder sinken‘, um durch ihr Steigen und Sinken immer neue Probleme zu schaffen, denen die Verfassung in ihren Gesetzen und Einrichtungen wieder Ausdruck geben muß, wenn sie der Gefahr der Zerstörung entgehen will. So versteht man, daß die wesentliche Aufgabe der Gesetzgebung nicht darin liegt, dafür zu sorgen, daß der Staat in vollkommener und formaler Harmonie seiner Einrichtungen dauerhaft besteht, sondern dafür, daß diese Einrichtungen nicht veralten und sich dem konkreten historischen Inhalt ihrer Schemen nicht entfremden, denn dies und nichts anderes ist der innere Grund für Niedergang, Zerrüttung und den Tod von Staaten. Von diesem Gesichtspunkt aus erweist sich die Frage (…), ob Machiavelli den Gesetzen oder den politischen Kräften, dem strukturellen oder dem dynamischen Moment des Staatslebens größere Aufmerksamkeit widmet, als das, was sie tatsächlich ist: nämlich eine schlecht gestellte. Für Machiavelli sind nämlich die beiden Momente so innig miteinander verbunden und komplementär, ihr Zusammenhang ist so eng, daß ihre Trennung nur politische und gesellschaftliche Unordnung zur Folge haben kann“. A. Somek, Rechtsphilosophie zur Einführung, 2018, S. 162, stellt Machiavellis Verfassungszyklus seinen Vorläufern gegenüber und macht auf einen wichtigen Gesichtspunkt aufmerksam: „Allerdings ist im Rahmen von Machiavellis Theorie der Mischverfassung der Konflikt zwischen den rivalisierenden Gruppen – den grandi und dem populo – viel prononcierter und sogar als Mittel der Stabilisierung gedacht. Der wechselseitige Widerstand verhindert die Dominanz einer Gruppe. (…) Nach Machiavelli haben die Bessergestellten und die einfachen Leute komplementäre Temperamente“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 256, lässt die abschließenden Worte weg und kommentiert den Satz im Sinne einer Kombinationsmöglichkeit von Gegenwart und Antike: „Die These von der sich ständig wiederholenden Auflösung der politischen Ordnung durch die Korruptionsneigung der
84
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
le provincie il piú delle volte, nel variare che le fanno, dall’ordine venire al disordine, e di nuovo di poi dal disordine all’ordine trapassare: perché non essendo dalla natura conceduto alle mondane cose il fermarsi, come le arrivano alla loro ultima perfezione, non avendo piú da salire, conviene che scendino; e similmente, scese che le sono e per li disordini ad ultima bassezza pervenute, di necessità non potendo piú scendere conviene che salghino: e cosí sempre da il bene si scende al male, e da il male si sale al bene. Perché la virtú partorisce quiete, la quiete ozio, l’ozio disordine, il disordine rovina; e similmente dalla rovina nasce l’ordine, dall’ordine virtú, da questa, gloria e buona fortuna‘ (IF V 1).
c) Die G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z als Komplement der D i s c o r s i Das ist in nuce jener Gedanke, den Machiavelli in den D i s c o r s i eingehend auseinandersetzt.²⁹⁶ Auch wenn Machiavelli noch so tief aus antiken Quellen schöpft, ist die florentinische Geschichte für ihn stets die Bewährungsprobe einer jeden politischen Theorie.²⁹⁷ Dass Machiavelli die Zyklentheorie wie so vieles
menschlichen Natur und von den sich ebenso wiederholenden neuen Aufschwüngen der menschlichen Fähigkeiten bietet Machiavelli die Möglichkeit, die Analyse der römischen Geschichte mit der seiner Gegenwart zusammenzubringen“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 268. A. Montevecchi, verdeutlicht dies mit weiteren Nachweisen in seiner umsichtigen Anmerkung der von ihm herausgegebenen Ausgabe (in: Istorie fiorentine e altre opere storiche e politiche, 2013, S. 443 sub 1): ‚Qui sembra accettata per intero la dottrina ciclic (anakyklosis) degli antichi, in particolare di Polibio e di Aristotele, secondo cui le tre principali forme di governo: principato, aristocrazia e democrazia, tralignando successivamente in tirannia, dominio di pochi violenti e licenza, tendono a ripetersi nel tempo, anche se non necessariamente nella stessa città (cfr. anche Disc., I, 2 e il Proemio al Libro II). Altrove però lo scrittore ammette l’esistenza di occasioni tali da spezzare o rendere più libero questo meccanismo naturalistico (cfr. Principe,VI).‘ Hervorhebungen auch dort. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 232 f., hat am Beispiel des römischen Volkstribunats mit Blick auf die Gesetzgebung bei Machiavelli etwas herausgestellt, das auch hier gilt: „Niemand möchte behaupten, das Volkstribunat sei in der offenen Absicht errichtet worden, die Übelstände zu verhindern, von denen Machiavelli spricht, noch könnte man die Ansicht vertreten, der ‚Gesetzgeber‘, der es errichtete, habe den Entwicklungsprozeß und die Gegebenheiten der Situation im Sinn, die der Autor hier in so genauer Weise schematisiert. (…) Wenn jedoch auch die Kriterien, nach denen Machiavelli diese komplexe Wirklichkeit deutet, von Willkür und Äußerlichkeit nicht unberührt bleiben, wenn in der Behauptung, das Volkstribunat sei eher eine Schöpfung der politischen Klugheit Roms als das Ergebnis eines langwierigen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, ein unverkennbar zweckbestimmter Schematismus mitwirkt, der die Wirklichkeit verflacht, indem er vorgibt, ihren eigentlichen Sinn zu er-
IV. Kreislauf der Regierungsformen
85
andere, insbesondere seine scharfsichtigen anthropologischen Beobachtungen in seine G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z aufnahm, legt die Vermutung nahe, dass diese über den Anlass einer Auftragsarbeit hinaus weit mehr war, nämlich in verschiedener Hinsicht sogar sein persönlichstes Werk, in dem er bezüglich vieler Fragen, die sich bereits im P r i n c i p e und den D i s c o r s i stellten – gerade auch, was die Gesetzgebung betrifft – die Probe aufs Exempel machen konnte. So schwierig es für ihn gewesen sein mochte, den ihm ohnehin verhassten Mittelweg zwischen einem Mindestmaß an Wohlgefallen gegenüber der Familie des Auftraggebers aus dem Hause Medici einerseits und unbedingter Wahrheitssuche andererseits zu gehen, konnte er immerhin die Quintessenz seiner Erkenntnisse aus den D i s c o r s i und dem P r i n c i p e in die allgemeiner gehaltenen Exkurse einweben und seine Auffassung von der Geschichte als Wegweiserin für die Zukunft auf die Probe stellen. Und nicht zuletzt konnte er gleichsam komplementär zu seinem Vorgehen in den D i s c o r s i den permanenten Widerstreit zwischen den Großen und dem einfachen Volk innerhalb der florentinischen Geschichte nachverfolgen, um jeweils aufzeigen zu können, an welchen Stellen sich aus welchen Gründen im Unterschied zur römischen Republik bestimmte Interessen durchsetzten und in Gesetzen zugunsten der einen oder anderen Partei niedergelegt wurden.
3. Übergang der Herrschaftsformen und ihre Entartungen Aus der Alleinherrschaft ist spätestens mit der Erbfolge durch zügellose Sprösslinge eine Tyrannis geworden, deren Merkmal für Machiavelli immer auch die Angst des jeweiligen Herrschers ist: „So wurde der Herrscher verhasst und begann sich wegen dieses Hasses zu fürchten. Und bald ging er von der Furcht zu Gewalttaten über; daraus entstand rasch eine Tyrannis.“²⁹⁸ – ‚In modo che cominciando il principe a essere odiato e per tale odio a temere, e passando tosto dal timore all’offese, ne nasceva presto una tirannide‘ (D I 2). Das ist ein genuin taciteischer Gedanke, der bei allen Gewaltherrschern in der Nachfolge des Augustus akribisch nachgezeichnet wird und über Nero bis zu Domitian reicht.
fassen, bleibt es doch außer Zweifel, daß Machiavelli hier mit größter Klarheit und Schärfe das historische und politische Problem der Florentiner Gesellschaft aufwirft und daß die Schärfe seiner Deutung dieser Episode aus der frühen Geschichte Roms aus seinem tiefgreifenden Interesse für die Geschicke seiner Stadt und eines gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems hervorgeht.“ Hervorhebungen nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 13.
86
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Auch das Votum für das Adoptivkaisertum entspricht taciteischem Denken.²⁹⁹ Denn ererbte Herrschaften bringen stets das Problem mit sich, dass nicht unbedingt der Beste und Fähigste zur Herrschaft gelangt, wie es jedoch Machiavellis auf die virtú der großen Einzelnen gerichtetes Denken erfordert.³⁰⁰ Wie weit sich die zu Tyrannen entarteten Gewaltherrscher von jener Form der Alleinherrschaft, die Machiavelli nur notfalls billigt, entfernt haben, zeigt wiederum eine spätere Stelle: „Während sie durch die Gründung eines Freistaats oder eines Königreichs unsterblichen Ruhm erringen könnten, werden sie zu Tyrannen und nehmen nicht wahr, welches Ansehen, welchen Ruhm, welche Ehre und Sicherheit, Ruhe und innere Zufriedenheit sie durch ihre Wahl preisgegeben und welche Schande, Verachtung, Schmach, Gefahr und Aufregung sie erwartet.“³⁰¹ – ‚E potendo fare con perpetuo loro onore o una republica o uno regno, si volgono alla tirannide, né si avveggono per questo partito quanta fama, quanta gloria, quanto onore, sicurtà, quiete, con sodisfazione d’animo ei fuggono, e in quanta infamia, vituperio, biasimo, pericolo e inquietudine incorrono‘ (D I 10). Es ist also durchaus ein Akt freien Willens und keine schicksalhafte Gebundenheit, die einen Herrscher zum Tyrannen werden lässt, auch wenn es aus Machiavellis Sicht eine anthropologisch verankerte Neigung in diese Richtung gibt. Es wird diejenigen, die Machiavelli ausschließlich auf brutales Machtstreben um jeden Preis festlegen wollen, verwundern, dass sich ein ähnlicher Gedanke im P r i n c i p e findet: „Man kann es freilich nicht Tüchtigkeit nennen, wenn man sein Mitbürger umbringt, seine Freunde verrät und wenn man ohne Treue, ohne Erbarmen und ohne Religion ist; auf diese Weise kann man zwar Macht, aber
Tacitus, Historiae, 1, 16; dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, Einleitung. R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 238 f., analysiert dies unter Berücksichtigung des werkimmanenten Zusammenhangs rechtssoziologisch und führt im Anschluss an Jakob Burckhardt Bedenken ein, die jedoch gleichwohl kaum geeignet sein dürften, Machiavellis Präferenz zu erschüttern: „Bezeichnenderweise und notwendigerweise sehen wir nun Machiavelli überall gegen das Erbrecht auftreten, und das ist einer der Züge, die die Discorsi innerlich mit dem Principe verbinden, denn er sieht eben herrschaftliche Ordnung nicht mehr als organisch-traditionale Ordnung, sondern nur noch als das zweckbewußte Unternehmen, der die Vielen zusammenbindet. (…) Nun ist zwar ursprünglich das Erbrecht durch das Blut ebenfalls in magischen Zusammenhängen gegründet, aber diese bauen sich auf im Rahmen einer festen Gruppenordnung; die feste Gruppenordnung fehlt jedoch im Falle des Adoptivkaisertums, sodaß wahllos aus den verschiedensten Provinzen und Ländern, aus den verschiedensten sozialen Kreisen die Adoptivkaiser gewählt werden, wobei keineswegs immer persönliche Tüchtigkeit, sondern häufiger noch magischer Spuk für die Auswahl entscheidend ist.“ – Das mag im Einzelfall zutreffen, erfasst jedoch Machiavellis typisierende Betrachtung nicht hinlänglich. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 39.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
87
keinen Ruhm erwerben“³⁰² – ‚Non si può ancora chiamare virtú ammazzare eʼ suoi cittadini, tradire gli amici, essere sanza fede, sanza piatà, sanza religione eʼ quali modi possono fare acquistare imperio, ma non gloria‘ (P VIII). Dabei handelt es sich zur Vermeidung von Missverständnissen derer, die im P r i n c i p e eine Handlungsanleitung zu treuloser und frevelhafter Unterdrückung sehen, gleichsam um eine Negativbestimmung der virtú. Auch im P r i n c i p e rät er also nicht zu sinnloser Grausamkeit oder Treuwidrigkeit, mag dies auch weniger moralischen Bedenken geschuldet sein als vielmehr dem Streben der davon angesprochenen Herrscher nach dauerhaftem Ruhm.³⁰³ Mit einem psychologischen Scharfblick, der seinesgleichen sucht – aber in Tacitus auch vorgefunden hatte³⁰⁴ –, erkennt er die Angst und Zerrissenheit der Gewaltherrscher aller Zeiten.³⁰⁵ Machiavelli vermeidet gerade in den D i s c o r s i jede Verherrlichung von Gewalt; eher wird sie ersetzt oder rational sublimiert durch List und Lüge.³⁰⁶ Erneut bestätigt sich seine
Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 35. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 26: „Verstörender ist seine Verteidigung der ‚crudelta‘, auch wenn es irreführend ist, den Begriff als ‚Grausamkeit‘ zu übersetzen, denn im gegenwärtigen Sprachgebrauch scheinen der deutsche und der italienische Begriff eine Freude daran zu implizieren, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, während Machiavelli nur Härte gegen jene meint, die die Macht des Fürsten herausfordern“. Ed. Norden, Die antike Kunstprosa, Band I, 1923, S. 321 f., spricht treffend von „dem ernsten Mann mit dem weiten Blick und der magischen Fähigkeit, in die Seelen der Menschen zu schauen.“ Auch im Vergleich Machiavellis mit Tacitus lässt sich im Übrigen am Beispiel bestimmter römischer Wertbegriffe ein zeitgemäß unterschiedliches Verständnis aufzeigen. Dass Tacitus hier tendenziell härter urteilt als Machiavelli, kann man an der von ihm hingenommenen, grausamen Militärstrafe der Dezimierung ersehen (Annales 3, 21; 14, 44), von der Machiavelli hingegen am Ende seiner Discorsi mit regelrechtem Schaudern und Mitgefühl für die Betroffenen berichtet. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 187, bemerkt scharfsichtig: “The most important remarks on cruelty occur in the Tacitean subsection of the Discourses”. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 56 f., erkennt einen verborgenen, aber für die Geistesgeschichte eminent wichtigen Zusammenhang mit einem anderen prägenden Denker der Neuzeit: „Da strategische Rationalität in der Fähigkeit zur Verstellung gipfelt und die Lüge bei Machiavelli fast noch wichtiger ist als die Gewalt, ist es wahrscheinlich, daß das moderne Interesse an einer Autonomie strategischer Rationalität verbunden ist mit der typisch modernen Leib-Seele-Theorie Descartes‘, nach der das Bewußtsein zu seinem Leib in einem äußerlichen Verhältnis steht. (…) Jedenfalls ist es klar, daß die cartesische Theorie der res cogitans, die diese aus der ganzen ausgedehnten Welt herauslöst, abgründige Möglichkeiten von Verstellung eröffnet, die mit dem Interesse an einem umfassenden Einsatz strategischer Rationalität in kaum zufälliger Übereinstimmung stehen.“ Zur genannten Trennung von res cogitans und res extensa im Hinblick auf die Rechtsphilosophie eines konge-
88
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Einsicht, dass die Notwendigkeit zu etwas zwingt, was an sich vernunftwidrig ist (D I 7). Der Übergang von der Alleinherrschaft zur Tyrannis ist für ihn ebenso unausweichlich wie irrational.
4. Perspektivwechsel des Rechtsdenkens In einem solchen Stadium begehrt aus Machiavellis Sicht der Adel auf und überzeugt durch sein Vorbild das Volk, das den Tyrannen stürzt.³⁰⁷ So kommt es zu einer Aristokratie: „Da diesen der Name Alleinherrscher verhasst war, bildeten sie aus ihrer Mitte eine Regierung und leiteten eingedenk der vergangenen Tyrannei anfangs den Staat entsprechend den von ihnen gegebenen Gesetzen, ordneten ihren eigenen Vorteil dem Gemeinwohl unter, verwalteten und hielten die privaten und öffentlichen Angelegenheiten mit größter Sorgfalt auseinander.“³⁰⁸ – ‚E quelli avendo in odio il nome d’uno solo capo, constituivano di loro medesimi uno governo, e nel principio avendo rispetto alla passata tirannide si governavono secondo le leggi ordinate da loro, posponendo ogni loro commodo alla commune utilità, e le cose private e le publiche con somma diligenzia governavano e conservavano‘ (D I 2).³⁰⁹
a) Anerkennung einer ‚civilità‘ Wiederum aber wird die Sukzession zum Problem,³¹⁰ da die nachfolgenden Söhne – von Töchtern ist ohnehin nicht die Rede – die Erfahrungen ihrer Väter im Hinblick auf die Tyrannis nicht geteilt haben, aber eben auch die Wechselfälle des Lebens, vor allem die Schattenseiten des Schicksals nicht erlebt hatten und in
nialen Zeitgenossen Descartes‘ J. Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, § 2 und passim. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 42, ordnet die folgende Stelle zeitgeschichtlich überzeugend ein: “In fact, young ottimati would be quite flattered by association with the following description of their class, largely derived (but for the significant added reference to their wealth) from Polybius”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 14. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 375, kommentiert: „Auch hier ist die strikte Beachtung der Gesetze und die Trennung der privaten Interessen der Regierenden von ihren öffentlichen Aufgaben die differentia specifica zwischen der guten und der schlechten Verfassungsnorm.“ Hervorhebung auch dort. Zur Sukzession in Herrschaftsverhältnisse auch für den vorliegenden Zusammenhang bemerkenswert D. Timpe, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, 1962, S. 18.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
89
Ermangelung dieses Erfahrungshorizonts prädestiniert waren, in die Oligarchie abzugleiten:³¹¹ „Dann aber ging die Regierung auf ihre Söhne über, die den Wechsel des Glücks nicht kannten und nie das Unglück erfahren hatten. Sie wollten sich mit der bürgerlichen Gleichheit nicht zufrieden geben, sondern ergaben sich der Habsucht, dem Ehrgeiz (…); so machten sie aus der Herrschaft der Vornehmen eine Herrschaft der Wenigen, ohne irgendwelche Rücksicht auf das Allgemeinwohl. Die Folge war, dass es ihnen binnen Kurzem erging wie dem Tyrannen. Das Volk, ihrer Herrschaft überdrüssig, gehorchte jedem der die Herrschenden auf irgendeine Weise stürzen wollte; und so erhob sich bald einer, der sie mit Hilfe des Volks beseitigte.“³¹² – ‚Venuta dipoi questa amministrazione ai loro figliuoli, i quali non conoscendo la variazione della fortuna, non aveno mai provato il male, e non volendo stare contenti alla civile equalità, ma rivoltisi alla avarizia, alla ambizione (…), feciono che d’uno governo d’Ottimati diventassi uno governo di pochi, sanza avere rispetto ad alcuna civilità; talché in breve tempo intervenne loro come al tiranno, perché infastidita da’ loro governi la moltitudine, si fe’ ministra di qualunque disegnassi in alcun modo offendere quelli governatori, e cosí si levò presto alcuno che con l’aiuto della moltitudine li spense‘ (D I 2). Machiavelli kennt also durchaus Allgemeinwohl und bürgerliche Gleichheit, auch wenn er mit ihr gewiss nicht dasjenige verbindet, was wir heute darunter verstehen, weil ihm Vorrechte des Adels und sogar monarchische Befugnisse eines Alleinherrschers eine Selbstverständlichkeit sind.³¹³ Bemerkenswert ist jedenfalls Machiavellis schwer übersetzbarer Begriff der ‚civilità‘, den man ungeachtet seines etymologischen Ursprungs gewiss nicht unreflektiert mit unserem Verständnis der Zivilisation gleichsetzen kann, auch wenn darin möglicherweise die Anerkennung gewisser Grundüberzeugungen im Sinne eingeübter Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt, die freilich, wie alles bei Machiavelli, nicht starr fixiert sind.³¹⁴
Siehe auch J. P. McCormick, Machiavelli’s Inglorious ‚Tyrants‘: On Agathocles, Scipio and Unmerited Glory, History of Political Thought 36 (2015) 29; ders., Machiavelli’s Agathocles: From Criminal Example to Princely Exemplum, in: Between Exemplarity and Singularity: Literature, Philosophy, Law (Hg. M. Lowire/S. Lüdemann), 2015, p. 123. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 14. Zur bürgerlichen Gesellschaft aus heutiger Sicht, zugleich aber unter Berücksichtigung der neuzeitlichen Ideengeschichte E. J. Mestmäcker, Wettbewerb in der Privatrechtsgesellschaft, 2019, S. 46 ff.; ders., Der gestrandete Leviathan: Über Gedanken und Religionsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts. Beiträge zu Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der EU, 2016, S. 577; zu diesem Band J. Petersen, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 103 (2017) 553. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des
90
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
b) Angedeutete Rechtsgleichheit Doch muss man sich auch hier vor Verkürzungen hüten, weil Machiavelli im Unterschied zu den Aristokraten durchaus die Zeichen der Zeit erkannt hat, dass es nämlich für das gesamte Gemeinwesen auf Dauer verheerend wäre, wenn versucht würde, das einfache Volk von der Teilhabe elementarer Rechte dauerhaft auszuschließen³¹⁵ und auch die Gesetzgebung auf dieser fragwürdigen Vorstellung aufzubauen.³¹⁶ Das zeigt eine wenig beachtete Stelle seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , an der er einen plebejischen Anführer der Menge, die wieder einmal mit den Aristokraten im Streit liegt, eine aufwieglerische Rede mit einer bemerkenswerten rechtstheoretischen Einsicht halten lässt: „Laßt uns durch das
Abendlandes, 1969, S. 89 ff., hat unter Berücksichtigung des Erasmus, aber ohne auf Machiavelli einzugehen, die Verhaltensänderung in der Renaissance nachgezeichnet. Auch wenn ders., Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, 1976, ihn soweit ersichtlich ebenso wenig berücksichtigt, dürfte doch der Schlusssatz (S. 454) durchaus im Sinne von Machiavellis zeitlich-dynamisch geprägtem Verständnis sein: „Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist erst im Werden“. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 146 f., wiederholt stichworthaft einprägsam die von ihm herausgearbeiteten Ausprägungen der politischen und rechtlichen Teilhabe im Sinne Machiavellis: “competing for office with the grandi; establishing class-specific advocacy institutions; opening processes of appeals; creating opportunities for the condemnation of officials and powerful individuals; directly deliberating and deciding over legislation and political trials in assembly; and sharing the republic’s wealth and honors.” Hervorhebung nur hier. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 233, untermalt das am Ende mit der Wiedergabe eines schönen Bonmots: „Machiavelli sieht jedenfalls sehr klar, daß man eine politische und gesellschaftliche Klasse nicht außerhalb des Staatsverbandes lassen konnte, die sich ihrer Rechte immer deutlicher bewußt wurde und immer klarer ihr Gewicht und ihre Bedeutung im Leben des Staates fühlte. Die von ihm (…) geübte Kritik (…) richtet sich gegen die Art und Weise, in der sich die Parteien in Florenz bekämpften, gegen die Methode der politischen und gesellschaftlichen Vernichtung des Gegners, die sich keineswegs zugunsten des ‚Gemeinwohls‘, sondern nur zum Nuzen der ‚Partei‘ auswirkt; diese Methode bestimmte ja den ganzen wechselhaften Verlauf der inneren Geschichte der Stadt und sollte später Donato Gianotti dazu bringen, voll tiefer Bitternis jenes ‚volkstümliche Sprichwort‘ zu wiederholen, nach dem ein ‚Florentiner Gesetz, das am Abend gemacht wird, am nächsten Morgen schon wieder wertlos ist‘.“ Vgl. D. Giannotti, Della repubblica fiorentina, I 5 (in: Opere, Band II, 1819, S. 25). Die Kurzlebigkeit der florentinischen Gesetze geißelt schon Dante, Purgatorio, VI 139 – 144: ‚Atene e Lacedemona, che fenno / l’antiche leggi e furon si civili, / fecero al viver bene un picciol cenno / verso di te, che fai tanto sottili / provedimenti, ch’a mezzo novembre / non giugne quel che tu d’ottobre fili‘; in Johann von Sachsens („Philalethes“) Übersetzung: „die du so fein erdachte Satzungen machst, daß bis Novembers Mitte Nicht reicht, was im Oktober du gesponnen.“ Dazu J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 61.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
91
Alter ihres Blutes nicht abschrecken, das sie uns vorwerfen.³¹⁷ Alle Menschen haben den gleichen Ursprung, ihre Geschlechter sind gleich alt, alle hat die Natur gleich geschaffen. Zieht sie nackt aus, ihr werdet sehen, daß sie uns gleich sind. Kleidet uns in ihre Kleider, sie in die unserigen, und ohne allen Zweifel werden wir Adel, sie Pöbel erscheinen. Nur Armut und Reichtum macht zwischen uns den Unterschied.“³¹⁸ – ‚Perché tutti gli uomini avendo avuto uno medesimo principio sono ugualmente antichi, e dalla natura sono stati fatti a uno modo. Spogliateci tutti ignudi, voi ci vederete simili; rivestite noi delle vesti loro ed eglino delle nostri: noi sanza dubbio nobili ed eglino ignobili parranno; perché solo la povertà e le ricchezze ci disagguagliano‘ (IF III 13).³¹⁹ Es versteht sich, dass Machiavelli derart revolutionäre Gedanken in rhetorisch stilisierter Form verbrämen musste, zumal in einem Auftragswerk für den Medici-Papst Clemens VII. Man darf es daher nicht ohne weiteres mit seinen eigenen Einschätzungen gleichsetzen. Und doch wollte
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 127 f., nennt die Stelle “the most shocking or the most ,Machiavellianʻ passage of the Florentine Histories”. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 176. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, der diese Stelle auf S. 88 f., behandelt und bei dem sich die soweit ersichtlich beste Aufarbeitung dieser undurchsichtigen Revolte findet (insbesondere S. 89 – 94), wendet sich bereits auf S. 82 f., auch am Beispiel dieser Episode der Florentiner Geschichte (wie bereits zuvor bei der Person Giano della Bella) überzeugend gegen die herrschende Anschauung, dass der spätere Machiavelli insofern konservativer geworden sei, als er das Volk insgesamt nachteiliger zeichne: “Such scholars often draw a stark contrast between, on the one hand, the immoral attitudes that Machiavelli seems to be imputing to the people via the anonymous ciompo’s speech in the Histories, and, on the other, the ‚decent‘ or ‚good‘ nature that Machiavelli attributed to the people in The Prince and the Discourse. (…) There is, however, one insurmountable problem with any attempt to use the anonymous ciompo as a proxy for Machiavelli’s ‚new‘ view of the common people: his fellow ciompi do not ultimately follow his advice. (…) Therefore, Machiavelli demonstrates, without any explicit commentary on the fact, that the plebeians prove ultimately unwilling to fully engage in the immorality demanded of them by the nameless ciompo, or to fully engage in the oppressive behaviour that Machiavelli, without reservation throughout the Histories, continually shows to be characteristic of the nobility.” Beifallswürdig ders., On the Myth of a Conservative Turn in Machiavelli’s Florentine Histories, in: Liberty and Conflict: Machiavelli on Politics and Power (Hg. N. Urbinati/D. Johnston/C. Vergara), 2017, p. 330. Bemerkenswert ist auch seine Folgerung bezüglich der im Text zitierten Stelle (IF III 13) auf p. 95 seines zuletzt zitierten Buches: “We may conclude that Florence’s plebeians, do not have ‚the same nature‘ as the nobles in Machiavelli’s estimation; they do not desire to oppress, and when given the opportunity to do so, they do not engage in oppression.” – Diese ebenso überraschende wie hellsichtige Beobachtung kann sich im werkimmanenten Zusammenhang auf eine bereits behandelte Sentenz berufen, wonach die Großen das Volk unterdrücken wollen, dieses hingegen lediglich nicht unterdrückt werden möchte, sondern nur in Frieden leben will (P IX).
92
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
er diesen elementaren Gedanken offenbar einmal ausgesprochen wissen. Immerhin kommt darin ansatzweise seine physiologische Betrachtungsweise zum Ausdruck, die ihn Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf Rangfragen mit äußerster Schärfe und Treffsicherheit ungeschminkt erkennen lässt.
c) Zeitenwende im Rechtsverständnis Es erinnert an jene Stelle Montaignes, als er in seinem sogenannten KannibalenEssay einen Bewohner der aus damaliger Sicht neuen Welt, der dem noch minderjährigen König von Frankreich vorgeführt wird, die Frage in den Mund legt, warum jemand aus der Palastwache den König nicht einfach niederschlage und sich statt seiner zum Herrscher ausrufe, da er doch offensichtlich stärker sei.³²⁰ Hier wie dort kündigt sich sowohl bei Machiavelli als auch später bei Montaigne ein Perspektivwechsel des Rechtsdenkens an, der eine Zeitenwende markiert. Die Anciennität der Familie ist dementsprechend ein ebenso wenig sichtbarer Punkt, weil er auf Vorverständnis und Schein beruht, wie das Gedankenexperiment des schlichten Kleiderwechsels zeigt. Auch die nachfolgende Einsicht des Aufwieglers, dass „der Schwache immer Unrecht hat“³²¹ – ‚e vanne sempre col peggio chi può meno‘ (IF III 13)³²² – ist wohl nicht nur eine Ausprägung der Lektüre des Melier-Dialogs,³²³ sondern auch eine bemerkenswerte Vorwegnahme dessen, was
J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 6 mit Einzelheiten und Nachweisen zu dieser Stelle. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 177. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 87, folgert zutreffend: “The Ciompi Revolt, Machiavelli implies, did nothing to end the oppression of the city’s working class by the rich popolani of the guild community”. Thukydides, V 88 f., 107; vgl. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb.W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 282: „Da er Thukydides gelesen hatte, konnte er auf das unvergeßliche Beispiel des Dialogs zwischen den Meliern und den Athenern gestoßen sein.“ Dazu auch G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 46: „Die Grundlage für alle die Verhältnisse, auf denen der Principe sich aufbaut, ist der Satz, dass der Stärkere das natürliche Recht hat, mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, den Schwächeren unter sich zu zwingen. Auch für diesen Grundsatz vermögen wir Einflüsse des Altertums nachzuweisen. Finden sich doch selbst bei Thukydides Erwägungen ganz ähnlicher Art: nach dem Recht wird im menschlichen Leben nur entschieden, wo ein Gleichgewicht der Zwangsmittel vorhanden ist; im übrigen aber thut der Stärkere, was er vermag, und der Schwächere hat nachzugeben.“ Zum Einfluss des Melier-Dialogs auf Nietzsche, der Machiavelli besonders schätzte, auch J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 48 ff. Grundlegend V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 1996, S. 144 ff.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
93
La Fontaine in einer seiner berühmtesten Fabeln, wenngleich in einer sinngemäßen Umkehrung, zum Recht des Stärkeren bemerkt.³²⁴ Hieran zeigt sich zugleich, dass der Aufbruch in eine neue Zeit nicht notwendigerweise einen rechtlichen Fortschritt in jeder Hinsicht bedeutet. Denn der französische Absolutismus, auf den La Fontaine anspielt, veranschaulicht, dass später namentlich in Frankreich dasjenige aufgegeben wurde, was Machiavelli allenthalben als vorbildhaft bezeichnet, nämlich die Bindung der französischen Könige an die Gesetze (D I 58).
5. Demokratie und Entwicklungsgesetz Der Kreislauf der Regierungsformen gelangt an der zuletzt zitierten Stelle seiner D i s c o r s i zu seiner dritten vorzugswürdigen Regierungsform, nämlich der Demokratie: „Nun war die Erinnerung an den Fürsten und die von ihm erlittenen Ungerechtigkeiten noch frisch; man hatte die Herrschaft der Wenigen gestürzt, aber man wollte die des Fürsten nicht wieder aufrichten und ging infolgedessen zur Volksherrschaft über, in der weder mehrere Machthaber noch ein Fürst irgendwelche Gewalt erhielten.“³²⁵ – ‚Ed essendo ancora fresca la memoria del principe e delle ingiurie ricevute da quello, avendo disfatto lo stato de’ pochi, e non volendo rifare quel del principe, si volsero allo stato popolare, e quello ordinarono in modo che né i pochi potenti né uno principe vi avesse autorità alcuna‘ (D I 2). Aber auch hier kommt es unweigerlich, wie es nach Machiavelli bzw. seinen Vorläufern kommen musste.³²⁶
J. de la Fontaine, Le corbeau et le renard, 1668: „La raison du plus fort est toujours la meilleure.“ Dazu J. Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Liber Amicorum Otmar Seul, 2014, S. 381. Grundlegend K. Stierle, Poesie des Unpoetischen. Über La Fontaines Umgang mit der Fabel, Poetica 1 (1967) 508; ders., Une morale du Grand Siècle? Morale et esthetique dans les Fables de La Fontaine, Cahiers de l’Association internationale des études françaises 56 (2004) 231 (= Montaigne und die Moralisten, 2016, S. 207– 240); P. Oster-Stierle, Poesie als Vollendung der Moralistik. Die Fabeln La Fontaines, in: Moralistik, Exploration und Perspektiven (Hg. R. Behrens/ M. Moog-Grünewald), 2010, S. 223. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 14. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, hat, wie eingangs gezeigt, darauf hingewiesen, dass es nicht im strengen Sinne Machiavellis Entwicklungsgesetz ist, weil er gerade in den dieses Gesetz betreffenden Abschnitten seiner Discorsi vor allem Polybios verpflichtet war.
94
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
a) Einbeziehung der Sterblichkeit Denn nach vergleichsweise geringer Zeit entartet auch die Regierungsform der Demokratie und führt geradewegs in die Anarchie:³²⁷ „Da nun jede Regierungsform in ihren Anfängen einige Achtung einflößt, so hielt sich auch die Volksherrschaft eine Zeit lang, höchstens aber so lang, bis die Generation, die sie eingeführt hatte, ausgestorben war. Bald kam es zur Zügellosigkeit, in der man weder Privatleute noch Amtspersonen fürchtete. Da jeder nach seiner Art lebte, fügte man sich täglich tausend Ungerechtigkeiten zu. So kam man dann notgedrungen entweder unter den Einfluss eines redlichen Mannes oder, um der Anarchie zu entgehen, wieder auf die Herrschaft eines Fürsten zurück und von dieser nach und nach in gleicher Weise und aus denselben Gründen wieder zur Anarchie.“³²⁸ – ‚E perché tutti gli stati nel principio hanno qualche riverenzia, si mantenne questo stato popolare un poco ma non molto, massime spenta che fu quella generazione che l’aveva ordinato; perché subito si venne alla licenza, dove non si temevano né gli uomini privati né i publici: di qualità che vivendo ciascuno a suo modo si facevano ogni dí mille ingiurie, talché costretti per necessità o per suggestione d’alcuno buono uomo, o per fuggire tale licenza, si ritorna di nuovo al principato; e da quello di grado in grado si riviene verso la licenza, ne’ modi e per le cagioni dette‘ (D I 2). Aufschlussreich an diesem Stadium ist wiederum das Merkmal, das zur Unterbrechung führt. Hier ist es naturgemäß nicht die einzelne Person, die stirbt, sondern die ganze Generation, die alle Entstehungsbedingungen der Demokratie noch kennt, aber dann ausstirbt und durch eine neue Generation ersetzt wird.³²⁹ Diese nimmt die Volksherrschaft als selbstverständlich gegeben hin und wird dadurch zur Willkür verführt.
b) Berücksichtigung des Erfahrungswissens Ebenso beeindruckt hier – was auch immer man gegen diese vorgebliche Zwangsläufigkeit einwenden kann – der psychologische Scharfblick, mit dem
Siehe hierzu auch den instruktiven Überblick von J. P. McCormick, Niccolò Machiavelli, in: Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch (Hg. D. Comtesse/O. Flügel-Martinsen/F. Martinsen/ M. Nonhoff), 2019, S. 27. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 14 f. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 336, macht auf eine Besonderheit der florentinischen Verhältnisse aufmerksam, die man für das Verhältnis der Demokratie zu den Gesetzen berücksichtigen sollte, um Machiavellis zeitbedingtes Verständnis der Demokratie nicht zu idealisieren: „Dass man Beschlüsse, die Missfallen erregten, demokratisch verbrämen muss, um sich gegen ihre schädlichen Folgen zu schützen, war eine wichtige Herrschaftstechnik der Medici“.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
95
Machiavelli erkennt, auf welche Weise die tagtäglich unzähligen begangenen Ungerechtigkeiten zur Erosion der Demokratie führen.³³⁰ Diese Einsicht ist auch heute noch bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie demokratische Institutionen durch permanente kleinere und mitunter unscheinbar erscheinende vorsätzliche Verstöße allmählich untergraben werden. Zudem hat er den Umstand des persönlichen Wissens in seine Betrachtung einbezogen, indem er darauf aufmerksam gemacht hat, dass bestimmte Wechsel der Regierungsformen nur oder vor allem deswegen vonstatten gehen, weil spätere Generationen die Erfahrungen früherer nicht hinreichend verinnerlicht haben. In der Hervorhebung dieses Wissensmoments, das für ihn auch in anderem Zusammenhang entscheidend ist, wie sogleich noch zu zeigen sein wird, liegt möglicherweise die besondere Originalität Machiavellis gegenüber seinen historischen Vorläufern begründet. Mag man also sein Entwicklungsgesetz für allzu schematisch, vorurteilsbeladen und wirklichkeitsfern halten, so muss man gleichwohl einräumen, dass Machiavelli ungleich schärfer in die Tiefen der menschlichen Seele geschaut hat als viele andere, die nach ihm geschichtliche Entwicklungsgesetze propagiert haben.³³¹
V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25, gelangt zu einer vorderhand verblüffenden, aber nichtsdestoweniger tiefen Einsicht: „Ich kann hier nicht erörtern, wie Machiavellis Verteidigung von Fürstentümern mit dem entschiedenen Republikanismus vereinbar ist, den er in seinem Hauptwerk (sc. den Discorsi) vertritt und der ihn zu einem der demokratischsten Autoren in der Geschichte des Politischen Denkens zwischen den Römern und dem achtzehnten Jahrhundert macht.“ Hervorhebungen nur hier. – Einer der Gründe für diese besondere Wertschätzung der Demokratie dürfte Machiavellis Hochachtung vor der öffentlichen Meinung gewesen sein, die er womöglich als erster Autor überhaupt, gewiss aber als der die Ideengeschichte der Neuzeit prägende Denker in all ihren Erscheinungsformen und ihrem Gewicht erkannt hat. Zu den Vorläufern könnte Tacitus, Annales, 3, 55, gehören, der ein geschichtliches Entwicklungsgesetz der sich wandelnden Sitten erwogen hat. Ablehnend J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 64 f., wonach „es unsinnig ist, die Auffassung eines zyklischen Geschichtsablaufs bei Machiavelli ausgerechnet von Tacitus herleiten zu wollen. Zwar spricht auch Tacitus einmal von einem Kreislauf dieser Art (Ann. III, 55, 8), jedoch ist aus den Formulierungen Machiavellis zu ersehen, daß Polybius derjenige war, der ihn hier angeregt hat.“ Vorsichtiger der bedeutende MachiavelliSpezialist G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 386: „Machiavelli könnte sie bei Tacitus gefunden haben (man denke beispielsweise an Historiae, I, 18 und an Annales, III 55).“ Ferner finden sich ähnliche kulturgeschichtliche Überlegungen, wenn auch mit markanten Unterschieden, bei Vico; dazu J. Petersen, Giambattista Vicos theologisch geprägte Rechtsphilosophie, Jahrbuch für Italienisches Recht 31 (2018) 85. Erhellend zur Machiavelli-Rezeption Vicos V. Hösle, Vico und die Idee der Kulturwissenschaft, Einleitung zur Meiner-Ausgabe 1990, S. LIII: „Auch wenn er Machiavelli in der dritten Auflage der SN (sc. Scienza Nouva) nur
96
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
6. Vorzugswürdige Mischformen Auch insoweit wird man Machiavelli aus heutiger Sicht wohl am ehesten gerecht, wenn man nicht auf demjenigen beharrt, was uns heute mit Recht abstößt, wie die Vorstellung einer Aristokratie oder gar unumschränkten Monarchie, sondern ihn vielmehr dort würdigt, wo er etwas zeitlos Gültiges gefunden hat.
a) Informationsteilung und Erfahrungsaustausch Dies kann man etwa daran erkennen, dass er sich in die jeweils handelnden Menschen hineinversetzt und ihre jeweiligen Interessen, aber vor allem auch ihren individuellen Wissensstand berücksichtigt, wie niemand besser wusste als Machiavelli, der den tieferen Grund in Gestalt einer für ihn charakteristischen Lebensweisheit zur Wissensteilung preisgab: „Was der eine nicht weiß, weiß dann der andere, und größtenteils wissen alle zusammen das Ganze. Wer aber will, daß ihm andere sagen, was sie wissen, muß ihnen sagen, was er weiß; denn das beste Mittel, Nachrichten zu erhalten, ist Nachrichten zu geben. Will daher eine Stadt, daß ihr Gesandter geehrt werde, so kann sie nichts Besseres tun, als ihn immer reichlich mit Nachrichten zu versehen, damit die Leute, wenn sie wissen, daß sie von ihm Neuigkeiten erfahren können, sich um die Wette beeilen, ihm die zu sagen, die sie hören.“³³² – ‚Perché quello che non sa uno, sa l’altro, e il piú delle volte tutti sanno ogni cosa. Ma chi vuole che altri gli dica quello che egli intende, è necessario che lui dica ad altri quello che lui intende; perché il migliore rimedio ad avere degli avvisi è darne. E perché in una città, a volere che un suo ambasciatore sia onorato, non può farsi cosa migliore che tenerlo copioso di avvisi, perché gli uomini che sanno di poter trarne, fanno a gara per dirgli quello che gl’intendono.‘³³³ Eine Generation, welche die Erfahrung ihrer Väter im Umgang mit Ungerechtigkeiten nicht gemacht hat, urteilt notwendigerweise anders als diese; nicht not-
zweimal erwähnt (…), ist der Verfasser zumal der ‚Discorsi sopra la prima Deca di Livio‘ in der SN allgegenwärtig. Die paradigmatische Geltung, die Vico der römischen Geschichte zuschreibt (…), ist ebenso von Machiavelli beeinflußt wie die Einsicht in die Bedeutung der Ständekämpfe als Motor der Entwicklung Roms. In zahlreichen Abschnitten der SN wirken Erkenntnisse Machiavellis nach.“ – Dazu dürfte demnach auch und gerade die Zyklentheorie gehören. Machiavelli, Instruktion für Raffaello Girolami, Gesandten bei Karl V., 1522, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 247, 249. Machiavelli, Memoriale a Raffaello Girolami, quando ai 23 d’ottobre partì per Spagna all’imperatore, 1522, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 729, 730.
IV. Kreislauf der Regierungsformen
97
wendigerweise schlechter, aber auch nicht zwangsläufig vernünftiger oder reifer.³³⁴
b) Zusammengesetzte Regierungsformen als Zeugnis weiser Gesetzgebung Bemerkenswert ausgewogen ist Machiavellis Urteil, das er auf der Grundlage dieses Kreislaufs der unterschiedlichen Staatsformen fällt: „Nach meiner Meinung sind daher alle diese Staatsformen verderblich, und zwar die drei guten wegen ihrer Kurzlebigkeit und die drei anderen wegen ihrer Schlechtigkeit. In Erkenntnis dieser Mängel haben weise Gesetzgeber jede der drei guten Regierungsformen für sich allein vermieden und eine aus allen dreien zusammengesetzte gewählt. Diese hielten sie für fester und dauerhafter, da sich Fürst, Adel und Volk in ein- und demselben Staat zur Regierung vereinigt, gegenseitig überwachen.“³³⁵ – ‚Dico adunque che tutti i detti modi sono pestiferi, per la brevità della vita che è ne’ tre buoni e per la maglinità che è ne’ tre rei. Talché avendo quelli che prudentemente ordinano leggi conosciuto questo difetto, fuggendo ciascuno di questi modi per se stesso, ne elessero uno che participasse di tutti, giudicandolo piú fermo e piú stabile, perché l’uno guarda l’altro, sendo in una medesima città il Principato, gli Ottimati e il governo Popolare‘ (D I 2). Eine Mischform findet also am ehesten seinen Beifall.³³⁶ Auch in dieser Hinsicht sollte man Machiavelli nicht idealisieren, hält er doch unverrückbar an der Rangfolge zwischen Fürst, Adel und Volk fest. Bemerkenswert ist aber immerhin der Gesichtspunkt gegenseitiger Überwachung. Das ist zwar noch fern von aller Gewaltenteilung oder Gewaltenverschränkung, aber mit seiner altrömischen Orientierung vergleichsweise fortschrittlicher im Verhältnis zu den meisten Staatswesen um das Jahr 1500 herum, nach welchem Machiavelli dies schrieb.
B. Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, 2002, S. 133 f., mit einem zeitgeschichtlich aufschlussreichen Beispiel. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 15. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 377 f., erklärt den mit der Gesetzgebung zusammenhängenden Grund: „Die Mischverfassung ist für Machiavelli darum das aufgelöste Rätsel der Politik und der Geschichte, die beste Antwort auf alle zuvor aufgeworfenen Fragen. Nur weil Rom, im Gegensatz zu Sparta, nicht per Dekret eines Gesetzgebers, sondern aus der inneren Dynamik seiner Klassenkämpfe heraus schließlich eine solche gemischte Verfassung erhielt, konnte es, so Machiavelli, zur Weltmacht aufsteigen und diese Stellung über Jahrhunderte behaupten.“ Siehe auch J. P. McCormick, Adressing the Political Exception: Machiavelli’s ‚Accidents‘ and the Mixed Regime, American Political Science Review 87 (1992) 888.
98
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
V. Kontingenz und Relativität des Rechts Kaum jemand seiner Zeitgenossen kannte und reflektierte die Wechselfälle des Lebens so wie Machiavelli, der sich zunächst in einflussreicher politischer Position befand und mit einem Mal vor dem Nichts stand. Von daher verwundert es nicht, dass er dem Zufall auch im Rahmen der Gesetzgebung Beachtung schenkte. Interessant ist deshalb sein Gedanke, dass mitunter „der Zufall die Versäumnisse des Gesetzgebers nachholte“³³⁷ – ‚che quello che non aveva fatto uno ordinatore lo fece il caso‘ (D I 2). So zeigt sich, dass Machiavelli weniger schematisch denkt, als es bei der Betrachtung seines geschichtlichen Entwicklungsgesetzes den Anschein hat, und als Kenner der Verfassungswirklichkeit eben auch den Gesichtspunkt reiner Kontingenz würdigt,³³⁸ die einen noch so umsichtigen Gesetzgeber bisweilen überholen kann.³³⁹
1. Zufall im Rahmen der Staatsbegründung Wie wichtig die Erkenntnis ist, dass mitunter weniger die Klugheit des Gesetzgebers als vielmehr der schiere Zufall über probate Regelungen, ja sogar die
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 16. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889, bemerkt am Beispiel des Principe, was – allerdings nur bezüglich der Kontingenz – wohl auch für die geschichtlichen Darstellungen innerhalb der Discorsi gilt: „Der Leser, der sich durch die Personalisierung einer (…) systematisch gerechtfertigten Aussage auf die falsche Fährte locken lässt, kommt in Machiavellis anschaulichen und historischen Erzählungen auf seine Kosten – zahllose Episoden enthalten ebenso viele kaltblütig begangene Hinterhältigkeiten, ja barbarische Akte, die für einen klugen, auf Machterhalt oder -zuwachs bedachten Fürsten ‚geboten‘ sind, sofern er die kontingenten, im Zusammenspiel von fortuna und necessità jeweils günstigen oder zwingenden Umstände berücksichtigt.“ Ähnlich und folgerichtig unter zusätzlicher Berücksichtigung der virtú ebenda, S. 892: „Diese als antike Tugend gepriesene Stärke üben die Herrscher schon ganz im modernen Bewusstsein der Kontingenz der Umstände aus – und daraus begründet sich das Zusammenspiel von virtù, fortuna und necessità.“ – Die im Zitat zutreffend genannten ‚zahllosen Episoden‘ enthalten im Übrigen ein Darstellungsmittel, dessen sich einige Jahrzehnte später auch ein anderer Denker bediente; vgl. K. Stierle, Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016, S. 43: „Er (sc. Montaigne) verfügt über einen nahezu unerschöpflichen Schatz von Beispielgeschichten antiker, aber auch mittelalterlicher und nachmittelalterlicher Herkunft (…).“ Zur juristischen Bedeutung vieler dieser Geschichten, die seinen Sinn für Fallbeispiele offenbaren, J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 6. F. Frosini, Contingenza e verità della politica. Due studi su Machiavelli, 2001.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
99
Staatsform insgesamt entscheidet,³⁴⁰ veranschaulicht Machiavelli nochmals am Beispiel der Republik Venedig:³⁴¹ „Mehr der Zufall schuf diese Staatsform als die Weisheit eines Gesetzgebers; es hatten sich nämlich aus den oben genannten Gründen zahlreiche Bewohner auf die Inseln zurückgezogen, auf denen heute Venedig steht. Als sich deren Zahl so stark vermehrte, dass sie für ihr gemeinschaftliches Leben Gesetze brauchten, setzen sie eine Art Regierung ein und versammelten sich oft, um über die Angelegenheiten der Stadt zu beraten. Doch als ihnen die Zahl der Zuzüglinge zu groß für das politische Leben erschien, schlossen sie alle neu hinzugekommenen von der Teilnahme an der Regierung aus.“³⁴² – ‚Il quale modo lo dette il caso piú che la prudenza di chi dette loro le leggi; perché sendosi ridotti in su quegli scogli dove è ora quella città per le cagioni dette di sopra, molti abitatori, come furono cresciuti in tanto numero che a volere vivere insieme bisognasse loro far leggi, ordinarono una forma di governo; e convenendo spesso insieme ne’ consigli a diliberare della città, quando parve loro essere tanti che fossero a sufficienza a uno vivere politico, chiusono la via a tutti quelli altri che vi venissono ad abitare di nuovo, di potere convenire ne’ loro governi; e col tempo trovandosi in quel luogo assai abitatori fuori del governo‘ (D I 6).
a) Abhängigkeit der Staatsverfassung von der Belegenheit des Ortes Es kommt Machiavelli nicht zuletzt darauf an zu zeigen, dass nicht irgendein idyllischer oder ausgedachter Naturzustand zur Begründung des Gemeinwesens führte, sondern dass die mehr oder minder unfreiwillig an einem zunächst un G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 221, hat dieses auf den Gegensatz von Fortuna und Virtú zurückgehende Problem am deutlichsten herausgearbeitet: „Die Änderungen der Regierungsformen entstanden wie zufällig unter den Menschen, ihre Kontinuität wird mehr von einer nicht deutlicher bestimmten psychologischen Tendenz bedingt, als von den unerbittlichen Befehlen der Natur. Das erklärt, warum Machiavelli schließlich die folgerichtige und sichere Auflösung des zyklischen Wandels in der Virtu des Gesetzgebers sieht; denn angenommen, daß die Wandlungen nicht aus der unaufschiebbaren Notwendigkeit der Natur erwachsen, ist es gut möglich, daß derjenige, der die Beschränkungen der einfachen Regierungsformen erfaßt hat, ihren konkreten Zusammenschluß bestimmen kann und jede Möglichkeit von Varianten ausschließt. (…) Wenn man dem Gedankengang Machiavellis auf den Grund geht, sieht man, daß er wieder zu dem Problem der Beziehung zwischen Virtu und Fortuna zurückführt, das immer im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 131 f., erwähnt Venedig nur im Hinblick auf den Handelsverkehr, aber Machiavelli ging es nicht erst darum, sondern vordringlich bereits um die allmähliche Besiedelung. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 24.
100
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
wirtlichen Ort gestrandeten Anwohner aus der Not eine Tugend gemacht hatten.³⁴³ Der markante Unterschied gegenüber utopischen Begründungen liegt darin, dass für Machiavelli die gewählte Staatsverfassung von den ganz konkreten Besonderheiten der Belegenheit des Ortes abhängt. Es gibt daher auch keine schlechterdings ideale Regierungsform, die immer und überall vorzugswürdig wäre, sondern vielmehr eine unter Opportunitätsgesichtspunkten gewählte, die dann eben auch bei drohender Überbevölkerung der Knappheit des Bodens Rechnung trägt, indem sie Neuankömmlinge von der politischen Mitwirkung ausschließt, wie er ebenso nüchtern wie wertfrei mitteilt.³⁴⁴ Machiavelli zeichnet hier am Beispiel dieses buchstäblich exponierten Ortes die Entstehung der Staatsform in ähnlicher Weise nach, wie er es weiter oben unternommen hat. Betrachtet man nämlich die ursprüngliche Staatsbegründung, so tritt auch dort die Bedeutung des Zufalls hervor: „Diese verschiedenen Regierungsformen sind durch Zufall entstanden; am Anfang der Welt als es noch wenig Menschen gab, lebten diese zerstreut, ähnlich den wilden Tieren. Als sich später das Menschengeschlecht vermehrte, schlossen sie sich zusammen und begannen, um sich besser verteidigen zu können, den Stärksten und Beherztesten unter ihnen herauszustellen, machten ihn zu ihrem Führer und gehorchten ihm.“³⁴⁵ – ‚Nacquono queste variazioni de’ governi a caso intra gli uomini: perché nel principio del mondo, sendo gli abitatori radi, vissono un tempo dispersi a similitudine delle bestie; dipoi moltiplicando la generazione si ragunarono insieme, e per potersi meglio difendere cominciarono a riguardare infra loro quello che fusse piú robusto e di maggiore cuore, e fecionlo come capo e lo ubedivano‘ (D I 2).³⁴⁶ G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 242, fügt mit Recht folgende Erwägung hinzu: „In gleicher Weise, bemerkt Machiavelli, konnte man in Venedig einen ‚Staat einrichten‘, der während der langen Zeit seines Bestehens niemals von politischen und gesellschaftlichen Kämpfen aufgewühlt wurde wie etwa das Römische Reich, weil auch Venedig aufgrund seiner besonderen Lage den neu Hinzugekommenen den Zugang zur Regierung verweigern konnte, ohne daß hierbei die Träger dieses Privilegs sich irgendwie der Willkür schuldig machten oder daß die Ausgeschlossenen ernsthaften Anlaß hatten, Unruhe zu stiften, um das wiederzuerlangen, was sie in Wirklichkeit noch nie besessen hatten“. Hier kommt mutatis mutandis ein Gesichtspunkt zum Tragen, den V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 132 f., am Beispiel des prominenteren Werks herausgearbeitet hat: „Das revolutionär Neue an Machiavellis Principe besteht in einer vorurteilsfreien Analyse des Politischen als einer autonomen Sphäre, die nicht auf Moral, Wirtschaft oder eine andere Tätigkeit des menschlichen Geistes zurückgeführt werden kann. Das unterscheidet dieses Werk von allen anderen staatsphilosophischen Schriften des Abendlandes“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 13. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 267, erläutert zutreffend: „Machiavelli kann darum auch – trotz
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
101
b) Geschichtlicher Zufall als Faktor der Gesetzgebung Diese Entwicklung der Staatsform aus dem Urzustand, die mit der Vergrößerung der Population einherging, ist weiter oben mit Bedacht nur paraphrasiert worden, weil sich die Bedeutung des Zufalls dort noch nicht ermessen ließ. Jetzt aber wird klarer, dass es eben nicht – wie in manchen späteren Theorien über die Staatsbegründung – eine geschichtliche Notwendigkeit war, welche die eine oder andere Staatsform zur Geltung brachte, sondern häufig der reine Zufall.³⁴⁷ Venedig gilt ihm deswegen als probates Beispiel, weil die bloße Vertreibung einer bestimmten Bevölkerung an einen bestimmten Flecken Erde, der aufgrund seiner exponierten Lage bestimmte Einrichtungen und Regelungen erforderlich machte, dort besonders augenscheinlich ist.³⁴⁸ Die schiere Notwendigkeit gebietet mitunter bestimmte Handlungen, die dann normative Folgerungen zeitigen können, von diesen freilich zu unterscheiden sind. So kann es im Rahmen der Fiskalgesetzgebung für einen klugen Gesetzgeber geboten sein, aus der Not dergestalt eine Tugend zu machen, dass er unausweichliche gesetzliche Gratifikationen scheinbar aus freien Stücken gewährt, um sich wenigstens der Dankbarkeit der Rechtsunterworfenen zu versichern: „Er tat dies aber so, daß er sich ein Verdienst daraus machte, wozu ihn die Notwendigkeit zwang.“³⁴⁹ – ‚Ma lo feciono in modo che si fecero grado di quello a che la necessità gli constringeva‘ (D I 51). Die Notwendigkeit ist also keine historische, weil zunächst einmal nichts dafür spricht, dass gerade dort eine Republik gegründet wurde. Vielmehr ist dies nicht mehr als ein bloßer geschichtlicher Zufall. Wenn es nun aber so gekommen ist, dass sich gerade dort ein Stadtstaat gebildet hat, dann macht dies gewisse Gesetze und Einrichtungen nötig.³⁵⁰
seiner innerweltlichen Staatsableitung – auf die Konstruktion eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages als Legitimation staatlicher Gewalt verzichten. Stattdessen beschreibt er die Entstehung des Staates in Anlehnung an Polybios und die sophistische Kulturentstehungslehre als einen ausgesprochen naturwüchsigen Vorgang.“ Hervorhebung auch dort. D. Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, Kant-Studien 50 (1959) 131, (auch abgedruckt in ders., Hegel im Kontext, 4. Auflage 2010, S. 158), ist hier trotz des entgegengesetzten Ausgangspunkts in der Hegelschen Philosophie besonders hervorzuheben. M. Fröhlich, Mysterium Venedig. Die Markusstadt als politisches Argument in der frühen Neuzeit, 2010, S. 46 ff., allgemein zu Machiavellis Venedig-Bild. Siehe auch F. Lane, Venice. A Maritime Republic, 1973. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 132. Siehe zum zeitgeschichtlichen Hintergrund D. Waley, Die italienischen Stadtstaaten, 1969.
102
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
2. Neuzeitliches Rechtsverständnis Erneut tritt nun der für Machiavellis Gesetzesverständnis bestimmende Gesichtspunkt in Erscheinung, dass es nicht selten die bloße Belegenheit, also der planvoll gewählte oder, wie hier sich zufällig ergebende Ort mit seinen Eigentümlichkeiten ist, der bestimmte Einrichtungen und Gesetze erfordert, um ein allseitiges Überleben der Bevölkerung zu sichern (D I 1). Diese mehrfache Bedingtheit in Gestalt der Abhängigkeit von schlichtem Zufall einerseits, historischen Entwicklungen andererseits und schließlich den örtlichen Gegebenheiten, veranschaulichen im Hinblick auf das Rechts- und Gesetzesverständnis Machiavellis eine spezifisch neuzeitliche Prägung.³⁵¹ Unausgesprochen wird damit einem ewig waltenden, göttlich gestifteten Naturrecht, wie es in der mittelalterlichen Vorstellung vorherrschte,³⁵² eine Absage erteilt.³⁵³ Denn die Idee eines absoluten Naturrechts, das immer und überall gilt, ist mit der von Machiavelli implizit vorausgesetzten Relativität unvereinbar.³⁵⁴
Allgemein dazu R. König, Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1949; siehe auch K. Mittermaier, Machiavelli. Moral und Politik zu Beginn der Neuzeit, 1990. Zu ihm J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 10, analysiert dies gleichsam im Hinblick auf Antike und Mittelalter, wobei hier die letztgenannte Alternative in Betracht kommt: “Unlike his classical or medieval predecessors, who took their political bearings from transcendentally valid or devinely sanctioned conceptions of justice, Machiavelli oriented himself, again, to the ‚effectual truth‘ of politics”. H. Münkler, Geleitwort: Machiavelli, Discorsi – Gedanken über Politik und Staatsführung, 3. Auflage 2007, S. XIX f., hat dies von einem anderen, nämlich politikwissenschaftlichen, Ausgangspunkt her wissenschaftstheoretisch untermauert. Dabei ist interessant, dass diese Fundierung auf die Qualität der Gesetze zuläuft: „An die Stelle einer Evaluation möglicher politischer Handlungsstrategien anhand normativer Vorstellungen, wie sie in der politischen Philosophie des Mittelalters und im Humanismus dominiert, tritt die Analyse der Technizität politischen Handelns, das anhand seiner operativen Ergebnisse beurteilt wird. (…) Die Brauchbarkeit der Mittel erweist sich unabhängig von den Zwecken, für die sie eingesetzt werden. (…) Aber er hat gerade in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auf Dauer nur Republiken Bestand hätten, und dabei vor allem die, die auf guten Gesetzen und eigenen Waffen beruhen.“ Dem entspricht es der Sache nach, wenn V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25, feststellt, dass Machiavellis „vollständige politische Philosophie in den Discorsi (…) ausgeführt wird.“ Hervorhebung nur hier.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
103
a) Abhängigkeit der Gesetzgebung von den Standortfaktoren Gesetze hängen für Machiavelli von vielen Faktoren ab, sie sind nicht immer und überall erforderlich, sondern je nach Lage der Dinge, der mehr oder minder zufälligen geschichtlichen Gegebenheiten und der bloßen Ortsansässigkeit. Wenn man es so betrachtet, dann hat Machiavelli bereits vor Montaigne und Pascal die raum-zeitliche Relativität des Rechts erkannt.³⁵⁵ Die Abhängigkeit der erforderlichen Gesetzgebung von bestimmten Standortfaktoren, wie wir vielleicht heute sagen würden, verdeutlicht Machiavelli erneut am Beispiel Venedigs:³⁵⁶ „Da aber für solche Staaten jede Vergrößerung Gift ist, muss ihr Gesetzgeber auf jede nur mögliche Weise verbieten, Eroberungen zu machen, weil Eroberungen für ein schwaches Staatswesen zum völligen Ruin führen, wie Sparta und Venedig zeigen.“³⁵⁷ – ‚Ma perché l’ampliare è il veleno di simili republiche, debbe, in tutti quelli modi che si può, chi le ordina proibire loro lo acquistare, perché tali acquisti fondati sopra una republica debole sono al tutto la rovina sua. Come intervenne a Sparta ed a Vinegia‘ (D I 6).³⁵⁸ Anders als seine Vorbilder aus der römischen Geschichte, deren Geschichtsschreiber einen gewissen Hang zum Imperialismus zeigen,³⁵⁹ erkennt Machiavelli, dass territoriale Eroberungen und Erweiterungen nicht um jeden Preis verwirklicht werden dürfen.³⁶⁰ Das ist eine für seine Zeit, die auf Ex-
Zu den beiden Genannten J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 1; ders. Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, § 1. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 242: „Machiavellis Untersuchung stellt das politische Problem von Sparta und Venedig somit in seinem genauen historischen Rahmen; sie erörtert nicht absolut die Überlegenheit der einen Regierung über die andere, sondern studiert ihre historische Entstehung und ihr besonderes Gepräge“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 27. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 94, stellt Rom und Sparta im Hinblick auf die Institutionen aus Machiavellis Sicht einander kritisch gegenüber. Seine Erwägungen zur inneren Stabilität und Sicherheit einerseits sowie zur demokratischen Struktur und Freiheit andererseits münden (p. 95) in die pointierte Frage: “Is not the less democratic and more stable Spartan polity preferable to the more democratic and less stable Roman polity?”. J. Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg.V. Pöschl), 1969, S. 39, 58 Fn. 37, erkennt beispielsweise eine „alle Rechtsfragen und Kulturzwecke abweisende imperialistische Losung des Tacitus“. Deutlicher noch G. Mann,Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976) 249, 278: „ein Imperialist“. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 53, berücksichtigt als einer der wenigen diesen wichtigen Gesichtspunkt der geringen Größe, die sinnvollerweise nicht überschritten werden sollte: “Machiavelli argues that Venice and Sparta were successful noble-dominated and domestically tranquil governi stretti because of their small size (D I.6). Small republics may sustain themselves without extensive inclusion of the people; the proportion of nobles to commoners in such regimes remains so large as to keep the latter pacified.” Siehe auch ebenda, p. 96.
104
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
pansion bedacht war, wenn es Machtansprüche vergrößerte, durchaus bemerkenswerte Einsicht. Allerdings wird sich weiter unten zu Beginn der Behandlung des zweiten Buches der Discori erweisen, dass Machiavelli dieser richtigen Einsicht nicht immer treu ist. Vor allem zeigt sich auch hier erneut, dass die Gesetzgebung abhängig von den örtlichen Verhältnissen und dem Grad der dort zu gewährleistenden Sicherheit ist. Erst vor dem Hintergrund solcher Sachgesetzlichkeiten und besonderen Erfordernissen kann man die Reichweite allgemeiner Sentenzen Machiavellis würdigen, die man sonst nur zu leicht überlesen würde: „In allen menschlichen Dingen zeigt sich bei genauer Prüfung, dass man nie einen Übelstand beseitigen kann, ohne dass daraus ein anderer entsteht. (…) Wir müssen daher bei allen unseren Entschließungen erwägen, wo das kleinere Übel liegt und den danach gefassten Beschluss als den besten verfolgen; denn es gibt nichts, was ganz vollkommen und völlig ohne Schattenseite wäre.“³⁶¹ – ‚Ed in tutte le cose umane si vede questo, chi le esaminerà bene, che non si può mai cancellare uno inconveniente, che non ne surga un altro. (…) E però in ogni nostra diliberazione si debbe considerare dove sono meno inconvenienti, e pigliare quello per migliore partito, perché tutto netto, tutto sanza sospetto non si truova mai‘ (D I 6).³⁶² Was wie eine Ansammlung mehr oder minder trivialer Binsenweisheiten anmutet, gewinnt an Kontur und Farbe, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es vor allem der Gleichgewichtszustand ist, den Machiavelli für erstrebenswert hält.
b) Wettstreit um Freiheitsrechte als Grund guter Gesetze Sinn und Zweck guter Gesetze ist die Gewährleistung der Freiheit: „Wer einem Staatswesen eine Verfassung zu geben hat tut immer klug daran, Vorsorge für den Schutz der Freiheit zu treffen. Dies ist eine der notwendigsten Einrichtungen; von dieser hängt es ab, ob die bürgerliche Freiheit von längerer oder kürzerer Dauer ist.“³⁶³ – ‚Quelli che prudentemente hanno constituita una republica, in tra le piú necessarie cose ordinate da loro è stato constituire una guardia alla libertà, e secondo che questa è bene collocata, dura piú o meno quel vivere libero‘ (D I 5). Al-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 26. Diese Stelle bestätigt die Annahme von V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25, der betont, dass „Machiavelli wohl der Meinung ist, dass nur in bestimmten historischen Epochen – nämlich wenn Nationen bis zum Kern korrumpiert wurden – Fürsten unvermeidlich werden und daher als das geringere Übel zu akzeptieren sind.“ Hervorhebungen nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 21.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
105
lerdings versteht Machiavelli die Freiheit nicht in unserem heutigen, modernen Sinne, sondern nach altrömischer Art. Freiheit bedeutet für ihn insbesondere nicht notwendigerweise Rechtsgleichheit. Eine Rangordnung zwischen Oberen und Unteren, also etwa der Aristokratie oder dem einfachen Volk, steht der Verwirklichung nach diesem Verständnis nicht entgegen. Im Gegenteil: gerade die unterschiedlichen Parteiungen mit ihren Kämpfen und Rangstreitigkeiten um bestimmte Rechte, sind für Machiavelli ein gesunder Nährboden für die Erhaltung der Freiheit. Dessen ungeachtet bedauerte er innerhalb seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z lebhaft die permanenten Standesstreitigkeiten, die dort traditionell gewaltsam ausgetragen wurden (IF IV 2).³⁶⁴ Doch dürfte das mitunter einer rhetorischen Stilisierung gegenüber seinem päpstlichen Auftraggeber aus dem an den Streitigkeiten nicht immer unschuldigen Hause Medici geschuldet gewesen sein: „Wer mehr auf den Lärm und das Geschrei solcher Parteikämpfe sieht, der bedenkt nicht, dass in jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volkes und der Großen verschieden ist und dass alle zugunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen zu danken sind.“³⁶⁵ – ‚E che e’ non considerino, come e’ sono in ogni republica due umori diversi, quello del popolo e quello de’ grandi; e come tutte le leggi che si fanno in favore della libertà, nascano dalla disunione loro, come facilmente si può vedere essere seguito in Roma‘ (D I 4). Machiavellis Verständnis von Gesetz und Freiheit liegt also eine kompetitive Vorstellung zugrunde:³⁶⁶ Freiheit entsteht im Wettbewerb um die Zuerkennung bestimmter Ansprüche und Rechtspositionen.³⁶⁷ Die permanente Reibung, die zwischen den verschiedenen H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 162, akzentuiert dies bei aller Richtigkeit des verfassungspolitischen Befundes in der Parenthese vielleicht eine Spur zu deutlich: „Trotz des komplizierten Verfassungsbaus kam es in Florenz auch nach dem Jahre 1293 – von Machiavelli zutiefst beklagt – zu immer neuen Partei- und Fraktionskämpfen, in denen neben dem Einfluß rivalisierender Familien auch die politische Öffnung der Mittelstandsdemokratie nach oben, zu den Magnaten, und nach unten, zur gleichberechtigten politischen Teilhabe der Arti minori, umstritten war“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 19. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 44, setzt die Stelle kenntnisreich zu P IX ins Verhältnis: “Recall that Machiavelli’s work on principalities argued that princely success depends on a ruler’s ability to establish his authority with the correct humor of the two, while here laws that ensure liberty result from the free play between the great and the people.” Hervorhebung bezeichnenderweise auch dort. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 238, ordnet die Funktion der Freiheit und der Gesetze noch entschiedener derjenigen des Staates unter: „Wenn er die herkömmliche Ansicht kurzerhand umwirft und in den Kämpfen zwischen den beiden römischen Parteien die Hauptursache für die Größe Roms sieht, so kommt das von der Feststellung daß in
106
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
Ständen, also vor allem der Aristokratie und dem Volk besteht, wirkt in der Weise freiheitsfördernd, dass jede Seite immer wieder kleinere Gewinne verzeichnet, im Gegenzug aber in anderen Punkten nachgeben muss.³⁶⁸ Das Obsiegen bald der einen, bald der anderen Gruppe schlägt sich nämlich in der Schaffung entsprechender Gesetze nieder.³⁶⁹
3. Gesetze als Erziehungsmittel zur Freiheit Gesetze, die das Volk erfochten hat, und solche, die der Aristokratie nützen, tragen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten entsprechend Machiavellis altrömischer Vorstellung zur Verwirklichung der Freiheit bei: „Denn gute Beispiele entstehen durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch Parteikämpfe, die viele unüberlegt verurteilen. Wer deren Ausgang genau untersucht, wird finden, dass sie nie eine Verbannung oder eine Gewalttat zum Schaden des öffentlichen Wohls zur Folge hatten, wohl aber Gesetze und Einrichtungen zum Besten der allgemeinen Freiheit.“³⁷⁰ – ‚Perché li buoni esempli nascano dalla buona educazione, la buona educazione dalle buone leggi, e le buone leggi da quelli tumulti che molti inconsideratamente dannano; perché chi esaminerà bene il fine d’essi, non troverrà ch’egli abbiano partorito alcuno esilio o violenza in disfavore del commune bene, ma leggi e ordini in beneficio della publica libertà‘ (D I 4). Die geradezu aphoristisch formulierte Genealogie von den Parteikämpfen über die Gesetze zur Erziehung und schließlich den guten
einem Staat, wo immer zwei gegensätzliche ‚Stimmungsrichtungen‘ herrschen, die Aufgabe des Gesetzgebers nicht darin besteht, die eine zugunsten der anderen auszuschließen und zu vernichten, sondern beiden eine angemessene Teilhabe zu sichern. Deshalb, bemerkt Machiavelli, sind alle Gesetze, die auf Betreiben dieser beiden ‚Stimmungsrichtungen‘ entstehen, stets Gesetze der Freiheit; und Freiheit bedeutet hier, wie nunmehr klar feststeht, Stärke und Funktionieren des Staatsapparates sowie Ordnung und Harmonie aller seiner wesentlichen Organe“. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 85: “In Rome, conflicts between the humors of the senate and the people usually led to beneficial laws, such as the establishment of the tribunes early in the republic and the opening of the consulate to plebeians later on.” Dort allerdings auch zu einer markanten Ausnahme. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 897, bezeichnet dies als „Schlüssel zum Erfolg“ der „in der gelungenen Stabilisierung der fortwährenden Konflikte zwischen Volk und Senat als der Vertretung des römischen Adels“ besteht: „Es ist die Institutionalisierung dieser durch gesellschaftliche Interessenlagen bedingten Konflikte, die ‚die Republik frei und mächtig machte‘“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 19.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
107
Beispielen markieren den Ausgangs- und Endpunkt in Gestalt der Zwistigkeiten einerseits und der Erziehung andererseits.³⁷¹
a) Nachahmung als konstitutives Merkmal der Staatsordnung Buchstäblich inmitten stehen vielmehr die Gesetze, die wiederum der Erziehung des Gemeinwesens zur Freiheit dienen.³⁷² Zugleich zeigt sich daran, dass das bisherige Verständnis der Gesetze im Sinne Machiavellis einer Korrektur bedarf oder zumindest geschärft werden muss. Denn wenn es bisher so schien, als stelle Machiavelli in jeder Hinsicht die Gesetze in den Mittelpunkt und leite aus ihnen alles ab, so muss man nun hinzufügen, dass sie nur ein Glied innerhalb der Kette sind. Indem die Gesetze nämlich aus der Zwietracht zwischen Aristokratie und Volk hervorgehen, kommt ihnen zunächst und vor allem eine erzieherische Funktion zu, aufgrund derer nachahmenswerte Vorbilder entstehen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die tiefere Bedeutung einer bisher noch nicht gewürdigten Bemerkung aus dem Vorwort des ersten Buchs der D i s c o r s i : „Andererseits sehe ich, wie die bedeutendsten Unternehmungen in der Geschichte, die von Königreichen und Freistaaten früherer Zeiten, von Herrschern, Feldherren, Bürgern und Gesetzgebern und allen denen ausgeführt wurden, die sich für ihr Vaterland abgemüht haben, viel mehr bewundert, als nachgeahmt werden.“³⁷³ – ‚E veggiendo da l’altro canto le virtuosissime operazioni che le istorie ci mostrono, che
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 238, betont allerdings, dass es Machiavelli dabei nicht um die Freiheit der Bürger geht, sondern die Funktionsfähigkeit des Staates: „Wenn also Machiavelli bestreitet, daß die Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern im Namen der Ruhe und des Friedens zu verurteilen sind, so setzt sein Urteil kein Interesse an der Freiheit der Bürger voraus, sondern an der Stärke und dem reibungslosen Funktionieren des Staates“. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 136, macht am Beispiel einer militärisch ausgerichteten Denkschrift allerdings plausibel, dass die Erziehung durch Gesetze vor allem militärische Stärke durch Drill bewirken sollte, was dann wohl auch für den tieferen Sinn der zitierten Stelle aus den Discorsi gegolten haben dürfte und zeigt, dass man ‚educazione‘ keineswegs mit unserem durch die Aufklärung vermittelten Verständnis der Bildung gleichsetzen darf: „Wenn die alten Römer gute Soldaten heranzüchten konnten, dann musste das auch in der Toskana der Gegenwart gelingen: Die Idee, dass sich die Erfolgsgeschichte der römischen Republik jederzeit wiederholen ließ, wenn nur die richtigen Gesetze erlassen wurden, nährte Machiavellis Hoffnung. Er glaubte mit geradezu religiöser Inbrunst, dass sich der Mensch durch die richtige Erziehung formen ließ. Auf diese Umwandlung des destruktiven menschlichen Egoismus in kollektiven Patriotismus und Heroismus lief es in Machiavellis Plänen zur Militärreform hinaus. Dabei lautete das Erziehungsmittel: Disziplin!“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 4.
108
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
sono state operate da regni e da republiche antique, dai re, capitani, cittadini, latori di leggi ed altri che si sono per la loro patria affaticati, essere piú presto ammirate che imitate‘ (D I Proemio). Diese Nachahmung, die weiter oben bisher nur im Sinne einer Rückschau auf die antiken Autoren verstanden wurde, zeigt jetzt ihre konstitutive Bedeutung im Gefüge der Staatsordnung und verleiht ihr eine gewisse Dynamik.³⁷⁴ Jetzt wird auch klar, warum in der scheinbar wahllosen Aufzählung im Vorwort die Gesetzgeber zwischen Feldherren, Herrschern und Bürgern stehen. Denn so bestimmend sie sind, müssen sie doch letztlich einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Herrschern und Bürgern bewirken, durch den die Freiheit gesichert wird.³⁷⁵
b) Sittenbildende Gesetze Auch das Volk verfügt nach Machiavellis livianisch geprägtem Geschichtsbild nämlich über hinlänglichen Einfluss auf die Schaffung entsprechender Gesetze: „So war es in Rom üblich, dass das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder die oben genannten Mittel anwandte oder den Kriegsdienst verweigerte, sodass man es zur Besänftigung wenigstens teilweise zufriedenstellen musste. Auch sind die Forderungen der freien Völker selten für die Freiheit schädlich; denn diese sind entweder eine Folge der Unterdrückung oder eine Folge der
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 163, zentriert mit Recht die Discorsi innerhalb dieser Machtgeometrie und gelangt zu einer durchaus plausiblen Einschätzung: „Noch in den politischen Schriften, vor allem in den Discorsi, findet sich diese Politik des Machtgleichgewichts als das Paradigma politischer Stabilität. Daß diese Politik die Dynamik der politischen Entwicklung nicht unterband, sondern sie in ihre Institutionen zu integrieren versuchte, dürfte Machiavelli an ihr am meisten fasziniert haben“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234 f., entscheidet konsequenterweise auch insoweit illusionslos, indem er mit Recht hervorhebt, dass von Individualrechten keine Rede sein kann: „Freiheit ist somit nicht das Recht des Bürgers auf gesetzlichen Schutz gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt, denn eine derartige Auffassung ist in der Gesellschaft und in der Epoche Machiavellis völlig undenkbar. Die Freiheit, freies und bürgerliches Leben unterscheiden sich von Tyrannei und Knechtschaft, weil im ersteren Fall alle politischen und gesellschaftichen Kräfte in den Staatseinrichtungen den ihnen gebührenden Ausdruck finden sollen und im letzteren lediglich der Wille des Oberhauptes Anfang und Ende allen Staatslebens bestimmt. Daß jedoch das Kriterium der Unterscheidung nicht in den Rechten der Bürger liegt, die im ersten Fall geachtet, im zweiten aber mit Füßen getreten werden, sondern in der verschieden großen Macht und Funktionsfähigkeit, die beide dem Staat gewähren, geht eindeutig aus der häufigen Betonung der Überlegenheit von Republiken gegenüber Monarchien hervor (…).“ Hervorhebung nur hier.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
109
Furcht vor Unterdrückung.“³⁷⁶ – ‚Le quali cose tutte spaventano non che altro chi le legge; dico come ogni città debbe avere i suoi modi con i quali il popolo possa sfogare l’ambizione sua, e massime quelle città che nelle cose importanti si vogliono valere del popolo: intra le quali la città di Roma aveva questo modo, che quando il popolo voleva ottenere una legge, o e’ faceva alcuna delle predette cose o e’ non voleva dare il nome per andare alla guerra, tanto che a placarlo bisognava in qualche parte sodisfarli. E i desiderii de’ popoli liberi rade volte sono perniziosi alla libertà, perché e’ nascono o da essere oppressi, o da suspizione di avere ad essere oppressi‘ (D I 4). Machiavelli stellt also mit einer unverkennbaren Sympathie für das Volk, dessen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn er ohnehin schätzt, fest, dass es sich bei allzu großer Unterdrückung auf eine wirksame Handhabe besann, die eigenen Interessen durchzusetzen.³⁷⁷ Denn die Kriegsdienstverweigerung war deswegen ein so effizientes Instrument, weil ein Weltreich wie das römische nur durch das Militär geschaffen und erhalten werden konnte (D II 10). Ein funktionstüchtiges Militärwesen war auch für Machiavelli noch eine notwendige Bedingung, ohne die auch die besten Gesetze und Einrichtungen das Gemeinwesen nicht nachhaltig schützen konnten, ja nicht einmal wirklich gut sein können, da sie im Krisenfalle keine Durchsetzungskraft entfalteten, wie er mit einem Verweis auf frühere Ausführungen feststellt (D II 1), der wohl auch Außenverweisungen auf den P r i n c i p e einschließt (P XII): „Ich habe zwar andernorts schon hervorgehoben, daß der Grundpfeiler eines jeden Staates ein gutes Kriegswesen ist, und daß, wo dieses fehlt, weder die Gesetze noch irgendetwas anderes gut sein können.“³⁷⁸ – ‚E benché altra volta si sia detto come il fondamento di tutti gli stati è la buona milizia, e come dove non è questa non possono essere né leggi buone né alcuna altra cosa buona, non mi pare superfluo riplicarlo‘ (D III 31). Das Bedingungsverhältnis zwischen guten Gesetzen und Wehrhaftigkeit in äußeren Angelegenheiten kann er in seinen beiden Hauptwerken nicht oft genug
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 20. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 6, stellt unter Verweis auf dieses Kapitel allgemeingültig und mit kapitelübergreifendem Verweis auf die Gesetzgebung fest: “In fact, to Machiavelli’s mind, popular indignation is an almost unequivocal good: republics best realize liberty precisely when the people respond spiritedly to domination by the grandi – especially, he suggests, when such responses become instantiated in new laws (D I.4) or result in the republic execution of prominent but dangerous citizens (D III.1). Republics are doomed, Machiavelli insists, unless the people, in addition to participating substantively and directly in lawmaking (D I.18), also vigorously check the insolence of the grandi through accountability institutions such as Rome’s tribunes of the plebs and popularly decided political trials (D I.5, D I.37, D III.1)”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 371.
110
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
wiederholen (D II 10; P XIV).³⁷⁹ Gesetze sind eben für Machiavelli nur unter dieser Bedingung ein probates Mittel, um Interessen durchzusetzen.³⁸⁰ Es ist aber nicht der Endzweck, dass Gesetze Interessen durchsetzen sollen, sondern diese sollen, wie gesehen, zur Volkserziehung beitragen und beispielhaft wirken, um in letzter Konsequenz das Gemeinwesen zu erhalten.³⁸¹ Es geht also um eine möglichst langfristige Einwirkung auf das allgemeine Rechts- und Sittenbewusstsein. Das ist letztlich kaum etwas anderes, als wenn man sagen würde, dass sie sittenbildend wirken sollen.³⁸² Hieran lässt sich erneut der weiter oben schon dargestellte prinzipielle Unterschied im Verhältnis zu Montesquieu erkennen. Dieser hat die prägende Kraft der Sitten für die Gesetze herausgearbeitet, während Machiavelli
V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 136, dürfte daher auch aus diesem Grund recht haben mit seiner weiter oben zitierten Einschätzung zu Machiavellis auf eine Militärreform zielenden Denkschrift. A. O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987, S. 41 f., zum Begriff des Interesses bei Machiavelli. Zu ihm, auch im Hinblick auf Machiavelli, V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 24, wonach er „meisterhaft (…) die Transformation des Begriffs der Leidenschaft in den Begriff des Interesses analysiert“. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 891, sieht unausgesprochen eine eigentümliche Spielart des auf Mandeville zurückgehenden Gedankens private vices – public benefits – am Werk: „Bei Machiavelli deutet sich eine moderne Ökonomik von Lastern und Tugenden an: Aus der Sicht einer systemischen Selbststabilisierung der staatlichen Macht zahlen sich die natürlichen Laster der Herrschenden, die sich am abstrakten Ziel von Machterhaltung und -steigerung orientieren, in der Münze der Tugenden von Bürgern einer freien Republik aus. (…) Diese Harmonie von Lastern der Herrscher und Tugenden der Bürger wird institutionell gewährleistet durch eine politische Verfassung, die in realistischer Einschätzung der menschlichen Natur eine entsprechend klug handelnde Elite zur Herrschaft bringt.“ J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 78, stellt ebenfalls eine auf die Gesetzgebung bezogene Variante des private vices – public benefitsGedankens vor, ohne den Topos zu gebrauchen, indem er paradigmatisch einen hypothetischen Gesetzgebungsvorschlag durchdenkt, der ganz im Sinne mancher Passagen aus Machiavellis Geschichte von Florenz argumentiert, auch wenn der idealtypische Modellcharakter dort mitunter an die Grenzen realpolitischer Machtentfaltung stößt: “A member of the grandi who proposes a law may have a hidden, ulterior, self-serving agenda; but once the people evaluate it, that is, openly discuss it, such a law will only be passed if they decide that it conforms to the common good. Moreover, by enabling every citizen to initiate legislation, Machiavelli facilitates the possibility that voices besides those of patricians will be reflected in the laws of the republic.” Hervorhebung auch dort. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 266, weist darauf hin, dass „Recht, Sitte und Moral bei Machiavelli erst durch den Staat entstehen.“ Hervorhebung auch dort.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
111
umgekehrt die aus Parteikämpfen hervorgehenden guten Gesetze zur Voraussetzung der Herausbildung guter Sitten macht.
4. Gesetze als freiheitsfördernde Handhabe gegen Willkürakte Machiavelli zeigt also, auf welche Weise ein Wettstreit innerhalb des Staatswesens durchaus konträre Gesetze hervorbringen kann, je nachdem welche Seite sich jeweils durchgesetzt hat, diese in ihrer Gesamtheit aber durchaus freiheitsfördernd wirken können.
a) Gesetze als Rechtsschutz und Rechtsgrundlage für Anklagen Gesetze schaffen nicht nur den allfälligen Rechtsschutz, sondern auch die weiter oben bereits dargestellten und aus Machiavellis Sicht für unverzichtbar gehaltenen Anklagemöglichkeiten für den Fall, dass jemand sich den Gesetzen widersetzt oder seine Mitbürger auf andere Weise schikaniert. Auch dies verdeutlicht er anhand eines antiken Beispiels, dem des Coriolan, das hier nicht weiter interessiert, weil die daraus hergeleiteten Ausführungen Machiavellis auch ohne verständlich sind:³⁸³ „Dieser Vorfall zeigt, wie nützlich und notwendig es ist, dass Freistaaten die gesetzliche Möglichkeit haben, dass sich die Wut des Volkes gegen einen Mitbürger Luft machen kann. Sind keine gesetzlichen Mittel hierzu da, so greift man zu ungesetzlichen und diese haben ohne Zweifel viel schlimmere Folgen als jene. Wird ein Bürger unter Beachtung der Gesetze verurteilt, so entsteht hieraus, selbst wenn ihm dabei Unrecht geschieht, wenig oder gar keine Unordnung im Staat; denn die Vollstreckung geschieht nicht durch die Gewalttat eines Einzelnen noch mit Hilfe einer fremden Macht, was beides die Freiheit vernichtet, sondern durch die öffentliche Gewalt und durch Staatseinrichtungen, die ihre bestimmten Grenzen haben und nie dazu ausarten können, den Staat zugrunde zu richten.“³⁸⁴ – ‚Sopra il quale accidente si nota quello che di sopra si è detto, quanto sia utile e necessario che le republiche con le leggi loro diano onde sforgarsi all’ira che concepe la universalità contro a uno cittadino: perché quando questi modi ordinari non vi siano, si ricorre agli straordinari, e sanza dubbio questi fanno molto peggiori effetti che non fanno quelli. Perché se ordinariamente uno H. C. Mansfield, Machiavelli’s New Modes and Orders. A Study of the Discourses of Livy, 2001, p. 54, wundert sich, dass auch Machiavelli über Beginn und Ursache des Konflikts schweigt: “Machiavelli says nothing here of how it began and how it turned out, though both are relevant to his point”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 30.
112
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
cittadino è oppresso, ancora che li fusse fatto torto, ne sèguita o poco o nissuno disordine in la republica; perché la esecuzione si fa sanza forze private e sanza forze forestiere, che sono quelle che rovinano il vivere libero; ma si fa con forze ed ordini publici, che hanno i termini loro particulari, né trascendono a cosa che rovini la republica‘ (D I 7). Hier schließt sich nun der Kreis. Gute Gesetze sind schon deswegen und nur dann freiheitsfördernd, wenn und weil sie der Mehrheit des Volkes eine Handhabe, ein Ventil gegen Willkürakte bieten.³⁸⁵ Ohne eine solche gesetzliche Grundlage handeln diejenigen, die sich gekränkt fühlen, freilich ihrerseits ungerecht und ungesetzlich.
b) Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols Dabei nimmt Machiavelli das Risiko einer ungerechtfertigten Verurteilung in Kauf. Unbehagen erweckt freilich seine Begründung, dass das notwendigerweise dadurch entstehende Unrecht die staatliche Ordnung nicht infrage stelle. Es ist schwerlich hinreichend, wenn der zu Unrecht Verurteilte sich damit zufrieden geben soll, dass die Strafvollstreckung gesetzmäßig und justizförmig, das heißt nicht durch den Willkürakt eines Einzelnen herbeigeführt wurde. Man vermisst aus heutiger Sicht einen Hinweis darauf, dass der auf diese Weise zu Unrecht Verurteilte seinerseits noch einen effektiven Rechtsschutz genießen müsste. Aber so dachte Machiavelli nicht. Diese Sichtweise zeigt, dass es ihm weniger um die Rechte des Einzelnen geht, deren Geltung er wohl auch bestritten hätte, sondern vordringlich um die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordung, die den Rechtsunterworfenen gleichsam reflexartig zugutekommt. Immerhin muss man Machiavelli aber zugutehalten, dass er die Bindung und Zügelung der öffentlichen Gewalt durch staatliche Einrichtungen betont.³⁸⁶
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 235, hebt auch in dieser Hinsicht das Staatsziel hervor und fasst die Berufung auf die Freiheit eher als Topos auf: „Machiavelli geht es (…) in der Hauptsache nicht darum, daß die Bürger frei sind, sondern daß der Staat Dauer besitzt und wirklich das beherrscht, was er umfaßt; und die von ihm so verherrlichte Freiheit, deren Namen er nie ohne tiefe innere Bewegung ausspricht, ist nichts anderes als der Begriff, der alle diese Eigenschaften des wohlgeordneten Staates umfaßt und in sich schließt“. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 58, verallgemeinert dies zutreffend mit Blick auch auf den Principe: „Da Machiavelli keineswegs nur die Wirklichkeit so, wie sie ist, evaluieren oder gar bloß beschreiben möchte, sondern konkrete Normen für den guten Staatsmann aufstellt, ist es von Wichtigkeit hervorzuheben, daß er in seinen eigenen Ratschlägen den Einsatz von Gewalt an das für die Erreichung politischer Ziele Erforderliche bindet. Wiesehr Machiavelli auch davon durchdrungen ist, daß in bestimmten Situationen die Weigerung, Gewalt anzuwenden, notwendig einen Zustand zur Folge hat, der viel
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
113
Die Begrenzung des Gewaltmonopols mit der dadurch entgegengewirkten Entfesselung der Willkür ist zu der Zeit, in der Machiavelli schrieb, alles andere als selbstverständlich gewesen. Daher sollte man über das Bedauern dessen, was aus heutiger Sicht an elementaren Verteidigungsrechten des zu Unrecht Verurteilten fehlt, nicht den Fortschritt vergessen, den Machiavellis Postulat der Bändigung der staatlichen Gewalt mit sich bringt. Immerhin wird damit ein staatliches Gewaltmonopol vorausgesetzt, das Privatrache und Selbstjustiz unmöglich macht: „Da aber die Angelegenheit durch die, die das Recht dazu haben, beigelegt wurde, wurden alle Übel vermieden, die entstanden wären, wenn Privatleute sich das Recht hierzu angemaßt hätten.“³⁸⁷ – ‚Ma sendosi governata la cosa mediante chi ne aveva autorità, si vennero a tor via tutti quelli mali che ne potevano nascere governandola con autorità privata‘ (D I 7). Dass man noch fern jeder Gewaltenteilung ist, wird zwar dadurch nicht aufgewogen, aber immerhin durch die von Machiavelli vorausgesetzte Gewaltenbeschränkung ein wenig gemildert. Allerdings zeigt das italienische Original mit der Betonung der ‚autorità‘, dass man geistesgeschichtlich noch Jahrhunderte entfernt ist vom Vorhandensein privater Rechte.³⁸⁸
5. Legitimation von Morden rivalisierender Gesetzgeber Eine in jeder Hinsicht verstörende Stelle der D i s c o r s i bildet seine weiträumige Rechtfertigung des Romulus wegen der Ermordung seines Mitregenten Tatius und vor allem der Ermordung seines Bruders Remus.³⁸⁹ Da Machiavelli mit der idealtypischen Figur des weisen Gesetzgebers argumentiert, kann sie für sein Verständnis der Gesetzgebung nicht unbehandelt bleiben: „Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber, der die Absicht hat, nicht sich, sondern dem Allgemeinwohl, nicht seiner Nachkommenschaft, sondern dem gemeinsamen Vaterland zu dienen, danach streben, die uneingeschränkte Macht zu bekommen.“³⁹⁰ – ‚Però uno prudente ordinatore d’una republica, e che abbia questo animo di volere giovare
gewalttätiger ist, als der eigene Gewalteinsatz gewesen wäre, wie sehr ihm daher jene Weigerung auch als Zeichen verächtlicher Feigheit erscheint, sosehr kann Machiavelli doch unterscheiden zwischen der Gewalt um des Gemeinwohls willen und der Gewalt aufgrund privater Grausamkeit. Daß er die letztere nie legitimiert hat, darf nie verkannt werden“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 30. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234 f. T. P. Wiseman, Remus. A Roman myth, 1995, zu dieser Gestalt der römischen Geschichte. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 36.
114
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
non a sé ma al bene comune, non alla sua propria successione ma alla comune patria, debbe ingegnarsi di avere l’autorità solo‘ (D I 9). Auch wenn er die selbstlose Absicht betont, die das Gemeinwohl verfolgt, wirft die Stelle Fragen auf.³⁹¹
a) Moralfreie Bewertung des Brudermordes Dass Machiavelli sich durchaus darüber im Klaren war, wie verständnislos selbst seine Zeitgenossen dieser Rechtfertigung gegenüberstehen könnten, zeigt eine für seine Verhältnisse vergleichsweise umständliche captatio benevolentiae, während er sonst für gewöhnlich ohne Umschweife zum entscheidenden Punkt kommt. Das kann jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sein zentrales Argument der Rechtfertigung der Bluttaten allein im Zweck liegt, der die Mittel heiligt (P XVIII):³⁹² „Nie wird ein kluger Kopf einen Mann wegen einer außergewöhnlichen Handlung tadeln, die er begangen hat um ein Reich zu gründen oder einen Freistaat zu konstituieren. Spricht auch die Tat gegen ihn, so entschuldigt ihn doch der Erfolg. Und wenn dieser gut ist wie bei Romulus, so wird er ihn immer entschuldigen. Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel.“³⁹³ – ‚Né mai uno ingegno savio riprenderà alcuno di alcuna azione straordninaria, che per ordinare un regno o constituire una republica usasse. Conviene bene che, accusandolo il fatto, lo effetto lo scusi; e quando sia buono come quello di Romolo, sempre lo scuserà; perché colui che è violento per guastare, non quello che è per racconciare, si debbe riprendere‘ (D I 9). Die Argumentation verdient es innerhalb der D i s c o r s i wohl am ehesten, als ‚machiavellistisch‘ bezeichnet zu werden.
aa) Verteilung der Befugnisse als Legitimation? Denn namentlich bei der Würdigung des Brudermordes, der seit der biblischen Schilderung von Kain und Abel zu den abscheulichsten Verbrechen der J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 899, gibt wohl durchaus objektiv den Standpunkt Machiavellis wieder: „Am idealisierenden Beispiel der römischen Republik stellt er eine glückliche Konvergenz zwischen einer eingespielten Stabilität der Herrschaft mit Qualitäten von Staat, Gesellschaft und Bevölkerung dar, die diese republikanische Herrschaftsordnung zugleich legitimieren können. Auf diese Weise verschwinden Legitimtätsprobleme hinter denen der Herrschaftsstabilisierung.“ Hervorhebungen auch dort. – Doch darf sich eine Darstellung seiner Gesetzgebungslehre mit diesem ernüchternden Befund nicht begnügen. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 138, wonach „sich bei Machiavelli der Gedanke findet, der Zweck legitimiere bestimmte Mittel“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 36 f.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
115
Menschheit gehört,³⁹⁴ die praktisch in allen Kulturen als besonders verwerflich gelten, zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass Machiavelli keinen Gedanken auf die moralische Bewertung der Tat verwendet, sondern ausschließlich nach politischer Klugheit und Gegebenheit urteilt: „Daß aber Romulus wegen der Ermordung seines Bruders und Mitregenten zu entschuldigen ist und daß der Beweggrund seines Handelns das allgemeine Wohl und nicht eigensüchtige Herrschsucht war, beweist die sofortige Einsetzung eines Senats, mit dem er sich beriet und nach dessen Gutachten er seine Entscheidung fällte. Wer genau die Machtbefugnisse untersucht, die sich Romulus vorbehielt, wird sehen, daß er nur den Oberbefehl über das Heer behielt, wenn der Krieg beschlossen war, und das Recht den Senat einzuberufen.“³⁹⁵ – ‚E che Romolo fusse di quelli che nella morte del fratello e del compagno meritasse scusa, e che quello che fece fusse per il bene comune e non per ambizione propria, lo dimostra lo avere quello subito ordinato uno Senato con il quale si consigliasse e secondo la opinione del quale deliberasse. E chi considerrà bene l’autorità che Romolo si riserbò, vedrà, non se ne essere riserbata alcun’altra che comandare agli eserciti quando si era deliberata la guerra, e di ragunare il Senato‘ (D I 9).³⁹⁶ Anders als für die moderne Strafrechtswissenschaft ist also für Machiavelli das Verhalten des Täters nach der Tat entscheidend, das ihn im politischen Zusammenhang entweder als Tyrann oder als weisen Gesetzgeber ausweist. Allerdings ist auch jenseits von Gut und Böse nicht recht klar, wie sich diese von Machiavelli betonte Eingrenzung der Machtbefugnisse zu dem im Ausgangspunkt verfügten universellen Machtstreben des weisen Gesetzgebers verhält (D I 40).
G. Neuhaus, Fundamentaltheologie. Zwischen Rationalitäts- und Offenbarungsanspruch, 2. Auflage 2017, S. 103, zu den beiden hiergenannten Brüderpaaren. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 37. Siehe auch J. P. McCormick, Subdue the Senate: Machiavelli’s ‚Way of Freedom‘ or Path to Tyranny? Political Theory: An International Journal of Political Philosophy 40 (2012) 717. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 143, nennt diese Stelle zwar nicht ausdrücklich unter den „zahlreichen grundlegenden Irrtümer(n)“ Machiavellis, doch kann man seine zutreffenden Bedenken wohl auch hierauf anwenden, weil sich die von ihm beschworene Gefahr ebenfalls in dieser Frage realisiert haben könnte: „Machiavelli kann aber auf seiner naturalistischen Basis nicht begründen, warum menschliches Leben ein Gut ist; (…) Mit der weiteren Auflösung der Tradition und der Zunahme relativistischer Reflexionen wächst aber die Gefahr, daß jede normative Einbindung der Politik völlig aufgegeben wird, daß die Politik nicht nur der Individualethik, sondern auch jeder beliebigen Norm übergeordnet wird und daß die staatliche Macht zum Selbstzweck wird.“ Welche Probleme das nach sich zieht, erörtert ebenso tiefdringend U. Spirito, Machiavelli e Guicciardini, 1968, S. 78 ff.
116
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
bb) Vorwand des Gemeinwohls und Verbrämung der Herrschsucht Denn so wie Romulus vorging, scheint es doch eher ein geschickter Schachzug gewesen zu sein, sich zunächst mit scheinbar geringfügigen Befugnissen zu bescheiden,³⁹⁷ die bei näherem Hinsehen gar nicht so unwesentlich sind, wie sich etwa am Beispiel der Einberufung des Senats nach Tacitus erweist.³⁹⁸ Es kann sich also nur um einen Vorwand gehandelt haben, der die Rechtsunterworfenen bewusst im Unklaren darüber lässt, wie weit das Machtstreben des künftigen Gesetzgebers reicht. Unausgesprochen gesteht dies auch Machiavelli zu, kommt er doch nach dieser Schilderung scheinbarer Bescheidenheit des Brudermörders unter Berufung auf klangvolle Namen, wie den des Moses, Lykurg und Solon auf die Prämisse zurück, dass diese allesamt „nur deshalb Gesetze zum allgemeinen Wohl geben konnten, weil sie sich die Macht dazu genommen hatten.“³⁹⁹ – ‚e’ quali poterono, per aversi attribuito un’autorità, formare leggi a proposito del bene comune‘ (D I 9). Machiavellis beschwichtigend-nachsichtige Bewertung des für ihn allein relevanten Verhaltens nach der Untat ist also von seinem gedanklichen Ausgangspunkt her zwar nicht direkt widersprüchlich, enthält aber eine Engführung des Begriffs des Gemeinwohls, der nur noch als Abgrenzung zur privaten Herrschsucht verstanden und damit allzu leicht zum bloßen Vorwand wird.⁴⁰⁰
J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 33, behält richtigerweise die Auswirkungen auf die Nachfolger im Blick: “To guarantee the loyality of these armed plebeians, subsequent monarchs politically organized them within legislative assemblies.” Siehe auch ebenda, p. 85, zum zuvor zitierten Kapitel D I 40. Tacitus, Annales, 1, 7, 3: ,ne edictum quidem, quo patres in curiam vocabat, nisi tribuniciae potestatis praescriptione posuit sub Augusto acceptae.ʻ Es war dort der Beginn der entscheidenden Machtübernahme durch Tiberius mit allen Befugnissen. Dazu grundlegend D. Timpe, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, 1962, S. 18; J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, Einleitung. Siehe auch Tacitus, Historiae, 1, 47, 1. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 37 f. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 390 Anmerkung 119, sieht dies wohl etwas zu empathisch mit Machiavelli: „Auch die (immer wieder gemachte) Behauptung, die ‚Unmenschlichkeiten‘ Machiavellis, deren Zweck es offenbar ist, zu ‚bessern‘ und nicht zu zerstören (vgl. z. B. Discorsi, I, 9), ließen sich durch ihre Absicht ethisch vertreten, hat offensichtlich den Fehler, abstrakt und ungenau zu sein; denn Machiavellis Problem besteht nicht darin, unmenschliche Mittel durch den guten Zweck, durch das Heil des Staates oder Vaterlandes die Sittenwidrigkeiten der Systeme, die er zu diesem Zweck vorschlägt, zu rechtfertigen, sondern insbesondere jenes der Unmenschlichkeiten und des Übels, die darin liegen, die Untertanen zu vernichten, wenn die kalte Logik der Politik dazu rät. Wenn man versucht, die Unmenschlichkeit der Mittel im guten Zweck zu sehen, umgeht man das Problem, das Machiavelli so eindringlich gestellt und unter dem er bis zu den letzten Konsequenzen gelitten hat (das bezeugen alle seine
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
117
Auch ist zweifelhaft, ob ein vorgebliches Gemeinwohl, dem der Bruder des Herrschers geopfert wird, nicht – abgesehen von der Erschütterung des Rechtsfriedens und der Erosion des allgemeinen Rechtsbewusstseins – ipso facto Ausweis der Herrschsucht ist: „In Erwägung all dieser Begebenheiten ziehe ich den Schluß, daß man zur Ordnung eines Staatswesens allein sein muß und daß Romulus wegen der Ermordnung des Remus und des Titus Tatius keinen Tadel verdient.“⁴⁰¹ – ‚Considerato adunque tutte queste cose, conchiudo come a ordinare una republica è necessario essere solo; e Romolo per la morte di Remo e di Tito Tazio meritare iscusa e non biasimo‘ (D I 9).⁴⁰²
b) Vorbild guter Gesetzgeber Zu den Begebenheiten, auf die Machiavelli anspielt und die er in seine Bewertung einbezogen hat, gehört noch eine, die er gleichsam inzident erörtert hat und die für den vorliegenden Zusammenhang nicht zuletzt deswegen von Bedeutung ist, weil sie das Ziel guter Gesetzgebung betrifft. Dabei begründet er, warum er die soeben genannten Beispiele prominenter Gesetzgeber aus der Geschichte nicht näher darstellt, sondern ein vergleichsweise unbekanntes Beispiel bemüht: „Nur eines möchte ich anführen, das zwar nicht so berühmt, doch von allen wohl zu beachten ist, die gute Gesetzgeber werden wollen: dies ist Agis, König von Sparta. Er wollte die Spartaner in die Schranken der Gesetze des Lykurg zurückführen,
Schriften, von den frühen bis zum Principe und den Discorsi auf eindeutige Weise); denn Unmenschlichkeiten hören nicht auf, welche zu sein, auch wenn sie ‚gut angewendet‘ werden, und Mord bleibt immer Mord, wenn auch der Machiavellische Alleinherrscher nicht aus persönlicher Grausamkeit, sondern unter dem Druck der Notwendigkeit handelt. Machiavelli hat ein großes, schmerzerfülltes Moralbewußtsein (um Croces Worte zu gebrauchen), was gerade die Klarheit und der Mut beweisen, mit denen er dieses dramatische Problem aufgeworfen und durchlitten hat. Andererseits läuft man Gefahr, ihm ein großes Moralbewußtsein abzusprechen und ihn zum kleinlichen Sucher nach Vorwänden und Kompromissen herabzuwürdigen!“ – Ob es jedoch von einem ‚großen Moralbewusstsein‘ zeugt, einen Brudermord ‚unter dem Druck der Notwendigkeit‘ zu rechtfertigen, ist gerade die Frage; der pathetische Hinweis darauf, dass Machiavelli ‚dieses dramatische Problem (…) durchlitten‘ habe, ist ein wohltönender Euphemismus, wenn man an das Opfer dieser gedanklichen Konsequenzen denkt. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 38. R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 237, umgeht die Bewertung in wenig befriedigender Weise: „Diese berühmten Sätze werden für uns allerdings keineswegs deswegen Bedeutung gewinnen, weil in ihnen der Brudermord vor dem Staatsinteresse gerechtfertigt wird – dies ist eine rein inhaltliche philologische Auffassung –, wichtig werden sie uns vielmehr durch das in ihnen sich aussprechende Prinzip der reinen Zweckbetrachtung.“ – Was an der Rechtfertigung des ‚Brudermordes vor dem Staatsinteresse‘ eine ‚rein inhaltliche philologische Auffassung ist‘, bleibt indes unerfindlich.
118
§ 1 Gesetze und Einrichtungen
weil er der Überzeugung war, daß sein Vaterland viel von seiner ehemaligen Tüchtigkeit verloren hätte, da die Spartaner zum Teil von den lykurgischen Gesetzen abgewichen waren.“⁴⁰³ – ‚Addurronne solamente uno, non sí celebre, ma da considerarsi per coloro che desiderassono essere di buone leggi ordinatori: il quale è che, desiderando Agide re di Sparta ridurre gli Spartani intra quelli termini che le leggi di Licurgo gli avevano rinchiusi, parendogli che, per esserne in parte deviati, la sua città avesse perduto assai di quella antica virtú‘ (D I 9). Im Folgenden schildert Machiavelli ausführlich, wie Agis von den Ephoren ermordet wurde und sein Nachfolger, der dessen gesetzgeberischen Pläne aufgreifen wollte, seinerseits die Ephoren und alle anderen potentiellen Widersacher ermordete:⁴⁰⁴ „Danach stellte er in allen Beziehungen die Gesetze des Lykurg wieder her.“⁴⁰⁵ – ‚Dipoi rinnovò in tutto le leggi di Licurgo‘ (D I 9).⁴⁰⁶
c) Kainsmal seiner Gesetzgebungslehre Er bleibt dann den Bericht des Scheiterns dieses Nachfolgers aus militärischen Gründen zwar nicht schuldig, lobt aber dessen Absichten, womit er insbesondere die Beseitigung derer meint, die sich seinen gesetzgeberischen Absichten hätten widersetzen können. Damit zementiert er die gefundene Rechtfertigung, die für ihn ohne jedes moralische Unwerturteil auch dann gültig bleibt, wenn der ‚gute Gesetzgeber‘ aus anderen Gründen mit seinen legislatorischen Plänen letztlich nicht durchdringt. Das für das Allgemeinwohl vorgeblich Gute ist für Machiavelli also etwas fundamental Anderes als die moralische Güte, auf die es seines Erachtens schlechterdings nicht ankommt. Das steht zwar in einem widerspruchsfreien werkimmanenten Zusammenhang mit den Empfehlungen des P r i n c i p e ,
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 38. Zum verfassungsgeschichtlichen Hintergrund A. Luther, Könige und Ephoren. Untersuchungen zur spartanischen Verfassungsgeschichte, 2004, S. 96 ff. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 38. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 7, zeigt, wieviel auch in dieser Hinsicht von Polybios entlehnt ist: „Machiavelli wiederholt den wesentlichen Inhalt der Ausführungen des Polybius, indem er das, was seine Vorlage von Lykurg sagt, zunächst im Allgemeinen auf die weisen Gesetzgeber anwendet. Allerdings macht er an späterer Stelle (ebenda, S. 20) auch deutlich, dass Machiavelli ungeachtet gewisser Übernahmen des Polybios im jeweiligen Umfeld auch genuin eigene Einsichten entwickelt hat: „Doch hat Machiavelli die von Polybius empfangenen Ideen in selbständiger Weise fortgebildet und namentlich an die neu beigebrachten Argumente: Wechsel der Religionen und Sprachen eine Fülle der interessantesten Bemerkungen geknüpft, in denen ausgeführt wird, wie jede neu aufkommende Religionspartei das natürliche Bestreben habe, alles zu zernichten, was an die vorige Religion erinnern könnte“.
V. Kontingenz und Relativität des Rechts
119
ist aber nicht nur aus heutiger, sondern auch aus Sicht des christlichen Naturrechts, mit dem Machiavelli bricht, nicht zu billigen und auch gedanklich nur nachvollziehbar, wenn man die Anhäufung staatlicher Macht zum obersten Ziel erklärt.⁴⁰⁷ Kaum mehr als eine wohlfeile Rechtfertigung, die einmal mehr mit der menschlichen Schwäche des allgegenwärtigen Neides argumentiert, bedeutet es, wenn er sich an anderer Stelle auf einen großen religiösen Gesetzgeber beruft: „Wer die Bibel mit Verstand liest, sieht, daß Moses, um seinen Gesetzen und Einrichtungen Geltung zu verschaffen, gezwungen war, zahllose Männer zu töten, die sich allein aus Neid seinen Plänen widersetzten.“⁴⁰⁸ – ‚E chi legge la Bibbia sensatamente vedrà Moisè essere stato forzato, a volere che le sue leggi e che li suoi ordini andassero innanzi, ad ammazzare infiniti uomini, i quali non mossi da altro che dalla invidia si opponevano a’ disegni suoi‘ (D III 30).⁴⁰⁹ Insgesamt gilt: Die Legitimierung des Brudermörders Romulus, der aus Gründen des Gemeinwohls zum ‚guten Gesetzgeber‘ werden könne und als solcher entschuldigt wird, ist das Kainsmal der Gesetzgebungslehre Machiavellis.
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889, bemerkt folgerichtig: „Diese moralische Neutralisierung der Macht – was dem Staat nützt, ist richtig – markiert den auffälligen Bruch mit der Tradition des von Plato und Aristoteles über die Stoa bis zum christlichen Naturrecht geprägten politischen Denkens“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 367. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 481 Fn. 168, zu diesem Kapitel: „Die andere Möglichkeit, die Machiavelli erwähnt, ist das Aussterben der Neider. Denn wenn auch stets neue nachwachsen, sind doch die ursprünglichen und besonders die älteren Konkurrenten die erbittertsten Gegner“.
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht Wie wichtig gesetzliche Befugnisse gegen einen Gewaltherrscher sind, wie bedeutsam vor allem Anklagemöglichkeiten gegen widerrechtliches, herrschsüchtiges Verhalten sind, hat Machiavelli des Öfteren dargelegt.
1. Gesetzliche Immunisierung des Gemeinwesens Sogar gegenüber gesetzgebenden Gremien mit umfassenden Rechten mahnt er Berufungsmöglichkeiten an, wie sich aus einer Stellungnahme über die Ve r f a s s u n g d e r S t a d t L u c c a ergibt: „Dieser Große Rat ist der Herrscher der Stadt; denn er macht Gesetze, schafft sie ab, schließt Waffenstillstände, Bündnisse, verbannt Bürger, verurteilt zum Tode, kurz, es läßt sich gegen ihn nicht appellieren, noch hält ihn irgend etwas im Zaume, wenn eine Mehrheit von drei Vierteilen einen Beschluß fasst.“⁴¹⁰ – ‚È questo consiglio generale il principe della città, perché fa leggi e disfalle; fa triegue, amicizie, confina, ammaza cittadini, ed in fine non ha appello, né alcuna cosa che lo freni, purché una cosa sia vinta per i tre quarti di esso.‘⁴¹¹ Umso mehr gilt dieses Erfordernis des Rechtsschutzes, wenn alle diese Befugnisse in der Person eines Einzelnen vereint sind.
a) Gesetzliche Gegenmittel Fehlt es jedoch an geeigneten Einrichtungen, so führt der Mangel an Gesetzen, die der Domestizierung eines Einzelnen dienen, zu regelrechten Kollateralschäden am Gemeinwesen, weil sich die Gegenwehr dann nicht mehr auf gesetzmäßige Weise in Bahnen lenken lässt, sondern sich gewaltsam entfaltet und dadurch ungleich größere Schäden entfacht: „Aber auch seine Gegner griffen, um ihn niederzuhalten, aus Mangel an gesetzlichen Mitteln zu ungesetzlichen. Und so kam es zur Auseinandersetzung mit den Waffen. Hätte man ihm aufgrund von Gesetzen entgegentreten können, so wäre seine Macht nur zu seinem eigenen Schaden gebrochen worden; da man ihn aber mit ungesetzlichen Mitteln stürzen musste, so hatten
Machiavelli, Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217, 221. Machiavelli, Sommario delle cose della città di Lucca, 1520, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 715, 718. https://doi.org/10.1515/9783110643145-002
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
121
außer ihm noch viele andere vornehme Bürger zu leiden.“⁴¹² – ‚Dall’altra parte quelli che lo oppugnavano non avendo via ordinaria a reprimerlo, pensarono alle vie straordinarie, intanto che si venne alle armi. E dove, quando per l’ordinario si fusse potuto opporsegli, sarebbe la sua autorità spenta con suo danno solo, avendosi a spegnere per lo straordinario, seguí con danno non solamente suo ma di molti altri nobili cittadini‘ (D I 7).⁴¹³ Interessant daran ist, dass Machiavelli jeweils auch die andere Seite betrachtet, hier also die Situation, in der sich der Alleinherrscher vor der Rebellion befand: „Aber auch er hatte Angst vor ungesetzlichen Mitteln und begann zu seinem Schutz Anhänger zu werben.“⁴¹⁴ – ‚Ne nacque che non avendo paura quello se non di modo straordinari, si cominciò a fare fautori che lo difendessono‘ (D I 7). Das ist eine bemerkenswerte Einsicht, weil sie die Angst des Herrschers mit in die Betrachtung einstellt. Diese allgegenwärtige Komponente ist ihm gleichfalls aus der römischen Geschichte vertraut, weil gerade die gewalttätigsten Herrscher in beständiger Angst lebten. Ihre schiere Allmacht bewahrte sie nicht davor, in permanenter Sorge zu leben.⁴¹⁵ Machiavelli fasst dies dahingehend zusammen, dass aus Sicht der Herrscher „zwei Wege vor ihnen liegen: der eine führt sie zu einem Leben der Sicherheit und zu unsterblichem Nachruhm, der andere zu einem Leben endloser Ängste und nach dem Tode zu ewiger Schande.“⁴¹⁶ – ‚Come e’ sono loro preposte due vie: l’una che li fa vivere sicuri, e dopo la morte li rende gloriosi: l’altra li fa vivere in continove angustie, e dopo la morte lasciare di sé una sempiterna infamia‘ (D I 10). Von daher versteht sich, wie sehr er die Tyrannen verachtet, die in ihrer Herrschsucht keinerlei gesetzliche Beschränkungen dulden und dabei nichts gewinnen, aber alles verlieren können.⁴¹⁷ Doch das Hauptproblem liegt für Machia Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 31. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 250, beobachtet zur im Text vorausgesetzten autorità eine Gesetzmäßigkeit, die sich auch hier als zutreffend erweist: „Machiavellis Neigung zur Autorität entspringt der Überzeugung, daß das Volk außerstande ist, allein mit eigenen Kräften der Zerrüttung zu widerstehen, und daß weder Gesetze noch Staatseinrichtungen Bestand haben, außer wenn eine Virtu am Werk ist, die sie von oben herab beherrscht und leitet“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 31. J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 96 f., mit weiteren Nachweisen. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 43. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 111, nennt noch ein anderes Beispiel aus den Discorsi mit Bezug zur Gesetzgebung: “In order to show how a potential tyrant can be successful he studies the actions of Appius Claudius, the founder of all public and private law in Rome, who failed in his attempt to establish tyranny and whose laws retain their force despite his ruin and violent death.” Auf ihn nimmt er in einem für die Gesetzgebung relevanten Sinn noch an späterer Stelle Bezug (ebenda, p. 172): “The example of the Roman legislator par excellence, Appius Claudius, shows that a law can survive the violent death of the legislator, not to say that it can acquire its full
122
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
velli, wie gesehen, im Fehlen einer gesetzlichen Handhabe zur Einschränkung der Herrschsucht durch wirksame Anklagebefugnisse gegen seine Willkür.
b) Mindestzahl der Richter Auch in der Republik müssen gesetzliche Einrichtungen bestehen, die es ermöglichen, die Verantwortlichen im Falle des Machtmissbrauches vor möglichst vielen Richtern anzuklagen, deren Untergrenze er erstaunlich gering veranschlagt. Es sagt viel über die Florentiner Zustände aus, dass ihm acht Richter in einem Prozess gegen einen Mächtigen nicht ausreichen, weil ihm die Gefahr ungebührlicher Einflussnahmen und Bestechungen immer noch so beträchtlich erscheint, dass ihm nur eine größere Zahl annähernde Gleichheit vor dem Gesetz zu versprechen schien. Allerdings wusste Machavelli wohl aus eigener schmerzvoller Erfahrung am besten, mit welchen Missbräuchen und Befangenheiten man in seiner Heimatstadt zu rechnen hatte,⁴¹⁸ wenn ein Mächtiger vor Gericht stand:⁴¹⁹ „Denn in einer Republik genügt es nicht, einen mächtigen Mann vor acht Richtern anzuklagen. Es müssen viele Richter sein; denn wenige werden es stets mit den wenigen halten. (…) Diesem Übel wird nur abgeholfen, wenn man vor vielen Richtern Anklage erheben kann und diese mit dem entsprechenden Ansehen ausgestattet werden.“⁴²⁰ – ‚Perché lo accusare uno potente a otto giudici in una republica non basta; bisogna che i giudici siano assai, perché i pochi sempre fanno a modo de’ pochi. (…) A che si provede al tutto con ordinarvi le accuse agli assai giudici e dare riputazione a quelle‘ (D I 7). Hervorhebenswert an Machiavellis diesbezüglichem Misstrauen ist die politische Einsicht, dass eine vergleichsweise geringe Zahl immer die Neigung verspüren wird, mit einer entsprechend mächtigen Minderheit, gemeinsames Spiel zu machen.
vigor through the violent death of the legislator. Yet Appius Claudius had been appointed by the Roman people to frame its laws.” Siehe zu Appius Claudius auch J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 86. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 220 f, zu seiner Enthebung aus dem Amt. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 245, erklärt den zeitgeschichtlichen Grund: „Doch war in diesem Zusammenhang das noch viel ernster, was sich ebenfalls in Florenz im Jahr 1512, also gegen Ende der Regierung Pier Soderinis, zutrug, als es immer noch keine Möglichkeit gab, den Ehrgeiz der ‚mächtigen Bürger‘ an den Pranger zu stellen. (…) Noch einmal unterstreicht Machiavelli mit durch die unmittelbare Erinnerung an jene Tage tragischen Geschehens nur noch erhöhte Präzision seine Verurteilung der Politik Italiens und Florenz“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 31 f.
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
123
c) Unabhängigkeit der Rechtsprechung Das bedeutet vor allem eine Gefahr für die Rechtsprechung, die durch Machtmissbrauch bis hin zur Rechtsbeugung korrumpiert werden kann, wie Machiavelli an sehr viel späterer Stelle verdeutlicht: „Denn ist es soweit gekommen, dass die Bürger und Behörden fürchten, ihm und seinen Freunden zu nahe zu treten, so kostet es nicht mehr viel Mühe, es dahin zu bringen, dass sie nach seinem Geheiß rechtsprechen und Unrecht tun. Ein Freistaat muss daher unter seinen Institutionen auch eine solche haben, die darüber wacht, dass seine Bürger nicht unter dem Schein des Guten tatsächlich Böses tun können, und dass sie nur insoweit zu Einfluss kommen können, als es der Freiheit nützt und nicht schadet.“⁴²¹ – ‚Perché venuto a’ soprascritti termini, che i cittadini e magistrati abbino paura a offendere lui e gli stessi amici suoi, non dura dipoi molta fatica a fare che giudichino ed offendino a suo modo. Donde una republica intra gli ordini suoi debbe avere questo, di vegghiare che i suoi cittadini sotto ombra di bene non possino fare male, e ch’egli abbino quella riputazione che giovi e non nuoca alla libertà‘ (D I 46).⁴²² Die Anhäufung von Macht in der Hand eines Einzelnen unter dem Vorwand des Gemeinwohls und der Gutwilligkeit desselben höhlt also zumindest schleichend die Grundfeste der Republik aus, weil dann erfahrungsgemäß allmählich Entscheidungen an sich unabhängiger Stellen zugunsten des mächtiger Werdenden in vorauseilendem Gehorsam fallen. Hier leuchtet zugleich eine Besonderheit seines Denkens auf, die im Schein guter Handlungen und allgemeinwohlbezogener Tätigkeiten die dahinter stehenden niedrigen Instinkte auf Anhieb erkennt.⁴²³
2. Unentbehrlichkeit religiöser Einrichtungen Machiavelli hat es wie nur wenige andere in der juristischen Geistesgeschichte vermocht, die Wirksamkeit des Anscheins für ein geordnetes Gemeinwesen zu er-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 123. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 32 f., sieht hier einen aristotelischen Einfluss im Hinblick auf die allfälligen gesetzlichen Korrekturmöglichkeiten am Werk: „Hat man indessen einen Bürger so unverhältnismässig emporkommen lassen, dass vor ihm die einzelnen Bürger Furcht und die Behörden Scheu haben, so warnt Machiavelli im Anschluss an seine Theorie vom Uebel, das man hat gross werden lassen, vor den Gefahren, die daraus entspringen, wenn man einem solchen Manne dann mit Gewalt zu begegnen sucht. Wie Aristoteles verlangt daher Machiavelli, dass man in einer Republik gesetzliche Einrichtungen treffe, um zu verhindern, dass ein Bürger eine allzugrosse, die Freiheit gefährdende, Macht erlange“. Allgemein dazu D. Hoeges, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, 2000.
124
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
kennen.⁴²⁴ Auch dafür half ihm ein Blick in die römische Geschichte, deren religiöse Institutionen weithin dem Zweck dienten,⁴²⁵ günstige Vorzeichen für aussichtsreiche Handlungen zu schaffen:⁴²⁶ „Gebot jedoch die Vernunft, ein Unternehmen durchzuführen, so wurde es auch bei ungünstigen Auspizien unter allen Umständen durchgeführt; doch man verdrehte die Sache mit allen Mitteln so geschickt, dass nichts unter Missachtung der Religion zu geschehen schien.“⁴²⁷ – ‚Nondimeno quando la ragione mostrava loro una cosa doversi fare, non ostante che gli auspicii fossero avversi, la facevano in ogni modo; ma rivoltavanla con termini e modi tanto attamente che non paresse che la facessino con dispregio della religione‘ (D I 14). Diese tendenziell zustimmende Beschreibung der römischen Verhältnisse gibt, wie das nächste Zitat zeigt, durchaus Machiavellis eigene Haltung wieder, die gerade kein Ausdruck des Respekts vor den religiösen Institutionen als solchen ist.⁴²⁸ Dementsprechend sagt er im P r i n c i p e über die Gottesfurcht, an der ihm gewiss nicht um ihrer selbst willen gelegen ist:⁴²⁹ „Besonders notwendig ist es, den Ein-
V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 139, fasst Machiavellis Grundgedanken unter Einbeziehung von seiner Abkehr von der herkömmlichen Ethik weiterführend zusammen: „Obgleich ein erfolgreicher Fürst die Sittlichkeit verletzen müsse, um politisch umfassende Ziele durchzusetzen, betont freilich Machiavelli immer wieder die Notwendigkeit, daß er äußerlich die traditionelle Moral zu befolgen scheine, weil dieser Anschein selbst ein wichtiger Machtfaktor sei.“ Hervorhebung nur hier. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 901: „Für Machiavelli stellt sich nicht die Frage, ob ein interner Zusammenhang besteht zwischen dem im Volk verbreiteten religiösen Ethos und jenen Unruhen und Revolten, die zunächst in den Städten ausbrechen, weil das Volk an die Legitimität oder wenigstens Erträglichkeit der bestehenden Herrschaft nicht mehr glaubt.“ Hervorhebung auch dort. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 140, zeigt, inwieweit hiermit römische Machtpolitik praktiziert wird: “To say nothing of the fact that in the Livian story the obligatory character of promises made under duress is taken for granted by everyone, a Roman consul who had promised peace to the Samnites under duress recovers for the Romans the right to recommence war under favorable conditions by having recourse to an amazing piece of legal fiction sanctioned by sacred law. The leader of the pious Samnites, the victim of Roman piety, understandably felt that the Romans always put the appearance of justice on acts of fraud and were not ashamed to use in broad daylight mockeries of religion, mockeries of the mysterious power of the gods, as puerile cloaks for breaches of faith”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 53. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, S. 92, fasst dies so zusammen: „Es war deutlich, dass Machiavellis amoralischer Vitalismus, seine Empfehlung, Kraft und List zu kombinieren, Religiosität zu heucheln statt sie zu praktizieren, wie generell sein unverstellter Blick auf das Phänomen der Macht für alle auf Normen beruhenden Ordnungen bedrohlich sein würde“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 277: „Nicht an sich selbst also ist die Gottesfurcht für Machiavelli
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
125
druck zu erwecken, daß er gerade die letztere Tugend besäße.“⁴³⁰ – ‚E non è cosa piú necessaria a parere di avere, che questa ultima qualità‘ (P XVIII).⁴³¹
a) Einschüchterung der Gläubigen im Interesse der Staatserhaltung Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass Machiavelli durchaus von einem unerwartet ethischen Fundament her urteilt,⁴³² wie sich am Beispiel seiner Verachtung der Despoten ja bereits erwiesen hat und auch an anderen Stellen zeigt:⁴³³ „Schändlich und verabscheuungswürdig sind die Zerstörer jeder Tüchtigkeit, der Wissenschaften und jeder Kunst, die dem Menschengeschlecht nutzen und Ehre bringen; ich meine die Gottlosen und Gewalttätigen, die Unwissenden und Minderwertigen, die Müßiggänger und Feiglinge. Niemand wird je so einfältig oder so überklug, so bösartig oder so gutmütig sein, dass er, wenn er die Wahl zwischen beiden Menschengattungen hätte, nicht die Lobenswerte loben und die Tadelnswerte tadeln würde. Gleichwohl folgen fast alle durch falschen Glanz und eitlen Ruhm verblendet, absichtlich oder aus Unwissenheit jenen, die mehr Tadel als Lob verdienen.“⁴³⁴ – ‚Sono pel contrario infami e detestabili gli uomini distruttori delle religioni, dissipatori de’ regni e delle republiche, inimici delle virtú, delle lettere e d’ogni altra arte che arrechi utilità e onore alla umana generazione, come sono gl’impii, i violenti, gl’ignoranti, i dappochi, gli oziosi, i vili. E nessuno sarà mai sí pazzo
wertvoll, sondern allein darum, weil sie positive Auswirkungen auf die politische Gemeinschaft haben kann“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 74. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 139, verweist ergänzend auf D I 11: „Insbesondere sei es wichtig, religiös zu scheinen, und der bloße Schein sei auch ausreichend, weil die Menge sich mit ihm begnüge“. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 26, arbeitete den moralischen Gehalt heraus und gibt schlüssig eine mögliche Quelle dafür an: „Kann Machiavelli somit ein tieferes Verhältnis zur Religion nicht gewinnen und weiss er sie nur als eine Art von frommem Betrug zu bezeichnen, so ist er doch von ihrer den Staat erhaltenden Kraft fest überzeugt; sie gilt ihm als ein zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft durchaus notwendiger Gegenstand. Und die römische Geschichte fordert Machiavelli auf, daraufhin zu betrachten, wie sehr die Religion dazu beigetragen, die Heere in Gehorsam, das Volk in Einigkeit, die Menschen gut zu erhalten und in den Bösen Scham zu erwecken. Auch bei der Formulierung dieser Ansicht steht Machiavelli offenbar unter dem Einfluss des Polybius.“ Hervorhebung nur hier. – Geistesgeschichtlich gesehen etwas verfrüht dürfte wohl der Begriff der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ sein; zu ihr grundlegend D. Grimm, Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, 1987. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 133. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 123.
126
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
o sí savio, sí tristo o sí buono, che prepostagli la elezione delle due qualità d’uomini, non laudi quella che è da laudare a biasimi quella che è da biasimare. Nientedimeno dipoi quasi tutti, ingannati da uno falso bene e da una falsa gloria, si lasciono andare, o voluntariamente o ignorantemente, nei gradi di coloro che meritano piú biasimo che laude‘ (D I 10). Die idealistischen Bekenntnisse Machiavellis gehen also gerade dadurch unter, dass er die Gegenläufigkeit in den menschlichen Gesinnungen und Hintergedanken mit einer Klarsicht erkennt, die ihn stets das tendenziell Niederträchtigere annehmen lässt.⁴³⁵
aa) Aufrechterhaltung des Scheins Daher muss er aber auch diese niederen Instinkte als gleichsam anthropologische Konstanten in seine Vorstellung von einer erstrebenswerten Gesellschaftsordnung einbeziehen. Zu diesem Zweck ist ihm die Aufrechterhaltung eines entsprechenden Anscheins ein unentbehrliches Hilfsmittel, das gerade auf die Leichtgläubigkeit des Volkes vertraut: „Wer einem Staat eine neue Verfassung geben will und dabei möchte, dass sie gut aufgenommen und zur Zufriedenheit eines jeden erhalten wird, muss wenigstens den Schein der alten Formen beibehalten, damit das Volk glaubt, es hätte sich nichts geändert, auch wenn die neuen Einrichtungen mit den früheren nicht das Geringste gemein haben. Denn die Masse der Menschen lässt
Vgl. auch V. B. Sullivan, Machiavelli’s Three Romes. Religion, Human Liberty and Politics, 1996. Wenn in der Überschrift in Anlehnung an Meinecke von ‚Staatsräson‘ gesprochen wird (dazu M. Stolleis, Friedrich Meineckes „Die Idee der Staatsräson“ und die neuere Forschung, in: Friedrich Meinecke heute, Hg. M. Erbe, 1981, S. 50 – 75), so muss man insofern Vorsicht walten lassen, als dies mitunter bestritten wird; vgl. die auch juristisch aufschlussreiche Begründung von W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 109: „Machiavelli ist kein Staatsräson-Theoretiker avant la lettre, und sein politisches Denken ist (…) keine Staatsphilosophie. Machiavellis Ausdruck ‚stato‘ ist eine machtpolitische Verengung des mittelalterlichen Terminus ‚status‘. Bezeichnet ‚status‘ die durch Rechte und Pflichten definierte Position einer Person in der mittelalterlichen Sozialhierarchie, so meint Machiavellis ‚stato‘ nur noch die individuelle Machtposition des Herrschers, den individuellen Herrschaftsbesitz, oder auch, im Fall eines republikanischen Gemeinwesens, die machtpolitische Verfassung der Republik; nie wird von Machiavelli das Gemeinwesen, eine politische Lebensordnung, eine bürgerliche Gemeinschaft oder auch ein Königreich als ‚stato‘ bezeichnet.“ – In der Tat findet sich der Begriff der Staatsräson nicht bei Machiavelli, worauf J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 17, richtigerweise hinweist. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 56 Fn. 109, macht aber darauf aufmerksam, dass er noch „zu seinen Lebzeiten (u. a. bei Guicciardini) erstmals in der Schriftsprache auftaucht“. Er verweist auf die erstmalige Erwähnung einer Veröffentlichung mit der Staatsräson im Titel durch G. Botero, Della ragione die stato, 1589, die Machiavellis Einfluss erkennen lasse, auch wenn sie sich gegen ihn richte.
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
127
sich mit dem Schein ebenso abspeisen wie mit der Wirklichkeit, ja häufig wird sie durch den Schein mehr bewegt als durch die Wirklichkeit.“⁴³⁶ – ‚Colui che desidera o che vuole riformare uno stato d’una città, a volere che sia accetto a poterlo con satisfazione di ciascuno mantenere, è necessitato a ritenere l’ombra almanco de’ modi antichi, acciò che a’ popoli non paia avere mutato ordine, ancorché in fatto gli ordini nuovi fussero al tutto alieni dai passati; perché lo universale degli uomini si pascono cosí di quel che pare come di quello che è: anzi molte volte si muovono piú per le cose che paiono che per quelle che sono‘ (D I 25). Das Auseinanderfallen von Wahrheit und Schein unter Vereinnahmung des letzteren gehört zu Machiavellis bewährten Argumentationsmustern.⁴³⁷ An dieser Stelle wird es sogar noch auf die Spitze getrieben, indem vorausgesetzt wird, dass der Schein nicht nur ein mehr oder minder provisorisches Surrogat für die Wirklichkeit ist, sondern wirksamer sein kann als diese.⁴³⁸ Diese Zuversicht in die Torheit der Masse klingt in der Tat ‚machiavellistisch‘. Doch darf man, ohne seine Haltung zu verteidigen, nicht übersehen, dass sie zumindest auch vom Bestreben geleitet ist, Unruhe und Aufruhr im Staat zu verhindern und das Gemeinwesen in den Augen des Volkes zu erhalten, wie es ihm vertraut.⁴³⁹
bb) Täuschung und Sinneswahrnehmung Machiavelli erklärt die Wirksamkeit des Scheins denn auch nicht von ungefähr im P r i n c i p e , allerdings mit einer anthropologisch bemerkenswerten Beobachtung,
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 77. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 278, erklärt dies beispielhaft: „Darum hat er auch die Transzendenz des mittelalterlichen Denkens als den Schein der Transzendenz in die Arcana imperii eingereiht.“ – Hieran zeigt sich erneut ein taciteischer Einfluss; vgl. Tacitus, Annales, 1, 6, 3, der den Großneffen des Sallust die Witwe des Kaisers Augustus mahnt, insbesondere die Geheimnnisse des Herrscherhauses nicht an die Öffentlichkeit gelagen zu lassen: ‚Sallustius Crispus (…) monuit Liviam, ne arcana domus (…) vulgarentur‘. Siehe auch B. Fontana, Sallust and the Politics of Machiavelli, History of Political Thought 24 (2003) 86. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 901, präzisiert: „Jedenfalls ist sein historischer Blick auf die Religion der Blick eines kühl urteilenden Diplomaten. So behandelt er die Gläubigkeit des katholischen Volkes im zeitgenössischen Italien als ein funktionales Äquivalent für den römischen Volksglauben zu Livius‘ Zeiten.“ Hervorhebung nur hier. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 2, umreißt sein im Folgenden sorgfältig ausgearbeitetes Vorhaben im Hinblick auf die Bedeutung der Religion vielversprechend: “Perhaps surprisingly, this book investigates the proper role that our notoriously impious author seemingly insists religious symbolism must play in every politics – princely or republican – that extensively enlists the power of the people”.
128
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
die zwischen visueller und haptischer Sinneswahrnehmung unterscheidet: „Die Menschen urteilen im allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen sehen, als nach dem, was sie mit den Händen greifen; denn jedem wird es einmal zuteil, etwas in Augenschein zu nehmen; aber nur wenige haben Gelegenheit, etwas zu berühren.“⁴⁴⁰ – ‚E li uomini in universali iudicano piú alli occhi che alle mani; perché tocca a vedere a ognuno, a sentire a pochi‘ (P XVIII). Derartige Erfahrungssätze, die auf scharfer Beobachtung und gesundem Menschenverstand gründen, sind bezeichnend für Machiavelli. Bezogen auf die moderne Medienlandschaft mit ihrer extremen Visualisierung und dem Verlust der Möglichkeit, die Dinge buchstäblich mit Händen zu greifen, erweisen sie sich sogar als besonders weitsichtig.⁴⁴¹ Denn Machiavelli ging es mitnichten nur darum, die Leichtgläubigen zu täuschen, zumal da auf diese Weise ein gewisser ethischer Gehalt, wie er sich in den Sitten der Religionsausübung bewahrt hatte, zum Nutzen des Staates aufrechterhalten werden konnte, worauf ein weiser Gesetzgeber bauen konnte.⁴⁴² Er wusste zudem, dass uns die Dinge selbst täuschen, weil unser Verstand sie nicht sogleich als mögliche Missstände erkennt: „Da es schwierig ist, Übelstände bei ihrem Entstehen zu erkennen, was daher kommt, daß uns die Dinge in ihrem Anfang täuschen, so ist es, wenn man sie einmal erkannt hat, klüger, einmal Zeit zu gewinnen als sie zu bekämpfen.“⁴⁴³ – ‚Dico adunque, che poi che gli è difficile conoscere questi mali quando ei surgano, causata questa difficultà da uno inganno che ti fanno le cose in principio, è piú savio partito il temporeggiarle, poi che le si conoscono, che l’oppugnarle‘ (D I 33). Machiavelli erwies sich seiner Mitwelt nicht zuletzt dadurch intellektuell überlegen, dass er durch seine eminente Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis die aus Erfahrung gewonnenen Einsichten dergestalt miteinander Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 74. Zu den Einzelheiten J. Petersen, Medienrecht, 5. Auflage 2010, § 1. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 247, hat die Abhängigkeit der positiven Wirksamkeit der Religion von einer weitsichtigen und eingrenzenden Gesetzgebung herausgearbeitet, indem er über die erstere feststellt: „Sie wird zwar als grundlegendes Element eines wohlgeordneten Staates gesehen, das gute Sitten, gute Einrichtungen und sogar ‚gute Waffen‘ ermöglicht, jedoch immer einen wachsamen Gesetzgeber voraussetzt, der es versteht, ihre Macht abzustufen und ihre Wirkungen zu dosieren, entsprechend den Erfordernissen der Zeiten und der historischen Situationen. Somit hat die Religion in Machiavellis Denken eine zweifache Bedeutung: sie ist das instrumentum regni, das Mittel, durch das ein kluger Gesetzgeber im Namen Gottes außerordentliche und völlig ungewöhnliche Dinge durchführen kann; sie ist aber auch das innere Leben des Volkes, bedeutet seine guten Sitten und seine politische und moralische Erziehung, so daß der Begriff sogleich seinen rein utilitaristischen und äußerlichen politischen Sinn verliert, auf den er oft reduziert wurde, und eine konstruktive und positive Bedeutung gewinnt.“ Hervorhebungen nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 93.
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
129
zu verknüpfen vermochte, dass ihm bemerkenswerte Folgerungen gelangen, die in so unsicheren Zeiten wie diejenigen, in denen er lebte, überdies praktisch nutzbar waren, auch wenn er selbst sie sich am wenigsten zunutze machen konnte.
cc) Eintracht der Republik durch Schürung der Gottesfurcht Zu der oben angesprochenen künstlichen Kultivierung der Gottesfurcht passt, dass Machiavelli die bereits angesprochenen religiösen Einrichtungen vereinnahmt, indem sie nicht um ihrer selbst willen bestehen, sondern zur Einschüchterung der Gläubigen dienen sollen:⁴⁴⁴ „Die Häupter eines Freistaates oder eines Königreichs müssen daher die Grundlagen der Religion, zu der sich ihre Völker bekennen, bewahren; dann wird es ihnen leicht sein, ihren Staat in Gottesfurcht und damit gut und einträchtig zu erhalten. Sie müssen alles, was für die Religion spricht, unterstützen und fördern, auch wenn sie es für falsch halten. Sie müssen dies umso mehr tun, je klüger sie sind und je klarer sie natürliche Dinge durchschauen.“⁴⁴⁵ – ‚Debbono adunque i principi d’una republica o d’uno regno, i fondamenti della religione che loro tengono, mantenergli; e fatto questo, sarà loro facil cosa mantenere la loro republica religiosa, e per conseguente buona e unita. E debbono tutte le cose che nascano in favore di quella, come che le giudicassono false, favorirle e accrescerle‘ (D I 12).⁴⁴⁶ Gerade der Nachsatz veranschaulicht aufs neue, dass die geistige Überlegenheit für Machiavelli ebenso wie jede militärische zu denjenigen Waffen gehörte, die man im politischen Leben notfalls wider besseres Wissen einzusetzen habe.⁴⁴⁷ Das erscheint nun als zynischer Machiavellismus in Reinkultur, weil damit die Einsicht H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 99, deutet die Zweck-Mittel-Relation vergleichsweise nüchtern: „Die Umkehrung der mittelalterlichen Beziehung von Zweck und Mittel findet schließlich auch ihren Niederschlag in der Funktion, die Machiavelli der Religion zur inneren Stabilisierung des Staatswesens zugewiesen hat.“ Danach „galt Machiavelli die Religion als das zuverlässigste und bewährteste Mittel gegen die den Staat bedrohende menschliche Neigung zur Dekadenz, zum Sittenverfall“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 47. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 900, hält Folgendes für möglich: „Vielleicht ist es dieser nüchtern säkulare Blick auf die Welt, der nicht nur eine empirische Herangehensweise erklärt, sondern einen politischen Realismus, der Fragen der normativen Rechtfertigung der politischen Herrschaft auf das stabile Funktionieren einer Herrschaftsordnung reduziert“. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 24, wenngleich nicht auf die Gesetze bezogen, wohl aber auf überraschend heilsame Wirkungen auf das Gemeinwohl.
130
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
der Wenigen und die Dummheit der Vielen vorausgesetzt und die Annahme der letzteren mit einer wenigstens unter Eventualvorsatz vorgespiegelten Täuschungshandlung instrumentalisiert wird.⁴⁴⁸ Für Machiavelli hingegen war die Eintracht innerhalb der Republik oberstes Gebot, weil nur dadurch das Gemeinwesen zusammengehalten werden und Spaltungen jeder Art vermieden werden konnten, die den Staat zugrunde gerichtet hätten. Im Interesse der Erhaltung des Staates war es legitim – und erforderlichenfalls durch Erlass entsprechender Gesetze geboten –, darauf hinzuwirken, die Gottesfurcht zu schüren.⁴⁴⁹ Die Religion ist ihm nicht um ihrer selbst willen schutzwürdig, sondern nur als Mittel zum Zweck der Staatserhaltung.
b) Herrschsucht innerhalb religiöser Institutionen Daher müssen auch diese manipulativ und berechnend wirkenden Stellen in jenem Zusammenhang gewürdigt werden, in dem sie stehen, weil man dann erkennen kann, dass Machiavellis Ratschläge mitnichten nur destruktiv ausgerichtet sind: „Monarchien oder Freistaaten, die sich unverdorben erhalten wollen, müssen vor
Siehe zu dieser Ausprägung seines Denkens auch D. L. Jensen, Machiavelli. Cynic, Patriot, or Political Scientist?, 1960. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 59, arbeitet die zwielichtigen Wesenszüge und den mephistofelischen Charakter Machiavellis wohlabgewogen heraus: „Der historische Machiavelli war sicher zunächst ein besorgter und kluger Diener seines Staates – sowenig freilich der aufmerksame Leser seiner Schriften den Verdacht los wird, daß die sachliche und objektive Argumentation für ungewöhnliche Maßnahmen, die seine Schriften auszeichnet, verbunden ist mit einer beunruhigenden Freude darüber, daß man nun mit gutem Gewissen z. B. andere Menschen instrumentalisieren dürfe. Es gehört zu den abstoßendsten Zügen des Menschen Machiavelli, daß er für die tragische Dimension seiner Entdeckung keinen Sinn gehabt zu haben scheint: Die von ihm verfaßten Dramen sind sämtlich Komödien.“ Letzteres unter Verweis auf L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 292. Dieser stellt bereits zuvor (p. 13) differenzierend gegenüber dem hier vereinfachend so genannten mephistofelischen Charakter fest: “Even if, and precisely if we are forced to grant that his teaching is diabolical and he himself a devil, we are forced to remember the profound logical truth that the devil is a fallen angel”. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 248, erklärt dies bezüglich der Religion mit Blick auf die Gesetze und Einrichtungen: „Deshalb ist die Religion als das Mittel gesehen, durch das diese klugen Männer das Volk dahin brachten, daß es machte, was sie wollten und ihm die größten Opfer für die Verteidigung des Staates abverlangten. Andererseits stellt sie auch das Mittel dar, durch das Verfassungen, Sitten und Gesetze, also alle grundlegenden Instrumente des Staatslebens, eine feste Ordnung erhalten. Machiavelli betrachtet die Religion also nicht als äußerlichen Notbehelf, als Handhabe, um die schnöde Masse des Volkes im Zaum zu halten, sondern im Gegenteil als positives Werkzeug des Staatsaufbaus, als ein Mittel, das sich im Gemüt des Volkes verwurzeln soll. Der Begriff der Religion hat bei Machiavelli also wirklich konstruktive Bedeutung“.
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
131
allem die religiösen Gebräuche rein erhalten und immer Ehrfurcht vor ihnen bezeigen; denn es gibt kein schlimmeres Zeichen für den Verfall eines Landes als die Missachtung des religiösen Kults.“⁴⁵⁰ – ‚Quelli principi o quelle republiche le quali si vogliono mantenere incorrotte, hanno sopra ogni altra cosa a mantenere incorrotte le cerimonie della loro religione, e tenerle sempre nella loro venerazione; perché nessuno maggiore indizio si puote avere della rovina d’una provincia, che vedere dispregiato il culto divino‘ (D I 12).
aa) Hypothetische Betrachtungsweise Die Prämisse dieser und der zuvor zitierten Stelle ist also die Erhaltung des unverdorbenen Gemeinwesens, für das Machiavelli die Staatsform des Freistaates präferiert, die Monarchie jedoch nicht ausschließt. Bezeichnend für sein Denken ist die hypothetische Betrachtungsweise, die eine den Institutionen gemäße gutwillige Gesinnung in Betracht zieht, allerdings auch als historisch kontrafaktisch und der Menschennatur zuwider beiseite lässt, aber gleichwohl benennt:⁴⁵¹ „Wäre von den Spitzen der Christenheit die christliche Religion erhalten worden, wie sie ihr Stifter gegründet hat, dann wären die christlichen Staaten und Länder einträchtiger und glücklicher, als sie es jetzt sind. Nichts spricht mehr für den Verfall des christlichen Glaubens als die Tatsache, dass die Völker, die der römischen Kirche, dem Haupt unseres Bekenntnisses, am nächsten sind, am wenigstens Religion haben.“⁴⁵² – ‚La quale religione se ne’ principi della republica cristiana si fusse mantenuta secondo che dal datore d’essa ne fu ordinato, sarebbero gli stati e le republiche cristiane piú unite, piú felici assai che le non sono‘ (D I 12). Das ist eine bemerkenswert deutliche Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 47. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 44, fasst im Hinblick auf eine Stelle aus dem Principe die moralischen Anschauungen zusammen, die nicht nur für Machiavellis Zeit, sondern auch die Antike galten: „Man sieht: mit noch grösserer Rücksichtslosigkeit als in den Discorsi führt hier Machiavelli den Grundsatz durch, dass alle Mittel, die zur Erhaltung der Herrschaft dienen, zu billigen seien. Er stellt nicht die Frage, ob die anzuwendenden Mittel gut oder böse, sondern die, ob sie nützlich oder nicht nützlich sind. Wenn nun aber dieser Grundsatz teils aus jener furchtbaren Verwirrung der sittlichen Begriffe, die man als die Moral der italienischen Renaissance bezeichnet, teils aus den Eigentümlichkeiten des politischen Systems Machiavelli’s, teils aus seiner scharfen Beobachtung der Zeitumstände herzuleiten ist, so lässt sich doch auch hier die Einwirkung des Altertums nicht verkennen.“ Er schließt (ebenda, S. 45) eine weiterführende Frage an: „Wohl aber ist man bei der Art und Weise, wie Machiavelli sich beständig auf die Alten bezieht, berechtigt zu fragen, wie diejenigen Schriftsteller, von denen wir konstatieren können, dass sie einen besonders starken Einfluss auf Machiavelli geäussert haben, sich zu diesen sittlichen Anschauungen verhielten und ob ihre Lektüre dazu diente, die in Machiavelli bereits vorhandene Richtung zu stärken oder zu schwächen“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 48.
132
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Kritik an den Zuständen innerhalb der römischen Kurie und am Papsttum, wie es sich zu Zeiten Machiavellis gebärdete.
bb) Kritik religiöser Institutionen Gerade weil es die Kirche mit der christlichen Lehre so wenig genau genommen, ja ihr entgegengesetzt gehandelt hat und ebenfalls weltliche Herrschsucht an den Tag legte, kam es zu Verwerfungen, die seines Erachtens paradoxerweise vermieden worden wären, wenn sich die Kirche darauf beschränkt hätte, Italien zu erobern:⁴⁵³ „Da also die Kirche nicht im Stande war, Italien zu erobern, aber auch nicht duldete, dass es von einem anderen erobert wurde, ist sie schuld daran, dass es nicht unter ein einziges Oberhaupt kommen konnte, sondern von vielen Machthabern und Herren regiert wird. Dies hatte solche Uneinigkeit und Machtlosigkeit zur Folge, dass Italien nicht nur zur Beute mächtiger Barbaren, sondern überhaupt eines jeden wurde, der es angriff. Dies haben wir Italiener allein der Kirche zu danken und sonst niemandem.“⁴⁵⁴ – ‚Non essendo adunque stata la Chiesa potente da potere occupare la Italia, né avendo permesso che un altro la occupi, è stata cagione che la non è potuta venire sotto uno capo, ma è stata sotto piú principi e signori, da’ quali è nata tanta disunione e tanta debolezza che la si è condotta a essere stata preda, non solamente de’ barbari potenti, ma di qualunque l’assalta‘ (D I 12).⁴⁵⁵ Diese Stelle veranschaulicht die Ambivalenz seines Denkens. Da nun einmal Zwietracht und Unfriede die Welt regieren, sollte eine jede Institution und ein jedes Land sich um Beherrschung desjenigen Territoriums bemühen, das ihr
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 47, beantwortet die selbstgestellte Frage überzeugend unter Verweis auf die Discorsi: „Worin besteht die Bedeutung des Christentums für die politische Philosophie, insbesondere für die hier leitende Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik? Machiavelli und Rousseau haben es genau begriffen: Das Christentum hat die Kluft zwischen beiden vertieft“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 49. Zum ‚Wir Italiener‘ auch K. Knies, Der Patriotismus Machiavellis, Preußische Jahrbücher 27 (1871), 665. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 268 f., kommentiert dies unter aufschlussreichem Verweis auf die Gesetze: „Die christliche Religion, so wie sie vom Papsttum gelehrt und verbreitet wird, ist schädlich für den Staat. Die Päpste tun das Gegenteil von dem, was sie als Christenpflicht verkünden. (…) Durch diese Abweichung der Praxis von der Theorie und die vielen Ausnahmen, die der Papst gegen Geld von seinen selbsterlassenen Gesetzen genehmigt, wird die Religion als Ganze unglaubwürdig. Die Italiener, so Machiavelli, glauben nicht mehr an den christlichen Gott und werden dadurch untauglich zur Republik. Nur wer glaubt, Gott zu beleidigen, wenn er die Gesetze des Staates übertritt, wird ein guter Bürger. (…) Wer die Strafe des Himmels nicht fürchtet, respektiert die Gesetze des Staates nicht.“ Hervorhebung nur hier.
I. Gesetze zur Domestizierung der Herrschsucht
133
oder ihm am nächsten liegt. Denn sonst übernehmen es andere und schaffen den Boden für Krieg, Zerstörung und Bürgerkrieg.
c) Gesetzesverletzung und Berufung der Gesetzgeber auf Gott Aus den antiken Quellen schöpfend, sieht Machiavelli mit einem geradezu religionssoziologisch anmutenden Scharfblick, „dass die Bürger sich mehr scheuten, einen Schwur zu brechen, als die Gesetze zu verletzen, da sie die göttliche Macht höher achteten als die der Menschen.“⁴⁵⁶ – ‚come quelli cittadini temevano piú assai rompere il giuramento che le leggi, come coloro che stimavano piú la potenza di Dio, che quella degli uomini‘ (D I 11).⁴⁵⁷
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 43. R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 237, sieht diese immanente Beziehung zwischen Religions- und Rechtssoziologie deutlich: „Ganz unangesehen der moralischen Anrüchigkeit des Verfahrens ist es von Bedeutung, daß Machiavelli den Staat der Zweck-Mittelbetrachtung unterwirft, wieder ein Beweis dafür, daß für ihn ein ursprünglicher, natürlicher Zusammenhang der Menschen nicht mehr vorhanden ist, in dem keine Zweck-Mittel-Auffassung, wohl aber eine Art von organischer Auffassung angemessen wäre. Wie sich das auswirkt, sehen wir bald, wenn er berichtet, wie Numa Pompilius als der Nachfolger des Romulus die Gesetze der Stadt sichert, indem er vorgibt, sich mit einer Nymphe beraten zu haben, die ihn belehrte, was er dem Volk auferlegen solle (I, 11). So erscheint die Religion als ein Mittel, um die Staatsautorität zu retten, eine Meinung, die wir entsprechend bei dem aus ganz ähnlicher Situation heraus denkenden Hobbes ebenfalls finden. Machiavelli gibt im Übrigen zahlreiche Beispiele für solche zweckbewußte Verwendung der Religion im Interesse des Staatszwecks.“ Hervorhebung nur hier. Für diese Stelle, insbesondere die Bezugnahme auf Numa Pompilius, ist noch folgende Präzisierung Machiavellis in den Discorsi zu berücksichtigen, in der die edukatorische Funktion der Religion als Instrument der Zivilisation zur Geltung kommt: „Numa Pompilius fand noch ein völlig ungebändigtes Volk vor; er wollte es mit friedlichen Mitteln zu bürgerlichem Gehorsam erziehen. Um sein Ziel zu erreichen, nahm er seine Zuflucht zur Religion, da er diese als unentbehrlichste Stütze der Zivilisation erkannte. Er befestigte diese wiederum so sehr, daß mehrere Jahrhunderte hindurch in keinem Staatswesen größere Gottesfurcht lebendig war als in der römischen Republik. (…) Wenn man daher zu entscheiden hätte, welchem König Rom mehr verpflichtet wäre, dem Romulus oder dem Numa Pompilius, so glaube ich fest, daß Numa den Vorzug verdient; denn wo es religiöse Einrichtungen gibt, ist es leicht, ein Heer aufzustellen. (…) Alles in allem erwogen, ziehe ich den Schluß, daß die von Numa eingeführte Religion eine der wichtigsten Ursachen für das Gedeihen der Stadt Rom wurde, denn sie hatten gute Einrichtungen zur Folge, die guten Einrichtungen aber bringen Glück, und aus ihrem Glück wiederum entsprangen die günstigen Erfolge ihrer Unternehmungen.“ (D I 11). – Hier zeigt sich nicht nur der aus Machiavellis Sicht bestehende Zusammenhang von Religion und Heerwesen. Vielmehr ist dies auch interessant im Hinblick auf die Religionsgesetzgebung Numas, die besonders betont wird im Gesetzgebungsexkurs des von Machiavelli besonders geschätzten Tacitus, Annales, 3, 27, 4: ,dein religionibus et divino iure populum devinxitʻ. Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1.
134
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
aa) Verbindungslinie von Religions- und Rechtssoziologie Machiavelli spielt also durchaus mit der Leichtgläubigkeit des Volkes, die der Herrscher notfalls schüren sollte: „Denn Wunder werden, aus welcher Quelle sie auch entspringen mögen, von den Klugen aufgebauscht, deren Ansehen ihnen bei jedermann Glauben verschafft.“⁴⁵⁸ – ‚Perché i prudenti gli augumentano, da qualunque principio e’ si nascano, e l’autorità loro dà poi a quelli fede appresso a qualunque‘ (D I 12). Man muss berücksichtigen, dass diese Gedanken vor aller Aufklärung geäußert worden sind. Es ist eine reine Bestandsaufnahme anthropologischer Gegebenheiten unter besonderer Berücksichtigung historischer Gesetzmäßigkeiten. Vor allem der durch und durch realistische Blick auf die Religion zu einer Zeit, in der dies auch und gerade von denjenigen schwer bestraft werden konnte, die selbst nicht daran glaubten,⁴⁵⁹ lassen seine Gedanken nicht nur religionssoziologisch, sondern auch rechtssoziologisch interessant erscheinen, weil sie die Verbindungslinie beider Richtungen berühren.⁴⁶⁰ Doch führte gerade die Betrachtung der ungeschminkten Erscheinungsformen von Herrschaft, Recht und Religion, die ihn nicht um ihrer selbst willen interessierten, zu Folgerungen für die Gesetzgebung, die seinen Beobachtungen scheinbar zuwiderlief, weil er eben doch an bestimmten Vorgaben festhielt, wenn auch aus anderen Gründen als die Stifter der Religionen vorausgesetzt haben mochten.
bb) Berufung des Gesetzgebers auf die Religion Religiöser Beteuerungen soll sich daher auch der Gesetzgeber bedienen, weil dadurch dasjenige untermauert werden kann, was sich nicht jedem von selbst erschließt:⁴⁶¹ „Es gab tatsächlich noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber in einem Volk, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen worden wären; denn es gibt viel Gutes, das zwar von einem klugen Mann erkannt wird, aber doch keine so in die Augen springenden Gründe in sich hat, um andere von seiner Richtigkeit überzeugen zu können.“⁴⁶² – ‚E veramente Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 48. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 48, fasst Machiavellis Standpunkt bündig zusammen: „Religion ist zum Herrschaftsmittel in den falschen Händen geworden“. J. Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, zu demjenigen, der diese Verbindung im zwanzigsten Jahrhundert am klarsten erkannt hat. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 248, fasst Machiavellis Standpunkt so zusammen, dass „die Verpflanzung der Religion ins Gemüt des Volkes durch den Gesetzgeber dauerhafte Erfolge zeitigt“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 44 f.
II. Gerechtigkeit und Frieden
135
mai fu alcuno ordinatore di leggi straordinarie in uno popolo che non ricorresse a Dio, perché altrimenti non sarebbero accettate: perché sono molti i beni conosciuti da uno prudente, i quali non hanno in sé ragioni evidenti da poterli persuadere a altrui. Però gli uomini savi che vogliono tòrre questa difficultà ricorrono a Dio‘ (D I 11).⁴⁶³ Auch hier muss man zwischen den Zeilen lesen. Denn Machiavelli setzt die Möglichkeit der Einsicht in das Gute zwar voraus, weiß jedoch zugleich, dass es um seiner selbst willen keine hinreichende Überzeugungskraft gegenüber den weniger Verständigen entfaltet. Erst die Berufung auf Gott bietet daher aus seiner Sicht die nötige Legitimation, um die schlichteren Gemüter ruhig zu stellen. So hochmütig dies auch klingt, sollte man jedoch nicht vergessen, dass Machiavelli voraussetzt, dass die mit einer religiösen Fundierung versehenen Gesetze aus anderen Gründen vorzugswürdig sind, die schwerer erweislich oder gar nicht beweisbar sind oder sich zumindest einer breiten Öffentlichkeit kaum nahebringen lassen.
II. Gerechtigkeit und Frieden Selbst wenn also die Beweisführung und Überzeugung leichtgläubiger Seelen im Wege manipulativer Machenschaften arglistig und zynisch erscheint, wird man ihr aus Machiavellis Sicht nur gerecht, wenn man zugleich diejenigen Prämissen herausstellt, die ein Gemeinwesen beschreiben, wie es sein sollte, aber nun einmal nicht ist.
1. Recht auf Meinungsfreiheit in den Grenzen der Achtung der Religion Anders als im P r i n c i p e ,⁴⁶⁴ wo er zumeist, wenn auch nicht immer (P XVIII), kategorisch postuliert,⁴⁶⁵ begegnet in den D i s c o r s i die hypothetische Annah-
G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 26, hat den Ursprung dieses für die Gesetzgebung zentralen Gedankens herausgearbeitet: „Schon in seinen Ansichten von der Entstehung der Religion schließt er sich offenbar an Polybius an. Es hat niemals, sagt Machiavelli, einen Stifter ausserordentlicher Gesetze unter einem Volke gegeben, der nicht auf Gott zurückgegangen wäre, weil sie auf eine andre Weise nicht angenommen worden wären; denn es gibt viele gute Dinge, die ein Kluger erkennt, die aber keine so augenscheinlichen Gründe für sich haben, dass er andere davon überzeugen könnte. Darum nehmen weise Männer, die diese Schwierigkeit heben wollen, zu Gott ihre Zuflucht, z. B. Lykurg und Solon“. A. H. Gilbert, Machiavelli’s Prince and its Forerunners. The Prince as a Typical Book de Regimine Principum, 1938, ordnet den Principe in die Fürstenspiegelliteratur ein. Er steht damit zwar in der Tradition des Genres, wie es im Altertum von Seneca, De clementia (D. Timpe, Claudius und
136
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
me.⁴⁶⁶ Da nun aber die Welt einmal ist wie sie ist, besteht keine tatsächliche oder rechtliche Gleichheit, sondern eine Rangordnung, die bestenfalls zu einer friedlichen Koexistenz der unterschiedlichen Parteiungen führen kann. Das über allem stehende Ziel ist die Aufrechterhaltung von Frieden und Gerechtigkeit, der nicht zu unterschätzende unscheinbarere Zweck die Gewährleistung von Meinungsfreiheit trotz ständischer Unterschiede. Gerade mit ihrer an Ovids Metamorphosen erinnernden Vision eines ‚aurea aetas‘ (D I 10)⁴⁶⁷ zeigt sich der die Renaissance bestimmende Gedanke einer Wiedergeburt der Antike, der freilich mit einer spezifisch neuzeitlichen Perspektive zaghaft aufkommender Meinungsfreiheit einhergeht. Zu ihr gehört eben auch, dass mittelalterliches Denken in Religionsfragen überwunden wird, die heilbringende Wirkung einer bestimmten Glaubenslehre in den Hintergrund tritt,⁴⁶⁸ jedoch nicht ohne die dahinterstehende religiöse Gesinnung des die kaiserliche Rolle, in: Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41– 54 n.Chr.). Umbruch oder Episode? 1994, Hg. V. M. Strocka, S. 35– 40) und im Mittelalter maßgeblich von Th. v. Aquin, De regimine principum geprägt wurde, setzt sich jedoch in seinem ungeschminkten Realismus und seiner Diesseitigkeit zugleich deutlich davon ab; vgl. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 92 f.: „Machiavellis Principe setzt sich in einen ausdrücklichen Gegensatz zur gesamten Tradition der Fürstenspiegelliteratur. Er verabschiedet den ethischen Normativismus aus der Betrachtung politischer Fragen und führt einen von allen Wertbindungen gelösten politischen Realismus und Pragmatismus in die politische Literatur ein.“ Dieser fundamentale Unterschied muss berücksichtigt werden, wenn im Text im Folgenden gelegentlich vom Principe als Fürstenspiegel gesprochen wird. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 25 f., wonach „die Notwendigkeit, über die Machiavelli schreibt, keine hypothetische ist. Er sagt nicht ‚wenn Du die Macht behalten willst, wirst Du Dich in einer Weise verhalten müssen, die unmoralisch ist‘, dabei unterstellend, dass letzteres unannehmbar ist und man daher das Streben nach Macht aufgeben sollte. Der ganze Tenor des Buches (…) weisen in die entgegengesetzte Richtung: Machiavelli denkt, dass ein intelligenter Machthaber berechtigt ist, sogar moralisch verpflichtet ist, auf Güte zu verzichten. Die Notwendigkeit, von der er spricht, ist von deontischer Art.“ Hervorhebung nur hier. Zur vereinzelten Möglichkeit einer hypothetischen im Principe J. Petersen, Fichtes Versuch Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. Ovid, Metamorphoses 1, 89 f.: ‘aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo‘. Dazu näher J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 166; zu rechtlichen Fragen ders., Recht vor Gnade in Ovids Tristia, Gedächtnisschrift für H. Unberath, 2015, S. 351; grundlegend V. Hösle, Ovids Enzyklopädie der Liebe, 2020. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 247, belegt damit die treffende Beobachtung: „Indem Machiavelli die Transzendenz aus der Geschichte und der Politik verdrängt, enthebt er sich nicht nur des Problems der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts der Leiden der Menschen in der Welt und der Geschichte, das die mittelalterliche Geschichtsschreibung weitgehend beherrscht hat, sondern weist auch alle transzendent-normativen Forderungen an die politische Ordnung zurück“.
II. Gerechtigkeit und Frieden
137
Volkes zu vereinnahmen und ein Surrogat für die abhanden gekommene Religion zu schaffen: „Wo Gottesfurcht fehlt, muss ein Reich in Verfall geraten, es müsste denn sein, dass es durch die Furcht vor einem Machthaber zusammengehalten wird, der die fehlende Religion ersetzt.“⁴⁶⁹ – ‚Perché, dove manca il timore di Dio, conviene o che quel regno rovini o che sia sostenuto dal timore d’uno principe che sopperisca a’ difetti della religione‘ (D I 11).
2. Generalpräventiv ausgerichtete Gesetzgebung Auch diese Überwindung einer kirchlichen Vorrangstellung zugunsten weltlicher Herrscher, die gleichzeitig menschliche Leichtgläubigkeit in Rechnung stellt, entnimmt er dem pragmatisch ausgerichteten Denken römischer Schriftsteller, das er leitsatzartig beschreibt: „Die Römer legten die Auspizien nach dem Gebot der Umstände aus und gaben sich mit Klugheit den Anschein, als beachteten sie die Gebote der Religion, wenn sie dieselben notgedrungen auch nicht beachteten. Wenn aber jemand frevelhafterweise die Religion verächtlich machte, so bestraften sie ihn.“⁴⁷⁰ – ‚I Romani interpretavano gli auspizi secondo la necessità, e con la prudenza mostravano di osservare la religione, quando forzati non la osservavano; e se alcuno temerariamente la dispregiava, punivano‘ (D I 14). Auch hier ist das italienische Original mit der Begründung durch die ‚necessità‘ entschiedener. Die Bestrafung gilt also weniger der Geringschätzung des religiösen Bekenntnisses als solchem, als vielmehr der Zersetzung einer einheitsstiftenden Instanz, die ihrerseits eine Scheu der Leichtgläubigen erzeugte, die in Gefahr geriete, wenn der sie begründende Glaube entfiele. Es ist somit eine generalpräventiv ausgerichtete Bestrafung, die nicht der Besserung des Täters, sondern der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens dient. Man würde es sich daher zu einfach machen, wenn man Machiavellis anmutende Indienstnahme der Religion schlicht als amoralisch und zynisch bezeichnen würde.⁴⁷¹ Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 45. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 53. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, 24, hat dies am deutlichsten herausgearbeitet, wonach „Machiavelli wie Mandeville (…) ihr Unbehagen hinter Zynismus verbargen. Aber es wäre falsch, ihre moralische Ernsthaftigkeit zu übersehen: Sie fordern die Menschen nicht dazu auf, sich in einem Verhalten, das die meisten noch als abstoßend betrachten, einfach deshalb zu betätigen, weil dies ihren individuellen Vorteil vergrößere; ihr Argument transzendiert politische Interessen und richtet sich auf das Gemeinwohl. Das macht ihren Standpunkt zu einem ethischen, trotz des Sarkasmus, den sie gelegentlich zeigen (…).“ Hervorhebungen nur hier. Ähnlich J. Petersen, Fichtes Versuch,
138
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
3. Herrschsucht der Mächtigen und Freiheitsbedürfnis des Volkes Machiavelli war insofern Sohn seiner Zeit, als er in einem zerrissenen und in den Fundamenten erschütterten Gemeinwesen inmitten von Parteiungen und blutrünstig ausgefochtenen Kämpfen Stabilität suchte. Diese fand er paradoxerweise in der menschlichen Schwäche und Leichtgläubigkeit Vieler ebenso wie in der zu bändigenden Herrschsucht Einzelner. Die scheinbar menschenverachtende Kalkulation, die er aufgrund dessen aus Sicht des Machthabers zur Vermehrung seines Einflusses anstellt,⁴⁷² darf jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, dass er Despoten verachtet und eine auf Frieden und Gerechtigkeit gründende Gesellschaftsordnung entschieden bevorzugt (IF II 15). Der Grundkonflikt innerhalb der Republiken liegt für ihn in der Aporie zwischen Herrschsucht der Mächtigen und dem Freiheitswillen des unterjochten Volkes, wie er im dritten Buch seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z einleitend zu bedenken gibt: „Die heftige natürliche Feindschaft zwischen Volk und Adel, deren Grund darin liegt, dass dieser befehlen, jenes nicht gehorchen will, ist Ursache aller Übel, die in den Städten entstehen. Aus diesen widerstrebenden Leidenschaften zieht alles andere, was die Republiken erschüttert, seine Nahrung.“⁴⁷³ – ‚Le gravi e naturali nimicizie che sono intra gli uomini popolari e i nobili, causate da il volere questi comandare e quegli non ubbidire, sono cagione di tutti i mali che nascano nelle città; perché da questa diversità di umori tutte l’altre cose che perturbano le republiche prendono il nutrimento loro‘ (IF III 1). Auch diese Einsicht klingt auf den ersten Blick trivial, ist aber sehr viel tiefsinniger, als es den Anschein hat, weil damit letztlich ein unauflösliches Dilemma festgestellt wird, dem letztlich selbst der Verfasser ratlos gegenüberstand (IF II 12).⁴⁷⁴
Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. Siehe auch H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 266: „Gleichwohl ist Machiavelli bei der zynischen Konstatierung der Repressionsfunktionen des Staates und seinen eigenen diesbezüglichen Handlungsanweisungen nicht stehengeblieben; durch die Hypothese der permanenten Korruptibilität des Menschen wird die aus dem Vernunftkalkül gewonnene absolute Norm der Selbsterhaltung des Staates um jeden Preis und mit allen Mitteln moralisch unterbaut“. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 876. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 150. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 247, diagnostiziert in diesem entscheidenden Punkt ein Scheitern, das bis zur Gesetzgebung reicht: „Machiavelli gelingt es nicht, Erziehung, gute Sitten und Religion als Ausdruck eines politischen Bewußtseins darzustellen, das
II. Gerechtigkeit und Frieden
139
4. Zufallsbedingte Formierung der Gesellschaftsordnung Machiavelli verschließt jedoch nicht die Augen davor, dass gerade Völker, die unter Despoten zu leiden hatten, keinerlei Erfahrung im Umgang mit der Freiheit haben: „Denn ein solches Volk ist in der gleichen Lage wie ein Raubtier, das zwar von Natur wild und ungebändigt, aber immer im Käfig und unter der Peitsche gehalten, durch einen Zufall ins Freie gelassen wird.“⁴⁷⁵ – ‚Perché quel popolo è non altrimenti che un animale bruto, il quale, ancora che di natura feroce e silvestre, sia stato nutrito sempre in carcere ed in servitú, che dipoi lasciato a sorte in una campagna libero‘ (D I 16). Wiederum ist es der Gesichtspunkt des Zufalls, aus dem heraus sich neue Gesellschaftsordnungen formieren. Nicht anders als weiter oben vergleicht er die Menschen mit wilden Tieren (D I 2). Jede Idealisierung der Menschennatur, jedes Freiheitspathos ist ihm fremd. Vielmehr fehlt dem Volk in Machiavellis Vorstellung anfangs sogar jegliche Befähigung zur Freiheit: „Dasselbe widerfährt einem Volk, das unter der Herrschaft anderer zu leben gewohnt ist; es weiß weder Verteidigung noch Angriff richtig zu beurteilen, es kennt die Gewalt aber nicht und wird von diesen nicht gekannt und gerät daher bald wieder unter ein Joch, das meist drückender ist als das, welches es vor Kurzem abgeschüttelt hat.⁴⁷⁶ Es kommt in diese Schwierigkeit, auch wenn es noch nicht ganz verderbt ist. Ein Volk aber, dem völlige Sittenverderbnis eingerissen ist, vermag nicht einmal kurze Zeit, ja keinen Augenblick in Freiheit zu leben.“⁴⁷⁷ – ‚Questo medesimo interviene a uno popolo, il quale sendo uso a vivere sotto i governi d’altri, non sappiendo ragionare né delle difese o offese publiche, non conoscendo i principi né essendo conosciuto da loro, ritorna presto sotto uno giogo il quale il piú delle volte è piú grave che quello che poco innanzi si aveva levato d’in sul collo; e trovasi in queste difficultà, quantunque che la materia non sia corrotta. Perché un popolo dove in tutto è entrata la corruzione, non può non
die Antinomie, den Bruch zwischen Regierenden und Regierten, zwischen den ‚Ersten der Stadt‘ und den Untertanen in sich aufhebt. Sein Volk setzt sich immer aus Untertanen zusammen, die, obwohl sie von den Einrichtungen und Gesetzen des Staates geleitet werden, deshalb nicht weniger passiv und unfähig zu selbständiger politischer Entscheidung sind, wenn auch ihre Leidenschaften in diesen Einrichtungen und Gesetzen eine geeignete und ‚gesetzlich fundierte Auslaßmöglichkeit‘ gefunden haben. Über den Gesetzen, staatlichen Institutionen, der guten Erziehung und Sittsamkeit, ja selbst der Religion, steht immer die Hand derer, die diese Ordnung von allem Anfang an geschaffen und nun darauf zu achten haben, daß sie der Zerstörung und dem Verfall entgeht und daß durch die Entstehung von neuen Unruhen nicht die alten Strukturen des Staates zerstört werden“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 57. Auch das entspricht wohl einer taciteischen Einsicht; vgl. Tacitus, Historiae, 4, 42, 6: ,optimus est post malum principem dies primusʻ. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 57.
140
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
che piccol tempo ma punto vivere libero‘ (D I 16). Dass er hier und an anderen Stellen vom Volk und nicht vom Einzelnen ausgeht, kann man gewiss nicht als Ausdruck eines methodologischen Holismus avant la lettre auffassen.⁴⁷⁸ Vielmehr folgt Machiavelli auch hier antiken Quellen. Wichtiger ist seine Bezugnahme auf das mangelnde Wissen und die Kenntnis des jeweiligen Volkes um die jeweiligen Gegebenheiten und Verteidigungsmöglichkeiten. Denn dieser Gesichtspunkt der Maßgeblichkeit des Wissens bzw. der Wissensteilung wurde schon an früherer Stelle bei ihm beobachtet.⁴⁷⁹
5. Einrichtung gesetzlicher Institutionen als Sicherheitsgarantie Von daher versteht sich, wie viel Machiavelli der Einrichtung gesetzlicher Institutionen zuspricht, die jederzeitige Anklagemöglichkeiten von Gewalthabern bereitstellen (D I 7). Denn solche Gesetze vermitteln aus sich selbst heraus eine gewisse Kenntnis, auch wenn die Rechtsunterworfenen sie vielleicht im Einzelfall ohne rechtlichen Beistand nicht zu nutzen wissen. Machiavelli schert das Volk aber nicht über einen Kamm. Er weiß, „dass nur ein kleiner Teil des Volkes frei zu sein wünscht, um zu herrschen. Die überwiegende Mehrzahl wünscht die Freiheit nur, um sicher leben zu können.“⁴⁸⁰ – ‚che una piccola parte di loro desidera di essere libera per comandare; ma tutti gli altri, che sono infiniti, desiderano la libertà per vivere sicuri‘ (D I 16).⁴⁸¹ Interessant daran ist, dass er die Herrschsucht nicht als omnipräsente anthropologische Konstante erachtet, sondern davon ausgeht, dass Dazu J. Petersen, Zivilrechtsdogmatik und methodischer Individualismus am Beispiel Rudolf von Jherings, Festschrift für C.-W. Canaris, 2017, S. 87. Dass Jherings Theorie des Kampfes um das Recht von ihrer Grundidee her in Machiavellis Ausführungen zu den Standeskämpfen zwischen Patriziern und Plebejern, infolge derer sich das römische Recht zum Nutzen und langwierigen Fortbestand ausdifferenzierte, einen einflussreichen Vorläufer haben könnte, ist wohl bisher noch nicht gesehen worden und wird weiter unten im Rahmen der Behandlung des römischen Agrargesetzes nochmals im systematischen Zusammenhang ausgeführt. Machiavelli, Instruktion für Raffaello Girolami, Gesandten bei Karl V., 1522, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 247, 249 (= Memoriale a Raffaello Girolami, quando ai 23 d’ottobre partì per Spagna all’imperatore, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 729, 730). Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 60. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 60, entnimmt den zuletzt zitierten Kapiteln D I 7/12 noch weitere Beobachtungen, für die jeweils das Versagen der Gesetze und Einrichtung die verbindende Klammer darstellen: “Republics are usually ruined because the grandi empower a prince to help them dominate the people when laws and institutions are no longer at least partially sufficient to this end (D I.16). Or, they are ruined because the people enlist a prince to protect them from the grandi when laws and institutions no longer do so”.
II. Gerechtigkeit und Frieden
141
die meisten nicht mehr begehren als ihre Ruhe. Darin unterscheidet er sich von Tacitus, dem er sonst im Hinblick auf die Beurteilung menschlicher Leidenschaften durchaus ähnlich ist.⁴⁸² Machiavellis Blick ist in dieser Hinsicht entschieden neuzeitlich ausgerichtet, weil er auch die vitalen Interessen der mengenmäßig größeren Zahl der Rechtsunterworfenen sieht. Er setzt voraus, dass das Gebot des neminem laedere zwar eine Mindestbedingung gedeihlichen Zusammenlebens festsetzt, seine Einhaltung jedoch nicht weiter verpflichtend wirkt: „Überdies wird der allgemeine Vorteil, den man von einer freien Verfassung hat, nämlich dass man frei und ohne Sorgen sein Eigentum genießen kann, dass man nicht für die Ehre seiner Frau und seiner Kinder zu bangen und nicht für seine eigene Person zu fürchten braucht, von niemand anerkannt, solange man ihn genießt; denn nie wird sich jemand einem anderen verpflichtet fühlen, nur weil er ihm nichts zuleide tut. Aus all diesen Gründen wird ein neu entstandener Freistaat im inneren nur Feinde und nie Freunde haben.“⁴⁸³ – ‚Oltre a di questo, quella comune utilità che del vivere libero si trae, non è da alcuno, mentre che ella si possiede conosciuta; la quale è di potere godere liberamente le cose sue sanza alcuno sospetto, non dubitare dell’onore delle donne, di quel de’ figliuoli, non temere di sé; perché nessuno confesserà mai avere obligo con uno che non l’offenda. Però, come di sopra si dice, viene ad avere lo stato libero e che di nuovo surge, partigiani inimici e non partigiani amici‘ (D I 16). Hat ein Herrscher dies verinnerlicht, so kann er mit sparsamen Mitteln für Ruhe und Ordnung sorgen, Sicherheit gewährleisten und außerdem die eigene Macht stabilisieren; immer vorausgesetzt freilich, dass er sich selbst den Gesetzen unterordnet und ihnen den gebührenden Gehorsam entgegenbringt:⁴⁸⁴ „Alle übrigen, denen es genügt, in Sicherheit zu leben, werden leicht zufrieden gestellt, wenn man
Tacitus, Historiae, 2, 38, 1: ,vetus ac iam pridem insita mortalibus potentiae cupidoʻ. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 58. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 248 f., macht allerdings am Beispiel von D I 11 auf ein generelles Dilemma aufmerksam, das hier erwähnt sei, um den im Text womöglich erweckten Eindruck der Reibungslosigkeit und Stimmigkeit nicht einseitig erscheinen zu lassen: „Machiavelli hat einerseits zweifellos verstanden, daß der Staat nicht allein von der außerordentlichen Virtu eines einzelnen abhängen kann, sondern daß er auch ein ganzes Gebilde von Organismen bedingt, in denen alle im Staat sich regenden und reifenden Kräfte und Erfordernisse ihren Ausdruck finden, aber es gelingt ihm andererseits nicht zu begreifen, daß dieses Gebilde von Organismen seinerseits nicht von außen überwacht und geleitet werden kann, ohne daß nicht wieder die gleichen Schwierigkeiten auftauchen, die überwunden werden sollten. Machiavelli hat das Problem erkannt; dennoch ist es ihm nicht gelungen herauszufinden, wo der schwache Punkt in seiner Auffassung lag und in welche Richtung sich seine kritische Untersuchung der geschichtlichen Situation Italiens letztlich bewegte“.
142
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Einrichtungen schafft und Gesetze gibt, die zusammen mit der eigenen Macht die allgemeine Sicherheit erhalten.Wenn ein Machthaber so handelt und das Volk auch sieht, dass er bei keiner Gelegenheit die Gesetze bricht, so wird es in kurzer Zeit beginnen sich sicher und zufrieden zu fühlen.“⁴⁸⁵ – ‚Quelli altri ai quali basta vivere sicuri, si sodisfanno facilmente faccendo ordini e leggi dove insieme con la potenza sua si comprenda la sicurtà universale. E quando uno principe faccia questo, e che il popolo vegga che per accidente nessuno ei non rompa tali leggi, comincerà in breve tempo a vivere sicuro e contento‘ (D I 16).
6. Bindung des Herrschers an die Gesetze Allerdings ist diese zuletzt genannte Bedingung der Sichtbarkeit des Gesetzesgehorsams des Herrschers in der Praxis außerordentlich bedeutsam, weil dabei Machiavelli bei aller mitunter aufleuchtender Geringschätzung des Volkes niemals außer Acht lässt, dass eine Regierung gegen das Volk keine längerfristige Aussicht auf gedeihliches Fortbestehen hat:⁴⁸⁶ „Das beste Mittel, das es für einen Machthaber gibt, ist daher zu versuchen, sich das Volk zum Freund zu machen.“⁴⁸⁷ – ‚Talché il maggiore rimedio che ci abbia, è cercare di farsi il popolo amico‘ (D I 16). Die komplementäre Einsicht in ihrer negatorischen Ausprägung findet sich nicht von ungefähr im Zusammenhang mit der Bindung der französischen Könige an die Gesetze (D I 58). Wie wichtig sie Machiavelli ist, zeigt sich an der Wiederholung seiner Worte sowie dem einschärfenden Duktus der Sprache, der an die Adresse des P r i n c i p e gerichtet ist: „Ich fasse also nochmals zusammen, daß ein Herrscher die Großen achten muß, sich aber keinesfalls beim Volk verhasst machen darf.“⁴⁸⁸ – ‚E di nuovo concludo che uno principe debbe stimare e’ grandi, ma non si fare odiare dal populo‘ (P XIX).
a) Herstellung des Gleichgewichts Wie schwer das Gleichgewicht herzustellen ist, lehrte Machiavelli die florentinische Geschichte mit ihren wechselnden Verfassungen, im Rahmen derer durchaus nicht
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 60. Es entspricht cum grano salis der taciteischen Geringschätzung der plebs und der Wertschätzung des populus Romanus (dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 240), wobei freilich Machiavelli die Kraft der öffentlichen Meinung als Ausprägung seines neuzeitlich ausgerichteten Denkens klarer erkennt. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 59. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 78.
II. Gerechtigkeit und Frieden
143
immer die Großen obsiegten,⁴⁸⁹ sondern diese zeitweise sogar gezielt benachteiligt wurden.⁴⁹⁰ In diesem Zusammenhang muss man eine spätere Stelle der D i s c o r s i in Betracht ziehen, an der Machiavelli die Parteiungen zwischen Volk und Adel mit ihren widerstreitenden Interessen behandelt, deren Missachtung unweigerlich zur Despotie führen würde. Gewaltherrschaften sind demnach zumeist begründet „in dem übermäßigen Verlangen des Volks nach Freiheit und dem übermäßigen Verlangen des Adels nach Herrschaft. Wenn man sich nun über ein Gesetz zugunsten der Freiheit nicht einigen kann, aber eine der beiden Parteien darauf verfällt, eine Persönlichkeit herauszustellen, dann ist sofort die Gewaltherrschaft da.“⁴⁹¹ – ‚E questo è da troppo desiderio del popolo d’essere libero, e da troppo desiderio de’ nobili di comandare. E quando e’ non convengano a fare una legge in favore della libertà, ma gettasi qualcuna delle parti a favorire uno, allora è che subito la tirannide surge‘ (D I 40). Wiederum stehen die Herrschsucht der Mächtigen und das Freiheitsbedürfnis des Volkes einander unvereinbar gegenüber.
b) Praktische Konkordanz Die Gefahr einer Gewaltherrschaft steht also als allgegenwärtiges Übel im Hintergrund jeglicher Zwistigkeit und kann nur im Wege der Herstellung praktischer Konkordanz gebändigt werden,⁴⁹² indem niemals auf den Ausweg verfallen wird, das Heil der einen oder anderen Partei in der Wahl einer einzelnen Person zu sehen, die dann unweigerlich alle Macht an sich reißen würde. Selbst in Monarchien, denen Machiavelli ungeachtet seiner in den D i s c o r s i allenthalben aufschei-
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 231, verdeutlicht die Richtungswechsel anhand der Gesetzgebung, die auf diese Weise zum Beschränkungs- und Lenkungsinstrument der jeweils obsiegenden Partei wird, ohne welche die Brutalität wieder auflebt: „Obwohl nämlich die ‚Stimmungsrichtungen‘ des ‚Volkes‘ und der ‚Großen‘ in den Gesetzen und Einrichtungen gelenkt und in Schranken gezwungen sind, bleiben sie dennoch immer bereit wieder in ihre barbarische Gewalttätigkeit zu verfallen, sobald diese Gesetze und Einrichtungen ihre ursprüngliche Plastizität verloren haben und nicht mehr imstande sind, ihnen zu entsprechen“. R. Davidsohn, Geschichte von Florenz, Band II: Guelfen und Ghibellinen, 1908, S. 507, bemerkt etwa zur Verfassung von 1293 eine Neigung zu Willkür und Diskriminierung im Rahmen einer nicht unabhängigen Rechtsprechung: „Es wurde den Richtern die Weisung erteilt, nicht etwa nach Recht und Gewissen ihre Sprüche zu fällen, sondern ‚hauptsächlich zugunsten derer vom Volk und der schwachen Leute gegen die Magnaten‘“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 113. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1999, Randnummer 72, hat den Begriff der praktischen Konkordanz geprägt, der hier hilfsweise zu Rate gezogen werden soll, um die Herausforderungen anzudeuten.
144
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
nenden Vorliebe für die Republik zumindest keine prinzipielle Absage erteilt,⁴⁹³ ist der Gehorsam des Monarchen gegenüber den Gesetzen eine unabdingbare Voraussetzung, die nur unter deren prinzipieller Geltung Raum für bestimmte Einzelbefugnisse lässt, mögen diese auch für die Regierung praktisch besonders wichtig sein, weil sie militärische oder fiskalische Befugnisse betreffen: „Einen Beweis hierfür bietet das Königreich Frankreich, in dem nur deshalb Sicherheit herrscht, weil seine Könige an zahllose Gesetze gebunden sind, die die Sicherheit aller ihrer Völker zum Inhalt haben. Der Gesetzgeber dieses Staats wollte, dass seine Könige über das Kriegswesen und die Finanzen frei verfügen, in allem übrigen aber nur entsprechend den Gesetzen handeln können.“⁴⁹⁴ – ‚In esemplo ci è il regno di Francia, il quale non vive sicuro per altro che per essersi quelli re obligati a infinite leggi, nelle quali si comprende la sicurtà di tutti i suoi popoli. E chi ordinò quello stato volle che quelli re, dell’armi e del danaio facessero a loro modo, ma che d’ogni altra cosa non ne potessono altrimenti disporre che le leggi si ordinassero‘ (D I 16). Auch an späterer Stelle nennt Machiavelli die Rechtslage in Frankreich beispielhaft (D I 58).⁴⁹⁵
7. Gerechtigkeitsgefühl des Volkes und Kraft der öffentlichen Meinung In diesem Zusammenhang ist übrigens auch Machiavellis auf den ersten Blick überraschende, bei näherem Hinsehen aber begreifliche Prämisse zu verstehen, dass „das Volk weiser und beständiger ist als ein Alleinherrscher.“⁴⁹⁶ – ‚La moltitudine è piú savia e piú costante che uno principe‘ (D I 58). Denn an dieser Stelle, die Machiavelli wohl nicht von ungefähr einem zentralen Kapitel des ersten Buchs seiner D i s c o r s i vorangestellt hat, zeigt sich die zentrale Bedeutung des Wissens für Machiavelli. Hier kommt der Gedanke einer Wissenszusammenrechnung zum Vorschein, wonach in der Gesamtheit des Volkes so viele Kenntnisse und Erfahrungen zusammenfließen, dass es als Menge ungeachtet aller unkoordinierten oder unreflektierten Stimmungen einem noch so gut – aber eben oft auch selektiv –
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889 f., geht demgegenüber von einer kategorischen Ablehnung von Monarchien in den Discorsi aus. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 60. Machiavelli, Politischer Zustand Frankreichs im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1510, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 186, veranschaulicht bereits eine besondere Vertrautheit mit den französischen Verhältnissen, behandelt aber den Gesetzesgehorsam der Könige nicht. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 148.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
145
informierten Alleinherrscher überlegen ist. Dahinter steht die Einsicht, dass das Volk in seiner Gesamtheit von Individuen schlicht mehr weiß, also mehr Wissen auf sich vereinigt, als eine einzelne, sei es auch von vielen Wissenzuträgern beratene Person. Dieser Gedanke, der in der späteren Geistes- und Wirtschaftsgeschichte eine eminente Bedeutung erlangt hat, wenn man nur an Adam Smith denkt,⁴⁹⁷ kann als weitere geistesgeschichtliche Errungenschaft Machiavellis gelten. Er hat die Kraft der öffentlichen Meinung erkannt, gegen die schwerlich zu regieren ist (D I 16). Und auch wenn er mitunter herablassend vom leichtgläubigen und ebenso leicht zu beeinflussenden Volk spricht (D I 12), darf man nicht übersehen, dass er das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes für einen beachtlichen Maßstab hält. Denn anders ist es nicht zu erklären, warum er die Bindung des Herrschers an die Gesetze so hoch veranschlagt, dass jeder Exzess in den Augen des Volkes verheerende Folgen für seine Autorität hat (D I 16). Obwohl Machiavelli die Gewaltherrschaft von Grund auf ablehnt, steht er einer Einzelherrschaft, wenngleich er die Staatsform der Republik favorisiert, zumindest nicht kategorisch ablehnend gegenüber, sofern damit eine umsichtige Gesetzgebung und Rückbesinnung auf das Gemeinwohl verbunden ist.⁴⁹⁸
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit Der Ehrgeiz des Menschen ist aus Machiavellis Sicht buchstäblich grenzenlos: „Denn der menschliche Ehrgeiz hat keine Grenze.“⁴⁹⁹ – ‚Perché gli uomini non hanno termini nella ambizione loro‘ (IF V 14).⁵⁰⁰ Es gehört zu seinen unverbrüchlichen Grundanschauungen, dass es im Hinblick auf die Erlangung einer Vorrangstellung gegenüber den anderen keine gleichwie geartete Sättigung gibt.
Eingehend J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, passim. Ebenso verhält es sich bei von Hayek; dazu J. Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 132: „In einer Epoche des Verfalls republikanischer Tugenden kann ein autokratischer Fürst erforderlich werden, und nur für eine solche Situation, welche, wie sie Machiavelli im Italien des frühen 16. Jahrhunderts realisiert sieht, haben die Lehren des Principe ihre Gültigkeit.“ Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 295. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 152, fasst Machiavellis Anschauung lakonisch zusammen: „Ehrgeiz bringt immer Nachteile“.
146
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
1. Grenzenloser Ehrgeiz als anthropologische Konstante Dieser Ehrgeiz wirkt sich also auch im vorliegenden Zusammenhang aus, steht allerdings unter der bedeutsamen Bedingung, dass gerade keine Erbmonarchie angestrebt wird, weil es keine Gewähr dafür gibt, dass sich die Weisheit des Gesetzgebers vererbt: „Er muss jedoch so klug und charaktervoll sein, dass er die unumschränkte Macht, die er an sich gerissen hat, nicht auf einen anderen vererbt. Da die Menschen mehr zum Bösen als zum Guten neigen, könnte sein Nachfolger die Macht, die dieser zum Guten gebraucht hat, zu ehrgeizigen Zwecken mißbrauchen.“⁵⁰¹ – ‚Debbe bene in tanto essere prudente e virtuoso, che quella autorità che si ha presa non la lasci ereditaria a un altro; perché sendo gli uomini piú proni al male che al bene, potrebbe il suo successore usare ambiziosamente quello che virtuosamente da lui fusse stato usato‘ (D I 9). Die Möglichkeitsform, in der er dies ausspricht, kann nicht verhehlen, dass Machiavelli diesen Gang der Dinge aufgrund seiner ausgeprägten Deszendenzvorstellung als den ganz überwiegend wahrscheinlichen erachtet. Auch diese Lehre, die wiederum den grenzenlosen Ehrgeiz als anthropologische Konstante voraussetzt, verdankt er dem julisch-claudischen Kaiserhaus und seinen Auswüchsen, die erst durch das Adoptivkaisertum eine gewisse Beschränkung bekommen hat, weil damit zumindest Raum für die Bestenauslese war.⁵⁰² Wegen der dominanten negativen Eigenschaften des Menschen an sich, entfalten die ausnahmsweise guten Verhaltensweisen keinen zureichenden Sukzessionsschutz und laufen Gefahr, tendenziell rezessiv zu werden. Der Gesetzgeber ist für Machiavelli also durchaus ein Individuum und nicht notwendigerweise eine Körperschaft, weil und sofern er alle Weisheit auf sich vereinigt, wie er es etwa bei Lykurg als gegeben sieht, da dieser „den Spartanern durch seine Gesetze mehr Gleichheit des Besitzes als des Ranges gegeben hatte.“⁵⁰³ – ‚Perché Licurgo con le sue leggi fece in Sparta piú equalità di sustanze e meno equalità di grado‘ (D I 6).
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 37. Tacitus, Historiae, 1, 16. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 10, zeigt jedoch überzeugend, dass man vereinzelte Gesichtspunkte wie diesen nicht in Richtung einer elitären oder gar elitistischen Weise prinzipiell überhöhen sollte: “Exemplifying his profoundly anti-elitist political orientation, Machiavelli insists that there exist no few best men whose wisdom, prudence, or love of the common good can be counted upon to settle, with impartial justice, political controversies and crises”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 25.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
147
2. Ungleichheit als Nährboden für den Verlust der Freiheit Hiermit ist eine wichtige Bedingung gerechter Herrschaft und Gesetzgebung angesprochen. Denn Machiavelli erkennt, dass materielle Ungleichheit der ideale Nährboden für eine Verrohung der Sitten und Aushöhlung der Freiheit ist:⁵⁰⁴ „Denn Sittenverderbnis und Untauglichkeit zur Freiheit entsteht aus der Ungleichheit, die im Staat herrscht.“⁵⁰⁵ – ‚Perché tale corruzione e poca attitudine alla vita libera nasce da una inequalità che è in quela città‘ (D I 17).⁵⁰⁶ Im dritten Buch der D i s c o r s i wird er so weit gehen, die verordnete Armut innerhalb der Republik in Betracht zu ziehen (D III 25).
a) Gesetzesanpassung bei Verfestigung der Ungleichheit Im Hintergrund dürften auch hier die durch die grassierende Bestechungspraxis namentlich der Medici verrohten Sitten gestanden haben, die zu massiven Einflussnahmen Privater auf die öffentlichen Angelegenheiten führten,⁵⁰⁷ so dass alle
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 127 f., bringt auch das berühmte und nach dem Verfasser des Principe benannte Adjektiv auf anschauliche Weise mit seiner Geschichte von Florenz in Verbindung, indem er eine bereits weiter oben im Text behandelte Begebenheit (IF III 13) schildert, die im Hinblick auf das Angesprochene durchaus auch rechtliche Verbindungslinien aufweist, weil sie für das Verhältnis von Rechts- und Gütergleichheit aufschlussreich ist: “It is no accident, I believe, that the most shocking or the most ”Machiavellian” passage of the Florentine Histories is the speech addressed by a Florentine plebeian in the year 1378 to the Florentine plebs. The Florentine plebs had committed arson and robbery and was afraid of punishment; the plebeian leader of the plebs exhorts his audience to double the evils they had committed and to multiply the arson and the robberies, for small faults are punished while great and grave ones are rewarded; they should not be frightened by the ancient blood of their adversaries, for since all men had the same beginning, all men are of equally ancient blood or by nature all men are equal, and only poverty and wealth make them unequal; great wealth and great power are acquired only by fraud or by force; faithful men always serve and good men are always poor; they should not be frightened by their conscience, for where there is fear of hunger and prison there cannot be and ought not to be fear of hell; God and nature have so established it that the things which men desire can be acquired by evil acts rather than by good ones”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 63. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 132, fasst Machiavellis Vorstellung der Republik auch und gerade im Hinblick auf die Gesetze treffend zusammen: „Politisch, bürgerlich und frei ist das Leben in einer Republik, weil die Republik eine Herrschafts- und Lebensordnung ist, in der unparteiische, dem Gemeinwohl dienliche Gesetze für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen, die Ämter nach dem sittlichen Verdienst vergeben werden, in der weitgehende Gleichheit unter den Bürgern herrscht und alle Freiheit von Willkür und Gewalt genießen“. Grundlegend dazu J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 45 ff., der mit Recht im Ausgangspunkt die ökonomische Un-
148
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
wichtigen Positionen im Gemeinwesen, sei es auch formal eine Republik, über kurz oder lang ausschließlich von Gefolgsleuten besetzt wurden.⁵⁰⁸ Wenn aber die ungerechte Güterverteilung die Sitten einmal korrumpiert hat, so können selbst die besten Gesetze keine nachhaltige Abhilfe schaffen. Machiavelli hat dies auch in seiner D e n k s c h r i f t ü b e r d i e R e f o r m d e s S t a a t e s v o n F l o r e n z vorsichtigerweise am Beispiel Mailands herausgearbeitet:⁵⁰⁹ „Um in Mailand, wo eine große Ungleichheit der Bürger herrscht, eine Republik einzuführen, müßte man den ganzen Adel vernichten und ihn zur Gleichheit mit den anderen herabbringen; denn es gibt darunter so außerordentlich Mächtige, daß die Gesetze nicht hinreichen, sie im Zaume zu halten, sondern es bedarf dort einer lebendigen Stimme und einer königlichen Gewalt, sie zu bändigen.“⁵¹⁰ – ‚Perché, a voler creare una repubblica in Milano, dove è grande inequalità di cittadini, bisognerebbe spegnere tutta quella nobilità, e ridurla a una equalità con gli altri; perché tra di loro sono tanto estraordinarii, che le leggi non bastano a reprimerli, ma vi bisogna una voce viva et una potestà regia che li reprima.‘⁵¹¹ Wie man sieht, ist Machiavelli auch die hypothetische Einbeziehung revolutionärer Umstürze nicht fremd, wenn es darum geht, die Kräfteverhältnisse zu ordnen und die Machtgeometrie neu zu berechnen. Haben sich die Ungleichgewichte jedoch historisch derart verfestigt, so reichen die bestehenden Gesetze schwerlich aus und müssen entweder den Verhältnissen angepasst werden oder gegen alle gleichermaßen – also auch die mächtigen Adeligen – rückhaltlos angewendet werden.
gleichheit als sedes materie herausstellt und daraus richtigerweise Weichenstellungen ableitet, die auch für die (juristische) Geistesgeschichte bedeutsam sind: “Scholars have tended to underestimate the central role played by economic inequality in Machiavelli’s diagnosis of political corruption. Intellectual historians who emphasize Machiavelli’s purported fidelity to the traditions of Roman or Florentine ‚republicanism,‘ and political theorists whose ideological conservatism inclines them to neglect, dismiss, or distort the democratic character of Machiavelli’s political thought, both attribute Machiavelli’s critique of corruption in the Roman Republic to sources other than rising inequality.” – Aus diesem überzeugenden Ansatz mit seiner immanenten Kritik an herkömmlichen Strömungen könnte sich durchaus ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Beurteilung Machiavellis ergeben. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 345 f. und öfter. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 103, zur historischen Genese dieses Textes. Machiavelli, Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227, 234. Machiavelli, Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, 1519, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 733, 737 f.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
149
b) Sittenverbesserung durch rigorose Gesetzesanwendung Die einzige Möglichkeit der Abhilfe durch Gesetze besteht bei derart verdorbenen Sitten darin, dass die Gesetze so konsequent und ohne Ansehung der Person durchgesetzt werden, dass sich die heruntergekommenen Sitten infolge der Furcht vor der Gesetzesanwendung und Strenge des Gesetzgebers von selbst bessern: „Wo sie aber verdorben sind, nützen auch gute Gesetze nichts, ausgenommen, wenn sie von einem Mann ausgehen, der sie mit äußerster Strenge so lange anwendet, bis die Sitten wieder gut werden. Ob dies jedoch jemals geschehen ist oder überhaupt geschehen kann, weiß ich nicht.“⁵¹² – ‚Dove la è corrotta, le leggi bene ordinate non giovano, se già le non son mosse da uno che con una estrema forza le faccia osservare tanto che la materia diventi buona; il che non so se si è mai intervenuto o se fusse possibile ch’egli intervenisse‘ (D I 17). Dieses Eingeständnis ist bemerkenswert, weil sich dafür offenbar kein historischer Beleg finden lässt und aus Machiavellis Sicht daher die empirische Nachprüfbarkeit fehlt.⁵¹³ Dass aber die Ungleichheit die Sitten gefährdet und Umstürze begünstigt, dessen ist er sich gewiss, wie sich aus dem Gegenschluss ergibt: „Wo Gleichheit herrscht, ist es unmöglich, eine Alleinherrschaft aufzurichten, und wo sie fehlt, da ist es unmöglich, einen Freistaat einzuführen.“⁵¹⁴ – ‚E che dove è equalità non si può fare principato; e dove la non è non si può fare republica‘ (D I 55). Das Bestehen von Gleichheit oder Ungleichheit bestimmt also über die Regierungsform.
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 62. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 250, hat, wenn auch ohne Bezugnahme auf diese Stelle, aber immerhin mit Rücksicht auf die Gesetzgebung, einen einleuchtenden Grund für derartige Ausprägungen seines Denkens gefunden, die weitreichende Folgen für die Staatsorganisation und vorzugswürdige Herrschaftsform haben: „Machiavellis Naturalismus (…) stellt vielmehr eine spekulative Grenze – und die Folge einer solchen Grenze – dar, nämlich die Unfähigkeit, die innere Materie des Staates lebendig werden zu lassen, die lediglich als von der weisen Hand des Gesetzgebers abhängig dargestellt, zwangsläufig immer weiter absinken und verderben mußte. Der Naturalismus Machiavellis – und dies muß mit Nachdruck gegen alle schematischen Deutungen gesagt werden – ist also kein metaphysisches Schema, sondern entspringt der Begrenztheit seines historischen und kritischen Verständnisses. Wegen dieser Begrenztheit kann Machiavelli trotz seiner unzweifelhaften republikanischen Sympathien und seiner Theorie von der Überlegenheit der Republiken gegenüber den Monarchien nicht umhin, immer eher für die Autorität als für die Freiheit einzutreten“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 140.
150
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
c) Durchbrechung der Rechtsgleichheit Allerdings geht es Machiavelli, wie aus dem Folgenden zu ersehen ist, hier vor allem um ein Problem der Rechtsgleichheit, von der in der seinerzeitigen Praxis schwerlich die Rede sein konnte.⁵¹⁵ Rechtsgleichheit ist für ihn gleichwohl Bedingung der Republik und wirksames Gegenmittel einer Alleinherrschaft. Sie zeigt sich für Machiavelli jedoch – und hieran sieht man, dass die gerechte Güterverteilung im Hintergrund steht – eben auch an den Besitztümern, die gleichsam sichtbarer Ausweis der Gleichheit oder Ungleichheit sind: „Wer hingegen in einem Land, in dem große Gleichheit herrscht, ein Königreich oder eine Alleinherrschaft errichten will, wird nur zum Ziel kommen, wenn er eine Anzahl ehrgeiziger und unruhiger Köpfe aus der Masse der Gleichberechtigten herausstellt und sie zu Edelleuten macht, und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich, indem er sie mit Burgen und Besitzungen ausstattet und ihnen Vorrechte jeder Art einräumt.“⁵¹⁶ – ‚E che colui che dove è assai equalità vuole fare uno regno o uno principato, non lo potrà mai fare se non trae di quella equalità molti d’animo ambizioso ed inquieto, e quelli fra gentiluomini in fatto e non in nome, donando loro castella e possissioni e dando loro favore di sustanze e di uomini‘ (D I 55). Bestehende Gleichheit kann also gewaltsam aufgebrochen werden, indem ehrgeizigen Gewinnlern Sondervorteile für den Fall versprochen werden, dass ein Umsturz gelingt. Dieser Rat hätte wohl auch im P r i n c i p e einen würdigen Platz finden können, womit immerhin der werkimmanente Zusammenhang, jedoch leider nicht die Rechtsgleichheit als vordringliche Ausprägung der Gerechtigkeit, gewahrt wird.
3. Regionale Rechtschaffenheit nach Maßgabe handelspolitischer Präferenzen Während Machiavelli zuvor die Bindung der französischen Könige an das Recht zur Erreichung bestimmter Sonderbefugnisse im Hinblick auf das Militärwesen und die für den Florentiner besonders wichtigen Finanzen betont hat (D II 10),⁵¹⁷ gelten ihm bezüglich der allgemeinen Rechtschaffenheit die Deutschen als vorbildlich: „Diese Rechtschaffenheit ist in unserer Zeit umso mehr zu bewundern, als sie außeror-
A. Schmidt, Niccolò Machiavelli und die allgemeine Staatslehre der Gegenwart, 1907, S. 46, hat dies in anderem Zusammenhang herausgestellt. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 144. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 138, betont unter Verweis auf P XVI und D II 10 mit Recht insbesondere die Tugend der Sparsamkeit für das Verständnis Machiavellis, da sie „erforderlich sei, um die Finanzen des Staates gedeihen zu lassen, denen Machiavelli eine große (wenn auch nicht überragende) Bedeutung zuschreibt“.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
151
dentlich selten ist. Man findet sie eigentlich nur noch bei den Deutschen.“⁵¹⁸ – ‚La quale bontà è tanto piú da ammirare in questi tempi quanto ella è piú rada, anzi si vede essere rimasa solo in quella provincia‘ (D I 55).⁵¹⁹
a) Institutionen und Gesetze als Ausdruck der Gerechtigkeitsvorstellungen Auch hieran ist interessant, dass sich sein Urteil vor allem aus der Einschätzung der jeweiligen Gesinnung eines Volkes speist, also letztlich den an den Institutionen und Gesetzen ablesbaren Gerechtigkeitsvorstellungen der meisten Rechtsunterworfenen: „In Deutschland dagegen ist im Volk noch viel Rechtschaffenheit und Frömmigkeit zu finden. Deshalb gibt es dort auch viele freie Städte, die ihre Gesetze so gut beachten, dass weder ein äußerer noch ein innerer Feind etwas gegen ihre Unabhängigkeit zu unternehmen wagt.“⁵²⁰ – ‚Vedesi bene nella provincia della Magna questa bontà e questa religione ancora in quelli popoli essere grande; la quale fa che molte republiche vi vivono libere, ed in modo osservono le loro leggi che nessuno di fuori né di dentro ardisce occuparle‘ (D I 55). Auch hier darf man den Gesichtspunkt der Frömmigkeit mit seiner Bindung an religiöse Vorstellungen nicht übersehen, wie beispielhaft der Obersatz des zwölften Kapitels innerhalb des ersten Buches der D i s c o r s i zeigt:⁵²¹ „Von welcher Wichtigkeit es ist, die Religion zu
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 142. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 258, macht auf „ein idealisiertes Bild der (…) deutschen Reichsstädte“ aufmerksam. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 141. Wie idealisiert und wirklichkeitsfremd dies gerade für Machiavellis Verhältnisse ist, veranschaulicht eine anregende Überlegung von J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 906, im Hinblick auf den Bauernkrieg: „Im Vergleich zu jenem fortgeschrittenen städtisch-höfischen Ideal, das Machiavelli aus seinem Blickwinkel wahrnahm, scheinen die nach Mitteldeutschland, in die Schweiz und nach Österreich übergreifenden Ereignisse im deutschen Südwesten die Probleme einer gesellschaftlich und im Ganzen historisch rückständigen Landbevölkerung widerzuspiegeln. Machiavelli wollte den antiken Republikanismus in der frühen Moderne erneuern; aus seiner Sicht hätte es sich um eine Protestbewegung handeln können, die nicht auf der Höhe der Zeit ist, weil sie gegen andernorts längst überwundene Formen der Repression antritt“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 249 f., bemerkt in anderem Zusammenhang, was mutatis mutandis wohl auch hier gilt, zumal da er die Gesetzgebung sorgsam berücksichtigt: „Von der Auffassung der Religion als Förderin der Erziehung und der guten Sitten, als der inneren Substanz des Staatslebens, kommt man so erneut zur Auffassung der Religion als instrumentum regni; diese Stelle hat in der konkreten Situation dieser Seiten insofern Bedeutung, als in Machiavelli, der zwar die Notwendigkeit erkennt, eine rein individualistische Auffassung vom
152
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
erhalten, und wie Italien dies durch die Schuld der römischen Kirche versäumte und dadurch in Verfall geriet.“⁵²² – ‚Di quanta importanza sia tenere conto della Religione, e come la Italia, per esserne mancata mediante la Chiesa Romana, è rovinata‘ (D I 12). Machiavelli kontrastiert also durchaus bewusst die deutschen und italienischen Zustände, indem er letztere in erschreckender Weise darstellt, erstere hingegen wohl idealisiert, um seiner Feststellung Nachdruck zu verleihen (P X).
b) Landestypische Besonderheiten Allerdings lässt er es nicht bei landsmannschaftlichen Stereotypen bewenden, sondern geht, wie auch im vorherigen Verlauf seiner Darlegung, den regionalen und wirtschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund. War es bei der Betrachtung der Rechtsentwicklung innerhalb Venedigs nicht zuletzt der stark ausgeprägte Handelsgeist, so ist es bei den Deutschen der vergleichsweise geringe Handelsverkehr, der zu einer gewissen Abgeschlossenheit führte und die Unabhängigkeit freier Städte beförderte:⁵²³ „Die erste ist die, das sie nur geringen Handelsverkehr mit ihren Nachbarn unterhalten haben. Diese sind nie zu ihnen gekommen, und sie nicht zu ihren Nachbarn; denn sie begnügten sich stets mit dem Ihrigen, aßen ihre heimischen Speisen und kleideten sich in die Wolle, die ihnen ihre Heimat gab.“⁵²⁴ – ‚L’una non avere avute conversazioni grandi con i vicini, perché né quelli sono iti a casa loro né essi sono iti a casa altrui, perché sono stati contenti di quelli beni, vivere di quelli cibi, vestire di quelle lane che dà il paese‘ (D I 55).⁵²⁵ Dabei mag die taci-
Staat zu überwinden, noch immer eine völlig passive Vorstellung vom Volk fortbesteht, gleichwohl es in seiner Sicht eine neue Kraft darstellt. Allmählich erlischt der positive Einfluß der Virtu des Gesetzgebers, die Einrichtungen und Gesetze, die diese Virtu geschaffen hat, verkümmern, weil sie nicht mehr imstande sind, jene neuen Kräfte, die die Gesellschaft stufenweise schafft und vorantreibt, zu umfassen und ihnen einen Platz zuzuweisen; und wenn, was häufig geschieht, die Herrscher der Republiken der inneren Rückbildung des politischen und gesellschaftlichen Organismus nicht gewahr werden, so erfolgt daraus seine Zersetzung und sein Niedergang“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 47. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 99, ordnet den Gesichtspunkt des Handels zeitlich ein: „Die politische Theorie Machiavellis ist darin sicherlich auch Ausdruck der Zwischenstellung des Florentiner Handelskapitalismus zwischen dem Feudalismus des Mittelalters und dem Industriekapitalismus der Neuzeit, wie er sich in England erstmals herausbildete“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 142. J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, 1800, hat ein – unwillkürlich eher abschreckendes – Beispiel einer ins Rechtsphilosophische gewendeten Sicht solch hermetischen Wirtschaftsdenkens gegeben, wie es jedem gesunden und im Allgemeinwohl förderlichen Freihandel widerspricht. Umso hellsichtiger ist, wie bereits hervorgehoben, sein Aufsatz über Machiavelli; zu ihm J. Petersen,
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
153
teische Germania als literarisches Vorbild gedient haben.⁵²⁶ Eine ähnliche Einschätzung findet sich in Machiavellis kurzer Schrift über den P o l i t i s c h e n Z u s t a n d D e u t s c h l a n d s , wonach „die Folge dieser Sitten ist, daß kein Geld aus ihrem Lande geht, da sie mit dem zufrieden sind, was es erzeugt.“⁵²⁷ – ‚Et per questi loro costumi ne resulta che non esce danari del paese loro, sendo contenti a quello che il loro paese produce.‘⁵²⁸
c) Langlebigkeit der Gebräuche und Sitten Doch ist es weniger wichtig, ob die genannten Vorurteile zutreffen, zumal da Machiavelli ihnen mitunter selbst erlegen ist: „Trotzdem ist die Zukunft leicht aus der Vergangenheit zu erkennen. Denn ein Volk behält lange die gleichen Gewohnheiten, da es entweder immer habsüchtig oder immer verschlagen ist oder irgendeine andere schlechte Eigenschaft hat.Wer die Geschichte unserer Stadt Florenz und die Begebenheiten der neuesten Zeit betrachtet, wird finden, daß die Deutschen und die Franzosen habsüchtig, hochmütig, wild treulos sind; denn durch diese vier Eigenschafen wurde unsere Stadt zu verschiedenen Zeiten schwer geschädigt.“⁵²⁹ – ‚Fa ancora facilità il conoscere le cose future per le passate, vedere una nazione lungo tempo tenere i medesimi costumi, essendo o continovamente avara o continovamente fraudolente, o avere alcuno altro simile vizio o virtú. E chi leggerà le cose passate della nostra città di Firenze, e considererà quelle ancora che sono ne’ prossimi tempi occorse, troverrà i popoli tedeschi e franciosi pieni di avarizia, di superbia, di ferocità e d’infidelità; perché tutte queste quattro cose in diversi tempi hanno offeso molto la nostra città‘ (D III 43). Hier kommt sogar ein gewisser Lokalpatriotismus zum Ausdruck, der deswegen bemerkenswert ist, weil Machiavelli ansonsten alles Provinzielle fremd und das Possessivpronomen vor der Nennung seiner Heimatstadt
Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. Tacitus, Germania, 5, 3. Auch sie gehört neben dem bereits erwähnten ‚Dialogus de oratoribus‘ und dem ‚Agricola‘ zu den sogenannten kleinen Schriften, von denen auch der bezüglich einer eingehenden Werkkenntnis Machiavellis skeptische J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 67, zumindest für möglich hält, dass er sie gelesen hat. Machiavelli, Politischer Zustand Deutschlands im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1512, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 208, 209. Machiavelli, Ritracto delle cose della Magna, 1512, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; EinaudiGallimard), 1997, S. 79, 80. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 396.
154
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Florenz ungewöhnlich ist, da er sie in anderem Zusammenhang regelmäßig als Ort schlimmster Sittenverderbnis anprangert. Auch in dieser Hinsicht ist Rom der Vergleichsmaßstab.⁵³⁰ Dort habe man es allerdings versäumt, im Zuge der Gesetzgebung auch die Einrichtungen des Staates zu erneuern: „Wenn sich also Rom in seiner Sittenverderbnis hätte frei erhalten wollen, so hätte es in gleicher Weise, wie es sich im Laufe seiner Geschichte neue Gesetze gegeben hat, auch neue Staatseinrichtungen schaffen sollen; denn einem kranken Körper muss man andere Verhaltensmaßregeln und eine andere Lebensweise vorschreiben als einem gesunden und nicht jede Form taugt für jeden gleichwie gearteten Stoff.“⁵³¹ – ‚Era necessario pertanto, a volere che Roma nella corruzione si mantenesse libera, che cosí come aveva nel processo del vivere suo fatte nuove leggi, l’avesse fatti nuovi ordini: perché altri ordini e modi di vivere si debbe ordinare in uno suggetto cattivo che in uno buono, né può essere la forma simile in una materia al tutto contraria‘ (D I 18).⁵³² Es ist also nicht immer nur die allgegenwärtige Herrsch- und Streitsucht der Menschen, die der Verwirklichung der Freiheit entgegensteht, sondern mitunter die verfehlte Abstimmung von Gesetzen und Einrichtungen, die auf lange Sicht unzureichend aufeinander bezogen sind. Zudem zeigt sich, dass die Annahme vermeintlicher anthropologischer Konstanten auch zu Engführungen Anlass geben kann. Wichtig bleibt Machiavellis argumentativer
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 258, erklärt dies überzeugend mit der einleitenden Kennzeichnung des Autors: „Der Politiker und der auf eine pragmatische Geschichtsschreibung eingeschworene Historiker Machiavelli suchte in seinen Idealisierungen und Stilisierungen der römischen Geschichte gerade ihren paradigmatischen Charakter für die eigene Gegenwart zu unterstreichen. Nicht um den ästhetischen Genuß des Kontrastes, sondern um die politische Befolgung des Vorbildes ging es ihm, wenn er immer wieder auf die römische Geschichte verwiesen hat“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 66. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 77, folgert aus den in diesem Kapitel mitgeteilten Besonderheiten der römischen Geschichte im Hinblick auf die Gesetzgebung weiterführende Überlegungen: “On Machiavelli’s reading, the egalitarianism and reciprocity characteristic of Roman legislative practices contributed to the objectively beneficial results that they achieved; if all citizens were entitled to propose laws, especially those concerned with the ‚public good,‘ and any citizen could speak out for or against such laws, then Roman legislative practice enlisted a more diverse array of views than could be generated by the mind of a single prince or even by the deliberation of a prudent but almost invariably homogeneous small group of elites.” – Das entspricht cum grano salis den an verschiedenen Stellen der vorliegenden Untersuchung aufgezeigten Gesichtspunkten der Wissenszusammenrechnung.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
155
Ausgangspunkt, dass die Gewohnheiten und Sitten langlebig sind und von daher Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit zulässig seien.⁵³³
4. Prinzipielle Gleichheit als Bedingung der Republik Bedeutsamer für das neuzeitliche Rechtsverständnis Machiavellis ist die Methode, mit der er völkervergleichend Unterschiede aufspürt, die für eine jeweilige Staatsform sprechen, wie sein Fazit erläutert:⁵³⁴ „Wo also ein starker Sinn für Gleichheit besteht oder geweckt ist, da errichte man einen Freistaat, wo dagegen große Ungleichheit herrscht, da führe man eine Alleinherrschaft ein; sonst baut man ein
Ähnliches lässt sich auch ein halbes Jahrhundert später in den Essays von Michel de Montaigne feststellen; vgl. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, § 1. H. Münkler, Geleitwort: Machiavelli, Discorsi – Gedanken über Politik und Staatsführung, 3. Auflage 2007, S. XIX, beobachtet dies in allgemeingültiger Weise für die Sozial- und Geisteswissenschaften, zu denen im weiteren Sinne auch die Rechtswissenschaft gehört, im Verhältnis zu den Naturwissenschaften. Er gelangt dabei hellsichtig zur Entdeckung einer modern anmutenden politikwissenschaftlichen Errungenschaft des Verfassers der Discorsi: „Was Machiavelli dabei nämlich entwickelt, – oder zumindest weiterentwickelt – ist die Methode des Vergleichs, die in den Sozialund Geisteswissenschaften das darstellt, was in den Naturwissenschaften das Experiment ist. Durch den systematischen Vergleich unterschiedlicher Verfassungen und politischer Handlungen sucht er die Faktoren herauszufiltern, die zu politischem Erfolg bzw. Scheitern führen. Die Grundachse des Vergleichs ist dabei diachron, besteht also in der Gegenüberstellung eines antiken und eines zeitgenössischen Beispiels. Aber dieser einfache Vergleich entlang der Zeitachse Antike-Gegenwart ist für Machiavelli zu unsicher, und deswegen ergänzt er ihn um eine synchrone Komponente: dem antiken Vergleich wird ein weiterer aus der Antike und dem zeitgenössischen einer aus der eigenen Gegenwart hinzugefügt. Bei diesen synchronen Beispielen achtet Machiavelli darauf, dass sie signifikantere Unterschiede aufweisen (…). So kommt er intuitiv zu dem, was man in der Politikwissenschaft heute als Vierfelderschema kennt. Er führt es nicht methodisch reflektiert ein, begründet nirgendwo, warum man auf diese Weise zu einem nicht normativ, sondern empirisch abgesicherten Wissen über die Politik kommt, sondern begründet es naiv.“ Hervorhebungen nur hier. – Über diese politikwissenschaftliche Inspiration darf allerdings seine philosophische nicht vergessen werden, die am besten zusammengefasst wird von V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 57 f., der es in ein schönes Oxymoron kleidet: „Aber Machiavelli wäre kein Philosoph, sondern nur ein Politologe, wenn sich seine Leistung in der Sammlung derartiger Techniken erschöpfen würde. Seine zutiefst beunruhigende Originalität, die seine Zugehörigkeit zur alteuropäischen Tradition belegt, besteht vielmehr darin, daß er die Forderung nach dem Einsatz strategischer Rationalität und d. h. zunächst einmal nach der Loslösung der Politik von der Individualmoral als eine moralische erhoben hat.“ Hervorhebung nur hier. Zu dieser letztgenannten Paradoxie näher V. Hösle, Etica e politica: riflessioni sul Principe die Machiavelli, in: La legittimità del politico, 1990, S. 11– 39.
156
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Werk ohne Frieden und ohne Dauer.“⁵³⁵ – ‚Constituisca adunque una republica colui dove è o è fatta una grande equalità, ed all’incontro ordini un principato dove è grande inequalità: altrimenti farà cosa sanza proporzione e poco durabile‘ (D I 55).
a) Angestammte Gleichheit als Indiz für die Staatsform der Republik Machiavelli hütet sich also vor kategorischen und absoluten Empfehlungen, sondern rät, wie es seine Art ist, eher hypothetisch und relativ, nämlich in Abhängigkeit von den Gegebenheiten, zu denen eben nicht nur, wie bei der Lage Venedigs (D I 6), die örtlichen zählen (IF II 1). Vielmehr gehören dazu auch die alteingesessenen Anschauungen, die im Gerechtigkeitsempfinden des Volkes seit jeher verankert sind. Selbst wenn und gerade weil Machiavelli hier offenbar aus antiken Quellen geschöpft hat, ist seine Folgerung nicht zuletzt deswegen eine typisch neuzeitliche, da sie zu einer Relativität der jeweils vorzugswürdigen Staatsformen führt. Zudem ist zu betonen, dass Machiavellis jeweiliges Votum unter einer erklärten Bedingung steht, und zwar der für die Staatsordnung naturgemäß besonders bedeutsamen der herrschenden Gleichheit oder Ungleichheit. Man kann daher nicht annehmen, dass Machiavelli prinzipiell die Alleinherrschaft der Republik vorzieht; vielmehr ist gerade in den D i s c o r s i , wie bereits mehrfach gesehen, das Gegenteil der Fall.⁵³⁶ Ersteres, also im großen Ganzen herrschende Gleichheit und daher eine die Republik als geeignete Staatsform nahelegende Ordnung, sieht er demnach offensichtlich bei den Deutschen verwirklicht: „Ja mehr noch, sie achten streng auf absolute Gleichheit im Innern und sind die erbittertsten Feinde der Herren und Ritter ihres Landes.“⁵³⁷ – ‚Anzi mantengono intra loro una pari equalità, ed a quelli signori e gentiluomini che sono in quella provincia sono inimicissimi‘ (D I 55).
b) Maßregelung des Ehrgeizes durch die Gesetze Machiavelli empfiehlt ungeachtet seiner Vorliebe für die Republik nicht eine Staatsform ein für alle Mal und unter allen Umständen, sondern in Abhängigkeit zu den Eigenarten der Rechtsunterworfenen und ihren kulturellen Vorstellungen sowie den historischen Erfahrungen und den Herausforderungen, vor denen das jeweilige Gemeinwesen steht und die es im Interesse der Selbsterhaltung mit der betreffenden Regierungsform unter Berücksichtigung wirtschaftspolitischer Gege-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 142. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 132: „Für den Republikaner Machiavelli ist der Fürst stets ein Übel, aber manchmal ein notwendiges Übel“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 143.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
157
benheiten am besten bewältigen kann. Auch hier sieht man vieles, was später Montesquieu im zweiten Teil seines De l’esprit des lois im Hinblick auf das Handelsrecht voraussetzt,⁵³⁸ bereits bei Machiavelli angelegt. Seine zeitgenössischen italienischen Verhältnisse sieht er von daher, wie gezeigt, eher kritisch und meint wohl auch diese, wenn er folgert: „Wo das Volk bereits so verderbt ist, dass die Gesetze nicht hinreichen es im Zaum zu halten, ist es nötig, neben den Gesetzen eine höhere Gewalt einzusetzen, eine mit königlichen Befugnissen, die mit unumschränkter und außerordentlicher Macht den übermäßigen Ehrgeiz und die Verderbtheit der Mächtigen bändigt.“⁵³⁹ – ‚La ragione è questa, che dove è tanto la materia corrotta che le leggi non bastano a frenarla, vi bisogna ordinare insieme con quelle maggior forza; la quale è una mano regia che con la potenza assoluta ed eccessiva ponga freno alla eccessiva ambizione e corruttela de’ potenti‘ (D I 55).⁵⁴⁰ Es ist also vor allem der übersteigerte Ehrgeiz, der die Quelle des Übels darstellt und den er wohl nicht zuletzt in historischer Erfahrung bei seinen Landsleuten obwalten sieht, wie auch eine andere Sentenz belegt, die eine weiter oben behandelte bestätigt (IF V 14): „Die Menschen gehen sprunghaft von einem Ehrgeiz zum anderen über.“⁵⁴¹ – ‚Gli uomini salgono da un’ambizione a un’altra; e prima si cerca non essere offeso, dipoi si offende altrui‘ (D I 46). Letztlich bildet dies wiederum eine Ausprägung der anthropologischen Einsicht des unstillbaren Ehrgeizes als einer allenthalben anwendbare Maxime, die ohne regionale Besonderheiten Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Doch dieser in seinem Dasein gewisse, in seinen konkreten Erscheinungsformen jedoch unbeständige und unkalkulierbare Ehrgeiz bildet eben auch ein auf Machtausdehnung sinnendes dynamisches Moment.⁵⁴² Dieses muss durch die Gesetze gezügelt bzw. in Bahnen gelenkt werden, Ch.-L. de Montesquieu, De l’esprit des lois, 1748. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 143. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 243, verallgemeinert, was auch hier gilt: „So gelangt man über diese Betrachtungen wieder zu dem Problem der Macht, das immer im Mittelpunkt jeder Überlegung Machiavellis steht; wobei Macht nicht mehr der zum Äußersten entschlossene Wille eines Herrschers ist, der alle seine Kräfte einsetzt, um das unheilvolle Hereinbrechen einer Katastrophe zu verhindern, sondern die harmonische Durchdringung aller in einer Gesellschaft wirksamen Kräfte“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 121. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 890 f., beobachtet darüber hinaus eine extensive Tendenz, die durch rechtliche Maßnahmen, also wohl vor allem Gesetze, perpetuiert werden kann: „Machiavelli entwickelt einen dynamischen Begriff der Macht, dem ein selbstbezügliches Telos, Machterhalt und Machterweiterung, eingeschrieben ist; dementsprechend konzipiert er den Staat als ein System der sich selbst erhaltenden und erweiternden politischen Macht. Die rechtliche Verfassung dieses Systems legt die Bedingungen fest, unter denen sich die Macht dauerhaft reproduzieren kann. Im
158
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
die dem Gemeinwohl förderlich sind, etwa indem die Individuen nach altrömischem Vorbild in einen produktiven Wettstreit miteinander treten.
5. Unvererblichkeit der Weisheit des Gesetzgebers Aber ungeachtet solcher Sentenzen wie der zuletzt zitierten, die seine eminente Menschenkenntnis und den Blick auf die Rastlosigkeit der Ehrgeizigen unter Beweis stellen, die er wohl ebenfalls an sich selbst beobachtet haben dürfte, sind es auch bei den Staatsformen selbst dort, wo er eine Alleinherrschaft favorisiert, immer relativierende Gesichtspunkte, die er betont.
a) Beschränkte Lebensdauer des weisen Gesetzgebers War dies weiter oben die eingeschränkte Sukzessionsfestigkeit der Herrschaft, mit der er ihre Unvererblichkeit propagierte, so ist es im Rahmen der Gesetzgebung selbst dort, wo er einen weisen Gesetzgeber voraussetzt, die einschränkende Bedingung seiner Lebensdauer:⁵⁴³ „Der Grund hierfür ist der, dass kein Mensch so lange leben kann, dass die Spanne seines Daseins ausreicht, um einen Staat, in dem lange Zeit schlechte Sitten herrschten, an gute zu gewöhnen.“⁵⁴⁴ – ‚La cagione è, che non può essere uno uomo di tanta vita che ’l tempo basti ad avvezzare bene una città lungo tempo male avvezza‘ (D I 17). Die Endlichkeit menschlichen Daseins steht somit auch bei einer überragenden Einzelpersönlichkeit der allmählich sich verschlechternden und noch langsamer sich bessernden Sitten eines Volkes gegenüber. Unsitten sind allemal zählebiger und dauerhafter als die menschliche Lebenszeit. Ein Einzelner kann folglich als Gesetzgeber nach dem Vorbild Lykurgs oder Solons dauerhaft gültige Gesetze schaffen,⁵⁴⁵ wenn sie von einem entspre-
Sinne des Telos, das der Macht selbst innewohnt, ist diejenige Verfassung die ‚beste‘, die eine etablierte Herrschaft auf Dauer stellt.“ Hervorhebung auch dort. Zu diesen Gesichtspunkten auch J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, Einleitung, insbesondere S. 85 ff. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 63. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1 9, geht an Stellen wie dieser der schwierigen Quellenfrage nach: „Wenn Machiavelli zuvor bemerkt, Rom habe zwar keinen Lykurg gehabt, der es so geordnet, dass es lange Zeit in Freiheit habe leben können, sondern die Stelle eines solchen Gesetzgebers sei hier durch die aus den Kämpfen zwischen Senat und Volk sich ergebenden Verhältnisse vertreten worden, so ist er wiederum von Polybius beeinflusst worden, welcher vor der Erörterung der römischen Verfassung äussert, nicht auf dem Wege des Nachdenkens wie Lykurg, sondern durch viele Zwistigkeiten und Kämpfe hätten die Römer sich ihre vortreffliche Verfassung errungen“.
III. Rechtsgleichheit und Gütergleichheit
159
chenden Gerechtigkeitsdenken durchdrungen sind.⁵⁴⁶ Doch kann er nicht verhindern, dass sich die Sitten später wieder verschlechtern, da seine Lebenszeit dafür nicht ausreicht und eine erbmonarchische Lösung deswegen ausscheidet, weil sich die Weisheit des Gesetzgebers nicht zwangsläufig vererbt, sondern viel dafür spricht, dass bereits in der nächsten Generation eine Gewaltherrschaft angestrebt wird (D I 10).
b) Solons Gesetzgebung Gerade im Hinblick auf Solons demokratisch ausgerichtete Gesetzgebung hebt Machiavelli denn auch die beschränkte Dauer hervor: „Das Gegenteil widerfuhr Solon, dem Gesetzgeber Athens; denn die von ihm eingeführte Volksherrschaft war nur von so kurzer Dauer, daß er noch vor seinem Tod die Entstehung der Tyrannis des Peisistratos erlebte. Nach 40 Jahren wurden zwar dieselben vertrieben, und Athen kehrte wieder zur Freiheit zurück; es nahm die demokratische Regierungsform entsprechend den Gesetzen des Solon wieder an. Es erhielt sie aber nicht länger als 100 Jahre, obgleich zu ihrer Festigung viele Einrichtungen getroffen wurden, um den Übermut der Großen und die Zügellosigkeit der Masse niederzuhalten, zwei Übel, die Solon nicht beachtet hatte.“⁵⁴⁷ – ‚Al contrario intervenne a Solone, il quale ordinò le leggi in Atene: che per ordinarvi solo lo stato popolare, lo fece di sí breve vita che avanti morisse vi vide nata la tirannide di Pisistrato: e benché dipoi anni quaranta ne fussero gli eredi suoi cacciati e ritornasse Atene in libertà, perché la riprese lo stato popolare secondo gli ordini di Solone, non lo tenne piú che cento anni, ancora che per mantenerlo facessi molte constituzioni, per le quali si reprimeva la insolenzia de’ grandi e la licenza dell’universale, le quali non furono da Solone considerate‘ (D I 2).⁵⁴⁸ Die Gründe für den Niedergang der Gesetzgebung, der
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 94, setzt die Gesetze Solons in einen interessanten Zusammenhang zum mosaischen Gesetz, der für Machiavellis Verständnis der Gesetzgebung ebenfalls bedeutsam ist: “In the same chapter he draws our attention to the question of the goodness of the Mosaic laws but he does not answer it there or elsewhere in the Discourses. He says later on that Moses framed laws with a view to the common good, but he says the same thing of Solon whose laws he criticizes severely: the goodness of laws requires more than that the end of the laws be good”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 15 f. Siehe dazu auch J. P. McCormick, Machiavelli’s Greek Tyrant as Republican Reformer, in: The Radical Machiavelli: Politics, Philosophy, and Language (Hg. F. del Lucchese/F. Frosini/V. Morfino), 2015, p. 337. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 249, beobachtet zu D I 11 etwas, das im Hinblick auf die im Laufe der Zeit gleichsam degressive Virtú bzw. Weisheit des Gesetzgebers auch bezüglich des wechselhaften Schicksals der solonischen Gesetzgebung Beachtung verdient:
160
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Hochmut der Magnaten und die Zügellosigkeit des Volkes, sind nicht von ungefähr jene beiden Gesichtspunkte, denen Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z besonderes Augenmerk schenkt.⁵⁴⁹
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen Um die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Sitten und Gesetzen zu veranschaulichen, geht Machiavelli von einem von Grund auf korrupten Gemeinwesen aus: „Ich setze einen völlig verderbten Staat voraus und steigere auf diese Weise die Schwierigkeiten besonders stark, da es dort weder Gesetze noch Einrichtungen gibt, die im Stande wären, die allgemeine Sittenverderbnis im Zaum zu halten. Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich.“⁵⁵⁰ – ‚E presupporrò una città corrottissima, donde verrò ad accrescere piú tale difficultà: perché non si truovano né leggi né ordini che bastino a frenare una universale corruzione. Perché cosí come gli buoni costumi per mantenersi hanno bisogno delle leggi, cosí le leggi per osservarsi hanno bisogno de’ buoni costumi‘ (D I 18).⁵⁵¹
1. Beständige Einrichtungen und wandelbare Gesetze Gesetze und Sitten müssen also miteinander Schritt halten. Eine ähnliche Interdependenz hat Machiavelli bereits im Verhältnis der Gesetze zum Heerwesen an-
„Hier (sc. D I 11) hebt Machiavelli deutlich den Umstand hervor, daß die Virtu eines Gesetzgebers um so größer ist, je länger sein Staatsgebilde ihn zu überleben vermag; daß jedoch der Fortbestand der Republik immer auf jener anfänglichen Virtu, also auf der passiven Erhaltung eines sich mehr und mehr abschwächenden Impulses beruht, wird klar, wenn man die Abfolge von Machiavellis Beweisführung betrachtet; denn er hätte weder hier noch anderswo so nachdrücklich auf der Notwendigkeit beharrt, daß die ‚Bewachung‘ des Staates nicht einem Mann, sondern mehreren anvertraut werden müsse, wenn er nicht innerlich davon überzeugt gewesen wäre, daß das Volk von sich aus nicht imstande ist, das in konkrete politische Autonomie zu überführen, was durch die weise Hand des Gesetzgebers zu Anfang in seinem Gemüt verankert worden war“. Dazu auch J. P. McCormick, Republicanism, Virtuos and Corrupt: Social Conflict, Political Leadership and Constitutional Reform in Machiavelli’s Florentine Histories, in: Radical Republicanism: Recovering the Tradition’s Popular Heritage (Hg. St.White/K. Nabulsi/B. Leipold), 2020, p. 67. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64. Siehe zum werk- und zeitgeschichtlichen Hintergrund A. Bonadeo, Corruption, Conflict, and Power in the Work and Times of N. Machiavelli, 1973.
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen
161
genommen, wobei er dort diesem mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als jenen (P XII).
a) Wechselbezüglichkeit von Gesetzen und Sitten Im Hinblick auf die Wechselbezüglichkeit von Gesetzen und Sitten erschließt sich sein Gedanke ohnehin eher, auch wenn die ersteren oft jünger sind als die letzteren. Daher kann es zu einer zeitlichen Divergenz zwischen Gesetzen und Sitten kommen. Wenn sich die Sitten der Menschen rapide verschlechtern, können sich Gesetze als unzeitgemäß und anpassungsbedürftig herausstellen:⁵⁵² „Zudem sind Einrichtungen und Gesetze, die bei der Gründung eines Staatswesens, als die Menschen noch gut waren, geschaffen wurden, später, wenn die Menschen schlecht geworden sind, nicht mehr passen und wenn sich auch die Gesetze je nach den Ereignissen in einem Staat ändern, so wandeln sich doch seine Einrichtungen nie oder nur selten.“⁵⁵³ – ‚Oltre a di questo, gli ordini e le leggi fatte in una republica nel nascimento suo, quando erano gli uomini buoni, non sono dipoi piú a proposito, divenuti che ei sono rei. E se le leggi secondo gli accidenti in una città variano, non variano mai, o rade volte, gli ordini suoi‘ (D I 18). Die Einrichtungen, die Machiavelli bisher weithin in einem Zuge mit den Gesetzen genannt hat (D I 4), sind ihrer Art nach beständig, wenn auch nicht vollkommen unabänderlich:⁵⁵⁴ „Diese Einrichtungen änderten sich im Zug der geschichtlichen Ereignisse wenig oder gar nicht.“⁵⁵⁵ – ‚Questi ordini poco o nulla variarono negli accidenti‘ (D I 18).
b) Anpassungsbedürftigkeit der Gesetze Demgegenüber sind Gesetze wandelbar, weil sich das Verhalten der Menschen beständig ändert und sie sich ihrerseits permanent in ihren Handlungen den Zeitverhältnissen anpassen müssen (D I 9):⁵⁵⁶ „Dagegen wurden die Gesetze ge-
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 281, stellt allerdinge eine auf die Virtú der Handelnden zielende weitere Bedingung: „Denn gute Gesetze, gute Verfassungen, ja selbst gute Waffen reichen nicht aus, wenn es einer Stadt an Männern gebricht, die alle diese Faktoren den konkreten Erfordernissen der Zeit anpassen können.“ – Auf diese Stelle wird weiter unten in anderem Zusammenhang noch einmal zurückzukommen sein. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 79; ebenfalls zu D I 4. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64. Eine ähnliche Vorstellung kann man ungeachtet aller sonstigen Unterschiede bei Montaigne beobachten; vgl. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019.
162
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
ändert, die die Bürger im Zaum halten sollten, wie das Gesetz gegen den Ehebruch, die Gesetze gegen den Aufwand, das Gesetz über die Bewerbung um Staatsämter und viele andere, je nach dem Bedürfnis, das sich aus der fortschreitenden Verderbtheit der Bürger ergab.“⁵⁵⁷ – ‚Variarono le leggi che frenavano i cittadini, come fu la legge degli adulterii, la suntuaria, quella della ambizione e molte altre, secondo che di mano in mano i cittadini diventavano corrotti‘ (D I 18).⁵⁵⁸ Interessanterweise findet sich in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z eine ähnliche Darstellung zur Luxusgesetzgebung: „Die guten Bürger dachten daher, es sei nötig, der Sache Schranken zu setzen und schrieben durch ein neues Gesetz dem Aufwand in der Kleidung, bei Leichenbegräbnissen und Gastmählern Grenzen vor.“⁵⁵⁹ – ‚Onde che i buoni cittadini pensorono che fusse necessario porvi freno, e con nuova legge a’ vestiri, a’ mortori, a’ conviti, termine posono‘ (IF VII 28). Auch in diesem Zusammenhang begegnet die für Machiavelli bezeichnende hypothetische Erwägung (D I 12): „Da nun die Verfassung des Staats unverändert blieb, obwohl sie bei der Verderbtheit der Sitten nicht mehr zweckmäßig war, so reichten die neu gegebenen Gesetze nicht mehr hin, die Menschen in guten Sitten zu erhalten; wohl aber würden sie genügt haben, wenn mit der Erneuerung der Gesetze die Änderung der Staatseinrichtungen Hand in Hand gegangen wäre.“⁵⁶⁰ – ‚Ma tenendo fermo gli ordini dello stato, che nella corruzione non erano piú buoni, quelle legge che si rinnovavano non bastavano a mantenere gli uomini buoni; ma sarebbono bene giovate, se con la innovazione delle leggi si fussero rimutati gli ordini‘ (D I 18).
2. Wirkungslosigkeit der Gesetze Die Schwerfälligkeit der Abänderung staatlicher Einrichtungen kann also dem Gemeinwesen zum Verhängnis werden, wenn sich die Sitten von Grund auf verschlechtert haben, weil die Gesetze, die mit ihnen im Guten Schritt halten sollen, bei unveränderten staatlichen Einrichtungen keine wirksame Handhabe mehr gegen den Sittenverfall bieten, da die Menschen mit ihrem übersteigerten Ehrgeiz und
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64. Zu einigen der genannten Gesetze im Hinblick auf ihre Entstehung, Änderung und Daseinsberechtigung J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 115 – 127 zur Lex Iulia de adulteriis, ferner S. 269 – 276 zur Luxusgesetzgebung sowie S. 491 ff. zur Lex Oppia. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 455. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64.
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen
163
allgegenwärtigen Neid nun einmal so sind.⁵⁶¹ Das zeigt andeutungsweise die G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z mit ihren Kämpfen zwischen den Ghibellinen und den Guelfen: „Da es keinen Magistrat gab, der untersuchte, welches die Gibellinen seien, und da folglich das gegebene Gesetz nicht viel Kraft hatte, so erwirkte er, daß die Hauptleute die Gewalt haben sollten die Gibellinen auszumitteln, und nach der Ausmittlung ihnen zu erklären und sie zu warnen, daß sie kein Amt übernähmen.“⁵⁶² – ‚E perché non si trovava magistrato che ricercasse quali fussero i ghibellini, e perciò la legge fatta non era di molto valore, provvide che si desse autorità ai Capitani di chiarire i ghibellini, e chiariti, significare loro e ammunirgli che non prendessero alcuno magistrato‘ (IF III 3).
a) Einbringung von Gesetzesvorschlägen Machiavelli veranschaulicht dies allerdings noch differenzierter am Beispiel der Einbringung von Gesetzesvorschlägen:⁵⁶³ „Diese Einrichtung war gut, solange die
G. Mann, Die Grundprobleme der Geschichtsphilosophie von Plato bis Hegel, in: Der Sinn der Geschichte (Hg. L. Reinisch), 1961, S. 11, 18, verortet innerhalb der römischen Geschichtsschreibung die Deszendenzvorstellung der von ihm so bezeichneten „tief konservativen Denker“, die er „diese Staatsschriftsteller“ nennt, folgendermaßen: „Hatten sie ein Gefühl, in modernen Zeiten zu leben, in Zeiten, die sich von aller Vergangenheit unterscheiden, so war es ein Gefühl von Entartung, von Verfall, ob sie nun diesen Verfall bitter beklagten wie Tacitus oder vor ihm Sallust, oder ob sie darüber nur skeptisch die Achseln zuckten.“ – Dieses so treffend beschriebene Denken könnte auch Machiavelli maßgeblich beeinflusst haben, der auch Sallust ganz selbstverständlich als gemeinhin bekannt zitiert: ‚Ciascuno ha letto la congiura di Catilina scritto da Sallustio‘ (D III 6). Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 154. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 65 f., beobachtet einen aufschlussreichen Zusammenhang, der insbesondere die vom Volk ausgehende Einbringung von Gesetzen betrifft und damit dessen aktive Teilhabe an lenkungsrelevanten Prozessen innerhalb der Republik bezeugt: “Machiavelli also recommends widely participatory, substantively deliberative procedures through which the people refine their judgments over both political prosecutions and the law. In a historically unprecedented fashion, Machiavelli insists that republics permit common citizens to initiate proceedings pertaining to political trials, nominate candidates for office, propose new legislation, and discuss among themselves all the matters over which they will render ultimate judgment.” Hervorhebungen auch dort. Konsequenterweise zeigt er später (ebenda, p. 67) auf: “On the contrary (…) Machiavelli affords all citizens opportunities to initiate political proceedings, by, for instance, introducing accusations against prominent citizens and proposing new laws. Moreover, he provides all citizens access to formal and informal assemblies within which they deliberatively transform their perhaps initially unconsidered opinion (opinione) into good judgment (giudizio) over laws and candidates for office.” Mit diesen textnah untermauerten Beobachtungen sieht er mit gutem Grund einen weiten Raum “in Machiavelli’s theory for elites to propose policy and then attempt to persuade and even manipulate the people in the course of law and policy making.” Hervorhebung nur
164
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Bürger gut waren. (…) Als aber die Bürger schlecht geworden waren, wurde auch diese Einrichtung schlecht; denn nur die Mächtigen schlugen jetzt Gesetze vor, und zwar nicht zugunsten der allgemeinen Freiheit, sondern zugunsten ihrer eigenen Macht, und niemand konnte aus Angst vor ihnen widersprechen.“⁵⁶⁴ – ‚Era questo ordine buono, quando i cittadini erano buoni. (…) Ma diventati i cittadini cattivi, diventò tale ordine pessimo: perché solo i potenti proponevano leggi, non per la comune libertà ma per la potenza loro, e contro a quelle non poteva parlare alcuno per paura di quelli‘ (D I 18).⁵⁶⁵ Auch hier hätte dem historisch gewachsenen Übel nur dadurch Abhilfe geschaffen werden können, dass mit dem Erlass neuer Gesetze entsprechende staatliche Einrichtungen geschaffen werden müssen. Gewachsene oder begleitend errichtete Institutionen sind aber eben ihrerseits abhängig von den allgemein herrschenden Sitten und der Widerstandsfähigkeit gegen die Herrschsucht der Großen.
b) Gesetzgebungsvorschläge in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Welche Schwierigkeiten entstehen können, wenn in einer Fehleinschätzung der Machtverhältnisse Gesetzgebungsvorschläge gegen die Umtriebe der Mächtigen eingebracht werden, die sich als unausgegoren oder nicht hinreichend durchsetzbar erweisen, zeigt Machiavelli anhand einer historischen Episode in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , in der sich jemand aus der Familie Medici als Gonfalonier zusammen mit einigen Gleichgesinnten gegen die Unterdrückung des Volkes durch überraschende Einbringung eines revolutionären Gesetzes wehren wollte.⁵⁶⁶
hier. Wichtig ist auch seine weiter unten getroffene Feststellung, welche die aktive Teilhabe auf den Begriff bringt: “the people act through law”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 66. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 292, spannt den Bogen zum Beginn des dritten Buchs der Discorsi, betont aber auch die tiefgreifende Divergenz: „Wenn man die großartigen Abschnitte im 18. Kapitel, in denen Machiavelli sich voll banger Spannung fragte, ob es möglich sei, der Zerrüttung der Staatseinrichtungen und Gesetze wirksam zu begegnen, mit diesen (sc. des dritten Buchs) vergleicht, in denen er sich darauf beschränkt, die Notwendigkeit betont, den Staat wieder zu seinen Anfängen zurückzuführen, so sieht man sofort, daß diese beiden Texte von zwei grundverschiedenen Phasen im Denken und Leben des Verfassers ausgehen“. Siehe dazu beiläufig auch J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 91.
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen
165
aa) Überraschende Einbringung eines revolutionären Gesetzes Allerdings erwies sich das Vorgehen als nicht hinreichend abgestimmt, weil es offenbar die zu gewärtigenden Widerstände nicht genügend in Betracht gezogen hatte, so dass es in eine überstürzte Handlung und impulsive Rede mündete:⁵⁶⁷ „Sie entwarfen also insgeheim ein Gesetz, das die alten Ordonanzen der Gerechtigkeit gegen die Großen erneuerte, die Gewalt der Parteihauptleute verminderte und den Gewarnten ein Mittel gab, zur Bekleidung der Würden zurückgerufen zu werden. Damit es fast zu gleicher Zeit vorgeschlagen und durchgesetzt werde, es mußte nämlich zuerst unter den Kollegen, sodann in den Räten darüber beraten werden, ließ Salvestro (sc. die Medici), der gerade Vorsitzender war, eine Würde, die solange sie dauert, fast zum Fürsten der Stadt macht, an demselben Morgen das Kollegium und den Rat versammeln und legte den Kollegen zuerst, vom Rate getrennt, den Gesetzesvorschlag vor. Das Gesetz fand in der Versammlung der Wenigen als eine Neuerung so großen Widerstand, daß es nicht durchging. Als Salvestro sah, daß ihm die ersten Wege, sein Gesetz durchzusetzen abgeschnitten waren, entfernte er sich unter dem Vorwand eines Bedürfnisses aus dem Saale und ging, ohne daß man es merkte, in den Rat. Hier stieg er an einen erhöhten Ort, wo ihn jeder hören und sehen konnte, und sprach: ‚Ich glaube nicht zum Gonfalonier ernannt zu werden, um Richter zu sein über Privatsachen, die ihre ordentlichen Richter haben, sondern um über den Staat zu wachen, den Übermut der Großen zu zügeln und die Gesetze zu mildern, durch deren Mißbrauch man die Republik zugrunde gehen sieht‘.“⁵⁶⁸ – ‚Fermorono adunque secretamente una legge la quale innovava gli ordini della giustizia contro ai grandi, e l’autorità de’ Capitani di parte diminuiva, e agli ammuniti dava modo di potere essere alle dignità rivocati. E perché quasi in un medesimo Zu im Folgenden genannten Ordonanzen der Gerechtigkeit und ihren Mängeln G. Brucker, Florentine Politics and Society 1343 – 1378, 1962, p. 69. Anschaulich auch H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 151: „In den im Jahre 1293 erlassenen Ordinamenti di giustizia konstituierten sich die 21 Florentiner Zünfte als der politische Körper der Stadt, unterwarfen die Herrschaftsausübung einer rational konstruierten Ämterrotation und suchten durch komplizierte Konstruktionen die Geltung der neuen Verfassung zu gewährleisten. Zugleich setzten die Ordinamenti gegen das traditionell als gottgewollt legitimierte Herrschaftsrecht der Großen die Überzeugung von der eingeborenen Freiheit eines jeden Menschen.“ – Gerade der letztgenannte Gesichtspunkt wird uns noch verschiedentlich in Machiavellis Geschichte von Florenz begegnen. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 84, gibt allerdings mit Recht zu bedenken, dass die Magnaten ungeachtet ihres Ausschlusses von bestimmten Ämtern aufgrund anderer Machtfaktoren immer noch beträchtlichen Einfluss zu verzeichnen hatten: “The nobility, who may have been excluded from the highest magistracies during various incarnations of the Ordinances of Justice, still wielded significant power through their prominence in the Guelph Party”. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 166 f.
166
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
tempo si esperimentasse a ottenesse, avendosi prima intra i Collegi e poi ne’ Consigli a deliberare, e trovandosi Salvestro proposto (il quale grado quel tempo che dura fa uno quasi che principe della città) fece in una medesima mattina il Collegio e il Consiglo ragunare; e ai Collegi prima, divisi da quello, prepose la legge ordinata: la quale come cosa nuova trovò nel numero di pochi tanto disfavore che la non si ottenne. Onde che, veggendo Salvestro come gli erano tagliate le prime vie ad ottenerla, finse di partirsi del luogo per sue necessità, e sanza che altri se ne accorgesse ne andò in Consiglio; e salito alto, dove ciascuno lo potesse vedere e udire, disse come e’ credeva essere stato fatto gonfaloniere non per essere giudice di cause private, che hanno i loro giudici ordinari, ma per vigilare lo stato, correggere la insolenza de’ potenti e temperare quelle leggi per lo uso delle quali si vedesse la republica rovinare‘ (IF III 9).
bb) Gescheiterte Gesetzesreform Der gescheiterte Gesetzesreformer zog sich daraufhin aus dem Rat zurück,⁵⁶⁹ um sich nach Hause zu begeben, wurde zurückbeordert und musste mit ansehen, dass sein unausgegorenes Handeln die Stadt ins Chaos stürzte.⁵⁷⁰ Machiavelli zieht daraus eine wichtige Lehre, die nicht zuletzt die ökonomischen Missstände, die solchen Volten folgen, in den Blick nimmt: „Niemand beginne eine Umwälzung in einem Staat im Glauben, sie dann nach Belieben anhalten oder nach Wunsch leiten zu können. Es war Salvestros Absicht, ein Gesetz einzuführen und die Stadt zu beruhigen. Die Sache aber ging anders. Die erregte Leidenschaft hatte jedermann so erbittert, daß die Kaufläden nicht geöffnet wurden, die Bürger sich in den Häusern befestigten, viele ihre Habe in den Klöstern und Kirchen verbargen, und daß es schien, ein jeder fürchte nahes Unheil.“⁵⁷¹ – ‚Non sia alcuno che muova una alterazione in una città per credere poi o fermarla a sua posta o regolarla a suo modo. Fu la intenzione di Salvestro creare quella legge e posare la città, e la cosa procedette altrimenti; perché gli umori mossi avevono in modo alterato ciascuno, che le botteghe non si aprivano, i cittadini si afforzavano per le case, molti il loro mobile per i mu-
Siehe auch J. P. McCormick, Faulty Foundings and Failed Reformers in Machiavelli’s Florentine Histories, American Political Science Review 111 (2017) 204. Dessen ungeachtet zeigt sich, wie treffend A. Doren, Studien aus der italienischen Wirtschaftsgeschichte, Band II: Das florentinische Zunftwesen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, 1908, S. 51, die ‚Ordinamenti di giustizia‘ als „Fundamentalgesetz der florentiner Verfassung“ bezeichnet hat; zustimmend H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 156 f., wonach freilich der „bürgerliche Staat die Adligen unter Ausnahmerecht stellt und sie zu Bürgern zweiter Klasse macht.“ Hervorhebung auch dort. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 168.
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen
167
nisteri e per le chiese nascondevano, e pareva che ciascuno temesse qualche propinquo male‘ (IF III 10).
c) Ungeeignete Gesetze zur Besserung der Menschen Diese pessimistische Bestandsaufnahme zerrütteter Republiken führt Machiavelli in den D i s c o r s i zu der Einsicht, dass in einem solchermaßen korrupten Gemeinwesen tendenziell eher Raum für eine monarchische Staatsform wäre, weil nur durch sie eine Verhaltensänderung zu erhoffen wäre:⁵⁷² „Aus all den angeführten Gründen ist es außerordentlich schwierig, wenn nicht völlig unmöglich, in verderbten Gemeinwesen eine freiheitliche Verfassung zu erhalten oder neu zu schaffen. Hätte man sie aber dennoch zu schaffen oder zu erhalten, so würde es zweckmäßig sein, sie mehr der monarchischen als der republikanischen Staatsform anzupassen, damit die Menschen, die wegen ihrer Haltlosigkeit durch Gesetze allein nicht gebessert werden können, von einer annähernd königlichen Macht einigermaßen im Zaum gehalten werden.“⁵⁷³ – ‚Da tutte le soprascritte cose nasce la difficultà o impossibilità, che è nelle città corrotte, a mantenervi una republica o a crearvela di nuovo. E quando pure la vi si avesse a creare o a mantenere, sarebbe necessario ridurla piú verso lo stato regio che verso lo stato popolare, acciocché quegli uomini i quali dalle leggi per la loro insolenzia non possono essere corretti, fussero da una podestà quasi regia in qualche modo frenati‘ (D I 18). Diese Spekulation ist wohl Ausdruck der Erkenntnis Machiavellis, dass Republiken keine dauerhafte Bestandsgarantie haben, sondern durch gegenläufige Staatsformen anhaltend in Schach gehalten werden sollen, damit auf möglichst kompetitive Weise immer eine gewisse Grundspannung aufrechterhalten wird, die in Ermangelung einer als Korrektiv dienenden moralischen Richtschnur oder einer gleichwie gearteten religiösen Richtigkeitsgewähr verhindert, dass die das Gemeinwesen erhaltenden Kräfte innerhalb der Republik erschlaffen und diese mit
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 252, skizziert die Herausforderung, der sich Machiavelli im Folgenden stellt, grenzt allerdings auch mit Wirkung für die Gesetze und Einrichtungen negativ ab: „Wie im Principe sieht auch hier im 18. Kapitel Machiavelli seine Aufgabe weniger darin, doktrinäre Betrachtungen über die spezifischen Merkmale der monarchischen Regierungsform gegenüber der republikanischen anzustellen; ebensowenig könnte man sagen, daß es ihm in den Discorsi in der Hauptsache darum gehe zu beweisen, daß das Problem der ‚Zerrüttung‘ eines Staates gelöst werden könne, indem man ihn von der republikanischen zur monarchischen Regierungsform zurückbildet und so eine sich gegen die alten Gesetze und Staatseinrichtungen auflehnende Materie der ‚nahezu königlichen‘ Autorität eines Herrschers unterstellt“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 67.
168
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
dem unausweichlichen Sittenverfall zugrunde geht.⁵⁷⁴ Gute Gesetze einer Republik sind nach diesem Verständnis tendenziell strenge Gesetze, weil die Furcht vor Sanktionen die Rechtsunterworfenen durchgängig in Atem hält und dem Sittenverfall entgegenwirkt.
d) Gesetze gegen Zügellosigkeit In Machiavellis Abhandlung über die Ve r f a s s u n g d e r S t a d t L u c c a wendet er sich dem Missstand zu, dass die Jugend zügellos wird, weil es an Einrichtungen fehlt, die Strafgewalt über die Bürger haben. Dadurch nahm der Übermut der Jüngeren Formen und Ausmaße an, die ein gleichwie geartetes Einschreiten erforderlich machten: „Es wurde daher, um ihn zu zügeln,vor vielen Jahren ein Gesetz gemacht, das man Gesetz der Zügellosen nennt, was soviel bedeutet als ein Gesetz gegen die Uebermütigen und Schlechtgesinnten.“⁵⁷⁵ – ‚Lucca adunque mancando di questo grado che frenasse la gioventú, conobbe questa insolenza essere cresciuta, e causare cattivi effetti nella città, donde che per frenarla fece una legge molti anni sono, che si chiama legge de’ discoli, che vuole dire degli insolenti e male costumati‘.⁵⁷⁶ Inhalt dieses Gesetzes war ein Verfahren, wonach diejenigen, die über die Stränge schlugen, von einer bestimmten, zahlenmäßig überschaubaren Versamm-
H. Münkler, Geleitwort: Machiavelli, Discorsi – Gedanken über Politik und Staatsführung, 3. Auflage 2007, S. XX, sieht darin eine Art Surrogat für das Fehlen der einen sittlichen Maßstab setzenden Religion und der Moral selbst: „Dass sie (sc. die auf guten Gesetzen beruhenden Republiken) aber auf Dauer angelegt seien, hat Machiavelli bestritten. (…) Am besten sei es freilich, wenn man Republiken unter permanentem Reformdruck halte und sie in eine kontinuierliche Stresssituation versetze, um den Verfallsprozess nach Möglichkeiten gar nicht in Gang kommen zu lassen. Zu diesem Zweck hat er die Institutionalisierung des gemäßigten Konflikts im Innern der Staaten vorgeschlagen. So sollte der sittliche Verfall der Republiken (…) durch die Permanenz der politischen Konkurrenz im Innern verhindert werden. Man kann darin ein Funktionsäquivalent für die Beurteilung politischen Handelns nach den Maßstäben der Moral und Religion sehen.Vor allem aber ist Machiavelli damit zum Theoretiker der partizipativen Parteiendemokratie geworden, wobei er – im Unterschied zu den meisten Liberalen – die Bildung von Parteien nicht von dem Repräsentationserfordernis unterschiedlicher sozialer Positionen und Interessen her entwickelt, sondern auf die Revitalisierungserfordernisse der republikanischen Ordnung verweist. Es ist der innere Konflikt, der Republiken vor Verfall und Niedergang schützt.“ – Möglicherweise hat Machiavelli diese kompetetive Gerechtigkeitsvorstellung, wie viele andere Grundgedanken auch, eher Tacitus als Livius entnommen; vgl. J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019. Machiavelli, Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217, 224. Machiavelli, Sommario delle cose della città di Lucca, 1520, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 715, 720.
IV. Wechselseitige Abhängigkeit von Sitten und Gesetzen
169
lung notiert wurden, und ab einer bestimmten Zahl von Eintragungen ein dreijähriges Exil angeordet wurde:⁵⁷⁷ „Dieses Gesetz war sehr wohl bedacht und hat der Republik sehr genützt, da es auf der einen Seite ein starker Zügel für die Menschen ist, und auf der anderen die Menge der Verwiesenen sich nicht anhäufen kann, da, außer den drei ersten Jahren nach Einführung des Gesetzes jedesmal soviel Verwiesene zurückkehren als sich entfernen müssen. Allein das Gesetz reicht doch nicht. Die Jünglinge, die adelig, reich und von einflußreicher Verwandtschaft sind, fürchten es wegen der geringen Zahl der Stimmenden nicht (…) und man hat bis jetzt noch kein Mittel dagegen gefunden.“⁵⁷⁸ – ‚Fu questa legge benissimo considerata ed ha fatto un gran bene a quella repubblica, perché dall’un canto ella è un gran freno agli uomini, dall’altro non può fare moltitudine di confinati, perché dai primi tre anni che la fu fatta in fuori, tanti ragguagliati ne ritorna, quanti ne esce. Ma quella non basta, perché i giovani che sono nobili, ricchi e di gran parentado, rispetto alla strettezza del partito, non ne temono (…), e per infino ad ora non ci hanno trovato rimedio.‘⁵⁷⁹ Das beste Gesetz vermag also gegen abstammungsbezogene Privilegien nichts auszurichten, wenn es zugunsten Einzelner umgangen oder nicht gegen sie angewendet wird und diese im Vorhinein wissen, dass die Sanktionen für sie nicht gelten bzw. nachträglich aufgehoben werden. Auch ein Gesetz, das wie das hier in
V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 41, schildert anschaulich, wie in Florenz zum Schutz der Medici Wahlverfahren, bei denen scheinbar jeder Bürger gleiche Wahl- und Zugangschancen zu öffentlichen Ämtern hatte, durch Los derart manipuliert wurden, dass von vornherein nur genehme Kandidaten in den Lostopf gelangten. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften,Vierter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 275, setzt dieses dubiose Verfahren voraus: „Hierauf befestigten sie sich durch Gesetze und Einrichtungen und nahmen neue Squittinien vor, indem sie die Namen ihrer Feinde aus den Beuteln herausnahmen und diese mit den Namen ihrer Freunde anfüllten.“ – Das scheint mit der vorliegenden Problematik vorderhand nichts zu tun zu haben, zeigt aber, dass Machiavelli, wie allen Florentinern, klar war, dass solche Verfahren selten unvoreingenommen und ohne Ansehen der Person erfolgten (siehe auch J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 108 f.). Die Stelle veranschaulicht allerdings im Hinblick auf die von Machiavelli erkannte Manipulierbarkeit paradigmatisch die Richtigkeit der Würdigung durch J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 161: „Erst Niccolò Machiavelli wird ernüchtert die politische Macht als eine vergegenständlichte, also manipulierbare Größe begreifen, mit deren Erwerb, Erhaltung und Verwendung ein ebenso rationaler wie machtbewusster Fürst kalkulieren kann.“ Hervorhebungen auch dort; ähnlich ebenda, S. 876. Machiavelli, Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217, 225. Machiavelli, Sommario delle cose della città di Lucca, 1520, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 715, 720.
170
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Rede stehende, durch eine zeitlich bemessene Fluktuation theoretisch einen angemessenen Interessenausgleich garantiert und damit unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sorgsam austariert ist, erweist sich als wirkungslos, wenn gerade diese Mechanismen dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass sie bestimmte Rechtsunterworfene faktisch nicht treffen können. Der eigentliche Sittenverfall besteht dann weniger im Anlass der Gesetzgebung als vielmehr in der ungerechten Bevorzugung, die durch das Gesetz noch zementiert und scheinlegalisiert wird.
V. Geschichtliche Gesetzmäßigkeiten Wenn die staatlichen Einrichtungen möglichst mit den Gesetzen in Einklang gebracht werden sollen, sie aber ihrer Natur nach schwerfällig und annähernd unwandelbar sind, dann fragt sich, auf welche Weise man wenigstens zum Schein, der ja für Machiavelli eine besondere Bedeutung hat, eine strukturelle Veränderung möglich ist, die gleichwohl das Volk nicht aufbegehren lässt: „Da alles Neue die Gemüter der Menschen erregt, so muss man bestrebt sein, bei Veränderungen so viel als möglich beim Alten zu lassen und soll, wenn auch die Zahl, die Machtbefugnisse und die Amtsdauer der Regierungsmitglieder gegenüber früher geändert wird, wenigstens die Amtsbezeichnungen beibehalten.“⁵⁸⁰ – ‚Perché alterando le cose nuove le menti degli uomini, ti debbi ingegnare che quelle alterazioni ritenghino piú dello antico sia possibile; e si i magistrati variano e di numero e d’autorità e di tempo, degli antichi che almeno ritenghino il nome‘ (D I 25). Der Nachsatz, wonach tunlichst dieselben Begriffe der Magistrate zu verwenden sind, enthält eine genuin taciteische Einsicht, die Machiavelli fast wörtlich aufgreift.⁵⁸¹
1. Geschichte als magistra vitae Machiavelli erkennt, dass der Mensch von Natur aus ablehnend und misstrauisch gegenüber allem Neuartigen und Fremden eingestellt ist, dessen Sinnhaftigkeit sich ihm nicht auf Anhieb erschließt. Ein gewisser Zynismus wohnt gleichwohl der Empfehlung inne, das Phänotypische beizubehalten, um das Genotypische diskret ändern zu können, obwohl diese Veränderung ungleich einschneidender ist. Auch diese Einsicht ist ihm historisch zugewachsen, wie sich aus einer späteren Stelle
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 78. Tacitus, Annales, 1, 3, 7: ,eadem magistratuum vocabulaʻ.
V. Geschichtliche Gesetzmäßigkeiten
171
ergibt: „Wer sich mit der gegenwärtigen und antiken Geschichte beschäftigt, erkennt leicht, dass alle Staaten und alle Völker von jeher die gleichen Launen hatten. Untersucht man also sorgfältig die Vergangenheit, so ist es ein Leichtes, in jedem Staat die Zukunft vorherzusehen und die gleichen Mittel anzuwenden, die auch von den Alten angewandt wurden, oder bei ähnlichen Ereignissen neue auszudenken, wenn bereits erprobte Mittel nicht zur Hand sind.“⁵⁸² – ‚E’ si conosce facilmente per chi considera le cose presenti e le antichi, come in tutte le città ed in tutti i popoli sono quegli medesimi desideri e quelli medesimi omori, e come vi furono sempre. In modo che gli è facil cosa a chi esamina con diligenza le cose passate, prevedere in ogni republica le future e farvi quegli rimedi che dagli antichi sono stati usati, o non ne trovando degli usati, pensare de’ nuovi per la similitudine degli accidenti‘ (D I 39). Hinter dieser Ansicht steht wohl ihrerseits eine Lehre der Antike, nämlich diejenige Ciceros, wonach die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens ist.⁵⁸³ Es ist ein ausgeprägt historistischer Standpunkt, der aus der Vergangenheit Rückschlüsse auf die Zukunft zieht und sich unentschieden gibt, wo historische Vorbilder fehlen (D I 18). So findet Machiavelli auch für das zuvor Gesagte ein historisches Vorbild, indem er auf ein altrömisches Gesetz anspielt, mit dem der Titel ‚Konsul‘ abgeschafft wurde, dadurch aber beim Volk Vorbehalte schuf, die sich an der bloßen Äußerlichkeit der Amtsbezeichnung festmachten, ohne die rechtlichen Befugnisse zu würdigen. Daraus lernte man, dass es vorzugswürdig sei, wie Machiavelli für richtig hält (D I 25), den alten Titel wieder aufzugreifen, so dass rein äußerlich alles beim Alten blieb und sich auch das Volk da rein fand (D I 39).
2. Ambivalente Einschätzung des Volkes Machiavelli denkt mitunter in Extremen; nicht selten fehlt ihm der Sinn für Maß und Mitte: „Doch die Menschen wählen immer den Mittelweg, den schädlichsten Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 107. Cicero, De oratore II 9: ,Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?ʻ; R. Koselleck, Historia Magistrae Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1989, S. 38, sub I., spannt den Bogen zum Vorwort des ersten Buchs von Machiavellis Discorsi: „Mit der Verflüchtigung endzeitlicher Erwartungen drängte sich freilich die alte Geschichte als Lehrmeister wieder vor. Machiavellis Aufforderung, die alten nicht nur zu bewundern, sondern nachzuahmen, verlieh dem Vorsatz, der Historie ständig Nutzen abzugewinnen, deshalb seine Brisanz, weil er exemplarisches und empirisches Denken zu einer neuen Einheit verbunden hat.“ Siehe auch R. Mellor,Tacitus, 1993, p. 48.
172
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
von allen; denn sie verstehen weder ganz böse noch ganz gut zu sein.“⁵⁸⁴ – ‚Ma gli uomini pigliono certe vie del mezzo che sono dannosissime; perché non sanno essere né tutti cattivi né tutti buoni‘ (D I 26).⁵⁸⁵ Von dieser Geringschätzung des Mittelwegs wird weiter unten noch die Rede sein. Einstweilen interessiert daran hier nur die Grundtendenz dieser Aussage, die einen aggressiven Unterton verrät, der jedenfalls für das erste Buch der D i s c o r s i an sich eher untypisch ist.
a) Allgegenwärtige Angst des Volkes vor Strafe Nicht zuletzt durch solche Bekenntnisse entsteht auch im Hinblick auf die Gesetzgebung der Eindruck, dass Machiavelli von einem Extrem ins andere fällt.⁵⁸⁶ Auch seine Grundannahmen sind keineswegs unanfechtbar, wenn er etwa über den Freistaat apodiktisch verfügt: „Ein Staat mit einer freien Verfassung hat zwei Ziele; das eine ist, neues Land zu erobern, das andere, seine Freiheit zu erhalten.“⁵⁸⁷ – ‚Perché avendo una città che vive libera duoi fini, l’uno lo acquistare, l’altro il mantenersi libera‘ (D I 29). Während die zweitgenannte Zwecksetzung keinem Zweifel unterliegt, ist die erstere wohl nur zeitbedingt verständlich. Den imperialistischen Unterton würde man wohl eher im P r i n c i p e vermuten.⁵⁸⁸ Aufschlussreicher sind seine Ausführungen daher dort, wo er nicht die Zielsetzungen von Institutionen, sondern das Verhalten von Individuen schildert,⁵⁸⁹ das zwar von einer durch und durch pessimistischen anthropologischen Anschauung durchsetzt ist, nichtsdestoweniger jedoch realistisch wirkt, wenn er etwa die Dauerhaftigkeit der Freiheit damit begründet, dass „die Furcht vor Strafe die Menschen besser und weniger ehrgeizig macht.“⁵⁹⁰ – ‚Piú mantenendosi per paura di punizione gli uomini migliori e Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 79. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 984, folgert unter Verweis auf D I 26: „In einem Punkt hat Machiavelli recht – wenn man sich für den Weg der Gewalt entscheidet (wann man sich für ihn entscheiden darf, kann Machiavelli freilich nicht sagen), dann soll man konsequent sein.“ – Der Klammerzusatz verdient Hervorhebung, zumal da diese in Machiavellis politischem Denken angelegte Unentschiedenheit auch einen tiefgreifenden Mangel seiner Theorie ausmacht. Auch im Vermeiden der Extreme liegt wohl ein fundamentaler Unterschied zu den Lehren des um mehr als ein halbes Jahrhundert später schreibenden Montaigne; vgl. dazu J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 84. Siehe auch J. P. McCormick, The (In)Compatibility of Liberty and Empire in Machiavelli’s Political Thought, in: Domination and Global Political Justice: Conceptual, Historical and Institutional Perspectives (Hg. B. Buckinx/J. Trejo-Mathys/T. Waligore), 2014, p. 133. Auch darin besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Tacitus; vgl. J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 12 ff. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 85.
V. Geschichtliche Gesetzmäßigkeiten
173
meno ambiziosi‘ (D I 29). Es handelt sich hierbei nämlich um eine allgegenwärtige Angst, wie er bereits im P r i n c i p e kategorisch feststellt: „Furcht dagegen beruht auf der Angst vor Strafe, die den Menschen nie verläßt.“⁵⁹¹ – ‚Ma il timore è tenuto da una paura di pena che non ti abbandona mai‘ (P XVII).
b) Gesetzliche Gratifikationen Ambivalent ist, wie gesehen, auch seine Einschätzung des Volkes, das er einerseits für so urteilskräftig hält, dass sein Gerechtigkeitsempfinden und die daraus resultierende öffentliche Meinung für ihn eine unhintergehbare Konstante ist, gegen die sich aufzulehnen den meisten Machthabern zum Verhängnis wird (P IX).⁵⁹² Das hängt mit der Langlebigkeit des Gedächtnisses zusammen, die beim Volk gegeben ist und die Merkfähigkeit des Individuums übersteigt, so dass sich auch die Negativerfahrungen perpetuieren: „Das Volk empfindet noch Abscheu vor etwas und bewahrt viele Jahrhunderte die gleiche Gesinnung.“⁵⁹³ – ‚Vedesi uno popolo cominciare ad avere in orrore una cosa, e molti secoli stare in quella opinione‘ (D I 58). Andererseits zeigt er sich im Interesse der Staatsraison durchaus geneigt, die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit des Volkes zu vereinnahmen und ihm Erfolge und Gegebenheiten zu suggerieren, die nur dem Schein nach bestehen.⁵⁹⁴ Hierzu gehört auch seine aus historischen Vorbildern gewonnene Einsicht, dass man dem Volk mitunter durch unmaßgebliche gesetzliche Gratifikationen
Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 69. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 135, macht darauf aufmerksam, dass „die Komplexität des politischen Machtkampfes (…) durch die Existenz der öffentlichen Meinung vermehrt wird, die einesteils bestimmte machiavellistische Praktiken aufdecken und überwinden kann, andernteils selbst ein sehr wichtiger Faktor im Spiel um die Macht in den Demokratien geworden ist.“ – Es spricht angesichts der vielschichtigen Einbeziehung der öffentlichen Meinung in Machiavellis Schriften einiges dafür, dass er diese Ambivalenz der öffentlichen Meinung zumindest rudimentär schon zu einer Zeit erkannt hat, als ihre immense Auswirkung durch mediale Vervielfältigung noch gar nicht vorstellbar war. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 151. D. Hoeges, Zur Ästhetik der Macht. Machiavellis „neuer Fürst“ – eine Herrschernovelle. Von „Castruccio Castracani“ zu „Il principe“, 1998, S. 45, 61, hat den Zusammenhang zwischen Macht und Schein am Beispiel von Machiavellis genannter Herrschernovelle im Verhältnis zum Principe im Nachwort der von ihm übersetzten Ausgabe herausgearbeitet und gelangt zu Ergebnissen, die dem im Text Angedeuteten entsprechen und damit den werkimmanenten Zusammenhang erhellen: „Macht entscheidet sich für Machiavelli – wie später für Thomas Hobbes – über Tatsächlichkeit und Anschein, über das ‚ist‘ und das ‚als ob’. Ihre Handhabung erfordert zwingend die Fähigkeit, sie sinnlich zu vermitteln. Art und Weise ihrer Darstellung werden zu einer Bedingung für ihre Ausübung und Bewahrung. Das ‚ist‘ und das ‚als ob‘ vermischen sich: das Publikum kann prima vista Macht und Schein nicht unterscheiden“.
174
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
entgegenkommen muss, um ein Wohlwollen zu erzeugen, das an entscheidender Stelle gleichsam abgerufen werden kann: „Auch hatte das Volk gesehen, dass schon vorher Gesetze zu seinen Gunsten erlassen worden waren, zum Beispiel das Gesetz über die Berufung an das Volk.“⁵⁹⁵ – ‚E aveva veduto quel popolo come innanzi si erano fatte leggi in beneficio suo, come quella dell’appellagione alla plebe‘ (D I 32). Überhaupt ist das Volk aus Machiavellis Sicht dankbarer, stärker an Rechtlichkeit und dementsprechend an Unrechtsvermeidung interessiert als jeder der tendenziell unzufriedenen und maßlosen Alleinherrscher, wie folgende bereits weiter oben behandelte Stelle aus dem P r i n c i p e illustriert: „Außerdem kann man die großen Herren nie zufriedenstellen. Denn das Streben des Volkes ist rechtschaffener als das der großen Herren, da diese das Volk unterdrücken wollen, das Volk jedoch nur nicht unterdrückt werden möchte.“⁵⁹⁶ – ‚Oltre a questo non si può con onestà satisfare a’ grandi, e sanza iniuria d’altri, ma sí bene al populo: perché quello del populo è piú onesto fine che quello de’ grandi, volendo questi opprimere e quello non essere oppresso‘ (P IX). Dieser Gedanke, der den werkimmanenten Zusammenhang herstellt, könnte ebenso gut oder womöglich noch besser in den D i s c o r s i stehen und die Vorzugswürdigkeit der Republik gegenüber der Alleinherrschaft veranschaulichen.⁵⁹⁷
VI. Gesetzgebung und Bindung Alle diese Ausführungen erhellen, warum Machiavelli das Gesetz so versteht, wie es die hier verwendete Übersetzung besonders prägnant zum Ausdruck bringt, nämlich als „Lebensnerv der Freiheit:“⁵⁹⁸ – ‚Una legge la quale è il nervo e la vita del vivere libero‘ (D I 33). Es ist einerseits etwas Lebendiges, das auf die konkreten Belange des Volkes und der Rechtsunterworfenen zielt, indem es Freiheitssphären
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 90. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 40. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 216, macht allerdings mit Recht auf einen prinzipiellen Unterschied aufmerksam, der zeigt, dass die im Text angestellte Hypothese nur die Ausnahme von der Regel darstellt: „In diesem Sinn – und es ist ein grundlegend wichtiger Punkt – ist der Unterschied zwischen dem Principe und den Discorsi wirklich sehr weitgehend, und es ist wichtig, daß er gerade auf den unterschiedlichen Maßstäben ihrer historischen Auffassungen beruht. In dem weitgefaßten Rahmen der staatlichen Zustände, die die Discorsi mit einer Gründlichkeit behandelt, die in den anderen Werken Machiavelli nicht erreicht wird, schwächt sich die unverblümte Direktheit der Politik des Principe ab.“ Im Folgenden spricht er von „der geringeren Tiefgründigkeit des Principe“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 92.
VI. Gesetzgebung und Bindung
175
ordnet und geschützte Räume schafft, innerhalb derer dem Einzelnen Anklagemöglichkeiten gegen Willkürakte eröffnet werden (D I 7). In sinngemäßer Übertragung der physiologisch geprägten Formulierung Machiavellis könnte man von der Gesetzgebung als dem Nervensystem des Freistaats sprechen. Durch diese individuellen Anklagemöglichkeiten wird in einem Freistaat ebenso wie in der Monarchie, in der der König den Gesetzen gehorcht, zugleich auch die Freiheit institutionell geschützt (D I 58). Zum andern ergibt sich aus dieser prägnanten Beschreibung des Gesetzes auch, dass die Gesetzgebung buchstäblich der neuralgische Punkt des Gemeinwesens ist.
1. Gesetze als Heilmittel nach Maßgabe der Geeignetheit und Erforderlichkeit Machiavellis griffige Ausdrucksweise ist kein Zufall, da er gleich zu Beginn im Proömium der D i s c o r s i das Gemeinwesen mit einem Organismus vergleicht, der von Krankheiten befallen sein kann (D I Proemio). Auch im Zusammenhang mit dem letztgenannten Verständnis des Gesetzes als Nerv freien Zusammenlebens, das ja eine physiologische Komponente enthält, gelangt er zu einer ähnlichen Anleihe aus der Medizin: „Man muss die Bösartigkeit einer Krankheit genau untersuchen, und wenn man kräftig genug ist, sie zu heilen, so tue man es ohne Bedenken; andernfalls lasse man alles gehen und mache keinerlei Heilungsversuche.“⁵⁹⁹ – ‚Ma si debbano considerare bene le forze del malore, e quando ti vedi sufficiente a sanare quello, metterviti sanza rispetto; altrimenti lasciarlo stare né in alcun modo tentarlo‘ (D I 33). Gesetze können in diesem Sinne also durchaus als Heilmittel verstanden werden, die nicht unkontrolliert erlassen bzw. verabreicht werden sollen, sondern nur da, wo es unter dem Gesichtspunkt der Geeignetheit und Erforderlichkeit nottut. Dabei könnte es sich um einen zeitbedingten Topos handeln, den man ausgerechnet im Hinblick auf die Gesetzgebung auch bei Machiavellis Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam finden kann, der in seinem ungefähr zur gleichen Zeit verfassten Fürstenspiegel ebenfalls den medizinischen Vergleich bemüht,⁶⁰⁰ indem er die wohl dosierte Gesetzgebung mit der Tätigkeit eines guten Arztes vergleicht, der nicht zuviele Medikamente verabreicht.⁶⁰¹
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 93 f. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 888, bemerkt süffisant: „Die Widmung des Il Principe (1513) hat den Adressaten (Lorenzo di Piero de‘ Medici) zum Nachdenken über die verblüffende Tatsache anregen müssen, dass sich der Autor, ein wohlbekannter hoher Beamter der Republik Florenz, mit einem Buch um seine Gunst bemüht, welches ihm wie allen Fürsten seiner Zeit ein moralisch keineswegs schmeichelhaftes Bild vorhält“.
176
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Auch in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z vergleicht Machiavelli die Republik mit einem Körper: „Die Republiken, obgleich sie zusammengesetzte Körper sind, haben mit den einfachen Körpern Ähnlichkeit, und wie in diesen häufig Krankheiten entstehen, die ohne Eisen oder Feuer nicht geheilt werden können, so reißen in jenen oft so große Übelstände ein, daß ein frommer und guter Bürger, obgleich das Eisen dazu nötig ist, viel mehr sündigt, wenn er sie ungeheilt läßt, als wenn er sie heilt. Was aber kann eine größere Krankheit sein für den Körper einer Republik als die Knechtschaft? Welche Arznei ist notwendiger anzuwenden als die, welche sie von dieser Krankheit heilt?“⁶⁰² – ‚Perché le città, ancora che sieno corpi misti, hanno con i corpi semplici somiglianza; e come in questi nascono molte volte infermità che sanza il fuoco o il ferro non si possono sanare, cosí in quelle molte volte surge tanti inconvenienti che uno pio e buono cittadino, ancora che il ferro vi fusse necessario, peccherebbe molto piú a lasciarle incurate che a curarle. Quale adunque puote essere malattia maggiore a uno corpo di una republica che la servitú? Quale medicina è piú da usare necessaria che quella che da questa infirmità la sollevi?‘ (IF V 8). Diese Vergleiche und rhetorischen Fragen sind zwar Bestandteil einer stilisierten Rede, doch enthalten sie, wie so oft in den mehr oder minder wiedergegebenen Reden, auch genuin eigene Ansichten Machiavellis. Daher verwundert nicht, dass er auch in den D i s c o r s i im quasi medizinischen Sinne von einem ‚gesunden Staatswesen‘ spricht: „Die Gründe fallen in die Augen. Erstens muss ein Bürger, damit er dem Staat Schaden zufügen und sich eine ungesetzliche Gewalt anmaßen kann, im Besitz vieler Vorzüge sein, die er in einem gesunden Staatswesen nie haben kann: er muss sehr reich sein, muss sehr viele Anhänger und Parteigänger haben, die er unmöglich haben kann, wenn die Gesetze beachtet werden.“⁶⁰³ – ‚Di che ce ne sono ragioni evidentissime. Prima, perché a volere che un cittadino possa offendere e pigliarsi autorità istraordinaria, conviene ch’egli abbia molte qualità le quali in una republica non corrotta non può mai avere: perché gli bisogna essere ricchissimo ed avere assai aderenti e partigiani, i quali non può avere dove le leggi si osservano‘ (D I 34). Despoten treten nämlich häufig auf, wenn das Staatswesen bereits infiziert ist, wenn sich Pathologien eingenistet haben, weil und sofern die Gesetze wirkungslos geworden sind, nicht
Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 165: ,Non optime agitur cum aegrotis, quotiens indoctus Medicus pharmaca pharmacis accumulatʻ. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 282. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 95.
VI. Gesetzgebung und Bindung
177
zuletzt aufgrund des allgemeinen Sittenverfalls, der ja, wie erinnerlich, in einer Beziehung der Wechselwirkung mit der Gesetzgebung steht.⁶⁰⁴
2. Antizipative Sicherung von Rechtspositionen Ein beherrschender Grundgedanke des Gesetzesverständnisses Machiavellis besteht in der im Vorhinein bestimmten Sicherung aller Rechtspositionen, die illegitime Eingriffe unmöglich machen und dort, wo sie dennoch stattfinden, eine Handhabe zur Anklageerhebung bieten: „In einem Freistaat sollte nie etwas vorkommen, das die Anwendung ungesetzlicher Mittel nötig macht; denn wenn auch das ungesetzliche Mittel für den Augenblick vorteilhaft ist, so schadet doch das Beispiel. Die Gewohnheit aber, die Verfassung zu guten Zwecken zu brechen, bewirkt, dass man sie unter diesem Deckmantel auch dann zu schlechten bricht. Ein Freistaat wird daher niemals vollkommen sein, wenn er nicht in seinen Gesetzen alles vorgesehen, für jedes Ereignis nicht die entsprechende Abhilfe festgelegt und die Art und Weise bestimmt hat sie anzuwenden.“⁶⁰⁵ – ‚Ed in una republica non vorrebbe mai accadere cosa che con modi straordinari si avesse a governare. Perché, ancora che il modo straordinario per allora facesse bene, nondimeno lo esemplo fa male: perché si mette una usanza di rompere gli ordini per bene, che poi sotto quel colore si rompono per male. Talché mai fia perfetta una republica se con le leggi sue non ha provisto a tutto, e ad ogni accidente posto il remedio e dato il modo a governarlo‘ (D I 34). Interessant ist hieran im Ausgangspunkt, dass Machiavelli bei allem anthropologischen Pessimismus die Idealvorstellung eines durch Gesetze wohlgeordneten republikanischen Gemeinwesens nicht aufgegeben hat.⁶⁰⁶ Erneut begegnet zugleich das Motiv schlechter Beispiele, die das Rechtsbewusstsein erschüttern. Auch wiederholt diese Stelle den Grundgedanken, dass es gesetzlicher Mittel bedarf, um gegen einen rechtsbrecherischen Mitbürger vorzugehen, weil andernfalls gesetzeswidrige Mittel angewendet werden (D I 7). Zu all diesen Konstellationen auch J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 550 ff. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 96. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 245: „Eine wohlgeordnete Republik soll allen sich in ihr regenden Leidenschaften ein gesetzliches Ventil bieten können, und Florenz beweist auf negativem Weg die Richtigkeit dieser Ansicht.“ Hervorhebung nur hier. Siehe auch H.-J. Diesner, Machiavellis Illusion eines perfekten Staates, 1994; M. Fischer,Well-Ordered License. On the Unity of Machiavelli’s Thought, 2000. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 17, arbeitet – vertiefend im zweiten Kapitel seines Buches – heraus, “that Machiavelli prescribed socioeconomic conditions of substantive equality for the realization of liberty within well-ordered popular governments”.
178
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
3. Notstandsgesetzgebung Schließlich erkennt Machiavelli den Gesichtspunkt gewohnheitsmäßiger Aufweichung der Verfassung, die Missbräuchen Tür und Tor öffnet. Auch hier diktiert ihm seine eminente Menschenkenntnis die Erörterung der Gefahr, dass zu weniger hehren Zwecken Verfassungsbrüche einreißen, wenn man sie zu vorgeblich guten zulässt. Ausnahme- und Notstandsregeln tragen eben immer die Möglichkeit in sich, erweiternd ausgelegt zu werden, wenn es den Mächtigen günstig erscheint. Und dennoch lässt Machiavelli sie unter Berufung auf die in klar bestimmten zeitlichen Grenzen ermöglichte Diktatur im alten Rom sowie Notstandsbestimmungen der Republik Venedig zu,⁶⁰⁷ betont allerdings, dass nicht ein Einzelner in dringenden Angelegenheiten eigenmächtig entscheiden können soll, sondern eine kleine Zahl unter der Bedingung der Einstimmigkeit:⁶⁰⁸ „Die Republik Venedig (…) hat einigen wenigen Bürgern das Recht vorbehalten, in dringenden Fällen ohne anderweitige Beratung unter der Voraussetzung der Einstimmigkeit Entscheidungen jeder Art zu fällen. Fehlt einem Freistaat eine solche Einrichtung, so ist es unausbleiblich, daß er entweder bei Aufrechterhaltung der Verfassung zugrunde geht oder, um nicht zugrunde zu gehen, die Verfassung brechen muss.“⁶⁰⁹ – ‚E la republica viniziana (…) ha riservato autorità a pochi cittadini che ne’ bisogni urgenti, sanza maggiore consulta, tutti d’accordo possino deliberare. Perché, quando in una republica manca uno simile modo, è necessario, o, servando gli ordini, rovinare, o, per non rouinare, rompergli‘ (D I 34). Machiavelli begründet das Dilemma stilistisch wirkungsvoll durch die chiastische Anordnung, innerhalb derer der unausweichliche Zusammenbruch der ordnenden Einrichtungen inmitten angeordnet ist.⁶¹⁰
Siehe dazu auch F. Gilbert, The Venetian Constitution in Florentine Political Thought, in: Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence (Hg. N. Rubinstein), 1968, p. 442. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 652 mit Fn. 159, bezeichnet die vorübergehende Diktatur mit Recht als „wichtige Differenzierung Machiavellis“ und zieht eine geistesgeschichtliche Linie bis zu Carl Schmitt. Siehe auch J. P. McCormick, The Dilemmas of Dictatorship: Towards a Theory of Constitutional Emergency Powers, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 10 (1997) 163. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 96. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 271: „In den Augenblicken höchster Spannung entfaltet sich Machiavellis Argumentation in fast syllogistischer Form.“ – Diese treffende Beobachtung, die übrigens eine Bestätigung in der das bruchlose Denken untermauernden Wiederholung zentraler Begriffe, die er möglichst nicht mit Synonymen variiert, erfährt, dürfte ein Grund dafür sein, dass Machiavellis Darstellungsweise dem juristischen Denken entgegenkommt.
VI. Gesetzgebung und Bindung
179
4. Legislatorische Selbstbeschränkung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung Auch wenn der rigide Gesetzespositivismus Machiavellis irritieren mag, ist ihm andererseits zuzubilligen, dass er gerade bei eingreifenden Akten den Gedanken des Vorbehalts des Gesetzes annäherungsweise vorausahnt. Allerdings gehen solche andeutungsweisen Vorwegnahmen bei Machiavelli oft einher mit eigentümlichen Härten.
a) Repressives Gesetzesverständnis trotz Selbstbindung öffentlicher Gewalt Der dahinterstehende Gedanke der Selbstbindung öffentlicher Gewalt, die mit einer legislatorischen Selbstbeschränkung einhergeht, wird von Machiavelli wiederum in einer medizinisch-physiologischen Weise erläutert D (III 1): „Wunden und jedes andere Übel, das sich der Mensch aus freien Stücken und aus eigener Wahl selber zufügt, schmerzen viel weniger als Wunden und Übel, welche ihm von anderen zugefügt werden.“⁶¹¹ – ‚Perché le ferite ed ogni altro male che l’uomo si fa da sé spontaneamente e per elezione, dolgano di gran lunga meno che quelle che ti sono fatte da altrui‘ (D I 34). Man darf allerdings auch den repressiven Zug des machiavellischen Gesetzesverständnisses nicht übersehen, der im Bemühen um eine möglichst lückenlose Sanktionierung von Übertretungen einengend wirken kann, wenn es auch im Interesse gerechter Bestrafung geboten erscheint: „Diese Erkenntnis soll die Gesetzgeber der Freistaaten und Alleinherrschaften umso mehr veranlassen, die Gelüste der Menschen zu zügeln und ihnen alle Hoffnung zu nehmen, bei Verfehlungen straflos auszugehen.“⁶¹² – ‚Il che esaminato bene, farà tanto piú pronti i latori de leggi delle republiche o de’ regni a frenare gli appetiti umani, e tòrre loro ogni speranza di potere impune errare‘ (D I 42).
b) Bindung des Gesetzgebers an die selbstgeschaffenen Gesetze Das Gesagte verdeutlicht eine subjektiv gefärbte Erfahrungsweisheit Machiavellis, die erneut das auf den Punkt bringt, was weiter oben im Hinblick auf das schlechte Beispiel gesagt wurde, das zur Erschütterung des Rechtsbewusstseins beiträgt (D I 35):⁶¹³ „Denn ich glaube nicht, dass man in einem Staat ein schlechteres Beispiel Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 97. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 117. Tacitus, Annales, 1, 72, lässt im Sinne des im Text folgenden Tiberius sagen: ‚exercendas esse leges‘. Diese Stelle, die nur wenige Kapitel vor der von Machiavelli in seiner Geschichte von Florenz ausdrücklich genannten angeordnet ist (Annales 1, 79), könnte er gekannt haben, selbst wenn ihm
180
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
geben kann, als ein Gesetz zu erlassen und es nicht zu beachten; das Schlimmste aber ist, wenn der Gesetzgeber selbst es nicht einhält.“⁶¹⁴ – ‚Perché io non credo che sia cosa di piú cattivo esemplo in una republica che fare una legge e non la osservare‘ (D I 45). Auch das entspricht einer taciteischen Einsicht.⁶¹⁵ Bemerkenswert ist die Abstufung, die der Sache nach zwischen Gesetzesvollziehung und Gesetzgebung unterscheidet. Wenn die Gerichte oder Behörden Gesetzesübertretungen nicht ahnten, ist dies für Machiavelli schlimm genug, weil das Gesetz wirkungslos wird und in der Anschauung der Rechtsunterworfenen unfreiwillig Anreize gesetzt werden, ihrerseits das Gesetz zu übertreten oder gegen andere Gesetze zu verstoßen. Machiavelli hat aber auch den Fall vorausgesehen, dass der Gesetzgeber seine eigenen Gesetze ignoriert oder sich zu ihnen in Widerspruch setzt. Die Erschütterung des Rechtsempfindens der öffentlichen Meinung in solchen Fällen scheint ihm kaum steigerungsfähig. Der Gesetzgeber verliert gleichsam jeden Kredit, den er bei der Bevölkerung angesammelt hat. Der Sache nach hat Machiavelli hier den Gedanken der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung vorhergesehen.⁶¹⁶
c) Gesetzliche Selbstbeschränkung und zwangsweiser Befehl Wie sehr eine gesetzliche Selbstbeschränkung die Gemüter beruhigen kann, wusste Machiavelli auch aus seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , innerhalb derer er einen weisen Redner der Obrigkeit den Forderungen gegen die Mächtigen freiwillig nachkommen lässt, um Schlimmeres und damit größere Rechtsverluste zu verhindern: „Den Großen sind in Rücksicht auf euch durch neue Verordnungen Schranken gesetzt worden. (…) Ich und die Signoren befehlen euch, und erlaubt es der Anstand, so bitten wir euch, haltet einmal inne und beruhigt euch bei den Anordnungen, die wir getroffen haben.Wollt ihr aber doch etwas Neues, so verlangt es auf gesetzlichem Wege, nicht im Aufruhr und mit den Waffen; denn ist euer Begehren ehrbar, so werden wir euch stets willfahren.“⁶¹⁷ – ‚I grandi, a contemplazione vostra, si sono con nuovi ordini raffrenati. (…) Io e questi Signori vi comandiamo, e se la onestà lo consente vi preghiamo, che voi fermiate una volta lo animo, e siate contenti stare quieti a quelle cose che per noi si sono ordinate, e quando pure ne
die Annalen nur in Auszügen zugänglich waren, wie J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 64 f., meint. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 120. Tacitus, Annales, 3, 28, 1, sagt über Pompeius: ,suarum legum auctor et subversorʻ. Grundlegend aus heutiger Sicht C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 172 f.
VI. Gesetzgebung und Bindung
181
volesse alcuna di nuovo, vogliate civilmente e non con tumulto e con le armi domandarle; perché, quando le sieno oneste, sempre ne sarete compiaciuti‘ (IF III 11). Allerdings macht der Redner auch unverhohlen darauf aufmerksam, dass man notfalls andere Saiten aufziehen könne, wie sich aus der rhetorischen Aufzählung ergibt, die den Befehl vor der Bitte anordnet.⁶¹⁸ Immerhin verrät aber der Wunsch nach Gesetzmäßigkeit ein Bestreben um Mäßigung, weshalb wohl Machiavelli auch die Wahrhaftigkeit des Redners hervorhebt.
5. Zwischenergebnis Zum Schluss der Darstellung des Gesetzes sei eine Einsicht Machiavellis hervorgehoben, die gerade die Unfreiheit in der Alleinherrschaft betrifft, weil sie gleichwohl etwas aufscheinen lässt, was für sein Gesetzes- und Rechtsverständnis typisch ist: das buchstäblich Lebendige, das allerdings auch verdorben werden und veröden kann (D I 33). Denn so trocken seine verfassungstheoretischen und die Gesetzgebung zügelnden Ausführungen mitunter zu sein scheinen, werden sie allenthalben aufgelockert durch das, was wohl Machiavellis bleibenden Ruhm ausmacht, nämlich die allgemeinen anthropologischen Einsichten, die psychologischen Gesetze, welche nicht minder allgemeingültig sind als seine Ausführungen zu den Gesetzen des Freistaats: „Denn eine unumschränkte Gewalt verdirbt die guten Sitten eines Volkes in kürzester Zeit und schafft sich Freunde und Anhänger. Es schadet ihr auch gar nichts, wenn sie arm ist und keine Ahnen hat; denn Reichtum und jede andere Gunst laufen sogleich hinter ihr her.“⁶¹⁹ – ‚Perché una autorità assoluta in brevissimo tempo corrompe la materia e si fa amici e partigiani. Né gli nuoce o essere povero o non avere parenti, perché le ricchezze ed ogni altro favore subito gli corre dietro‘ (D I 35).⁶²⁰ Machiavelli hat mit einer Menschenkenntnis, die ihresgleichen sucht, erkannt, dass es nach gewaltsamem Rechtsbruch gerade nicht mehr auf Anciennität ankommt, sondern sich neureich gewordene Gewinnler von selbst als Gefolge einstellen. Hier zeigt sich in voller Geltung, was er weiter oben im Zusammenhang mit der Wechselwirkung von guten Gesetzen und schlechten Sitten angesprochen hat (D I 17). Wenn gute Gesetze fehlen, welche die Willkür beschränken, dann ver-
Auch dies entspricht wohl taciteischem Gedankengut; vgl. Tacitus, Annales, 14, 20, 2; dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 251 f. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 99. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 80, betont die in diesem Kapitel aufscheinenden institutionellen Parameter.
182
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
schlechtern sich augenblicklich die Sitten.⁶²¹ Machiavelli hat hier die Unrechtsregime aller Zeiten allgemeingültig dahingehend charakterisiert, dass zügellose Gewalt abrupt wirkt. Alles, was in guten Staatsverfassungen durch eine allmählich wirkende, evolutionär ausgerichtete und sich mit der Zeit entwickelnde Sittenverfeinerung zu Größe gelangt, wird in Gewaltherrschaften in die entgegengesetzte Richtung versetzt, und zwar schnell, mithin revolutionär.⁶²² Die geradezu dämonische Einsicht Machiavellis, deren empirisches Material er von früh auf in der Zuwendungspolitik der Medici vorgefunden haben dürfte, betrifft jedoch die Beobachtung des zeitlich versetzten Gleichlaufs von Geld und Gunst. Der Strom des Geldes fließt gleichsam unmittelbar dort, wo die entfesselte Willkür eine Schneise geschlagen hat. Dass Profiteure der Revolution nicht auf altehrwürdige Titel oder Dignität zurückblicken können, schadet ihnen nicht, weil und sofern sie an der unumschränkten Gewalt teilhaben. Ihnen fließen Geldmittel auch von jenen zu, die sie vor Kurzem noch keines Blickes gewürdigt hätten.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft Der abschließende Teil des ersten Buches der D i s c o r s i beschäftigt sich mit den Grundlagen der Gesetze, also dem Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Gesetzgebung, den Gesetzen als Mittel forcierter Güterzuordnung und damit der Aufrechterhaltung der Freiheit durch Gesetze.
1. Rückwirkung von Gesetzen Machiavellis letztgenannte Einsicht, dass die Reichen eher früher als später dem Gewaltherrscher in sittlich verkommenen Zeiten folgen, findet eine eigenartige
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 596 mit Fn. 68, folgert richtig: „Da der Zweck politischen Redens das Handeln ist, sind gemeinsame Sitten, die das Recht tragen, noch wichtiger als die Sprache“. Vor diesem Hintergrund ist es gerade im Hinblick auf die Gesetze interessant, auf welche Weise L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 62, den Principe als Werk eines Revolutionärs in Betracht zieht und beschreibt: “As matters stand, it is necessary to add the remark that, in describing the Prince as the work of a revolutionary, we have used that term in the precise sense: a revolutionary is a man who breaks the law, the law as a whole, in order to replace it by a new law which he believes to be better than the old law.” Siehe auch die mit Bedacht auf die Ebene religiöser Gesetzgeber gehobene Beschreibung ebenda, p. 64: “The liberator of Italy is described as a new prince, for the liberation of Italy presupposes the introduction of new laws and new orders: he must do for Italy what Moses did for the people of Israel”.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
183
Entsprechung, wenn auch im umgekehrten Sinne, bei der Staatsform der Republik, für die Machiavelli eine auf den ersten Blick erstaunliche Klugheitsregel empfiehlt, nämlich dass wohlgeordnete Republiken darauf achten sollten, dass nicht der Bürger, sondern der Staat reich ist (D III 16; 25).
a) Gesetze mit Tendenz zur Umverteilung Es geht ihm vor allem um Gesetze, die eine deutliche Tendenz zur Umverteilung haben, der eher entgegengewirkt werden sollte, weil sie naturgemäß eben einige Bürger auch sehr reich machen kann. Denn jede Art der Umverteilung schafft Begehrlichkeiten, die letztlich in der conditio humana gründen: „Da nun das Verlangen, etwas zu erwerben, immer größer ist als die Fähigkeit hierzu, so entsteht daraus Unzufriedenheit mit dem, was man besitzt, und ferner die Erkenntnis, welch geringe Befriedigung der Besitz gewährt. Hierauf ist der Wechsel der menschlichen Schicksale zurückzuführen; denn da der eine Teil der Menschen mehr haben möchte, und der andere das, was er hat zu verlieren fürchtet, so kommt es zu Feindseligkeit und Krieg, der den Ruin des einen und die Erhöhung des anderen Landes zur Folge hat.“⁶²³ – ‚Talché essendo sempre maggiore il desiderio che la potenza dello acquistare, ne risulta la mala contentezza di quello che si possiede, e la poca sodisfazione d’esso. Da questo nasce il variare della fortuna loro, perché disiderando gli uomini, parte di avere piú, parte temendo di non perdere lo acquistato, si viene alle inimicizie ed alla guerra, dalla quale nasce la rovina di quella provincia e la esaltazione di quell’altra‘ (D I 37). Wiederum ist es das ‚Menschliche, Allzumenschliche‘, das Machiavelli erkennt, weshalb ihm auch der Verfasser des gleichnamigen Werkes im Hinblick auf den Realitätssinn fast ebensolchen Beifall zollt,⁶²⁴ wie er ihn sonst bezeichnenderweise nur Thukydides zuteil werden lässt.⁶²⁵ Über die in der Menschennatur
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 101. F. Nietzsche, Nachgelassenes Fragment 24 [1/8.], Oktober-November 1888, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 13, S. 625: „Thukydides und, vielleicht der Principe Machiavellis, sind mir selber am meisten verwandt, durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, – nicht in der ‚Vernunft‘, noch weniger in der Moral“; zu Machiavelli bei Nietzsche J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 60 – 62. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 12, begründet dies unabhängig von Nietzsche mit einer anderen grundsätzlichen Übereinstimmung: „Denn auch Thukydides ist fest überzeugt von einer gesetzmässigen Wiederkehr der Begebenheiten; als den Zweck seines Buches gibt er selbst an, er gedenke dem etwas Nützliches zu bieten, der sowohl die Vergangenheit als diejenigen Dinge erforschen wolle, die sich nach dem Lauf der menschlichen Dinge einst in gleicher oder ähnlicher
184
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
wurzelnden Schwächen und Eigenheiten hinaus begreift Machiavelli aber auch den dahinter stehenden Gerechtigkeitsgesichtspunkt in einer für seine Zeit überaus bemerkenswerten Weise, indem er die Rückwirkung von Gesetzen zum Problem erhebt: „Ein Gesetz, das weit zurückgreift und gegen ein altes Herkommen im Staat verstößt, zieht immer heftige Unruhen nach sich.“⁶²⁶ – ‚E come fare una legge in una republica che riguardi assai indietro e sia contro a una consuetudine antica della città, è scandolosissimo‘ (D I 37). Dieselbe Einsicht findet sich an einem praktischen Beispielsfall veranschaulicht in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z : „Das Gesetz also, durch den Ehrgeiz dieser Männer erneuert, entzog nicht, sondern gab (…) Ansehen und war der Anfang vieler Übel. Wirklich läßt sich auch kein verderblicheres Gesetz für eine Republik geben als ein solches, das weit zurückgreift.“⁶²⁷ – ‚Questa legge pertanto, rinnovata per la ambizione di costoro, non tolse, ma dette (…) riputazione, e fu di molti mali principio: né si può fare legge per una republica piú dannosa che quella che riguarda assai tempo indietro‘ (IF III 3).
b) Erschüttertes Vertrauen in die Gesetzgebung Die tatbestandliche Rückanknüpfung bei Gesetzen, wie wir sie wohl heute bezeichnen würden, ist bereits für sich betrachtet ein Problem, weil sie das Vertrauen in die Rechtssicherheit erschüttern kann. Machiavelli erkennt zugleich eine neue Dimension, die in der Divergenz zu altehrwürdigen Gepflogenheiten im Gemeinwesen besteht. Denn dadurch wird bei den Rechtsunterworfenen zugleich der Eindruck geschürt, dass mit der gesetzlichen Regelung rückwirkend auch die Vorstellungen und Sitten der Vorfahren abgeändert werden. Das kann auch dort einen Tabubruch bedeuten, wo es nicht auf den ersten Blick nachteilig in die Belange der Bürger eingreift. Machiavelli zählt hier verschiedene Spielarten der Gesetzgebung auf, die allesamt geeignet sind, das Vertrauen der Bürger zu erschüttern: „Oder man verschob den Erlass dieses Gesetzes so lange, dass seine Rückwirkung aufreizte, oder es war ursprünglich gut und wurde später durch den Vollzug verdorben.“⁶²⁸ – ‚O che si differisse tanto in farla che fusse scandoloso il riguardarsi indietro, o sendo ordinata bene da prima, era stata poi dall’uso corrotta‘
Weise ereignen würden. Und wie Machiavelli sieht auch Thukydides den Grund der Wiederkehr der gleichen Ereignisse darin, dass die menschliche Natur sich immer gleich bleibt. So lange dies geschieht, werden auch dieselben Ereignisse eintreten, nur bald heftiger, bald milder, je nachdem sie durch den Zufall modifiziert werden“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 100. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 154. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 101.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
185
(D I 37). Auch hier unterscheidet Machiavelli Gesetzgebung und Gesetzesvollstreckung, die aus an sich vorzugswürdigen Regelungen verderbliche machen kann. Aber ebenso die Alternative, dass der Gesetzeserlass auf die lange Bank geschoben wird, erweist sich als misslich, weil sich zumindest das diffuse Gefühl einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen und ein Bruch mit dem Herkommen in der öffentlichen Meinung einstellen kann.⁶²⁹
2. Revolutionäre Umverteilung durch Gesetze Letztlich wird damit nämlich nur ein Übel durch ein anderes ersetzt: „Denn einen tief eingerissenen Missstand in einer Republik beseitigen zu wollen und zu diesem Zweck ein Gesetz zu erlassen, das weit zurückgreift, ist sehr unüberlegt.“⁶³⁰ – ‚Perché a volere levar via uno disordine cresciuto in una republica, e per questo fare una legge che riguardi assai indietro, è partito male considerato‘ (D I 37). Das Misstrauen, das solchen Gesetzen entgegenschlägt, nährt sich nicht zuletzt aus der Erfahrung, dass diejenigen, denen es ungünstig ist, und die Gefahr laufen, dadurch ihre Besitzstände zu verlieren, ihren Einfluss in jeder erdenklichen Weise geltend machen, um es zu durchkreuzen, wie es die davon nachteilig betroffenen Patrizier nicht müde wurden zu tun:⁶³¹ „Da es aber mächtige Männer waren, die auf diese Weise durch das Gesetz geschädigt wurden, und da sie durch Bekämpfung desselben das Allgemeinwohl zu verteidigen vorgaben, so ging jedes Mal, wie ich bereits erwähnte, in Rom alles drunter und drüber, wenn man das Gesetz in Erinnerung brachte.“⁶³² – ,Sicché venendo a essere queste offese contro a uomini potenti e
O. Lepsius, Die Rückwirkung von Gesetzen, Juristische Ausbildung 2018, 577; 695, zur genannten tatbestandlichen Rückanknüpfung und der Rückbewirkung von Rechtsfolgen. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 104. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 80, stellt die unterschiedlich ausgeprägte Orientierung in Richtung des Gemeinwohls oder des allgemeinen Übels – je nachdem, ob das Volk oder ein einzelner Mächtiger bzw. wenige Einflussreiche darüber befinden – in einer auch für die Gesetzgebung weiterführenden Weise dar: “According to Machiavelli, the people successfully distinguish accusations from calumnies and truth from falsehood when they judge political criminals; they perspectively consider future benefits and ills while they discuss and formulate law; and they accurately assess the potential for corruption and virtuosity in the candidates they consider for high magistracies. Princes or the few, because of their inherent appetite for oppression, their overall disrespect for the law, and their general inclination toward corruption and collusion, conspiracy and cooptation, are incapable by themselves or effectively punishing individuals who threaten liberty, of making laws conducive to the public good, and of appointing virtuous magistrates.” Hervorhebungen nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 102.
186
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
che pareva loro contrastandola difendere il publico; qualunque volta, come è detto, si ricordava, andava sottosopra tutta quella città‘ (D I 37).
a) Ackergesetz als Zankapfel Revolutionäre Umverteilungen durch entsprechende Gesetze rufen also augenblicklich die durch den status quo ante Privilegierten in Alarmstimmung. Es ging um das Ackergesetz, das einen permanenten Unruheherd darstellte.⁶³³
aa) Rückführung der Gesetzeszwecke auf anthropologische Grunderfahrungen Es ist bezeichnend für Machiavellis zielgerichtete Argumentation, die sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhält, auf welche Weise er in den Streitstand einführt. Er legt mit dürren Worten die beiden entscheidenden Regelungen frei, die Höchstgrenzen des Bodenbesitzes und Verteilung von Feindesland an das Volk vorsahen:⁶³⁴ „Das Gesetz hatte zwei Hauptartikel.“⁶³⁵ – ‚Aveva questa legge due capi principali‘ (D I 37). Nach deren Paraphrase setzt sogleich, aber mit Bedacht davon abgetrennt, die rechtspolitische Würdigung der doppelten Benachteiligung der Patrizier ein:⁶³⁶ „Es schädigte demnach die Patrizier auf doppelte Weise: denn wer
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 103: “A central chapter of the First Book is explicitly devoted to the violent struggle in Rome over the agrarian law; Machiavelli there praises the patience and industry with which the Roman senate or nobility prevented the enactement of the agrarian law; the Roman nobles opposed the agrarian law because of they loved property (…). One of the means which they employed was to oppose a tribune of the plebs to that tribune who had proposed the agrarian law.” Im Folgenden untersucht er am Beispiel dieses Kapitels, was Machiavelli in seiner Zusammenfassung der Schilderung des Livius auslässt und welche Bedeutung das Schweigen haben könnte (p. 104): “This obtrusive silence teaches us more than one lesson.” – Das ist für die vorliegende Problematik der Gesetzgebung bei Machiavelli nicht entscheidend, so dass darauf verwiesen werden kann. Hier geht es umgekehrt darum, worauf sich Machiavelli in der Darstellung beschränkt hat, um den rechten Umgang innerhalb der Republik mit dem Erlass oder der Novellierung eines die Besitzstände aufbrechenden Gesetzes zu demonstrieren. Eingehend zur Agrargesetzgebung auch J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 86 ff. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 54 f., anschaulich zum historischen Hintergrund. Mit Recht tritt er ein für eine besonders sorgfältige Prüfung von Machiavellis “ambiguous presentation of the brothers’ reform agenda” (p. 55). – Gerade deshalb ist es so wichtig, die im Kapitelanfang getroffene Weichenstellung (D I 37) umsichtig herauszuarbeiten. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 101. Zu einer solchen Verschränkung zweier Schutzzwecke am Beispiel der augusteischen Ehegesetzgebung grundlegend D. Nörr, Planung in der Antike. Über die Ehegesetze des Augustus, in: Beiträge zu Ehren H. Schelskys (Hg. H. Baier), 1977, S. 309.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
187
mehr Ländereien besaß, als das Gesetz erlaubte (und das waren meistens die Patrizier), mußte dieselben abgeben; und wenn die Ländereien der Feinde unter das Volk verteilt wurden, wurde den Patriziern die Möglichkeit genommen, sich zu bereichern.“⁶³⁷ – ‚Perché quegli che possedevano piú beni non permetteva la legge (quali erano la maggiore parte de’ nobili) ne avevano a essere privi; e dividendosi intra la plebe i beni de’ nimici, si toglieva a quegli la via dello arricchire‘ (D I 37). Hatte Machiavelli zuvor den Blick auf die sich in der Teleologie des Gesetzes spiegelnde Benachteiligungsabsicht zu Lasten der Patrizier gerichtet, legt er nunmehr mit besonderem rhetorischen Geschick den Fokus auf deren Bereicherungsabsicht.⁶³⁸ So arbeitet er kunstvoll die in der Gesetzeseinbringung und Abwehr desselben Gesetzeswerks obwaltenden Interessen heraus, die sich wiederum auf miteinander unvereinbare anthropologische Grunderfahrungen zurückführen lassen: den Neid der Besitzlosen und die Habgier der Besitzenden.⁶³⁹
bb) Gesetzeseinbringung und Gesetzesumgehungen Man hatte es seitens des Senats auf geschickte Weise verstanden, das Thema buchstäblich aus dem Blickfeld des Volkes zu nehmen und in die Peripherie zu verlagern, indem man den Veteranen Boden in entfernteren Gegenden zusprach, der kein so großes Interesse auf sich zog: „So zog sich die Unruhe wegen dieses Gesetzes eine lange Zeit quälend hin, bis die Römer damit anfingen, ihre Waffen bis zu den entferntesten Teilen Italiens und darüber hinaus zu tragen; dann erst schien sich der Streit um das Ackergesetz gelegt zu haben.“⁶⁴⁰ (D I 37).⁶⁴¹ – ‚Andò questo Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 101 f. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 58, notiert mit vornehmem Understatement: “There were good reasons for the plebeians to clamor for agrarian legislation from the ealierst days of the republic”. Auch das entspricht insofern taciteischer Tradition, als Tacitus, Annales, 3, 24– 27, in seinem Gesetzgebungsexkurs die bereits genannte augusteische Ehegesetzgebung zum Anlass nimmt, um am Beispiel der Gesetzeszwecke die Interessengegensätze herauszuarbeiten; vgl. dazu auch J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 115 ff. Ob Machiavelli diesen Teil der Annalen kannte, ist freilich nicht sicher; insgesamt skeptisch J. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 64 f. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 102. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 261 f., ordnet D I 37 als exemplarische Rückverweisung ein: „Ebenfalls nicht mehr als ein am Rande stehender Kommentar zu einem weiteren Aspekt der Doktrin Machiavellis ist das 37. Kapitel, das sich bekanntlich mit der Frage des ‚Agrargesetzes‘ beschäftigt; denn dessen ganzer Inhalt, angefangen von der scharfsinnigen Untersuchung der historischen Ursprünge der Frage bis zur eindringlichen Erörterung der sich aus der Einführung eines solchen Gesetzes zwangsläufig ergebenden Folgen, führt wieder zu jenem
188
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
omore di questa legge cosí travagliandosi un tempo, tanto che gli Romani cominciarono a condurre le loro armi nelle estreme parti di Italia o fuori di Italia, dopo al quale tempo parve che la cessassi‘ (D I 37). Die nicht nur temporale, sondern auch territoriale Verschleppungsabsicht war mit Händen zu greifen. Machiavelli zitiert in diesem Zusammenhang nicht ohne Bewunderung ein livianisches Paradoxon, wonach das Volk Grund und Boden lieber in Rom beanspruche, als in der Provinz besitze.⁶⁴² Damit ließ die allgemeine Empörung nach, weil die sedierenden Maßnahmen ihre Wirkung nicht verfehlten: „Aus diesen Gründen war das Gesetz bis zu den Gracchen gleichsam eingeschlafen.“⁶⁴³ – ‚Tanto che per tali cagioni questa legge stette come addormentata infino ai Gracchi‘ (D I 37). Die Gesetzgebung der Gracchen war also für Machiavelli der Ausgangspunkt für den verhängnisvollen Verlust der Freiheit.⁶⁴⁴ Was sich im Nachhinein als endloses Lavieren der widerstreitenden Parteien durch Gesetzesumgehungen oder Aushöhlen der gesetzlichen Regeln darstellt, hat den Freistaat aber eben auch über Jahrhunderte aufrechterhalten. Die Republik hat durch den permanenten Streit buchstäblich Zeit gewonnen, solange Gesetzeseinbringungen und Gesetzesumgehungen andauerten und die Parteien die gesetzlichen Einrichtungen jeweils zu ihren Gunsten, aber immerhin im Großen und Ganzen gewaltlos zu nutzen bestrebt waren. Hier musste Machiavelli zugleich der Kontrast gegenüber der von ihm später beschriebenen florentinischen Geschichte gewahr werden.
cc) Aufrechterhaltung des Freistaats durch Streit in gesetzlichen Bahnen In einem bündigen Abriss über den Bürgerkrieg bis zum Ende der Republik lässt Machiavelli erkennen, dass es scheinbar die Reformen der Gracchen waren, die das Ende der Freiheit besiegelten, bei allen Mängeln aber zugleich die Garanten dafür
Problemkomplex zurück, den Machiavelli zu Anfang des Werkes aufgeworfen und gelöst hatte. (…) Nachdem Machiavelli kurz ausgeführt hat, auf welchen Prinzipien sich dieses Gesetz gründet, geht er dazu über, seine konkreten politischen Folgerungen zu ziehen. (…) Denn die einen und die anderen waren in jedem Fall nur Instrumente einer Politik, die in ihrem ‚Ehrgeiz‘ nach nichts anderem als nach Macht strebte, nicht jedoch nach Gerechtigkeit. (…) Das Kapitel über das Agrargesetz tritt somit wieder mitten in den Bereich dieser bestimmten historisch-theoretischen Problematik ein“. Livius, Ab urbe condita III 1; bezogen auf Böden in Antium. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 102. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 88: “Machiavelli emphasizes that the controversies and scandals that arose over the Agrarian Laws led to a cycle of disorders that ultimately destroyed the republic”.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
189
waren, dass der Streit in gesetzlichen Bahnen verlief.⁶⁴⁵ Er sieht sich durch diese gesetzgeberische und geschichtliche Entwicklung letztlich in der Feststellung bestätigt, dass es zwar wieder die menschlichen Leidenschaften sind, die sich als streitbegründend erweisen. Doch das Ausfechten dieses Streites mit juristischen Mitteln, also Gesetzen, erwies sich für den Fortbestand der Republik als heilsam:⁶⁴⁶ „So waren der Anfang und das Ende des Ackergesetzes.Wir haben an anderer Stelle gezeigt, wie die Feindschaft zwischen Senat und Volk Rom frei erhielt, weil daraus Gesetze zu Gunsten der Freiheit entstanden. Obgleich das Ergebnis des Ackergesetzes einer solchen Schlussfolgerung zu widersprechen scheint, gehe ich deshalb doch nicht von meiner Meinung ab; denn der Ehrgeiz der Großen ist so gewaltig, daß er ein Gemeinwesen bald zum Untergang führt, wenn er nicht durch verschiedene Mittel und Wege abgewehrt wird. Der Streit um das Ackergesetz quälte sich dreihundert Jahre lang hin, bis er Rom in Knechtschaft brachte; es wäre wahrscheinlich viel früher in Knechtschaft geraten, wenn das Volk durch dieses Gesetz sowie durch manche andere Forderungen den Ehrgeiz des Adels nicht immer in Schranken gehalten hätte.“⁶⁴⁷ – ‚Tale adunque principio e fine ebbe la legge agraria. E benché noi mostrassimo altrove come le inimicizie di Roma intra il Senato e la Plebe mantenessero libera Roma, per nascerne, da quelle, leggi in favore della libertà, e per questo paia disforme a tale conclusione il fine di questa legge agraria, dico come per questo io non mi rimuovo da tale opinione: perché gli è tanta l’ambizione de’ grandi, che se per varie vie ed in vari modi ella non è in una città sbattuta, tosto riduce quella città alla rovina sua. In modo che se la contenzione della legge agraria penò trecento anni a fare Roma serva, si sarebbe condotta per avventura molto piú tosto in servitú, quando la plebe, e con questa legge e con altri suoi appetiti, non avesse sempre frenato l’ambizione de’ nobili‘ (D I 37). Die Gesetze kanalisieren die menschlichen Leidenschaften gleichsam, so dass sie nicht mit Gewalt aufeinanderprallen und in einen Bürgerkrieg ausarten; indem die widerstreitenden In-
M. Fröhlich, Mysterium Venedig. Die Markusstadt als politisches Argument in der frühen Neuzeit, 2010, S. 151: „Machiavelli glaubt nämlich in seinen Discorsi im Streit um ein Ackergesetz, welches den Bürgern eine Besitzobergrenze auferlegt, den Hauptgrund für den Bürgerkrieg, den Aufstieg Cäsars und letztlich den Untergang der Republik entdeckt zu haben“. Man könnte dies als eine Frühform jenes ‚Kampfes um das Recht‘ begreifen, die R. v. Jhering in seiner gleichnamigen Schrift (1872) auszufechten nahegelegt hat, weil mit der individuellen Geltendmachung der Rechte das Recht im institutionellen Sinne fortentwickelt und gestärkt wird; näher J. Petersen, Zivilrechtsdogmatik und methodischer Individualismus am Beispiel Rudolf von Jherings, Festschrift für C.-W. Canaris, 2017, S. 87. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 103.
190
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
teressen aber in zähem Ringen zu Gesetzen werden, erreichen sie zugleich einen Zuwachs an Rechtskultur.⁶⁴⁸
b) Gesetzgeberische Zurückhaltung Machiavelli verteilt die Verantwortlichkeit für diese Entwicklung schuldangemessen. Auslöser waren die Gracchen,⁶⁴⁹ deren gesetzgeberischer Aktionismus zur falschen Zeit kam und ohne Not Öl ins nahezu erloschene Feuer goss:⁶⁵⁰ „Die Urheber dieses Unheils waren die Gracchen, deren guter Wille mehr zu loben ist als ihre Klugheit. (…) wartet man aber die Zeit ab, so kommt das Übel später, oder es verschwindet mit der Zeit von selbst, bevor es seinen höchsten Grad erreicht.“⁶⁵¹ – ‚Del quale disordine furono motori i Gracchi, de’ quali si debbe laudare piú la intenzione che la prudenzia. (…) Ma temporeggiandolo, o il male viene piú tardo, o per se medesimo, col tempo, avanti che venga al fine suo, si spegne‘ (D I 37). Das entspricht der allgemeinen moralkritischen Einsicht Machiavellis, wonach gerade Gutwilligkeit die schlechtesten Folgen zeitigen kann. Denn guter Wille allein vermag sich gegen die menschlichen Leidenschaften, zumal die niederträchtigeren, schwerlich durchzusetzen und nach seiner im P r i n c i p e nochmals verdüsterten
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 224, hat diesen fruchtbaren Widerstreit in der folgenden schon weiter oben im Zusammenhang zitierten, aber hier etwas anders akzentuierten Stelle am deutlichsten gesehen: „Diese beiden römischen Ordnungen (sc. der Patrizier und Plebejer) erschöpften sich nämlich keinesfalls im sinnlosen und ermüdenden Spiel von Siegen, Niederlagen, Beschlagnahme, Verbannungen und Begnadigungen; ihnen gelang es, Rechtsinstitutionen auszuarbeiten, die aus diesen Kämpfen das Rückgrat und die Lebenskraft des römischen Staates machten. Das geschah in Florenz nicht, und so kam es zum Untergang der Stadt.“ Hervorhebung nur hier. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 14, nimmt mit guten Gründen und unter Berücksichtigung einer Florentiner Revolte des Jahres 1378 an “that Machiavelli’s extremly cautious discussion of the Gracchi, economic reformers who threatened the expanding economic privilege of Rome’s senatorial class, suggests that Machiavelli’s model of popular government is not incompatible with a politics that, in his own words, keeps ‚the public rich and the citizens poor‘ (D I.37; cf., D III.16). A close examination of Machiavelli’s treatments of the Brothers Gracchus, in light of Florence’s post-Ciompian backdrop, suggests that elite accountability requires economic as well as political measures to contain the ‚insolence‘ of the nobles”. Dazu R. Ottow, Die Gracchen und ihre Rezeption im politischen Denken der Frühen Neuzeit, Der Staat 42 (2003) 557; J. P. McCormick, Machiavelli and the Gracchi: Prudence, Violence and Redistribution, Global Crime 10 (2009) 298. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 104.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
191
Anthropologie sogar die Selbsterhaltung gefährden:⁶⁵² „Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind.“⁶⁵³ – ‚Perché uno uomo che voglia fare in tutte le parte professione di buono, conviene che ruini in fra tanti che non sono buoni‘ (P XV). Gesetzgeberische Zurückhaltung ist demnach aus Machiavellis Sicht vor allem dann vorzugswürdig, wenn sich die Dinge ohnehin schon annähernd beruhigt haben. Allerdings muss dies auch in einer die Streitigkeiten wirklich befriedenden Weise geschehen sein, woran es beim Streit um die Ackergesetzgebung gerade fehlte, weil der Brandherd gleichsam weiterschwelte (D I 37).⁶⁵⁴ Schuld waren aber daneben nicht zuletzt die Aristokraten, die durch ihr Besitzstandsdenken und ihre Halsstarrigkeit allfällige Reformen bis zur gewaltsamen Entladung verhindert hatten. Diese verfügen über die Mittel und Wege gegen das Gesetz Stimmung zu machen und ihre finanziellen Eigeninteressen durch Gemeinwohlaspekte zu verbrämen. Dabei versuchten die Aristokraten zunächst in der weichen Währung der Ehrungen zu zahlen und damit das Volk gefügig zu machen,
V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 141 f., bildet in seinem Bemühen, Machiavelli gerecht zu werden, ein anschauliches Beispiel zum geltenden Strafrecht, das die Rechtsgüterabwägung veranschaulicht: „Der Staat ist für Machiavelli gerade deswegen ein so hohes Gut, weil nur in ihm Gewalt und Bosheit eingedämmt werden können. Vom Bestand des Staates hängt das Wohlergehen und selbst die Existenz vieler Menschen ab; er ist daher ein sehr hohes Gut, dem auch unter normalen Bedingungen niedrigere Güter geopfert werden müssen. Machiavelli entwickelt hier eine zentrale Argumentationsfigur, (…) die Hegel systematisierte und die über die Vermittlung hegelianischer Strafrechtler Eingang in unser Strafgesetzbuch gefunden hat: Verletzungen niedriger Güter sind dann legitim, wenn sie um höherer willen erforderlich sind. Allerdings kann nach deutschem Recht dieser Gedanke die Tötung eines Unschuldigen nicht rechtfertigen, auch in dem Falle nicht, in dem dies notwendig ist, um mehrere menschliche Leben zu retten; man geht nämlich von der Nicht-Aufrechenbarkeit menschlichen Lebens aus. (…) Jedenfalls beweisen die juristischen Kategorien, daß das von uns behandelte Problem der allgemeinen Ethik angehört. Insofern läßt sich sagen, daß die Moral, als Individualethik verstanden, der politischen Ethik untergeordnet ist, aber daß letztere normativen Regeln gehorcht und daher selbst der Moral unterworfen ist.“ – Hieran zeigt sich, dass die Prämissen Machiavellis geistesgeschichtlich ungeahnte Auswirkungen auf die modernen Gesetze entfalten können, so dass man von seiner Gesetzgebungslehre sprechen kann. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 63. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 263: „Wenn somit das Agrargesetz Schlimmes und nichts Gutes hervorbrachte, so bedeutet dies keine Ausnahme von der vorher von Machiavelli aufgestellten Regel, sondern im Gegenteil eine ausgezeichnete Bestätigung; denn da, wo Streitigkeiten von den Einrichtungen des Staates in Schranken gehalten werden und diese Einrichtungen sich daher nur bestätigen und stärken, können diese Wirren und Streitigkeiten als positive Instrumente der Freiheit und Macht betrachtet werden“.
192
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
um ihre materiellen Privilegien nicht in Gefahr zu bringen.⁶⁵⁵ Doch verfing diese Taktik bei einem plutokratischen System wie dem römischen nicht:⁶⁵⁶ „Als es ihm aber ans Vermögen ging, war seine Hartnäckigkeit bei dessen Verteidigung so groß, dass das Volk, um sein Begehren zu befriedigen, zu außerordentlichen Mitteln griff.“⁶⁵⁷ – ‚Ma come si venne alla roba, fu tanta la ostinazione sua nel difenderla, che la plebe ricorse per isfogare l’appetito suo a quegli straordinari‘ (D I 37). Es war also letztlich das altrömische Grundlaster der Habsucht, das gerade bei den Aristokraten⁶⁵⁸ – überwiegend Großgrundbesitzer – besonders ausgeprägt war.⁶⁵⁹ Auch hieran ist Machiavellis aus der Wirklichkeit abgezogene Beobachtung aufschlussreich, die wiederum eine anthropologische Einsicht auf den Punkt bringt: „Man sieht daraus, dass die Menschen Besitz viel höher schätzen als Ehrungen.“⁶⁶⁰ – ‚Vedesi per questo ancora, quanto gli uomini stimano piú la roba che gli onori‘ (D I 37).
c) Besitzverhältnisse als Ursache von Umwälzungen Man kann die soeben behandelte Problematik jedoch nur dann angemessen würdigen, wenn man an zwei unscheinbare Stellen des Beginns der D i s c o r s i zurückgeht, die nicht nur für den werkimmanenten Zusammenhang, sondern sein Rechtsdenken überhaupt maßgeblich sind. Zunächst fragt er sich, „wen man zum Hüter der Freiheit in einer Republik wählen soll, umso mehr, als man nicht weiß, welche Kategorie von Menschen in einem Staat schädlicher ist: die, welche zu erwerben strebt, was sie nicht hat, oder die, welche längst erworbene Vorrechte zu erhalten strebt.“⁶⁶¹ – ‚quale da lui fusse eletto per guardia di tale libertà, non sappiendo quale umore di uomini sia piú nocivo in una republica: o quello che desidera mantenere l’onore già acquistato, o quel che desidera acquistare quello che non ha‘
J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 5, bemerkt zu der diesbezüglichen Formulierung Machiavellis (D I 37) treffend: “This is an earsplitting understatement.” Siehe auch ebenda, p. 89. Grundlegend R. Syme, The Roman Revolution, 1939. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 103 f. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 115: “Thereafter he speaks explicitly, if with due euphemism, of ‘the defect’ of the Roman agrarian law. That defect was perhaps immediately caused by the dilatory policy of the senate but it was certainly in the last analysis caused by what, without the use of euphemism, would have to be called the avarice of the Roman nobility”. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 56: “And yet, in the context of his discussion of the Agrarian Laws in Rome, Machiavelli invites reader, at least initially, to understand him to be criticizing the Roman people for excessive political ambition and inappropriate economic greed”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 103. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 22.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
193
(D I 5).⁶⁶² Sodann erörtert Machiavelli die Frage, „welche Menschen in einem Staatswesen schädlicher sind, die, welche etwas erwerben wollen, oder die, welche das Erworbene zu verlieren fürchten.“⁶⁶³ – ‚Ma per tornare a discorrere quali uomini siano in una republica piú nocivi, o quelli che desiderano d’acquistare, o quelli che temono di non perdere l’acquistato‘ (D I 5).
aa) Gesetzwidrige Umverteilungen im alten Rom Damit wird das soeben gerügte Besitzstandsdenken der Aristokraten erstmals auf die Probe gestellt. Auch zur Beantwortung dieser Frage zieht Machiavelli einen altrömischen Präzedenzfall zurate.⁶⁶⁴ Dass hier die Gesetze im Hintergrund standen, erhellt daraus, dass es um einen Untersuchungsauftrag eines plebejischen Diktators ging, wer im Wege der Korruption oder anderer gesetzwidriger Mittel höchste Stellen im Staate erlangt habe. Die Provenienz des Untersuchungsrichters erweckte das Misstrauen der Aristokraten: „Der Adel glaubte, diese Vollmacht des Diktators wäre gegen ihn gerichtet, und sprengte in Rom aus, nicht die Adligen suchten die Ämter durch Bestechung und ungesetzliche Mittel zu erlangen, sondern die Pebejer suchten auf ungesetzlichen Wegen zu diesen Stellen zu kommen, da sie sich ja nicht auf Geburt und Verdienste berufen könnten. Im besonderen klagten sie den Diktator an. Diese Anklage war so gewichtig, daß Menenius eine Volksversammlung einberief, sich über Verleumdungen des Adels beklagte, die Diktatur niederlegte und sich dem Urteil unterwarf, das das Volk über ihn fällte; in diesem Prozeß wurde er freigesprochen.“⁶⁶⁵ – ‚E parendo alla Nobilità che tale autorità fusse data al Dittatore contro a lei, sparsono per Roma che non i nobili erano quelli che cercavano gli onori per ambizione e modi straordinari, ma gl’ignobili, i quali non confidatisi nel sangue e nella virtú loro, cercavano per vie straordinarie venire a quelli gradi, e particularmente accusavano il Dittatore. E tanto fu potente questa accusa che Menenio, fatta una concione e dolutosi delle calunnie dategli da’ Nobili, depose la
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 230, stellt unter Verweis auf diese Stelle den Zusammenhang zum Ständekampf und zur Gesetzgebung her: „Zur ‚Bewacherin der Freiheit‘ erhoben, wird die Partei, die vorher erbittert um ihre Existenz kämpfen mußte, zur größten Gewähr für das ‚Gemeinwohl‘; denn in der Freiheit aller, der Achtung vor den Gesetzen und dem Funktionieren der staatlichen Enrichtungen mußte sie zwangsläufig vor allem die Voraussetzung für die eigene Existenz und Sicherheit sehen“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 22. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 10 und öfter, weist nach, dass Machiavelli elitistische Tendenzen fremd sind. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 23.
194
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
dittatura, e sottomessesi al giudizio che di lui fusse fatto dal Popolo; e dipoi agitata la causa sua, ne fu assoluto‘ (D I 5). Der Fall ist für den vorliegenden Zusammenhang deswegen so interessant, weil Machiavelli eines seiner bevorzugten Themen – die Anklagemöglichkeit gegen ungerechtfertigte Verleumdungen (D I 7) – nur streift und nicht vertieft. Das liegt wohl daran, dass dieses Motiv hier in verkehrten Rollen begegnet, da die Mächtigen sie für sich in Anspruch nehmen und dies wohl eher zum Vorwand der Besitzstandswahrung geschieht. Denn diese bildet für Machiavelli das eigentliche anthropologische Problem, weil sie auf das Staatsgefüge ausstrahlt. Seine Sympathie gehört hier ersichtlich den Besitzlosen, die ohne angestammte Privilegien in den Stand gesetzt werden sollen, höchste Ämter zu erlangen.⁶⁶⁶ Das war vor allem neuzeitlichen Denken über Chancengleichheit ein durchaus wagemutiger Standpunkt.⁶⁶⁷ Selbst Tacitus kann man in seinem Gesetzgebungsexkurs wohl eher dahingehend verstehen, dass er, obgleich selbst homo novus,⁶⁶⁸ die Erlangung des Konsulats zugunsten einfacher Plebejer argwöhnisch betrachtete.⁶⁶⁹
J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 56, zeigt an anderer Stelle anhand einer umsichtigen Analyse der Florentiner Ciompi Revolte aus dem Jahre 1378 etwas, das mutatis mutandis wohl auch für den vorliegenden Zusammenhang gilt: “Therefore, Machiavelli’s immidiate Florentine audience of humanist ottimati might easily associate plebeian demands for the consulship and for agrarian legislation in Rome with the political and economic demands of lower guildsmen and unguilded workers during the Ciompi insurrection a century and a half before Machiavelli wrote the Discourses.” Ferner ders., ‚Greater, more honorable and more useful to the republic‘: Plebeian Offices in Machiavelli’s ‚Perfect‘ Constitution, International Journal of Constitutional Law 8 (2010) 237. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 99, verallgemeinert: „Machiavellis politische Theorie nimmt so eine mittlere Stellung zwischen der des Mittelalters und der der Neuzeit ein.“ – Allerdings sollte man, sofern das überhaupt in dieser Allgemeinheit zutrifft, klarstellen, dass er dieser deutlich nähersteht als jenem. R. Syme, Ten Studies in Tacitus, 1970, p. 140: “Cornelius Tacitus is not a descendant of the patrician Cornelii, but a homo novus (…).” Ebenso D. Timpe, Claudius und die kaiserliche Rolle, in: Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41– 54 n.Chr.). Umbruch oder Episode? 1994 (Hg. V. M. Strocka), S. 35 – 40. Anders noch R. Reitzenstein, Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 124. Tacitus, Annales, 3, 27, 1: ,nam secutae leges etsi aliquando in maleficos ex delicto, saepius tamen dissensione ordinum et apiscendi inlicitos honores aut pellendi claros viros aliaque ob prava per vim latae sunt.ʻ Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 193 ff. Siehe aber auch die abweichende Ansicht von D. Flach, Tacitus in der Tradition der antiken Geschichtsschreibung, 1973, S. 186.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
195
bb) Erosion des Rechtsbewusstseins Bemerkenswerter als Machiavellis Standpunkt in dieser Frage, den man vielleicht noch biographisch begründen könnte, ist aber wohl die allgemeine anthropologische Einsicht, die er daran anschließt, weil sie einmal mehr zeigt, dass die meisten seiner Urteile, die unmittelbar oder mittelbar die Gesetze betreffen, von Einsichten über die Menschennatur gespeist sind, die umso aufschlussreicher sind, je überraschender sie ausfallen. In diesem Sinne ist auch das Folgende so interessant, weil es kontraintuitiv ausgerichtet ist: „Meistens werden Umwälzungen durch die Besitzenden hervorgerufen, denn die Furcht zu verlieren, erweckt bei ihnen das gleiche Verlangen wie bei denen, die etwas zu erwerben trachten. Glauben die Menschen doch, ihren Besitz nur dann sicher zu haben, wenn sie von anderen etwas hinzuerwerben. Dazu kommt, dass die Besitzenden mit größerer Macht und stärkerer Durchschlagskraft Umwälzungen durchführen können. Auch kommt noch hinzu, daß ihr verbrecherisches und herrschsüchtiges Verhalten bei den Besitzlosen das Verlangen nach Besitz weckt, um entweder an denen Rache zu nehmen, von denen sie ausgeplündert wurden, oder um auch ihrerseits Reichtümer und Ämter erwerben zu können, die sie von ihnen mißbraucht sehen.“⁶⁷⁰ – ‚Pur nondimeno il piú delle volte sono causati da chi possiede, perché la paura del perdere genera in loro le medesime voglie che sono in quelli che desiderano acquistare: perché non pare agli uomini possedere sicuramente quello che l’uomo ha, se non si acquista di nuovo dell’altro. E di piú vi è, che possedendo molto, possono con maggiore potenza e maggiore moto fare alterazione. Ed ancora vi è di piú, che gli loro scorretti e ambiziosi portamenti accendano, ne’ petti di chi non possiede, voglia di possedere, o per vendicarsi contro di loro spogliandoli, o per potere ancora loro entrare in quelle ricchezze e in quegli onori che veggono essere male usati dagli altri‘ (D I 5). Diese Argumentation hätten wohl auch informierte Interessenten der juristischen Ideengeschichte nicht ohne weiteres bei Machiavelli erwartet.⁶⁷¹ Bei näherem Hinsehen – nämlich mit Blick auf die geronnene Einsicht des zweiten Satzes – zeigt sie jedoch, dass sie schwerlich von einem anderen stammen konnte als dem Florentiner Menschenkenner, der die verborgenen Ausprägungen der Habgier und Herrschsucht auf dem schalen Grund der menschlichen Seele sah, wo immer äußere Handlungen darauf hindeuteten.⁶⁷² Dass die Verlustängste der Besitzenden
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 23. Zu einem ähnlichen Phänomen bei dem Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, dessen Prämissen sich bei unvoreingenommener Lektüre stellenweise lesen, als wären sie eher von Marx, vgl. J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, S. 46 f. Auch diese Aspekte sah Machiavelli mit schärferem Blick für die anthropologischen Gegebenheiten als sein Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten,
196
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
und die mitunter panische Abschirmung gegen vermeintliche Prätendenten für das Staatsgefüge und die drohende Erosion des Rechtsbewusstseins mitunter gefährlicher sind als jede Begehrlichkeit von außen, hat Machiavelli mit untrüglichem Gespür für die anthropologischen Gegebenheiten erkannt.
3. Gesetze zur Erhaltung der Freiheit Zum Fundament der Gesetze gehört die Frage, ob die Gebietskörperschaften, für die sie gelten sollen, ihrerseits frei oder unfrei sind, weil davon für Machiavelli abhängt, ob die Freiheit gesetzlich aufrechterhalten bzw. überhaupt erst geschaffen werden kann: „Wenn Städte, die von Anfang an frei waren, wie Rom, Schwierigkeiten haben, Gesetze zur Erhaltung der Freiheit zu finden, so ist dies für Städte, die von Anfang an in Unfreiheit lebten, fast eine Unmöglichkeit.“⁶⁷³ – ‚Si quelle cittadi che hanno avuto il principio libero, come Roma, hanno difficultà a trovare legge che le mantenghino quelle che lo hanno immediate servo, ne hanno quasi una possibilità‘ (D I 49).⁶⁷⁴ Zu den letzteren zählt er seine Heimatstadt Florenz, die ihn später so schmählich missachtet hat. Indes darf man hier nicht nur persönliche Verbitterung heraushören, sondern muss auch berücksichtigen, dass Machiavelli die historischen Eigenarten dieser Stadt mit all ihren Mängeln eben besonders gut kannte, vor
bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 165, der nach Art der eher konventionellen Fürstenspiegel vor Gesetzen warnte, welche die Habgier des Herrschers zu Lasten der Staatskasse befriedigen: ,In condendis autem legibus illud in primis cavendum erit, ne quid oleant fisci lucrum, ne privatam Procerum commoditatem, sed ad exemplar honesti, et ad publicam utilitatem referantur omnia, et eam utilitatem non ad vulgarem opinionem, sed ad sapientiae regulam exigant, quam oportet ubique Principibus in consilio esseʻ. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 128. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 259 f., hält dies mit Recht gerade im Hinblick auf die Gesetze und Einrichtungen für paradigmatisch: „Das 49. Kapitel rollt beispielsweise ein Problem von großem Interesse auf: es beschäftigt sich erneut mit der Frage nach der Beziehungen zwischen den Gesetzen, den Staatseinrichtungen und der wechselhaften Realität der Dinge, die Machiavelli bereits im ersten Teil des Buches eingehend untersucht hatte. (…) Man könnte sagen, das Kapitel stelle dieselben Überlegungen unter einem kaum geänderten Gesichtswinkel dar; es erfasse die verschiedenen geschichtlichen Entwicklungen Roms und Florenz‘ und betrachte dabei vor allem ihre verschiedenen Anfänge, das wechselhafte Geschick der sich in ihrem Schoß abwickelnden Kämpfe, der Gesetze, die in Rom zum Schutz der Gesamtheit der Gesellschaft, in Florenz hingegen allein zum Schutz der Siegerpartei ausgearbeitet wurden“.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
197
allem die Neigung, Partikularinteressen den Vorzug gegenüber Allgemeinwohlinteressen zu geben.⁶⁷⁵
a) Eigennutz im Rahmen der Gesetzgebung Das belegt beispielhaft eine Stelle seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , an der er nicht von ungefähr auch die Gesetze nennt: „Deshalb werden die Einrichtungen und Gesetze nicht zum allgemeinen Nutzen, sondern zum eigenen Vorteil gemacht. Deshalb wird über Krieg, Frieden, Bündnisse nicht zum allgemeinen Ruhm, sondern zur Befriedigung Weniger beschlossen.“⁶⁷⁶ – ‚Di qui gli ordini e le leggi non per publica, ma per propria utilità si fanno; di qui le guerre, le paci, le amicizie, non per gloria comune, ma per sodisfazione di pochi si deliberano‘ (IF III 5). Gesetze werden also von denjenigen, welche die Macht haben, darüber zu gebieten, von vornherein so geschaffen, dass sie ihnen nutzen; selbst wichtigste Fragen, welche die Allgemeinheit betreffen, werden nicht im Interesse des Gemeinwohls beantwortet. In demselben Sinne heißt es in den D i s c o r s i : „Doch haben diese ihre Befugnisse nie zum Allgemeinwohl gebraucht, sondern immer nur zum Vorteil ihrer Partei, was statt Ordnung nur noch größere Unordnung zur Folge hatte. Doch um zum einzelnen Beispiel zu kommen, behaupte ich, dass der Gesetzgeber eines Freistaats unter anderem auch zu erwägen hat, in wessen Hand er das Recht über Leben und Tod seiner Mitbürger legen soll.“⁶⁷⁷ – ‚E benché molte volte per suffragi publici e liberi si sia data ampla autorità a pochi cittadini di potere riformarla, nonpertanto non mai l’hanno ordinata a comune utilità, ma sempre a proposito della parte loro; il che ha fatto non ordine, ma maggiore disordine in quella città. E per venire a qualche esemplo particulare, dico come intra le altre cose che si hanno a considerare da uno ordinatore d’una republica, è esaminare nelle mani di quali uomini ei ponga l’autorità del sangue contro de’ suoi cittadini‘ (D I 49).
b) Wehrhaftigkeit der Gesetze Gerade wegen dieser Geringschätzung des Gemeinwohls sind Maßnahmen gegen Rechtsbrecher unerlässlich. Gesetze müssen also so ausgestaltet sein, dass die erforderliche Wehrhaftigkeit gegenüber ihren Übertretungen mitberücksichtigt ist.
J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 58 f., zeigt am Beispiel der römischen Agrargesetzgebung, dass dieses Übel historisch tiefer angelegt ist und allenthalben auf die Florentiner Verhältnisse ausstrahlt. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 158. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 129.
198
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
Hier kommt wiederum der Gesichtspunkt zum Tragen, den Machiavelli bereits von Anfang an betont hat, nämlich dass dem Einzelnen elementare Verteidigungsrechte gewährt werden müssen, dass er seinerseits Anklagemöglichkeiten besitzt und sich gegen jeden widerrechtlichen Akt auf der Grundlage eines Gesetzes zur Wehr setzen kann (D I 7): „Denn es ist nicht von Vorteil, wenn die Verfassung einer Republik zulässt, dass ein Bürger wegen der Einführung eines der Freiheit dienenden Gesetzes ohne die Möglichkeit einer Abhilfe bestraft werden kann.“⁶⁷⁸ – ‚Perché e’ non è bene che una republica sia in modo ordinata che uno cittadino per promulgare una legge conforme al vivere libero ne possa essere sanza alcuno rimedio offeso‘ (D I 49). Ansonsten könnte nämlich die Freiheitsgewährung zum Vorwand für alle möglichen Gesetze gemacht werden, die in Wirklichkeit nur gegen Einzelne gerichtet sind.⁶⁷⁹ Man sieht auch hieran, wie sehr Machiavelli der Berufung auf das Allgemeinwohl misstraut, zumal da er weiß, wie jedes zeitliche Auseinanderfallen die ursprünglichen und vielleicht ihrer Art nach lobenswerten Gesetzeszwecke verwässert und dann nur noch der schale Rest rückwirkender Bestrafung übrigbleibt.⁶⁸⁰
4. Gesetzesbindung Wahre Freiheit, auf die man sich nicht nur mit wohltönenden Worten beruft, wird für ihn durch den gesetzlichen Richter gewährleistet, wie Machiavelli wieder einmal am Beispiel der Republik Venedig veranschaulicht: „Dadurch entstand die größte Unordnung, weil mit einem Male in den unterworfenen Gebieten wie in der Stadt selber die gesetzmäßigen Richter fehlten.“⁶⁸¹ – ‚Perché in un tratto e le terre suddite e la città propria mancavano de’ suoi legittimi giudici‘ (D I 50). Machiavelli legt also vordringlichen Wert auf ein funktionierendes Justizsystem und eine gesetzmäßige
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 128. Tacitus, Annales, 3, 27, 3, spielt auf das gegen Cicero gerichtete Einzelfallgesetz des Clodius Pulcher an: ,iamque non modo in commune, sed in singulos homines latae quaestiones.ʻ Dazu J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 233, präzisiert ideengeschichtlich weiterführend: „Gemeinwohl und Vorteil für die Partei: diese Auffassung scheint von der alten Tradition des politischen Denkens des Mittelalters beeinflußt zu sein; auch hat es nicht an Stimmen gefehlt, die in den Discorsi diese Ausdrucksweise hervorhoben und daraus folgern wollten, die gesamte gedankliche Konstruktion Machiavellis setzte die Auffassung voraus, daß ein Staat nicht auf der tyrannischen Grausamkeit eines Herrschers, sondern auf der Gesetzgebung beruhe, dem auch der Herrscher unterworfen sei“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 131.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
199
Verwaltung, die jederzeit garantiert, dass ein zuständiger Amtswalter erreichbar ist und nach im Vorhinein festgelegten Gesetzen entscheidet: „Bei passender Gelegenheit erließen sie nämlich ein Gesetz, dass kein Beamter, der sich innerhalb oder außerhalb der Stadt befindet oder befand jeweils sein Amt niederlegen dürfe, bevor nicht ein allgemeiner Wechsel der Ämter stattgefunden und ein Nachfolger ernannt wäre.“⁶⁸² – ‚I quali, presa occasione conveniente, fecero una legge che tutti i magistrati che sono o fusseno dentro e fuori della città, mai vacassero se non quando fussono fatti gli scambi e i successori loro‘ (D I 50). Die Amtskontinuität ist deswegen wichtig, weil damit jederzeit gewährleistet ist, dass die zuständige Stelle entscheiden kann und eben auch Entscheidungen trifft, gegen die man notfalls im Wege der von Machiavelli eingangs betonten Anklagemöglichkeiten vorgehen kann. Wo immer Willkürspielräume bestehen, geht Machiavelli davon aus, dass sie von interessierter Stelle auch benutzt werden:⁶⁸³ „Jeder, der nicht durch Gesetze im Zaum gehalten wird, wird dieselben Fehler begehen wie eine entfesselte Volksmasse.“⁶⁸⁴ – ‚Perché ciascuno che non sia regolato dalle leggi farebbe quelli medesimi errori che la moltitudine sciolta‘ (D I 58).⁶⁸⁵ Auf den ersten Blick überrascht der Vergleichsmaßstab. Doch beruht seine Wahl auf einer anthropologischen Beobachtung, die erneut die menschliche Natur in den Blick nimmt: „Man muss sie vielmehr mit einem Volk vergleichen, dessen Leben gleichfalls durch Gesetze geregelt wird.“⁶⁸⁶ – ‚Perché a rincontro si debbe porre una moltitudine medesimamente regolata dalle leggi come sono loro‘ (D I 58). Auch hieran kann man die Ambivalenz
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 132. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 5, gibt allerdings mit Recht zu bedenken, dass Machiavelli bei allen Verallgemeinerungen zumindest unausgesprochen immer zwischen den herrschenden Magnaten und dem beherrschten Volk unterscheidet: “Machiavelli’s notoriously cynical generalizations on the nature of ‚men‘ induce many interpreters to conclude that he attributes to all people the same passions, especially the appetites for political oppression and material acquisition. However, Machiavelli’s distinction between the grandi and the popolo suggests that the few and the many, respectively, are motivated by two qualitatively different appetites”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 149. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 72, gibt am Beispiel dieser Stelle zu bedenken: “But citizens empowered to consider the fate of the nobles through formal decision procedures – ‚shackled by laws,‘ as Machiavelli writes (D I.58) – may come to altogether different conclusions.” Er folgert ebenda: “Thus legally bound, popular judgment over the lives of the grandi is not necessarily an assurance of the latter’s security, let alone their tenures of office.” Die Bedeutung dieser Überlegungen für die Gesetzgebung mit Blick auf D I 58 zeigt sich ebenda, p. 76: „But Machiavelli insists that the standards by which the writers judge the people are skewed: they consistently compare examples of multitudes ‚unshackled‘ by laws with those especially rare examples of law-abiding, and hence ‚good and wise,‘ princes”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 152.
200
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
erkennen, mit der er einerseits dem Volk jede Vernunft abzusprechen scheint, andererseits aber eine bemerkenswerte Urteilskraft zubilligt, wie sie in der allgemeinen und öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich vielleicht am ehesten dadurch auflösen, dass Machiavelli nicht so sehr hierarchisch denkt, als vielmehr das Gemeinsamkeit stiftende Element der conditio humana in den Vordergrund stellt.⁶⁸⁷ Wann immer Menschen, sei es als Einzelne, sei es in der Gesamtheit als Volk, handeln, dann hängt ihre Handlungsweise von ihrer Bindung an Gesetze ab:⁶⁸⁸ „Andererseits wird ein Alleinherrscher, der nicht an Gesetze gebunden ist, sicherlich in höherem Maße undankbar, wankelmütig und unklug sein als das Volk. Die Verschiedenheit ihrer Handlungsweise rührt aber nicht von der Verschiedenheit ihrer Natur her; denn diese ist überall dieselbe (wenn allerdings gute Eigenschaften irgendwo überwiegen, so sicherlich beim Volk). Sie hängt vielmehr von dem Grad der Achtung vor den Gesetzen ab, unter denen Volk oder Machthaber leben.“⁶⁸⁹ – ‚E dall’atra parte, un principe sciolto dalle leggi sarà ingrato, vario ed imprudente piú
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 263, hat am Beispiel der Agrargesetze einen scheinbaren Widerspruch aufgehoben, der mutatis mutandis wohl auch hier nur scheinbar besteht: „Man hüte sich jedoch vor dem Einwand, daß Machiavelli seinen vorherigen Behauptungen widerspreche, wenn er die Klassenkämpfe zuerst für die Größe und sodann für den Niedergang der Republik verantwortlich macht; denn in allen seinen vorhergehenden Untersuchungen waren die methodologische Unterscheidung und das theoretische Kriterium, auf denen seine Behandlung des Agrargesetzes beruht, klar herausgestellt worden. Dieses Kriterium und diese Unterscheidung bestanden in dem klaren Hinweis, daß die Kämpfe, bei denen es nur um Partikularinteressen geht und es den Parteien niemals gelingt, sich zur übergeordneten Ebene des Gemeinwohls aufzuschwingen, und jene Kämpfe, aus denen man nützliche Hinweise für eine immer entschiedenere Festigung der Einrichtungen und Gesetze des Staates gewinnen kann,verschiedener Natur sind“. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 896, gibt freilich mit guten Gründen ein mögliches Missverständnis im Hinblick auf die livianische Quelle, aus der er schöpft, zu bedenken: „Mit dem humanistischen Rückgriff auf antike Quellen täuscht sich freilich Machiavelli darüber, dass er in Wahrheit vom Gebrauch einer Macht fasziniert ist, die erst in den modernen, mit Hilfe des positiven Rechts politisch verfassten Staatsapparaten in Erscheinung getreten ist. Erst im Rahmen dieser in der Sprache des modernen Rechts geschriebenen Verfassungen ist die Ausübung der politischen Herrschaft selbst an Gesetze gebunden und über die Kanäle zwingenden Rechts in die administrative Verwendung abstrakter Macht überführt worden.“ Hervorhebung auch dort. So zutreffend dies im Grundsatz auch ist, wird sich doch am Ende der vorliegenden Abhandlung anhand einiger bislang wenig beachteter Sentenzen erweisen, dass Machiavelli die Unverzichtbarkeit der Bindung des Herrschers an das Recht und der Herrschaft der Gesetze durchaus in einer für seine Zeit bemerkenswerten Weise erkannt hat. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 150 f.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
201
che uno popolo. E che la variazione del procedere loro nasce non dalla natura diversa, perché in tutti è a uno modo, e se vi è vantaggio di bene è nel popolo; ma dallo avere piú o meno rispetto alle leggi dentro alle quali l’uno e l’altro vive‘ (D I 58).
5. Gerechtigkeitsempfinden des Volkes Auch hieran zeigt sich, dass Machiavelli das Volk keineswegs geringschätzt. An einer bereits behandelten Stelle erklärt er ja sogar ausdrücklich, dass es klüger und konstanter entscheidet als ein Machthaber (D I 58).⁶⁹⁰
a) Politische Wirksamkeit der öffentlichen Meinung Machiavelli geht davon aus, dass es bestimmte in der Menschennatur wurzelnde Gegebenheiten und anthropologische Konstanten gibt, auf die man sich noch mehr verlassen kann als auf abänderliche Gesetze. Wer diese Gesetzmäßigkeiten der Menschennatur besser kennt, kann sie sich zu Nutze machen, ohne dass andere dies durchschauen: „Kluge Männer machen sich immer ein Verdienst aus ihren Handlungen, auch wenn sie allein die Notwendigkeit dazu zwingt.“⁶⁹¹ – ‚Gli uomini prudenti si fanno grado delle cose sempre e in ogni loro azione, ancora che la necessità gli constringesse a farle in ogni modo‘ (D I 51). Eindrücklichstes Beispiel für Machiavellis Hochachtung vor dem Gerechtigkeitsempfinden des Volkes ist die folgende Stelle: „Und was die Klugheit und Beständigkeit anlangt, so behaupte ich, daß das Volk klüger und beständiger ist und ein richtigeres Urteil hat als ein Alleinherrscher. Nicht ohne Grund vergleicht man die Stimme des Volkes mit der Stimme Gottes; denn die öffentliche Meinung prophezeit so wunderbar richtig, was geschehen wird, dass es den Anschein hat, als sehe sie vermöge geheimer Kräfte ihr Wohl und Wehe voraus.“⁶⁹² – ‚Ma quanto alla prudenzia ed alla stabilità, dico come un popolo è piú prudente, piú stabile, e di migliore giudizio che un principe. E non sanza cagione si assomiglia la voce d’un popolo a quella di Dio: perché si vede una opinione universale fare effetti maravigiosi ne’ pronostichi suoi; talché pare che per occulta virtú ei prevegga il suo male ed il suo bene‘ (D I 58). Dieses Argument ähnelt Machiavellis Wertschätzung religiöser Gesetze, aber eben nicht deswegen, weil er sie aus spezifisch religiösen Gründen für unverzichtbar halten würde, sondern vielmehr deswegen, weil die Grundlagen der Reli-
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 129 f. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 132. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 151.
202
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
gion geeignet sind, dem Sittenverfall entgegenzuwirken und das Gemeinwesen in der Ordnung zu halten (D I 12).⁶⁹³ Dementsprechend ist der alte Grundsatz ‚vox populi vox dei‘ für Machiavelli nicht religiös konnotiert, sondern aus einem anderen Grund zutreffend, nämlich vermöge der von ihm wohl erstmals in dieser Deutlichkeit erkannten Kraft der öffentlichen Meinung. In der Berufung auf die Stimme Gottes kommt also paradoxerweise gerade nicht das mittelalterliche Paradigma zur Geltung, obwohl das Wort in jener Zeit besonders häufig zitiert wurde.⁶⁹⁴ Vielmehr vereinnahmt Machiavelli diesen bis auf die Antike zurückgehenden Grundsatz in einem spezifisch neuzeitlichen Sinne, der Volkes Stimme ernster nimmt als das uninformierte Geschwätz der dumpfen Masse, mit dem er an anderer Stelle ebenfalls argumentiert (D I 25). Er hat die öffentliche Meinung als eine zwar möglicherweise rechtlich ohnmächtige, aber nichtsdestoweniger politisch höchst wirksame Ansammlung von Individuen begriffen.⁶⁹⁵
b) Gesetzgebung und Wissenszusammenrechnung Auch hier spielt wiederum der Gesichtspunkt eine Rolle, dass in der Gesamtheit der Menschen eben mehr Wissen und Urteilskraft zusammenfinden, als ein Einzelner haben kann. Es findet gleichsam eine Wissenszusammenrechnung statt, deren rechtstheoretischer Erkenntniswert sich erst im Gefolge der Schottischen Aufklärung vollständig ausprägen wird.⁶⁹⁶
St. Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, 2012, S. 159. J. König, Über die Wirkungsmacht der Rede. Strategien politischer Eloquenz in Literatur und Alltag, 2011, S. 149. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962 (hier zitiert nach der Suhrkamp-Ausgabe 1990, S. 117) blendet erstaunlicherweise diesen, gerade für sein Erkenntnisinteresse bedeutsamen Gesichtspunkt aus, wenn er zu Machiavelli lediglich bemerkt: „Die apologetische Literatur der Staatsarcana bringt die Mittel zur Sprache, mit deren Hilfe der Fürst seine Souveränität, die jura imperii, allein behaupten kann – eben die arcana imperii, jener ganze durch Machiavelli inaugurierte Katalog geheimer Praktiken, die die Erhaltung der Herrschaft über das unmündige Volk sichern sollen.“ H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 100, erweitert dies auf die Rolle der Religion: „Machiavelli hatte damit der Politik nicht nur eine zuvor nicht gekannte Autonomie verliehen, sondern auch als erster Religion und Glauben in die Arcana dominationis der Neuzeit eingereiht.“ Hervorhebung auch dort. Bereits weiter oben wurde ausgeführt, dass auch die genannten arcana taciteischem Gedankengut entsprechen; vgl. Tacitus, Annales, 1, 6, 3; zu dieser Stelle und ihrem Umfeld siehe J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 321 f., 370, 553. J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
203
aa) Gesetzgebung und Aufrechterhaltung der Ordnung Machiavelli argumentiert also nicht mit mystischen Überhöhungen, sondern eher mit allgemein menschlichen Verhaltensweisen, die in ihrer Gesamtheit hinlänglich aussagekräftig sind und als öffentliche Meinung durchaus Geltung beanspruchen können. Er spielt Alleinherrscher und Volk allerdings nicht gegeneinander aus, sondern sieht die jeweiligen Vorzüge in der Gesetzgebung einerseits und der Aufrechterhaltung vorhandener Ordnungen andererseits: „Und wenn auch die Alleinherrscher den Völkern überlegen sind in der Einführung von Gesetzen, in der Neuordnung des bürgerlichen Lebens, im Erlass von Anordnungen und neuen Einrichtungen, sind doch die Völker wiederum in der Erhaltung bestehender Ordnungen so sehr überlegen, dass sie zweifellos den Ruhm der Gründer derselben erhöhen.“⁶⁹⁷ – ‚E si i principi sono superiori a’ popoli nello ordinare leggi, formare vite civili, ordinare statuti ed ordini nuovi, i popoli sono tanto superiori nel mantenere le cose ordinate, ch’egli aggiungono sanza dubbio alla gloria di coloro che l’ordinano‘ (D I 58). Machiavelli stehen hier wohl eher die großen Gesetzgeber vor Augen, die er schon an früherer Stelle hervorhebt, wie beispielsweise Solon oder Lykurg (D I 6; 9).⁶⁹⁸
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 152. Siehe dazu auch die im August 1789, also kurz nach der Erstürmung der Bastille, von Friedrich Schiller gehaltene Jenenser Vorlesung über die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, in der er die auch bei Machiavelli begegnende Vorstellung eines Kreislaufs beschreibt: „Kein Gesetzgeber hat je einem Staate diese Einheit, dieses Nationalinteresse, diesen Gemeingeist gegeben, den Lykurgus dem seinigen gab. Und wodurch hat Lykurgus dieses bewirkt? – Dadurch, daß er die Thätigkeit seiner Mitbürgerin den Staat zu leiten wußte, und ihnen alle anderen Wege zuschloß, die sie davon hätten abziehen können. (…) Gegen seinen eigenen Zweck gehalten, ist die Gesetzgebung des Lykurgus ein Meisterstück der Staats- und Menschenkunde. Er wollte einen mächtigen, in sich selbst gegründeten, unzerstörbaren Staat; politische Stärke und Dauerhaftigkeit waren das Ziel, wonach er strebte, und dieses Ziel hat er so weit erreicht, als unter seinen Umständen möglich war.“ Für H. Gockel, Freiheit und Gesetzgebung. Schillers staatspolitische Ideen, in: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, 2005, S. 104, „ist die Ironie unüberhörbar.“ – Aber das ist keineswegs ausgemacht. Denn auch wenn Schiller selbst durchaus entgegengesetzter Ansicht war, zeigte er sich um Gerechtigkeit gegenüber dem Gesetzgeber Lykurg bemüht, indem er ihn an den selbstgesetzten Zielen und durchführbaren Möglichkeiten seiner Zeit maß, wie es im Übrigen in Bezug auf Machiavelli kein Geringerer als Fichte unternahm; dazu J. Petersen, Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für M. Kloepfer, 2013, S. 927. Im Übrigen verdeutlicht Schillers Zitat, warum Lykurg für Machiavelli als Gesetzgeber von Interesse war. Denn um die größtmögliche Dauerhaftigkeit des Staatswesens ging es auch ihm allenthalben, gerade weil er wusste, dass Alleinherrschaften noch weniger von Dauer sind als Republiken. Zu Schillers Schrift über die Gesetzgebung des Lykurg auch H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 348 f.
204
§ 2 Das Gesetz als ,Nerv und Lebenʻ der Freiheit
bb) Einbeziehung der Gesetzgebung anderer Rechtsordnungen Das zeigt sich im Hinblick auf den Ersteren noch an einer Stelle, die ebenfalls für die Verbindung von Wissenszusammenrechnung und Gesetzgebung aufschlussreich ist. Machiavelli erinnert nämlich daran, dass auch im alten Rom, das ja bezüglich seiner Rechtskultur auf eine gewisse Erfahrung zurückblicken konnte,⁶⁹⁹ in Krisensituationen bei den großen griechischen Gesetzgebern Rat gesucht wurde, um sich auch ihren Wissensschatz und ihre gesetzgeberischen Erfahrungen anzueignen: „Nach vielen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten zwischen Volk und Adel wegen der Einführung neuer Gesetze in Rom, die die Freiheit des Staates stärker befestigen sollten, kam man überein, den Spurius Postumius und zwei andere Bürger nach Athen zu schicken, um das Vorbild der solonischen Gesetze zu studieren, damit diese eventuell zur Grundlage für die römischen Gesetze gemacht werden könnten. Nach deren Rückkehr schritt man zur Wahl der Männer, die die genannten Gesetze prüfen und abfassen sollten.“⁷⁰⁰ – ‚Dopo molte disputazioni e contenzioni seguite intra il Popolo e la Nobilità per fermare nuove leggi in Roma, per le quali si stabilisse piú la libertà di quello stato; mandarono d’accordo Spurio Postumio con duoi altri cittadini a Atene, per gli esempli di quelle leggi che Solone dette a quella città, acciocché sopra quelle potessono fondare le leggi romane. Andati e tornati costoro, si venne alla creazione degli uomini che avessero ad esaminare e fermare dette leggi‘ (D I 40).⁷⁰¹
6. Gesetze als Bedingung konstanter Herrschaft Eine solche von Staats wegen initiierte Rechtsvergleichung avant la lettre, die der Freiheit unter dem Gesetz zur Durchsetzung verhelfen soll, ist offenbar auch aus Machiavellis Sicht so bemerkenswert, dass er sie unausgesprochen zur Nachah-
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 224. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 110. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 85, schildert die Hintergründe dieses komplexen Kapitels detailliert: “Machiavelli recounts an alarming instance when the people of Rome temporarily abandoned key institutions conducive to liberty, most notably the tribunate and the right of indicted citizens to be judged formally by the entirety of the people. Because of the ‚disputes and contentions‘ between the nobles and the people, the Romans hoped to reduce conflict by imitating the clarity of Athenian law, and they created the Ten (the Decemvirate) to codify Roman law in a similar manner (D I.40).While drafting the Twelve Tables, the Ten governed in place of both the consuls and the tribunes and formally suspended direct appeals to the people in cases of criminal indictment (D I.40)”.
VII. Gesetzlich geregelte Herrschaft
205
mung empfiehlt (D I 1).⁷⁰² Allerdings nennt er die ergänzenden Maßnahmen, die dieses unkonventionelle Vorgehen erforderlich machten, damit die positiven Wirkungen der gesetzgeberischen Reform nicht sogleich durch die Beharrungskräfte des alten Systems gelähmt würden: „Damit diese in der Lage waren, derartige Gesetze ohne jede Rücksichtnahme zu erlassen, hob man alle anderen Ämter in Rom auf, insbesondere das der Tribunen und Konsulen; man hob auch das Recht der Berufung an das Volk auf, so daß der Rat der Zehn in jeder Hinsicht der Beherrscher Roms wurde.“⁷⁰³ – ‚E perché e’ potessono sanza alcun rispetto creare tali leggi, si levarono di Roma tutti gli altri magistrati ed in particulare i Tribuni ed i Consoli, e levossi lo appello al Popolo, in modo che tale magistrato veniva a essere al tutto principe di Roma‘ (D I 40).⁷⁰⁴ Diese einschränkende Bedingung ergibt sich unausgesprochen unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen gesetzlichen Regelung: „Es gibt Alleinherrschaften, die lange gedauert haben, und es gibt Freistaaten, die lange gedauert haben. Voraussetzung hierfür war, dass beide auf dem Fundament der Gesetze ruhten.“⁷⁰⁵ – ‚Hanno durato assai gli stati de’ principi, hanno durato assai gli stati delle republiche, e l’uno e l’altro ha avuto bisogno d’essere regolato dalle leggi‘ (D I 58).⁷⁰⁶ Nur auf der Grundlage der Gesetze ist andauernde Herrschaft möglich.
Eine ähnliche Rechtsvergleichung avant la lettre kann man bei Montaigne beobachten; vgl. J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 110. Siehe auch J. P. McCormick, Of Tribunes and Tyrants: Machiavelli’s Legal and Extra-Legal Modes for Controlling Elites, Ratio Juris: An International Journal of Jurisprudence and Philosophy of Law 28 (2015) 252. Zu einer anderen Stelle dieses Kapitels, in der es – vereinfacht gesagt – um das Messen mit zweierlei moralischem Maß geht, weiterführend V. Hösles, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 537. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 152. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 332, lässt es bei der genannten Voraussetzung am Beispiel dieser Stelle nicht bewenden und leitet aus den zusätzlichen Erfordernissen in ihrem konkreten Wirkungsverhältnis zueinander eine Formel politischen Gelingens ab: „Diese Ziele (sc. der Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit) können in einem Staat jedoch nur unter der Bedingung erreicht werden, daß die drei wesentlichen Faktoren der Geschichte in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Dabei muß die Kraft der virtù die von Fortuna um so viel übertreffen, daß sie gegen die necessità der historischen Entwicklung, dieses ewige Auf und Ab der Staaten, das politische Ziel staatlicher Selbsterhaltung geltend zu machen vermag und dabei zugleich die Kräfte der necessità für die Stabilisierung des Staates ausnutzen kann. Dieses besondere Verhältnis der drei Geschichtsfaktoren könnte als die Grundformel des politischen Erfolgs bei Machiavelli bezeichnet werden.“ Hervorhebung auch dort.
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung I. Rückbesinnung auf die Freiheit Das zweite Buch der D i s c o r s i behandelt vor allem den römischen Imperialismus, der zwar nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht, nämlich durch schiere Ausplünderung und Versklavung der unterworfenen Völker, eine Stütze des römischen Weltreichs war, wegen dieser menschenverachtenden Praxis aber zu Recht von Grund auf abgelehnt wird und dessen völkerrechtliche Voraussetzungen daher auch bei Machiavelli mit Vorsicht gelesen werden müssen. Hintergrund dieser imperialistischen Tendenz der Ausführungen Machiavellis sind wohl nicht zuletzt zeitbezogene Besonderheiten der wirtschaftlichen Lage der Republik Florenz, deren nachteiliger Besserung nicht anders beizukommen zu sein schien, nachdem die religiöse Rückbindung keinen Erfolg hatte.⁷⁰⁷ Die diesbezüglichen Ausführungen können daher im Folgenden beiseite gelassen werden.
1. Gesetze zur Bändigung von Neid und Angst Umso aufschlussreicher sind allerdings auch im zweiten Buch der D i s c o r s i die anthropologischen Grunderfahrungen, die von zeitloser Gültigkeit sind, Machiavellis Nachruhm mitbegründen und, wie bereits zum ersten Buch gesehen, für sein Gesetzesverständnis von tragender Bedeutung sind. Vor allem diese Gesichtspunkte sollen daher insoweit behandelt werden, als sie für das Verständnis seiner Gesetzgebungslehre weiterführend sind. Auch hier hat an deutlich mehr Stellen Tacitus Pate gestanden, als im bisherigen Schrifttum wahrgenommen worden ist.⁷⁰⁸ Das gilt etwa für Machiavellis abschließendes Zitat des 26. Kapitels: ‚Nam facetiae asperae, quando nimium ex vero traxere, acrem sui memoriam relinquunt‘ (D II 26). Machiavelli verallgemeinert den taciteischen Gedanken, dass bissige Spötteleien im Gedächtnis bleiben, wenn an ihnen zuviel Wahres ist, indem er ihn kurzerhand grammatikalisch frei aus dem Zusammenhang löst.⁷⁰⁹ Grundlegend H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984. Eine beeindruckende Ausnahme bildet auch in dieser Hinsicht das tiefschürfende Buch von L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958. Zur folgenden Stelle bemerkt er (p. 50): “He concludes the chapter (sc. D II 26) with quoting a sentence which Tacitus pronounces when speaking of an enemy of the tyrant Nero”. Tacitus, Annales, 15, 68, 3: ‚Ceterum Neroni odium adversus Vestinum ex intima sodalitate coeperat, dum hic ignaviam principis penitus cognitam despicit, ille ferociam amici metuit, saepe https://doi.org/10.1515/9783110643145-003
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
207
a) Vergangenheit und Gegenwart im werkimmanenten Zusammenhang Zur Idealisierung der Vergangenheit bemerkt Machiavelli, dass sie letztlich ihren Grund in der conditio humana hat. Aufschlussreich für die gesetzliche Beschränkung negativer Affekte ist daher deren Genese, die Machiavelli in der sein Denken bezeichnenden Weise im Hinblick auf Vergangenheit und Gegenwart ordnend unterscheidet, weil davon die mehr oder minder selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit abhängt:⁷¹⁰ „Da überdies der Hass aus Furcht oder aus Neid entsteht, fallen bei den Dingen der Vergangenheit die zwei hauptsächlichsten Ursachen des Hasses weg; denn Vergangenes kann weder Schaden noch Neid erregen. Das Gegenteil tritt bei den Verhältnissen der Gegenwart ein, in der man wirkt und die man vor Augen sieht. Ihrer genauen Kenntnis bleibt nicht das Geringste verborgen. Wir nehmen daher neben dem Guten auch vieles andere wahr, das uns missfällt.“⁷¹¹ – ‚Oltra di questo, odiando gli uomini le cose o per timore o per invidia, vengono ad essere spente due potentissime cagioni dell’odio nelle cose passate, non ti potendo quelle offendere e non ti dando cagione d’invidiarle. Ma al contrario interviene di quelle cose che si maneggiano e veggono, le quali per la intera cognizione di esse non ti essendo in alcuna parte nascoste e, conoscendo in quelle insieme con il bene molte altre cose che ti dispiacciono‘ (D II Proemio). Diese Stelle scheint noch keinen hinreichenden Bezug zum Recht und zur Gesetzgebung aufzuweisen, was für sich betrachtet zutrifft. Doch hat sich bereits verschiedentlich gezeigt, dass die niedrigen Instinkte mit ihren gemeinschädlichen Auswirkungen durch Gesetze gezügelt werden müssen. Zudem setzt Machiavelli an einer oben bereits behandelten Stelle seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z voraus, dass verfeindete Familien sich gegenseitig nach Kräften das Leben schwer machten und gerade deswegen Gesetze erlassen werden mussten, wenn die widerstreitenden Parteien so mächtig waren, dass andernfalls die gesamte Repubik darunter zu leiden hätte (IF III 4). Wechselseitiger Hass ist für
asperis facetiis inlusus, quae ubi multum ex vero traxere, acrem memoriam relinquunt.‘ Dazu R. Ash, Tacitus Annals Book XV, 2018, p. 228. Unnötig hinzuzufügen, dass Nero den Spötter, einen alten Weggefährten und deshalb so gefährlichen Mitwisser seiner menschlichen Schwächen, umgehend hinrichten ließ (Annales 15, 69); zum Umfeld dieser Stellen auch J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 379. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 126, notiert nüchtern: “And the Second Book begins with a rebuke of the irrational inclination natural to men to praise the ancient times.” – So richtig dies für sich betrachtet ist, so wichtig sind doch die eingestreuten Sentenzen über die Menschennatur, die den Boden für spätere Einsichten bereiten, die dann nahezu unweigerlich rechtliche Bedeutung erlangen und für die Gesetzgebung bedeutsam sind, weil ihre verhaltenssteuernde Wirkung wiederum von den anthropologischen Gegebenheiten abhängt. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 160 f.
208
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Machiavelli ein permanenter Beweggrund, nicht nur Böses zu tun, sondern auch Förderungswürdiges zu unterlassen,⁷¹² also etwa gute Gesetze mutwillig zu verhindern, welche die Belange der Gegenwart und Zukunft angemessen ordnen könnten.⁷¹³ Im P r i n c i p e findet sich zudem ein nahezu komplementärer Gedanke zum Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, der überdies noch deswegen weiterführend ist, weil er das Fundament für gute Gesetzgebung setzt, mag diese auch nur ein Element eines aus Machiavellis Sicht geordneten Staatswesens darstellen: „Denn die Menschen werden von der Gegenwart viel stärker bestimmt als von der Vergangenheit. Und wenn sie in der Gegenwart ihr Auskommen finden, so freuen sie sich darüber und suchen keine Änderung; ja sie werden mit allen Kräften für den Schutz des Herrschers eintreten, wenn er nur seine Pflichten nicht versäumt. So wird sein Ruhm ein doppelter sein: einmal, weil er den Grundstein zu einer neuen Herrschaft gelegt hat und ferner weil er diese durch gute Gesetze, ein gutes Heer und gute Beispiele zu Ehren gebracht und befestigt hat, wie den Herrscher doppelte Schande trifft, der ein ererbtes Land durch seine Torheit verloren hat.“⁷¹⁴ – ‚Perché gli uomini sono molto piú presi da le cose presenti che da le passate, e quando nelle presenti truovono il bene, vi si godono e non cercano altro: anzi, piglieranno ogni difesa per lui, quando el principe non manchi nelle altre cose a sé medesimo. E cosí arà duplicata gloria, di avere dato principio a uno principato e ornatolo e corroboratolo di buone legge, di buone arme e di buoni amici e di buoni esempli; come quello ha duplicata vergogna che, nato principe, per sua poca prudenza lo ha perduto‘ (P XXIV). Beiläufig veranschaulicht dieser Gedanke, dass keineswegs alle Handlungsanleitungen im P r i n c i p e ‚machiavellistisch‘ geprägt sind, sondern der Namensgeber dieses zweifelhaften Adjektivs auch im Rahmen der Alleinherrschaft den weisen Herrscher, der mit der Zeit geht und aus den
J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 5 ff. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 265, stimmt den Leser mit düsteren Worten auf das zweite Buch der Discorsi ein; danach „ist das II. Buch nicht von einem positiven konstruktiven Willen beherrscht, sondern von absoluter, völliger Verzweiflung. (…) In dem Traktat ist alles von schnell, mit drastischen Mitteln und ohne moralische Bedenken durchzuführenden Handlungen bestimmt.“ – Das ist auch einer der Gründe dafür, dass das zweite Buch hier im Verhältnis zum ersten vergleichsweise kurz behandelt wird, zumal da es aus den von Sasso angestellten Erwägungen auch im Hinblick auf die Gesetzgebung nicht so ergiebig ist wie jenes erste. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 100 f.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
209
daraus hervorgehenden Erfordernissen gute Gesetze ersinnt, dem prasserischen Despoten, der von fremder Leistung lebt, entschieden vorzieht.⁷¹⁵
b) Gesetzgebung und Selbstgerechtigkeit der Richter Die Provenienz des Hasses aus wahlweise Furcht oder Neid markiert, wie schon weiter oben gesehen, eine anthropologische Grundkonstante seines Denkens. Gesetze müssen daher gerade diese allgegenwärtigen negativen Affekte im Zaum halten. Besonders deutlich wird ihm das anhand der verkommenen Zustände im Italien seiner Zeit: „Denn es werden weder Religion noch Gesetze, noch militärische Disziplin beachtet; vielmehr ist alles in Schmutz versunken. Die Laster sind umso verabscheuungswürdiger, als sie am häufigsten bei denen vorkommen, die auf den Richterstühlen sitzen, jedem Befehle erteilen und verhimmelt werden wollen.“⁷¹⁶ – ‚Dove non è osservanza di religione, non di leggi, non di milizia, ma sono maculati d’ogni ragione bruttura. E tanto sono questi vizi piú detestabili, quanto ei sono piú in coloro che seggono pro tribunali, comandano a ciascuno, e vogliono essere adorati‘ (D II Proemio).⁷¹⁷ Machiavelli rügt also die Missstände in der Kirche, in der Justiz und im Militärwesen seiner Zeit. Dabei beginnt er interessanterweise jeweils ganz oben in der Hierarchie, indem er die Richter, Generäle und Kirchenfürsten direkt anspricht. Zugleich wendet er sich damit an jene drei Institutionen, denen er im ersten Buch eine konstitutive Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Republik zuerkannt hat, nämlich der Religion, der Rechtspflege und der Verteidigung durch ein funktionsfähiges Heerwesen.⁷¹⁸
V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 136, hält es ebenfalls für möglich, dass ein bestimmtes Werk oder Denken „machiavellistisch in einem Sinne ist, in dem es Machiavelli selbst nicht ist“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 162. Siehe zu Tribunalen auch J. P. McCormick, Machiavelli’s Political Trials and the ‚Free Way of Life‘, Political Theory: An International Journal of Political Philosophy 35 (2007) 385. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 890, stellt diese Absichten Machiavellis in einen größeren Zusammenhang, aus dem sich gleichsam die positiven Zwecke ergeben, was er im zuletzt zitierten Wort kritisch umreißt: „Machiavellis eigentliches Interesse richtet sich einerseits auf die wissenschaftliche Erkenntnis der ‚gesetzmäßigen‘ Dynamik von Machterwerb und Machterhaltung in einem gesellschaftlich ausdifferenzierten und rechtlich verfassten Herrschaftssystem, andererseits auf die praktische Anleitung der politisch herrschenden Personen: Sie sollen in Kenntnis der Gesetze den Staat so einrichten, dass sich stabile Machtverhältnisse mit dem Ziel herstellen, die republikanische Freiheit des Gemeinwesens im Innern gewaltlos aufrechtzuerhalten und nach außen zu verteidigen“.
210
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Gerade anhand seiner unausgesprochenen, aber umso deutlicher wirkenden Kritik am Klerus, lässt sich eine Überwindung des mittelalterlichen Paradigmas festmachen.⁷¹⁹ Für die rechtliche Beurteilung ist noch wichtiger, wie verächtlich Machiavelli von den Richtern spricht. Der mangelnde Gesetzesgehorsam bezieht sich in der Aufzählung der Laster auf die Selbstgerechtigkeit der Richter. Die Unabhängigkeit der Justiz von der Gesetzgebung stand Machiavelli offenbar als Postulat deutlich vor Augen, noch klarer allerdings ihre allgegenwärtige Verletzung. Offenbar war die idealiter bestehende Unabhängigkeit der Richter realiter eher durch ihre Unbelangbarkeit ersetzt, so dass sich alle moralischen und rechtlichen Laster bis hin zur Richterbestechung breitmachen konnten. Selbst zu Zeiten der Republik hätten sich in Florenz wohl nicht viele Richterkollegien gefunden, die gegen hervorgehobene Bürger, insbesondere aus der Finanzwirtschaft entschieden hätten. Nicht anders war es freilich in der späten römischen Republik.⁷²⁰
c) Rechtstraditionen und Lebensformen im Vergleich Vor diesem Hintergrund ist aufschlussreich, wie Machiavelli zu seiner Zeit in Italien und Deutschland ganz unterschiedliche Rechtstraditionen am Werke sieht (D II 2).⁷²¹ Auch in seiner kurzen Abhandlung über den P o l i t i s c h e n Z u s t a n d D e u t s c h l a n d s mahnt er, dass „an der Macht Deutschlands niemand zweifeln darf; denn es hat Ueberfluß an Menschen, Reichtümern und Waffen.“⁷²² – ‚Della potentia della Magna alcuno no debbe dubitare, perché abunda di uomini, di riccheze e d’arme‘.⁷²³ In einer Mischung von Faszination und Abwendung schildert er die eigentümlichen Bedingungen, unter denen diese aus seiner Sicht erfolgreiche, aber letztlich unnachahmliche Lebensweise steht: „Wenn trotzdem die freien Städte
J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 11. Auflage 1975, hat in seinem epochalen Werk herausgearbeitet, dass sich das Mittelalter nicht gleichsam vollendet und daher von einer neuen Epoche abgelöst werden musste, sondern eher deswegen, weil vieles von innen verfault schien. Zur autobiographisch dargestellten Genese dieser Einsicht ders., Mein Weg zur Geschichte. Letzte Reden und Skizzen, 1947, S. 55 f. Tacitus, Annales, 1, 1, 2. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 906, der die Deutschland betreffenden Stellen bei Machiavelli zwar nicht berücksichtigt, dafür aber Besonderheiten der deutschen Geschichte jener Zeit in aufschlussreicher Weise zu Machiavelli in Beziehung setzt. Machiavelli, Politischer Zustand Deutschlands im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1512, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 208. Machiavelli, Ritracto delle cose della Magna, 1512, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; EinaudiGallimard), 1997, S. 79.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
211
Deutschlands auf diese Weise leben können und es bereits lange Zeit gekonnt haben, so ist dies in den besonderen Verhältnissen dieses Landes begründet, die man anderwärts nicht findet und ohne die sie nicht so leben könnten.“⁷²⁴ – ‚E se le republiche della Magna possono vivere loro in quel modo, ed hanno potuto durare un tempo, nasce da certe condizioni che sono in quel paese le quali non sono altrove, sanza le quali non potrebbero tenere simile modo di vivere‘ (D II 19). Ähnlich wie Tacitus wendet also auch Machiavelli seinen Blick vergleichend auf die Sitten und Rechtsgepflogenheiten Deutschlands.⁷²⁵ Die zitierte Stelle spielt auf eine Ausnahme an, die Machiavelli vom Ausgangspunkt seiner Prämisse aus machen muss, wonach es Freistaaten an sich gar nicht möglich sei, Freiheit und Ruhe zu genießen, da sie ihrer Natur nach nicht imperialistisch gesonnen sind. Infolgedessen aber wurden sie beständig durch andere Völker bedroht.
d) Gute Gesetzgebung als Ausweg Es gibt also für Machiavelli nur einen Weg, diesem Dilemma zu entgehen, nämlich durch gute Gesetzgebung ebenso gute Sitten herbeizuführen und sich von daher sowohl in sittlicher und rechtlicher Sicht zu konsolidieren als auch in territorialer: „Wenn sie es ablehnen, auf diese Weise ihre Macht zu vergrößern, so müßten sie bedenken, daß Eroberungen auf jedem anderen Wege das Verderben des Staates sind; sie müssten ihren Ehrgeiz zügeln, indem sie sich darauf beschränken, ihren Staat im Innern mit guten Gesetzen zu ordnen und gute Sitten einzuführen, indem sie jede Eroberung verbieten, allein auf ihre Verteidigung bedacht sind und ihre Verteidigungsmittel gut im Stande halten, wie es die Städte in Deutschland tun, die auf diese Weise schon seit geraumer Zeit ihre Freiheit bewahren.“⁷²⁶ – ‚E quando questo modo dello ampliare non gli piacessi, penserebbe che gli acquisti per ogni altra via sono la rovina delle republiche, e porrebbe freno a ogni ambizione regolando bene la sua città dentro con le leggi e co’ costumi, proibendole lo acquistare, e solo pensando a difendersi, e le difese tenere ordinate bene, come fanno le republiche della Magna, le quali in questi modi vivano e sono vivute libere un tempo‘ (D II 19).
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 226. Tacitus, Germania; grundlegend dazu D. Timpe, Romano-Germanica: Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus, 1995. Speziell zum Recht J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, S. 92, wonach die Renaissance von „Tacitus‘ Germania mit ihrem Loblied auf die Freiheitsliebe der Germanen das Ihre getan hatte“; unter Verweis auf E. L. Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, 1966. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 226.
212
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Machiavelli verfährt also durchaus empiristisch, indem er sich diejenigen Reiche und Freistaaten bzw. Stadtstaaten vergegenwärtigt, die eine verhältnismäßig geraume Zeit unbehelligt leben und wirtschaftlich prosperieren konnten.⁷²⁷ Der Rückblick in die Geschichte des römischen Reichs hindert ihn nicht, rechtsund sittenvergleichend Nachbarländer ins Visier zu nehmen und ihre Erfolgsgeheimnisse zu studieren. Bemerkenswert ist seine Vorurteilslosigkeit, die ihm trotz einer am römischen Denken ausgerichteten imperialistischen Neigung nahelegt, Länder und Republiken zu betrachten, die seiner Ausgangshypothese widerstreiten und diese Lügen zu strafen scheinen. Er versucht die inneren Gesetzmäßigkeiten sowie die Gesetzgebung und Sitten zu berücksichtigen, die es diesen Ländern ermöglicht haben, gleichwohl friedlich zu existieren und ungefährdet zu bestehen. Immer wieder ist es der Gleichklang von Sitte und Recht, durch den sich eine solche Bestandsgarantie aufzeigen lässt.
2. Freiheit und Religion Die Veränderung der Weltsicht durch Überwindung des mittelalterlichen Paradigmas, von dem bereits die Rede war, zeigt sich zu Beginn des zweiten Buchs besonders eindrücklich am Beispiel des unterschiedlichen Verständnisses der Freiheit im Altertum und in Machiavellis Gegenwart.⁷²⁸ Dafür macht er letztlich die Religion verantwortlich, weil sie die jeweils unterschiedlichen Erziehungsmethoden geprägt hat (D II 2).⁷²⁹
Aus dem älteren Schrifttum zum wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund R. Poehlmann, Die Wirtschaftspolitik der Florentiner Renaissance und das Prinzip der Verkehrsfreiheit, 1878. J. Burckhardt, Kultur der Renaissance in Italien, Erster Band, 10. Auflage 1908, S. 141: „Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“ – So blumig diese Gegenüberstellung zunächst scheint, so treffend schildert sie doch das neu erwachte Denken in der Renaissance im Verhältnis des Einzelnen zum Verband.Vgl. auch J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 15 ff. Siehe zum Ganzen auch R. König, Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941. Zu ihm M. R. Lepsius, Soziologie und Soziologen. Aufsätze zur Institutionalisierung der Soziologie in Deutschland, 2017, S. 395 ff.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
213
a) Passive Heilserwartung versus virtú Hier wird die Skepsis gegenüber dem mittelalterlichen Paradigma besonders deutlich, das für die alleinselig machende Wahrheit einsteht. Diesen universalistischen Wahrheitsanspruch kann Machiavelli nicht mehr teilen, weil die Vorstellung einer einzigen und unumstößlichen Wahrheit schon vom Standpunkt seiner antiken Rückbesinnung aus widersinnig wäre.⁷³⁰ Er neigt eher einem, wie man wohl heute sagen würde, relativistischen Standpunkt zu. Auch hieran zeigt sich der neuzeitliche Bruch mit überkommenen Heilserwartungen, die ihrer Natur nach absolut und unumstößlich sind. Dennoch bleibt es dabei, dass er sich mitnichten gegen die Religion als solche, die religiösen Gebräuche und sogar die religiöse Ehrfurcht wendet, weil diese, wie er eingangs des ersten Buchs festgestellt hat, für die Staatsordnung schlechterdings konstitutiv sind (D I 12). Seine Skepsis gilt eher der buchstäblichen Passivität des Christentums: „Unsere Religion hat mehr die demütigen und in Betrachtungen versunkenen Menschen verherrlicht, als die tatkräftigen. Sie sieht das höchste Gut in Demut, Selbstverleugnung und in der Geringschätzung der weltlichen Dinge.“⁷³¹ – ‚La nostra religione ha glorificato piú gli uomini umili e contemplativi che gli attivi. Ha dipoi posto il sommo bene nella umiltà, abiezione, e nel dispregio delle cose umane‘ (D II 2). Jetzt wird klar, warum er das mittelalterliche Denken als ein Hemmnis der Freiheit begreift. Es ist geradezu der Gegenentwurf zu der von Machiavelli verfochtenen virtú, die auf Tatkraft, Entschlussfreudigkeit und aktives Handeln ausgerichtet ist.⁷³² Denn die christliche Religion erzieht von seinem skeptischen Standpunkt aus zur untätigen und stillen Duldung. In diesem Sinne zeigt die folgende Stelle, dass Machiavelli eine veritable Befähigung zur überspitzenden Polemik hatte: „So will sie damit mehr die Stärke des Duldens als die der Tat.
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S.252 f., diagnostiziert scharfsichtig: „In der Geschichte der politischen Theorien erfolgte mit Machiavelli der Durchbruch jenes neuzeitlichen Wahrheitsbegriffs, der sich schroff von der antiken und mittelalterlichen Wahrheitsvorstellung abhebt, die aufs engste mit dem Glücksanspruch der Menschen verbunden war. (…) Demgemäß ist vom Glück in Machiavellis politischer Theorie auch nicht die Rede. Allein Ruhm für erfolgreiche Politiker vermag er zu versprechen. (…) Die schonungslose Offenheit, mit der Machiavelli die Konsequenzen seines politischen Ansatzes eingestanden hat, indem er auch dort nicht von Glück redet, wo er nicht glaubt, daß es erreicht werden kann, dürfte viel zu seinem schlechten Ruf beigetragen haben“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 171. J. H. Whitfield, The Anatomy of Virtue, Modern Language Review 38 (1943) 222; N. Wood, Machiavelli’s Concept of virtù reconsidered, Political Studies 15 (1967) 159; R. Zagrean, Der Begriff der virtù bei Machiavelli, 2003.
214
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Diese Regel hat, wie mir scheint, die Weltgeschichte den Bösewichtern ausgeliefert, die ungefährdet ihr Unwesen treiben können; denn sie sehen, dass die große Mehrheit der Menschen, um ins Paradies einzugehen, mehr darauf bedacht ist, Schläge zu ertragen als zu rächen.“⁷³³ – ‚E se la religione nostra richiede che tu abbi in te fortezza, vuole che tu sia atto a patire piú che a fare una cosa forte. Questo modo di vivere adunque pare che abbi renduto il mondo debole, e datolo in preda agli uomini scelerati; i quali sicuramente lo possono maneggiare, veggendo come l’università degli uomini per andare in Paradiso pensa piú a sopportare le sue battiture che a vendicarle‘ (D II 2).⁷³⁴
b) Religiöses Fehlverständnis als Ursache des Rückgangs der Freistaaten Es verwundert angesichts dieser schonungslosen Klarsicht nicht, dass ausgerechnet der Verfasser des ‚Antichrist‘ Machiavelli nicht zuletzt deswegen bewunderte, weil er die Gabe gehabt habe, sich nichts vorzumachen.⁷³⁵ Ebenso wenig erstaunt, dass die Kirchenfürsten der Familie Medici sich, unbeschadet dessen, was sie selbst davon hielten, nicht die Blöße gaben, einen solchen Religionskritiker in verantwortungsvoller Stellung zu beschäftigen und es vorzogen, ihn die kraft ihrer Vorfahren ruhmreiche florentinische Vergangenheit niederschreiben zu lassen. Wie genau sich Machiavellis Religionskritik – oder besser gesagt: seine Kritik an den kirchlichen Würdenträgern, die über Jahrhunderte entsprechende Strukturen geschaffen haben – in sein Staatsverständnis einfügt, zeigt sein Fazit: „Es ist also eine Folge unserer Erziehung und der so falschen Auslegung unserer Religion, dass es in der Welt nicht mehr so viele Freistaaten gibt wie in der Antike und dass die Völker infolgedessen nicht mehr von solcher Liebe zur Freiheit beseelt sind wie ehemals.“⁷³⁶ – ‚Fanno adunque queste educazioni e sí false interpretazioni, che nel mondo non si vede tante republiche quante si vedeva anticamente; né per consequente si vede ne’ popoli tanto amore alla libertà quanto allora‘ (D II 2). Interessant hieran ist der auch für das Rechtsdenken Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 172. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 96, deutet den nachfolgenden Teil unter Verweis auf D I 3/4 in einer für sein und Machiavellis Verständnis des Verhältnisses der virtú zur Gesetzgebung aufschlussreichen Weise: „Machiavelli widmet den Rest des ersten Diskurses dem Nachweis, dass es ein zweites und sogar wirkungsvolleres Mittel gibt, die Menschen dazu zu veranlassen, ‚virtu‘ zu erwerben: indem man die Zwangsgewalt des Gesetzes in einer solchen Weise benutzt, dass man sie zwingt, das Gemeinwohl über ihre selbstsüchtigen Interessen zu setzen“. F. Nietzsche, Nachgelassenes Fragment 24 [1/8.], Oktober-November 1888, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 13, S. 625. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 172.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
215
weiterführende Gesichtspunkt hermeneutischer Schwierigkeiten, die er nicht nur für das vorgebliche Fehlverständnis der Religion, sondern auch den daraus resultierenden Rückgang der Staatsform des Freistaats verantwortlich macht.⁷³⁷ Denn damit wird unweigerlich der Bezug seiner Religionskritik zum Recht augenfällig.
c) Religion, Sprache und Machtentfaltung Auch hieran sieht man allerdings, dass er nicht gegen die Religion als solche aufbegehrt, sondern vielmehr ihrer als fragwürdig empfundenen Interpretation durch die Religionsführer.Vor diesem Hintergrund lässt sich jetzt ersehen, warum Machiavellis eingangs zitierte Vorstellung, dass die menschlichen Dinge immer in Bewegung sind, steigen oder fallen (D II Proemio), wie bereits weiter oben angedeutet, keineswegs trivial ist.⁷³⁸ Denn er wendet im Folgenden diese Einsicht auf das Verhältnis von Religion und Sprache an: „Die Ursachen, die von Menschen herrühren, sind der Wechsel der Religionen und der Sprachen; denn wenn
J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 5, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass Machiavelli ein schwer zu verstehender politischer Denker ist: “The many difficulties that Machiavelli’s texts pose to interpreters – which, of course, account for the myriad interpretations generated over centuries – emulate the challenges presented by politics‘ effectual truth.” – Die einfache und äußerst präzise Sprache Machivellis kann nicht über die im Text vorausgesetzten hermeneutischen Schwierigkeiten hinwegtäuschen. Diese inhaltliche Vielschichtigkeit trotz scheinbarer Schlichtheit ist im Übrigen einer der Gründe dafür, dass hier immer der italienische Text und die deutsche Übersetzung R. Zorns mitgeteilt werden. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 243, rückt dies in einen größeren Zusammenhang: „Hier ist nicht so wichtig die naturalistisch anmutende Bemerkung über die menschlichen Dinge, die nicht beständig bleiben und deshalb sinken oder steigen müssen – ein Teilstück einer Doktrin, die (…) bei Machiavelli jeder systematischen Entwicklung entbehrt –, sondern der enge Bezug auf die Wirklichkeit, der Abschluß jeder politischen Überlegung nicht im Zeichen einer abstrakt idealen Systematisierung, sondern eines konkreten Verhältnisses zu den Dingen.“ – In der Tat darf man Machiavellis Gedanken nicht in das Prokrustesbett eines gleichwie gearteten Systems pressen. Selbst die Discorsi sind nicht in sich widerspruchsfrei geschlossen, sondern von Aporien durchsetzt, die Machiavelli nur zu bewusst gewesen sein dürften, wovon insbesondere der resignative Unterton mancher Stellen des zweiten Buches zeugt. Auch vor dem Hintergrund der bei ihm ebenfalls gegenwärtigen Widersprüchlichkeiten verwundert Nietzsches Bewunderung des Florentiners nicht, ist doch für ihn bekanntlich „der Wille zum System ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (F. Nietzsche, Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1889, Sprüche und Pfeile, 26, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 6, S. 63. Näher J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, 1. Kapitel I 1).
216
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
eine neue Sekte entsteht, das heißt eine neue Religion, so geht, um sich Ansehen zu verschaffen, ihr erstes Bestreben dahin, die alte auszurotten. Dies gelingt ihr leicht, wenn es sich trifft, dass die Stifter der neuen Religion eine andere Sprache sprechen.“⁷³⁹ – ‚Quelle che vengono dagli uomini sono le variazioni delle sètte e delle lingue. Perché quando e’ surge una sètta nuova, cioè una religione nuova, il primo studio suo è, per darsi riputazione, estinguere la vecchia; e quando gli occorre che gli ordinatori della nuova sètta siano di lingua diversa, la spengono facilmente‘ (D II 5). Dieser Zusammenhang der Machtentfaltung durch sprachliche Vereinnahmung im Rahmen der Etablierung neuer Glaubensrichtungen ist in dieser Form wohl so noch nicht gesehen worden.
d) Religionssoziologie avant la lettre Von diesem gedanklichen Ausgangspunkt her veranschaulicht er eine nicht minder bemerkenswerte Folgerung, die im Hinblick auf das Christentum in der eigentümlichen Koinzidenz von Religion und Sprache besteht und die ausgerechnet hier eine Ausnahme von dem soeben genannten Grundsatz macht (D II 6).⁷⁴⁰ Nur weil das Lateinische aus historischen Zufälligkeiten oder, wie er kurz zuvor – nicht ohne einen ironischen Beiklang – einräumt, möglicherweise sogar göttlicher Fügung, die Sprache der Kirche wurde, wurde eben auch ‚das neue Gesetz‘ in lateinischer Sprache verfasst. Selbst wenn das Gesetz in diesem Sinne ersichtlich nicht in juristischer, sondern in religiöser Hinsicht gemeint ist, erschließt sich damit gleichwohl ein Zusammenhang zwischen Sprache, Religion und Recht. Denn diese soeben genannte Gleichförmigkeit brachte es mit sich, dass eben auch das gesamte Religionsverfassungsrecht im weiteren Sinne, also etwa das kirchliche Recht, bis auf den heutigen Tag auf Latein abgefasst ist.⁷⁴¹ Ob man Machiavellis Einschätzungen im Hinblick auf die Machtentfaltung der Religion teilt oder nicht, jedenfalls kann man sich schwerlich des Erstaunens darüber enthalten, dass er mit seiner hellsichtigen Analyse bereits in den Bezirk der Religionssoziologie avant la lettre vorgedrungen ist.
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 181. Ansatzweise findet sich etwas Ähnliches im Verhältnis von Sprache und Religion bei Dante, Paradiso XVIII 91– 93; dazu J. Took, Diligite iustitiam qui iudicatis terram, in: Dante and Governance (Hg. J. Woodhouse), 1997, S. 137; J. Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 117 f. Siehe zum Ganzen auch J. Petersen, Medienrecht in der katholischen Kirche, Archiv für katholisches Kirchenrecht 176 (2007) 433 – 451.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
217
3. Freiheit, Bevölkerungspolitik und Privateigentum Darüber hinaus aber und mit dem soeben Gesagten zusammenhängend, findet man bei ihm auch in ökonomischer Hinsicht eine soziologische Betrachtungsweise:⁷⁴² „In der Tat machen alle Städte und Länder, die in innerer und äußerer Freiheit leben, wie ich oben gesagt habe, die größten Fortschritte. Sie sind dichter bevölkert.“⁷⁴³ – ‚Perché tutte le terre e le provincie che vivono libere in ogni parte, come di sopra dissi, fanno profitti grandissimi. Perché quivi si vede maggiori popoli‘ (D II 2).
a) Ursachenforschung nach dem Wohlstand der Nationen Diese Einsicht ist auch in wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht ganz und gar bemerkenswert. Denn sie stellt einen Zusammenhang zwischen wachsender Bevölkerung und Freiheit her,⁷⁴⁴ der ebenfalls große Denker wie Adam Smith und andere maßgebliche Wirtschaftstheoretiker vorweg zu nehmen scheint.⁷⁴⁵ Ebenso wie diese geht nämlich auch Machiavelli bereits beiläufig der Ursachenforschung nach dem Wohlstand der Nationen nach, für deren Ermittlung ihm der ihm eigene kompetitive Ansatz weiterhilft: „Unter solchen Umständen vermehrt sich der Reichtum in größerem Maße; es blühen Ackerbau und Gewerbe. Jeder vermehrt gerne seinen Besitz und sucht Güter zu erwerben, wenn er seinen Erwerb genießen zu können glaubt. Daher kommt es dann auch, dass die Bürger um die Wette darauf bedacht sind, ihr Privatvermögen wie das Staatsvermögen zu mehren, und beides in erstaunlichem Maß wächst.“⁷⁴⁶ – ‚Veggonvisi le ricchezze multiplicare in
Dazu aus Sicht des zwanzigsten Jahrhunderts prägend Max Weber und Walter Eucken; zu ihnen J. Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020; ders., Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019.Vgl. auch J. P. McCormick, Max Weber and the Legal-Historical Ramifications of Social Democracy, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 17 (2004) 143; ferner ders., The Sociology and Philosophy of Law during Crisis of the State: Max Weber and Jürgen Habermas, Yale Journal of Law and Humanities 9 (1997) 297. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 173. V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21, etwa zu Thomas Malthus, der im Zusammenhang mit der Bevölkerungspolitik zu nennen ist; vgl. auch J. Stagl, Die empirischen Grundlagen der Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus: Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialforschung im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zeitschrift für Politik 28 (1981) 169. Grundlegend K. Haakonssen, The Science of a Legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume & Adam Smith, 1981. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 173.
218
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
maggiore numero, e quelle che vengono dalla cultura e quelle che vengono dalle arti. Perché ciascuno volentieri multiplica in quella cosa e cerca di acquistare quei beni che crede acquistati potersi godere. Onde ne nasce che gli uomini a gara pensono a’ privati e publici commodi, e l’uno e l’altro viene maravigliosamente a crescere‘ (D II 2).⁷⁴⁷ Wüsste man nicht, dass diese Zeilen vor rund 500 Jahren von Machiavelli verfasst wurden, so könnte man sie zumindest auf gleichsam halber Strecke im – selten zur Gänze gelesenen – ‚Wealth of Nations‘ von Adam Smith verorten. Denn dass die wachsende Bevölkerung nicht nur mehr Individuen, sondern auch eine Vergrößerung des individuellen Wissens mit sich bringt, weil alle unterschiedliche Fähigkeiten haben, aber gleichwohl auf Mehrung ihres individuellen Vermögens bedacht sind, entspricht durchaus den Prämissen der Schottischen Aufklärung. Auch die mit der Mehrung des Privatvermögens einhergehende Vergrößerung des Staatsvermögens, die für Machiavelli ein ‚erstaunliches Maß‘ aufweist, gehört zu den großen Herausforderungen der Nationalökonomie. Diesen Wirkungszusammenhang hat erst Adam Smith mit seiner berühmten unsichtbaren Hand näher geklärt.⁷⁴⁸ Dass dies alles aber unter dem Primat der Freiheit gedeiht, ist eine wesentliche Grundeinsicht Machiavellis.⁷⁴⁹
b) Bevölkerungspolitik und Gesetzgebung Auch wenn man Machiavellis Prämisse heute nicht mehr teilen kann, dass die Unterwerfung unter einen Freistaat die stärkste Form der Unfreiheit bedeutet (D II 2), kommt man nicht umhin, seinen prinzipiellen Gedanken des Zusammenhangs zwischen Freiheit, Bevölkerungspolitik, Mehrung des Privateigentums und damit auch des volkswirtschaftlichen Wohlstandes anzuerkennen. Seine Ausführungen zielen zwar in eine andere Richtung, nämlich die Etablierung
J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 80, macht den in diesem Kapitel aufscheinenden Gedanken der Mehrung des allgemeinen Wohlstandes in anderer Hinsicht fruchtbar. Wegweisend E.-J. Mestmäcker, Die sichtbare Hand des Rechts, 1974; vgl. auch J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, S. 209 – 231. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 891, verweist zudem auf Smiths Vorläufer Mandeville: „Wie später Bernhard Mandeville, der in seiner Bienenfabel (1714) erklärt, dass die Selbststabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems über freie Märkte die entfesselten Laster des profitorientierten Wirtschaftens in das ‚tugendhafte Resultat‘ des allgemeinen politischen Wohlstandes transformiert, so glaubt auch Machiavelli intuitiv an eine invisible hand, die für eine Konvergenz sorgt zwischen dem, was wir aus den beobachteten Gesetzmäßigkeiten des Auf- und Abstiegs der Regierungsformen empirisch lernen, und dem, was wir normativ für die besten Gesetze eines wohlgeordneten und freien Gemeinwesens halten.“ Hervorhebungen auch dort.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
219
solcher Herrschaften, in denen gerade die Kühnsten kraft ihrer Tüchtigkeit und ihres Eigennutzes emporstreben, die Herrschaft an sich reißen und dem von ihnen beherrschten Land neue Territorien erschließen. Das hindert jedoch nicht die Anerkennung derjenigen Teile seines Denkens, die zeitlose Gültigkeit haben und von daher auch die juristische Ideengeschichte befruchten. Wie sehr nämlich die vorgenannten Ausführungen mit der Gesetzgebung verwoben sind, veranschaulicht der Umstand, dass Machiavelli Griechenland und Rom im Hinblick auf die Gesetzgebung unter dem Gesichtspunkt der Bevölkerungspolitik einander gegenüberstellt: „Denn Lykurg, der Gründer des spartanischen Staatswesens, war der Meinung, dass nichts seine Gesetze leichter lockern könnte als eine Vermischung mit neuen Siedlern.“⁷⁵⁰ – ‚Perché Licurgo, fondatore della republica spartana, considerando nessuna cosa potere piú facilmente risolvere le sue leggi che la commistione di nuovi abitatori‘ (D II 3).⁷⁵¹ So sehr er Lykurg als Gesetzgeber schätzt, wie im ersten Buch der D i s c o r s i verschiedentlich bemerkbar ist (D I 2; 9; 10), sieht er ihn doch in dieser Hinsicht mit Recht skeptisch.⁷⁵² Denn die zeitlos gültige Erkenntnis, die Machiavelli hier im Wege der rechts- und völkergeschichtlichen Vergleichung zutage fördert, kann auch heute noch Geltung beanspruchen. Ein Land, das sich hermetisch abschottet und keinerlei Zuwanderung zulässt, hat nicht nur weniger Aussicht auf wirtschaftlichen Wohlstand, sondern entwickelt auch im Hinblick auf die Gesetzgebung eine schädliche Hermetik. Das hier genannte Bestreben, die strengen Gesetze nicht durch Einflüsse von außen aufzuweichen, macht sie gleichsam zum Selbstzweck. Gesetze sind dann nicht mehr rechtsstaatliche Garantien für die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, sondern wehren nurmehr Einflüsse von au Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 175. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 114, erwähnt noch eine weitere Stelle, an der Machiavelli Rom und Sparta unter Lykurgs Gesetzen einander gegenüberstellt: “Later on, when defending the fratricide committed by the founder of Rome, he refers again to Sparta; there he silently retracts his initial statement according to which the state and the laws established by Lycurgus lasted for more than 800 years without corruption of those laws or without any dangerous tumult: the Spartans had deviated from the laws of Lycurgus by the time of King Agis, i. e., about 600 years after Lycurgus; Agis who tried to restore the ancient laws was murdered by the ephors; Agis’ successor, who shared Agis’ desire massacred ‘all the ephors and anyone else who could oppose him’ and yet failed to restore completely the laws of Lycurgus. The stature of Rome is thus still more enhanced than it was after the original proof of Rome’s superiority to Sparta and after the first proof of Rome’s superiority to Florence had been completed”. F. Schiller, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, hat diesen Gesichtspunkt in seiner bereits oben zitierten Vorlesung ebenfalls mit kritischem Unterton hervorgehoben: „Beßere Mittel konnte Lykurgus wohl nicht wählen, den Zweck zu erreichen, den er vor Augen hatte, einen Staat nemlich, der von allen übrigen isolirt, sich selbst genug und fähig wäre, durch innern Kreislauf und eigne lebendige Kraft sich selbst zu erhalten“.
220
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
ßen ab.⁷⁵³ Es wäre das Gegenteil einer offenen Gesellschaft, die nicht zuletzt vermöge ihrer Verschiedenheit wirtschaftlichen Wohlstand gebiert und Sicherung individueller Rechte gewährleistet.⁷⁵⁴ Von daher versteht sich seine weiter oben angestellte Beobachtung: „Es ist also kein Wunder, dass die Völker die Tyrannen mit solchem Hass verfolgten und das Leben in Freiheit liebten, ja dass schon das Wort Freiheit von ihnen hoch geschätzt wurde.“⁷⁵⁵ – ‚Non è maraviglia adunque che gli antichi popoli con tanto odio perseguitassono i tiranni ed amassino il vivere libero, e che il nome della libertà fusse tanto stimato da loro‘ (D II 2).
c) Zweifelhafte Analogien zur Natur Bei Machiavelli liegen durch und durch fortschrittliche, aufgeklärt wirkende und fruchtbringende Gedanken mitunter eigentümlich nahe bei verstörenden, die auf denselben Gesichtspunkten beruhen, aber geradezu absonderliche Konsequenzen zeitigen. Das hat sich bereits weiter oben im Rahmen Machiavellis Rechtfertigung von blutigen Gewalttaten gezeigt (D I 9).
aa) Irrationale Angst vor der Überbevölkerung So liegt es auch im Falle der eben noch als ökonomisch hellsichtig erkannten Problematik zunehmender Bevölkerung, die wirtschaftlichen Wohlstand generieren kann.⁷⁵⁶ Seine Kehrseite erfährt dieser an sich weiterführende Gedanke an späterer Stelle. Dort ist es im Ausgangspunkt wieder der medizinische Vergleich, der sein Werk durchzieht, aber nicht überall gleich gewinnbringend eingesetzt wird, weil physiologische Vorgänge eben doch nicht einfach auf gesellschaftliche übertragen werden können: „Wie sich die Natur im einzelnen Körper, wenn sich viele überflüssige Stoffe angesammelt haben, oftmals von selbst regt und eine heilsame Reinigung vornimmt, ebenso kommt dies beim Gesamtkörper des Menschengeschlechts vor. Wenn alle Länder derart überbevölkert sind, dass sie sich nicht mehr ernähren und ihre Bewohner auch keine anderen Wohnsitze mehr aufsuchen können, weil alle Teile der Erde besetzt und besiedelt sind, und wenn
A. Schmidt, Niccolò Machiavelli und die allgemeine Staatslehre der Gegenwart, 1907, S. 52, hat bereits den Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit bei Machiavelli betont. Siehe nur K. Popper, The Open Society and Its Enemies, 1945. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 170. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 109, macht auf einen weiteren ökonomischen Gedanken im Hinblick auf das berühmtere Hauptwerk aufmerksam: „Machiavelli hat den auf einer später gelegenen Schwelle der Neuzeit auftauchenden homo oeconomicus in Gestalt seines neuen Fürsten antizipiert“. Hervorhebung auch dort.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
221
ferner die Missgunst und Schlechtigkeit der Menschen ihren Höhepunkt erreicht hat, so muss sich notwendig die Welt auf eine der drei Arten reinigen, damit die Menschen, zusammengeschmolzen und gezüchtigt, wieder bequemer leben können und besser werden.“⁷⁵⁷ – ‚Perché la natura, come ne’ corpi semplici quando e’ vi è ragunato assai materia superflua, muove per se medesima molte volte e fa una purgazione la quale è salute di quel corpo; cosí interviene in questo corpo misto della umana generazione, che quando tutte le provincie sono ripiene di abitatori, in modo che non possono vivervi né possono andare altrove per essere occupati e ripieni tutti i luoghi; e quando la astuzia e la malignità umana è venuta dove la può venire, conviene di necessità che il mondo si purghi per uno de’ tre modi: acciocché gli uomini, sendo divenuti pochi e battuti, vivino piú comodamente‘ (D II 5). Diese düstere Vorstellung vollständiger Übervölkerung, die seinerzeit demoskopisch noch ganz und gar fernliegend war, veranschaulicht eine merkwürdige Besessenheit von Schreckensszenarien. Allerdings hat er hier einen Gesichtspunkt vorweggenommen, den der bereits angesprochene Thomas Malthus fast dreihundert Jahre später bevölkerungsökonomisch näher untersucht hat.⁷⁵⁸ Das von Grund auf negative Menschenbild Machiavellis wird noch apokalyptisch angereichert und einer befremdlichen Katharsis zugeführt, die den sonst so souverän urteilenden Realpolitiker mit einem Mal als angstvolle und gequälte Seele erscheinen lässt.⁷⁵⁹
bb) Gesetze der Natur und vorgesetzlicher Naturzustand Das wäre für sich betrachtet ein eher psychologisch interessantes und womöglich biographisch gefärbtes Kuriosum, wenn solche Gedanken nicht das Rechtsverständnis färben würden. Hieraus ersieht man, dass Glanz und Grenzen von Machiavellis hellsichtiger anthropologischer Beobachtungsfähigkeit einerseits und der Konsequenzen, die er daraus andererseits zieht, eng beieinander liegen. Auch sein Schluss von einzelnen Menschen mit all seiner moralischen Fragwürdigkeit auf die Gesamtheit der Menschen kann schwerlich zu einer gerechten
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 183. Th. R. Malthus, Essay on the Principle of Population, 1798. Dazu im geistesgeschichtlichen Zusammenhang V. Hösle, Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21. Eine ähnliche Beobachtung auf der Grundlage eines vergleichbar pessimistischen Menschenbildes ließ sich bei dem großen Religionsphilosophen Blaise Pascal anstellen, wo es zu einem geradezu angstvollen Rechtsverständnis führte; näher J. Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, § 1.
222
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Beurteilung führen. Indem Machiavelli das Vorkommen einzelner Individuen, die gerade nicht von Neid zerfressen und von Grund auf moralisch schlecht sind, zu bezweifeln scheint, fehlt ihm jegliche Instanz, die unter Umständen das Gute um seiner selbst willen wollen kann. Damit wird jedoch erklärungsbedürftig, warum es auf der anderen Seite auch nach seiner pessimistischen Anthropologie durchaus weise Gesetzgeber geben soll. Machiavelli wird hier mitunter Opfer seiner allzu naturalistischen Betrachtungsweise: „Alles, was wir tun, ist eine Nachahmung der Natur. Es widerspricht ihren Gesetzen und ist daher unmöglich, dass ein dünner Stamm einen dicken Ast trägt.“⁷⁶⁰ – ‚E perché tutte le azioni nostre imitano la natura, non è possibile né naturale che uno pedale sottile sostenga uno ramo grosso‘ (D II 3).⁷⁶¹ Denn es sind gerade diese Analogien zur Natur, die ihn, wie erinnerlich, in einem vorgesetzlichen Naturzustand zu dem Vergleich der Menschen mit wilden Tieren führen, die der Menschennatur bei aller angenommenen Schlechtigkeit eben auch nicht gerecht werden (D I 2).⁷⁶²
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 176. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 295, ist mit guten Gründen skepisch gegenüber der ‚naturalistischen‘ Diktion: „Wenn man sagt, daß der ‚Baumstamm‘, auf den sich der Staat stützt, dick und stark genug sein muß, um das Gewicht aller ‚Äste‘ tragen zu können, die neu an ihm sprießen; wenn man von den feindlichen Stimmungen (…) im Volk spricht, die durch Gesetze und Einrichtungen zum Nutzen und Wohl des ganzen Staates umgewandelt werden müssen; wenn man sich daran ergötzt, Aussprüche und Gedanken zu zitieren, die auf die Tradition der medizinischen Wissenschaft zurückgeführt werden können, so will dies bestimmt nicht besagen, daß man im Bereich der Politik sich einer naturalistischen Formulierung der Grundprobleme der menschlichen Gesellschaft bedient.“ Er bezieht diesen Gedanken des Astes auch zuvor schon auf die Gesetzgebung (S. 276): „Denn wenn Machiavelli im I. Buch die Aufmerksamkeit auf die qualitativen Unterschiede zwischen den Klassenkämpfen in Rom und Florenz gelenkt und das ungleiche Schicksal der beiden Städten diesen Unterschieden zugeschrieben hatte, so gewinnt diese Erklärung hier rein pragmatisches Ansehen, und die Behinderung bzw. Beschränkung der Politik von Italien und Florenz wird nicht mehr im Partikularinteresse gesehen, sondern in der Tatsache, daß die Florentiner und Italiener es nicht verstanden hatten, sich die in der Geschichte Roms liegende Erfahrung zu eigen zu machen, die Einrichtungen, Gesetzeswerke und politische Umsicht Roms nachzuahmen.“ – Hervorhebung nur hier. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 124, betont allgemeingültig: „Die auf Machiavelli zurückgehende Auffassung, daß viele der individualethischen Normen nur gelten, wenn ihr Adressat im Rahmen einer durch eine Staatsmacht garantierten Ordnung lebt, muß von der Ethik sehr ernst genommen werden (…) Denn innerhalb eines Staates ist man durch dessen Zwangsgewalt geschützt; im Naturzustand kann gutmütiges Vertrauen leicht tödliche Folgen haben“.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
223
4. Herrschaft der Steuergesetze und Abgabengerechtigkeit Die zuletzt angestellten Überlegungen gingen von ökonomischen Fragen aus, denen sich Machiavelli weit stärker stellt, als im bisherigen Schrifttum wahrgenommen wurde, obwohl in Anbetracht der florentinischen Verhältnisse mit Herrschern einer Dynastie, die aus Bankiers hervorgegangen ist, an sich auf der Hand liegt, wie bedeutsam die unterschiedliche Güterverteilung für die Beurteilung der Gerechtigkeitsdefizite einer Herrschaft sein kann. Zudem war die Steuergerechtigkeit in der florentinischen Geschichte seit jeher problematisch; spätestens mit der Einsetzung der ‚Ordinamenti di giustizia‘, im Zuge derer den Adel höhere Steuerlasten trafen.⁷⁶³
a) Steuerreform nach Leistungsfähigkeit in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Von daher kann nicht verwundern, dass Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z sein Augenmerk auch auf die Steuergesetze und die Abgabenwillkür richtet, die durch kriegsbedingte Erhöhungen den Unmut des Volkes erregten (IF II 9): „Der Krieg hatte nun vom Jahr 22 bis 27 gedauert, und die Bürger waren der bis jetzt auferlegten Steuern so müde, daß sie sich einigten, sie neu zu verteilen (1427). Damit sie dem Reichtum gemäß gleich verteilt würden, wurde verordnet, die Steuern auf Hab und Gut zu legen, und daß, wer hundert Gulden Vermögen habe, einen halben Gulden Steuern bezahlen müsse.“⁷⁶⁴ – ‚Era durata questa guerra da il ’22 al ’27, ed erano stracchi i cittadini di Firenze delle gravezze poste infino allora, in modo che si accordorono a rinnovarle. E perché le fussero uguali secondo le ricchezze, si provvide che le si ponessero a’ beni, e che quello che aveva centro fiorini di valsente ne avesse un mezzo di gravezza‘ (IF IV 14).⁷⁶⁵ Dieses Maß erklärt sich nicht zuletzt im Hinblick auf eine vorangehende Stelle, an der Giovanni de Medici einem einflussreichen Mann in Erinnerung rief, auf welche Weise dessen Vater es vermocht habe, beim Volk als gerechter Ge H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S.157: „In die Steuergesetze der Stadt wurden Ausnahmebestimmungen gegen den Adel aufgenommen, die ihm höhere Steuerabgaben als den Bürgern auferlegten“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 228 f. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 15, bemerkt unter Verweis auf das im Text zitierte IV. Buch der Geschichte von Florenz trefffend: “Rather than arm citizens, the Medici rendered the latter mere economic clients, definitively corrupting the city’s civic life and ensuring its disastrous military dependence on foreign powers and mercenary warlords”.
224
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
setzgeber zu gelten:⁷⁶⁶ „Er ermahnte ihn daher, die Sache reiflicher zu überlegen: er solle seinem Vater nachahmen, der, um das Wohlwollen der Masse zu erwerben, den Salzpreis herabsetzte, eine Verordnung erließ, daß jeder, dessen Steuer unter einem halben Gulden betrage, nach Belieben bezahlen könne oder nicht, und befahl, daß am Tage, wo sich die Räte versammeln, jeder vor seinen Gläubigern sicher sein solle.“⁷⁶⁷ – ‚Confortollo pertanto a pensare piú maturamente alle cose e a volere imitare suo padre, il quale per avere la benivolenza universale scemò il pregio al sale, provvide che chi avesse meno di uno mezzo fiorino di gravezza potesse pagarla o no come gli paresse, volle che il dí che si ragunavono i Consigli ciascuno fosse sicuro da’ suoi creditori. E in fine gli concluse che era, per quanto si apparteneva a lui, per lasciare la città negli ordini suoi‘ (IF IV 10). Das Verständnis für die Minderprivilegierten, der Schutz vor den Gläubigern und die Einräumung einer Freigrenze, um es in moderner steuerrechtlicher Diktion zu sagen, zeichnen also, wie Machiavelli zwischen den Zeilen zu verstehen gibt, den weisen Gesetzgeber aus.⁷⁶⁸
b) Gleichmäßigkeit der Besteuerung Vor diesem Hintergrund muss man wohl auch die folgende Stelle lesen, die auf die Steuerveranlagung entsprechend der Leistungsfähigkeit bezogen ist und sie in der für Machiavelli bezeichnenden Weise anthropologisch verortet, indem das gleichmäßig nach Maßgabe der vorhandenden Güter die Steuer bemessende Gesetz einer von Natur aus egoistischen,⁷⁶⁹ habgierigen und interessenbezogenen Verteilung von Menschenhand gegenübergestellt wird: „Da also das Gesetz, und nicht die Menschen diese Steuer zu verteilen hatte, so wurden die mächtigen Bürger sehr hoch veranlagt. Ehe man das Gesetz beschlossen hatte, war es daher von ihnen bekämpft worden; nur Giovanni (sc. de Medici) hatte es offen gelobt, und dadurch war es durchgegangen. Weil beim Verteilen eines jeden Hab und Gut zusammengerechnet wurde, was die Florentiner katastrieren nennen, so nannte
Zu einigen der nachfolgend im Text vorausgesetzten Begriffe J. Petersen, Unternehmenssteuerrecht und bewegliches System, 1999. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 224 f. F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II 2, 32, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 2, S. 564 hat interessanterweise später ebenfalls Schonung und Nachsicht als Merkmale der Gerechtigkeit ausgemacht: „daß wir Manches uns nachsehen, was wir nicht müßten.“ Dazu J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 224 f. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 55.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
225
man die Steuer Kataster. Diese Art setzte zum Teil der Tyrannei der Mächtigen Grenzen; denn sie konnten nun nicht mehr die Kleinen unterdrücken und sie durch Drohungen in den Räten zum Schweigen bringen wie früher. Die Steuer war daher der Masse angenehm und wurde von den Mächtigen mit größtem Mißfallen aufgenommen.“⁷⁷⁰ – ‚Avendola pertanto a distribuire la legge e non gli uomini, venne ad aggravare assai i cittadini potenti, e avanti che la si deliberassi era disfavorita da loro. Solo Giovanni de’ Medici apertamente la lodava, tanto che la si ottenne. E perché nel distribuirla si aggregavono i beni di ciascuno, il che i Fiorentini dicono accatastare, si chiamò questa gravezza catasto. Questo modo pose in parte regola alla tirannide de’ potenti: perché non potevono battere i minori e fargli con le minacce ne’ Consigli tecere come potevano prima. Era adunque questa gravezza dall’universale accettata, e da’ potenti con dispiacere grandissimo ricevuta‘ (IF IV 14). Dabei hätte es zur Befriedung der Masse bewenden können, auch wenn die Mächtigen gewiss im Hintergrund an einer Revision der Steuergesetze gearbeitet haben würden.
c) Revolutionäre Rückwirkung der Steuergesetze Doch schildert Machiavelli die Etappen der Steuergesetzgebung wohl vor allem deswegen so vergleichsweise kleinschrittig, weil er wiederum tiefeingewurzelte Begehrlichkeiten der Menschen schildern will, und zwar gerade auch derer, die allen Grund hätten, mit dem unverhofft Erreichten zufrieden zu sein und sich zu bescheiden.⁷⁷¹ Denn die Maßlosigkeit der Menschen kann kein noch so maßvolles Gesetz in Schranken halten, wie sich nicht nur am Beispiel der Großen und Mächtigen zeigt, die Machiavelli für gewöhnlich in ihrer Unersättlichkeit geißelt, sondern eben auch der lange Zurückgesetzten, die mit einem Mal mehr begehren und ihrerseits den Sinn für Maß und Mitte verlieren: „Aber die Menschen werden niemals befriedigt, und kaum haben sie etwas, so begnügen sie sich nicht mehr damit und wollen noch mehr. Nicht mit der Gleichheit der Steuer zufrieden, die aus dem Gesetz folgte, verlangte das Volk, man solle in die Vergangenheit zurückgehen und nachsehen, was die Mächtigen weniger bezahlt hatten, als jetzt nach dem Kataster auf sie kam; dieses Begehren erschreckte die Großen viel mehr als der Kataster, und um sich dagegen zu verteidigen, ließen sie nicht ab, den
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 229. Zu interessanten Parallelen im Hinblick auf eine unter Nero ins Werk gesetzte Steuerrechtsreform, die hier nicht vertieft werden können, J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 50 ff.
226
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Kataster zu verdammen.“⁷⁷² – ‚Ma come accade che mai gli uomini non si soddisfanno, e avuta una cosa, non vi si contentando dentro, ne desiderano un’altra, il popolo, non contento alla ugualità della gravezza che dalla legge nasceva, domandava che si riandassero i tempi passati e che si vedesse quello che i potenti secondo il catasto avevano pagato meno, e si facessero pagare tanto che gli andassero a ragguaglio di coloro che, per pagare quello che non dovevano, aveno vendute le loro possessioni. Questa domanda, molto piú che il catasto, spaventò gli uomini grandi, e per difendersene non cessavono di dannarlo‘ (IF IV 14). Aus heutiger Sicht würden wir wohl von einer Rückwirkung der Steuergesetze sprechen, die das Volk zu Lasten der so lange ungebührlich geschonten Mächtigen beabsichtigte. Ohne in die intrikaten Fragen eintreten zu wollen, ob und inwieweit eine tatbestandliche Rückanknüpfung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen bei Fiskalgesetzen zulässig ist, ist aus Machiavellis Sicht entscheidender, welche unterschiedlichen Standpunkte sich in dieser Frage zur Abgabengerechtigkeit spiegeln, die er im Folgenden in stilisierter Rede und Gegenrede entfaltet, zumal da er wusste, wie wenig Steuergerechtigkeit seit jeher in Florenz galt, wo die Machtverhältnisse auch über die Abgabenlast entschieden.⁷⁷³
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 229. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 342, verdeutlicht das am Beispiel einer biographischen Episode während Machiavellis Arbeit an seiner dem Medici-Papst versprochenen Geschichte von Florenz, die ein Schlaglicht auf die ungerechten Verhältnisse wirft und die bezüglich der damit berührten Interessen schwierigen Umstände der Entstehung des hier hauptsächlich zitierten Werkes verdeutlicht, das man daher wohl auch vor diesem Hintergrund lesen muss: „Machiavelli war sich seiner heiklen Lage bewusst. Immerhin waren ihm mit Franceso Vettori und Francesco Guicciardini zwei Vertraute geblieben, die – zumindest hinter vorgehaltener Hand – manche seiner kritischen Einschätzugen teilten und über einen direkten Draht zu den Medici verfügten. An Vettori wandte sich Machiavelli im April 1523, um sich mit seiner Hilfe gegen drückende Steuern zu schützen, die ihm seine Feinde auferlegen wollten. Das war in Florenz seit langem das probate Mittel, um Gegner auszuschalten. Ob diese Manöver im Zusammenhang mit seiner Geschichte von Florenz standen, lässt sich nicht mehr sagen.“ J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 38, analysiert die Beziehung zu den beiden Genannten eindringlicher, als im bisherigen Schrifttum vorgenommen, wenn er folgert: “The animosity between Machiavelli and the older generation of Florentine ottimati informs our understanding of his more friendly but still far from equitable relationship with their heirs, such as Francesco Guicciardini, Francesco Vettori, and, especially, Cosimo Rucellai and Zanobi Buondelmonti.” Hervorhebung nur hier; siehe auch ebenda, p. 110 ff.; ferner ders., Machiavelli against Republicanism: On the Cambridge School’s ‚Guicciardinian Moments‘, Political Theory 31 (2003) 615. Siehe auch J. M. Najemy, Between Friends: Discourses of Power and Desire in the MachiavelliVettori Letters of 1513 – 1515, 1993.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
227
aa) Besteuerung von Anlage- und Umlaufvermögen Machiavelli legt zunächst den Standpunkt der Mächtigen auseinander, wonach der Kataster abgesehen von etwaigem Schwarzgeld auch deswegen ungerecht sei, weil er – wiederum in moderner Diktion⁷⁷⁴ – die Unterscheidung zwischen beständigem Anlagevermögen und eher volativem Umlaufvermögen nicht hinreichend beachte: „Er sei ungerecht, behaupteten sie, weil er auch auf die beweglichen Güter gelegt sei, die man heute besitzt und morgen verliert. Überdies gebe es viele Personen, die verborgenes Geld hätten, das der Kataster nicht auffinden könne. Dem fügten sie hinzu, die Männer, welche, um die Republik zu verwalten, ihre Geschäfte versäumten, müßten weniger von ihr belastet werden, da es ihr genügen müsse, daß sie sich persönlich anstrengten. Es sei ungerecht, daß sich die Republik ihres Vermögens und ihrer Tätigkeit erfreue und bei den andern nur des Geldes.“⁷⁷⁵ – ‚Affermando quello essere ingiustissimo per essersi posto ancora sopra i beni mobili, i quali oggi si posseggono e domani si perdono; e che sono oltre a di questo molte persone che hanno danari occulti che il catasto non può ritrovare. A che aggiugnevano che coloro che per governare la republica lasciavano le loro faccende, dovevano essere meno carichi da quella, dovendole bastare che con la persona si affaticassero; e che non era giusto che la città si godesse la roba e la industria loro, e degli altri solo i danari‘ (IF IV 14). Es handelt sich bei dem zuletzt zu bedenken Gegebenen wohl um ein meritokratisches Argument, das freilich in letzter Konsequenz um der Verdienste zugunsten der Republik willen auf das Privileg der Steuerfreiheit pocht. Nicht zuletzt wegen dieser selbstbewussten Behauptung dürfte Machiavelli diesem Streit um die Steuergesetzgebung eine paradigmatische Bedeutung eingeräumt haben.
bb) Symmetrische Gegenrede anhand der Gesetzeszwecke Machiavelli ordnet die Gegenargumente der Befürworter des Katasters interessanterweise anhand der Gesetzeszwecke symmetrisch an, indem beispielsweise im Hinblick auf die Unterscheidung von Anlage- und Umlaufvermögen einer flexiblen Betrachtungsweise das Wort geredet wird. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die Rede stilisiert ist, weil selbst die hellsichtigsten Vertreter der Masse kaum je so gesprochen haben dürften: „Wenn sich die beweglichen Güter änderten, so könne man auch die Steuern ändern, und durch ihre öftere Änderung Allgemein dazu J. Petersen, Nutzen und Grenzen steuerrechtlicher Argumente im Zivilrecht, in: Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, Beiträge für C.-W. Canaris zum 65. Geburtstag, 2002, S. 113. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 229 f.
228
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
lasse sich jenem Mißstand abhelfen. Die, welche verborgenes Geld hätten, in Anschlag zu bringen, sei nicht nötig: denn solange das Geld keinen Nutzen bringe, sei es unbillig, daß es bezahle, und bringe es Nutzen, so müsse es sich entdecken. Wenn es ihnen nicht gefiele, sich für die Republik zu bemühen, so sollten sie es nur unterlassen und sich nicht darein mischen. Die Republik werde immer liebevolle Bürger finden, denen es nicht schwer fallen werde dieselbe mit Geld und mit Rat zu unterstützen. Der Vorteil und die Ehre, die das Regieren mit sich bringe, seien so groß, daß es ihnen genügen müsse, ohne sich von den Lasten ausschließen zu wollen.“⁷⁷⁶ – ‚Gli altri a chi il catasto piaceva rispondevano che, si i beni mobili variano, possono ancora variare le gravezze, e con il variarle spesso si può a quello inconveniente rimediare; e di quelli che hanno danari occulti non era necessario tenere conto, perché quelli danari che non fruttono non è ragionevole che paghino, e fruttando conviene che si scuoprino; e se non piaceva loro durare fatica per la republica, lasciassinla da parte e non se ne travagliassino, perché la troverrebbe de’ cittadini amorevoli a’ quali non parrebbe difficile aiutarla di danari e di consiglio; e che sono tanti i commodi e gli onori che si tira drieto il governo che doverrebbono bastare loro, sanza volere non partecipare de’ carichi‘ (IF IV 14). Schon der mokante Unterton, mit dem den Mächtigen unterstellt wird, dass sie mitnichten selbstlos die Geschicke der Republik bestimmen, legt nahe, welchem Standpunkt Machiavelli eher zuneigt. Aber auch die Ausführlichkeit der Wiedergabe des hier um die Hälfte gekürzten Standpunkts der Volksvertreter zeigt, dass Machiavelli tendenziell Verständnis für ihre Sache aufbringt, wenn sie sie nur nicht so radikal, das heißt mit Rückwirkung ausgestattet, ausgeformt hätten.⁷⁷⁷
cc) Dialektik der Gesetzgebung oder verderblicher Mittelweg? Daher entwickelt er nach dieser kontrastierenden Entgegensetzung gleichsam dialektisch den vermittelnden Standpunkt des weisen Gesetzgebers in Gestalt des erwähnten Giovanni de Medici – gewiss nicht zum Missfallen seines päpstlichen Auftraggebers aus derselben Familie, und zwar unter rhetorischer Erwähnung einer scheinbar religiösen Beteuerung, die aber eher den Pragmatismus heiligt, um die Vergangenheit ruhen zu lassen:⁷⁷⁸ „Diese Aufregung der Gemüter be-
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 230. Allgemein dazu O. Lepsius, Die Rückwirkung von Gesetzen, Juristische Ausbildung 2018, 577; 695. Zum Prinzip der kontrastierenden Entgegensetzung im Hinblick auf die Gesetzgebung J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 104.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
229
schwichtigte Giovanni de Medici. Er zeigte, ‚daß es nicht gut sei, auf die Vergangenheit zurückzukommen, daß man vielmehr für die Zukunft sorgen müsse. Wenn die Steuern früher ungerecht gewesen, so müsse man Gott danken, daß man die Art gefunden, sie gerecht zu machen. Man solle diese Art zur Einigung der Stadt dienen lassen, nicht zu ihrer Spaltung, wie es geschehen würde, wenn man den früheren Abgaben nachforsche und sie den gegenwärtigen gleichstelle. Wer mit einem mittelmäßigen Sieg zufrieden sei, tue immer besser; denn wer übersiegen wolle, verliere immer.‘ Durch solche Worte beschwichtigte er diese Aufregung und bewirkte, daß von der Gleichstellung nicht mehr gesprochen wurde.“⁷⁷⁹ – ‚Questi umori mossi erano quietati da Giovanni de’ Medici, mostrando che non era bene riandare le cose passate, ma sibbene provvedere alle future, e se le gravezze per lo addietro erano state ingiuste, ringraziare Iddio poiché si era trovato il modo a farle giuste, e volere che questo modo servisse a riunire non a dividere la città, come sarebbe quando si ricercasse le imposte passate e farle ragguagliare con le presenti; e che chi è contento di una mezzana vittoria sempre ne farà meglio, perché quegli che vogliono sopravincere spesso perdono. E con simili parole quietò questi umori, e fece che del ragguaglio non si ragionasse‘ (IF IV 14). Allerdings sollte man sich davor hüten, diese idealisierende Sichtweise uneingeschränkt als den Standpunkt Machiavellis auszugeben. Denn sie stellt einen klassischen Mittelweg dar (D III 2), den er in den D i s c o r s i stets als verderblich geißelt (D I 27; 23). Von daher versteht sich, daß Machiavelli nach scheinbarer Befriedung der Standpunkte und einem kurzen Blick auf die auswärtigen Angelegenheiten wieder auf die genannte Grundspannung zurückkommt und nach dem so verheißungsvollen Votum Giovanni de Medicis die untergründigen Umtriebe schildert, die seitens der Mächtigen ins Werk gesetzt wurden:⁷⁸⁰ „Sobald der Friede nach außen eingetreten war, fing der Krieg im Innern wieder an. Da die großen Bürger den Kataster nicht ertragen konnten und keinen Weg sahen, ihn abzuschaffen, dachten sie Mittel aus, ihm mehr Feinde zu machen, um zum Angriff mehr Gefährten zu haben. Sie zeigten daher den zum Ausschreiben angestellten Beamten, das Gesetz zwinge sie, auch die Güter des Gebietes zu katastieren, um zu sehen, ob sich Güter von Florentinern darunter befänden. Es wurden also alle Untertanen vorgeladen, in einer geissen Zeit Verzeichnisse ihres Vermögens zu bringen.“⁷⁸¹ – ‚Seguíta la pace di fuora, ricominciò la guerra dentro. Non potendo i cittadini grandi sopportare il catasto e non vedendo via da spegnerlo, Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 230 f. Siehe zum Ganzen auch T. Barks, Das Geld der Medici, 2005. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 231 f.
230
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
pensorono modi a farli piú nimici per avere piú compagni ad utarlo. Mostrorono adunque agli uffiziali deputati a porlo, come la legge gli costrigneva ad accastare ancora i beni de’ distrettuali, per vedere se intra quegli vi fussero beni de’ fiorentini. Furono pertanto citati tutti i sudditi a portare infra certo tempo le scritte de’ beni loro‘ (IF IV 15). Konnte man das Gesetz also nicht abschaffen, so legte man die daraus resultierende Zwangsanordnung so penibel aus, dass sie möglichst viele Rechtsunterworfene in Aufruhr zu bringen versprach.
dd) Scheitern des Gesetzes an den Machtverhältnissen Auch wenn von diesem Gesetz daraufhin über eine lange Strecke nicht mehr die Rede sein wird, erscheint es doch als permanenter Unruheherd;⁷⁸² insofern vergleichbar mit dem römischen Agrargesetz (D I 37).⁷⁸³ Erst sehr viel später, unter Cosimo de Medici, lebt die gerechte Form der Steuergesetzgebung wieder auf, sehr zum Missvergnügen der Mächtigen: „Was aber die Großen am meisten in Schrecken versetzte und Cosimo die beste Gelegenheit gab, sie eines Besseren zu belehren, war, daß die Art des Katasters vom Jahr 1427 wieder erweckt wurde, wonach nicht die Menschen, sondern das Gesetz die Steuern bestimmte.“⁷⁸⁴ – ‚Ma quello che fece piú spaventare i Grandi e a Cosimo dette maggiore occasione a fargli ravvedere, fu che si risuscitò il modo del catasto del 1427 dove non gli uomini ma la legge le gravezze ponesse‘ (IF VII 2). Letztlich geht es auch hier um die Herrschaft der Gesetze, nämlich der Steuergesetze, die idealerweise alle gleich belasten, auch wenn das im damaligen Florenz gerade nicht der gängigen Praxis entsprach. Gute Gesetze können durch schlechte Absichten allgegenwärtig in ihr Gegenteil verkehrt werden, weil die im Gesetzgebungsverfahren Unterlegenen sich niemals damit zufrieden geben werden.⁷⁸⁵
G. Sasso, Niccolò Machiavelli, Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 261 ff., ausführlich zu ihnen. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 84, bemerkt in anderem, aber letztlich vergleichbaren Zusammenhang: “The crisis associated with the Ten raises institutional questions, and controversies over the Agrarian Laws bear on socioeconomic issues”. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 411. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 345, gibt allerdings am Beispiel von Machiavellis weiter unten noch zu behandelnden mehrdeutigen Nachruf auf Cosimo de Medici mit Recht zu bedenken, dass dieser durch eine Politik geschickter privater Zuwendungen ein Netz faktischer und über Privatkredite auch rechtlich abgesicherter Abhängigkeiten geschaffen hat. Man muss zudem eine gewisse Idealisierung Cosimos mitlesen, die dem Auftraggeber, dem Medici-Papst Clemens VII., geschuldet gewesen sein dürfte, wie bereits weiter oben erwähnt wurde.
I. Rückbesinnung auf die Freiheit
231
So geschah es schließlich auch in diesem Fall: „Die Durchsetzung dieses Gesetzes (1458) und die bereits erfolgte Ernennung der Magistrate, die es vollstrecken sollten, bewirkte, daß sie sich wieder ganz zusammenschlossen und zu Cosimo gingen, ihn zu bitten, er möge sie und sich aus den Händen des Pöbels reißen und der Regierung ein Ansehen wiedergeben, das ihn mächtig und sie geehrt mache. Cosimo antwortete, er sei zufrieden, aber er wolle, daß das Gesetz zu diesem Zwecke auf ordentlichem Wege mit Willen des Volkes gemacht werde und nicht mit Gewalt, von der sie ihm in keinem Falle sprechen sollten. Es wurde in den Räten das Gesetz, eine neue Balia zu ernennen, versucht und nicht durchgesetzt.“⁷⁸⁶ – ‚Questa legge vinta e di già fatto il magistrato che la esequisse, gli fe’ al tutto ristrignere insieme e ire a Cosimo a pregarlo che fusse contento volere trarre loro e sé delle mani della plebe e rendere allo stato quella riputazione che faceva lui potente e loro onorati. Ai quali Cosimo rispose che era contento, ma che voleva che la legge si facesse ordinariamente e con volontà del popolo e non per forza, della quale per modo alcuno non gli ragionassero. Tentossi ne’ Consigli la legge di fare nuova balìa e non si ottenne‘ (IF VII 3).
ee) Herrschaft der Gesetze im Steuerrecht Schließlich versandete das Vorhaben nicht zuletzt deswegen, weil auch Cosimo de Medici die ihm eigene Mäßigung zeitweise verlor, dann zunehmend gebrechlich wurde und in der Zwischenzeit schiere Gewalt herrschte. Die bittere Lehre dieses Scheiterns muss Machiavelli nicht eigens aussprechen: Der gute Wille des Stärksten und Bestgesinnten innerhalb einer Republik, das Volk am Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zu beteiligen, um die formelle Rechtmäßigkeit eines Gesetzes zu gewährleisten, das im Idealfall, also bei gerechtem Vollzug, alle gleichermaßen und im Vorhinein bestimmbar belastet, ist gleichwohl zum Scheitern verurteilt, wenn es durch stetige Einflüsterungen minder Mächtiger, aber dennoch Einflussreicher durchkreuzt wird, welche die menschlichen Schwächen des Gutwilligen gezielt ausnutzen und Unruhe stiften. Zudem erinnert Machiavelli damit unausgesprochen an seine bereits in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung zitierte Einsicht aus dem Proömium des vierten Buchs seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z , wonach auch die Einflussreichsten sterblich sind und ihrer Macht natürliche Grenzen gesetzt sind (IF IV 1). Das gilt für die Schlechten ebenso wie für die Gutwilligen, welche die Republik aufrechterhalten wollen, deren Krankheit sie jedoch gleichsam infiziert.
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 411.
232
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
Krankt die Republik daran im übertragenen Sinne, dann lädt die wirkliche Krankheit dessen, der eine Gesetzgebung im allgemeinen Interesse ins Werk setzt, zum verhängnisvollen Spiel auf Zeit ein, das die zerstörerischen Kräfte gewinnen. Schließlich unterlag das Gesetz, dessen Herrschaft Gerechtigkeit bewerkstelligen sollte, weil es Spiegel der wirklichen Machtverhältnisse und niedrigen Beweggründe war – übrigens ein taciteisches Grundmotiv.⁷⁸⁷ Letztlich geht es bei alledem um die Herrschaft der Gesetze im Steuerrecht. Machiavelli wiederholt das Grundmotiv gegen die im seinerzeitigen Florenz grassierende Abgabenwillkür und betont daher das zentrale Anliegen, dass die Gesetze und nicht die Menschen die Steuern bemessen (IF VII 2). Denn die Gesetze gelten im Idealfall abstraktgenerell ohne Ansehen der Person und ihres Einflusses, während die Menschen ohne gesetzliche Beschränkung ihren niedrigen Instinkten, insbesondere der Habgier und Herrschsucht folgen und daher auch über die Steuergesetze herrschen wollen, um möglichst wenig entrichten zu müssen.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens Der weiter oben am Beispiel der D i s c o r s i genannte Vergleich zwischen Menschen und Tieren (D I 2) zeigt sich auf den ersten Blick erschreckend eindrucksvoll im P r i n c i p e , wo er die Alternative zum Recht – im italienischen Original sind des freilich die Gesetze (‚le leggi‘) von denen Machiavelli spricht – deutlich formuliert: „Ihr müßt euch nämlich darüber im klaren sein, daß es zweierlei Arten der Auseinandersetzung gibt: die mit Hilfe des Rechts und die mit Gewalt. Die erstere entspricht dem Menschen, die letztere den Tieren. Da die erstere oft nicht zum Ziele führt, ist es nötig, zur zweiten zu greifen. Deshalb muß ein Herrscher gut verstehen, die Natur des Tieres und des Menschen anzunehmen.“⁷⁸⁸ – ‚Dovete adunque sapere come e’ sono dua generazioni di combattere: l’uno con le leggi, l’altro con la forza. Quel primo è proprio dello uomo, quel secondo, delle bestie. Ma perché el primo molte volte non basta, conviene ricorrere al secondo: pertanto a uno principe è necessario sapere bene usare la bestia e lo uomo‘ (P XVIII). Man muss jedoch berücksichtigen, dass Machiavelli hier zumindest im Ausgangspunkt le-
Tacitus, Annales, 2, 51, 2: ‚victa est sine dubio lex, sed neque statim et paucis suffragiis, quo modo etiam cum valerent leges vincebantur‘. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 71 f.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
233
diglich Ciceros Auffassung über die Pflichten wörtlich wiedergibt.⁷⁸⁹ Allerdings fällt die Kontrastierung bei Machiavelli eine Spur greller aus, wodurch sich vielleicht ein etwas aggressiverer Klang einstellt.⁷⁹⁰
1. Rechtsfrieden trotz imperialistischer Grundgesinnung Von seinem Ausgangspunkt her folgerichtig stellt Machiavelli daher die Frage, wie die griechischen Stadtstaaten, die er im ersten Buch noch wegen ihrer guten Gesetze idealisiert hat, gleichwohl nicht die Ausdehnung des römischen Reichs erreichten: „Obwohl beide Staaten (sc. Sparta und Athen) vorzüglich bewaffnet waren und die besten Gesetze hatten, brachten sie es doch nie zur Größe des römischen Reichs.“⁷⁹¹ – ‚Le quali essendo due republiche armatissime, ed ordinate di ottime leggi, nondimeno non si condussono alla grandezza dello Imperio romano‘ (D II 3).⁷⁹² Gute Gesetze garantieren also keine territoriale Größe eines Landes, sondern bedingen allenfalls ein funktionsfähiges Heerwesen, wie Machiavellli im ersten Buch ausgeführt hat, darüber hinaus aber, was entscheidend ist, ein gedeihliches Miteinander.⁷⁹³ Den Grund für die Expansion des römischen Reiches sieht er nicht zuletzt darin, dass die Römer es vermocht haben, Bündnisse mit den
Cicero, De offícus I, 11: ‚Nam cum smt duo genera decertandi, unum per disceptationem, alterum per vim; cumque illud proprium sit hominis, hoc beluarum: confugiendum est ad posterius, si uti non licet superiore‘. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 50, hat dies, soweit ersichtlich, als Erster erkannt und stellt gleich noch eine weitere antike Quelle heraus, nämlich das Werk Plutarchs. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 175. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 118, zu dieser Stelle. Sein Werk hellsichtig überblickend J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 48 mit Fn. 19: „Die falschen Weichenstellungen der modernen Politik macht Strauss zum Thema seiner großen Studien über Machiavelli, Hobbes und Spinoza, die alle – im Gegensatz zur politischen Theologie – um das Thema Naturrecht und Moderne kreisen“. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 47, hat dies am Beispiel Athens mit interpretatorisch folgenreichem, wenngleich unterschwellig vorgetragenen Bezug auf Machiavelli am deutlichsten herausgearbeitet, indem er die Beseitigung sozialer Ungleichheit durch Gesetzgebung und die damit verbundene demokratische Teilhabe in den Blick nimmt: “The laws of the Athenian constitution politically empowered poor citizens in three primary ways: through a legislative assembly open to all citizens; executive offices distributed by lottery; and political courts comprised of large subsets of randomly selected citizens. In the Athenian assembly (…) every citizen was entitled to initiate and discuss legislation, laws over which ultimate decisions were decided by majority vote”.
234
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
von ihnen geschlagenen Staaten einzugehen, die zwar scheinbar auf vertraglicher Grundlage basierten, in Wahrheit aber eindeutige Herrschaftsverhältnisse mit klarer Subordination waren, die Machiavelli nicht im Geringsten zu missbilligen scheint, sondern insgeheim bewundert:⁷⁹⁴ „Da es (sc. Rom) der einzige Staat war, der so verfuhr wurde es auch allein so mächtig. Indem es sich viele Bundesgenossen in ganz Italien geschaffen hatte, die in vielen Bereichen unter gleichen Gesetzen mit ihm lebten, aber andererseits, wie erwähnt, sich stets den Sitz der Regierung und das Recht zu befehlen vorbehalten hatte, kamen seine Bundesgenossen allmählich dahin, dass sie sich, ohne es gewahr zu werden, mit ihrem Schweiß und Blut selber unterjochten.“⁷⁹⁵ – ‚Perché avendosi lei fatti di molti compagni per tutta Italia, i quali in di molte cose con equali leggi vivevano seco; e dall’altro canto, come di sopra è detto, sendosi riserbata sempre la sedia dello Imperio ed il titolo del comandare, questi suoi compagni venivano, che non se ne avvedevano, con le fatiche e con il sangue loro a soggiogar se stessi‘ (D II 4). Die für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende Passage ist das Zusammenleben unter gleichen Gesetzen, das zwar in vielerlei Hinsicht gegeben war, aber eben unter der entscheidenden Bedingung römischer Vorherrschaft.⁷⁹⁶ Doch selbst dort, wo sich die Gesetze gleichen und den Schein der Rechtsgleichheit suggerieren, ist eben die Befehlsgewalt und Regierung das Entscheidende. Die vermeintliche und scheinbare Rechtsgleichheit perpetuiert und intensiviert auf diese Weise die Herrschaft viel wirksamer, als wenn sie sogleich drückend ausgeübt worden wäre, weil sie die formell gleichgestellten Bundesgenossen durch die persuasive Macht der Gewohnheit unversehens selbst dazu bringen, sich ihrer Selbständigkeit zu berauben.
2. Belassung der Gesetze zugunsten der Unterworfenen Im Hinblick auf die Gesetzgebung hebt Machiavelli hervor, dass das Erfolgsgeheimnis der römischen Eroberungsstrategie nicht zuletzt darin bestand, dass man den unterjochten Völkern neben begrenztem Eigentum auch ihre jeweiligen Gesetze lässt: „Weil es dem Sieger genügt, wenn die unterworfenen Völker gehorchen; auch läßt er ihnen meist ihre Gesetze und immer ihre bewegliche und
Siehe auch, auch unter Berücksichtigung Machiavellis B. Croce, Etica e politica, 1945; ferner G. Ritter, Das sittliche Problem der Macht. Fünf Essays, 1948; A. Rüstow, Politik und Moral, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 105 (1949); F.-M. Schmölz, Machiavelli. Die Trennung von Ethik und Politik, Zeitschrift für Politik 10 (1963) 131. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 178. Tacitus, Historiae, 4, 74, könnte hier Pate gestanden haben.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
235
unbewegliche Habe.“⁷⁹⁷ – ‚Perché e’ basta al vincitore solo la ubbidienza de’ popoli, e il piú delle volte gli lascia vivere con le loro leggi, e sempre con le loro case e ne’ loro beni‘ (D II 8).
a) Gesetzesrelativismus Es ist also mitnichten der Respekt als solcher vor den andersartigen Gesetzen der beherrschten Völker, der den Siegern diese Strategie angelegen sein lässt, sondern vielmehr die auf die Spitze getriebene Herrschsucht selbst. Damit gilt für sein Verständnis von andersartigen Gesetzen ähnliches wie für seine Einschätzung religiöser Vorstellungen: Man duldet bzw. kultiviert sie sogar, um einen gewissen Gehorsam herbeizuführen bzw. aufrechtzuerhalten. Der Richtigkeit der Gesetze wird ebenso wenig Glauben geschenkt wie den religiösen Vorstellungen, wenn sie nur die Untergebenen so weit domestizieren, dass von ihnen keine Gefahren ausgehen.⁷⁹⁸ Man kann insofern von einem Gesetzesrelativismus sprechen. Die Gesetze bleiben nicht mehr um ihrer Geltung oder gar ihrer materialen Richtigkeit willen in Kraft, sondern zum Anschein rechtlicher Autonomie der Rechtsunterworfenen, damit diese ihren gewohnten Gesetzen, in Wahrheit aber nur den Römern gehorchen. Hier zeigt sich die Schattenseite Machiavellis, für die er berühmt
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 187. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, hat diese Instrumentalisierung der Religion mit guten Gründen am deutlichsten kritisiert. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 23 f., analysiert dies im Hinblick auf Strauss: „Doch auch ein tiefes Unbehagen an den verstörenden Thesen des beunruhigenden Denkers Machiavelli artikulierte sich im 20. Jahrhundert, bezeichnenderweise nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. (…) Zum Lehrer des Bösen in der Politik wurde der Florentiner für Strauss vor allem dadurch, dass er Religion, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, zum reinen Herrschaftsinstrument degradierte und die Politik von jeder Anbindung an höhere moralische Werte ablöste. Damit habe Machiavelli einem kalten, inhumanen Rationalismus Bahn gebrochen, wie er in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts kulminierte, doch auch in den Demokratien Europas, von Hobbes und Rousseau weitergedacht, gefährliche Wertverluste befördert habe.“ Siehe auch die Paraphrase von H. Meier, Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion, 2013, S. 57: „Strauss‘ last sections zeichnen das wirkungsmächtige Bild von Machiavelli, dem neuen Fürsten, der seine Herrschaft postum antritt, dem modernen Moses, der einen neuen Dekalog in sich trägt, dem unbewaffneten Propheten, der eine neue Strategie geistiger Kriegsführung ersinnt und eine neue, zuvor für ausgeschlossen gehaltene Allianz mit dem Volk schmiedet.“ Rechtsphilosophisch folgenreich seine Zusammenfassung der Gedanken von Leo Strauss über Machiavelli ebenda, S. 125: „Denn die Ausrichtung am Gemeinsamen Guten kann in einer extremen Situation, in der die Existenz oder die Unabhängigkeit des Gemeinwesens auf dem Spiel steht, die Abweichung von den normalen Regeln der Gerechtigkeit gebieten, ohne daß sich die extreme Situation im einzelnen bestimmen und die Abweichung von dem Regeln im voraus regeln ließe“.
236
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
und berüchtigt geworden ist in aller Deutlichkeit, weil er auf den Schein setzt, der letztlich auf Trug gründet: „Ich bin der festen Überzeugung, dass es selten oder überhaupt nie vorkommt, dass Menschen aus kleinen Verhältnissen ohne Gewalt und ohne Betrug zu hohem Rang gelangen, es sei denn, dass ihnen dieser Rang von dem, der ihn einnimmt, freiwillig überlassen oder vererbt wird.“⁷⁹⁹ – ‚Io stimo essere cosa verissima che rado o non mai intervenga che gli uomini di piccola fortuna venghino a gradi grandi sanza la forza e sanza la fraude; pure che quel grado al quale altri è pervenuto non li sia o donato o lasciato per eredità‘ (D II 13). Daraus spricht wohl auch der aus kleinen Verhältnissen Emporgekommene, der zwar Spross einer einstmals einflussreichen Familie war, durch Misswirtschaft seines Vaters aber nur ein ganz bescheidenes Erbe angetreten hat, zu den wirklich Mächtigen immer aufschauen und um ihre Aufmerksamkeit buhlen musste.⁸⁰⁰ Insofern findet sich gerade hier ein wohl deutlich autobiographisch gefärbtes Glaubensbekenntnis, das Machiavelli zwar historisch vielfältig belegt, letztlich aber wohl vor allem in seiner eigenen Herkunft bestätigt findet: „Ich glaube nicht, dass es in der Geschichte einen Mann gibt, der sich aus niederem Stand nur durch offene und ehrliche Gewalt zum Herrscher eines großen Reiches emporgeschwungen hat, wohl aber dass es Männer gibt, die dies allein durch List erreicht haben.“⁸⁰¹ – ‚Né credo che si truovi mai alcuno costituto in bassa fortuna, pervenuto a grande imperio solo con la forza aperta ed ingenuamente, ma sí bene solo con la fraude‘ (D II 13).⁸⁰² Das liest sich wie eine Rechtfertigung für ein Verhalten, dessen Erfolglosigkeit letztlich vielleicht gerade in seiner kompromisslosen Art begründet ist, mit der Machiavelli persönlich danach lebte.
b) Gesetzesgestattung als Trugbild der Freiheit Wenn man sich fragt, wie es zu den das Rechtsbewusstsein Machiavellis prägenden Vorstellungen gekommen ist, die auf eine Ethik des Dienens und Herr-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 201 f. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 887 f.: „Machiavelli stammt aus dem sozial abgestiegenen Nebenzweig einer etablierten und wohlhabenden Florentiner Familie; als Sohn eines in bescheidenen Verhältnissen lebenden Juristen genoss er die übliche humanistische Bildung, behielt aber immer etwas von einem Autodidakten und fühlte sich als Außenseiter gegenüber dem Kreis um die großen Platoniker Marsilio Ficino (1433 – 1499) und Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494).“ Hervorhebung nur hier. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 202. M. Stolleis, Löwe und Fuchs. Eine politische Metapher im Frühabsolutismus, Festschrift für H. J. Schlochtauer, 1981, S. 151, zeichnet Machiavellis Plutarch-Lektüre nach und erklärt daraus den Stellenwert der List und Kraft in seinem Werk.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
237
schens hinauslaufen,⁸⁰³ dann gelangt man immer wieder zu seinem Menschenbild, das als allgegenwärtige Konstanten den Neid und Hass als Triebfedern ausmacht: „Man sieht oft, dass Bescheidenheit gar nichts nützt, ja dass sie nur schadet, besonders wenn man es mit unverschämten Menschen zu tun hat, die einen aus Neid oder einem andern Grunde mit ihrem Hass verfolgen.“⁸⁰⁴ – ‚Vedesi molte volte come l’umiltà non solamente non giova ma nuoce, massimamente usandola con gli uomini insolenti, che o per invidia o per altra cagione hanno concetto odio teco‘ (D II 14). In einer an Tacitus erinnernden Genese ist es vor allem der Hass, der aus Neid entsteht.⁸⁰⁵ Machiavelli zeigt sich tunlichst darum bemüht, falsche Bescheidenheit, unnötiges Entgegenkommen und alle sich nicht auszahlenden Tugenden dergestalt herauszurechnen, dass die ungetrübten Kräfteverhältnisse zum Vorschein kommen und darüber entscheiden, welches Entgegenkommen der unterlegenen Seite gemacht werden muss, um die Herrschaft zu sichern.Vor diesem Hintergrund wird erneut deutlich, warum er die Gepflogenheit der Römer achtet, die von ihnen unterjochten Völkerschaften in einem Trugbild der Freiheit zu lassen, das darin bestand, dass sie nach ihren eigenen Gesetzen weiterleben konnten.⁸⁰⁶ So weist er auch an späterer Stelle darauf hin, „dass die Römer allen Städten, die sie nicht zerstörten, auch denen, die sich ihnen nicht als Bundesgenossen anschlossen, sondern sich als Untertanen unterwarfen, gestatteten, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Man sah dort nie ein Zeichen, das auf die Herrschaft des römischen Volkes deutete. Sie legten diesen Ländern nur gewisse Bedingungen auf, deren Erfüllung durchaus im Einklang mit ihrer staatlichen Selbständigkeit und Würde stand. (…) Besonders jene Gemeinwesen, die an ein Leben in politischer Freiheit gewöhnt sind oder sich immer selber durch ihre eigenen Landsleute regiert haben, finden sich mit einer sogar drückenden Herrschaft, die sie nicht ständig vor Augen haben, leichter ab als mit einem Herrn, den sie jeden Tag sehen und der ihnen jeden Tag ihre Knechtschaft vorzuwerfen scheint.“⁸⁰⁷ – ‚Quanto i Romani nel modo del procedere loro circa lo acquistare fossero differenti Zu ihr J. Petersen, Anthropozentrik versus Ökozentrik im Umweltrecht, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 83 (1997) 361. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 204. Tacitus, Annales, 3, 75, 2.: ,odium ex invidia oriebaturʻ. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 119: “Ancient Rome did not claim to rule the towns which had become its subjects but merely bound them to certain conditions; Rome’s rule was not visible and was therefore rather easily borne even though it may have imposed some hardship; since Rome did not exercise civil and criminal jurisdiction in those towns, ‚the prince‘ was much less exposed to calumny and hatred than were the municipal authorities. In other words, Rome did not exercise direct rule over her subjects”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 232.
238
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
da quegli che ne’ presenti tempi ambliano la giurisdizione loro, si è assai di sopra discorso; e come e’ lasciavano quelle terre, che non disfacevano, vivere con le leggi loro, eziandio quelle che non come compagne ma come suggette si arrendevano loro; ed in esse non lasciavano alcuno segno d’imperio per il Popolo romano, ma le obbligavano ad alcune condizioni; le quali osservando, le mantenevano nello stato e dignità loro. (…) Perché quelle città, massime che sono use a vivere libere, o consuete governarsi per sua provinciali, con altra quiete stanno contente sotto uno dominio che non veggono, ancora che egli avesse in sé qualche gravezza, che sotto quello che veggendo ogni giorno, pare loro che ogni giorno sia rimproverata loro la servitú‘ (D II 21). Diese stark idealisierende Betrachtung, zu der Machiavelli für gewöhnlich nicht neigt, wenn er die wahren Herrschaftsverhältnisse ausmacht, enthält durchaus einen wahren Kern. Denn indem der eigentliche Herrscher aus dem Blickfeld der Beherrschten tritt, zieht er im Alltag weniger Zorn auf sich.⁸⁰⁸
c) Gesetzespragmatismus Es mag also hier, wie so oft in Machiavellis D i s c o r s i , offenbleiben, inwieweit das, was er den Römern ansinnt, den wirklichen historischen Gegebenheiten entsprochen hat. Immerhin ist derjenige Teil seiner Ausführungen interessanter, der gerade nicht der Haltung der Römer Ausdruck verleiht, sondern eben sein ureigenes Wissen über die Macht und die menschlichen Gegebenheiten preisgibt. Arbeitet man dies am Beispiel der vorliegenden Stelle heraus, so scheint eine eigentümliche Mischung zwischen Gesetzespragmatismus und Gesetzeszynismus am Werk. Die Erlaubnis, den unterjochten Völkerschaften ihre eigenen Gesetze zu belassen, ist zunächst von pragmatischen Gesichtspunkten beherrscht. Diese ihre Gesetze kennen die von den Römern unterworfenen Völker am besten, nach ihnen leben sie möglicherweise seit unvordenklicher Zeit, und sie entsprechen ihren Sitten und Gepflogenheiten. Insofern scheint alles dafür zu sprechen, sie fortgelten zu lassen, weil und sofern sie einen gewissen Rechtsfrieden gewährleisten und vor allem keine Unruhe stiften. Diesem pragmatischen Denken, das er gutheißt, ist allerdings auch ein zynisches nicht fern, das wiederum Machiavelli nicht fremd ist. Denn dahinter steht die Vorstellung, dass Gesetze nicht unbedingt Gerechtigkeit verkörpern, zum Ausdruck bringen oder verwirklichen müssen.⁸⁰⁹
Tacitus, Agricola, 13, 1, enthält eine ähnliche Wertung, wonach willkürfreie Fremdherrschaft leichter erträglich ist: ,si iniuriae absint: has aegre tolerant, iam domiti ut pareant, nondum ut serviantʻ. Zu dieser Stelle J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 53. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, hat insofern, wie bereits weiter oben angedeutet, mit seiner fundamentalen Kritik einen über die Rolle der Religion hinausgehenden und die Ge-
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
239
Vielmehr haben sie in erster Linie Ruhe zu gewährleisten, dem Aufruhr entgegenzuwirken und die Herrschaft zu stabilisieren. Zudem gaukeln sie den Rechtsunterworfenen vor, dass sie nach wie vor im Zustand der alten Freiheit leben, während seit der Unterwerfung spätestens drückender Zwang besteht.
d) Widerspruch zwischen D i s c o r s i und P r i n c i p e ? Möglicherweise besteht in dieser Frage ein Widerspruch zwischen den Hauptwerken.⁸¹⁰ Im P r i n c i p e ist die Belassung der Gesetze zugunsten der Rechtsunterworfenen nurmehr eine von drei Optionen, die aber kurzerhand verworfen wird, weil die Römer einmal schlechte Erfahrungen damit gemacht hatten: „Wenn ein Staat, den man in der besprochenen Art erobert hat, gewohnt ist, nach eigenen Gesetzen und in Freiheit zu leben, so gibt es drei Möglichkeiten, seinen Besitz zu behaupten: entweder 1. ihn zerschlagen oder 2. dort seine Residenz einrichten oder 3. ihm die eigenen Gesetze lassen, ihn aber tributpflichtig machen und eine Regierung von wenigen Bürgern einsetzen, die für eine freundliche Haltung der anderen garantieren. (…) Griechenland wollten sie nach Spartas Beispiel halten, indem sie ihm seine Freiheit und seine Gesetze ließen; sie hatten aber keinen Erfolg damit; so waren sie gezwungen, viele Städte dieses Landes zu zerstören, um sich zu behaupten.“⁸¹¹ – ‚Quando quelli stati, che si acquistano come è detto, sono consueti a vivere con le loro leggi e in libertà, a volergli tenere ci sono tre modi: il primo, ruinarle; l’altro, andarvi ad abitare personalmente; il terzo, lasciàgli vivere con le sua legge, traendone una pensione e creandovi dentro uno stato di pochi, che te lo conservino amicho. (…) Vollono tenere la Grecia quasi come rechtigkeit der Gesetze berührenden Gesichtspunkt angesprochen, dessen Schlüssigkeit man sich schwerlich entziehen kann. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 158 f., verweist auf die ungewisse zeitliche Entstehung, die allgemeine politische Lage und den Impetus des Verfassers: „Sei es, daß die Discorsi schon 1513 vor dem Principe begonnen wurden oder erst 1515, als der kurze Traktat schon einige Zeit abgeschlossen war, sie entstanden jedenfalls aus der bitteren und dramatischen Erfahrung, die Machiavelli während fünfzehn Jahren politischen und diplomatischen Lebens im Zusammenhang mit den Zuständen in Italien (…), ihren Widersprüchen, Schwächen und Nöten gemacht hatte; sie entsprangen der geistigen Verfassung eines Mannes, der lange Zeit auf die politischen und militärischen Mängel von Florenz und der anderen größeren italienischen Staaten hingewiesen hatte und der nun, da die Tatsachen seinen Voraussagen endgültig recht zu geben schienen, die dringende Notwendigkeit fühlte, seine Theorien zu einem dicht geschlossenen Gedankenkreis zu vereinen und die Gründe zu verstehen, deretwegen es den italienischen Staaten und vor allem Florenz nie geglückt war, sich eine Staatsordnung zu geben, die imstande gewesen wäre, den Schicksalsschlägen und Launen der Fortuna zu widerstehen“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 18 f.
240
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
tennono gli spartani, faccendola libera e lasciandole le sua legge, e non successe loro: tale che furno constretti disfare di molte città di quella provincia per tenerla‘ (P V). Anders als in den D i s c o r s i verengt Machiavelli den Beurteilungsspielraum im P r i n c i p e von den drei ursprünglich gegebenen Möglichkeiten auf die Zerstörung der Stadt. In dieser Frage besteht also scheinbar ein offener Widerspruch zwischen den D i s c o r s i und dem P r i n c i p e , gleich als ob er dort sein wahres Gesicht zeige.⁸¹² Doch muss man sich vor einem Zirkelschluss hüten, weil es den Eindruck nahelegen könnte, dass man Machiavelli von vornherein ‚machiavellistisch‘ liest. Der Widerspruch könnte so aufzulösen sein, dass die D i s c o r s i ihrem buchstäblichen Sinne nach, die Möglichkeit der Gesetzesbelassung ergebnisoffen und gleichsam gutachterlich mit allem Für und Wider erwägen, dabei auch auf den Beispielreichtum der römischen Gerichte in ihrer gesamten Breite zurückgreifen, während im P r i n c i p e eine stichwortartige Voranstellung der prinzipiellen Möglichkeiten nach Art eines Gerichtsurteils zu einer klaren Handlungsanweisung führt, deren Alternative zielführend mit einem treffenden Beispiel abschlägig verbeschieden wird.
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 59 f., lässt Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren, indem er bezüglich seiner politischen Theorie mit Recht daraufhin weist, dass „die größte Schwierigkeit ihrer adäquaten Erfassung in dem spannungsreichen Verhältnis zwischen dem ‚Principe‘ und den ‚Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‘, dem weniger gelesenen, aber grundlegenderen staatsphilosophischen Werke, besteht, dessen tiefe Einsichten in die Bedeutung republikanischer Institutionen in Widerspruch zu den cäsaristischen Optionen des ‚Principe‘ zu stehen scheint. Die sinnvollste Auflösung dieses angeblichen Widerspruchs liegt darin, daß Machiavelli tyrannische Maßnahmen nur für geschichtliche Ausnahmesituationen rechtfertigen wollte, deren Eintritt er im übrigen als eine Aufgabe normaler Politik ansah. Wie unzureichend seine Ausführungen zu diesem Problem auch im einzelnen sein mögen, so bleibt es doch Machiavellis häufig unterschätztes Verdienst, zwei Problemkreise gesehen zu haben, die viele seiner Kritiker gar nicht in den Blick bekommen. Erstens erkennt Machiavelli, daß unsere gewöhnliche Moral nur funktioniert, weil es einen staatlichen Rahmen gibt, der ihr Fortbestehen garantiert. Daraus folgt, daß für diejenigen Handlungen, die diesen Rahmen erst schaffen, nicht ohne weiteres die normativen Prinzipien vorausgesetzt werden können wie für diejenigen, die sich innerhalb jenes Rahmens, von ihm gleichsam behütet, abspielen. Allgemeiner hat Machiavelli zweitens einen ganz außerordentlichen Sinn für die Notwendigkeit, in einer normativen Theorie politischer Entscheidungen deren geschichtliche Natur mitzubedenken. Seinen Sinn für Geschichte sucht man bei den Naturrechtslehrern des 17. Jahrhunderts vergebens, während man bei Machiavelli die Verbindung der politischen Philosophie mit dem Programm der modernen Wissenschaft noch vermißt.“ Hervorhebung nur hier.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
241
e) Fortgeltung der Gesetze und Abgabenverpflichtungen zur Erhaltung der Herrschaft Für eine ‚machiavellistische‘ Lesart spricht allerdings eine frühere Stelle: „Wer solche Staaten erobert, muß zwei Dinge beachten, wenn er sie halten will: 1. muß er das Geschlecht des vorigen Herrschers unschädlich machen, 2. darf er deren Gesetze und Abgaben nicht ändern; so entsteht binnen kürzester Zeit zusammen mit dem alten Staat ein einheitliches Ganzes.“⁸¹³ – ,E chi le acquista, volendole tenere, debbe avere dua respetti: l’uno, che el sangue del loro principe antico si spenga; l’altro, di non alterare né loro legge né loro dazi: talmente che in brevissimo tempo diventa con il loro principato antiquo, tutto uno corpo‘ (P III). Der erstgenannte Rat lässt einen schaudern; man kann ihn nicht einmal ansatzweise damit zu rechtfertigen versuchen, dass er unter einer Bedingung stehe, da diese ja nur in der bei Despoten stets erfüllten Voraussetzung des Wunsches nach Erhaltung der Herrschaft und somit letztlich der Befriedigung der Herrschsucht liegt: ‚volendole tenere‘. Die Schnittmenge der beiden letztgenannten Stellen liegt also in der Belassung der Gesetze, insbesondere der Steuergesetze. Dies ist für Machiavelli gleichsam der kleinste gemeinsame Nenner, durch welchen den Unterworfenen zu verstehen gegeben wird, dass sie zumindest nicht über das an Abgaben Gewohnte ausgeplündert werden und insoweit sich der Illusion fortbestehenden Rechts hingeben können.
3. Gesetzeszynismus? Freilich bleibt auch unter Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Zweckrichtungen der beiden Werke der Eindruck eines scheinbaren Gesetzeszynismus. Dieser besteht also darin, dass er die Gesetze in ähnlicher Weise instrumentalisiert wie die Religion,⁸¹⁴ an deren eigentümliche Lehre er ebenso wenig zu glauben scheint,⁸¹⁵ die er aber als disziplinierendes Herrschaftsinstrument gleichwohl Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 6. R. König, Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979), S. 237 f., nennt es, wie erinnerlich, die „zweckbewußte Verwendung der Religion im Interesse des Staatszwecks“. W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 157, fasst Machiavellis diesseitiges Credo auch unter Berücksichtigung der Gesetzgebung anschaulich zusammen: „An der Wahrheit der Religion ist Machiavelli nicht interessiert, auch nicht an ihrer Bedeutung für die Gläubigen. Er erblickt in ihr nur ein unverzichtbares politisches Werkzeug, das ständiger Pflege bedarf. (…) Die legitimationsspendende Rückführung menschlicher Einrichtungen auf göttliche Willensakte und Ratschläge erlaubt eine risikolose Einführung von Einrichtungen und Gesetzen; die Akzeptanz und Gehorsamsbereitschaft der Bürger ist ohne jede Überzeugungsanstrengung gesichtert. Die poli-
242
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
einsetzt, um der Anarchie entgegenzutreten.⁸¹⁶ Deutlich zeigt sich diese Mischung von Gesetzespragmatismus und Gesetzeszynismus anhand eines weiteren Vorzugs, den Machiavelli an der Rechtspraxis der Römer im Hinblick auf ihre imperialistische Politik preist: „Wenn seine Beamten nicht Justiz und Verwaltung in jenen Gemeinwesen in Händen haben, und wenn sie keine zivil- und strafrechtlichen Entscheidungen fällen, so kann ihm auch nie ein Urteilsspruch, Vorwurf oder Schande zuziehen. Auf diese Weise fallen viele Ursachen zur Verleumdung und zum Hass gegen den Machthaber weg.“⁸¹⁷ – ‚Che non avendo i suoi ministri in mano i giudicii ed i magistrati che civilmente o criminalmente rendono ragione in quelle cittadi, non può nascere mai sentenza con carico o infamia del principe; e vengono per questa via a mancare molte cagioni di calunnia e d’odio verso di quello‘ (D II 21). Hier scheint nun wieder der Verfasser des P r i n c i p e zu sprechen. Zugleich aber zeigt sich ein Leitmotiv der D i s c o r s i , das in der permanenten Angst und Gegenwehr vor Verleumdungen besteht. Verleumdungen sind gleichsam die äußerliche Seite des Hasses, durch die er sich bahnbricht und müssen daher aufs Strengste geahndet werden und mit Anklagemöglichkeiten jeder Art flankiert werden (D I 7).
a) Kompromisslosigkeit gegenüber den Rechtsunterworfenen Aber auch davon abgesehen erscheint das in der zuletzt zitierten Stelle zum Ausdruck kommende Rechtsdenken wenig aufrichtig zu sein, verbirgt es sich doch gerade hinter fremden Rechtsentscheidungen, die zwar allesamt im Sinne der beherrschenden Macht ergehen, gleichwohl jedoch von den Rechtsunterworfenen als die ihren wahrgenommen werden sollen. Es läuft also gleichsam auf eine institutionelle Täuschung hinaus. Die Entschiedenheit der Lehre, die Machiavelli vertritt, zeigt sich in aller Deutlichkeit daran, dass er wiederum fern ab von allen aristotelischen Prinzipien jeder gleichwie gearteten Mesotes-Lehre eine klare
tische Klugheit darf daher auf den Schein der Transzendenz nicht verzichten.“ Hervorhebung nur hier. Ähnlich H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 99, der die kategorische Selbsterhaltung des Staates akzentuiert: „Mit der Forderung nach Selbsterhaltung des Staates unter allen Umständen und mit allen Mitteln stellte Machiavelli die Transzendenz, die das politische Denken des Mittelalters beherrscht hatte, ins zweite Glied“. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 94 f., bringt dieses utilitaristische Denken drastisch auf den Punkt: „Religion kann, mit anderen Worten, benutzt werden, um die gewöhnliche Bevölkerung zu inspirieren und, wenn nötig, zu terrorisieren – sodass sie dazu gebracht wird, das Gemeinwohl allen anderen Gütern vorzuziehen“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 232.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
243
Absage erteilt und den Extremen huldigt:⁸¹⁸ „Wenn man über das Schicksal mächtiger Staaten zu entscheiden hat, die an politische Freiheit gewöhnt sind, so muss man sie entweder vernichten oder besonders gut behandeln. Jede andere Entscheidung ist Unsinn. Man muss hier unter allen Umständen den Mittelweg vermeiden; denn er bringt Verderben“⁸¹⁹ – ‚Quando si ha a giudicare cittadi potenti, e che sono use a vivere libere, conviene o spegnerle o carezzarle; altrimenti ogni giudizio è vano. E debbesi fuggire al tutto la via del mezzo, la quale è dannosa‘ (D II 23).⁸²⁰ Schließlich ist das, was Machiavelli zuletzt an der Rechtspraxis der Römer fasziniert hat, nämlich die Unterworfenen unter ihren eigenen Gesetzen leben zu lassen, nichts anderes als eine Ausprägung dieser buchstäblich kompromisslosen Worte. Diejenigen Völkerschaften nämlich, die auf diese Weise vorgehen durften, also nach ihren eigenen Gesetzen weiterleben konnten, genossen – so hart es klingt und nach Machiavellis Absicht wohl auch klingen soll – bereits das Privileg, nicht von vornherein vernichtet worden zu sein. Denn das wäre die prinzipielle Alternative aus Sicht der Herrschenden gewesen. Was hier als scheinbarer Gesetzeszynismus bezeichnet wird, ist eine größtmögliche Gleichgültigkeit gegenüber den Gesetzen der Unterworfenen, deren Inhalt nicht weiter interessiert, solange die Einhaltung der Gesetze Ruhe und Ordnung stiftet. Indem nämlich jenen Völkern mit allen Mitteln klar gemacht wurde, dass sie allein durch ihr Überleben privilegiert wurden, stand ihnen von vornherein vor Augen, dass jede weitere Unbotmäßigkeit zum sofortigen Untergang führen konnte. Im P r i n c i p e formuliert Machiavelli es noch kompromissloser und durchaus kategorisch, ja sogar mit äußerster und dem Gewaltherrscher sich anbiedernder Brutalität:⁸²¹ „Man muß sich daher merken, daß man die Menschen
W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 140, sieht demgegenüber in der Frage der Willkürfreiheit in der republikanischen Staatsform den Einfluss gerade dieser Lehre walten: „Machiavellis Analyse hat sich offensichtlich von der Mesotes-Lehre des Aristoteles beeinflussen lassen. Zwischen Knechtschaft und Zügellosigkeit, Lust nach ungebundener Macht und Lust nach Herrschaftslosigkeit wird die republikanische Freiheit, wird die Republik zerdrückt“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 241. Siehe zur im Zitat genannten politischen Freiheit M. E. Vatter, Between Form and Event. Machiavelli’s Theory of Political Freedom, 2000. V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 140, wird dem Phänomen der Brutalität bei Machiavelli ohne fehlgeleitete Apologetik rechtsphilosophisch und geistesgeschichtlich gerecht: „Was Machiavellis brutalere Ideen angeht, so ist es notwendig, sie vor ihrem geschichtlichen Hintergrund zu sehen, zumal da Machiavelli selber in einer für seine Zeit ganz untypischen Weise über die moralischen Rahmenbedingungen von Politik reflektiert.Von diesem Hintergrund abzusehen, wie es Friedrich der Große in seinem oberflächlichen ‚Antimachiavell‘ tut, ist absolut ungerecht. Gefährliche Übeltäter beseitigen zu lassen, kann in einem Rechtsstaat evidenterweise nicht zulässig sein, aber doch nicht, weil es sittlich geboten wäre, sie ihr Unwesen
244
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
entweder mit Freundlichkeit behandeln oder unschädlich machen muß; denn wegen geringfügiger Kränkungen nehmen sie Rache; wegen schwerer Kränkungen können sie es nicht. Wenn man also jemand schlecht behandelt, dann muß dies in einer Weise geschehen, daß man nicht seine Rache zu fürchten braucht.“⁸²² – ‚Per che si ha a notare che gli uomini si debbono o vezzeggiare o spegnere; perché si vendicano delle leggieri offese, delle gravi non possono; sí che la offesa che si fa all’uomo debbe essere in modo che la non tema la vendetta‘ (P III). Das macht aber auch die in den D i s c o r s i noch wohlwollend erwogene Konzession, unter eigenen Gesetzen fortexistieren zu dürfen, zu einer noch viel größeren Chimäre, als es ohnehin schon der Fall war. Allerdings muss man den bereits mehrfach genannten Schein des Gesetzeszynismus berücksichtigen. Denn es verhält sich damit letztlich ähnlich wie mit der Absage an die klassischen Moralvorstellungen durch das unbedingt in den Vordergrund gestellte Interesse an der Aufrechterhaltung des Staates mit seiner unverzichtbaren Ordnungsfunktion, die jede Form der Bürgerkrieg und Unordnung verheißenden Anarchie unterdrückt. Für diesen Zweck erweisen sich aus seiner Sicht die Gesetze als probate Mittel, und wenn sie ihn erfüllen, dann mag billigend in Kauf genommen werden, dass die Rechtsunterworfenen sich der Geltung ihrer eigenen angestammten Gesetze erfreuen, zumal da sie diese eher zu befolgen geneigt sein werden als aufgezwungene fremde. Diese Haltung mag bei unbefangener Betrachtung zynisch anmuten, doch sollte man sie nicht missverstehen, da sie eher das Ergebnis einer nüchternen Objektivierung und utilitaristischen Kalkulation ist.⁸²³
treiben zu lassen, sondern weil in Gestalt des gesetzlichen Rechtswegs das moralisch akzeptabelste Mittel zur Verfügung steht, sie an der Begehung von Unrecht zu hindern. Was aber tun, wenn ein solcher gesetzlicher Rechtsweg noch nicht zur Verfügung steht, wenn die Rahmenbedingungen politischen Handelns durch einen tendenziellen Naturzustand gekennzeichnet sind? Gesehen zu haben, daß hier andere normative Prinzipien greifen müssen als im Falle des Privatmannes, der in einem wohlgeordneten Staat lebt, ist eine wichtige Erkenntnis Machiavellis“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 8. Zutreffend J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 890: „Aber selbst die nachgeborenen, historisch aufgeklärten, mit dem Begriff der Staatsraison längst vertrauten Beobachter des 19. und 20. Jahrhundert ließen die Blicke vom vermeintlichen Zynismus des Autors umso eher gefangen nehmen, als sich dieser Historiker an die Beobachtung der tatsächlichen Praktiken der Fürsten und Päpste seiner Zeit hielt. Machiavelli selbst war das Provokative seiner Darstellung wohl bewusst. Allein, der moralischen Bewertung entgeht die eigentliche Innovation seines Werkes – die Blickwendung von der teilnehmenden zur vergegenständlichenden Beobachtung der politischen Sphäre, die zu einem Stück zweiter Natur wird“.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
245
b) Gewährung von Freiheit und Recht auf Widerruf Vor dem Hintergrund des zuletzt Bedachten jetzt der wahre Aussagegehalt seiner Ablehnung des Mittelwegs. Denn bereits im ersten Buch hat Machiavelli an einer Stelle erkennen lassen, dass der Mittelweg für ihn der verderblichste und schändlichste von allen sei (D I 26).
aa) Absage an die aristotelische Mesotes-Lehre Hier und im Folgenden erweist sich nun, warum Machiavelli der aristotelischen Mesotes-Lehre, wonach das Gute die Mitte zwischen den Extremen darstellt, eine deutliche Absage erteilt.⁸²⁴ Auch an dieser Stelle sind ihm die Römer Lehrmeister: „Sie bezeugen, wie die Römer bei der Erweiterung ihrer Herrschaft verfuhren, und dass sie bei ihren staatspolitischen Entscheidungen immer den Mittelweg mieden und zu den schärfsten Maßnahmen griffen: denn Regieren ist nichts anderes als die Untertanen so zu halten, dass sie einem weder etwas anhaben können noch anhaben wollen.“⁸²⁵ – ‚Le quali fanno fede e del modo che i Romani tennono in ampliare e come ne’ giudizii di stato sempre fuggirono la via del mezzo e si volsono agli estremi. Perché uno governo non è altro che tenere in modo i sudditi che non ti possano o debbano offendere‘ (D II 23). Selbst wenn er der Sache nach nichts Neues sagt, lässt Machiavelli doch die Maske fallen.⁸²⁶ Was er im ersten Buch der D i s c o r s i diskret andeutet und eher eine unmaßgebliche Seitenstimme zu sein schien, wird nun dominant und bestimmt den Grundton: „Diejenigen, die in Gnaden angenommen wurden, erhielten Freiheiten und Vorrechte, man ließ ih Zu dieser Lehre H. Kalchreuter, Die Mesotes vor und bei Aristoteles, 1911. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 238. C. Schmid, Erinnerungen, Dritter Band der Gesammelten Werke, 1980, S. 147, stellt Dante und Machiavelli einander gegenüber und bemerkt zu seiner Beschäftigung mit diesem im Hinblick auf seine langjährige politische Erfahrung hellsichtig: „In der Folge habe ich mir die Gegenwelt (sc. zu Dante) zu erschließen versucht; die Welt, für die der Staat nichts anderes ist als Macht, die niemandem verantwortlich ist als sich selbst. Das konnte ich bei Niccolò Machiavelli finden. Das Studium seiner Schriften hat mich nicht zum Machiavellisten gemacht, so wenig wie Machiavelli selber, dieser gewissenhafte Beamte des Rates der Zehn zu Florenz, als Machiavellist gehandelt hat. Durch ihn habe ich gelernt, politische Vorgänge nach gewissen ‚statischen‘ Gesetzmäßigkeiten zu beurteilen. Diese Gesetze geben uns nicht die Ziele auf, aber ihre Kenntnis erlaubt uns, auf dem Weg zum Ziel sicherer zu gehen. Die Kenntnis der Voraussetzungen des Erfolgs in einer bestimmten Lage kann uns auf ein Ziel verzichten lassen, das nur mit Mitteln erreicht werden könnte, die gegen das Sittengesetz verstoßen oder nicht mit unserem Gewissen zu vereinbaren sind. In diesem Stadium beginnt für den Politiker die Verpflichtung, die Frage nach der Moral zu stellen.“ – Daraus lässt sich ersehen, dass auch die nicht moralische Sichtweise Machiavellis, wenigstens dann, wenn sie von einem Humanisten und Homme de lettre wie Carlo Schmid durchdrungen wird, zu einem verantwortungsvollen politischen Handeln führen kann.
246
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
nen ihre Stadt und sicherte sie in jeder Weise.“⁸²⁷ – ‚Faccendo ai beneficati esenzioni, privilegi, donando loro la città, e da ogni parte assicurandogli‘ (D II 23). Zu den genannten Freiheiten und Vorrechten gehörte eben insbesondere, dass die betreffenden Körperschaften nach ihren Gesetzen leben durften – allerdings unter dem Damoklesschwert römischen Rechtsverständnisses, das bei jeder Unbotmäßigkeit vor dem römischen Herrschaftsanspruch herniedergehen konnte.⁸²⁸
bb) Abhängigkeit des Wahren und Rechten von der Durchsetzbarkeit Erst im dritten Buch der D i s c o r s i äußert Machiavelli nahezu unmerklich eine leise Skepsis bzw. milde Nachdenklichkeit, nur um im nächsten Augenblick zu zeigen, warum der Mittelweg ungangbar ist: „Dieser Mittelweg wäre wirklich der richtige, wenn man ihn einhalten könnte. Da dies aber nach meiner Überzeugung unmöglich ist, so muss man sich zu einer der beiden Methoden entschließen, nämlich sich ganz fern halten oder sich eng anschließen. Wer anders handelt, lebt, wenn er ein Mann von Rang und Ansehen ist, in ständiger Gefahr.“⁸²⁹ – ‚La quale via del mezzo sarebbe la piú vera quando si potesse osservare; ma perché io credo che sia impossibile, conviene ridursi a’ duoi modi soprascritti, cioè o di allargarsi o di stringersi con loro. Chi fa altrimenti, e sia uomo per la qualità sua notabile, vive in continovo pericolo‘ (D III 2). Es fällt auf, dass Machiavelli die Frage nach dem Wahren und Rechten von seiner Durchsetzbarkeit abhängig macht. Diese hat also keine rein prozedurale Bedeutung, sondern ist allein entscheidend; wo es nicht durchführbar ist, wird das sittlich Richtige kurzerhand geopfert und zur Selbsterhaltung ohne Rücksicht auf Verluste in dasjenige der beiden Extreme verfallen, was den größeren Erfolg verspricht. Ebenso unscheinbar wie bedeutsam wird zudem eine wesentliche Bedingung mitgeteilt, dass nämlich der Entscheidende gleichsam das Heft des Handelns in der Hand hat, weil er über den Rechtsunterworfenen steht.
c) Rechtsdenken und Rangdenken Machiavellis Rechtsdenken ist an dieser Stelle – wie auch das des ihn bewundernden Nietzsche⁸³⁰ – von einem ausgeprägten Vorrangdenken beherrscht. Hier Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 239. Tacitus, Historiae, 4, 74, mit der berühmten Cerialis-Rede könnte hier wiederum unausgesprochen das Vorbild sein. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 280. J. Petersen, Nietzsches Genilität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020.
II. Gesetzesverständnis unter einer Ethik des Dienens und Herrschens
247
spricht im Grunde der Verfasser des P r i n c i p e , der dem Herrscher Handlungsanweisungen gibt, um seine Selbsterhaltung zu gewährleisten und seine Vorrechte zu sichern, weil die unausweichliche Alternative der Untergang ist.⁸³¹ Allerdings sind diese Handlungsanleitungen Ausdruck des bereits angesprochenen angstvollen Rechtsverständnisses. Denn auch und gerade der Despot weiß, dass es für ihn keinen Mittelweg gibt, sondern nur ein Entweder Oder. Büßt er die Herrschaft ein, so steht er dafür gleichsam mit dem Leben ein.Von daher fasziniert Machiavelli, „wie sehr die Römer den Mittelweg mieden, wenn ein Vorfall sie nötigte, ein Urteil über ihre Untertanen zu fällen.“⁸³² – ‚Quanto i Romani nel giudicare i sudditi per alcuno accidente che necessitasse tale giudizio fuggivano la via del mezzo‘ (D II 23).⁸³³ Dieses Urteil war dann allerdings naturgemäß eines, dem Maß und Mitte fehlte, und deshalb in vielen Fällen das schlichte Todesurteil.⁸³⁴ Fast bedauernd über die Unverständigkeit seiner Zeitgenossen in der Heimatstadt ruft er über die Florentiner aus: „Sie aber wählten den Mittelweg, der bei Entscheidungen über Menschen immer der verderblichste ist.“⁸³⁵ – ‚Ma loro usorono quella via del mezzo la quale è dannosissima nel giudicare gli uomini‘ (D II 23).
D. Sternberger, Machiavellis ‚Principe‘ und der Begriff des Politischen, Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität XII (1975) S. 42, hat auf diese mögliche Lesart, die bereits von A. H. Gilbert, Machiavelli’s Prince and its Forerunners. The Prince as a Typical Book de Regimine Principum, 1938 begründet wurde, hingewiesen: „Der ‚Principe‘ kann auch als eine paradoxe, eine trotzige Tugendlehre gelesen werden, als ein unheiliger Fürstenspiegel oder Fürsten-Zerrspiegel.“ Ablehnend gegenüber dieser Lesart P. H. Harris, Progress in Machiavelli-Studies, in: Italica. Bulletin of the American Association of Teachers of Italian XVIII (1941), 5; H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 260. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 237. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 201 f., zu der bei Livius erwähnten Geschichte. Allgemein zu seinem Verständnis der Römer J. P. Coby, Machiavelli’s Romans. Liberty and Greatness in the Discourses on Livy, 1999. Tacitus, Annales, 12, 17, 1, geht in dieselbe Richtung: ,Postero die misere legatos, veniam liberis corporibus orantes: servitii decem milia offerebant. Quod aspernati sunt victores, quia trucidare deditos saevum, tantam multitudinem custodia cingere arduum: belli potius iure caderent; datumque militibus, qui scalis evaserant, signum caedis.ʻ Zu dieser Stelle J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 515. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 239.
248
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
III. Gerechtigkeit und Klugheit Angesichts der vorstehend mitgeteilten Maßlosigkeiten ist man immer wieder überrascht, wie maßvoll Machiavelli sich in allgemein menschlichen Angelegenheiten äußert, die seine eminente Menschenkenntnis verraten:⁸³⁶ „Ich halte es für einen der größten Beweise menschlicher Klugheit, sich in seinen Worten jeder Drohung und Beleidigung zu enthalten.Weder das eine noch das andere schwächt den Feind; vielmehr machen ihn Drohungen nur vorsichtiger, und Beleidigungen steigern seinen Hass gegen dich und spornen ihn an, nachhaltiger auf dein Verderben zu sinnen. (…) Es sind also Waffen, die sich gegen einen selber kehren.“⁸³⁷ – ‚Io credo che sia una delle grandi prudenze che usono gli uomini, astenersi o dal minacciare o dallo ingiuriare alcuno con le parole: perché l’una cosa e l’altra non tolgono forze al nimico; ma l’una lo fa piú cauto, l’altra gli fa avere maggiore odio contro di te e pensare con maggiore industria di offenderti. (…) Tanto che le sono tutte armi che vengono contro a te‘ (D II 26).
1. Gerechtigkeitsgefühl und erlittene Ungerechtigkeiten Allerdings zeigen auch diese Ausführungen ein ausgeprägtes Denken in Extremen. Ihr Geltungsgrund ist kein von moralischem Bewusstsein getragenes Gefühl innerer Lauterkeit, sondern vielmehr eine politische Klugheitsregel zur schieren Selbsterhaltung. Denn wichtiger als die moralische Haltung ist ihm das wirksame Signal der Beantwortung von Ungerechtigkeiten.⁸³⁸ Er schärft dem Leser ein, „wie V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 491 f., zur folgenden Stelle: „Kontraproduktiv sind hingegen direkte Beleidigungen, die eindeutig zurechenbar sind und dem anderen kaum schaden, ja vielleicht mit dem Zorn sogar seine Kräfte wachsen lassen können.“ Gleiches gilt für Drohungen; ebenda, S. 478 mit Fn. 151 unter Verweis auf P XIX. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 251. E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927– 1931; Gesamtausgabe 1989, S. 225, sieht Machiavelli als „einen praktischen Beobachter, Schilderer und Beurteiler von höchster Klarheit, Schärfe und Weite des Blickes. (…) Machiavell ist nicht bloß der erfahrungsreichste, einsichtsvollste, geordneteste, konsequenteste und großzügigste Kopf, das Gehirn seines Zeitalters gewesen, sondern geradezu eine Art Nationalheiliger und Schutzpatron der Renaissance, der ihren Lebenswillen, ihre ganze seelische Struktur auf einige kühne und leuchtende Formen gebracht hat. Er ist Politiker und nichts als Politiker und daher selbstverständlich Immoralist; und alle Vorwürfe, die ihm seit vier Jahrhunderten entgegen geschleudert werden, haben ihre Wurzel in dem Mangel gerade jener Eigenschaft, die er am vollkommensten verkörperte: der Gabe des folgerichtigen Denkens. Wer ihn verdammt oder selbst nur zu widerlegen versucht, vergisst, dass er kein systematischer Philosoph, kein ethischer Reformator, kein Religionslehrer oder dergleichen
III. Gerechtigkeit und Klugheit
249
gefährlich es für einen Freistaat oder für einen Machthaber ist, ein Unrecht, das dem Staat oder einem Privatmann zugefügt wurde, nicht zu bestrafen.“⁸³⁹ – ‚Quanto sia pericoloso a una republica o a uno principe non vendicare una ingiuria fatta contro al publico o contro al privato‘ (D II 28). Bemerkenswert hieran ist, dass er nicht nur die rechtliche Form des Inhabers öffentlicher Gewalt in diesem Punkt ausnahmsweise gleichachtet, sondern auch das Angriffsobjekt erlittener Ungerechtigkeiten, also gleichviel ob der Staat selbst oder nur ein Privatmann beleidigt wurde. Zwar liegt nach der Symmetrie dieser Aussage nahe, dass sich der Freistaat und der Staat in der Weise aufeinander beziehen, wie sich auf der anderen Seite der Machthaber und der Privatmann von der Gliederung der Überschrift her zu decken scheinen.
a) Wirkungslosigkeit der Gesetze gegen Einflussnahmen Privater Doch ist dies nicht zwangsläufig, wenn man ergänzend eine Stelle aus seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z in Betracht zieht, die hier ausführlich wiedergegeben sei, weil sie die für das Verständnis der florentinischen Geschichte so wichtige Verfassung aus dem Jahre 1293 betrifft, im Zuge derer das Amt des Gonfaloniers der Gerechtigkeit begründet wurde: „Jeden Tag sah man Männer aus dem Volke beleidigt, und die Gesetze und Magistrate reichten nicht hin, sie zu rächen; denn jeder Edle verteidigte sich durch seine Verwandten und Freunde gegen die Soldaten der Prioren und des Hauptmanns. Im Verlangen, diesem Übelstand abzuhelfen, verordneten die Ersten der Zünfte, daß jede Signoria beim Antritt ihres Amtes einen Gonfalonier der Gerechtigkeit ernennen sollte, der ein Mann aus dem Volke sein mußte, unter zwanzig Fähnlein eingeschrieben, tausend Mann erhielt und mit seinem Banner und den Bewaffneten auf den ersten Ruf der Signoren oder des Hauptmanns bereit sein sollte, die Gerechtigkeit zu unterstützen.“⁸⁴⁰ – E ciascuno giorno qualche populare era ingiuriato, e le leggi e i magistrati non bastavano a vendicarlo perché ogni nobile, con i parenti e con gli amici, dalle forze de’ Priori e del Capitano si difendeva. I principi pertanto delle Arti, desiderosi
sein wollte, sondern dass der Zweck und Inhalt seiner geistigen Arbeit ausschließlich darin bestand, die Menschen so zu schildern, wie sie wirklich waren, und aus dieser Realität praktische Schlüsse zu ziehen. Er betrachtet den Staat als ein Naturphänomen, ein wissenschaftliches Objekt, das beschrieben und zergliedert, dessen Anatomie, Physiologie und Biologie exakt erforscht werden will: ohne ‚Gesichtspunkte‘, ohne Theologie, ohne Moral, ohne Ästhetik, ja selbst ohne Philosophie. Dies war völlig neu“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 256. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 90.
250
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
di rimediare a questo inconveniente, provvidono che qualunque Signoria, nel principio dello ufficio suo, dovesse creare uno gonfaloniere di giustizia, uomo popolano, al quale dettono, scritti sotto venti bandiere, mille uomini; il quale con il suo gonfalone e con gli armati suoi fusse presto a favorire la giustizia qualunque volta da loro o da il capitano fusse chiamato‘ (IF II 12). Denn die Vornehmen konnten auch den amtlichen Stellen der Republik gegenüber stets auf die Fürsprache Mächtiger vertrauen und brauchten nicht zu befürchten, ernsthaft wegen ihrer Beleidigungen belangt zu werden. Gegen diese Einflussnahme von Seiten Privater erwiesen sich die Gesetze und Einrichtungen allerdings als wirkungslos, so dass auch der eigens eingerichtete ‚Gonfalonier der Gerechtigkeit‘ kaum Abhilfe schaffen konnte.⁸⁴¹ Das Rechtsgefühl der Ohnmächtigen wurde dadurch gleichwohl nachhaltig erschüttert. In diesem Sinne wollte Machiavelli an der im Ausgangspunkt behandelten Stelle wohl vor allem deutlich machen, dass jeder beliebige Mensch aufgrund allgemeiner anthropologischer Gesetzmäßigkeiten in dieser Hinsicht gleichartig reagieren wird, auch wenn und gerade weil es sich wegen der obwaltenden Machtverhältnisse nicht durchzusetzen vermag. Unterbleibende Bestrafung von Zuwiderhandlungen führt also nicht nur zu einer falschen Anreizwirkung, sondern tangiert das Gerechtigkeitsgefühl aller: „Die Ursache dieses Unglücks ist nur auf die Missachtung der Gerechtigkeit durch die Römer zurückzuführen, da diese ihre Gesandten, die sich gegen das Völkerrecht vergangen hatten, nicht bestraft, sondern noch ausgezeichnet hatten.“⁸⁴² – ‚La quale rovina nacque ai Romani solo per la inosservanza della giustizia: perché avendo peccato i loro ambasciadori ‚contra ius gentium‘ e dovendo esserne gastigati, furono onorati‘ (D II 28).⁸⁴³
b) Funktion der Einrichtungen neben den Gesetzen In der Sache unwesentlich anders verhielt es sich in der florentinischen Geschichte bezüglich der zuletzt genannten Ungerechtigkeiten, die durch Mächtige
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 159, zum Amt des Gonfaloniers der Gerechtigkeit und seinen Befugnissen: „Als Kontrollinstanz gegenüber Podestà und Capitano del populo wurde 1293 das viermonatlich wechselnde Amt des Gonfaloniere della giustizia geschaffen. (…) Gegebenenfalls konnte der Gonfaloniere sogar die auswärtigen Beamten der Republik ihres Amtes entheben.“ Hervorhebungen auch dort. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 7, übersetzt ‚Gonfalonier‘ anschaulicht mit „standard-bearer“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 257. Livius, Ab urbe condita, 5, 36, 6: ,Ibi iam urgentibus Romanam urbem fatis legati contra ius gentium arma capiuntʻ.
III. Gerechtigkeit und Klugheit
251
verübt wurden, ohne dass dagegen eine wirksame Handhabe oder Abwehrmöglichkeiten durch die Gesetze und Einrichtungen bestand, selbst wenn es dem Beleidigten ausnahmsweise gelungen war, den genannten ‚Gonfalonier der Gerechtigkeit‘ einzuschalten: „Da überdies der Kläger einen Zeugen nötig hatte, wenn er eine Beleidigung erduldete, so fand sich niemand, der gegen die Edlen zeugen wollte. So kehrte Florenz in kurzer Zeit in dieselbe Unordnungen zurück, und das Volk erlitt von den Großen dieselben Unbilden; denn die Prozesse waren langsam, und die Urteilssprüche entbehrten der Vollstreckung.“⁸⁴⁴ – ‚Oltre a di questo, avendo bisogno lo accusatore di testimone quando riceveva alcuna offesa, non si trovava alcuno che contra ai nobili volesse testimoniare; talché in brieve tempo si ritornò Firenze ne’ medesimi disordini, e il popolo riceveva dai grandi le medesime ingiurie, perché i giudicii erano lenti e le sentenze mancavano delle esecuzioni loro‘ (IF II 12). Hier wird deutlich, warum Machiavelli innerhalb der D i s c o r s i die Gesetze und Einrichtungen so häufig in einem Atemzug nennt. Denn selbst, wenn die Gesetze als wirkungslos gegen bestehende Missstände erkannt und durch zusätzliche Einrichtungen halbherzig ergänzt werden, bleiben die bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse davon unberührt, so dass die faktische Bevorrechtigung als Wurzel des Übels nicht angetastet wird. Prozedurale Entschleunigung und Vollstreckungshemmnisse taten ein Übriges. Im Gegenteil muss der ohnehin Minderprivilegierte befürchten, schon durch seine bloße Anrufung der wirkungslosen Einrichtung den Zorn der Mächtigen zu erregen und damit günstigstenfalls zu weiteren sanktionslosen Beleidigungen Anlass zu geben.
2. Vorsichtiges Rechtsdenken und Subsidiaritätsprinzip Machiavellis Rechtsdenken ist wohl nicht zuletzt infolge seiner diplomatischen Erfahrung stark von allgegenwärtiger Vorsicht geprägt:⁸⁴⁵ „Vor Schriftlichem aber muss sich jeder hüten wie vor einer Klippe, denn nichts vermag dich leichter zu
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 91. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 888, kommentiert lakonisch: „Aber er hatte mit seiner eloquenten Widmung und dem Hinweis auf seine diplomatischen Erfahrungen (…) glücklicherweise keinen Erfolg, sodass sich der Unterbeschäftigte weiter den Studien widmen musste, denen wir das systematisch bedeutendere Werk über die Republik sowie seiner Heimatstadt Florenz verdanken“.
252
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
überführen als ein Schreiben von deiner Hand.“⁸⁴⁶ – ‚E dallo scrivere ciascuno debbe guardarsi come da uno scoglio, perché non è cosa che piú facilmente ti convinca che lo scritto di tua mano‘ (D III 6). Auch wenn es mitunter so scheint, als hege er religiöse Gefühle, sind doch seine diesbezüglichen Andeutungen eher Ausdruck elementarer Vorsicht gegenüber allen Eventualitäten als aufrichtige Demut vor göttlichem Geschick: „Das Schicksal macht die Menschen blind, wenn es nicht will, dass sie sich seinen Absichten widersetzen. Wenn man den Gang der menschlichen Dinge genau betrachtet, so sieht man oft Umstände eintreten und Ereignisse kommen, die der Himmel durchaus nicht verhindert wissen wollte.“⁸⁴⁷ – ‚La fortuna acceca gli animi degli uomini, quando la non vuole che quegli si opponghino a’ disegni suoi. Se e’ si considererà bene come procedono le cose umane, si vedrà molte volte nascere cose e venire accidenti a’ quali i cieli al tutto non hanno voluto che si provvegga‘ (D II 29).⁸⁴⁸ Über der verfehlten Betonung des religiösen Zusatzes darf man nämlich nicht die für Machiavelli einzig entscheidende Bedingung außer Acht lassen, die darin besteht, dass man eben alle menschlichen Angelegenheiten exakt beobachtet. Denn je genauer diese vonstatten geht, desto geringer ist der Raum für Zufälle und unvorhersehbare Begebenheiten. Machiavelli erweist sich auch deswegen als Denker der Renaissance, weil er auf die Kenntnis und Urteilskraft des Einzelnen, vor allem seine eigene, vertraut. Den antiken Vorbildern entnimmt er die Einsicht, dass mitunter das Subsidiaritätsprinzip vorrangig ist, weil diejenigen, die vor Ort sind, besser beurteilen können, was nach Lage der Dinge zu tun ist: „Der Senat behielt sich weiter nichts vor, als das Recht, neue Kriege zu erklären und Friedensschlüsse zu bestätigen. Alles andere war dem Ermessen und der Macht des Konsuls anheimgestellt. (…) Wenngleich im Senat lauter kriegserfahrene Männer saßen, so waren sie doch nicht an Ort und Stelle, kannten infolgedessen die zahllosen Einzelheiten nicht, die zu einem guten Rat nötig sind, und hätten daher mit ihren Ratschlägen eine Menge Fehler gemacht.“⁸⁴⁹ – ‚Ed il Senato non si riservare altro che l’autorità di muovere nuove guerre e di confirmare le paci. (…) Perché, nonostante che in quello
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 295. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 258. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 130, schildert den Prozess der geistigen Entwicklung Machiavellis, deren Reife sich dann in Ausführungen der im Text zitierten Art niedergeschlagen haben könnte: „Die Tüchtigkeit der Menschen und die Kraft der Dinge, oder, um sich Machiavellis Sprache zu bedienen, la virtu und la fortuna, beschäftigen aufs neue das Denken des Mannes, der die realen Komponenten einer historischen Situation zu verstehen suchte.“ Hervorhebungen auch dort. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 270 f.
III. Gerechtigkeit und Klugheit
253
fossono tutti uomini esercitatissimi nella guerra, nondimeno non essendo in sul luogo e non sappiendo infiniti particulari che sono necessari sapere a volere consigliare bene, arebbono consigliando fatti infiniti errori‘ (D II 33).
3. Zurückhaltung des Gesetzgebers durch Dezentralisierung und Subsidiarität Diese unscheinbare Beobachtung entspricht durchaus dem, was im Rahmen der Gesetzgebung im Hinblick auf die von Machiavelli vorausgesetzten unterworfenen Völker festgestellt wurde, nämlich dass es seines Erachtens vorzugswürdig sein kann, ihnen ihre Gesetze zu belassen. Denn sie regeln Einzelheiten, welche die zentrale Macht weder vorhersehen kann noch interessieren wird. Außerdem sind die Gesetze der Unterworfenen Ausfluss von Sitten und Gewohnheiten, die der herrschende Staat nicht kennt und daher wohl nur insoweit summarisch prüft, als darin ein offener Widerspruch zu seinen gesetzgeberischen Basiswertungen bestehen könnte. Dem entspricht die soeben zitierte Beobachtung, wonach die konkret Handelnden vermöge ihrer größeren Ortskenntnis und der Einsicht in die Umstände besser beurteilen können, was angezeigt ist und was nicht. Gute Gesetzgeber zeichnet also nach Machiavelli aus, dass sie erkennen, wann sie sich zurückhalten müssen. Auch dieses Denken hat in der juristischen Geistesgeschichte, wie man bis hin zu Adam Smith studieren kann, zu der Einsicht geführt, dass die konkrete Ortskenntnis der Einzelnen sinnvollerweise dazu führen kann, ihnen eine Entscheidungsmacht zu überantworten, die keine zentrale Instanz besser ausüben könnte.⁸⁵⁰ Es sind also die Gesichtspunkte der Dezentralisierung und Subsidiarität, die weise Gesetzgeber stets berücksichtigen, wenn und weil sie wissen, dass sie nicht alle Umstände des Einzelfalles vorhersehen können und dadurch das Risiko von Fehlentscheidungen minimieren.⁸⁵¹ Ein umsichtiger Gesetzgeber sollte aber auch in Rechnung stellen, dass es Konstellationen gibt, in denen eine noch so geeignete und erforderliche Gesetzgebung keine Aussicht auf Erfolg hat, weil und sofern es Sonderrechte oder unausgesprochene Privilegien gibt,⁸⁵² aufgrund
J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017, S. 72, zum Informationsvorsprung durch Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten am Beispiel der Geschworenengerichte. Siehe dazu etwa E.-J. Mestmäcker, Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts, 2016. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 1006, erkennt die paradox anmutende Gesetzmäßigkeit: „Die Verletzung von Sonderrechten etwa feudaler Art durch die neuzeitlichen Monarchen war formal oft ein Rechtsbruch, aber
254
§ 3 Gesetzgebung und Machtausübung
derer Einzelne, die am Ort der Gesetzgebung eine besonders mächtige Stellung einnehmen, bei Zuwiderhandlungen erfahrungsgemäß nicht belangt werden.⁸⁵³
4. Zwischenergebnis: Gesetze als Instrumente des Machterhalts Betrachtet man diese Gesichtspunkte im Zusammenhang, so zeigt sich im zweiten Buch der D i s c o r s i zwar nicht unbedingt ein anderer Machiavelli als im ersten, weil er seinen Grundprinzipien von vornherein treu bleibt. Jedoch ist die Grundausrichtung aggressiver und polemischer, weil territoriale Expansionsbestrebungen den Inhalt des Buchs prägen. Stärker als im ersten Buch verfällt Machiavelli in den Ton des Ratgebers nach Art des P r i n c i p e , der ihm seinen konkurrenzlosen, aber eben auch mitunter sinistren Ruf in der juristischen Geistesgeschichte eingebracht hat, wie folgende Stelle belegt: „Die Schwierigkeiten, die sie bei der Erwerbung ihrer Herrschaft haben, kommen zum Teil von den neuen Gesetzen und Gewohnheiten, die sie einführen müssen, um den Staat zu gründen und ihre persönliche Sicherheit zu festigen. (…) Denn jeder Neuerer hat die zu Feinden, die von der alten Ordnung Vorteile hatten, und er hat an denen nur laue Verteidiger, die sich von der neuen Ordnung Vorteile erhoffen. Diese Lauheit kommt zum Teil von der Furcht vor den Gegnern, die die Gesetze zu ihren Gunsten nützen können.“⁸⁵⁴ – ‚E le difficultà che gli hanno nello acquistare el principato nasconoin parte da’ nuovi ordini e modi che sono forzati introdurre per fondare lo stato loro e la loro sicurtà. (…) Perché lo introduttore ha per nimico tutti quegli che degli ordini vecchi fanno bene, e ha tiepidi defensori tutti quelli che delli ordini nuovi farebbono bene: la quale tepidezza nasce parte per paura delli avversari, che hanno le leggi dal canto loro‘ (P VI).⁸⁵⁵ Immer stärker werden dadurch Gesetze zu einem Angst erregenden Instrument des Machterhalts.⁸⁵⁶ Sie stehen damit im Dienste einer Mechanik der Macht.
Machiavelli hat durchaus recht, daß allein derartige Rechtsbrüche Italien vor der Unterwerfung unter fremde Staaten hätte bewahren können“. Machiavelli, Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217, 224 (= Sommario delle cose della città di Lucca, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 715, 720). Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 22. Den letztgenannten Relativsatz übersetzt Zorn alternativ und wörtlich: „die die Gesetze auf ihrer Seite haben“. St. Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, 2012, S. 240: „Gesetze und Sitten seien, wie der Autor von ‘Der Fürst’ ausführt, wertlos, wenn sie nicht mit Furcht bewehrt seien“.
§ 4 Herrschaft der Gesetze I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung Wenn man die Renaissance mit den durch die finanzielle Förderung der Medici entstandenen Kunstwerken in Verbindung bringt, dann ist eine an seine Söhne Cosimo und Lorenzo gerichtete Mahnung von Interesse, die Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z dem greisen Giovanni de Medici in den Mund legt und wie ein Vermächtnis des Autors selbst wirkt, der eine Bindung an die Gesetze in Erinnerung bringt: „Von der Regierung, wenn ihr sicher leben wollt, nehmt, was euch die Gesetze und die Bürger geben. Dies wird euch niemals Neid noch Gefahr zuziehn; denn was wir uns nehmen, nicht was uns gegeben wird, macht uns verhaßt, und immer werdet ihr viel mehr erhalten als die, welche dadurch, daß sie den Anteil anderer wollen, den ihrigen verlieren und eh‘ sie ihn verlieren in beständiger Sorge leben.“⁸⁵⁷ – ‚Dello stato, se voi volete vivere securi, toglietene quanto ve ne è dalle leggi e dagli uomini dato: il che non vi recherà mai né invidia né pericolo, perché quello che l’uomo si toglie, non quello che all’uomo è dato, ci fa odiare; e sempre ne arete molto piú di coloro che, volendo la parte d’altri, perdono la loro e avanti che la perdino vivono in continui affanni‘ (IF IV 16). Unbedingter Gesetzesgehorsam trotz bestehender Vormachtstellung ist das sicherste Heilmittel der Mächtigen gegen den allgegenwärtigen Neid und zugleich der aussichtsreichste Weg zur Sorglosigkeit bei gleichzeitigem Machterhalt.⁸⁵⁸ Das gilt indes nicht nur für die Mächtigen, sondern auch für das gemeine Volk, wie die komplementäre Einsicht wenige Seiten später zeigt: „So sehr ändern sich mit der Zeit die Ansichten, so viel mehr ist die Menge fremdes Eigentum wegzunehmen bereit, als das ihrige zu bewahren, und so viel mehr bewegt die Menschen die Hoffnung, zu erobern, als die Furcht zu verlieren; denn dies glaubt man nur in der Nähe, jenes hofft man, obgleich ferne“⁸⁵⁹ – ‚Tanto variano con il tempo i pareri e tanto è piú pronta la moltitudine a occupare quello d’altri che a guardare il suo, e tanto sono mossi piú gli uomini dalla speranza dello acquistare che dal timore del perdere, perché questo non è, se non da presso, creduto; quell’altra, ancora che Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 232. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, passim, zeigt allerdings überzeugend, dass sich die weit überwiegende Zahl der Medici in ihrer Habsucht und ihrem tief eingewurzelten Dünkel, über den Gesetzen zu stehen, nicht an die obige Maxime gehalten haben. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 237. https://doi.org/10.1515/9783110643145-004
256
§ 4 Herrschaft der Gesetze
discosto, si spera‘ (IF IV 18). Nur der Gesetzesgehorsam gewährleistet den Rechtsfrieden, weil die Gesetze auf die niedrigen Instinkte abgestimmt sind und sie bändigen.
1. Immunisierung der Gesetze gegen Verfallserscheinungen Das dritte Buch der D i s c o r s i beginnt, wenn auch nicht mit einer ausdrücklichen Vorrede, so doch mit einer allgemeinen Einsicht, die auf den ersten Blick wiederum trivial anmutet:⁸⁶⁰ „Es ist unbedingt richtig, dass alle Dinge auf der Welt ihre Lebensgrenze haben.“⁸⁶¹ – ‚Egli e cosa verissima come tutte le cose del mondo hanno il termine della vita loro‘ (D III 1). Ohne weitere Umschweife gelangt Machiavelli auf dieser Grundlage zum Thema des Verfalls der Gerechtigkeit. Dieser Verfallsgedanke entspricht ebenfalls nicht nur seinem pessimistischen Lebensund Menschenbild, sondern durchaus auch taciteischer Geschichtsauffassung.⁸⁶² Es kommt daher nicht zuletzt darauf an, dass sich auch Gesetze und Einrichtungen gegen diese immanente Lebensgrenze und den drohenden Fall gleichsam immunisieren: „Von allen Staaten und Religionsgemeinschaften sind daher diejenigen am besten geordnet und haben die längste Dauer, die sich dank ihrer Einrichtungen häufig erneuern können oder durch einen äußeren Zufall zu einer Erneuerung kommen.“⁸⁶³ – ‚E però quelle sono meglio ordinate ed hanno piú lunga vita, che mediante gli ordini suoi si possono spesso rinnovare‘ (D III 1).
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 97, fasst die Grundthemen und Verschränkungen der drei Bücher so zusammen: “Machiavelli divides the Discourses into three Books, each of which is devoted to a subject of its own: the internal affairs of Rome that were transacted on the basis of public counsel (I), the foreign affairs of Rome that were transacted on the basis of public counsel (II), both private and public affairs of Romans that were transacted on the basis of private counsel (III).” An späterer Stelle (p. 102 f.) präzisiert er im Hinblick auf das dritte Buch die Synthese: “The Third Book combines external features of the first two Books. It also combines their subject matter; in the Third Book, chapters devoted to domestic affairs alternate in an irregular way with chapters devoted to to foreign affairs or war. (…) At any rate, the Third Book ‘repeats’ the two preceding Books from a new point of view”. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 274. Vgl. nur J. Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. V. Pöschel), 1969, S. 39; J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 274.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
257
a) Virtú des Einzelnen in den D i s c o r s i und der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Ein wirksames Gegenmittel jeglicher Erstarrung und jedweden Verfalls ist seit jeher die individuelle Tüchtigkeit, also das was die Römer als virtus und Machiavelli als virtú bezeichnen:⁸⁶⁴ „So gehörten zu den Einrichtungen, die die römische Republik auf ihren Ursprung zurückführten die Volkstribunen, die Zensoren und alle Gesetze, die gegen den Ehrgeiz und die Übergriffe der Bürger erlassen wurden. Diese Gesetze aber müssen mit Leben gefüllt werden durch die Tüchtigkeit eines Mannes, der den Mut hat, sie gegen den Einfluss jener, die dagegen verstoßen, zur Geltung zu bringen.“⁸⁶⁵ – ‚E quanto a questo ultimo, gli ordini che ritirarono la Republica romana verso il suo principio, furono i Tribuni della plebe, i Censori e tutte l’altre leggi che venivano contro all’ambizione ed alla insolenzia degli uomini. I quali ordini hanno bisogno di essere fatti vivi dalla virtú d’uno cittadino, il quale animosamente concorra ad esequirli contro alla potenza di quegli che gli trapassano‘ (D III 1).
aa) Gesetze als ‚Ordonnanz der Gerechtigkeit‘ Machiavelli zeigt sich also skeptisch gegenüber den Selbstheilungskräften des Staates, wenn nicht überragende Einzelpersönlichkeiten diese Einrichtungen und
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 313, umreißt den Begriff treffend mit seiner einerseits teleologischen Zielrichtung, seinem andererseits situativ offenen und von politischer Opportunität bestimmten Charakter: „Machiavelli schließlich hat in seinem Begriff der virtù all das zusammengefaßt, was auf der Seite des einzelnen und der Völker vorhanden sein mußte, um das Ziel der Selbsterhaltung des politischen Gemeinwesens erreichen zu können. (…) Alle ethischen oder bildungsbürgerlichen Implikationen treten in Machiavellis virtù-Begriff zurück; für Machiavelli ist virtù der Inbegriff all dessen, was geeignet ist, die Lebensfähigkeit und Stabilität des Gemeinwesens zu gewährleisten. Wie sich diese virtù nun im Einzelfall darstellt, war für ihn nicht apriorisch entscheidbar, sondern eine Frage der politischen Situation, in der sich der Staat jeweils befand.“ Er verweist ergänzend auf Th. Schieder, Shakespeare und Machiavelli, Archiv für Kulturgeschichte 2 (1950) 149, der zudem die Machiavelli entgegenkommende Dynamik und Abkehr von moralischen Standards betont: „Machiavelli führte mit seinem virtù-Begriff ein dynamisches Element in die Theorie der Politik ein, das die Stabilität der ethischen Werte erschütterte, auf der bisher im Mittelalter alles politische Denken beruht hatte.“ Zu Shakespeare und Machiavelli aufschlussreich V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 514: „Anders als Machiavelli läßt aber Shakespeare diese Herrschergestalten (sc. Lear, Hamlet, Heinrich IV.) den menschlichen Wert jener Heroen empfinden, die Chaos gestiftet haben – ihre tragische Größe ändert nichts an der Notwendigkeit der Prosa der Macht, weist jedoch auf den instrumentalen Wert von Macht, über den sich der intrinsische Wert der großen Leidenden und Liebenden erhebt“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 276.
258
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Gesetze zur Geltung bringen.⁸⁶⁶ Das Dilemma besteht für Machiavelli darin, dass er zwar einerseits die Republik als Staatsform gegenüber allen Alleinherrschaften favorisiert, andererseits aber sieht, dass sie einen vergleichsweise geringen Entfaltungsspielraum für tatkräftige Persönlichkeiten bereithält, die sich durch besondere virtú auszeichnen. Wenn jedoch ausnahmsweise überragende Einzelpersönlichkeiten das Allgemeinwohl vor die Interessen einer Oberschicht stellen, der sie selbst zugehören, hebt er es anerkennend hervor. So schildert er etwa in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z um das Jahr 1295 einen unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes trostlosen Zustand, der sich dadurch auszeichnete, dass es zwar Gesetze gegen Beleidigungen gab, die auch die Ohnmächtigen vor den Mächtigen schützen sollten. Die Gesetze waren aber in der Praxis wirkungslos, weil die Privilegierten zusammenhielten und durch die Prozesse die Geltendmachung der Rechte gegen sie mutwillig verschleppt wurde, da in der zuständigen Einrichtung immer auch einer der Mächtigen saß, der die Rechtsdurchsetzung im Interesse seiner Standesgenossen zu verhindern wusste. Nur dadurch, dass einer der Aristokraten namens Giano della Bella, den Machiavelli als freiheitsliebend im Sinne der Stadt bezeichnet, zum Ärger der anderen entschlussfreudig ausscherte, kam es zu einer Reform, die der Klientelwirtschaft ein vorläufiges Ende setzte:⁸⁶⁷ „Als nun die Volksmänner nicht wußten, was sie tun sollten, ermutigte Giano della Bella, aus sehr edlem Hause, aber Freund der Freiheit der Stadt, die Häupter der Zünfte, die Stadt zu reformieren. Auf seinen Rat wurde verordnet, daß der Gonfalonier mit den Prioren im Palast residieren und 4000 Mann unter seinen Befehl haben solle. Ferner wurden alle Edlen des Rechtes beraubt, Signoren zu werden. Die Genossen des Schuldigen wurden derselben Strafe unterworfen, und das öffentliche Gerücht sollte zur
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 527 f. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 13 f., zieht die werkimmanente geistesgeschichtliche Linie zu den antiken Vorbildern und veranschaulicht umsichtig das Verhältnis zur Gesetzgebung: “Most pointedly, Machiavelli presents Giano della Bella as a civic leader confronted with the opportunity to become a Romulus, Moses or a Brutus: a defender of his own set of laws that concomitantly protect and benefit his people (D I.9; III.3, III.30; FH II.13). According to Machiavelli, those virtuous ancient leaders understood that new laws and the people’s liberty must be secured by the blood of ‚the sons of Brutus‘, aristocratic abusers of the people and intransigent opponents of founders or reformers (P 6; D III.3, III.30). On the contrary, Machiavelli suggests that an undifferentiated notion of ‚goodness‘ prompts Giano to exit the city rather than, as did Moses or Brutus, resort to the force necessary to effectively enact his laws and ensure the enduring welfare of the common citizens of Florence – even though the armed people appear twice at his door begging for him to do so and pledging to him their military support”.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
259
Einleitung des Verfahrens hinreichen. Durch diese Gesetze, die man die Ordonnanzen der Gerechtigkeit nannte, erwarb das Volk großes Ansehen und Giano della Bella großen Haß.“⁸⁶⁸ – ‚E non sapiendo i popolani che partiti si prendere, Giano della Bella, di stirpe nobilissimo, ma della libertà della città amatore, dette animo ai capi delle Arti a riformare la città; e per suo consiglio si ordinò che il gonfaloniere residesse con i Priori, ed avesse quattromila uomini a sua ubbidienza. Privoronsi ancora tutti i nobili di potere sedere de’ Signori; obligoronsi i consorti del reo alla medesima pena che quello; fecesi che la publica fama bastasse a giudicare. Per queste legge, le quali si chiamorono gli Ordinamenti della giustizia, acquistò il popolo assai reputazione, e Giano della Bella assai odio.‘ (IF II 13). Auch in der Republik erweist sich also die virtú eines bedeutenden Einzelnen als förderlich und entscheidend, wenn die Gesetze aus eigener Kraft infolge einer empfindlichen Ungleichgewichtslage keine Abhilfe schaffen können D (III 1).⁸⁶⁹
bb) Verfall der Gesetze und Fall des Einzelnen Allerdings bleibt Machiavelli auch die Schilderung der Schattenseiten beherzten Eintretens überragender Einzelpersönlichkeiten nicht schuldig.⁸⁷⁰ Denn der genannte Aristokrat, der sich in der florentinischen Geschichte auf die Seite des Volkes gestellt und mit seinen Standesgenossen gebrochen hatte, wurde letztlich zwischen den Fronten zerrieben, weil der Hass letzterer und die übertriebenen
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 91. A. Montevecchi, macht in seinen umsichtigen Anmerkungen der von ihm herausgegebenen Ausgabe (in: Istorie fiorentine e altre opere storiche e politiche, a cura di, 2013, S. 296 sub 1) darauf aufmerksam, dass Machiavelli es im Einleitungssatz mit der zeitlichen Abfolge der Einsetzung der einzelnen Amtsträger nicht ganz genau nimmt, und fügt eine aufschlussreiche Bemerkung zu den Gesetzen hinzu: ,Il gonfalonierato fu istituto proprio con gli Ordinameni, non prima, come crede erroneamente Machiavelli. Le leggi contro i ‚grandi‘, e il gonfalonierato, sono contemoranei (1293)ʻ. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 81, diagnostiziert am Beispiel der Discorsi eine – womöglich auch für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreiche – Präferenz Machiavellis, was die vorzugswürdige Staatsform betrifft: „Das führt Machiavelli nicht dazu, das Interesse an Fürstentümern zu verlieren, denn er ist gelegentlich (obgleich nicht konsistent) bereit zu glauben, dass die Bewahrung der Herrschaft des Volkes vereinbar sein könnte mit einer monarchischen Regierungsreform. (…) Aber ganz gewiss führt es ihn dazu, republikanische Regimes fürstlichen merklich vorzuziehen“. Bündig J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 80 f.: “Machiavelli has shown that the nobles get around their exclusion from the Signoria by gaining merely one sympathetic ear among the priors, and that they avoid criminal punishment under the ordinances by intimidating the foreign rector of judicial affairs, the people’s Capitano, into rendering judgments favorable to them (FH II.13)”.
260
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Erwartungen des Volkes bereits beim erstbesten Präzedenzfall aufeinandertrafen, als ein schuldiger Aristokrat davonzukommen schien: „Diese Freisprechung mißfiel dem Volke so sehr, daß es die Waffen ergriff, zum Hause Giano della Bella strömte und ihn bat, er solle bewirken, daß die Gesetze beobachtet würden, deren Erlaß er bewirkt hatte.“⁸⁷¹ – ‚La quale assoluzione tanto al popolo dispiacque che e’ prese le armi e corse a casa Giano della Bella a pregarlo che dovesse essere operatore che si osservassero quelle leggi delle quali egli era stato inventore.‘ (IF II 13). Im Folgenden protokolliert Machiavelli den Niedergang, den moralisches Handeln mit sich bringt, wenn und weil der allgegenwärtige Neid der missgünstigen Standesgenossen seinen Fall beschleunigt.
(1) Beharrungskräfte eines reformunwilligen Klientelsystems Nun erwies sich nämlich, dass der vorbildliche Republikaner es keiner Seite recht machen konnte und das Volk grob wurde. Seine Standesgenossen, die ihm wegen ihres auf Vorschlag della Bellas verfügten Ausschlusses aus dem Entscheidungsgremium weder beispringen konnten noch wollten, sahen kühl zu, wie ihm der Prozess gemacht wurde, im Zuge dessen sich nunmehr auch das Volk von ihm abwandte, weil es sich verraten fühlte. Der vermeintliche Retter der Republik, der eine gerechte Staatsverfassung angestrebt und ein Wiederaufleben der Gesetze ins Werk gesetzt hatte, musste nun erleben, wie sich alles gegen ihn kehrte – allerdings nicht, weil er selbst zuwidergehandelt hätte, sondern infolge überzogener Erwartungen des Volkes in Verbindung mit dem gehässigen Neid seiner Standesgenossen, die so erfolgreich auf seinen Sturz hinarbeiteten, dass er dem Prozessausgang durch den Weg ins Exil zuvorkam. Die rhetorisch schwungvolle Schilderung dieses Heldenschicksals enthält vielleicht auch eine selbstilisierende Tendenz, weil sich Machiavelli wohl mit dem – freilich unter durchaus anderen Umständen – zu Unrecht ins Exil Gegangenen, der sich in einem Akt der Selbstbehauptung aufopferte, um das aufgebrachte Volk vor sich selbst zu schützen, identifizieren konnte. Aber in erster Linie ist es wohl die Geschichte des Scheiterns eines beherzten Aristokraten, der bei aller Gutwilligkeit die Beharrungskräfte eines reformunwilligen Klientelsystems mit seinem neidvollen Hass gegen den Renegaten unterschätzt und die Selbstdisziplinierung des im Gebrauch der Freiheit unerfahrenen Volkes überschätzt.⁸⁷² Die Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 92. J. P. McCormick, Faulty Foundings and Failed Reformers in Machiavelli’s Florentine Histories, American Political Science Review 111 (2017) 204, sieht denn auch eine unterschwellige Kritik am Werk: “Machiavelli implicitly criticizes Giano (…) for failing to spiritedly invigorate new laws with
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
261
Stärkung der Gesetze und das nachfolgende moralisch einwandfreie, gesetzesgetreue Handeln zahlt sich zwar für den großen Einzelnen nicht aus, weshalb das Exempel auch allenfalls als Negativbeispiel für den P r i n c i p e von Interesse wäre. Doch kann es nichtsdestoweniger auf lange Sicht die Selbstheilungskräfte der Republik fördern. Zunächst freilich kam es zum blutig ausgetragenen Streit zwischen Volk und Adel, weil dieser eine Lockerung der Gesetze verlangte, jenes dagegen starr blieb: „Ihre üble Lage ihren Spaltungen zuschreibend, vereinigten sich die Edlen miteinander und sandten zwei aus ihrer Mitte an die Signoria, die sie dem Adel günstig glaubten, mit der Bitte, daß sie die Strenge der gegen den Adel gemachten Gesetze einigermaßen zu mildern geruhe. (…) Den Edlen stellten sie vor, daß die Ursache, warum ihnen die Ehrenstellen entzogen und die Gesetze gegen sie gemacht worden, ihr Hochmut gewesen sei und ihr schlechtes Betragen.“⁸⁷³ – ‚E giudicando il male suo essere dalle sue divisioni nato, si unirono i nobili insieme e mandorono duoi di loro alla Signoria, la quale giudicavano in loro favore, a pregarla fusse contenta temperare in qualche parte l’acerbità delle leggi contro a di loro fatte. (…) Ricordando ai nobili che degli onori tolti e delle leggi contro a di loro fatte ne era stata cagione la loro superbia e il loro cattivo governo‘ (IF II 14).
(2) Wirkungslosigkeit neuer Gesetze gegenüber alten Einrichtungen Im Rahmen der Darstellung der Zwistigkeiten von Florentiner Adel und Volk musste sich Machiavelli bestätigt fühlen, weil es nahezu passgenau den ewigen Parteiungen zwischen Plebejern und Aristokraten um die Gesetze entsprach, die er aus der ersten Dekade des livianischen Geschichtswerks kannte.⁸⁷⁴ Allerdings bestätigt die geschilderte Episode auch Machiavellis Einsicht aus den Discorsi,
necessary and salutary violence; for neclecting to effectively manage the ‚envy‘ of rival peers; for not resisting the allure of ‚middle ways‘ between different political choices; and for failing to militarily organize or mobilize the entirety of Florence’s common people”. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 93. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234, fasst Machiavellis Anliegen dahingehend zusammen, dass es ihm nicht um die individuelle Freiheit geht: „Deshalb wenden sich (…) die Betrachtungen Machiavellis über die Kämpfe zwischen den Patriziern und Plebejern in der frühen römischen Republik nicht dem Problem der Freiheit des einzelnen zu (das für ihn nicht einmal ein selbständiger Gegenstand der Betrachtung ist), sondern dem der Stärke und des Funktionierens des Staates, in dem sich diese Kämpfe abspielen; dies sollte hinlänglich zeigen, in welchem Sinn und innerhalb welcher historischer Grenzen seine Auffassung von der Freiheit zu verstehen ist“.
262
§ 4 Herrschaft der Gesetze
dass neue Gesetze gegen beständige Einrichtungen wenig auszurichten vermögen: „Deshalb genügen neue Gesetze nicht, weil sie durch die Staatseinrichtungen, die sich nicht ändern, ihre Wirkung verlieren. Um mich besser verständlich zu machen, möchte ich folgendes sagen: In Rom waren es die Regierungsformen oder besser die Verfassung des Staats, und ferner die Gesetze, durch welche die Behörden die Bürger im Zaum hielten. Verfassungsmäßig verankert waren die Machtbefugnisse des Volkes, des Senats, der Tribunen, der Konsulen, ferner die Art der Wahl und die Ernennung der Behörden sowie die Form der Gesetzgebung. (…) Daß die Beibehaltung überkommener Staatseinrichtungen im verderbten Staat tatsächlich nicht zweckmäßig war, sieht man deutlich bei zwei besonders wichtigen Vorgängen, nämlich bei der Besetzung der Ämter und dem Erlaß neuer Gesetze.“⁸⁷⁵ – ‚Il che fa che le nuove leggi non bastano, perché gli ordini che stanno saldi le corrompono. E per dare ad intendere meglio questa parte, dico come in Roma era l’ordine del governo o vero dello stato, e le leggi dipoi che con i magistrati frenavano i cittadini. L’ordine dello stato era l’autorità del Popolo, del Senato, de’ Tribuni, de’ Consoli, il modo di chiedere e del creare i magistrati ed il modo di fare le leggi. (…) E che sia il vero, che tali ordini nella città corrotta non fussero buoni, si vede espresso in doi capi principali, quanto al creare i magistrati e le leggi‘ (D I 18). Vielleicht hatte Giano della Bella den Fehler begangen, nicht nur die Ressentiments seiner Standesgenossen, sondern auch die ehernen Einrichtungen zu unterschätzen; womöglich hätte die Reform einschneidender und tiefgreifender vollzogen werden müssen, um nicht nur einzelne Gesetze, sondern das Verfassungsgefüge von Grund auf zu ändern.⁸⁷⁶ Doch ist ihm zugute zu halten, dass er
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 64. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 78 f., zeichnet die wichtige Episode am gründlichsten nach und berücksichtigt dabei nicht zuletzt Machiavellis Blick auf das Volk: “The people, in response, not only relent from armed conflict with the nobles, but they actually relax the legislative restrictions that they and Giano had previously imposed upon the great.” Siehe auch ebenda, p. 81: “Ultimately, Machiavelli recounts how the people of ‚milder and wiser spirit‘ prevailed upon the others, arguing that conciliation would prove less costly than war. Thus, the people laid down their arms and ordained that legal provisions for additional witnesses be added to the Ordinances of Justice.” Unter Verweis auf P IX sowie D I 58; III 3 betont er – durchaus im Sinne der vorliegenden Untersuchung – den werkimmanenten Zusammenhang: “The lesson is precisely the same in the Histories, even if, here, Machiavelli never makes it explicitly. Machiavelli’s descriptions of popular moderation and noble malice in the book conform precisely to Machiavelli’s earlier accounts in The Prince and the Discourses. In the Histories, he simply fails to accentuate this distinction in his evaluations of the people and the nobles. The Histories, it would seem, provides much less direct guidance regarding the ‚effectual truth‘ of class politics than do either The Prince or the Discourses. Ultimately, the point is that Machiavelli’s descriptions of popular behavior in the Histories consistently evinces a
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
263
entsprechend den soeben genannten Vorgaben außer dem Erlass neuer Gesetze noch die Ämterbesetzung – wenn auch allzu – behutsam novellierte.
b) Selbstheilungskräfte des Staates und gesetzliche Heilmittel Die Selbstheilungskräfte von Staaten, die Machiavelli mit dem für sein Denken bezeichnenden Vergleich zur Rolle des Arztes und des menschlichen Organismus‘ erklärt, müssen dabei im Wortsinne radikal sein, auch wenn und gerade weil dies zu unbequemen Einsichten und Maßnahmen führt: „Wer deshalb in einem Staatswesen die Übel nicht schon in ihren Anfängen erkennt, ist nicht wirklich klug; aber dies ist nur wenigen gegeben.“⁸⁷⁷ – ‚Pertanto colui che in uno principato non conosce e’ mali quando nascono, non è veramente savio: e questo è dato a pochi‘ (P XIII). Eine physiologische und mitunter physiokratische Sichtweise prägt weite Teile der D i s c o r s i , wie folgende Stelle aus dem Anfang des dritten Buches belegt: „Wenngleich diese oft die beste Medizin ist, wie in Rom, so ist sie doch so gefährlich, daß sie keineswegs wünschenswert sein kann.“⁸⁷⁸ – ‚Perché ancora che qualche volta la sia ottimo rimedio come fu a Roma, ella è tanto pericolosa che non è in modo alcuno da desiderarla‘ (D III 1).⁸⁷⁹ Der hier anklingende Vergleich mit der Medizin findet sich bis ans Ende des Werkes, wo er interessanterweise mit dem Zentralbegriff der ‚necessità‘ verwoben ist: „Wie ich schon früher gesagt habe, treten in einem großen Gemeinwesen mit Notwendigkeit täglich Vorfälle ein, die des Arztes bedürfen. Je gewichtiger diese sind, desto klüger muß der Arzt sein, den man aufsucht.“⁸⁸⁰ – ‚È di necessità, come altre volte si è detto, che ciascuno dí in una città grande naschino accidenti che abbiano bisogno del medico; e secondo che gl’importano piú conviene trovare il medico piú savio‘ (D III 49). Die in den D i s c o r s i genannten Selbstheilungskräfte sollen dergestalt an der Wurzel ansetzen, dass sie die guten Anfänge kultivieren, die ja der beste Beleg dafür waren, dass sich solche Einrichtungen etablieren konnten: „Das Mittel zur Erneuerung aber ist, wie gesagt sie zu ihren Anfängen zurückzuführen; denn in ihren Anfängen müssen ja alle Religionen, Freistaaten und Königreiche notwendig etwas Gutes gehabt haben, dem sie ihr ursprüngli-
moderation that Machiavelli fails to explicitly attribute to the people in his general evaluations of them, most famously in the opening of Book III”. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 58. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 278. Tendenziell skeptisch gegenüber solchen ‚naturalistischen‘ Vergleichen G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 295. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 404.
264
§ 4 Herrschaft der Gesetze
ches Ansehen und ihre ursprüngliche Durchschlagskraft zu danken hatten.“⁸⁸¹ – ‚Il modo del rinnovargli è, come è detto, ridurgli verso e’ principii suoi. Perché tutti e’ principii delle sètte e delle republiche e de’ regni conviene che abbiano in sé qualche bontà, mediante la quale ripiglino la prima riputazione ed il primo augumento loro‘ (D III 1).
2. Erneuerung des Gemeinwesens durch Gesetz oder Einzelpersönlichkeit Dieser Gedanke der Erneuerung veranschaulicht ebenfalls – und zwar beinahe im Wortsinne – die Herkunft dieses Denkens aus dem Geist der Renaissance.⁸⁸² Es geht um eine Erneuerung der Gesetze und Einrichtungen, die alle Formen des Gemeinschaftslebens durchdringt und wiederbelebt: „Es ist also, wie gesagt, nötig, dass die Menschen, die in irgendeiner Gesellschaftsordnung miteinander leben, häufig zur Selbsterneuerung gebracht werden – gleichgültig, ob aus Anlass derartiger äußerer oder innerer Ereignisse. Letzteres geschieht entweder durch ein Gesetz, das die Menschen, die zur gleichen Gemeinschaft gehören, immer wieder unter Kontrolle hält, oder durch einen wirklich tüchtigen Mann, der aus ihrer Mitte hervorgegangen ist und durch sein Beispiel und sein treffliches Wirken die gleiche Wirkung hervorbringt wie das Gesetz.“⁸⁸³ – ‚È necessario adunque, come è detto, che gli uomini che vivono insieme in qualunque ordine, speeso si riconoschino, o per questi accidenti estrinseci o per gl’intrinseci. E quanto a questi, conviene che nasca o da una legge, la quale spesso rivegga il conto agli uomini che sono in quel corpo; o veramente da uno uomo buono che nasca fra loro, il quale con i suoi esempli e con le sue opere virtuose faccia il medesimo effetto che l’ordine‘ (D III 1).⁸⁸⁴
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 274. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 296. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 275. Zu dieser Stelle auch I. D. Evrigenis, Fear of Enemies and Collective Action, 2010, S. 62 mit Fn. 57. Q. Skinner, Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr), S. 97 f., spannt am Beispiel dieser Stelle den Bogen zurück zum Beginn des ersten Buches (D I 3/4), um seine These zu erläutern, dass die Gesetze die Menschen zur virtú erziehen können und sollen: „Diese Überzeugung einmal vorausgesetzt, können wir sehen, weshalb Machiavelli den Gründungsvätern von Staaten so viel Bedeutung beimisst. Sie sind in der einzigartigen Lage, als Gesetzgeber zu wirken und auf diese Weise ihre Gesellschaften von Anfang an mit den besten Mitteln zu versehen, um sicherzustellen, dass ‚virtu‘ gefördert und Korruption überwunden wird“.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
265
a) Gesetze als Instrumente der Selbstheilung des Gemeinwesens Interessant ist daran, dass Machiavelli im Ausgangspunkt dahinstehen lässt, welche Staatsform das jeweilige Gemeinwesen hat, um dann jedoch zwei Abhilfemöglichkeiten aufzufächern, die entweder das Gesetz oder eine Einzelpersönlichkeit betreffen.
aa) Republik zur Förderung des Gemeinwohls Es liegt nach dem Gesagten nahe, dass das Gesetz als Instrument der Selbstheilung vor allem auf die Republik zugeschnitten ist, während die überragende Persönlichkeit in besonderer Weise in Alleinherrschaften wirksam wird.
(1) Abstimmung der Gesetze mit den Einrichtungen In der Republik müssen zudem die Gesetze mit den Einrichtungen abgestimmt werden, um die schwer vorhersehbaren Erfordernisse zu bewältigen und den allfälligen Erneuerungen Rechnung zu tragen, die auch die Institutionen selbst betreffen können, damit sie mit den Gesetzen Schritt halten, wie Machiavelli es bereits im ersten Buch vorausgesetzt hat (D I 18): „Wie schwer es ist, bei der Konstituierung eines Freistaates alle zur Erhaltung der Freiheit nötigen Gesetze vorauszusehen, beweist hinreichend die Entwicklung der römischen Republik. Denn obwohl ihr viele Gesetze gegeben waren, zuerst von Romulus, dann von Numa, von Tullius Hostilius und Servius und zuletzt von den eigens dazu eingesetzten Decemvirn, so zeigten sich bei der Leitung des Staates doch immer neue Bedürfnisse und die Notwendigkeit, neue Einrichtungen zu schaffen.“⁸⁸⁵ – ‚Quanto sia difficile nello ordinare una republica provedere a tutte quelle leggi che la mantengono libera, lo dimostra assai bene il processo della Republica romana: dove, non ostante che fussono ordinate di molte leggi, da Romolo prima, dipoi da Numa, da Tullo Ostilio e Servio ed ultimamente dai dieci cittadini creati a simile opera, nondimeno sempre nel maneggiare quella città si scoprivono nuove necessità, ed era necessario creare nuovi ordini‘ (D I 49).⁸⁸⁶ An der Art und Weise, wie vergleichsweise nüchtern und neutral er vom Gesetz gegenüber jenen Persön-
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 128. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 271, paraphrasiert umsichtig: „Ihre Größe verdankte die römische Republik laut Machiavelli in höchstem Maße dem Genius ihrer Gesetzgeber. Numa Pompilius gebührte der höchste Ruhm unter den Sterblichen, weil er eine politische Religion begründete, die die Gesetze in Kopf und Herz der Bürger verankerte.“ Zu den ausdrücklich genannten römischen Gesetzgebern J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1.
266
§ 4 Herrschaft der Gesetze
lichkeiten spricht, deren Wirken er für seine Verhältnisse farbenreich betont, scheint sich eine Neigung in Richtung der Alleinherrschaft zu zeigen, weil solche überragenden Einzelpersönlichkeiten dort den ihnen gebührenden Entfaltungsspielraum beanspruchen können, während ihre außergewöhnlichen Möglichkeiten in der Republik eher brachliegen. Jedoch würde man bei einer solchermaßen vordergründigen Betrachtung übersehen, dass Machiavelli zeitlebens gerade die Republik als Staatsform favorisiert, weil nur dort das Gemeinwohl gedeiht (D II 2).
(2) Paradox erscheinende Effizienzerwägungen Zudem kann die mangelnde Flexibilität in Republiken paradoxerweise einen Vorzug im Rahmen der Gefahrenabwehr bilden, weil die Willensbildung in der Republik schwerfälliger vonstatten geht und ihre Vertreter insgesamt verlässlicher agieren als ein Gewaltherrscher: „Wenn ich alle Dinge richtig betrachte, so komme ich zur Überzeugung, daß in allen Fällen dringender Gefahr Freistaaten beständiger sind als Alleinherrscher; denn selbst wenn ein Freistaat dieselbe Gesinnung und dieselbe Absicht hätte wie ein Alleinherrscher, so wird doch der schleppende Geschäftsgang in einem Freistaat bewirken, daß man mehr Zeit braucht, um Entschlüsse zu fassen, als ein Alleinherrscher und daher auch mehr Zeit braucht, um die Treue zu brechen.“⁸⁸⁷ – ‚E credo, computato ogni cosa, che in questi casi, dove è il pericolo urgente, si troverrà qualche stabilità piú nelle republiche che ne’ principi. Perché sebbene le republiche avessero quel medesimo animo e quella medesima voglia che uno principe, lo avere il moto loro tardo farà che le perranno sempre piú a risolversi che il principe, e per questo perranno piú a rompere la fede di lui‘ (D I 59). Diese Stelle ist durchaus bezeichnend für Machiavellis neuartiges Denken, das sich von allem Vorherigen fundamental unterscheidet. Bis sich mehrere Rechts- und Entscheidungsträger auf ein treuwidriges Verhalten verständigt haben, dauert es länger, als ein impulsiv handelnder Despot seinen Leidenschaften freien Lauf lässt. Das einleitende ‚computato ogni causa‘ ist daher auch keine Floskel, sondern vielmehr Ausdruck einer nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkulation. Der Treuebruch wird mithin nicht moralisch verurteilt, sondern unter schlichten Effizienzgesichtspunkten beurteilt, indem die schieren Transaktionskosten abgemessen werden.⁸⁸⁸ Machiavelli entscheidet daher nach durchaus ra Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 155. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 396 f., hat den Zusammenhang zwischen der Staatsform der Repubik und der Effizienz politischen Handelns auf den Punkt gebracht und letztere zu einem Gradmesser der Wissenschaftlichkeit einer eigenständigen Disziplin politischer Theorie erhoben:
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
267
tionalen Kriterien, die auch das durch Leidenschaften getrübte irrationale Handeln einzelner Akteure in sein Kalkül aufnimmt. An die Stelle einer moralischen Bewertung ist eine politische Beurteilung getreten.
bb) Ungebrochener Freiheitssinn Vielfach wird es in Republiken also gerade infolge ihrer scheinbaren Nachteile selbst bei Gefahr im Verzug gar keiner Gesetze bedürfen, um Missstände abzuwenden, zumal da sie dann wegen ihrer relativen schwerfälligen Entscheidungsfindung keine geeigneten Maßnahmen anordnen könnten.
(1) Gleichschritt von Gesetzesübertretungen und Sittenverfall Aber selbst wenn man davon absieht, lässt sich festhalten, dass Gesetze für Machiavelli potenzielle Heilmittel für den Fall darstellen, dass das Gemeinwesen entartet, außer Kontrolle gerät oder von schlichten Verfallserscheinungen befallen wird. Er betont das auch an späterer Stelle, wo er nochmals in Erinnerung ruft: „Dahin gerät der Staat unvermeidlich, wenn er nicht, wie oben gesagt, häufig durch gute Beispiel aufgefrischt und durch neue Gesetze zu seinem Ursprung zurückgeführt wird.“⁸⁸⁹ – ‚La quale vi si conduce di necessità, quando la non sia, come di sopra si discorse, spesso rinfrescata di buoni esempli o con nuove leggi ritirata verso i principii suoi‘ (D III 8). Wie bereits im ersten Buch gesehen, gibt es für Machiavelli einen Gleichschritt von Gesetzesübertretungen und Sittenverfall. Sobald die Rechtsunterworfenen erkennen, dass Gesetzesverletzungen ungeahndet bleiben, verrohen die Sitten, und die Gesetze werden allmählich wirkungslos. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Menschen einerseits daran
„Die republikanische Option bei Machiavelli ist – pointiert formuliert – eine Folge seiner prinzipiellen Orientierung an der Effizienz politischen Handelns und nicht die Folge einer ethischen Grundentscheidung. (…) Der Principe und die Discorsi enthalten demgemäß die jeweils richtigen, d. h. effizienten, politischen Handlungsvorschläge, um den Staat aus dem Tiefpunkt seiner Entwicklungskurve möglichst schnell herauszuführen oder ihn möglichst lange auf deren Höhepunkt zu stabilisieren. Indem Machiavelli auf diese Weise Geschichtsphilosophie und politische Handlungsanweisungen systematisch verknüpfte, löste er die politische Theorie aus ihrer Subsumtion unter Ethik oder Theologie und begründete sie als Wissenschaft. Ob politisches Handeln richtig oder falsch ist, wird bei ihm nicht mehr anhand von ethischen oder theologischen Normen überprüft, sondern allein daran, ob es hinsichtlich der historisch jeweils gegebenen Situation und den aus ihr entstandenen Anforderungen an die Politik effizient ist oder nicht.“ Hervorhebung auch dort. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 313.
268
§ 4 Herrschaft der Gesetze
gewöhnen, andererseits aber – und dies ist für Machiavelli wichtiger – an die Reaktion der Strafverfolger auf Gesetzesverletzungen erinnern.
(2) Vorrang der Gesetze vor den Parteiungen Das gilt erst recht für den Erlass der Gesetze und die Schaffung von Einrichtungen nach einem Akt der Siegerjustiz, wie auch in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z nachzulesen ist: „Immer sind die Gesetze, die Statuten, die politischen Einrichtungen nicht einer freien Verfassung gemäß, sondern nach dem Ehrgeiz der Partei, die Siegerin geblieben, angeordnet worden und werden angeordnet. (…) Denn die Stadt, welche sich mehr durch die Parteien als durch die Gesetze erhalten will, muß sich notwendig in sich selbst spalten, sobald eine Partei ohne Widerstand in ihr geblieben ist. Ist daher eine Partei vertrieben, eine Spaltung verwischt, so erhebt sich immer eine andere. Denn die Stadt, welche sich mehr durch Parteiungen als durch Gesetze erhalten soll, muß sich notwendig in sich selbst spalten, sobald eine Partei ohne Widerstand geblieben ist.“⁸⁹⁰ – ‚Perché le leggi, gli statuti, gli ordini civili, non secondo il vivere libero, ma secondo la ambizione di quella parte che è rimasa superiore si sono in quella sempre ordinati e ordinano. (…) Perché quella città che con le sètte piú che con le leggi si vuole mantenere, come una setta è rimasa in essa sanza opposizione, di necessità conviene che infra se medesima si divida‘ (IF III 5). Die Überlegenen sollten sich im eigenen Interesse hüten, ihren Sieg durch drückende Gesetzgebung den Machtverhältnissen entsprechend auszukosten. Parteiungen und Spaltungen sind also stets von Übel,⁸⁹¹ weil und sofern sie der Herrschaft der Gesetze zuwiderlaufen.⁸⁹² So schwärmerisch und daher für das Verständnis Machiavellis unpassend dies
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 158 f. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 333, formuliert es zuückhaltender, aber letztlich unter derselben Bedingung der Herrschaft der Gesetze: „Machiavelli hat die Konkurrenz von Gruppen und Parteiungen in einem Staat keineswegs kategorisch abgelehnt; für ihn war vielmehr entscheidend, ob sie innerhalb eines allgemein anerkannten und akzeptierten Gesetzes stattfand oder sich an dessen Stelle setzte“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 254, stellt die vorrangige Herrschaft der Gesetze in anderem Zusammenhang anschaulich dar: „Man darf nicht übersehen, daß die ‚Hand des Königs‘, die mit ‚absoluter und übermäßiger‘ Macht die Großen zwingt, sich in einen gesetzlichen Rahmen einzufügen, nicht als Alternative zu den allgemeinen Gesetzen des Staates angesehen wird, sondern als ihre machtvolle Stärkung; offensichtlich können diese Gesetze auch nicht dem Ehrgeiz und der Verderbnis der Adligen zu Diensten sein“.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
269
klingt,⁸⁹³ ist es doch seinem Denken gemäß, wenn man das langfristige Nutzenkalkül in Rechnung stellt.
(3) Aufleben des Freiheitssinns und des Gerechtigkeitssinns Denn früher oder später lebt der niedergerungene Freiheitssinn des unterlegenen Teils bei erster Gelegenheit wieder auf und bricht sich mit unbeugsamem Gerechtigkeitssinn Bahn, wie Machiavelli im P r i n c i p e dem Gewaltherrscher mahnend zu bedenken gibt, für den er freilich einen grausamen Rat bereithält: „Wer Herr einer freiheitsgewohnten Stadt wird und sie nicht zerstört, hat zu erwarten, von ihr zugrunde gerichtet zu werden. Denn immer dient ihr bei einem Aufstand der Gedanke an die Freiheit und an ihre althergebrachten Einrichtungen zum Vorwand. Diese geraten weder durch die Länge der Zeit noch durch Wohltaten in Vergessenheit. Was ein Eroberer auch tun oder vorbeugen mag: Die Einwohner vergessen, wenn sie nicht auseinandergerissen oder verstreut werden, ihre Freiheit und ihre alten Einrichtungen nie und führen sie unversehens beim geringsten Anlaß wieder ein.“⁸⁹⁴ – ‚E chi diviene patrone di una città consueta a vivere libera, e non la disfaccia, aspetti di essere disfatto da quella; perché sempre ha per refugio nella rebellione el nome della libertà e gli ordini antiqui sua, e’ quali né per la lunghezza di tempo né per benefizi mai si dimenticano. E per cosa che si faccia o si provegga, se non si disuniscono o dissipano gli abitatori non dimenticano quello nome né quegli ordini, e subito in ogni accidente vi ricorrono‘ (P V). So richtig die diesem Rat zugrunde liegende Beobachtung sein mag, haben doch Empfehlungen wie diese mit Recht zum schlechten Ruf Machiavellis beigetragen, an den man sich in der europäischen Ideengeschichte ebenso nachhaltig erinnert, wie er es von den Einrichtungen der Unterlegenen sagt.
cc) Erinnerung an die Ahndung von Gesetzesübertretungen Dieser mnemotechnische Gesichtspunkt wird in der späteren juristischen Geistesgeschichte bei Nietzsche eine beträchtliche Rolle spielen,⁸⁹⁵ der ja wie gesehen überhaupt Machiavelli verpflichtet ist.⁸⁹⁶
V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 78, zeigt an anderer Stelle, dass Machiavelli auch anders kann, wenn es um die Herrschaft der Gesetze geht: „Wehe denjenigen, die Machiavellis Zorn erregten! (…) In einer wohlgeordneten Republik muss das Volk sehen, dass die Großen nicht über den Gesetzen stehen“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 19. J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 53, 100, 133; dort auch zu dem genannten mnemotechnischen Aspekt.
270
§ 4 Herrschaft der Gesetze
(1) Generalprävention statt Spezialprävention Machiavelli hält es also für unentbehrlich, den Menschen durch gelegentliche Bestrafung in Erinnerung zu rufen, was sie bei Gesetzesverletzungen erwartet: „Von der einen zur andern dieser Verurteilungen sollten nicht mehr als 10 Jahre vergehen; denn nach dieser Zeit beginnen die Menschen ihre Gewohnheiten zu ändern und die Gesetze zu übertreten. Geschieht dann nicht etwas, was ihnen die Strafe ins Gedächtnis zurückruft und neue Furcht einflößt, so häuft sich die Zahl der Verbrecher bald derart, dass sie nicht mehr ohne Gefahr bestraft werden können. (…) Da nun solche Strafen nach und nach vergessen werden, nehmen sich die Menschen die Kühnheit heraus, Neuerungen zu versuchen und das Bestehende zu schmähen. Es ist daher notwendig, dagegen Vorkehrungen zu treffen, indem man den Staat auf seinen Ursprung zurückführt. Eine solche Zurückführung eines Staates zu seinem Ursprung ist auch ohne die Abhängigkeit von einem Gesetz, dass derartige Exekutionen fordert, durch die bloße Tüchtigkeit eines Mannes möglich.“⁸⁹⁷ – ‚Perché dall’una all’altra di simili esecuzioni non vorrebbe passare il piú dieci anni: perché passato questo tempo, gli uomini cominciano a variare con i costumi e trapassare le leggi; e se non nasce cosa per la quale si riduca loro a memoria la pena, e rinnuovisi negli animi loro la paura, concorrono tosto tanti delinquenti che non si possono piú punire sanza pericolo. (…) Ma come di quella battitura la memoria si spegne, gli uomini prendono ardire di tentare cose nuove e di dire male, e però è necessario provvedervi ritirando quello verso i suoi principii. Nasce ancora questo ritiramento delle republiche verso il loro principio dalla semplice virtú d’un uomo, sanza dependere da alcuna legge che ti stimoli ad alcuna esecuzione‘ (D III 1). Im Vordergrund steht für Machiavelli also die Generalprävention und nicht die spezialpräventive Besserung des einzelnen Täters. In gewisser Weise wird dieser sogar in Extremfällen – gerade auch in zeitlichen Extremfällen der besonderen Divergenz zwischen zwei Bestrafungen – als Mittel zum Zweck der Verdeutlichung der Strafandrohung missbraucht.⁸⁹⁸
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 508, macht auf eine bedeutsame Abgrenzungsnotwendigkeit aufmerksam: „Daraus folgt natürlich nicht die Richtigkeit der entgegengesetzten Auffassung des vom theoretischen Problem der Macht besessenen Nietzsche, Macht sei an sich zu bejahen; und auch Machiavellis Reduktion von ‚virtu‘ auf Durchsetzungsvermögen ist zu verwerfen, obgleich Durchsetzungsvermögen zumindest eine Sekundärtugend ist“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 276 f. Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 170, setzt dagegen zunächst eher auf individuelle Ermahnung und Abschreckung durch die Angst vor einem göttlichen Strafgericht, womit die religiöse Scheu in ganz anderer Weise eingesetzt wird als bei Machiavelli: ,Agendum argumentis, ne
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
271
(2) Verbleibendes Strafbedürfnis Wie die zuletzt zitierte Stelle aus dem P r i n c i p e in ihrem zweiten Teil belegt (P V), schreckt Machiavelli auch vor drastischen Strafen nicht zurück, selbst wenn der Sinnzusammenhang unter Berücksichtigung der hier nicht zitierten Passage nahelegt, dass es nicht notwendigerweise die Todesstrafe sein muss.⁸⁹⁹ Strafexempel wie im alten Rom gelten ihm jedoch als probate Mittel, zumal da sie der Rückführung des Staats auf seinen Ursprung dienen. Immerhin lehnt er das besonders brutale und empörend ungerechte Dezimieren am Ende seiner D i s c o r s i ausdrücklich ab (D III 49).⁹⁰⁰ Was Machiavellis Strafenverständnis im Einzelnen bedeutet, zeigt sich, wenn man auf den Beginn des ersten Buchs zurückblickt, wo er ein Bild vom Anfang der Welt zeichnet, das von vollständiger Anarchie geprägt ist. Auch dort legt er, wie man jetzt besser verstehen kann, den genannten mnemotechnischen Ansatz zugrunde, indem er auf die Erinnerung der Menschen an Strafen und Zuwiderhandlungen setzt, aber umgekehrt auch auf Gefühle der Dankbarkeit für empfangene Wohltaten. Wo diese jedoch ausbleibt und in besonderer Weise undankbar gehandelt wird, kommt es Machiavelli zufolge zu einem Strafbedürfnis (D I 2). Nicht zuletzt diese Stelle dürfte also gemeint sein, wenn Machiavelli zu Beginn des dritten Buchs den Staat auf seinen Ursprung zurückführen möchte. Weiterhin ist am Beispiel dieser Stelle hervorzuheben, was bereits in anderem Zusammenhang gesehen wurde, dass nämlich Gesetze zu diesem Zweck nur eine prinzipielle Möglichkeit darstellen.
b) Alternative von Gesetzgebung und Einzeldekret Die Alternative besteht im Dasein einer starken Einzelpersönlichkeit, die seines Erachtens gleichfalls – und vielleicht sogar in seiner Wahrnehmung noch besser – die Rechtsunterworfenen auf den Ursprung des Staates zurückverweisen und
quis peccare velit, deinde deterrendi metu Numinis malefactorum vindicis, praeterea minis suppliciiʻ. Machiavelli selbst ist im Übrigen im Zuge der Wiedererlangung der Herrschaft der Medici 1513 wegen eines vermuteten Umsturzversuchs im Rahmen einer ‚Vernehmung‘ gefoltert worden und hat standhaft geschwiegen, obwohl man ihn besonders anhaltend misshandelt hat; zu den grausigen Einzelheiten V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 222. Tacitus, Annales, 3, 21, 1, schildert demgegenüber im Hinblick auf das Dezimieren mit altrömischer severitas, indem er die Wirkung dieser von den Soldaten besonders gefürchteten Strafe beiläufig unterstreicht: ,magis dedecore suorum qam gloria hostis anxius, raro tempestate et e vetere memoria facinore decumum quemque ignominiosae ohortis sorte ductos fusti necat. Tantum que severitate profectumʻ.
272
§ 4 Herrschaft der Gesetze
daran erinnern kann (D III 1). Denn genau darum ging es ihm zu Beginn des ersten Buches. Dort schildert er die Staatsentstehung, wie erinnerlich, dadurch, dass die meisten sich einem Anführer fügten, ihm gehorchten, weil sie ihn als Wohltäter ansahen, und dementsprechend über diejenigen richteten, die es an dem schuldigen Dank fehlen ließen. Doch waren es auch hier keine Gefühle der schlichten Dankbarkeit, sondern vielmehr innere Vorbehalte der Rechtsunterworfenen, die davon ausgingen, dass ein auf solche Weise Undankbarer sich ihnen gegenüber ebenso verhalten könnte. Gerade deswegen wurden nach Machiavellis eingangs geäußerter Feststellung Gesetze geschaffen (D I 2). Aus dieser Rückführung auf den Staatsursprung erhellt, dass es sich originär sogar um ein Nacheinander handelt. Zuerst kam der große Einzelne, dem sich alle unterordneten, und erst danach setzte sich die allgemeine Einsicht durch, dass man zur Vermeidung von Zuwiderhandlungen Gesetze schaffen müsse. Wenn also Machiavelli im Folgenden Gesetzgebung und Einzeldekret alternativ behandelt, wobei dieses typischerweise der Alleinherrschaft und jene für gewöhnlich der Republik vorbehalten ist, dann darf dies nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es sich aus Machiavellis Sicht evolutiv entwickelt hat. Dieses zeitliche Vorrangverhältnis bildet wohl für Machiavelli den Grundstein für ein hierarchisches Verhältnis.
c) Individualistische Prägung Hinzu kommt, dass der zeitliche Gesichtspunkt sich auch in rechtsgeschichtlicher Hinsicht bemerkbar macht, nämlich gerade im Hinblick auf die von Machiavelli betrachtete Geschichte Roms. Denn dort galten hervorragende Einzelpersönlichkeiten, die beispielhaft wirkten, besonders viel, so dass „einige andere, die durch ihr seltenes, ausgezeichnetes Beispiel in Rom beinahe dieselbe Wirkung erzielten wie Gesetze und Institutionen“⁹⁰¹ – ‚i quali con i loro esempli rari e virtuosi facevano in Roma quasi il medesimo effetto che si facessino le leggi e gli ordini‘ (D III 1). Große Einzelne können demnach einen Maßstab setzen, der durch entsprechende Tradierung in der Geschichtsschreibung oder mündliche Überlieferung so stark im Gedächtnis der Bevölkerung verankert wird, dass sie mit ihrer exemplarischen Wirkung gleichsam selbst zur Institution werden, die in ihrer Wirkung Gesetzen nicht nachstehen. Man kann aus alldem folgern, dass er eher ein individualistisches Rechtsverständnis pflegt. Ungeachtet seiner Wertschätzung der öffentlichen Meinung und des Gerechtigkeitsgefühls des Volkes interessiert Machiavelli weniger die Masse der
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 277.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
273
Rechtsunterworfenen, die durch die Erinnerung an Zuwiderhandlung und entsprechende Strafe allmählich lernt bzw., wenn letztere ausbleibt, verlernt und einem darauf folgenden Sittenverfall entgegen strebt.⁹⁰² Vordringlich bewegen ihn die beispielhaft wirkenden Individuen, die durch ihre virtú dem Gemeinwesen als Gesetzgeber ihren Stempel aufdrücken. Doch darf man nicht übersehen, dass deren maßgebliche Wirkung für die Begründung des Gemeinwesens, insbesondere zur Schaffung von Recht und Ordnung, im weiteren Verlauf durch die Praxis überlagert wird und letztlich wohl auch durch den Gerechtigkeitssinn der Rechtsunterworfenen. Denn dieser Gerechtigkeitssinn ist Machiavelli als Ausdruck der öffentlichen Meinung – bei aller gelegentlichen Geringschätzung gegenüber pöbelhaftem Verhalten und abergläubischer Einfalt – durchaus wichtig.⁹⁰³ Ist also das Gemeinwesen einmal eingerichtet und sind Gesetze durch eine rechtsetzende Instanz geschaffen, so obliegt es dem Volk, die Einrichtungen und Gesetze durch entsprechende Sitten und Bräuche mit Leben zu füllen. Denn in
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 129 f., fasst den scheinbar harten Standpunkt Machiavellis eindrucksvoll zusammen, indem er den auf Recht und Ordnung verpflichteten Gehorsam der ansonsten haltlosen Masse hervorhebt: “The true issue becomes visible once one reflects on the fact that the multitude or the plebs needs guidance. This guidance is supplied ordinarily by laws and orders which, if they are to be of any value, of necessity originate in superior minds, in the minds of founders or of princes”. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 77 f., setzt diesen Gedanken von einem etwas anderen, aber nicht minder fruchtbaren theoretischen Ausgangspunkt her gesehen, voraus und sichert ihn am Beispiel von D I 18 durch Einbeziehung plebiszitärer Elemente institutionell ab: “Machiavelli’s suggestion that the people gathered in assemblies recognize the truth in public speeches and make correct decisions on that basis implies that they are capable of choosing the better arguments among proposals, whether submitted by the consuls in the noble-dominated comitia centuriata, or by the tribunes in the concilium plebis and the comitia tributa, and those proposed by either sets of magistrates in the contiones. Machiavelli attributes the people’s ability to discern better policies in no small part to their desire not to be dominated and to the correlation between this desire and the common good.” Beachte auch die gedankenreiche Hypothese, die ders., Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 133 f. in einer aufschlussreichen Gegenüberstellung zu den Gedanken Rousseaus zum Gesetzgebungsverfahren anstellt: “Perhaps Machiavelli suggests that tribunes propose laws in the concilium, while ‚any citizen,‘ including patricians, can propose laws in the comitia centuriata. Maybe the discussion and disputes over laws that Machiavelli mentions take place not in the plebeian-specific environment of the concilium, but in the informal assembies reserved for public deliberation, the contiones or concioni that Machiavelli mentions elsewhere (D I.4– 5, III.34) but does not invoke here.” – In der Zusammenschau zeigt sich daran, wie beeindruckend der Autor die mitunter sehr verstreuten und mitunter bis an die Grenze der Ungenauigkeit gehenden Andeutungen Machiavellis in einen kohärenten Zusammenhang rückt.
274
§ 4 Herrschaft der Gesetze
dieser Hinsicht erweist sich das Volk dem Fürsten überlegen, weil er dies als Einzelner naturgemäß nicht vermag und auch schlicht nicht lange genug lebt.⁹⁰⁴
3. Gesetze in den unterschiedlichen Regierungsformen Auch parlamentarische Monarchien sind demnach gehalten, Zuwiderhandlungen gerade ihrer höchsten Repräsentanten bis hinauf zum König zu ahnden, weil sie sonst ihre Daseinsberechtigung einbüßen. Aber auch in autoritär angelegten Herrschaften kann der Herrscher nicht ungestraft gegen althergebrachte Gesetze verstoßen, die dem Volk schon lange einleuchten.
a) Herrschaft der Gesetze in Frankreich Der Gedanke der Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung betrifft demnach auch parlamentarische Monarchien, wie Machiavelli am Beispiel Frankreichs verdeutlicht und damit abermals eine Neigung zur Rechtsvergleichung erkennen lässt:⁹⁰⁵ „Auch Königreiche bedürfen der Erneuerung und der Zurückführung der Gesetze zu ihrem Ursprung.Welch gute Wirkung dies hat, sieht man in Frankreich, das stärker an Gesetze und Verfassung gebunden ist als irgendein anderes Reich. Gesetze und Verfassung werden hier von den Parlamenten überwacht, besonders von dem in Paris. Die Erneuerung geschieht jedes Mal, wenn es eine Strafe gegen einen Großen des Reichs verhängt und sogar den König verurteilt. Bis jetzt hat es sich dadurch erhalten, dass es ein unerbittlicher Richter gegen den Adel war. Doch wenn das Parlament einmal die Überschreitung der Gesetze ungestraft ließe
Dieser Gesichtspunkt ist gleichsam die Pointe des soeben referierten Gedankens von L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 130, der einen ausgleichenden Gesichtspunkt in Machiavellis Rechts- und Staatsvorstellung bringt: “Of princes thus understood (…) Machiavelli says in the 58th chapter that they are superior to the peoples because they alone are fit to establish new laws and orders, whereas peoples are superior to princes as regards the maintaining of modes and orders already established.” – Strauss hat zudem herausgearbeitet (p. 131), dass damit nach Machiavellis Vorstellung sogar eine moralische Überlegenheit der Menge einhergeht: “To the extent to which he ironically accepts the major premise that human excellence is moral excellence, he arrives at the conclusion that the multitude is simply superior to ‚princes‘”. Machiavellis Schriften über Frankreich und die französischen Verhältnisse sind die folgenden: ‚De natura Gallorum‘ (Die Natur der Franzosen), ferner die ‚Notula per uno che va ambasciadore in Francia‘ sowie schließlich der ‚Ritracto di cose di Francia‘ (Politischer Zustand Frankreichs im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts); abgedruckt in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 51– 68 bzw. in: Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 186 – 207.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
275
und sich die Verbrechen häufen würden, so hätte eine Bestrafung ohne Zweifel große Wirren oder den Verfall des Reiches zur Folge. Zusammenfassend ist zu sagen, dass es für Gemeinschaften, sei es nun eine Religionsgemeinschaft, eine Monarchie oder ein Freistaat, absolut notwendig ist, ihnen das Ansehen wiederzugeben, das sie in ihrem Anfang hatten.“⁹⁰⁶ – ‚Hanno ancora i regni bisogno di rinnovarsi e ridurre le leggi di quegli verso i suoi principii. E si vede quanto buono effetto fa questa parte nel regno di Francia, il quale regno vive sotto le leggi e sotto gli ordini piú che alcuno altro regno. Delle quali leggi ed ordini ne sono mantenitori i parlamenti, e massime quel di Parigi: le quali sono da lui rinnovate qualunque volta ei fa una esecuzione contro ad un principe di quel regno, e che ei condanna il Re nelle sue sentenze. Ed infino a qui si è mantenuto per essere stato uno ostinato esecutore contro a quella Nobilità; ma qualunque volta ei ne lasciassi alcuna impunita e che le venissono a multiplicare, sanza dubbio ne nascerebbe, o che le si arebbono a correggere con disordine grande, o che quel regno si risolverebbe. Conchiudesi pertanto non essere cosa piú necessaria in uno vivere comune, o sètta o regno o republica che sia, che rendergli quella riputazione ch’egli aveva ne’ principii suoi‘ (D III 1). Man kann insofern von einer Herrschaft der Gesetze in Frankreich sprechen, der auch Machiavelli zuneigt.⁹⁰⁷ Er favorisiert nach wie vor die Republik als Staatsform,⁹⁰⁸ kann sich jedoch unter den soeben dargestellten Bedingungen
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 278. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234, beurteilt dies zu einseitig vom Staat aus: „In Wirklichkeit geht es Machiavelli nicht darum, daß der Herrscher der höheren Gewalt des Gesetzes unterworfen ist, noch daß man dem Volk die Fähigkeit und das Recht der Selbstbestimmung zugesteht, es geht ihm vielmehr einzig darum, dem Staat ein organisches Funktionieren zu sichern, seine Existenz vor den durch die partikularistischen Kämpfe hervorgerufenen gewaltsamen Gewichtsverschiebungen zu bewahren und schließlich zu vermeiden, daß eine der streitenden Parteien außerhalb des Staates bleibt und deshalb ständig Abtrennung, Unordnung, Schwäche und Zerstörung droht“. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 78, arbeitet die Strukturunterschiede zu den altrömischen Institutionen heraus, durch die Machiavelli eine Optimierung des republikanischen Verständnisses herzustellen bemüht war und unter denen die Einbringung von Gesetzesvorschlägen eine vergleichsweise größere Rolle spielte: “Several important discrepancies between Rome’s largely timocratic and nondeliberative institutions, as we know them, and Machiavelli’s more deliberatively democratic interpretation of them accentuate his normative preference for a republic more extensively inclusive of the populace, a democratic republic that allows greater popular discussion over and control of policy formation, lawmaking, and magistrate behaviour. (…) Furthermore, he allows common citizens much more room for legislative initiative and greater opportunity to deliberate over the formulation of laws than did the Roman assemblies. Even important legislative assemblies that were not especially hierarchical in
276
§ 4 Herrschaft der Gesetze
notfalls mit parlamentarischen Monarchien anfreunden, wo sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben.⁹⁰⁹ Denn es ist gerade ein Vorzug seines spezifischen neuzeitlichen Rechtsdenkens, dass er regionale Unterschiede anerkennt und auf der Grundlage der jeweiligen Sitten und Gebräuche unterschiedliche Regierungsformen für opportun hält. Frankreich galt ihm in dieser Hinsicht bereits im ersten Buch deswegen als vorbildhaft, weil dort die Bindung der Könige und des Adels an eine Fülle von Gesetzen allgemeine Rechtssicherheit zur Folge hatte (D I 16). Die Bindung der französischen Könige und Aristokratie an Gesetze, denen sie selbst zu gehorchen haben, durchzieht, wie gesehen, Machiavellis D i s c o r s i (D I 58). Seine Ablehnung richtet sich vor allem gegen den seines Erachtens nicht gangbaren Mittelweg (D III 2).
b) Verhängnisvolle Mischverfassungen Wie er in seiner D e n k s c h r i f t ü b e r d i e R e f o r m d e s S t a a t e s F l o r e n z warnend hervorhebt, hält er alle Staatsformen, die Elemente der Republik mit denen der Alleinherrschaft vermischen, für unzulänglich, unsicher und gefährlich: „Es läßt sich kein dauerhafter Staat errichten, wenn er nicht ein wahres Fürstentum oder eine wahre Republik ist. Alle Regierungsformen, die zwischen diesen beiden liegen, sind mangelhaft. Die Ursache ist sehr klar. Das Fürstentum hat nur einen Weg zu seiner Auflösung, daß es nämlich zur Republik herabsteigt; und ebenso hat die Republik nur einen Weg, sich aufzulösen, nämlich daß sie zur Monarchie aufsteigt. Die Staaten in der Mitte haben zwei Wege: sie können zum Fürstentum hinauf und zur Republik hinabsteigen, und hieraus entsteht ihre Unbeständigkeit.“⁹¹⁰ – ‚E quanto al confutare lo stato di Cosimo, e questo, che nessuno stato si può ordinare che sia stabile, se non è o vero principato o vera repubblica, perché tutti i governi posti in tra questi dua sono defettivi, la ragione è chiarissima: perché il principato ha solo una via alla sua resoluzione, la quale è scendere verso la repubblica; e cosí la repubblica ha solo una via da risolversi, la structure, such as the tribal assembly, still did not permit deliberation; citizens exclusively discussed laws in the less formal concioni, often days before formally deciding on them in Rome’s official voting assemblies”. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889 f., sieht dies grundsätzlich ebenso, betont aber eine kategorische Ablehnung monarchischer Herrschaft: „Insbesondere in den Discorsi wird nicht nur die Ablehnung aller Formen monarchischer Herrschaft deutlich, sondern auch seine Überzeugung, dass das Volk im Ganzen zum Hüter der republikanischen Freiheit eingesetzt werden muss“. Machiavelli, Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227, 233 f.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
277
quale è salire verso il principato. Gli stati di mezzo hanno due vie, potendo salire verso il principato o scendere verso la repubblica: donde nasce la loro instabilità‘⁹¹¹ Jede zusätzliche Variante verringert die Vorhersehbarkeit künftiger Entwicklungen mit ihrer unausweichlichen Gefahr der Entartung und vergrößert dadurch die unheilvolle Unsicherheit.
c) Herrschaftsverlust durch Gesetzbruch Dagegen lässt er bezüglich der Staatsformen zwar eine Vorliebe für die Republik erkennen.⁹¹² Er bemüht sich im Übrigen um eine abgewogene Beurteilung, die vor allem die lang erprobten Gesetze, Sitten und Gebräuche des betreffenden Landes nicht außer Betracht lässt, die bereits eine dauerhafte Anerkennung im Volk gefunden haben, nach denen es sich richtet und dementsprechend erwartet, dass auch Höhergestellte sie nicht missachten: „Die Machthaber mögen also wissen, dass sie ihre Herrschaft in der Stunde zu verlieren beginnen, in der sie anfangen, gegen die Gesetze, die alten Gebräuche und Gewohnheiten zu verstoßen, unter denen das Volk lange gelebt hat. Und wenn sie nach dem Verlust ihrer Herrschaft jemals so klug würden, einzusehen, wie leicht es ist, sich an der Macht zu halten, wenn man sich nur vernünftig benimmt, so müsste sie der Verlust noch weit mehr schmerzen und sie müssten sich selber weit härter bestrafen, als sie von den andern bestraft worden sind.“⁹¹³ – ‚Sappino adunque i principi come a quella ora ei cominciano a perdere lo stato, che cominciano a rompere le leggi e quelli modi e quelle consuetudini che sono antiche e sotto le quali lungo tempo gli uomini sono vivuti. E se privati che ei sono dello stato, ei diventassono mai tanto prudenti che ei conoscessono con quanta facilità i principati si tenghino da coloro che saviamente si
Machiavelli, Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, 1519, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 733, 737. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 964, stellt mit Recht fest, dass Machiavelli „überzeugter Republikaner“ war. Ebenso H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 275, der dies im werkimmanenten Zusammenhang erklärt: „Fehlt die virtu der Vielen, so muß sie durch die überragende virtu eines Einzelnen ersetzt werden. Von dieser grundlegenden Alternative her lassen sich auch die scheinbaren Widersprüche die zwischen dem Principe und den Discorsi bestehen, auflösen und erklären: Befaßte sich der Principe mit einer Situation, in der die ambizione der Menschen durch einen Fürsten eingeschränkt werden muß, so setzt der Republikanismus der Discorsi Bürger voraus, die ihre ambizione freiwillig und von sich aus limitiert haben und darum auch in der Lage sind, die Regierungsgewalt selbst auszuüben, ohne daß der Staat in einem politischen Chaos endet. Wiewohl Machiavelli beide Alternativen analysiert hat, hat doch seine Sympathie immer der republikanischen Lösung gegolten“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 284.
278
§ 4 Herrschaft der Gesetze
consigliano, dorrebbe molto piú loro tale perdita, ed a maggiore pena si condannerebbono che da altri fossono condannati‘ (D III 5). Wieder ist es die Dauer der Gesetzesgeltung bzw. des Bestehens einer Einrichtung oder einer Sitte, welche die Erinnerung und Gewöhnung des Volkes prägt. Wer diese habituellen Umstände beeinträchtigt, erregt Aufsehen und Widerwillen. In diesen Worten Machiavellis liegt neben einer klugen Beobachtungsgabe für die Belange und Gewohnheiten des Volkes viel Lebenserfahrung,⁹¹⁴ vor allem Sinn für Maß und Mitte, den er im zweiten Buch seiner D i s c o r s i mitunter vermissen lässt.⁹¹⁵
4. Rechtspsychologie und Rechtsökonomik avant la lettre Insofern ist es nur eine modifizierende Wiederholung, wenn er die Kraft der öffentlichen Meinung erneut betont und die Vorzüge preist, die es mit sich bringt, wenn man die Zuneigung der Gutgesinnten einmal erworben hat: „Ein Machthaber muss sich daher hüten, die öffentliche Meinung gegen sich zu haben. (…) Hütet er sich davor, so werden ihm einfache Verstöße, die er sich gegen Einzelne zu Schulden kommen lässt, weniger schaden, einmal, weil die Menschen selten J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 90, zeigt, dass ein solcher erfahrungsmäßiger Wissenszuwachs auch der Herstellung einer funktionsfähigen Demokratie und einem wohlgeordneten Gemeinwesen dient, allerdings auch an Funktionsbedingungen geknüpft ist, die mit einem gesetzlichen Wandel verbunden sein können: “The constitution of a Machiavellian Democracy, therefore, must ensure that the people’s elongated learning curve is permitted to yield beneficial knowledge over time, and furthermore it must provide the means for eventually enacting legal or institutional changes on the basis of that knowledge.” Hervorhebung nur hier. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 264, hat die Grundstimmung, in der das zweite Buch der Discorsi abgefaßt ist, biographisch treffend herausgearbeitet. Diese Perspektivlosigkeit spiegelt sich möglicherweise auch hier wieder und wird dadurch womöglich zu einem Erklärungsmuster: „Schon in der großartigen Einleitung schlägt das II. Buch eine völlig neue Tonart an. (…) Die Desorientierung und Unsicherheit, die der praktische Mißerfolg des Principe in ihm hervorgerufen hatte, wird nun durch den bestimmten Willen verdrängt, die Fehler und Verantwortlichkeit derer anzuklagen, die die italienischen Staaten in diesen Abgrund gestürzt hatten.“ In dieselbe Richtung ebenda, S. 266: „Doch der Mißerfolg des Principe, die bittere Enttäuschung, die in den Kapiteln des vorhergehenden Buches seinen Willen gebrochen und sein Interesse für die Dinge der Welt ausgelöscht hatte, trieben ihn jetzt, wo alle Aussichten vereitelt waren und sich jedes politische Handeln als unmöglich erwies, zu einem letzten Akt der Auflehnung. (…) Somit richtet sich Machiavellis Polemik nicht mehr wie im Principe auf den Entwurf eines Aktionsprogramms oder wenigstens, wie im ersten Buch der Discorsi, auf eine weitgespannte, gegliederte Staatsauffassung. Sie ist nur von dem Bestreben beseelt, Vergangenheit und Gegenwart zu verurteilen und ein durch Unwissenheit und Feigheit verursachtes Scheitern anzuprangern“.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
279
ein zugefügtes Unrecht so hoch anschlagen, dass sie sich aus Rache einer außerordentlichen Gefahr aussetzen, und zweitens, weil sie, selbst wenn sie Mut und Macht dazu hätten, wegen der allgemeinen Zuneigung, deren sich der Machthaber erfreut, davor zurückschrecken. Die Vergehen des Machthabers richten sich gegen das Vermögen, das Leben oder die Ehre. Bei denen gegen das Leben ist die Drohung gefährlicher als die Tat selbst, ja, die Drohung ist sogar äußerst gefährlich, während die Ausführung ohne jede Gefahr ist; denn der Tote kann nicht mehr auf Rache sinnen, und die Überlebenden überlassen den Gedanken daran meist dem Toten.“⁹¹⁶ – ‚Debbe adunque un principe fuggire questi carichi privati; (…) perché, guardandosi da questo, le semplice offese particulari gli faranno meno guerra. L’una, perché si riscontra rade volte in uomini, che stimino tanto una ingiuria che si mettino a tanto pericolo per vendicarla; l’altra, che quando pure ei fossono d’animo e di potenza da farlo, sono ritenuti da quella benivolenza universale che veggono avere ad uno principe. Le ingiurie conviene che siano nella roba, nel sangue o nell’onore. Di quelle del sangue sono piú pericolose le minacce che le esecuzioni; anzi le minacce sono pericolosissime e nelle esecuzioni non vi è pericolo alcuno: perché chi è morto non può pensare alla vendetta, quelli che rimangono vivi il piú delle volte ne lasciano il pensiero a te‘ (D III 6).
a) Kosten-Nutzenabwägung anstelle moralischer Handlungsanleitung Bevor man also die Maxime Machiavellis ungebührlich weichzeichnet, muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich auch hier um eine Klugheitsregel handelt. Bereits im zweiten Buch hat er ja aus gutem Grund jeglicher Drohung entraten (D II 26).⁹¹⁷ Machiavelli geht es jedoch nicht um das Gute um seiner selbst willen. Es ist keine moralische Handlungsanleitung, sondern eher das kühl kalkulierte Ergebnis einer Kosten- und Nutzenabwägung unter beständiger Berücksichtigung der Machtverhältnisse.⁹¹⁸ Wer sich als Machthaber auf die empfohlene Weise verhält, häuft gleichsam einen Kredit bei den Rechtsunterworfenen an, der ihm sogar geringfügige Zuwiderhandlungen gestattet, ohne dass sie den unmittelbaren Machtverlust zur Folge haben. Dieser Gesichtspunkt einer Kosten-NutzenKalkulation begegnete ja bereits weiter oben (D I 59).
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 286 f. Gleiches gilt für Beleidigungen; vgl. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 491 f. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 161, weiterführend zur Kalkulierbarkeit politischer Macht durch den Machthaber.
280
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Es entsteht der Eindruck, als nehme Machiavelli rechtspsychologische und beinahe rechtsökonomische Erkenntnisse vorweg, indem er aufzeigt, dass es sich auch unter im weitesten Sinne ökonomischen Gesichtspunkten lohnt, rechtstreu und zugunsten der Wohlgesonnenen zu handeln.⁹¹⁹ Denn selbst wenn die verbleibenden Übelgesonnenen bei geringfügigen Zuwiderhandlungen des Machthabers gegen ihn aufbegehren, dann gehen sie angesichts der wohlwollenden öffentlichen Meinung ein zu großes Risiko ein, wenn sie ihren Rachegelüsten nachgeben. Wie kalkulierend Machiavelli die jeweiligen Handlungsoptionen zueinander ins Verhältnis setzt, veranschaulicht paradigmatisch seine Beobachtung, die nicht von ungefähr das Schachspiel beherrscht: Die Drohung ist stärker als die Ausführung.⁹²⁰
b) Gesetzesgehorsam als Risikominimierung Auch daran zeigt sich, dass es keine Moralität ist, die Machiavelli im Sinn hat, wenn er dem Machthaber rät, es den Wohlgesinnten recht zu machen und die Gesetze einzuhalten. Denn dieser minimiert dadurch zugleich das Risiko eines Umsturzes, wie er in einem der dunkelsten Abschnitte der D i s c o r s i wissen lässt, die, wären sie kürzer, wohl eher im P r i n c i p e ihren Platz haben könnten:⁹²¹ „Ein Machthaber, der sich vor Verschwörungen schützen will, muss daher die, denen er zu viel Wohltaten erwiesen hat, mehr fürchten als die, denen er zu viel Ungerechtigkeiten zugefügt hat; denn den letzteren fehlt es an Gelegenheit, woran die ersteren übergenug haben. Die böse Absicht aber ist bei beiden gleich stark: denn die Herrschsucht ist ebenso groß, wenn nicht noch größer als die Rachsucht. Ein Machthaber darf daher seinen Günstlingen nur so viel Ansehen geben, dass zwischen diesen und ihm immer noch ein Abstand bleibt und in der Mitte immer noch etwas Begehrenswertes liegt.“⁹²² – ‚Debbe adunque uno principe che si vuole guardare dalle congiure, temere piú coloro a chi elli ha fatto troppi piaceri che quegli a chi egli avesse fatte troppe ingiurie: perché questi mancano di commodità, quelli Ähnliches lässt sich ein halbes Jahrhundert später bei Montaignes beobachten; vgl. dazu J. Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019. S. Tartakower, Les Cahiers de l’Echechier Français, 28 (1932) 373: „la menace et plus forte que l’exécution“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 297, beurteilt das Kapitel ausgewogen: „Das überdurchschnittlich lange Kapitel über die Verschwörungen, das von taciteischen mehr noch als von livianischen Elementen durchwoben ist, enthält eher bekannte ‚Lehrmeinungen‘ als neue Theorien und ist weniger für die Geschichte des Denkens Machiavellis als vielmehr als Quelle und Vorwegnahme gewisser Themen des späteren ‚Tacitismus‘ bedeutsam“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 290 f.
I. Rückführung der Gesetze auf ihren Ursprung
281
ne abbondano; e la voglia è simile, perché gli è cosí grande o maggiore il desiderio del dominare che non è quello della vendetta. Debbono pertanto dare tanta autorità agli loro amici, che da quella al principato sia qualche intervallo, e che vi sia in mezzo qualche cosa da desiderare‘ (D III 6). Diese ebenso paradox wie zynisch anmutende Erwägung ist gleichsam der komplementäre Gesichtspunkt im Verhältnis zu der oben genannten Maxime. So überzeugend sie klingt, wird in ihr doch vorausgesetzt, dass die Herrschsucht alle anderen negativen Eigenschaften in den Schatten stellt. Das entspricht taciteischem Denken und findet sich fast wörtlich in den Annalen.⁹²³ Machiavelli sieht deutlich, dass eben nicht nur der Machthaber herrschsüchtig ist, sondern auch alle, die ihn umgeben, ohne dies freilich zum Ausdruck bringen zu dürfen. Sätze wie der zuletzt zitierte lesen sich wie unmittelbar dem P r i n c i p e entnommen. Sie veranschaulichen unmittelbar, warum Machiavelli bei seinen Zeitgenossen für seine schwarze Seele berüchtigt war.⁹²⁴
5. Kosten- und Nutzenabwägung an Stelle der Ethik Dabei hat er vor allem die Erfahrungen der Geschichte seiner Heimatstadt verinnerlicht, dessen vornehmsten Bürger er sagen lässt: „Die Pflicht eines weisen und guten Bürgers, glaube er, sei, die gewohnten Einrichtungen einer Vaterstadt nicht umzustürzen. Nichts sei den Menschen so schädlich als die Veränderung derselben; denn man müsse viele verletzen, und wo viele unzufrieden seien, habe man täglich ein schlimmes Ereignis zu befürchten. (…) Denn die Menschen seien von Natur bereiter zur Rächung der Unbilden als zur Dankbarkeit für die Wohltaten, da die Dankbarkeit Schaden bringe, die Rache Nutzen und Vergnügen zu bringen scheine.“⁹²⁵ – ‚Al quale Giovanni rispose che l’uffizio di un savio e buono cittadino credeva essere non alterare gli ordini consueti della sua città, non sendo cosa che offenda tanto gli uomini quanto il variare quegli: perché conviene offendere molti, e dove molti restono male contenti si può ogni giorno temere di qualche cattivo accidente. (…) Sendo gli uomini naturalmente piú pronti alla vendetta della
Tacitus, Annales, 15, 53, 4: ,nisi si cupido dominandi cunctis affectibus flagrantior estʻ. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 7, zitiert den päpstlichen Gouverneur von Modena namens Filippo de’ Nerli, der Machiavelli (in der von Reinhardt selbst besorgten Übersetzung) sinngemäß schrieb: „Ich sage Euch, dass Ihr ein durch und durch schädlicher Mensch seid und dass ich Euch nicht in meinem Haus haben möchte … Von Grund auf destruktiv seid Ihr, im Wesen schwärzer als Kohle“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 223 f.
282
§ 4 Herrschaft der Gesetze
ingiuria che alla gratitudine del benefizio, parendo che questa ci arrechi danno, quell’altra utile e piacere‘ (IF IV 10). Die schadenstiftende Wirkung der Dankbarkeit, wenn sie als verpflichtende Last empfunden wird und daher Hass gebiert, ist übrigens ebenfalls ein taciteisches Motiv.⁹²⁶ Die Synthese der einleitend dargestellten Maxime und ihrer zuletzt berücksichtigten Komplementärüberlegung fasst Machiavelli selbst in folgender Alternative zusammen: „Man muss die Menschen entweder gut behandeln oder sich vor ihnen sichern.“⁹²⁷ – ‚Perché gli uomini si hanno o accarezzare o assicurarsi di loro‘ (D III 6). Es ist für ihn weniger eine Frage der Ethik als vielmehr der Nutzenund Kostenabwägung, welche der beiden Handlungsmöglichkeiten vorzugswürdig ist.⁹²⁸ Während die gute Behandlung durch den Gesetzesgehorsam, insbesondere das Gebot des neminem laedere, umfassend zu gewährleisten ist, sind die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der eigenen Person wegen der Reichweite der menschlichen Bosheit unendlich und können daher niemals mit absoluter Gewissheit erschöpfend getroffen werden.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse Zu den Themen, denen sich Machiavelli immer wieder widmet, gehört der Zusammenhang zwischen Gesetzgebung und Sittenverfall.⁹²⁹ Haben sich schlechte Sitten einmal verfestigt, so reicht die Lebenszeit eines Einzelnen für gewöhnlich nicht aus, einen vollständigen Sittenwandel abzuwarten oder gar herbeizuführen (D I 18). Aber selbst die Einsicht in die Schlechtigkeit des Menschen veranlasst
Tacitus, Annales, 4, 18, 3: „pro gratia odium redditur“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 298. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 397, fasst prosaisch und rechtsphilosophisch folgenreich zusammen: „Politik und Ethik gehen seit Machiavelli getrennte Wege – und sie gehen diese getrennten Wege auch dort noch, wo Machiavellis oberstes Ziel staatlicher Selbsterhaltung längst durch ethisch anspruchsvollere Perspektiven wie Freiheit und Gerechtigkeit ersetzt worden ist.“ – So richtig dies ist, darf man nicht übersehen, dass auch Machiavelli bereits über Freiheit und Gerechtigkeit nachdenkt (D I 2), auch wenn er damit noch nicht die heutigen Vorstellungen von absoluter Rechtsgleichheit verbindet. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 161, paraphrasiert mit aufschlussreicher Erklärung im Klammerzusatz: „Nach der Bemerkung, daß ‚sich weder Gesetze noch Einrichtungen finden, die ausreichen, um eine allgemeine Sittenverderbnis im Zaume zu halten‘ (denn diese Gesetze und Einrichtungen setzten eine gute, nunmehr aber zerrüttete Materie voraus), packt Machiavelli entschieden den Kern der Frage an“.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse
283
Machiavelli noch nicht dazu, darin eine Gefahr für ein intaktes Staatswesen zu erblicken. Vielmehr geht er davon aus, „dass ein schlechter Bürger in einem Freistaat mit unverdorbenen Sitten nichts Böses anrichten kann.“⁹³⁰ – ‚Egli si è di sopra discorso come uno tristo cittadino non può male operare in una republica che non sia corrotta‘ (D III 8).
1. Gesetzliche Vorsorge gegen den Sittenverfall in der Republik Sitten und Gewohnheiten sind eben über so lange Zeiträume entstanden, dass ein einzelner, noch so übel gesonnener Bürger unter gewöhnlichen Umständen nicht in der Lage sein wird, einen Umsturz herbeizuführen. Diesen relativierenden Maßstab, der die überschaubare Lebensspanne eines Einzelnen zu den über Jahrhunderte eingeübten Verhaltensweisen, Lebensformen und Sitten ins Verhältnis setzt, legt Machiavelli verschiedentlich an (IF IV 1).
a) Beschränkte Wirksamkeit von Gesetzen in verkommenen Freistaaten Auf der anderen Seite ist er realistisch genug, die Gefahren zu wittern, die in sittlich heruntergekommenen Republiken von machthungrigen Individuen drohen. Gesetze helfen in sittlich verkommenen Freistaaten nur bedingt, weil und sofern sie umgangen werden können. Sie entfalten also keinen so wirksamen Schutz gegen Verschwörungen in einem Freistaat, wie es eine solche Imprägnierung vermag. Gesetze bedürfen also eines gewissen sittlichen Fundaments, um einen wirkungsvollen Schutz vor Verschwörungen zu gewährleisten:⁹³¹ „Bei der Vorbereitung einer Verschwörung gegen den Staat gibt es nicht viel Gefahren, weil ein Bürger zur Macht gelangen kann, ohne jemandem seine Gesinnung und seine Pläne mitzuteilen. Wird er dabei nicht gestört, so kann er sein Unternehmen glücklich zu Ende führen. Wird er aber durch ein Gesetz gehindert, so kann er die Zeit abwarten und einen andern Weg einschlagen. Dies gilt nur für Freistaaten, wo schon einige Sittenverderbnis eingerissen ist. Denn in einem unverdorbenen Freistaat herrschen noch keine schlechten Grundsätze; daher kommt auch kein Bürger auf solche Gedanken. Die Bürger können also mit mancherlei Mitteln und auf mancherlei Wegen zur Macht streben, ohne Gefahr zu laufen, unterdrückt zu Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 310. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 469, betont die Janusköpfigkeit im guten Sinne: „Machiavellis berühmte Abhandlung über die Verschwörungen etwa kann beiden Lagern nützlich sein – Verschwörern ebenso wie denjenigen, die sich vor Verschwörungen schützen wollen“.
284
§ 4 Herrschaft der Gesetze
werden. Denn Freistaaten sind langsamer, weniger argwöhnisch und daher auch weniger vorsichtig als Alleinherrscher.“⁹³² – ‚Nel maneggiarle non vi è pericoli molti: perché uno cittadino può ordinarsi alla potenza sanza manifestare lo animo e disegno suo ad alcuno; e se quegli suoi ordini non gli sono interrotti, seguire felicemente la impresa sua; se gli sono interrotti con qualche legge, aspettare tempo ed entrare per altra via. Questo s’intende in una republica dove è qualche parte di corrozione; perché in una non corrotta, non vi avendo luogo nessuno principio cattivo, non possono cadere in uno suo cittadino questi pensieri. Possono adunque i cittadini per molti mezzi e molte vie aspirare al principato, dove e’ non portano pericolo di essere oppressi: sí perché le republiche sono piú tarde che uno principe, dubitano meno, e per questo sono manco caute‘ (D III 6). Gerade in diesem Kapitel über die Verschwörungen findet sich übrigens nicht nur eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Historien des Tacitus.⁹³³ Vielmehr gibt es auch unausgesprochene Verweise auf die pisonische Verschwörung, die dieser in seinen Annalen ausführlich schildert.⁹³⁴
b) Gesetzliche Vorsoge in der Republik und Gesetze in Händen des Herrschers Republiken bergen also nicht zuletzt infolge ihrer Statik und Konstanz ein gewisses Gefährdungspotenzial. Insofern muss hier durch Gesetze Vorsorge getroffen werden. Es ist nicht ganz klar, was Machiavelli damit meint, dass ein Umstürzler in einer solchen Situation einfach nur zuwarten müsse. Unter einer Alleinherrschaft jedenfalls richtet auch dies wenig aus, wenn man seiner Folgerung aus dem P r i n c i p e glauben darf, die neben der beunruhigenden Wirkung menschlicher Leidenschaften eine deutliche Asymmetrie der Mittel erkennen lässt, wobei er die Gesetze neben allen anderen Insignien der Macht im Rechtskreis ansiedelt: „Um es kurz zu machen, sage ich, daß unter den Verschwörern immer nur Angst, Eifersucht und Furcht vor Strafe herrschen. Auf Seiten des Herrschers stehen die Majestät des Staats, die Gesetze, der Schutz durch die Freunde und die Staatsgewalt, die ihn verteidigen.“⁹³⁵ – ‚E per ridurre la cosa in brevi termini, dico che da la parte del coniurante non è se non paura, gelosia e sospetto di pena che lo sbigottisce: ma da la parte del principe è la maestà del
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 305. Tacitus, Historiae, 4, 8. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 297, betont, wie weiter oben zitiert, mit Recht den im Vergleich zu Livius stärkeren taciteischen Einfluss dieses Kapitels. Tacitus, Annales, 15, 49 f.; 54. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 76 f.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse
285
principato, le leggi, le difese delli amici e dello stato che lo difendono‘ (P XIX).⁹³⁶ Solange entsprechende Gesetze in Kraft bleiben und sich – diese Bedingung ist allerdings wesentlich – die Sitten nicht entscheidend verschlechtert haben, droht einer Republik kein Schaden. Denn ein festes sittliches Fundament kann im Verein mit einer wirksamen Gesetzgebung einen wirksamen Schutz gegen Umsturzpläne vermitteln (D II 6).
c) Neidbedingte Fehleinschätzung der Gesetze Auch dies lehrt ihn die Geschichte Roms. Machiavelli berichtet von dem Fall, dass ein ursprünglich wohlgelittener Bürger, der zu Ehren gekommen war, nach Höherem strebte und die Herrschaft an sich reißen wollte, weil ihn neben der Herrschsucht Neid trieb: „Dieser macht ihn derart blind, dass er ohne Rücksicht auf die römischen Lebensgewohnheiten und ohne Prüfung des damaligen Zustands der Stadt, der sich noch für keinen Umsturz eignete, in Rom Aufruhr gegen den Senat und die heimatlichen Gesetze stiftete. Hieraus erkennt man die Vollkommenheit dieses Staats und die Trefflichkeit seiner Substanz.“⁹³⁷ – ‚E venne in tanta cecità di mente, che non pensando al modo del vivere della città, non esaminando il suggetto, quale esso aveva, non atto a ricevere ancora trista forma, si misse a fare tumulti in Roma contro al Senato e contro alle leggi patrie. Dove si conosce la perfezione di quella città e la bontà della materia sua‘ (D III 8). Der gescheiterte Umsturzversuch endete mit der Todesstrafe für den Aufrührer, der die Festigkeit der Republik, insbesondere ihrer Gesetze und Einrichtungen, unter-
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, 2019, S. 105, macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass „Machiavellis il stato – jene neue Entität, die sich mit der von juristisch geschulten Beamten rationalisierten öffentlichen Verwaltung herausgebildet hat – der Gegenstand des modernen Vernunftrechts überhaupt ist“. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 27 f., macht auf einen ähnlichen Gesichtspunkt aufmerksam, der von einem anderen Ausgangspunkt her (P VII) in dieselbe Richtung führt: “In conventional Weberian terms, the policies of a new prince must be enacted, at first, by agents with whom he has a directly personal relationship, and then subsequently by more formal and impersonal institutions. According to Weber, this can eventually lead to the establishment of a legally rational form of government, such as the modern Rechtsstaat, one that is free, at least theoretically, of any personal relations of subordination.” Hervorhebung auch dort. Grundlegend ders., Weber, Habermas, and Transformations of the European State, 2006; ders., Transcending Weber’s Categories of Modernity?, Left and Right ‚Weberians‘ on the Rationalization Thesis in Interwar Central Europe, New German Critique 75 (1998) 133. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 311.
286
§ 4 Herrschaft der Gesetze
schätzt hatte.⁹³⁸ Bemerkenswert ist, dass er zugleich seine ursprüngliche Beliebtheit beim Volk überschätzt hatte, wurde es doch „nichtsdestoweniger vom Verteidiger zum Richter und verurteilte ihn ohne jede Rücksicht zum Tode.“⁹³⁹ – ‚Il popolo di Roma, desiderosissimo dell’utile proprio ed amatore delle cose che venivano contro alla Nobilità, avvenga che facesse a Manlio assai favori, nondimeno come i Tribuni lo citarono e che rimessono la causa sua al giudicio del popolo, quel popolo, diventato di difensore giudice, sanza rispetto alcuno lo condannò a morte‘ (D III 8).
2. Zeitlich-dynamisches Moment bei Gesetzen und Sitten Die Lehre, die Machiavelli daraus zieht, gründet in einem Prinzip, das er bereits im ersten Buch verschiedentlich angesprochen und das für seine dem Geist der Renaissance entsprechende Sicht bezeichnend ist:⁹⁴⁰ die Berücksichtigung der Zeitverhältnisse, denen sich das Handeln anzupassen hat. Davon war bereits die Rede, wenn auch in der Ausprägung beschränkter Lebenszeit im Verhältnis zu langlebigen Institutionen und Bräuchen (IF IV 1).
a) Abhängigkeit der Stabilität der Gesetze von wandelbaren Sitten Bevor darauf näher eingegangen werden kann, muss zunächst betrachtet werden, inwieweit die Gesetze, die ihrer Art nach zumindest für eine gewisse Zeit feststehend sind, von Sitten abhängig sind, die sich ihrerseits wandeln können. Davon handelte Machiavelli, wie erinnerlich, im ersten Buch der D i s c o r s i , wo er
G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 240: „Doch Machiavelli weiß auch (und hier liegt die Stärke und Originalität seiner Anschauung), daß das Problem auf dieser Ebene nicht gelöst werden kann; denn von verschiedenen Republiken kann man nicht so sprechen, als wären sie ein und dieselbe“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 311. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 889, verdeutlicht allerdings den damit einhergehenden Bruch mit der Naturrechtstradition: „Der Bruch war für die humanistisch gebildeten Zeitgenossen umso auffälliger, als Machiavelli in jeder anderen Hinsicht dem zeitgenössischen Interesse an der Wiederbelebung antiker Denkmuster zu folgen schien – mit der Wahl der literarischen Gattung des Fürstenspiegels, mit dem entsprechend personalisierenden Blick auf die Figur des Herrschers und dem Anspruch ‚die Fürsten regieren lehren zu wollen‘, mit der Wahl seiner Themen und Vorbilder aus der griechischen und römischen Geschichte und vor allem mit seiner leidenschaftlichen Option für Rom als klassisches Vorbild republikanischer Freiheit“.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse
287
der Sache nach voraussetzte, dass gute Gesetze und gute Sitten einander bedingen (D I 18).
aa) Erfolgsabhängigkeit von den politischen Zuständen Es geht der Sache nach wiederum um die schon früher erkannte Interdependenz von Sitten und Gesetzen, die bereits am Beispiel einer Stelle aus dem P r i n c i p e behandelt wurde (P XII). Denn die Abhängigkeit der Stabilität von Institutionen und Gesetzen vom Verderbtheitsgrad der Sitten ist in der Zeit wandelbar und enthält somit ein dynamisches Moment, das nicht ein für alle Mal statisch feststeht:⁹⁴¹ „Zweierlei ist hierbei zu beachten: erstens, daß man in einem Staat mit verderbten politischen Sitten auf anderen Wegen zu Ruhm kommt als in einem solchen, der noch verfassungsgemäß lebt; zweitens – und dies ist fast das gleiche – daß die Menschen bei allem, was sie tun, besonders aber, wenn sie etwas Großes vorhaben, die Zeitverhältnisse in Betracht ziehen und sich danach richten müssen.“⁹⁴² – ‚Dove sono da considerare due cose: l’una, che per altri modi si ha a cercare gloria in una città corrotta che in una che ancora viva politicamente; l’altra (che è quasi quel medesimo che la prima), che gli uomini nel procedere loro e tanto piú nelle azioni grandi debbono considerare i tempi ed accommodarsi a quegli‘ (D III 8). Der individuelle Erfolg ist also nach der erstgenannten Aussage abhängig von den politischen Zuständen. Je nachdem, ob diese geordnet oder die Sitten verroht sind, ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten zur Entfaltung der virtú.
H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 97, stellt dies in einen größeren Zusammenhang und erläutert die Bedeutung der Freiheit im Verhältnis zur Sicherheit, wobei er die Unterschiede zwischen dem Principe und den auf die Staatsform des Freistaats zugeschnittenen Discorsi aber wohl zu sehr einebnet: „Immer wieder suchen Machiavellis politische Studien die Bedingungen herauszufinden und zu präzisieren, die für die Sicherung der Stabilität des Staatswesens und dessen Kraftentfaltung nach außen erfüllt sein müssen. Die Stabilität und Dauerhaftigkeit des Staates, nicht die Freiheit der Bürger, macht den zentralen Imperativ des Principe und der Discorsi aus. Das heißt jedoch nicht, daß sich Machiavelli für die Freiheit der Bürger nicht interessiert hätte, im Gegenteil; aber er erhob sie nicht zur Konstanten seiner politischen Theorie, sondern beließ sie auf der Ebene einer Variablen. Anders formuliert: Machiavelli war davon überzeugt, daß freie Bürger in der Regel die beste Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit und Stabilität der Staaten seien, doch sollten sie fehlen, war er auch bereit, andere Mittel zur Erreichung seiner Ziele ins Auge zu fassen. Der scheinbare Widerspruch, der von der Machiavelli-Interpretation immer wieder zwischen dem Principe und den Discorsi konstruiert worden ist, beruht im Grunde auf diesem Problem“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 312.
288
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Machiavelli bezieht sich bei dieser Erkenntnis auf ein Livius-Zitat.⁹⁴³ Doch zeigt sich im direkten Vergleich mit diesem paradigmatisch, auf welche Weise Machiavelli durch die Vorlage zu genuin eigenen Einsichten gelangt. Die Bedeutung der sich wandelnden Zeitumstände verdeutlicht zugleich eine Abkehr von absoluten Vorstellungen, wie sie im Mittelalter noch gegolten haben mochten. Der darin aufscheinende Relativismus, der auch im Hinblick auf Gesetze und Einrichtungen, wie eingangs gesehen, eine Abhängigkeit von Zeit und Raum hinsichtlich der Reichweite und Geltung von Gesetzen voraussetzt (D I 1), gehört gleichfalls zum Rechtsdenken der Renaissance, das bei Machiavelli zudem eine individualistische Einfärbung aufweist und zu folgender aphoristischer Einsicht führt: „Nur wer mit der Zeit geht, wird auf die Dauer Glück haben.“⁹⁴⁴ – ‚Come conviene variare co’ tempi, volendo sempre avere buona fortuna‘ (D III 9).⁹⁴⁵
bb) Wechselbezüglichkeit im werkimmanenten Zusammenhang Wie sehr die D i s c o r s i trotz aller Unterschiede im Einzelnen auf den P r i n c i p e bezogen sind und mit ihm zusammenhängen, zeigt übrigens gerade diese Stelle, wenn man sie zu einer entsprechenden aus dem P r i n c i p e ins Verhältnis setzt: „Davon hängt auch der Wechsel des Glücks ab. Wenn demnach einer mit Bedacht und Geduld verfährt und seine Methode der Zeit und den Verhältnissen entspricht, so kommt er vorwärts; doch wenn sich die Zeiten und die Verhältnisse ändern, so geht er zugrunde, weil er seine Methode nicht ändert. Es gibt kaum einen so klugen Menschen, der es verstünde, sich den Zeiten anzupassen; denn niemand kann gegen seine natürliche Anlage handeln und ferner kann sich niemand entschließen, von einem Weg abzugehen, den er stets mit Erfolg gegangen hat.“⁹⁴⁶ – ‚Da questo ancora depende la variazione del bene; perché se uno, che si governa con rispetti e pazienzia, e’ tempi e le cose girano in modo che il governo suo sia buono, e’ viene felicitando, ma se e’ tempi e le cose si mutano, rovina, perché e’ non muta modo di procedere. Né si truova uomo sí prudente che si Livius, Ab urbe condita, 6, 20, 14: ,Hunc exitum habuit vir, nisi in libera natus esset, memorabilisʻ. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 313. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 17, macht eine unerwartete mögliche Quelle für Machiavellis Blick auf das Glück aus, von der jedoch zweifelhaft ist, ob sie auch die vorliegende Einsicht berührt: „Aber die leitenden Ideen, von denen er bei der Behandlung dieser Frage (sc. nach dem Einfluss des Glückes auf die Handlungen des Staatsmannes) ausging, hat ihm wohl Curtius Rufus geliefert. Denn wie Machiavelli verlangt Curtius, dass man sich dem Glück nicht rückhaltlos überliefern und sich von ihm nicht unterjochen lassen soll“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 104.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse
289
sappia accomodare a questo: sí perché non si può deviare da quello a che la natura lo inclina, sí etiam perché, avendo sempre uno prosperato camminando per una via, non si può persuadere che sia bene partirsi da quella‘ (P XXV). Es scheint, als habe Machiavelli nicht nur die im späteren Verlauf der Geistesgeschichte im Zusammenhang mit der Problematik der Willensfreiheit aufkommende Möglichkeit der Unveränderbarkeit des Charakters vorweggenommen,⁹⁴⁷ sondern auch elementare Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie vorhergesehen. Dabei könnte ihm ein Blick auf die seinerzeitige ökonomische Krise seiner Heimatstadt geholfen haben.⁹⁴⁸ Dieser letztgenannten anthropologischen Einsicht entspricht eine andere Stelle der D i s c o r s i : „Auch täuscht sich der Mensch in Dingen, die ihn selbst betreffen, und am meisten in denen, die er sehnlichst herbeiwünscht.“⁹⁴⁹ – ‚Appresso s’ingannano nelle cose loro, ed in quelle massime che desiderono assai‘ (D III 8). Hieran zeigt sich der werkimmanente Zusammenhang zwischen beiden Hauptwerken, die ungeachtet ihrer unterschiedlichen Zielrichtung und Zwecksetzung – jedenfalls im Hinblick auf die hier interessierende Gesetzgebung – keine gedanklichen Brüche oder etwaigen Opportunitätsgesichtspunkten geschuldeten Inkohärenzen erkennen lassen.
b) Anpassung des Handelns der Rechtssubjekte an die Zeitverhältnisse Entscheidend ist also nach Machiavellis weiterer Einsicht innerhalb des im Ausgangspunkt betrachteten Gedankens (D III 8), dass der Einzelne sein Handeln an die Zeitverhältnisse anpasst.⁹⁵⁰
Dazu J. Petersen, Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017, S. 109 f. Grundlegend H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 325. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 281, spannt den Bogen zu den Gesetzen: „Die Metapher mit der Natur, der Vergleich zwischen einem Staatsorganismus und einem Naturgebilde, der hier wie an vielen anderen Stellen des Werkes Machiavellis steht, drückt mit Phantasie die Vorstellung aus, daß die Außenpolitik nicht stark sein kann, wenn das Innere einer Stadt so beschaffen ist, daß sie von ihren eigenen Eroberungen überwältigt werden kann; denn gute Gesetze, gute Verfassungen, ja selbst gute Waffen reichen nicht aus, wenn es einer Stadt an Männern gebricht, die alle diese Faktoren den konkreten Erfordernissen der Zeit anpassen können“.
290
§ 4 Herrschaft der Gesetze
aa) Diversifizierung und unterschiedliche Anpassungsfähigkeit Betont Machiavelli weiter oben die potenziellen Nachteile der Konstanz und Behäbigkeit einer Republik als Staatsform, so ist es im Hinblick auf die allfällige Anpassung des Handelns an die Zeitverhältnisse eher ein Vorteil im Verhältnis zur Alleinherrschaft: „Dies ist auch der Grund, warum eine Republik eine längere Lebensdauer und länger Glück hat als eine Alleinherrschaft. Die Republik kann sich bei der verschiedenen Veranlagung ihrer Bürger besser den verschiedenen Zeitverhältnissen anpassen als ein Alleinherrscher. Denn ein Mensch, der an eine bestimmte Art zu handeln gewöhnt ist, ändert sich, wie gesagt nie und muss, wenn die veränderten Zeitverhältnisse zu seinen Methoden nicht mehr passen, notwendig scheitern.“⁹⁵¹ – ‚Quinci nasce che una republica ha maggiore vita ed ha piú lungamente buona fortuna che uno principato, perché la può meglio accomodarsi alla diversità de’ temporali, per la diversità de’ cittadini che sono in quella, che non può uno principe. Perché un uomo che sia consueto a procedere in uno modo, non si muta mai, come è detto; e conviene di necessità che quando e’ si mutano i tempi disformi a quel suo modo che rovini‘ (D III 9). Bedeutsam an dieser Stelle ist der Gesichtspunkt der Diversifizierung. Denn ebenso wie die Gesamtheit der Bürger innerhalb einer Republik eine Vielfalt von Wissen in sich vereinigt und für seine Zwecke nutzbar machen kann, erhöht die Verschiedenheit der Zahl der Rechtssubjekte auch die potenzielle Anpassungsfähigkeit.
bb) Berücksichtigung individuellen Wissens Hier kommt wiederum der Gesichtspunkt der Wissenszusammenrechnung zum Tragen, den Machiavelli, wie bereits gesehen, an vielen Stellen voraussetzt und der mit der von ihm erkannten Macht der öffentlichen Meinung zusammenhängt.⁹⁵² Selbst in der Masse berücksichtigt Machiavelli entsprechend seinem individualistischen Ansatz auch die einzelnen Individuen mit ihrem jeweiligen Wissen, Können und ihrer, wenn auch eingeschränkten, Möglichkeit, sich neuen Zeitumständen entsprechend zu verhalten. Auch darin liegt ein Gedanke, der später von Adam Smith weiterentwickelt werden wird.⁹⁵³ Denn Wirtschaften bedeutet in besonderer Weise ein sich Anpassen an die jeweiligen tatsächlichen und
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 314 f. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, S. 77, hat, wie bereits weiter oben dargestellt, von einem anderen Ausgangspunkt her der Sache nach in dieselbe Richtung argumentiert. J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017.
II. Gesetzgebung und Anpassung an die Zeitverhältnisse
291
ökonomischen Gegebenheiten.⁹⁵⁴ Die Erfolgsabhängigkeit individuellen Handelns von der Anpassung an die Zeitverhältnissen bildet auch ein Grundthema des P r i n c i p e : „Auch glaube ich, daß nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt, wie der erfolglos sein wird, dessen Vorgehen nicht mit den Zeitverhältnissen übereinstimmt.“⁹⁵⁵ – ‚Credo ancora che sia felice quello che riscontra il modo del procedere suo con la qualità de’ tempi: e similmente sia infelice quello che con il procedere suo si discordano e’ tempi‘ (P XXV). Anders als in der zuletzt zitierten Stelle aus den D i s c o r s i , welche die Republik behandelt, geht es hier getreu dem Titel der Abhandlung um den Einzelnen.⁹⁵⁶ Aber die Anpassung an die Zeitverhältnisse als Voraussetzung möglichst langlebigen Erfolgs ist beiden Staatsformen bzw. Regierungsweisen gemein. Wer sich den Erfordernissen seiner Zeit widersetzt, ist früh oder später dem Untergang geweiht. Umgekehrt ist erfolgreich, wer die Zeichen der Zeit erkennt (P XXV).⁹⁵⁷ In seiner D e n k s c h r i f t ü b e r d i e R e f o r m d e s S t a a t e s v o n F l o r e n z gibt er Papst Clemens VII. aus dem Hause Medici überraschend unverblümt zu verstehen,⁹⁵⁸ dass seine Vorfahren in Florenz so lange erfolgreich und bewundert regierten, wie sie den Kontakt zum Volk hielten, dagegen verhasst
W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage 1990, S. 4, bringt es auf den Punkt: „Wirtschaften ist anpassen.“ Näher J. Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 103 f. Der ursprüngliche Titel lautet zwar ‚De principatibus‘, doch hat sich ‚Il Principe‘ durchgesetzt. Weiterführend G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 153, zum anspruchsvollen Verhältnis der beiden abschließenden Kapitel zueinander: „Allerdings spricht Machiavelli im XXVI. Kapitel des Principe in einem nur zu oft hervorgehobenen ‚prophetischen‘ Ton von so günstigen ‚Umständen‘ der Zeiten, daß schon ein kurzes Eingreifen der Virtu genüge, um aus ihnen die denkbar günstigsten Situationen zu schaffen. (…) Doch das letzte Kapitel des Principe hat eine so komplexe Geschichte hinter sich und setzt so wesentlich die Entwicklung der Gedanken voraus, die sich in der kurzen Abhandlung überkreuzen und sich im XXV. Kapitel gegenüberstehen, daß die Annahme, es außerhalb dieser Geschichte und dieser Entwicklung als absolutes Kriterium der Interpretation verwenden zu können, völlig abwegig ist.“ Zum genannten ‚prophetischen‘ Ton mit anderer Ausrichtung weiterführend J. P. McCormick, Prophetic Statebuilding: Machiavelli and the Passion of the Duke, Representations 115 (2011) 1. Zu dem genannten Clemens VII. kunst- und rechtsgeschichtlich wichtig H. Bredekamp, Der Künstler als Verbrecher. Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie, 2005, S. 32; bedeutsam ist insbesondere sein dort (S. 9 ff.) geprägter Begriff der ‚Rechtsenthobenheit‘.
292
§ 4 Herrschaft der Gesetze
wurden, als sie sich von ihm abhoben und dadurch die erforderliche Angleichung an die Zeitverhältnisse vermissen ließen.⁹⁵⁹
c) Grenzen individueller Leistungsfähigkeit gegenüber dem Staatswesen So charismatisch und fähig also der Alleinherrscher auch sein mag, bleibt er gleichwohl in der conditio humana befangen, weil er sich nur bedingt ändern kann und seiner Vorgehensweise für gewöhnlich treu bleibt: „Das wir uns nicht ändern können, hat zwei Gründe: erstens können wir uns unserer eigenen Natur nicht widersetzen, zweitens ist es unmöglich, einen Menschen, der bei einer bestimmten Art zu handeln viel Glück gehabt hat, zu überzeugen, daß es gut sein kann, auch einmal anders zu handeln. Daher kommt es, daß das Glück eines Menschen wechselt; denn die Zeiten ändern sich, er aber ändert seine Methoden nicht. Auch der Untergang der Staaten kommt daher, wenn sich ihre Einrichtungen nicht mit den Zeitnotwendigkeiten ändern, wie ich oben ausführlich dargelegt habe.“⁹⁶⁰ – ‚E che noi non ci possiamo mutare, ne sono cagioni due cose: l’una, che noi non ci possiamo opporre a quello a che c’inclina la natura; l’altra, che avendo uno con uno modo di procedere prosperato assai, non è possibile persuadergli che possa fare bene a procedere altrimenti: donde ne nasce che in uno uomo la fortuna varia, perché ella varia i tempi ed egli non varia i modi. Nascene ancora le rovine delle cittadi, per non si variare gli ordini delle republiche co’ tempi, come lungamente di sopra discorremo‘ (D III 9). Die betreffende Stelle, auf die Machiavelli hier verweist, wurde bereits behandelt D (III 1). Zudem zeigt sich wiederum die beinahe wörtliche Übereinstimmung mit der schon zitierten Stelle aus dem P r i n c i p e (P XXV). Machiavelli erkennt also durchaus die Beschränktheit des einzelnen Menschen, der mit seiner begrenzten Lebensspanne und seinen limitierten Fähigkeiten, vor allem aber seinen eingefleischten Gewohnheiten nicht im Stande ist, die Verfahrensweisen und Einrichtungen sowie letztlich auch die Gesetze einer Republik zu verändern: „Die Kräfte eines einzelnen Mannes reichen nicht hin, um die Methoden eines Staatswesens zu ändern.“⁹⁶¹ – ‚Perché bisogna che venghino tempi che commuovino tutta la republica; a che uno solo col variare il modo del procedere non basta‘ (D III 9). Bei aller Wertschätzung der Individualität und bei allem Glauben in die Möglichkeiten des Einzelnen, zumal dann, wenn er über eine entsprechende Leistungsfähigkeit verfügt, verliert Machiavelli niemals die Grenzen des Machiavelli, Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 315. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 315.
III. Unrecht und niedrige Beweggründe
293
Individuums aus dem Blick, insbesondere seine Hinfälligkeit und Sterblichkeit (IF IV 1).⁹⁶²
III. Unrecht und niedrige Beweggründe Zu den anthropologischen Grundanschauungen Machiavellis gehört die Einsicht, dass einmal erlittenes Unrecht niemals ganz und gar vergessen wird, sondern bei der erstbesten Gelegenheit wieder zum Vorschein kommt und Rachegelüste freisetzt, denen der Beeinträchtigte in aller Regel nachgeben wird, zumal „da es den Menschen nicht genügt, das Ihrige wieder zu erlangen, sondern fremdes Eigentum wegnehmen und sich rächen wollen.“⁹⁶³ – ‚Ma perché agli uomini non basta ricuperare il loro, che vogliono occupare quello di altri e vendicarsi‘ (IF III 11).
1. Fortwirkung erlittenen Unrechts Von daher versteht sich Machiavellis Empfehlung: „Ein Staat muss sehr darauf achten, niemand mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen, dem früher einmal ein nennenswertes Unrecht zugefügt wurde.“⁹⁶⁴ – ‚Debbe una republica assai considerare di non preporre alcuno ad alcuna importante amministrazione, al quale sia stato fatto da altri alcuna notabile ingiuria‘ (D III 17). Auch in dieser Hinsicht scheint es, als sei weniger Livius als vielmehr Tacitus sein Lehrmeister gewesen.⁹⁶⁵ Es lässt sich an unzähligen Stellen seines Werkes nachlesen, wie stark einmal H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 99, zieht diese Grenze wohl etwas zu eng: „Während sie (sc. Machiavellis politische Theorie) einerseits von den ethisch-religiösen Zwecken, die das Mittelalter mit den politischen Gemeinwesen verbunden hatte, abstrahierte und deren pure Selbsterhaltung zum obersten politischen Imperativ erhob, vermochte sie ihre Aufmerksamkeit noch nicht auf das Individuum zu konzentrieren (…).“ Siehe zur ‚individualistischen Beschränkungʻ auch G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 159. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 84. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 337. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 160, hat dafür den einprägsamen Begriff der ʻtacitean subsectionʼ entwickelt, den er allerdings erst zwei Kapitel später ausmacht, in deren Folge dann allerdings mit guten Gründen als Einheit begreift: “Let us for the time being call that group of chapters (III 19 – 23) the Tacitean subsection. The Tacitean subsection presents itself as a unit since the chapters of which it consists are linked with each other by explicit references occurring at the end of four of its chapters”.
294
§ 4 Herrschaft der Gesetze
empfangene Kränkungen auch nach Jahren oder Jahrzehnten vergolten werden, ohne dass sich im Einzelfall beweisen ließe, dass sie darauf zurückgehen.⁹⁶⁶ Ganz ähnlich liegt es bei Machiavelli, der im P r i n c i p e – ebenfalls durchaus taciteisch – zu verstehen gibt, dass gerade die Mächtigsten erlittene Kränkungen am wenigsten vergessen und dass der Versuch, die erlittene Unbill durch zwischenzeitliche Gunsterweise oder Schenkungen zu übertünchen, unweigerlich fehlschlägt, weil sich die alte Wunde dadurch nicht schließt: „Wer glaubt, daß große Herren wegen neuer Wohltaten alte Kränkungen vergessen, täuscht sich.“⁹⁶⁷ – ‚E chi crede che ne’ personaggi grandi e’ benefizi nuovi faccino sdimenticare le iniurie vecchie, s’inganna‘ (P VII). Zu den schlimmsten Übeln im Bereich der menschlichen Niedertracht zählt für Machiavelli der Neid. Es ist wohl kein Zufall, dass er sich im weiteren Umfeld der zuletzt zitierten Stelle aus den D i s c o r s i ausdrücklich auf einen anderen großen antiken Historiker – womöglich den größten neben dem zitierten Tacitus und jedenfalls dessen Vorbild – beruft, nämlich Thukydides.⁹⁶⁸ Die Einsicht nämlich, die Machiavelli unter Hinweis auf eine bei Thukydides berichtete Stelle belegt,⁹⁶⁹ betrifft am Beispiel der Reden des Nikias und Alkibiades das Andenken bedeutender Personen in einer Republik (D III 16), in der sie ja nach Machiavellis bisherigen Einschätzungen ohnehin keinen so hohen Stellenwert haben wie in
J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, Einleitung, mit verschiedenen Beispielen für diese Annahme. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 33. Grundlegend R. Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1960) 37, 53 f., der im Übrigen nicht von ungefähr Tacitus an verschiedenen Stellen seiner Vorlesung mitberücksichtigt: “In the modern age Thucydides has had to wait centuries for proper recognition. Ought not this powerful thinker to have captivated Machiavelli? The Florentine had read him (in Valla’s Latin translation), but the traces are slight indeed. And, as Machiavelli’s century unfolded, various factors told against Thucydides. A record of wars between small states long ago, interspersed with orations before popular assemblies – that was remote and wanting in contemporary interest for the age of the monarchic despotisms”. Thukydides, VI 8 – 24. Dazu H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 110: „Wie später in gewisser Hinsicht auch bei Machiavelli war die Emanzipation der Geschichte von allen übernatürlichen Einflüssen bereits bei Thukydides ein Akt, der in den historischen Pessimissmus führte.“ Außerdem ebenda, S. 261, mit der Feststellung „frappierender Ähnlichkeiten zwischen beiden: Wie Machiavelli sah auch Thukydides den Grund für die Wiederholung geschichtlicher Abläufe in der Konstanz der menschlichen Natur; wie dieser schaltete er den göttlichen Eingriff aus der Geschichtsbetrachtung aus und setzte an seine Stelle die These von einer weltimmanenten Notwendigkeit (…), neben der freilich noch ein irrationaler Kern der Geschichte, der Zufall (…) verblieb. Wie Machiavelli war Thukydides davon überzeugt, daß im Zentrum der Politik die Macht stehe und daß politisches Handeln nicht mit moralischen Kategorien bewertet werden könne (…)“.
III. Unrecht und niedrige Beweggründe
295
einer Alleinherrschaft. Der Entfaltungsspielraum solcher Persönlichkeiten in der eher statischen und unbeweglichen Staatsform der Republik ist vergleichsweise gering, so dass sich der Anreiz zu großen Taten dementsprechend verringert.
2. Wettbewerbsdenken infolge des Neides An der vorliegenden Stelle bringt Machiavelli jedoch einen weiteren Gesichtspunkt zur Geltung, der in seinen Betrachtungen alles andere als neu ist, aber im Verhältnis zur Staatsform der Republik eine originelle Einsicht bereithält: „Es war immer so und wird immer so sein, dass die bedeutenden und seltenen Männer in einem Freistaat in ruhigen Zeiten vernachlässigt werden. Denn aus Neid, den sie sich wegen des Ansehens zuziehen, das ihnen ihre Tüchtigkeit erworben hat, wollen ihnen in solchen Zeiten viele Bürger nicht nur gleich sein, sondern sie noch übertrumpfen.“⁹⁷⁰ – ‚Egli fu sempre, e sempre sarà, che gli uomini grandi e rari in una republica ne’ tempi pacifichi sono negletti; perché per la invidia che si ha tirato dietro la riputazione che la virtú d’essi ha dato loro, si truova in tali tempi assai cittadini che vogliono, non che essere loro equali, ma essere loro superiori‘ (D III 16). Es ist gewiss kein Zufall, dass Machiavelli unmittelbar im Anschluss an diesen Satz auf Thukydides zu sprechen kommt, der den menschlichen Neid wie kaum ein anderer durchschaut hat.⁹⁷¹ Der Neid entfaltet hier immerhin die produktive Wirkung, dass eine Art Wettbewerbsdenken aufkommt und auf diese Weise gleichwohl ein gewisser Anreiz geschaffen wird. Doch ist der niedrige Instinkt, aus dem heraus dies geschieht, zugleich ein Hemmnis. Schließlich führt es vor allem dazu, dass das Andenken an die Leistungen der Betreffenden nicht zuletzt deswegen erstickt wird, um ihnen die gebührende Achtung zu versagen, wie Machiavelli nahelegt. Im Verein mit der vergleichsweisen Unbeweglichkeit der Staatsform der Republik könnte auf diese Weise ein verhängnisvoller Nichtleistungswettbewerb entstehen. Denn Neid blüht, wie schon Tacitus wusste und seinem Leser Machiavelli geläufig gewesen sein dürfte, im Verborgenen.⁹⁷² Niemand wird sich zwar selbst dadurch erniedrigen, seinen Neid auf die großen Leistungen bedeutender Vorgänger publik zu machen. Indes führt der von
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 334. Thukydides, II 35, 2, der Machiavellis Menschenbild geprägt hat, berichtet über die Rede des Perikles, dass die Menschen das Lob fremder Leistungen nur insoweit ertragen könnten, als sie selbst dazu imstande gewesen wären; was dieses Maß übersteigt, wird neidisch und misstrauisch beäugt. Tacitus, Historiae, 4, 4, 2: ,invidia in occultoʻ.
296
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Machiavelli hellsichtig erkannte Mechanismus zu der paradoxen Folge, dass gerade durch das niederträchtige Motiv des Neides ein Anreiz geschaffen wird, die größeren Leistungen der Vorgänger dadurch wenigstens zu schmälern, dass man sie, wenn es schon nicht gelingt, sie nachhaltig klein zu reden, doch wenigstens zu übertreffen trachtet. Es ist dies zugleich ein Beleg für die die gesamte neuzeitliche Geistesgeschichte prägende Einsicht, dass aus Wertwidrigem Wertvolles hervorgehen kann. Diese Erkenntnis wird ebenfalls mit dem schon mehrfach erwähnten Michel de Montaigne in Verbindung gebracht, der ihr in der Tat zu beträchtlichem Ansehen verholfen hat.⁹⁷³ Wahrscheinlich kann man auch diesen Grundgedanken bereits bis auf Tacitus zurückverfolgen.⁹⁷⁴ Jedenfalls zeigt aber die vorliegende Stelle, dass innerhalb der neuzeitlichen juristischen Geistesgeschichte bereits wiederum Machiavelli vorrangig zu nennen ist, wenn es um die Begründung des von Goethe später so genannten Teils von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft, geht.⁹⁷⁵
3. Unmündigkeit und Armut der Rechtsunterworfenen Problematisch wird es jedoch, wenn die bedeutenden Persönlichkeiten, die es zu übertrumpfen gilt, noch leben. Dann erwacht nämlich ihre Eitelkeit: „Denn die Männer, die sich unverdienterweise missachtet sehen, wissen, dass die ruhigen und gefahrlosen Zeiten daran schuld sind, und geben sich daher alle Mühe, diese Ruhe zu stören, indem sie zum Nachteil des Staates neue Kriege anzetteln. Wenn ich bedenke, wie diesem Übelstand abgeholfen werden kann, so finde ich zwei
H. Friedrich, Montaigne, 3. Auflage 1949, S. 180 f. J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 545. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 72, hat dies im bisherigen Schrifttum am deutlichsten und wohl als erster in dieser Tragweite erkannt: „Noch enger sind die Beziehungen zwischen neuzeitlicher Politischer Philosophie und kapitalistischer Wirtschaft. So problematisch auch Hobbes‘ Versuch sein mag, den Staat auf den radikalen Eigennutz zurückzuführen – für die kapitalistische Wirtschaft ist dieser Ansatz weitaus plausibler. Ja, auch mit Bezug auf sie gilt Machiavellis schmerzliche Erkenntnis von den schlechten Folgen guter Handlungen und den guten Folgen schlechter Handlungen. Mandevilles ‚Bienenfabel‘ ist insofern ein Analogon zum ‚Principe‘, als hier – nur diesmal für die Ökonomie – gezeigt wird, daß abstoßende Motive segensreiche Wirkungen haben können.“ Aufschlussreich im Hinblick auf Machiavellis Einfluss auf Hobbes J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 49: „Hobbes, der sich auf Machiavellis Begriffe des interessengeleiteten politischen Handelns und der politischen Macht als einer abstrakten, zweckrational verwendbaren Größe stützt, will die politische Philosophie auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen.“ Hervorhebung auch dort.
III. Unrecht und niedrige Beweggründe
297
Mittel: das eine ist, die Bürger in Armut zu halten, damit sie durch Reichtum ohne Verdienst weder sich noch andere verderben können. Das zweite ist, sich so auf den Krieg einzurichten, dass man immer Krieg führen kann und daher auch immer tüchtige Männer braucht.“⁹⁷⁶ – ‚Perché quegli cittadini che immeritamente si veggono disprezzare, e conoscono che e’ ne sono cagione i tempi facili e non pericolosi, s’ingegnano di turbargli, movendo nuove guerre in pregiudicio della republica. E pensando quali potessono essere e’ rimedi, ce ne truovo due: l’uno mantenere i cittadini poveri, acciocché con le ricchezze sanza virtú, e’ non potessino corrompere né loro né altri; l’altro di ordinarsi in modo alla guerra che sempre si potesse fare guerra, e sempre si avesse bisogno di cittadini riputati‘ (D III 16). Machiavellis buchstäblich polemische Alternative entspricht einem Grundzug seines Denkens, das den Krieg – auch hierin Sohn seiner Zeit – nie außer Betracht lässt.⁹⁷⁷ Alle seine diplomatischen Missionen, die er im Großen und Ganzen zum Nutzen der Republik Florenz vollbracht hat, haben ihn in der Einsicht bestärkt, dass zu viel Nachgiebigkeit eher schädlich ist und Entschlusskraft sich mitunter besser auszahlen würde.⁹⁷⁸ Die römische Expansionspolitik hat Machiavelli in der Überzeugung bestärkt, dass die Anspannung ständiger Kampfbereitschaft und Wehrhaftigkeit sowie die Lösung innenpolitischer wirtschaftlicher Krisen durch finanziell lukrative außenpolitische Erfolge einen für die gebeutelte Republik Florenz gangbaren Weg darstellen könnte.⁹⁷⁹
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 335. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 155, hat das im werkimmanenten Zusammenhang zwischen den Discorsi und dem Principe im Hinblick auf letzteren gesehen und auf sinnige Weise mit Machiavellis Sprachbeherrschung in Verbindung gebracht: „Gewiß überwiegt das Problem der militärischen Macht im Verlauf des Werkes immer mehr; und man kann keineswegs ganz ausschließen, daß in manchen Fällen die Sprachkraft Machiavellis den Eindruck macht, daß der Schriftsteller in diesem Mangel des politischen Systems Italiens die wirkliche Ursache seiner ganzen Unterlegenheit sehen will. Dennoch ist es nicht das gleiche, ein Motiv der Polemik hervorzuheben oder aber zu behaupten, es sei überhaupt das einzig vorhandene“. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 51– 163. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 276, erklärt dies zeit- und wirtschaftsgeschichtlich anschaulich: „An die Stelle der Spiritualisierung der Bedürfnisse, wie Savonarola sie betrieben hatte und an der er schließlich auch gescheitert war, setzte Machiavelli eine territorialexpansive Politik, die den Armen das, was ihnen durch die in Florenz unmögliche Steigerung der Produktivität zu erlangen verwehrt war, bei den Nachbarn zu rauben versprach. Machiavelli hat darum neben der inneren Stabilität durchgängig die äußere Expansionsfähigkeit als das entscheidende Kriterium einer funktionsfähigen republikanischen Ordnung angesehen. Innere Stabilität und äußere Expansionsfähigkeit bedingten sich in seiner Theorie gegenseitig. Nirgendwo zeigt sich das Erbe der Antike in der politischen Theorie Machiavellis deutlicher als in dieser Verknüpfung von Repu-
298
§ 4 Herrschaft der Gesetze
a) Gesetzlich verordnete Armut zur Verhinderung der Bestechung Aber auch die andere von ihm in Betracht gezogene Möglichkeit, die Bürger in einer Republik in Armut zu belassen, wird aus heutiger Sicht eher Verwunderung auslösen, zumal da seine an anderer Stelle gegebene Begründung ungeachtet ihres Rekurses auf ein Gesetz eher diffus ist und gegen seine sonstigen Gepflogenheiten wenig folgerichtig erscheint: „Wir haben anderenorts bereits darüber gesprochen, daß die nützlichste aller Anordnungen in einem Freistaat die ist, die Bürger in Armut zu halten. Es ist zwar nicht recht klar, welche Einrichtung in Rom diese Wirkung hervorbrachte, besonders da das Ackergesetz auf so starken Widerstand stieß.“⁹⁸⁰ – ‚Noi abbiamo ragionato altrove, come la piú utile cosa che si ordini in uno vivere libero è che si mantenghino i cittadini poveri. E benché in Roma non apparisca quale ordine fusse quello che facesse questo effetto, avendo massime la legge agraria avuta tanta oppugnazione‘ (D III 25). Der Umstand, dass keine römischen Einrichtungen ersichtlich waren, durch welche die Armut hätte zielgerichtet herbeigeführt werden können, hätte Machiavelli eigentlich zu denken geben müssen. Dies gilt umso mehr, als die Streitigkeiten um das Agrargesetz, wie er selbst sieht, nicht gerade dafür sprachen, zumal da sie ein eklatantes Auseinanderfallen von Reichtum und Armut innerhalb der Bürger der Republik voraussetzten. Aber auch davon abgesehen, erschließt sich die Sinnhaftigkeit verordneter Armut nicht ohne weiteres.⁹⁸¹ Denn ob dadurch ein Leistungsanreiz zu großen Taten erwirkt wird, ist zumindest zweifelhaft. Immerhin wird die Unmündigkeit der Rechtsunterworfenen – denn als solche muss man sie in dieser Hinsicht besonders betrachten – noch erhöht. Daher dürfte der Grund für diese Forderung eher darin zu suchen sein, dass Reichtum einzelner Bürger entsprechend Machiavellis anthropologischem Pessimismus zu weiterer Habgier auf Kosten der anderen führt, die zur Anhäufung wirtschaftlicher Macht mit der daraus typischerweise folgenden Herrschsucht führt. Vor allem aber ergibt sich aus privatem Reichtum die Möglichkeit zur Bestechung (D III 16).
blikanismus und expansionistischer Außenpolitik.“ – Dieser Zusammenhang zwischen misslungenen religiösen Heilsversprechen und ökonomischen Ansprüchen im Verhältnis zur Staatsordnung lässt einen unausgesprochen geistesgeschichtlichen Bezug zu Max Weber erahnen; zu ihm J. Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020. Wichtig zu Max Weber in diesem Zusammenhang J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 32; ders., Machiavelli, Weber and Cesare Borgia: The Science of Politics and Exemplary Statebuilding, Storia e Politica I (2009) 7. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 355. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 89, bringt die Ansicht allerdings in einen aufschlussreichen Zusammenhang mit der Erforderlichkeit der Agrargesetzgebung.
III. Unrecht und niedrige Beweggründe
299
b) Aufschlussreiches Fehlzitat des Tacitus Daher begegnet dieses Motiv der für die Regierungsform der Republik verordneten Armut an verschiedenen Stellen seines Werkes.⁹⁸² In eine ähnliche Richtung weist ein aufschlussreiches Fehlzitat, das Machiavelli ausgerechnet Tacitus zuordnet.⁹⁸³ Immerhin gelangt Machiavelli auf der Grundlage dieses vermeintlich von Tacitus stammenden Wortes zu einer Unterscheidung, die man als charakteristische Eigenwertung ansehen kann:⁹⁸⁴ „Wenn ich überlege, wie sich beide Meinungen rechtfertigen lassen, so ist zu sagen, daß es darauf ankommt, ob du Menschen zu regieren hast, die auf derselben Stufe stehen wie du, oder solche, die dir immer untergeordnet sind. Handelt es sich um Menschen deinesgleichen, so kann man nicht ausschließlich mit Strafen vorgehen und jene Strenge walten lassen, von der Tacitus spricht.“⁹⁸⁵ – ‚E considerando come si possa salvare l’una e l‘altra di queste opinioni, dico: o che tu hai a reggere uomini che ti sono per l’ordinario compagni, o uomini che ti sono sempre suggetti. Quando ti sono compagni, non si può interamente usare la pena, né quella severità di che ragiona Cornelio‘ (D III 19). Aber das ist ein Missverständnis,⁹⁸⁶ wenngleich eines, das tief blicken lässt.⁹⁸⁷ Da sich die
Siehe auch J. P. McCormick, ‚Keep the Public Rich, But the Citizens Poor‘, Economic and Political Inequality in Constitutions, Ancient and Modern, Cardozo Law Review 34 (2013) 879. L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 160, hält es für eine Erfindung Machiavellis, um das Wort mit der Autorität des Tacitus zu versehen: “He certainly did not regard Tacitus as an authority in the strictest sense. As far as we know, the statement which he cites as a statement of Tacitus in order to ‚save‘ the opinion that it expresses was invented by Machiavelli: so far from bowing to an authority, Machiavelli treats himself as an authority. Besides, his treatment of authority in the group of chapters which as it were begins with the apocryphal statement of Tacitus, and which is located near the center of the Third Book is even more outspoken than that which is found in the center of the Second Book.” Zu dem vorgeblichen Tacitus-Wort auch ebenda, p. 161– 165 mit dem Schlusswort: “The Tacitean subsection is silent about Machiavelli’s model, for Tacitus is less Machiavelli’s model than his creation”. Es handelt sich um die Worte: ,In multitudine regenda plus poena quam obsequium valet.ʻ Demnach ist bei der Lenkung der Menge Strafe im Verhältnis zum Gehorsam vorzugswürdig. Richtig heißt es in der von Machiavelli offenbar gemeinten Stelle, an der sich Tiberius in einem Brief an den Senat gegen eine einschneidende Luxusgesetzgebung wendet: ,Obsequium inde in principem et aemulandi amor validior quam poena ex legibus et metusʻ (Annales 3.55.4). Es handelt sich dabei auch nicht einfach um eine sprachlich leicht entstellende Version, sondern wohl geradezu um das Gegenteil des Gemeinten; näher J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 341. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 6 (und ausführlich in seinem zweiten Kapitel), geht mit einem vielversprechenden Ausblick ebenfalls der im Ausgangspunkt behandelten Frage nach “what Machiavelli actually means when he repeatedly declares that republics must keep the public rich but the citizens poor. At the end of this interpretive expedition, one discovers a radical answer to perhaps the most controversial question within the Roman-Florentine republican tradition”.
300
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Stelle auf die römische Republik bezieht, fragt sich, inwiefern es in dieser Regierungsform überhaupt eine Unterordnung geben kann. Gewiss darf man nicht vergessen, dass völlige Rechtsgleichheit zu Machiavellis Zeit ebenso unvorstellbar war, wie sie es zu Zeiten der römischen Republik gewesen ist. Sofern Machiavelli über Rechtsgleichheit nachdenkt, geschieht dies eher in rhetorisch stilisierter Form (IF III 13). Dennoch ist undurchsichtig, wie er sich die Möglichkeit persönlicher Strafgewalt innerhalb einer Republik vorstellt. So geht es ihm hier wohl weniger um einen Rat zur Konstituierung einer wohlgeordneten Republik als vielmehr um eine kautelarisch und letztlich opportunistisch ausgerichtete Klugheitsregel, die eher im P r i n c i p e als in den D i s c o r s i ihren Platz hätte.
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 161, führt den eben angedeuteten Gedanken einer möglicherweise bewussten Eigenschöpfung Machiavellis weiter aus, für die es allerdings weitergehender Beweise bedürfte, zumal da – wie weiter oben bereits dargelegt – nicht erweislich ist, welche Teile der Annalen Machiavelli wirklich gekannt hat oder vielleicht nur aus handschriftlich unzuverlässigen Exzerpten kannte: “The Tacitean subsection opens with a story according to which the cruel and rude commander Appius Claudius failed, and the kind and humane commander Quintius won a victory. From this story Machiavelli draws the tentative conclusion that in order to rule a multitude it is better to be humane and merciful than to be proud and cruel. But Tacitus arrived at the opposite conclusion. Machiavelli therefore considers how both his opinion and Tacitus’ opinion can be saved. His opinion, which is based on some evidence, is threatened by the mere fact that Tacitus held the opposite opinion: so great is the authority of Tacitus. To save both opinions, Machiavelli makes a distinction. The severity recommended by Tacitus is appropriate for ruling men who are one’s subjects always and in every respect. The kindness and mercy recommended by Machiavelli are appropriate for ruling one’s fellow citizens in a republic. But since republics are as such superior to monarchies, the opinion of Tacitus may be said to be true regarding the inferior kind of regime whereas Machiavelli’s opinion is true of the superior kind of regime: Machiavelli’s opinion is truer than Tacitus’ opinion.” – Aber dieser anregende Gedanke hätte im Anmerkungsteil (ebenda, p. 325 note 172), um wirklich überzeugend zu sein, mit mehr Belegen aus dem taciteischen Werk angereichert werden müssen als dem vergleichsweise blassen Verweis auf das oben bereits genannte Annales 3, 55. Strauss hätte sich für eine so grundsätzliche Folgerung zumindest mit Tacitus’, Annales, 4, 33, vielschichtigem Exkurs über die Regierungsformen auseinandersetzen müssen, den G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 391, mit Recht hervorhebt: ,Nam cunctas nations et urbes populous aut primores aut singuli regunt: delecta ex iis et consociate rei publicae forma laudari facilius quam evenire, vel, si evenit, haud diuturna esse potest.ʻ Zu diesem Kapitel der Annalen J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 5, 75, 256 f., 553, 561.
III. Unrecht und niedrige Beweggründe
301
4. Erinnerung an Ungerechtigkeiten Wenn man zum Ausgangspunkt dessen zurückkehrt, so findet man die Einsicht Machiavellis, wonach erlittene Kränkungen niemals vergessen werden und daher jemand, der Ungerechtigkeiten hinnehmen musste, nicht für die Führung eines Staatsamts taugt, durch eine gleichsam komplementäre Wertung bestätigt, die Machiavelli an späterer Stelle zur Geltung bringt: „Denn der Mensch vergisst niemals persönliche Vorteile, die ihm genommen werden und das geringste Bedürfnis erinnert ihn daran. Da sich aber die Bedürfnisse jeden Tag bemerkbar machen, erinnert er sich jeden Tag daran.“⁹⁸⁸ – ‚Perché le cose che hanno in sé utilità, quando l’uomo n’è privo, non le dimentica mai, ed ogni minima necessità te ne fa ricordare; e perché le necessità vengono ogni giorno, tu ne ricordi ogni giorno‘ (D III 23).⁹⁸⁹ Auch dabei handelt es sich um eine jener anthropologischen Beobachtungen, mit denen sich Machiavelli bleibenden Ruhm verdient hat. Ebenso wenig wie der Mensch auch nur die geringste Zurückweisung oder Kränkung vergisst, wird ihm niemals entfallen, dass er etwas eingebüßt hat, auf das er Anspruch zu glauben hatte, weil es ihm eine Zeit lang zugedacht war. Die Pointe dieser Beobachtung besteht in ihrer auf die Erinnerung abstellenden Begründung, die wiederum den weiter oben beobachteten mnemotechnischen Effekt verdeutlicht.⁹⁹⁰ Denn es ist nicht nur die Erinnerung an den einmal empfangenen und ihm dann entzogenen Vorteil. Vielmehr ist es das Bedürfnis selbst, das in ihm die Erinnerung daran wachruft, wie er auch stilistisch bemerkenswert durch die alliterierende Wirkung verdeutlicht: „Denn die Menschen vergessen rascher den Tod ihres Vaters als den Verlust des väterlichen Erbes.“⁹⁹¹ – ‚Perché li uomini sdimenticano piú presto la morte del padre che la perdita del patrimonio‘ (P XVII). Bedürfnisse aber sind allgegenwärtig und ihrer Natur nach unendlich. Es entspricht nämlich Machiavellis negativem Menschenbild, dass niemand jemals genügend Vorteile angesammelt hat – jedenfalls nicht nach seiner eigenen Vorstellung. Wie sehr die Bedürfnisse unser Urteil trüben, zeigt sich an einer bereits behandelten Stelle, an der Machiavelli voraussetzt, dass das Begehren, etwas zu
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 353. Siehe zu diesem Kapitel auch J. P. McCormick, Machiavelli’s Camillus and the Tension Between Leadership and Democracy, in: The Oxford Handbook of Law and Humanities (Hg. S. Stern/ M. del Mar/B. Meyler), 2019, p. 409. J. Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 53, 100, 136; zu dem bereits oben angesprochenen mnemotechnischen Aspekt, den Nietzsche von Machiavelli, welchen er, wie erinnerlich, sehr schätzte, empfangen haben könnte. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 69.
302
§ 4 Herrschaft der Gesetze
erwerben, stets die Fähigkeit dazu übersteigt und somit unausweichlich Unzufriedenheit folgt (D I 37). Diese Befangenheit in der conditio humana führt aber nicht nur zur Unzufriedenheit, sondern eben auch zum Neid, zur Missgunst und zu allem, was die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten mit ihren nachteiligen Folgen für das Gemeinwesen mit sich bringt.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze Für die Verfassung einer Republik ist es nach Machiavelli entscheidend, dass sie „die politische Freiheit im Rahmen der Gesetze gewährleisten und Gehorsam gegen die Obrigkeit fordern muss.“⁹⁹² – ‚che lo hanno a fare vivere sotto le leggi ed ubidire ai magistrati‘ (D III 22).
1. Lehren aus der Gesetzgebung der florentinischen Geschichte Durch seine G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z wusste er andererseits auch, dass eine pseudorepublikanische Staatsform zum Scheitern verurteilt ist, in der ein Mächtiger das Volk dadurch für sich einzunehmen sucht, dass er die Verfassung der Stadt zwar scheinbar freiheitlich reformiert, in Wahrheit aber streng nach Zünften ordnen lässt „und jeder eine obrigkeitliche Person vorsetzt, die den unter die Zünfte Geordneten Recht sprechen sollte.“⁹⁹³ – ‚e sopra ciascuna Arte ordinorono un magistrato il quale rendessi ragione a’ sottoposti a quelle‘ (IF II 8).⁹⁹⁴ Nicht von ungefähr leitet Machiavelli diese Beobachtungen mit einem seiner bevorzugten Gedanken ein, nämlich dass die Anpassung an die jeweiligen Zeitverhältnisse darüber entscheidet, ob eine Maßnahme geeignet oder zwischenzeitlich gar schädlich geworden ist (D III 8). Daran zeigt sich, dass der Historiker Machiavelli nicht anders dachte, als der Verfasser der D i s c o r s i , der sich den Historiker
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 351. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 84. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 251, konstatiert in anderem Zusammenhang: „Nachdem er betont hatte, wie absurd der Anspruch sei, den Staat jedesmal zum ausschließlichen Nutzen der Siegerpartei wieder aufzubauen, nicht aber auf einer politischen Verschmelzung der Parteien zu beharren, hatte er eine Auffassung vom öffentlichen Leben dargelegt, in dem alle gesellschaftlichen Kräfte und nicht nur die Virtu des Herrschers oder Gesetzgebers angemessene politische Funktionen haben sollen.“ Hervorhebung nur hier.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
303
Livius zum Maßstab wählte und unversehens zum Begründer der Politikwissenschaft avant la lettre wurde.⁹⁹⁵ „Die Ghibellinen, welche zusammen mit dem Grafen Guido Novello Florenz regierten, dachten daher, es sei gut, durch eine Wohltat das Volk zu gewinnen, das sie zuvor durch jede Unbill bedrückten. Aber die Mittel, welche, ehe die Not kam, geholfen hätten, halfen jetzt, wo man sie widerwillig anwandte, nicht nur nichts, sondern beschleunigten ihren Sturz.“⁹⁹⁶ – ‚E quella de’ ghibellini piú debole; donde che quelli che insieme con il conte Guido Novello governavono Firenze, giudicorono che fussi bene guadagnarsi con qualche benefizio quel popolo che prima avevano con ogni ingiuria aggravato, e quelli rimedi, che avendogli fatti prima che la necessità venisse sarebbono giovati, faccendogli‘ (IF II 8). Die Notwendigkeit, Machiavellis Schlüsselbegriff der ‚necessità‘ bewirkt die entscheidende Zäsur, nach der Plage wird, was vorher Wohltat gewesen wäre.⁹⁹⁷
a) Gesetzesgehorsam als Freiheit unter dem Gesetz Machiavelli schildert, nicht anders als die großen römischen Geschichtsschreiber das ihm bedeutsam Erscheinende innerhalb seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z oft mit eigenen Worten in einer stilisierten Rede: „Als nämlich zur Zeit Karls I. die Stadt in Zünfte geteilt wurde, gab man ihnen Haupt und Verwaltung und verordnete, daß den Untergebenen einer jeden Zunft vom Haupte derselben in bürgerlichen Sachen Recht gesprochen werde.“⁹⁹⁸ – ‚Perché quando ne’ tempi di Carlo I la città si divise in Arti, si dette capo e governo a ciascuna e si provide che i sudditi di ciascuna Arte dai capi suoi nelle cose civili fussero giudicati‘ (IF III 12).⁹⁹⁹ Ge H. Münkler, Geleitwort: Machiavelli, Discorsi – Gedanken über Politik und Staatsführung, 3. Auflage 2007, S. XIX. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 84. Näher K. Kluxen, Die necessità als Zentralbegriff im politischen Denken Machiavellis, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968) 14. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S.174. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 85 f., fasst den diesem Redeausschnitt zugrunde liegenden Gedanken unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit zugunsten des einfachen Volkes anschaulich zusammen: “A crucial, related consequence resulting from the institutional arrangements of the guild republic was, in Machiavelli’s account, the comprehensive subjugation of the city’s working class: (…) Thus, when (the lesser people and plebs) were dissatisfied with the compensation that they received for their labors, or were oppressed in some other mode by their masters, they had no place to turn other than the guild magistracy which governed them. As a result, in their estimation, they never received from the latter the justice that the deserved”.
304
§ 4 Herrschaft der Gesetze
setzesgehorsam und Obrigkeitshörigkeit setzen also in der Republik einen Zustand der Freiheit unter dem Gesetz voraus, den jedoch die Untertanen unter einem Fürsten erstrebten und den jener, wenn er klug beraten war, als Fundament seiner Herrschaft in seinen Anordnungen herbeizuführen sich bemüht (P IX).¹⁰⁰⁰ Gewiss darf man dies nicht mit jenen Formen der Rechtsgleichheit und Freiheit gleichsetzen, die man ein Vierteljahrhundert nach der Aufklärung für richtig hält.¹⁰⁰¹ Aber auch innerhalb einer Republik zu Zeiten Machiavellis konnte es angezeigt sein, gesetzgeberisches Entgegenkommen zu signalisieren, um Unruhen zu vermeiden, selbst wenn es für die Entscheidungsträger demütigend ist. Allerdings ist es dann ratsam, die formelle Rechtmäßigkeit, insbesondere im Hinblick auf Verfahren und Zuständigkeit, des in Aussicht gestellten Gesetzes nicht durch übergroße Hektik zu gefährden, wie wiederum die G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z lehrt: „Diese Forderungen, so schmählich und drückend sie für die Republik waren, wurden von den Signoren, den Kollegen und dem Rate des Volkes aus Furcht vor Schlimmerem unverzüglich zu gewährleisten beschlossen. Damit der Beschluss aber Kraft erhalte, war es nötig, dass er auch im Rat der Gemeinde durchgehe, was man auf den andern Tag verschieben mußte, da am selben Tag nicht zwei Räte versammelt werden dürfen. Doch schienen die Zünfte für jetzt zufrieden und die Menge befriedigt zu sein. Wirklich versprachen sie, sobald das Gesetz in Kraft trete, würden sich alle Unruhen legen.“¹⁰⁰² – ‚Le quali domande, ancora che alla republica disonorevoli e gravi, per timore di peggio furono dai Signori, Collegi e Consiglio del popolo subito deliberate. Ma a volere che le avessero la loro perfezione, era necessario ancora nel Consiglio del comune si ottenessero; il che, non si potendo in uno giorno ragunare duoi consigli, differire all’altro dí convenne. Nondimeno parve che per allora le Arti contente e la plebe sodisfatta ne rimanesse; e promissono che, data la perfezione alla legge, ogni tumulto poserebbe‘ (IF III 15).
Siehe dazu W. Kersting, Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006, S. 140, der das Bestreben des Volkes treffend als auf „Freiheit unter Gesetzen gerichtet“ zusammenfasst. Dazu in anderem Zusammenhang auch J. Petersen, Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 234 f. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 182.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
305
b) Virtú des Gerechten Doch hielt die Menge nicht Wort, und es bedurfte des Einschreitens eines bescheidenen, aber bestimmt handelnden Gerechten, der die Stadt zunächst umsichtig regierte: „Um nun die Herrschaft durch Gerechtigkeit anzufangen, die er durch Gunst erlangt hatte, ließ er öffentlich befehlen, daß niemand brenne und raube.“¹⁰⁰³ – ‚E per cominciare quello imperio con giustizia, il quale egli aveva con grazia acquistato, fece publicamente che niuno ardesse o rubasse alcuna cosa comandare; e per spaventare ciascuno, rizzò le forche in piazza‘ (IF III 16). Diese Mäßigung wurde ihm gleichwohl schlecht vom Volk vergolten, so dass er schließlich autoritär und kriegerisch zu Werke ging, um dann zur Milde zurückzufinden.¹⁰⁰⁴ Es ist wieder einmal ein Beispiel der virtú des entschlossenen und beherzten Einzelnen, das Machiavelli hier gibt: „Nach dem Siege legten sich die Unruhen allein durch das Verdienst des Gonfaloniers (sc. der Gerechtigkeit), der an Mut, Klugheit und Tugend in jener Zeit alle seine Mitbürger übertraf und unter die wenigen Männer gezählt zu werden verdient, die ihrem Vaterlande Wohltaten erzeigt haben. Denn wäre sein Charakter bösartig oder ehrgeizig gewesen, so verlor die Republik völlig ihre Freiheit und geriet unter größere Tyrannei als die des Herzogs von Athen.“¹⁰⁰⁵ – ‚Ottenuta la impresa, si posorono i tumulti solo per la virtú del gonfaloniere. Il quale d’animo, di prudenza e di bontà superò in quel tempo qualunque cittadino, e merita di essere annoverato intra i pochi che abbino beneficata la patria loro; perché, se in esso fusse stato animo o maligno o ambizioso, la republica al tutto perdeva la sua libertà, e in maggiore tirannide che quella del duca di Atene perveniva‘ (IF III 17). Maßstab für Machiavelli ist sonach die Förderung des Allgemeinwohls, dessen bevorzugtes Mittel aus seiner Sicht aber doch die Tat und das Vorbild des
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 184. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 251 f., stellt am Beispiel der Discorsi fest, was insbesondere für die Geschichte von Florenz gilt: „Deshalb bedeutet die Meditation über die Ursachen des Niedergangs der Städte, obwohl ihn das Schauspiel der traurigen Zeiten auf dieses Thema brachte, eine innere Notwendigkeit seines Denkens und die Folge von dessen immanenter Begrenztheit. Denn der Niedergang liegt zwangsläufig keimhaft in einem Staat der – trotz der Anstrengungen, seiner Struktur dauerhaft Lebenskraft zu verleihen – weiterhin allein von der Stärke der Herrscher abhängt, der seine Kraft zwar aus den Einrichtungen, Gesetzen und Waffen gewinnt, aber aus Einrichtungen und Gesetzen, die nicht völlig mit seiner ‚Materie‘ übereinstimmen, sondern mit der übergeordneten Virtu derer, die sie überwachen und sie zu gegebener Zeit nach ‚ihren‘ Grundsätzen zu lenken wissen“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 187.
306
§ 4 Herrschaft der Gesetze
großen Einzelnen ist, der durch Tugend und Gerechtigkeit hervorsticht. In der Beschreibung Machiavellis liest es sich wie ein paradigmatischer Fall der von ihm verherrlichten und zum Maßstab tüchtigen Verhaltens im Sinne der Selbsterhaltung des Gemeinwesens erhobenen virtú. Ohne solche Personen sieht er wenig Raum für das Gedeihen der Republik. Tief blicken lässt jedoch der Nachsatz dieser Episode, der Machiavellis Misstrauen gegenüber der Masse veranschaulicht und vielleicht auch eher von taciteischem als von livianischem Gedankengut geprägt ist:¹⁰⁰⁶ „Man bedachte, welche Schmach es für Männer sei, die die stolzen Großen überwunden hatten, die Herrschaft des stinkenden Pöbels zu ertragen.“¹⁰⁰⁷ – ‚E pensare quanta ignominia era a coloro che avevono doma la superbia de’ grandi il puzzo della plebe sopportare‘ (IF III 17). Machiavelli schätzt ebenso wie Tacitus das Volk im Sinne des tatkräftigen und die Verfassungswirklichkeit gestaltenden populus Romanus, aber beide verachten die dumpfe, vergnügungssüchtige und träge Masse.¹⁰⁰⁸
Tacitus, Historiae, 1, 4, 3: ,Plebs sordida‘. Treffend dazu G. Mann, Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976) 249, 259: „Das niedere Volk von Rom, plebs sordida – Tacitus spricht von ihm meist mit Verachtung, aber braucht es als Hintergrund.“ J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 31, spielt wohl auf die taciteische Textstelle an, wenn er meint: “Thus Machiavelli continues to use ‚plebeians‘ or ‚plebs,‘ in the Roman sense of the plebs sordida, that is, synonymously with the people, the multitude, and such, despite the fact that, technically, many wealthy citizens from traditionally plebeian families were eventually counted among the ranks of the nobility (e. g., D I.29).” – Das traf im Übrigen beispielsweise auch auf den bei Tacitus ausführlich behandelten Cassius Longinus zu (Annales 14.44.16.71); näher D. Nörr, C. Cassius Longinus. Der Jurist als Rhetor (Bemerkungen zu Tacitus, Ann. 14.42– 45), Festschrift für H. Bengtson, 1983, S. 187, 189; J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 493 ff. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 187. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 246 f., fragt sich mit Zielrichtung auf die Gesetze und Einrichtungen: „Besitzt das Volk, von dem Machiavelli spricht und dem er so große Bedeutung und Verdienste für die Bildung und Entfaltung der römischen Macht zuschreibt, tatsächlich einen realen politischen Inhalt, ist es fähig, selbständig zu urteilen und zu handeln, oder stellt es lediglich eine mehr oder weniger ‚geformte Materie‘ dar, die völlig außerstande ist, in dieser Weise bestehen zu können ohne die aufgezwungene Überwachung durch Gesetze und Einrichtungen, also im Grunde durch die verantwortlichen Magistraten?“ Hervorhebung nur hier. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 83, gibt die divergierenden Urteile ausgewogen wieder: “Machiavelli insists that the people’s judgment happens to be superior to that of other political actors most of the time; he never insists that the people’s judgment is always wise or invariably conducive to freedom.” Hervorhebung auch dort.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
307
2. Gehorsamsverschaffung durch Gesetzesbefolgung Allerdings wird selbst dadurch nicht recht klar, warum Machiavelli in den D i s c o r s i auf der Forderung beharrt (D III 25), die Bürger innerhalb einer Republik möglichst arm zu halten (D III 16). Machiavelli selbst findet innerhalb der für ihn maßgeblichen Geschichte Roms keinen triftigen Grund dafür, dass es eine gesetzliche Vorschrift des Inhalts gegeben habe, dass die Bürger arm sein müssten oder dies auch nur den Sitten der Vorfahren entsprochen hätte. Dass in der römischen Republik Leistung das entscheidende Kriterium zum Fortkommen war und Armut dem nicht prinzipiell entgegenstand, ist jedenfalls kein Argument, wie letztlich auch Machiavelli sieht: „Vermutlich trug keine besondere Anordnung dazu bei, sondern nur die Tatsache, dass Armut kein Hindernis auf dem Wege zu Amt und Würden war, und dass es einzig und allein nur auf die Tüchtigkeit ankam, unter welchem Dach sie auch wohnte.“¹⁰⁰⁹ – ‚Né si può credere che altro ordine maggiore facesse questo effetto, che vedere come per la povertà non ti era impedita la via a qualunque grado ed a qualunque onore, e come e’ si andava a trovare la virtú in qualunque casa l’abitasse‘ (D III 25). Auf der anderen Seite darf man nicht übersehen, dass zumindest das Ende der römischen Republik durch eine zunehmende Plutokratie eingeleitet wurde, weil vor allem das Geld regierte, Bestechung grassierte und letztlich diejenigen herrschten, welche die größten Geldströme bewegen konnten.¹⁰¹⁰ Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur Alleinherrschaft durch einen Fürsten, freilich nur unter einer kaum je vollends eintretenden Bedingung: „Gehorsam verschafft er sich durch die Beachtung der Gesetze und durch den Ruf der Tüchtigkeit“¹⁰¹¹ – ‚La ubbidienza gli dà lo essere osservatore degli ordini e lo essere tenuto virtuoso‘ (D III 22). Dieser Gesichtspunkt wurde bereits verschiedentlich angesprochen und ist für Machiavelli konstitutiv, weil er überall dort, wo Könige, sei es auch in einer konstitutionellen Monarchie herrschen, hervorhebt, dass, wie beispielhaft in Frankreich, die Könige nicht über dem Gesetz stehen dürfen, sondern gesetzlichen Bindungen unterliegen. Auch in der Republik braucht man jedoch Einzelne, die durch ihre Leistungen in besonderer Weise herausragen, selbst wenn dies beständig die Gefahr schafft, dass ihr Ehrgeiz sie zu höherem verleitet und zu einer Vormachtstellung über die anderen streben lässt: „Ein Freistaat kann ohne
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 356. Tacitus, Annales, 1, 2, 2: ,neque provinciae illum rerum statum abnuebant, suspect senatus populique imperio ob certamina potentium et avaritiam magistratuum, invalido legum auxilio, quae vi ambitu, postremo pecunia turbabanturʻ. Zu dieser Basiswertung J. Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 21, 107, 148, 210, 256, 342, 473, 550, 564 und öfter. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 351.
308
§ 4 Herrschaft der Gesetze
angesehene Bürger nicht bestehen und auch nicht gut regiert werden. Andererseits ist das Ansehen der Bürger die Quelle der Tyrannei in den Freistaaten. Will man es richtig machen, so muss man Einrichtungen dafür treffen, dass sich die Bürger nur insoweit Ansehen verschaffen können, als es dem Staat und seiner Freiheit von Nutzen und nicht zum Schaden ist. Man muss daher die Mittel untersuchen, durch die sie zu Ansehen gelangen. Es gibt deren zwei, öffentliche und private. Wenn jemand durch gute Ratschläge oder noch bessere Taten zugunsten des Allgemeinwohls Ansehen erwirbt, so sind dies öffentliche Mittel. Zu solcher Ehre muss man den Bürgern den Weg öffnen und für gute Ratschläge und Taten Belohnungen aussetzen, die ihnen Ruhm und Befriedigung verschaffen.“¹⁰¹² – ‚E per discorrere questa cosa piú particularmente, dico che una republica sanza i cittadini riputati non può stare, né può governarsi in alcuno modo bene. Dall’altro canto, la riputazione de’ cittadini è cagione della tirannide delle republiche. E volendo regolare questa cosa, bisogna ordinarsi talmente che i cittadini siano riputati di riputazione che giovi e non nuoca alla città ed alla libertà di quella. E però si debbe esaminare i modi con i quali e’ pigliano riputazione, che sono in effetto due: o publici o privati. I modi publici sono, quando uno consigliando bene, operando meglio in beneficio come, acquista riputazione. A questo onore si debbe aprire la via ai cittadini, e preporre premii ed ai consigli ed alle opere, talché se ne abbiano ad onorare e sodifare‘ (D III 28).
3. Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Mitteln Daher dürfte der tiefere Grund für die nach Machiavellis Vorstellung anzustrebende Armut der Rechtsunterworfenen innerhalb der Republik in jenem weiter oben angedeuteten Gedanken liegen, dass damit die grassierende Korruption eingedämmt werden könne.¹⁰¹³ Im Zusammenhang mit den Aufstiegschancen innerhalb einer Republik macht Machiavelli nämlich mit äußerster Hellsichtigkeit auf eine Unterscheidung aufmerksam, die von zeitloser Gültigkeit ist. Indem er
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 362 f. J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 78, erkennt anhand seiner Analyse von D I 18 noch weiter reichende Wurzeln des Problems der die öffentliche Ordnung aushöhlenden Bestechung, die über kurz oder lang die Gesetzgebung korrumpiert: “Machiavelli laments the corruption that progressively undermined this aspect of Roman legislative practice: eventually, after successfully intimidating other citizens from speaking out, ‚the powerful‘ began to monopolize agenda setting and to pass laws that benefited only themselves (D I.18). Machiavelli remarks how, under these gradually more inequitable and oppressive circumstances, the people were increasingly ‚deceived or forced into deciding its own ruin‘ within the legislative process”.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
309
öffentliche und private Mittel des Fortkommens unterscheidet, verrät er, der auf seine Armut stolz war, weil sie ihm das beste Leumundszeugnis der Unbestechlichkeit erschien,¹⁰¹⁴ ein feines Gespür für die subtile Korruption.¹⁰¹⁵
a) Öffentliche und private Mittel in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Noch deutlicher als in den D i s c o r s i stellt Machiavelli in seiner G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z den Zusammenhang zwischen einem guten Gesetzgeber innerhalb einer Republik und dem Unterschied zwischen anerkennungswürdigen öffentlichen Mitteln und sektiererischen privaten Mitteln dar: „Da also der Gesetzgeber einer Republik nicht verhüten kann, daß es Feindschaften in ihr gibt, so hat er wenigstens zu verhüten, daß es Sekten gibt. Hierzu ist zu wissen, daß auf zweierlei Weise die Bürger in den Städten Ansehen erwerben: entweder durch öffentliche Wege oder durch Privatmittel. Öffentlich erwirbt man es, wenn man eine Schlacht gewinnt, eine Festung erobert, eine Gesandtschaft mit Tätigkeit und Klugheit ausführt, die Republik weise und glücklich berät. Durch Privatmittel erwirbt man es, wenn man diesem und jenem Bürger Gutes tut, ihn vor der Obrigkeit schützt, ihn mit Geld unterstützt, ihn unverdient zu Ämtern befördert, wenn man sich durch öffentliche Spiele und Geschenke bei der Menge beliebt macht. Aus dieser Art zu verfahren entstehen die Sekten und die Anhänger. So sehr das auf diese Weise gewonnene Ansehen schadet, so sehr nützt das andere, wenn es nicht mit den Sekten vermischt ist. Denn im letzteren Fall ist es durch Handlungen erworben, die zum allgemeinen Wohle gereichen, nicht durch solche, die zum Wohle Einzelner gereichen.“¹⁰¹⁶ – ‚Non potendo adunque provvedere uno fondatore di una republica che non sieno inicimizie in quella, ha a provvedere almeno che non vi sieno sètte. E però è da sapere come in due modi acquistono riputazione i cittadini nelle città: o per vie publiche o per modi privati. Publicamente si acquista vincendo una giornata, acquistando una terra, faccendo una legazione con sollecitudine e con prudenza, consigliando la republica saviamente e felice-
V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 19, deutet dies nach der Verbannung aus Florenz biographisch ebenso anschaulich wie werkimmanent treffend: „Auch Machiavellis lebenslange Armut, sein elendes Leben auf dem Lande unter Holzfällern und Wilderern, wurde ihm daher zum Motiv der Selbstbehauptung. Als unbestechlich Armer unter so vielen Opportunisten fühlte er sich komisch, tragisch und letztlich heroisch, denn seine Mittellosigkeit zeugte davon, nicht käuflich zu sein“. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 61 ff. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 408.
310
§ 4 Herrschaft der Gesetze
mente; per modi privati si acquista henificando questo e quell’altro cittadino, defendendolo da’ magistrati, suvvenendolo di danari, tirandolo immeritamente agli onori, e con giuochi e doni publici gratificandosi la plebe. Da questo modo di procedere nascono le sètte e i partigiani, e quanto questa reputazione cosí guadagnata offende, tanto quella giova quando ella non è con le sètte mescolata, perché la è fondata sopra un bene comune, non sopra un bene privato‘ (IF VII 1).
b) Unterscheidung in den D i s c o r s i Öffentliche Mittel wie die Ehrungen, Auszeichnungen und Prämierungen individueller Tüchtigkeit unterliegen daher keinem Zweifel, sondern sind geeignet, den Ehrgeiz in produktiver Weise anzustacheln, ohne dass dem Staat dadurch Schaden entsteht, sofern sie nicht ohne Grund verausgabt werden.¹⁰¹⁷ Anders verhält es sich hingegen mit privaten Mitteln, die er ganz ähnlich beschreibt wie in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z : „Wenn man aber durch private Mittel (…) zu Ansehen gelangt, so ist dies äußerst gefährlich und durchaus schädlich. Private Mittel sind es, wenn man diesem oder jenem Bürger Wohltaten erweist, indem man ihm Geld leiht, seine Töchter ausstattet, ihn vor den Behörden in Schutz nimmt und ihm ähnliche Gefälligkeiten erweist, durch die man sich Anhänger schafft und die dem so Begünstigten Mut machen, gegen das Allgemeinwohl zu verstoßen und die Gesetze zu verletzen. Ein gut geordneter Freistaat darf daher, wie gesagt, nur denen den Weg öffnen, die durch offizielle Mittel Gunst erstreben und muss denen den Weg verschließen, die mit privaten Mittel danach trachten. (…) Ein einziger derartiger Fall, der ohne Sühne bleibt, kann den Untergang eines Freistaates zur Folge haben, denn nach einem solchen Beispiel findet er nur mehr schwer auf den rechten Weg zurück.“¹⁰¹⁸ – ‚Ma quando le sono prese per vie private, (…), sono pericolosissime ed in tutto nocive. Le vie private sono faccendo beneficio a questo ed a quello altro privato, col prestargli danari, maritargli le figliuole, difenderlo dai magistrati e faccendogli simili privati favori, i quali si fanno gli uomini partigiani e dànno animo a chi è cosí favorito di potere corrompere il publico e sforzare le leggi. Debbe pertanto una republica bene ordinata aprire le vie, come è detto, a chi cerca favori per vie publiche, e chiuderle a chi li cerca per vie private, come si vede che fece Roma (…) Ed una che di queste cose si lasci impunita,
V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 474, unter Verweis auf P XVI: „Zu Recht hebt Machiavelli hervor, vor der Machtergreifung könne der Ehrgeizige durchaus spendabel sein, nach ihr werde er es gewöhnlich nicht mehr sein, ja, solle es auch nicht sei, weil er sich dann an öffentlichem Eigentum vergriffe“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 363.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
311
è atta a rovinare una republica, perché difficilmente con quello esemplo si riduce dipoi in la vera via.‘ (D III 28).
c) Vergleich mit den anderen Schriften Ob die römische Republik wirklich nach diesen sehr rigiden Grundsätzen gehandelt hat, wie Machiavelli im Folgenden meint, ist durchaus zweifelhaft, da die amicitia und das Klientelwesen mannigfaltige Abhängigkeitsverhältnisse schufen, denen gegenüber sich die virtús keineswegs immer durchsetzte.¹⁰¹⁹ Dass Machiavelli selbst ein durchaus hehres Verständnis von Freundschaft hatte, aber ihre Durchbrechung ebenso illusionslos wie alles andere zur Kenntnis nahm, zeigt im Übrigen eine Stelle aus dem P r i n c i p e : „Den Freundschaften, die man nur durch Geld und nicht durch Großherzigkeit und edle Gesinnung gewinnt, erwirbt man zwar, doch man besitzt sie nicht und kann in Notzeiten nicht auf sie rechnen.“¹⁰²⁰ – ‚Perché le amicizie che si acquistono col prezzo e non con grandezza e nobilità di animo, si meritano, ma elle non si hanno, et alli tempi non si possono spendere‘ (P XVII). Mit den vielfältigen privaten Mitteln, die er mit Regelbeispielen untermalt, dürfte er wohl vor allem den untergründigen und teils ganz offen geübten Einfluss der Familie Medici gemeint haben, die Florenz zeitweise beherrschte.¹⁰²¹ Unverblümt gibt er auch in seiner D e n k s c h r i f t ü b e r d i e R e f o r m d e s S t a a t e s v o n F l o r e n z Papst Clemens VII. aus dem Hause Medici zu verstehen, dass es sich zwar nominell um eine Republik, effektiv aber um eine Monarchie handelt:¹⁰²² „Denn Ihr befehlt über die Waffen, befehlt über die Kriminalgerichte, R. Syme, The Roman Revolution, 1939, S. 1– 10 und passim. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 69. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 347, fasst es prägnant zusammen: „In diesem pervertierten Staatswesen kam man nicht durch Verdienst, sondern nur als treuer Parteigänger nach oben. Zum Lohn für diese Dienste wurden die Klienten des Hauses Medici von den Gesetzen ausgenommen, durch die Justiz begünstigt, mit wichtigen Ämtern betraut und mit Geld überschüttet. Durch den Aufstieg der Verdienstlosen aber geht die Republik zugrunde, wie sich an der militärischen Schwäche von Florenz zeigt. Die Stärke der Medici war also die Schwäche des Staates; sie saugten ihn aus, um sich zu behaupten“. G. Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958), S. 256, betont richtigerweise, dass „dessen (sc. des Discorso sopra il riformare lo stato di Firenze, also dieser hier als ‚Discursus‘ bezeichneten Denkschrift) große Bedeutung darauf beruht, daß er in einer Gesamtschau die Hauptthesen Machiavellis über Politik und Verfassungen zusammenfaßt.“ J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 103, macht allerdings mit Recht darauf aufmerksam, dass der Discursus innerhalb der unterschiedlich konservativ ausgerichteten Schar der Interpreten Machiavellis uneinheitlich ausgelegt wird, wo-
312
§ 4 Herrschaft der Gesetze
habt die Gesetze in petto.“¹⁰²³ – ‚Perché voi comandate all’armi, comandate a‘ giudici criminali, avete le leggi in petto.‘¹⁰²⁴ Gerade die letztgenannte Formulierung über die Gesetze, die der Papst buchstäblich ebenso ‚in petto‘ hat, wie er Kardinäle kreieren kann, ist entlarvend und daher durchaus mutig. Das Nebeneinander von Gesetzesherrschaft und Waffengewalt im Bereich der äußeren Angelegenheiten, die in der Gesamtschau, ohne dass Machiavelli zu erkennen gibt, was von beiden – die Gesetze oder die Waffen – den Ausschlag gab, die Herrschaftsverhältnisse stabilisieren, kommt auch in der G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z zum Ausdruck: „Während die Florentiner kraft dieser neuen Verfassung im Innern durch die Gesetze, im Äußern durch die Waffen ihr Ansehen erhielten, starb der Papst.“¹⁰²⁵ – ‚Mantenendo adunque i fiorentini, per virtú di questo nuovo governo, dentro con le leggi e fuora con le armi, la reputazione loro, morí il pontefice‘ (IF II 10).
4. Gesetze als Mittel zum Aufstieg Zu den öffentlichen Mitteln, die ein aufstrebender Politiker in der Republik legitimerweise nutzen darf, gehört es Machiavelli zufolge auch, die gesetzlichen Befugnisse dergestalt auszureizen, dass der Betreffende neben dem Allgemeinwohl auch das eigene Fortkommen und den eigenen Nachruhm erstrebt: „Wer in einem Freistaat geboren ist, muss daher diesen Weg einschlagen und danach streben, sich zunächst durch eine außerordentliche Tat hervorzutun. Viele Römer taten dies in ihrer Jugend dadurch, dass sie entweder ein Gesetz einbrachten, dass dem allgemeinen Wohl diente, oder mächtige Persönlichkeiten wegen Überschreitung der Gesetze anklagten oder ähnliche Dinge verrichteten, die in Folge ihrer Auffälligkeit und Neuartigkeit von ihnen reden machten.“¹⁰²⁶ – ‚Debbono adunque gli uomini che nascono in una republica pigliare questo verso, ed ingegnarsi con qualche operazione istraordinaria cominciare a rilevarsi. Il che molti a Roma in gioventú fecero: o con il promulgare una legge che venisse in comune utilità, o con
bei sein Verständnis einer weniger konservativen Lesart nicht zuletzt aufgrund der dadurch gewährleisteten besseren Einbettung in das Gefüge der anderen Werke, insbesondere der Geschichte von Florenz, aber auch der Discorsi, den Vorzug verdient. Machiavelli, Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227, 243. Machiavelli, Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, 1519, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 733, 743. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 87. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 378.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
313
accusare qualche potente cittadino come transgressore delle leggi, o col fare simili cose notabili e nuove di che si avesse a parlare‘ (D III 34).¹⁰²⁷ Gesetzgebung kann auf diese Weise zu einem Bestandteil des Leistungswettbewerbs werden, sofern nicht private Vorteile über das öffentliche Wohl gestellt werden. Politiker dürfen sich also mit der Einbringung von Gesetzen verewigen, sofern dies zumindest auch dem Allgemeinwohl dient. Dass sie nach dem Beispiel Ciceros gegen Verres einflussreiche Männer der Oberschicht, die einander durch vielfältige Klientelverhältnisse verbunden sind, für Gesetzesverletzungen durch Repetundenprozesse haftbar machen,¹⁰²⁸ gilt ihm gleichermaßen als angemessenes Mittel, das individuellen Ehrgeiz mit allgemeinem Wohl in Einklang bringt.¹⁰²⁹ Es entspricht schließlich auch seiner Befürwortung gesetzmäßiger Anklagen (D I 7).
a) Transparenz zur Durchsetzung der Leistungsgerechtigkeit Um in dieser Beziehung keine falschen Loyalitäten zu pflegen und Fehler zu vertuschen, kann es geboten sein, ein äußerstes Maß an Transparenz zur Durchsetzung der Leistungsgerechtigkeit dort walten zu lassen, wo durch falsches Verschweigen von Fehlern oder durch Übersehen individueller Unzulänglichkeit der Bewerber dem Staat Schaden entstehen würde: „Damit es nun auch den Völkern an solchen Ratschlägen nicht fehlt, haben weise Gesetzgeber in Freistaaten bestimmt, dass es bei der Wahl zu den höchsten Staatsämtern, deren Besetzung mit unfähigen Leuten gefährlich wäre, jedem Bürger gestattet ist, ja ihm zur Ehre angerechnet wird, in öffentlicher Versammlung, wenn der Volkswille zur Wahl eines Unfähigen neigt, auf die Fehler dieses Kandidaten hinzuweisen, damit das Volk genau unterrichtet wird und besser urteilen kann.“¹⁰³⁰ – ‚Perché
J. P. McCormick, Machiavellian Democracy, 2011, p. 73, veranschaulicht auch am Beispiel dieses Gedankens schlüssig seine luzide Theorie der aktiven Teilhabe: “Facts, actions, according to Machiavelli, speak louder to the people than the reputation that initially influenced their opinions of a candidate. Among the concrete actions that will encourage the people to elect an individual are sponsorship of laws favorable to the common good, accusations of powerful citizens who have committed wrongs, strict adherence to military discipline on the field of battle, and honorable displays toward one’s family elders.” Hervorhebung auch dort. W. Stroh, Taxis und Taktik. Die advokatorische Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden, 1975, S. 174, betont den paradigmatischen Charakter: „Da ist es wie ein Sinnbild der zu erwartenden politischen Wende, daß der sizilische Proprätor C.Verres, offenbar ein nobles Musterstück senatorisch-reaktionärer Korruption, aus seiner Provinz heimgekehrt ist und sine imperio für einen Repetundenprozeß zur Verfügung steht“. R. Syme, Oligarchy at Rome: A Paradigm for Political Science, Diogenes 141 (1988) 56, hat die raue Realität dieser auf Klientelwirtschaft beruhenden Oligarchie ungeschminkt dargestellt. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 379.
314
§ 4 Herrschaft der Gesetze
ancora i popoli non manchino di questi consigli, i buoni ordinatori delle republiche hanno ordinato che avendosi a creare i supremi gradi nelle città, dove fosse pericoloso mettervi uomini insufficienti, e veggendosi la voga popolare essere diritta a creare alcuno che fosse insufficiente, sia lecito a ogni cittadino, e gli sia imputato a gloria, di publicare nelle concioni i difetti di quello, acciocché il popolo non mancando della sua conoscenza possa meglio giudicare‘ (D III 34).¹⁰³¹
b) Neubewertung der Öffentlichkeit Die schonungslose Aufdeckung individueller Unzulänglichkeit und Unfähigkeit für das zu besetzende Amt entspricht auch der Unterscheidung Machiavellis zwischen öffentlichen und privaten Mitteln. Denn wer einem Unfähigen durch Unterlassen dieses Einspruchsrechts zu einem hohen Staatsamt verhilft, begeht eine vergleichbare Verfehlung, wie sie sonst typischerweise durch den korrumpierenden Einsatz der von Machiavelli sogenannten privaten Mitteln vergleichbar ist. Denn dann werden ungebührliche Rücksichten genommen, die nach gegenseitigen Gefallen gieren. Auch hieran erkennt man ebenso wie bei seiner Wertschätzung der öffentlichen Meinung, dass Machiavelli ein durchaus neues Verständnis von Öffentlichkeit vorschwebte. Es ging ihm in einer Zeit, in der die
F. Millar, The Crowd in Rome in the Late Republic, 1998, hat gezeigt, dass in der römischen Republik ungeachtet aller oligarchischen Tendenzen durch die Volksversammlungen und andere plebiszitäre Elemente mehr demokratische Elemente wirksam waren, als man bis dahin dachte. Diese Einschätzung dürfte durchaus im Sinne Machiavellis gewesen sein, der aber wohl noch weiterging: J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 4 und passim, zeigt in seiner grundlegenden Studie, “that a fierce populism seeded all of Machiavelli’s political writings, one that manifested itself in radically democratic institutional prescriptions, (…) one that approximates an aristocratic conspiracy to repress and obscure his emphatically democratic politics.” Ders., Machiavellian Democracy, 2011, p. 78 f., hat dies zuvor bereits am Beispiel der Gesetzgebung beispielhaft präzisiert, indem er eine partielle Abwendung Machiavellis von der verfassungsmäßigen Ordnung der römischen Republik diagnostiziert: “Thus, Machiavelli’s suggestion that the tribunes could propose and any citizen could speak out on laws, public policy and military appointments in both legislative (the comitia and the concilium) and deliberative (the concioni) assemblies is a radical departure from Roman practice, which kept deliberation away from actual voting. More accurately, in Rome, the tribunes conducted popular deliberations in the contiones and presided over legislation in the tribal assembly and the concilium plebis (…). Moreover, Machiavelli speaks as if the law, a plebiscita, produced by the council of the plebs, was always generally applicable throughout Rome. (…) However, the following is perhaps the most startling aspect of Machiavelli’s account of the Roman legislative process performing at its best: elites do not unilaterally formulate policy proposals that they then submit to the people for simple acclamation or rejection without any collective discussion.” Siehe zu den concioni auch ebenda, p. 99.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
315
meisten Entscheidungen in den Hinterzimmern der Paläste der Mitglieder der Familie Medici gefällt wurden, die ihrerseits durch ihre bezahlten Informanten und Spitzel bestens unterrichtet waren, um Durchsichtigkeit bezüglich der Finanzflüsse und ein Höchstmaß an Publizität.
5. Gerechtigkeit und Gesetz in Machiavellis G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z Interessant ist vor diesem Hintergrund eine Rede, die Machiavelli in seiner von dem Medici-Papst Clemens VII. in Auftrag gegebenen G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z im Zusammenhang mit einem Umsturzversuch gegen Cosimo de Medici, der im Ruf stand, sich zum Fürsten erheben zu wollen, einem Unentschlossenen in den Mund legt.
a) Dezente Andeutungen des korruptiven Machterhalts Daher gibt Machiavelli in geschickt gewählter Rollenprosa dem zur Verschwörung Entschlossenen zu bedenken: „Wenn du sagen solltest, unser gerechter Beweggrund werde unsern Einfluß vermehren und ihnen den ihrigen entziehen, so antworte ich, daß diese Gerechtigkeit von den anderen eingesehen und geglaubt werden müßte.“¹⁰³² – ‚E se tu dicessi che la giusta cagione che ci muove accrescerebbe a noi credito e a loro lo torrebbe, ti rispondo che questa giustizia conviene che sia intesa e creduta da altri come da noi‘ (IF IV 27). Die darstellungsmäßige Schwierigkeit dieser Episode dürfte für Machiavelli darin gelegen haben, die vielfältigen öffentlichen und privaten Gewährungen von Seiten Cosimo di Medicis, die nach den Maßgaben der D i s c o r s i allesamt dubios und anfechtbar waren (D III 28),¹⁰³³ seinem päpstlichen Auftraggeber Clemens VII. aus dem Hause Medici gegenüber in ein mildes Licht zu tauchen, das gleichwohl den Blick darauf ermöglicht, dass es sich um eine Form der Bestechung zum Zwecke des Machterhalts gehandelt haben könnte.¹⁰³⁴
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 253. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 53, der noch weitere Stellen des Werkes heranzieht. V. Reinhardt, Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 345 f., hat dies hellsichtig am Beispiel von Machiavellis mehrdeutigem Nachruf auf Cosimo di Medici herausgearbeitet: „Dieser Nachruf (…) las sich wie eine Lobeshymne auf den verstorbenen Vater des Vaterlandes. Doch konnte man diese Passage auch anders auslegen. Cosimo war nicht nur großzügig und klug, sondern setzte seine Großzügigkeit auch klug ein. Mit seinem unerschöpf-
316
§ 4 Herrschaft der Gesetze
So gibt der zur Mitverschwörung Angestiftete, der möglichst keine ungesetzlichen Mittel einsetzen wollte (IF IV 27), zaghaft zu bedenken, dass die Art, durch die Cosimo mit allerlei Zuwendungen bestimmte Leute protegierte, um nicht zu sagen korrumpierte, und Ehrenämter aller Art vergab, von der allgemeinen Meinung unterschiedlich eingeschätzt werden könnte: „Die Werke Cosimos, die ihn uns verdächtig machen, sind, daß er mit seinem Gelde jedermann dient, nicht allein den Privaten, sondern dem Staate, nicht allein den Florentinern, sondern den Condottieris; daß er bald diesen, bald jenen Bürger unterstützt, der die Magistrate nötig hat, daß er durch die Liebe, die die Masse zu ihm hegt, bald diesen bald den anderen seiner Freunde zu höheren Ehrenstellen erhebt. Man müßte also als Ursachen seiner Verteibung anführen, daß er mitleidig, dienstfertig, freigebig und von jedermann geliebt ist. Sage mir doch, wo ist das Gesetz, welches den Menschen Mitleid, Freigebigkeit, Liebe verbietet, oder sie darum tadelt oder verdammt? Obgleich dies alles Mittel sind, welche im Fluge zur Herrschaft führen, so hält man sie doch nicht für solche, und wir sind nicht imstande, es begreiflich zu machen. Denn wir haben durch unser Benehmen allen Glauben verloren, und die Stadt, der die Parteiung angeboren, und die, weil sie immer in Parteien gelebt hat, verdorben ist, kann solchen Anklagen kein Ohr leihen.“¹⁰³⁵ – ‚L’opere di Cosimo che ce lo fanno sospetto sono: perché gli serve de’ suoi danari ciascuno, e non solamente i privati ma il publico, e non solo i Fiorentini ma i condottieri; perché favorisce quello e quell’altro cittadino che ha bisogno de’ magistrati; perché e’ tira con la benivolenzia che gli ha nello universale questo e quell’altro suo amico a maggiori gradi di onori. Adunque converrebbe addurre le cagioni del cacciarlo, perché gli è piatoso, officioso, liberale e amato da ciascuno. Dimmi un poco: quale legge è quella che proibisca o che biasimi e danni negli uomini la pietà, la liberalità, lo amore? E benché sieno modi tutti che tirono gli uomini volando al principato, nondimeno e’ non sono creduti cosí, né noi siamo sufficienti a dargli ad intendere, perché i modi nostri ci hanno tolta la fede, e la città, che naturalmente è partigiana e, per essere sempre vivuta in parte, corrotta, non può prestare gli orecchi a simili accuse‘ (IF IV 27).
lichen Reichtum kaufte er sich Florenz und seine einflussreichen Bürger. Durch das Geld, das er ihnen lieh und danach zurückzufordern vergaß, machte er sie von sich abhängig, denn für diese Wohltaten schuldeten sie ihm Gegenleistungen. Diese durften sie in den Ämtern erbringen, die Cosimo ihnen verschaffte. So konnte er sich selbst als einfacher Bürger unter Bürgern präsentieren und die Republik doch nach Belieben lenken: als Fürst seiner Heimat wie ihn Machiavelli nennt. Cosimo war der Pate von Florenz, der seine ‚Mitbürger‘ Republik spielen ließ, doch in Wirklichkeit den Staat beherrschte“. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 253.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
317
b) Gesetz als rhetorisches Stilmittel Machiavelli gibt hier in einer ingeniösen Weise zu verstehen, wie unterschiedlich in den Augen der öffentlichen Meinung, die für ihn ein besonderes Gewicht hat, freigebige Zuwendungen eines Wohlhabenden und Einflussreichen gewürdigt werden können, und wie fließend die Unterschiede zwischen Großherzigkeit und Bestechung je nach Blickwinkel, persönlicher Begünstigung und grundsätzlichem Wohl- oder Übelwollen sind, wenn ein Gemeinwesen seit jeher in Parteiungen zerfallen und von Grund auf verdorben ist. Die inszenierte Apologie gipfelt in der rhetorischen Frage nach der gesetzlichen Grundlage, die solche Großzügigkeit unter Strafe stellt. Dass Machiavelli hierfür das Gesetz als Stilmittel heranzieht, ist keineswegs Ausdruck eines übertriebenen Positivismus.¹⁰³⁶ Es zeigt vielmehr, dass er eine für das Gerechtigkeitsdenken seiner Zeit ungewöhnliche Sensibilität für unterschwellige Formen der Bestechlichkeit hatte, und legt zudem die Annahme nahe, dass er für eine entsprechende Korruptionsgesetzgebung nach modernen Maßstäben wohl seinerzeit schon durchaus Sinn gehabt hätte. Das veranschaulicht auch der unmittelbar auf die rhetorische Frage nach dem Strafgesetz folgende Konzessivsatz, der unmissverständlich zu erkennen gibt, dass gerade solche subtilen Zuwendungen auf einen Zuwachs privater Macht hinauslaufen, die ohne weiteres zu öffentlicher Herrschaft führen.¹⁰³⁷ Durch diese subtile Rede konnte Machiavelli alle maßgeblichen Gerechtigkeitsgesichtspunkte in die Darstellung einführen, ohne seinen allmächtigen Auftraggeber zu vergrätzen und ohne seinen eigenen Prinzipien durch politische Leisetreterei untreu zu werden.
c) Prävention durch die Milde der Gesetze Man muss der Vervollständigung halber noch den Schluss einer weiteren stilisierten Rede hinzunehmen, die den soeben behandelten Abschnitten vorange-
J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019, S. 890, ordnet die scheinbare Diskontinuität in einer Machiavellis Rechtsdenken sinnvoll zusammenführenden Weise ein, die dessen Absicht der gewaltlosen Staatserhaltung und –verteidigung unter bestmöglicher Bewahrung der republikanischen Freiheit berücksichtigt: „Machiavelli setzt diese Absicht eines im Ergebnis normativen Entwurfs für die beste republikanische Verfassung tatsächlich die klassische Tradition fort, aber unter den modernen Bedingungen eines positiv, also jederzeit änderbaren Rechts und einer abstrakt und zweckrational verfügbar gewordenen Macht, wie sich in den funktional spezifizierten und rechtlich verfassten städtischen Regimenten und Fürstentümern Italiens inzwischen herausgebildet und akkumuliert hatte.“ Hervorhebung auch dort. Allgemein zu privater Macht mit ihren wirtschaftspolitischen Möglichkeiten J. Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019, § 2.
318
§ 4 Herrschaft der Gesetze
stellt ist, hier jedoch deswegen später wiedergegeben sei, weil sie unter der Berufung auf die Vorzugswürdigkeit, allerdings auch die Bedingung rechtzeitiger Milde der Gesetze abstellt, solange diese die Gewalt noch im Vorhinein bannen können.¹⁰³⁸ Außerdem behandelt das Ende der Rede verschiedene andere bevorzugte Themen Machiavellis, wie namentlich die Sittenverderbnis seiner Heimatstadt Florenz, die menschliche Natur an sich, den Ehrgeiz der machtgierigen großen Familien, die unkalkulierbare fortuna sowie solche überkommenen und reformbedürftigen Einrichtungen, durch die Spaltungen entstehen: „Mag auch die Verderbtheit in unserer Vaterstadt groß sein, hebt immer für jetzt das Übel, das sie krank macht, die Raserei, die sie verzehrt, das Gift, das sie tötet. Klagt der alten Unordnungen nicht die Natur des Menschen an, sondern die Zeiten, deren Änderung Eure Stadt durch bessere Einrichtungen ein besseres Los hoffen läßt. Die Tücke des Schicksals läßt sich durch Klugheit besiegen, wenn Ihr dem Ehrgeiz dieser Familien einen Zügel anlegt, wenn Ihr die Einrichtungen, welche die Nährer der Faktionen sind, abschafft und solche annehmt, welche einer wahren freien Verfassung entsprechen. Geruht es lieber jetzt durch die Milde der Gesetze zu tun, als daß es bei einem Aufschub die Bürger mit dem Beistand der Waffen selbst zu tun genötigt sind.“¹⁰³⁹ – ‚E benché la corruzione di essa (sc. Firenze) sia grande, spegnete per ora quel male che ci ammorba, quella rabbia che ci consuma, quel veleno che ci uccide; e imputate i disordini antichi non alla natura degli uomini, ma ai tempi, i quali sendo variati, potete sperare alla nostra città, mediante i migliori ordini, migliore fortuna. La malignità della quale si può con la prudenza vincere, ponendo freno alla ambizione di costoro e annullando quegli ordini che sono delle sètte nutritori, e prendendo quegli che al vero vivere libero e civile sono conformi. E siate contenti piuttosto farlo ora con la benignità delle leggi che, differendo, con il favore delle armi gli uomini sieno a farlo neccessitati‘ (IF III 5).
J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 58, hat den Gedanken der Rechtzeitigkeit des Gesetzeserlasses für Machiavellis Verständnis der römischen Agrargesetzgebung fruchtbar gemacht: “The fatal fault, therefore, resides not in the laws themselves, but rather, according to Machiavelli, in the fact that they were not instituted until it was too late for them to be fully efficacious upon enactment or to be passed without violent oppositions.” Das passt ganz allgemein zu Machiavellis zeitlich-dynamischem Verständnis, wonach die Dinge immer in Bewegung sind, so dass der richtige Zeitraum verpasst werden kann, innerhalb dessen sich die Dinge noch gewaltlos durch gesetzgeberische Maßnahmen hätten regeln lassen. Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 161.
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
319
6. Vertragsbruch, geheimer Vorbehalt und Recht zur Lüge Wieviel Machiavelli die individuelle Tatkraft gilt, die mehr bedeutet als jede äußerliche Ehrbekundung, veranschaulicht der folgende Aphorismus: „Denn nicht der Titel verleiht dem Mann Glanz, sondern der Mann dem Titel.“¹⁰⁴⁰ – ‚Perché non i titoli illustrano gli uomini, ma gli uomini i titoli‘ (D (III 38). Das darin zum Ausdruck kommende Selbstbewusstsein teilte wohl auch Machiavelli, der seine Zeitgenossen die eigene geistige Überlegenheit gewiss nicht immer zu seinem Vorteil vor Augen führte.¹⁰⁴¹ Dass er aber gleichwohl bei allen Ratschlägen zur Hinterlist, die man mit seinem Namen verbindet, um persönliche Lauterkeit bemüht war, veranschaulicht nicht nur seine Unbestechlichkeit, sondern auch eine wichtige einschränkende Weichenstellung:¹⁰⁴² „Nur das Eine möchte ich bemerken, dass ich keinesfalls einen Betrug für rühmlich halte, den man durch Wortund Vertragsbruch begeht.“¹⁰⁴³ – ‚Dirò solo questo, che io non intendo quella fraude essere gloriosa che ti fa rompere la fede data ed i patti fatti‘ (D III 40).
a) Diplomatische Selbsterhaltung Etwas anders liest es sich in einem Schreiben bezüglich seiner eigenen politischen Erfahrung, aus der er schöpft, als er dem Adressaten für eine diplomatische Mission die Erfahrung und den Rat mit auf den Weg gibt: „Ich habe manche gekannt, die durch ihre Hinterlist und Doppelzüngigkeit beim Fürsten so sehr allen Glauben verloren, daß sie später nie mehr mit ihm unterhandeln konnten. Wenn es auch manchmal nötig ist, eine Sache durch Worte zu verbergen, so muß man es doch so tun, daß es entweder nicht entdeckt wird, oder, wenn es entdeckt wird,
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 390. V. Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012, S. 7. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 527 f., arbeitet die moralische Bewertung des Umfelds dieser Gedanken unter Verweis auf P XVIII mit klaren Maßgaben heraus: „Was Wortbrüche betrifft, so muß man gelegentliche Zusagen, die von keinem wirklich ernst genommen werden und die man trotzdem möglichst vermeiden sollte, von Verträgen unterscheiden. Was deren Bruch betrifft, so rechtfertigt ihn Machiavelli bekanntlich mit dem Argument, man nehme damit nur den Wortbruch der anderen vorweg. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß es Situationen geben kann, in denen dieses Argument nicht völlig von der Hand zu weisen ist, in denen also tatsächlich der andere sich bedeutende Vorteile dadurch zu verschaffen sucht, daß er als erster ein Versprechen bricht. Aber erstens müssen deutlichste Indizien für den bevorstehenden Wortbruch vorliegen, und zweitens ist selbst in einem solchen Fall jede andere Weise der Vorsorge besser als eine Prolepse dessen, was man befürchtet“. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 393.
320
§ 4 Herrschaft der Gesetze
daß eine Verteidigung sogleich bereit sei.“¹⁰⁴⁴ – ‚Questa parte importa assai, perché io so di quelli che, per essere uomini sagaci e doppi, hanno in modo perduta la fede col principe, che non hanno mai potuto dipoi negaziare seco; e seppure qualche volta è necessario nascondere con le parole una cosa, bisogna farlo in modo o che non appaia, o, apparendo, sia parata e presta la difesa.‘¹⁰⁴⁵ Es entspricht also nicht ausschließlich persönlicher Aufrichtigkeit oder moralischer Integrität, sondern durchaus einem vitalen Eigeninteresse und der diplomatischen Selbsterhaltung, die persönliche Glaubwürdigkeit nicht durch Lügen für alle Zeit zu gefährden. Allerdings zeichnet er in diesem pragmatisch ausgerichteten Text noch den sinistren Ausweg, die wortreich inszenierte Irreführung so zu verbrämen, dass sie nicht wahrgenommen wird bzw. ihrer Entdeckung mit einer präventiv vorbereiteten Ausrede begegnet wird. Das entspricht ersichtlich eher den Ratschlägen des P r i n c i p e .
b) Recht zur Lüge In den D i s c o r s i ist er, wie gesehen, zurückhaltender. Dort macht er von diesen Grundsätzen im Wesentlichen nur zwei Ausnahmen, nämlich im Kriegsfall sowie dann, wenn der Wort- und Vertragsbruch auf erzwungene Verhaltensweisen zurückgeht, da dann gewissermaßen ein Recht zur Lüge besteht: „Zweitens, dass es nicht schimpflich ist, Versprechungen zu brechen, die einem aufgezwungen wurden. Erzwungene Versprechungen, die den Staat betreffen, werden, sobald der Zwang aufhört, immer gebrochen, ohne dass der Vertragsbruch eine Schande wäre.“¹⁰⁴⁶ – ‚L’altra è, che non è vergognoso non osservare quelle promesse che ti sono state fatte promettere per forza‘ (D III 42).¹⁰⁴⁷ An Stellen wie diesen erkennt
Machiavelli, Instruktion für Raffaello Girolami, Gesandten bei Karl V., 1522, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 247, 248. Machiavelli, Memoriale a Raffaello Girolami, quando ai 23 d’ottobre partì per Spagna all’imperatore, 1522, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 729. Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 396. G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1, 33, hat die Ursprünge dieser Einsicht aus den Schriften der Alten zusammengesetzt: „Machiavelli betont zunächst, dass es nicht schimpflich sei, Versprechungen nicht zu halten, die mit Gewalt erzwungen sind, wie denn erzwungene Versprechen, sobald der Zwang aufhört, immer gebrochen werden würden, ohne dass es dem, der sie bricht, zur Schande gereiche. Diese Ansicht scheint auf Cicero’s de officiis (I 10) zurückzugehen: ‚iam illis promissis standum non esse, quis non videt, quae coactus quis metu, quae deceptus dolo promiserit.‘ Wenn Machiavelli dann fortfährt: nicht allein erzwungene Versprechen würden, wenn der Zwang aufhöre, nicht gehalten, sondern auch alle andern Versprechungen nicht mehr beachtet, wenn die Gründe, die zu dem Versprechen veranlasst, wegfielen, so ist er wahrscheinlich von Herodot
IV. Politische Freiheit im Rahmen der Gesetze
321
man wiederum, dass Machiavelli zwar im Ganzen gewiss keine moralische Lehre verkünden wollte, auch wenn es ihm gerade hier mit guten Gründen um eine moralische Rechtfertigung zu tun ist. Unberechtigt ist aber der ihm oft gemachte Vorwurf, er sei durch und durch amoralisch eingestellt.¹⁰⁴⁸
c) Politische Klugheit und Gerechtigkeit Allerdings scheint er im P r i n c i p e gerade im Hinblick auf den Wortbruch eine Probe dieses Denkens zu geben, wobei freilich die doppelte Bedingung zu berücksichtigen ist, unter welcher der Wortbruch dort gerechtfertigt wird:¹⁰⁴⁹ „Ein kluger Machthaber kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde und wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn zu seinem Versprechen veranlaßt haben. Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast auch du keinen Anlaß, es ihnen gegenüber zu halten. Auch hat es einem Herrscher noch nie an rechtmäßigen Gründen gefehlt, seinen Wortbruch zu bemänteln.“¹⁰⁵⁰ – ‚Non può per tanto uno signore prudente, né debbe, osservare la fede quando tale osservanzia gli torni contro e che sono spente le cagioni che la feciono promettere. E se li uomini fussino tutti buoni, questo precetto non sarebbe buono: ma perché e’ sono tristi e non la osserverebbono a te, tu etiam non l’hai a osservare a loro‘ (P XVIII). Der anthropologische Pessimismus und die erschreckende Illusionslosigkeit, mit der die politische Klugheit an die
beeinflusst.“ Siehe auch M. L. Colish, Cicero’s De officiis and Machiavelli’s Prince, Sixteenth Century Journal 9 (1978) 81. V. Hösle, Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels. Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, Festschrift für M. Sattler, 2005, S. 41, 55, sagt über eine bestimmte, niederträchtige Denkweise treffend: „Wer so denkt, ist kein Nachfahr Machiavellis, der es mit der virtu ja durchaus hält; er ist ein Vorläufer von Dostojewskis Raskolnikov bzw. von Nietzsche.“ Wichtig auch ders., Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 105: „Während die klassische Staatsphilosophie sich im wesentlichen auf eine normative Theorie politischer Institutionen reduziert, wäre Machiavellis Principe ein Beispiel für eine Politische Ethik“. H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984, S. 397, besteht mit Recht darauf, dass die Trennung von Politik und Ethik keine amoralisch ausgerichtete Politik rechtfertigt: „Machiavelli hat als erster erkannt, daß Politik und Moral nicht in ein und derselben Rechnung aufgehen. Er hat daraus jedoch nie die Konsequenz gezogen, eine Apologie der politischen Unmoral zu schreiben, wie man ihm fälschlich vorgeworfen hat“. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 72.
322
§ 4 Herrschaft der Gesetze
Stelle der Gerechtigkeit tritt, lassen seine Menschenkenntnis aufscheinen;¹⁰⁵¹ freilich auch seine Bereitschaft, immer eher das Schlechtere als Ausfluss der Niedrigkeit der Menschennatur anzunehmen (D III 42).
V. Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996, S. 137, sieht die – avant la lettre – völkerrechtliche Dimension der zuletzt zitierten Stelle: „Den Vertragsbruch legitimiert Machiavelli ausdrücklich damit, daß man mit ihm nur dem Gegner zuvorkomme, der ihn unweigerlich beginge, wenn Vertragstreue gegen sein Interesse wäre, wenn also die Bedingungen wegfielen die den Vertragsschluß seinerzeit als im beiderseitigen Interesse stehend erscheinen ließen. Machiavelli akzeptiert also die ‚clausula rebus sic stantibus‘ des späteren Völkerrechts“.
§ 5 Schlussbetrachtung Machiavelli hat die geheimen Mechanismen der Macht durchschaut wie kaum ein anderer, weil er die seelischen Regungen sah, die zu politischen Verhaltensweisen führten und ohne diese nicht vollständig zu erklären waren. Er war in den D i s c o r s i nicht nur Leser des Livius, sondern auch des Tacitus (D III 16).¹⁰⁵² Zugleich stand ihm wohl auch dort, wo er ihn nicht ausdrücklich zitiert, Tacitus‘ Vorbild Thukydides vor Augen. Machiavellis Faszination für die großen Einzelnen, die Recht setzen, ist allenthalben erkennbar.¹⁰⁵³ Sie hat ihn aber nicht davon absehen lassen, unter welchen Voraussetzungen die ihm vorzugswürdig erscheinende republikanische Staatsform bestehen kann, wenn strenge Gesetze gelten, denen sich auch die Repräsentanten des Staates fügen müssen, keine privaten Vorteile gewährt werden (D III 28), die Rückwirkung belastender Gesetze ausgeschlossen ist (IF IV 14) und jederzeitige Anklagemöglichkeiten gegen Machtmissbrauch bestehen (D I 7) sowie für den Fall, dass sich ein Amtsträger als unfähig erweist (D III 34). So wurde Machiavelli, der ganz im Sinne der Renaissance eine Erneuerung des Gemeinwesens durch geeignete Gesetze in antiker republikanischer Tradition forderte (D III 1), zu einer Zeit grassierender Korruption und permanenten Machtmissbrauchs zwar kein weiser Gesetzgeber, wohl aber unbestechlicher Richter verborgener Niedrigkeiten und als solcher zum Ratgeber republikanischer Gesetzgebung, auch wenn er sich zur Legitimierung des Brudermordes eines Gesetzgebers versteigt, die seine Gesetzgebungslehre gleichsam mit einem Kainsmal bemakelt (D I 9). Diese Untat kann entgegen seiner Ansicht nicht dadurch entschuldigt werden, dass durch ihn erst der römische Staat gegründet werden konnte, im Rahmen dessen sich eine die Rechtsgeschichte prägende Gesetzgebung durch die von Machiavelli befürworteten Standeskämpfe im Wege eines evolutionär verlaufenden Prozesses allmählich austarierte und ausdifferenzierte. Darin
L. Strauss, Thoughts on Machiavelli, 1958, p. 50, 124, 160 ff., 187, 325 f. Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 164, hat den auch bei Machiavelli anklingenden Gedanken, dass die mit Weisheit durchsetzte überlegene Tatkraft eines bedeutenden Fürsten, die dort als virtú begegnet, kraft seiner Unbestechlichkeit als eine Art Verkörperung des Gesetzes erscheint, in einer abgeklärteren und ausgewogeneren Weise als Machiavelli zum Ausdruck gebracht, die aber möglicherweise gerade deswegen, weil sie in der herkömmlichen FürstenspiegelTradition stand, so geringfügigen Nachhall in der juristischen Geistesgeschichte fand, obwohl sie von einem kongenialen Zeitgenossen stammt: ,Bonus, sapiens et incorruptus Princeps, nihil aliud est quam viva quaedam lexʻ. https://doi.org/10.1515/9783110643145-005
324
§ 5 Schlussbetrachtung
liegt die Schattenseite seiner Grundannahme, wonach zur Staatsgründung alle Mittel gerechtfertigt sind und erst danach eine auf die Staatserhaltung begrenzte Moralität Einzug hält.¹⁰⁵⁴ Gute Gesetze zeichnen sich für Machiavelli nicht dadurch aus, dass sie moralische Wertungen zum Ausdruck bringen, sondern Missstände rasch, wirksam und nachhaltig abstellen, zugleich aber eine Öffentlichkeit herstellen, die den bevorzugt im Verborgenen agierenden Mächtigen lästig ist, vor allem eine strikte Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Mitteln im Rahmen der Finanzflüsse verlangen (D III 28). Diese Ambivalenz veranschaulicht Glanz und Grenzen seiner Gesetzgebungslehre. Machiavelli hat wie kaum jemand vor ihm die Kraft der öffentlichen Meinung in einer Art Wissenszusammenrechnung erkannt, indem er sah, wie die schiere Menge der Rechtsunterworfenen sich eben in ihrer Gesamtheit an lange geltende Gesetze gewöhnt hat und oft noch länger bestehender Sitten erinnert (D III 9), aus denen sie ihre – möglicherweise unrichtigen, aber stets wirkungsvollen – Schlüsse zieht, die auch die Alleinherrscher (P XIX), besser noch die Vertreter der Republik im Interesse der Selbsterhaltung zur Kenntnis zu gehalten sind (D I 58). In dieser rechtsrelevanten Wertschätzung der öffentlichen Meinung kann man ein spezifisch neuzeitliches Rechtsverständnis erblicken. Wenn er vom Volk dennoch mitunter geringschätzig spricht (D I 25), dann betrifft dies weniger dessen Gerechtigkeitssinn, für den ihm die vox populi als ein von den Mächtigen zu berücksichtigendes Kriterium erscheint (D I 58). Vor allem gilt dies für das Verhältnis zur Religion, deren Achtung durch das im Wege der Gesetzgebung möglichst gottesfürchtig gehaltene Volk ihm gleichwohl wichtig ist (D I 14), freilich nicht um ihrer selbst willen (D II 2), sondern wiederum allein zur Aufrechterhaltung der Staatsordnung (D I 12). In dieser Vereinnahmung, die durchaus Methode hat (D II 21), liegt ebenso wie in seinem Religionsverständnis eine Auflösung des mittelalterlichen Paradigmas und eine Rückbindung an die altrömische Sakralgesetzgebung (D I 11). So hat Machiavelli das Verhältnis von Recht und Religion durch die Rückbesinnung auf die Antike auf eine neue, freilich nicht unbedingt sicherere und bessere Grundlage gestellt. Entsprechend seiner mehrfach aufleuchtenden physiologischen Betrachtungsweise, die zwar als zeitgenössischer Topos ebenfalls bei Erasmus begeg-
J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 7, stellt zutreffend fest, was wohl vor allem auf diese Stelle zutrifft: “Indeed, reading Machiavelli is all the more serious – often deathly serious – since the pleasure of reading him animates within his interpreters the desire to further, and even further, pursue the substantive truth of political outcomes and ends.” Hervorhebung nur hier.
§ 5 Schlussbetrachtung
325
net,¹⁰⁵⁵ Machiavelli aber in einer für seine Zeit unerhörten und daher vorsichtshalber rhetorisch stilisierten Form auf die geburtsmäßige Gleichheit der Menschen hinweisen lässt (IF III 13), begreift er das Gesetz als Nerv eines freien Zusammenlebens (D I 33). Gesetze sind Heilmittel, die ein krankes Staatswesen zu gesunden helfen, ohne dass Gewalt eingesetzt wird (D III 1). Sie sind für Machiavelli gleichsam das verhaltenssteuernde Gegengift, um den allgegenwärtigen Neid, der den Staat vergiftet, in Schranken zu halten und das Gemeinwesen dagegen zu immunisieren. So gibt es keine ein für allemal guten Gesetze, sondern ihre Wirkungsweise hängt zum einen von der jeweiligen Krankheit ab, die das Gemeinwesen befallen hat, das heißt vom konkreten Sittenverfall, zum anderen aber auch von der Belegenheit des Ortes, an dem sie gelten sollen (D I 1). An die Stelle eines losgelöst von allen Gegebenheiten geltenden Naturrechts des Mittelalters ist eine relativistische Betrachtungsweise getreten, die eine gänzlich neue Perspektive eröffnete, indem sie die Gesetze in Abhängigkeit von Raum und Zeit beurteilt. Machiavellis Gesetzesverständnis ist nicht zuletzt wegen seines ,anthropologischen Pessimismus‘, dessen Konstanten Neid, Hab- und Herrschsucht bilden, sowie seiner psychologischen Genialität aufschlussreich, die ihn alle Formen der Zuwiderhandlung oder Umgehung vorausschauend erahnen ließen, zumal da er sich über die Lieblosigkeit und Undankbarkeit der Menschennatur keinen Illusionen hingab: „Denn Liebe wird nur durch das Band der Dankbarkeit erhalten, das die Menschen infolge ihrer Schlechtigkeit bei jeder Gelegenheit aus Eigennutz zerreißen.“¹⁰⁵⁶ – ‚Perché lo amore è tenuto da uno vinculo di obligo, il quale, per essere gl’uomini tristi, da ogni occasione di propria utilità è rotto‘ (P XVII).¹⁰⁵⁷ Die wichtigste Funktion der Gesetze besteht daher darin, die niedrigen Instinkte zu bändigen und in Schranken zu halten (D I 58). Da ihm die Abgründe der menschlichen Seele geläufig waren, wusste Machiavelli aber auch, wie schwer gerade die Schlechtesten zu gewinnen sind, deren Blick durch den allgegenwärtigen Hass und Neid permanent getrübt ist (D III 30). Vor allem die dem Menschen eingestiftete Machtgier und Herrschsucht wird ihn verleiten, auch über die Gesetze herrschen zu wollen. Die Schattenseite dieser Begabung Machiavellis mutet mitunter an wie ein gewisser gleichgültiger Zynismus gegenüber den Gesetzen
Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 165. Machiavelli, Der Fürst, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972, S. 69. V. Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 496 Fn. 235, stellt klar, dass „Machiavellis Begriff der Liebe natürlich nicht (…) durchgehende Symmetrie impliziert“.
326
§ 5 Schlussbetrachtung
(D II 21), wenn er ihre Wirkungslosigkeit früher erkennt als weniger Weitblickende (IF III 3). Doch darf man sich von diesem Eindruck nicht irreführen lassen, weil Machiavellis Gleichgültigkeit gegenüber dem moralischen Gehalt gesetzlicher Regelungen Ausdruck einer nüchternen Betrachtung der Ursachen und Wirkungen gesetzgeberischer Maßnahmen zur Erhaltung der Republik ist. Eine der tiefsinnigsten und in ihrer Verbindung von Diagnose und Prognose illusionslosen Einsichten über die Gesetze stammt wiederum aus seiner nicht nur unter diesem Gesichtspunkt viel zu wenig beachteten G e s c h i c h t e v o n F l o r e n z : „Denn da das Volk unter den Gesetzen leben will und die Mächtigen den Gesetzen befehlen wollen, so können sie unmöglich miteinander auskommen.“¹⁰⁵⁸ – ‚Perché, volendo il popolo vivere secondo le leggi, e i potenti comandare a quelle, non è possibile capino insieme‘ (IF II 12). Die Gesetze bringen die Aporie zur Geltung, die zwischen der Herrschsucht der Mächtigen und dem Wunsch des Volkes besteht, in Ruhe, Gerechtigkeit und Frieden zu leben.¹⁰⁵⁹ Beides durch eine gute Regierung miteinander dauerhaft in Einklang zu bringen, erscheint auch Machiavelli, für den sonst nur Realität zählt, als ein jedenfalls seinerzeit unerfüllbares Ideal (D I 10). Schließlich wäre es nur dann zu verwirklichen, wenn sich auch die Mächtigen der Herrschaft der Gesetze – insbesondere der Steuergesetze (IF VII 2) – fügen würden, wie Machiavelli in einer der soeben zitierten Stelle entsprechenden Sentenz seiner D i s c o r s i zu bedenken gibt, die fernab von jeglichem ‚Machiavellismus‘ ist und zudem veranschaulicht, dass er es entgegen allen Vor-
Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 90. J. P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018, p. 32, ordnet den geistesgeschichtlichen Rang derartiger Einsichten mit zutreffender Gewichtung und ohne Übertreibung ein: “Machiavelli is the first major thinker in the history of political thought to favor the people unequivocally over the aristocracy when discussing the stability of principalities and republics.” Ders., Machiavellian Democracy, 2011, p. 50, betont sinnfällig: “Machiavelli’s insistence that the people have only the desire not to be dominated.” Hervorhebung auch dort. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch seine Schlussfolgerung auf p. 76 f.: “Finally, however, Machiavelli makes the fundamental difference between the people and princes evident by describing their disparate inclinations and ensuing behaviors: the people tend to respect the laws under which they live, while princes do not; those inclined to live free of oppression uphold laws that protect them, while those who are inclined to oppress others seek to use the laws to further their reprehensible ends, and, failing that, they readily break them. (…) In retort, on the basis of Rome’s example, Machiavelli asserts that a people properly ordered through laws both ‚commands‘ and ‚obeys‘ appropriately. (…) When turning to the people’s legislative capacities, Machiavelli praises the people’s powers of judgment even more fulsomely than recounted in the preceding.” – Die damit einhergehende Wertschätzung der öffentlichen Meinung ist ganz im Sinne der vorliegenden Untersuchung.
§ 5 Schlussbetrachtung
327
urteilen eher mit dem Volk als mit den herrschsüchtigen Mächtigen hält (P IX): „Denn es ist viel leichter, sich die Liebe der Guten als der Bösen zu erwerben, und auch viel leichter, den Gesetzen zu gehorchen, als Herr über die Gesetze sein zu wollen.“¹⁰⁶⁰ – ‚Perché egli è molto piú facile essere amato dai buoni che dai cattivi, ed ubbidire alle leggi che volere comandare loro.‘ (D III 5). Wollte man die gesamten D i s c o r s i Machiavellis auf einen Satz zurückführen, in eine geronnene Einsicht münden lassen und diese über alle anderen stellen, so wäre es wohl am ehesten diese Begründung. Obwohl Machiavelli wie nur wenige die Schlechtigkeit der Menschen, ihre verborgenen Abgründe und den allgegenwärtigen Neid erkannt hat, vermag er die goldene Regel des Regierens auf eine so einfache und vor allem positiv stimmende Formel zu bringen. Es gehört zu den erstaunlichsten Eingebungen Machiavellis, auf dem von ihm immer aufs neue bearbeiteten verdorbenen Boden menschlicher Niedertracht eine fruchtbare Lehre gefunden zu haben, wonach selbst der Mächtigste die Zuneigung der Gutwilligen mühelos erwerben kann, indem auch er den Gesetzen gehorcht. Ungeachtet aller sonstigen tiefgreifenden Unterschiede besteht darin eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen Machiavelli und seinem Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam.¹⁰⁶¹ Die Erinnerung an die allfällige Bindung des Herrschers an die Gesetze zeigt seine Rückbesinnung auf die antiken Schriftsteller.¹⁰⁶² Sie ist daher ungeachtet ihrer noch in weiter Ferne liegenden Verwirklichung, deren Distanz Machiavelli selbst durch seinen P r i n c i p e nicht eben verkürzt hat, bedeutsam für das Rechtsdenken der Renaissance und wegweisend für das Gesetzesverständnis der Neuzeit. Wenn ausgerechnet Machiavelli die Mächtigen mahnt, den Gesetzen zu gehorchen, sollte das nicht nur den Nachfolgern des Principe zu denken geben, sondern auch jenen, die heute in Republiken oder konstitutionellen Monarchien Regierungsverantwortung tragen und über den Gesetzen zu stehen glauben.
Machiavelli, Discorsi, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977, S. 284. Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christiani, Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hier zitiert nach der von A. J. Gail eingeleiteten, bearbeiteten und übersetzten Ausgabe aus dem Jahre 1968, S. 164, Caput VI: ,Optimae leges sub optimo Principe, praecipue beatam reddunt civitatem aut regnum, cuius tam felicissimus est status, cum Principi paretur ab omnibus, atque ipse Princeps paret legibus, leges autem ad archetypum aequi et honesti respondent nec alio spectant, quam ad rem communem in melius provehendam.ʻ Hervorhebung nur hier. Cicero, De Cluentio, 53, hat dafür die klassische Formel entwickelt: ,legum denique idcirco omnes servi sumus ut liberi esse possimus.ʻ Tacitus, Annales, 3, 26, 4, betont im Hinblick auf die Gesetze des auch von Machiavelli hervorgehobenen Servius Tullius (D I 49), dass ihnen auch die Könige gehorchen mussten: ,sed praecipuus Servius Tullius sanctor legum fuit, quis etiam reges obtemperarentʻ.
Literaturverzeichnis I. Werke von Niccolò Machiavelli Il Principe, 1513, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 115 Der Fürst – Il Principe, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 4. Auflage 1972 Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, 1531, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; EinaudiGallimard), 1997, S. 193 Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Kröner-Ausgabe (Üb. R. Zorn), 2. Auflage 1977 Istorie Fiorentine, 1532, in: Opere III (a cura di C. Vivanti; Einaudi), 2005, S. 303 Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften, Vierter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925 Parole da dirle sopra la provisione del danaio, facto un poco di proemio et di scusa, 1503, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 12 De natura Gallorum, 1502, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 51 Die Natur der Franzosen, 1502, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 206 Notula per uno che va ambasciadore in Francia, 1503, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; EinaudiGallimard), 1997, S. 52 Ritracto di cose di Francia, 1510, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 56 Politischer Zustand Frankreichs im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1510, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 186 Ritracto delle cose della Magna, 1512, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 79 Politischer Zustand Deutschlands im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1512, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 208 Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, 1519, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 733 Denkschrift über die Reform des Staates von Florenz, 1519, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 227 Sommario delle cose della città di Lucca, 1520, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; EinaudiGallimard), 1997, S. 715 Verfassung der Stadt Lucca, 1520, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/ F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 217 Memoriale a Raffaello Girolami, quando ai 23 d’ottobre partí per la Spagna all’imperatore, 1522, in: Opere I (a cura di C. Vivanti; Einaudi-Gallimard), 1997, S. 729 Instruktion für Raffaello Girolami, Gesandten bei Karl V., 1522, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 247 Verschiedene Sätze, Gesammelte Schriften, Zweiter Band (Üb. J. Ziegler/F. Nicolaus; Hg. H. Floerke), 1925, S. 253
https://doi.org/10.1515/9783110643145-006
II. Sekundärliteratur
329
II. Sekundärliteratur Albertini, R. v., Das florentinische Staatsbewusstsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, 1955 Althusser, L. A., Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit, 1987 Ash, R., Tacitus Annals Book XV, 2018 Auer, M., Der Privatrechtsdiskurs der Moderne, 2016 Baer, S., Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung, 2011 Barks, T., Das Geld der Medici, 2005 Baron, H., The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republic Liberty in the Age of Classicism and Tyranny, 1955 Baylay, C. C., War and Society in Renaissance Florence, 1961 Benner, E., Machiavelli’s Ethics, 2009 Benoist, Ch., Le Machiavélisme, Vol. I-III, 1907 – 1936 Bleicken, J., Senatsgericht und Kaisergericht, 1962 Bonadeo, A., Corruption, Conflict, and Power in the Work and Times of N. Machiavelli, 1973 Borst, A., Lebensformen im Mittelalter, 1973 Botero, G., Della ragione die stato, 1589 Bredekamp, H., Der Künstler als Verbrecher. Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie, 2005 Bredow, W. v., Realität als Persiflage. Über Maurice Joly und seinen ‚Dialogue aux Enfers‘, Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte 35 (1986) 435 Brucker, G., Florentine Politics and Society 1343 – 1378, 1962 Brucker, G., The Civic World of Early Renaissance Florence, 1977 Burckhardt, J., Die Kultur der Renaissance in Italien, Band 2, 10. Auflage 1908 Canaris, C.-W., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983 Cassirer, E., Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1927 Cervelli, J., Machiavelli e la crisi dello Stato Veneziano, 1974 Chabod, F., Machiavelli and the Renaissance, 1958 Coby, J. P., Machiavelli’s Romans. Liberty and Greatness in the Discourses on Livy, 1999 Colish, M. L., The Idea of Liberty in Machiavelli, Journal of the History of Ideas 32 (1971) 323 Colish, M. L., Cicero’s De officiis and Machiavelli’s Prince, Sixteenth Century Journal 9 (1978) 81 Croce, B., Etica e politica, 1945 Czempiel, E.-O., Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga,1998 Davidsohn, R., Geschichte von Florenz, Band II: Guelfen und Ghibellinen, 1908 Diesner, H.-J., Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische-Klasse, Band 132, Heft 3, 1992 Diesner, H.-J., Virtù, Fortuna und das Prinzip Hoffnung bei Machiavelli, 1993 Diesner, H.-J., Machiavellis Illusion eines perfekten Staates, 1994 Dilthey, W., Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 9. Auflage 1970 Doren, A., Studien aus der italienischen Wirtschaftsgeschichte, Band II: Das florentinische Zunftwesen vom 14. Bis zum 16. Jahrhundert, 1908, S. 51
330
Literaturverzeichnis
Dreier, V., Die Architektur politischen Handelns. Machiavellis „Il Principe“ im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie, 2005 Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, 1969 Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, 1976 Elkan, A., Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Historische Zeitschrift 119 (1919) 427 Ellinger, G., Die antiken Quellen der Staatslehre Machiavellis, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 44 (1888) 1 Etter, E. L., Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, 1966 Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage 1990 Fischer, M., Well-Ordered License. On the Unity of Machiavelli’s Thought, 2000 Flach, D., Tacitus in der Tradition der antiken Geschichtsschreibung, 1973 Fontana, B., Sallust and the Politics of Machiavelli, History of Political Thought 24 (2003) 86 Friedell, E., Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927 – 1931; Gesamtausgabe 1989 Friedrich, H., Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, 1942 Friedrich, H., Montaigne, 3. Auflage 1949 Fröhlich, M., Mysterium Venedig. Die Markusstadt als politisches Argument in der frühen Neuzeit, 2010 Frosini, F., Contingenza e verità della politica. Due studi su Machiavelli, 2001 Gerhardt, V., Vom Willen zur Macht, 1996 Giannotti, D., Della repubblica fiorentina, I 5, in: Opere, Band II, 1819, S. 25 Gilbert, A. H., Machiavelli’s Prince and its Forerunners. The Prince as a Typical Book de Regimine Principum, 1938 Gilbert, F., Machiavelli und Guicciardini in Sixteenth Century Florence, 1965 Gilbert, F., The Venetian Constitution in Florentine Political Thought, in: Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence (Hg. N. Rubinstein), 1968, p. 442 Gilbert, F., Machiavelli e il suo tempo, 1977 Gmelin, H., Personendarstellung bei den Florentinischen Geschichtsschreibern der Renaissance, 1927 Gockel, H., Freiheit und Gesetzgebung. Schillers staatspolitische Ideen, in: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, 2005, S. 104 Godman, P., From Poliziano to Machiavelli. Florentine Humanism in the High Renaissance, 1998 Grant, R. W., Hypocrisy and Integrity: Machiavelli, Rousseau, and the Ethics of Politics, 1997 Greenblatt, St., Will in the World. How Shakespeare became Shakespeare, 2004 Greenblatt, St., Die Wende. Wie die Renaissance begann, 2012 Greenblatt, St., Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurde, 2019 Guillemain, B., Machiavel. L’anthropologique politique, 1977 Haakonssen, K., The Science of a Legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume & Adam Smith, 1981 Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962
II. Sekundärliteratur
331
Habermas, J., Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzitentale Konstellation von Glauben und Wissen, 2019 Habermas, J., Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, 2019 Hale, J.-R., Machiavelli and Renaissance Italy, 1961 Harris, P. H., Progress in Machiavelli-Studies, in: Italica. Bulletin of the American Association of Teachers of Italian XVIII (1941), 5 Helvétius, C. A., Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung (Hg. und Üb. G. Mensching, 1972) Henrich, D., Hegels Theorie über den Zufall, Kant-Studien 50 (1959) 131 (auch abgedruckt in ders., Hegel im Kontext, 4. Auflage 2010, S. 158) Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1999 Hirschman, A. O., Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987 Hoeges, D., Zur Ästhetik der Macht. Machiavellis „neuer Fürst“ – eine Herrschernovelle. Von „Castruccio Castracani“ zu „Il principe“, 1998 Hoeges, D., Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, 2000 Hösle, V., Vico und die Idee der Kulturwissenschaft, Einleitung zur Meiner-Ausgabe 1990 Hösle, V., Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus, 1996 (= Etica e politica: riflessioni sul Principe di Machiavelli, in: La legittimità del politico, 1990, S. 11 – 39) Hösle, V., Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997 Hösle, V., Psychologie des Spielers und Ethik des Va-banque-Spiels. Zu Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, Festschrift für M. Sattler, 2005, S. 41 Hösle, V., Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013 Hösle, V., Ethik und Wirtschaftswissenschaft, oder: Wieviel Egoismus braucht der moderne Kapitalismus? Machiavellis, Mandevilles und Malthus‘ neue Erkenntnis und ihre Herausforderung, Festschrift für J. Strangas, 2017, S. 21 Hösle, V., Kritik der verstehenden Vernunft, 2018 Hösle, V., Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart, 2019 Hösle, V., Ovids Enzyklopädie der Liebe, 2020 Huber, J., Guicciardinis Kritik an Machiavelli. Streit um Staat, Gesellschaft und Geschichte im frühneuzeitlichen Italien, 2004 Huizinga, J., Erasmus, 1924 Huizinga, J., Herbst des Mittelalters, 11. Auflage 1975 Jellamo, A., Machiavelli e Platone: armonie dissonanti, in: La filosofia politica di Machiavelli (a cura di G. M. Chiodi/R. Gatti), 2015, S. 159 Jens, W., Libertas bei Tacitus, Hermes 84 (1956) 331, 343 Jensen, D. L., Machiavelli. Cynic, Patriot, or Political Scientist?, 1960 Jhering, R. v., Kampf um das Recht, 1872 Joly, M., Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu, 1864 Kalchreuter, H., Die Mesotes vor und bei Aristoteles, 1911 Kersting, W., Machiavelli-Bilder. Zum gegenwärtigen Stand der Machiavelli-Forschung, Philosophisches Jahrbuch 94 (1987) 162 Kersting, W., Niccolò Machiavelli, 3. Auflage 2006 Kluxen, K., Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli, 1967
332
Literaturverzeichnis
Kluxen, K., Die necessità als Zentralbegriff im politischen Denken Machiavellis, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968) 14 Knies, K., Der Patriotismus Machiavellis, Preußische Jahrbücher 27 (1871), 665 König, J., Über die Wirkungsmacht der Rede. Strategien politischer Eloquenz in Literatur und Alltag, 2011 König, R., Niccolò Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941 (Ausgabe 1979) Koselleck, R., Historia Magistrae Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1989, S. 38 Lane, F., Venice. A Maritime Republic, 1973 Lauster, J., Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, 2. Auflage 2015 Leidhold, W., Die Neuentdeckung der Alten Welt – Machiavelli und die Analyse der internationalen Beziehungen, Der Staat 31 (1992) 87 Lepsius, M. R., Soziologie und Soziologen. Aufsätze zur Institutionalisierung der Soziologie in Deutschland, 2017 Lepsius, O., Die Rückwirkung von Gesetzen, Juristische Ausbildung 2018, 577; 695 (Teil 1 und 2) Lévi-Strauss, C., Von Montaigne zu Montaigne, 2018 Luther, A., Könige und Ephoren. Untersuchungen zur spartanischen Verfassungsgeschichte, 2004 Macek, J., Machiavelli e il machiavellismo, 1980 Malthus, Th. R., Essay on the Principle of Population, 1798 Mankowski, P., Rechtskultur, 2016 Mann, G., Geschichtsphilosophie von Plato bis Hegel, in: Der Sinn der Geschichte (Hg. L. Reinisch), 1961, S. 18 Mann, G., Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976) 249 Mansfield, H. C., Machiavelli’s New Modes and Orders. A Study of the Discourses of Livy, 2001 Mattei, R. de, Dal premachiavellismo all‘ antimachiavellismo, 1969 Mayer, W.-E., Machiavellis Geschichtsauffassung und der Begriff der virtù. Studien zu seiner Historik, 1912 McCormick, J. P., Adressing the Political Exception: Machiavelli’s ‚Accidents‘ and the Mixed Regime, American Political Science Review 87 (1992) 888 McCormick, J. P., Dangers of Mythologyzing Technology and Politics: Nietzsche, Schmitt and the Antichrist, Philosophy and Social Criticism 21 (1995) 55 McCormick, J. P., Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology, 1997 McCormick, J. P., The Dilemmas of Dictatorship: Towards a Theory of Constitutional Emergency Powers, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 10 (1997) 163 McCormick, J. P., The Sociology and Philosophy of Law during Crisis of the State: Max Weber and Jürgen Habermas, Yale Journal of Law and Humanities 9 (1997) 297 McCormick, J. P., Transcending Weber’s Categories of Modernity?, Left and Right ‚Weberians‘ on the Rationalization Thesis in Interwar Central Europe, New German Critique 75 (1998) 133 McCormick, J. P., Machiavelli against Republicanism: On the Cambridge School’s ‚Guicciardinian Moments‘, Political Theory 31 (2003) 615
II. Sekundärliteratur
333
McCormick, J. P., Max Weber and the Legal-Historical Ramifications of Social Democracy, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 17 (2004) 143 McCormick, J. P., Weber, Habermas, and Transformations of the European State, 2006 McCormick, J. P., Rousseau’s Rome and the Repudiation of Populist Republicanism, Critical Review of International Social and Political Philosophy 10 (2007) 3 McCormick, J. P., Machiavelli’s Political Trials and the ‚Free Way of Life‘, Political Theory: An International Journal of Political Philosophy 35 (2007) 385 McCormick, J. P., Machiavelli, Weber and Cesare Borgia: The Science of Politics and Exemplary Statebuilding, Storia e Politica I (2009) 7 McCormick, J. P., Machiavelli and the Gracchi: Prudence, Violence and Redistribution, Global Crime 10 (2009) 298 McCormick, J. P., ‚Greater, more honorable and more useful to the republic‘: Plebeian Offices in Machiavelli’s ‚Perfect‘ Constitution, International Journal of Constitutional Law 8 (2010) 237 McCormick, J. P., Machiavellian Democracy, 2011 McCormick, J. P., Prophetic Statebuilding: Machiavelli and the Passion of the Duke, Representations 115 (2011) 1 McCormick, J. P., Subdue the Senate: Machiavelli’s ‚Way of Freedom‘ or Path to Tyranny? Political Theory: An International Journal of Political Philosophy 40 (2012) 717 McCormick, J. P., ‚Keep the Public Rich, But the Citizens Poor‘, Economic and Political Inequality in Constitutions, Ancient and Modern, Cardozo Law Review 34 (2013) 879 McCormick, J. P., The (In)Compatibility of Liberty and Empire in Machiavelli’s Political Thought, in: Domination and Global Political Justice: Conceptual, Historical and Institutional Perspectives (Hg. B. Buckinx/J. Trejo-Mathys/T. Waligore), 2014, p. 133 McCormick, J. P., Machiavelli’s Inglorious ‚Tyrants‘: On Agathocles, Scipio and Unmerited Glory, History of Political Thought 36 (2015) 29 McCormick, J. P., Machiavelli’s Agathocles: From Criminal Example to Princely Exemplum, in: Between Exemplarity and Singularity: Literature, Philosophy, Law (Hg. M. Lowire/ S. Lüdemann), 2015, p. 123 McCormick, J. P., Machiavelli’s Greek Tyrant as Republican Reformer, in: The Radical Machiavelli: Politics, Philosophy, and Language (Hg. F. del Lucchese/F. Frosini/ V. Morfino), 2015, p. 337 McCormick, J. P., Of Tribunes and Tyrants: Machiavelli’s Legal and Extra-Legal Modes for Controlling Elites, Ratio Juris: An International Journal of Jurisprudence and Philosophy of Law 28 (2015) 252 McCormick, J. P., Faulty Foundings and Failed Reformers in Machiavelli’s Florentine Histories, American Political Science Review 111 (2017) 204 McCormick, J. P., On the Myth of a Conservative Turn in Machiavelli’s Florentine Histories, in: Liberty and Conflict: Machiavelli on Politics and Power (Hg. N. Urbinati/D. Johnston/ C. Vergara), 2017, p. 330 McCormick, J. P., Pocock, Machiavelli and Political Contingency in Foreign Affairs: Republican Existentialism Outside (and Within) the City, History of European Ideas; Special Issue commemorating the 40th anniversary of J.G.A. Pocock’s The Machiavellian Moment 43 (2017) 171 McCormick, J. P., Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements, and the Virtue, 2018
334
Literaturverzeichnis
McCormick, Niccolò Machiavelli, in: Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch (Hg. D. Comtesse/O. Flügel-Martinsen/F. Martinsen/M. Nonhoff), 2019, S. 27 McCormick, J. P., Machiavelli’s Camillus and the Tension Between Leadership and Democracy, in: The Oxford Handbook of Law and Humanities (Hg. S. Stern/M. del Mar/B. Meyler), 2019, p. 409 McCormick, J. P., Republicanism, Virtuos and Corrupt: Social Conflict, Political Leadership and Constitutional Reform in Machiavelli’s Florentine Histories, in: Radical Republicanism: Recovering the Tradition’s Popular Heritage (Hg. St. White/K. Nabulsi/B. Leipold), 2020, p. 67 Mehmel, F., Machiavelli und die Antike, Antike und Abendland 3 (1948) 173 Meier, H., Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion, 2013 Meinecke, F., Die Idee der Staatsräson, 2. Auflage 1925 Mellor, R., Tacitus, 1993 Mestmäcker, E. J., Die sichtbare Hand des Rechts, 1974 Mestmäcker, E. J., Der gestrandete Leviathan: Über Gedanken und Religionsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts. Beiträge zu Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der EU, 2016, S. 577 Mestmäcker, E. J., Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts, 2016 Mestmäcker, E. J., Wettbewerb in der Privatrechtsgesellschaft, 2019 Millar, F., The Crowd in Rome in the Late Republic, 1998 Mittermaier, K., Machiavelli. Moral und Politik zu Beginn der Neuzeit, 1990 Mommsen, Th., Römisches Staatsrecht, 3. Auflage 1887 Montevecchi, A., Istorie fiorentine e altre opere storiche e politiche, a cura di A. Montevecchi, 2013 Münkler, H., Geleitwort: Machiavelli, Discorsi – Gedanken über Politik und Staatsführung, 3. Auflage 2007 Münkler, H., Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 1984 Najemy, J. M., Between Friends: Discourses of Power and Desire in the Machiavelli-Vettori Letters of 1513 – 1515, 1993 Neuhaus, G., Fundamentaltheologie. Zwischen Rationalitäts- und Offenbarungsanspruch, 2. Auflage 2017 Nietzsche, F., Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister, Band I/II, 1878 – 1880, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 2 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, 1887, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/ M. Montinari), Band 5 Nietzsche, F., Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1889, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari), Band 6 Nietzsche, F., Nachgelassene Fragmente, 1887 – 1889, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/ M. Montinari), Band 13 Norden, Ed., Die antike Kunstprosa, Band I, 1923 Nörr, D., Planung in der Antike. Über die Ehegesetze des Augustus, in: Beiträge zu Ehren H. Schelskys (Hg. H. Baier), 1977, S. 309 Nörr, D., C. Cassius Longinus. Der Jurist als Rhetor (Bemerkungen zu Tacitus, Ann. 14.42 – 45), Festschrift für H. Bengtson, 1983, S. 187
II. Sekundärliteratur
335
Oster-Stierle, P., Poesie als Vollendung der Moralistik. Die Fabeln La Fontaines, in: Moralistik, Exploration und Perspektiven (Hg. R. Behrens/M. Moog-Grünewald), 2010, S. 223 Ottmann, H., Geschichte des politischen Denkens, Band 3.1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, 2006 Ottow, R., Die Gracchen und ihre Rezeption im politischen Denken der Frühen Neuzeit, Der Staat 42 (2003) 557 Panofsky, E., Die Perspektive als ‚symbolische Form‘, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, 1927, S. 258 (= Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Hg. H. Oberer/ E. Verheyen, 1980, S. 99) Petersen, J., Anthropozentrik versus Ökozentrik im Umweltrecht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83 (1997) 361 Petersen, J., Unternehmenssteuerrecht und bewegliches System, 1999 Petersen, J., Nutzen und Grenzen steuerrechtlicher Argumente im Zivilrecht, in: Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, Beiträge für C.-W. Canaris zum 65. Geburtstag, 2002, S. 113 Petersen, J., Das Bankgeheimnis zwischen Individualschutz und Institutionsschutz, 2005 Petersen, J., Medienrecht in der katholischen Kirche, Archiv für katholisches Kirchenrecht 176 (2007) 433 – 451 Petersen, J., Medienrecht, 5. Auflage 2010 Petersen, J., Heinrich von Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ im Spiegel der mündlichen Prüfung, Jura 2011, 818 Petersen, J., Rezension zu V. Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, 2013, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 99 (2013) 434 Petersen, J., Fichtes Versuch, Machiavelli Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Festschrift für Michael Kloepfer, 2013, S. 927 Petersen, J., Freiheit unter dem Gesetz. Friedrich August von Hayeks Rechtsdenken, 2014 Petersen, J., Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, in: Liber Amicorum Otmar Seul, 2014, S. 381 Petersen, J., Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016 Petersen, J., Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016 Petersen, J., Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017 Petersen, J., Rezension zu: Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts. Beiträge zu Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der EU, von Ernst-Joachim Mestmäcker, 2016, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 103 (2017) 553 Petersen, J., Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017 Petersen, J., Zivilrechtsdogmatik und methodischer Individualismus am Beispiel Rudolf von Jherings, Festschrift für C.-W. Canaris, 2017, S. 87 Petersen, J., Giambattista Vicos theologisch geprägte Rechtsphilosophie, Jahrbuch für Italienisches Recht 31 (2018) 85 Petersen, J., Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019 Petersen, J., Recht bei Tacitus, 2019 Petersen, J., Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Eucken, 2019 Petersen, J., Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020 Petersen, J., Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020 Pocock, J. G. A., The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, 1975
336
Literaturverzeichnis
Poehlmann, R., Die Wirtschaftspolitik der Florentiner Renaissance und das Prinzip der Verkehrsfreiheit, 1878 Popper, K., The Open Society and Its Enemies, 1945 Preiser, W., Das Machiavelli-Bild der Gegenwart, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952) 1 Reinhardt, K., Thukydides und Machiavelli, in: Die Krise des Helden. Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, 1962, S. 52 Reinhardt, V., Die großen Familien Italiens, 1992 Reinhardt, V., Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, 2012 Reinhardt, V./Saracino, S./Voigt, R. (Hg.), Der Machtstaat. Niccolò Machiavelli als Theoretiker der Macht im Spiegel der Zeit, 2015 Reitzenstein, R., Aufsätze zu Tacitus, 1967 Riklin, A., Machiavellis Klugheitslehre politischer Führung, 1989 Ritter, G., Das sittliche Problem der Macht. Fünf Essays, 1948 Rudowski, V. A., The Prince. A Historical Critique, 1992 Rüstow, A., Politik und Moral, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 105 (1949), 575 Sasso, G., Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens, 1965 (Üb. W. Kleese/ S. Burger; im Original: Storia del suo pensiero politico, 1958) Scharfstein, B.-A., Amoral Politics. The Persistent Truth of Machiavellism, 1995 Schellhase, M., Tacitus in Renaissance Political Thought, 1976 Schlink, B., Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, 2002 Schmid, C., Erinnerungen, 3. Band der Gesammelten Werke, 1980 Schmidt, A., Niccolò Machiavelli und die allgemeine Staatslehre der Gegenwart, 1907 Schmölz, F.-M., Machiavelli. Die Trennung von Ethik und Politik, Zeitschrift für Politik 10 (1963) 131 Schröder, P., Niccolò Machiavelli, 2004 Skinner, Q., Machiavelli, 1981 (Niccolò Machiavelli zur Einführung, 6. Auflage 2013, Üb. M. Suhr) Skinner, Q., Niccolò Machiavelli, 6. Auflage 2013 (Üb. M. Suhr) Somek, A., Rechtsphilosophie zur Einführung, 2018 Spirito, U., Machiavelli e Guicciardini, 1968 Stackelberg, J., Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960 Stagl, J., Die empirischen Grundlagen der Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus: Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialforschung im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zeitschrift für Politik 28 (1981) 169 Sternberger, D., Machiavellis ,Principe‘ und der Begriff des Politischen. Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Band XII, Nr. 2, 2. Auflage 1975 Stierle, K., Poesie des Unpoetischen. Über La Fontaines Umgang mit der Fabel, Poetica 1 (1967) 508 Stierle, K., Une morale du Grand Siècle? Morale et esthetique dans les Fables de La Fontaine, Cahiers de l’Association internationale des études françaises 56 (2004) 231 (= Montaigne und die Moralisten, 2016, S. 233) Stierle, K., Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016
II. Sekundärliteratur
337
Stolleis, M., Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, 1980 Stolleis, M., Friedrich Meineckes „Die Idee der Staatsräson“ und die neuere Forschung, in: Friedrich Meinecke heute (Hg. M. Erbe), 1981, S. 50 Stolleis, M., Löwe und Fuchs. Eine politische Metapher im Frühabsolutismus, Festschrift für H. J. Schlochtauer, 1981, S. 151 Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, S. 99 Strauss, L., Thoughts on Machiavelli, 1958 Stroh, W., Taxis und Taktik. Die advokatorische Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden, 1975 Sullivan, V. B., Machiavelli’s Three Romes. Religion, Human Liberty and Politics, 1996 Syme, R., The Roman Revolution, 1939 Syme, R., Roman Historians and Renaissance Politics, Society and History in the Renaissance, Folger Library, 1960 Syme, R., Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1960) 37 Syme, R., Ten Studies in Tacitus, 1970 Syme, R., Oligarchy at Rome: A Paradigm for Political Science, Diogenes 141 (1988) 56 Taine, H., Essai sur Tite-Live, 1856 Tartakower, S., Les Cahiers de l’Echechier Français, 28 (1932) 373 Timpe, D., Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, 1962 Timpe, D., Claudius und die kaiserliche Rolle, in: Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41 – 54 n. Chr.). Umbruch oder Episode?, 1994 (Hg. V. M. Strocka) S. 35 Timpe, D., Romano-Germanica: Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus, 1995 Toffanin, G., Machiavelli e il Tacitismo, 1921 Took, J., Diligite iustitiam qui iudicatis terram, in: Dante and Governance (Hg. J. Woodhouse), 1997, S. 137 Ullmann, W., Individuum und Gesellschaft im Mittelalter, 1974 Vatter, M. E., Between Form and Event. Machiavelli’s Theory of Political Freedom, 2000 Vogt, J., Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. V. Pöschel), 1969, S. 39 Vollrath, E., Neue Machiavelli-Literatur, Zeitschrift für historische Forschung 20 (1995) 505 Vorländer, F., Über die Bedeutung der Lehren Machiavellis für die wissenschaftliche Staatskunst, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 17 (1861) 496 Waley, D., Die italienischen Stadtstaaten, 1969 Whitfield, J.-H., The Anatomy of Virtue, Modern Language Review 38 (1943) 222 Whitfield, J.-H., Discourses on Machiavelli, 1969 Wiseman, T. P., Remus. A Roman myth, 1995 Wood, N., Machiavelli’s Concept of virtù reconsidered, Political Studies 15 (1967) 159 Zagrean, R., Der Begriff der virtù bei Machiavelli, 2003 Zippelius, R., Über den Denkstil Niccolò Machiavellis, Festgabe für G. Küchenhoff 1967, S. 359
Personenverzeichnis Die kursiv gedruckten Zahlen verweisen auf den Text, die normal gedruckten auf Fußnoten.
Albertini, R. v. 44 Althusser, L. A. 67 Ash, R. 207 Auer, M. 61 Baer, S. 2 Barks, T. 229 Baron, H. 44 Baylay, C. C. 44 Benner, E. 38 Benoist, Ch. 80 Bleicken, J. 56 Bonadeo, A. 160 Borst, A. 32 Botero, G. 126 Bredekamp, H. 291 Brucker, G. 44, 165 Burckhardt, J. 31, 86, 212 Canaris, C.-W. 61, 180 Cassirer, E. 65 Cervelli, J. 62 Chabod, F. 14 Cicero 38, 54, 171, 198, 233, 313, 320, 327 Coby, J. P. 247 Colish, M. L. 12, 321 Croce, B. 117, 234 Czempiel, E.-O. 80 Dante 31, 44 f., 52 – 54, 90, 102, 216, 245 Davidsohn, R. 143 Diesner, H.-J. 22, 31, 177 Dilthey, W. 75 Doren, A. 166 Dreier, V. 1 Elias, N. 89 Elkan, A. 3 Ellinger, G. 35, 42, 49, 67, 72 f., 79, 82, 92 f., 118, 123, 125, 131, 135, 158, 183, 233, 288, 320 https://doi.org/10.1515/9783110643145-007
Etter, E. L. 211 Eucken, W. 82, 217, 291 Fichte, J.-G. 19, 152, 203 Fischer, M. 11, 177 Flach, D. 48, 194 Fontana, B. 127 Friedell, E. 248 Friedrich, H. 31, 296 Fröhlich, M. 101, 189 Frosini, F. 98 Gerhardt, V. 92 Giannotti, D. 90 Gilbert, A. H. 135, 247 Gilbert, F. 80, 178 Gmelin, H. 33 Gockel, H. 203 Godman, P. 44 Grant, R. W. 67 Greenblatt, St. 3, 23, 34, 202, 254 Guillemain, B. 22 Haakonssen, K. 217 Habermas, J. 1, 3, 5, 13, 18 – 20, 25, 28, 42, 62, 66, 70, 76, 81, 98, 106, 110, 114, 119, 124, 127, 129, 138, 144, 151, 157, 169, 175, 200, 202, 209 f., 218, 233, 236, 244, 251, 276, 279, 285 f., 296, 317 Hale, J.-R. 14 Harris, P. H. 247 Helvétius, C. A. 57 Henrich, D. 101 Hesse, K. 143 Hirschman, A. O. 37, 110 Hobbes 35, 133, 173, 233, 235, 296 Hoeges, D. 123, 173 Hösle, V. 1 – 4, 6 – 8, 12 f., 15, 18 f., 35, 46, 50, 58, 69 – 71, 76 f., 79 f., 87, 95, 100, 102, 104, 110, 112, 114 f., 119, 124 – 126, 129 f., 132, 136 f., 145, 150, 155 f., 172 f.,
Personenverzeichnis
178, 182, 191, 205, 209, 217, 221 f., 224, 240, 243, 247 f., 253, 257 f., 270, 277, 279, 283, 296, 310, 319, 321 f., 325 Huber, J. 39 Huizinga, J. 4, 210 Hume, D. 2 Jellamo, A. 38 Jens, W. 12 Jensen, D. L. 130 Jhering, R. v. 140, 189 Kalchreuter, H. 245 Kersting, W. 1, 10, 73, 126, 136, 147, 220, 241, 243, 304 Kluxen, K. 17, 303 Knies, K. 132 König, J. 202 König, R. 37, 78, 86, 102, 117, 133, 212, 241 Koselleck, R. 171 La Fontaine, J. de 93 Lane, F. 101 Lauster, J. 14, 63 Leidhold, W. 37 Lepsius, M. R. 212 Lepsius, O. 185, 228 Lévi-Strauss, C. 23, 66 Livius 4, 14, 19, 32 f., 35, 39, 49, 56 – 58, 127, 168, 186, 188, 247, 250, 284, 288, 293, 303, 323 Lukrez 23, 34, 74 Luther, A. 118 Macek, J. 80 Malthus, Th. R. 217, 221 Mandeville 110, 137, 218, 296 Mankowski, P. 48 Mann, G. 16, 103, 163, 306 Mansfield, H. C. 111 Mattei, R. de 80 Mayer, W.-E. 28 McCormick, J. P. 2, 5, 9, 11, 29, 38 – 41, 43 – 46, 48 f., 51, 53, 67, 69, 77, 88 – 92, 94, 97, 102 f., 105 f., 109 f., 115 f., 122, 126 f., 140, 146 – 148, 154, 159 – 161, 163 – 166, 169, 172, 177 f., 181, 185 – 188,
339
190, 192 – 194, 197, 199, 204 f., 209, 215, 217 f., 223, 226, 230, 233, 250, 258 – 260, 262, 273, 275, 278, 285, 290 f., 298 f., 301, 303, 306, 308 f., 311, 313 – 315, 318, 324, 326 Mehmel, F. 34 Meier, H. 235 Meinecke, F. 58, 82, 126 Mellor, R. 33, 171 Mestmäcker, E. J. 89, 218, 253 Millar, F. 314 Mittermaier, K. 102 Mommsen, Th. 62 Montaigne, M. de 14, 32, 50, 62, 66, 71, 92, 98, 103, 155, 161, 172, 205, 280, 296 Montesquieu, Ch. de 65 – 68, 110, 157 Montevecchi, A. 84, 259 Münkler, H. 2, 10, 16, 22, 28, 32, 36, 41, 47, 51, 55 – 57, 64 f., 67, 70, 72, 75 f., 83, 88, 97, 99 f., 102, 105, 108, 110, 124, 127, 129, 136, 138, 151 f., 154 f., 165 f., 168, 194, 202 f., 205 f., 213, 223, 242, 247, 250, 257, 266, 268, 277, 282, 287, 289, 293 f., 297, 303, 321 Najemy, J. M. 226 Neuhaus, G. 115 Nietzsche, F. 2, 17, 41, 77, 92, 183, 214 f., 224, 246, 269, 270, 301, 321 Norden, Ed. 87 Nörr, D. 56, 186, 306 Oster-Stierle, P. 93 Ottmann, H. 17 Ottow, R. 190 Ovid 74, 136 Panofsky, E. 15 Pocock, J. G. A. 51 Poehlmann, R. 212 Popper, K. 220 Preiser, W. 1 Reinhardt, K. 35 Reinhardt, V. 2 – 4, 7, 14, 24, 27, 40, 53 f., 74, 94, 107, 110, 122, 132, 134, 148, 169,
340
Personenverzeichnis
226, 230, 235, 255, 265, 269, 271, 281, 297, 309, 311, 315, 319 Reitzenstein, R. 194 Riklin, A. 16 Ritter, G. 234 Rudowski, V. A. 1 Rüstow, A. 234 Saracino, S. 2 Sasso, G. 3, 6, 9, 12 f., 20 f., 23, 26, 30 f., 39, 44, 46, 48, 52 f., 55, 58, 71, 73, 77, 79 f., 82, 84, 90, 92, 95, 99 f., 103, 105, 107 f., 112 f., 116, 121 f., 128, 130, 134, 138, 141, 143, 145, 149, 151, 157, 159, 161, 164, 167, 174, 177 f., 187, 190 f., 193, 196, 198, 200, 204, 208, 215, 222, 230, 239, 252, 261, 263 f., 268, 275, 278, 280, 282, 284, 286, 289, 291, 293, 297, 300, 302, 304 – 306, 311 Scharfstein, B.-A. 1 Schellhase, M. 33 Schiller, F. 203, 219, 321 Schlink, B. 97 Schmid, C. 245 Schmidt, A. 3, 150, 220 Schmitt, C. 5, 35, 178 Schmölz, F.-M. 234 Schröder, P. 70 Seneca 4, 135 Skinner, Q. 3, 22, 58, 65, 214, 242, 259, 264 Smith, A. 76, 145, 195, 217 f., 253, 290 Somek, A. 83 Spirito, U. 115 Stackelberg, J. 33, 35, 45, 57, 95, 153, 180, 187 Stagl, J. 217 Sternberger, D. 1, 247 Stierle, K. 14, 32, 93, 98 Stolleis, M. 33, 80, 124, 126, 211, 236
Strauss, L. 15, 22, 26, 32, 49, 56, 60 f., 64, 67, 87, 91, 103, 121, 124, 130, 147, 159, 182, 186, 192, 201, 206 f., 219, 233, 235, 237 f., 256, 273 f., 293, 299 f., 323 Stroh, W. 313 Sullivan, V. B. 126 Syme, R. 33, 35, 57, 62, 192, 194, 294, 311, 313 Tacitus 11 f., 32 – 35, 36 f., 45, 47 f., 54, 56 f., 67, 74, 77 – 79, 85 – 87, 95, 103, 116, 127, 133, 139, 141, 142, 146, 153, 163, 168, 170, 172, 179, 180, 181, 187, 194, 198, 202, 206, 207, 210, 211, 232, 234, 237, 238, 246 f., 256, 271, 280, 281 f., 284, 293 – 296, 299, 300, 306, 307, 323, 327 Taine, H. 14 Tartakower, S. 280 Thukydides 33, 35, 92, 183, 184, 294 f., 323 Timpe, D. 88, 116, 135, 194, 211 Toffanin, G. 33 Took, J. 216 Ullmann, W.
32
Vatter, M. E. 243 Vogt, J. 103, 256 Voigt, R. 2 Vollrath, E. 22 Vorländer, F. 3 Waley, D. 101 Weber, Max 217, 285, 298 Whitfield, J.-H. 14, 213 Wiseman, T. P. 113 Wood, N. 213 Zagrean, R. 213 Zippelius, R. 3