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German Pages 577 [580] Year 2013
Hans-Henrik Krummacher Lyra
Hans-Henrik Krummacher
Lyra Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert
ISBN 978-3-11-031835-7 e-ISBN 978-3-11-031840-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy DTP, Brennberg Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Teil I: Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen 1 1 Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie 3 2 Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert 77 3 Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung 125 4 Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel 181 Teil II: Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte 213 1 Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert 215 2 „Ich öffne meines Herzens Wunden“. Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert. Eine Skizze 273 3 „Sterben ist der langen Narrheit Ende“. Die Trauergedichte des jungen Schiller. Eine Skizze 331 4 Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina 361 Teil III: Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik 383 1 Lehr- und Trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts 385 2 Andreas Gryphius und Johann Arndt. Zum Verständnis der „Sonn- und Feiertags-Sonette“ 419 3 „De quatuor novissimis“. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius 439 4 Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock 501 Teil IV: Dichter und ihr Werk 527 1 Paul Gerhardt 529 2 Friedrich Gottlieb Klopstock 549 Nachweise Nachwort
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Teil I: Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen
1 Principes Lyricorum Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie* „In lyrischer Poesie“ – so kann man es bei Emil Staiger lesen – „gewinnt die Musik der Sprache größte Bedeutung“ (S. 52); – solche Poesie ist „unmittelbares Verlauten von Stimmung“ (S. 16); – „... ‚innen‘ und ‚außen‘ ... sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden“ (S. 60); – „Der lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich ... der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache wird ihm eingegeben“ (S. 24); – „Der Lyriker fordert nichts; im Gegenteil, er gibt nach; er läßt sich treiben, wohin die Flut der Stimmung ihn trägt“ (S. 42); – für ihn gibt es „nichts Dauerndes, nur Vergängliches ... fließt räumlich und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen ... Sprünge der Einbildungskraft ... nur für die Anschauung und den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern sie gleitet“ (S. 43f.); – „Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt“ (S. 81); – der „Lyriker ... ist einsam, weiß von keinem Publikum und dichtet für sich“ (S. 47); – „Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden soll, braucht nicht zu begründen“ (S. 49); – „Denken und Singen vertragen sich nicht“ (S. 37); – „... weil sogar die reinste lyrische Art, ein Lied, schon Dichtung ist, kann selbst ein Lied die Idee des Lyrischen nie ausschließlich realisieren“ (S. 77); – „Lyrisches Dichten ... ist jenes an sich unmögliche Sprechen der Seele“ (S. 78); – „lyrische Dichtung ... zwar seelenvoll, aber geistlos“ (S. 81).
* Die für diese Abhandlung benutzten Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare zum Werk der beiden antiken Dichter sind mit genaueren (wenn auch zumeist gekürzten) Titelangaben und mit Exemplarnachweisen in chronologisch geordneten Listen im Anhang zusammengefaßt. Sie werden im Text in sinngemäßer Vereinfachung angeführt und in den Anmerkungen im allgemeinen in der Kurzform zitiert, die über den jeweiligen bibliographischen Angaben des Anhangs notiert ist. Auch zu den ebenfalls in verkürzter Form angeführten Werken der humanistischen Poetik und zu einigen weiteren, häufiger zitierten Quellen finden sich die näheren bibliographischen Angaben mit Exemplar- oder Nachdrucknachweisen – alphabetisch geordnet – im Anhang. Alle Titelangaben und alle Zitate aus den Quellen werden typographisch vereinfacht wiedergegeben, Kürzel werden, soweit es zur leichteren Lesbarkeit erforderlich erscheint, aufgelöst. – Unter den Bibliotheken, auf deren Beständen diese Abhandlung beruht, gilt mein lebhafter Dank vor allem diesen: StuUB Göttingen, Stadtbibl. Mainz, StB München, HAB Wolfenbüttel. Der Herzog August Bibliothek bin ich darüber hinaus zu besonderem Dank dafür verpflichtet, daß sie vor Jahren durch die Einladung zu einem mehrmonatigen Gastaufenthalt die Erarbeitung der Grundlagen für diese Abhandlung wirksam unterstützt hat.
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Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen
Mit Wendungen und Sätzen wie diesen hat Emil Staiger in seinen 1946 zuerst erschienenen und alsbald für geraume Zeit kanonisch gewordenen „Grundbegriffen der Poetik“,¹ auch wenn er dabei keine normative Gattungspoetik mehr vertreten wollte, weit verbreitete Anschauungen von lyrischer Dichtung so wirkungsvoll formuliert, daß beispielsweise Karl Otto Conrady in seinem für die neuere Barockforschung wichtigen Buch über „Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts“ (1962), auch wenn er gewisse Vorbehalte nicht verschwieg, doch nicht wagte, die von ihm untersuchte antike und frühneuzeitliche Dichtung lyrisch zu nennen, sondern als „nicht-lyrische Lyrik“ ausgab.² Ihm war offenkundig so wenig wie Staiger selbst³ bewußt, daß dieser mit seinem Bild lyrischer Dichtung, das so deutlich nur an liedhafter Lyrik und an deren Beispielen bei Goethe, in der Romantik und im 19. Jahrhundert orientiert war, doch zugleich noch in einer viel weiter zurückreichenden und mancherlei Wandlungen des Lyrikbegriffs einschließenden Tradition der Lyriktheorie stand, an deren Beginn das dem Griechischen entlehnte lateinische Adjektiv „lyricus“ eine sehr andere Bedeutung hatte, als sie Staiger dem Begriff des Lyrischen beizulegen suchte, in welchem er einen der literaturwissenschaftlichen „Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins“ (S. 209) sah, und daher gerade zur Bezeichnung vieler Beispiele der von Conrady untersuchten Lyrik dienlich war. Symptome dieses nicht mehr bewußten Zusammenhangs sind Vorstellungen wie die von der notwendigen Kürze des Liedes, von den Sprüngen der Einbildungskraft, vom unrhetorischen Charakter des Liedes oder von der Musik der Sprache, von denen noch die Rede sein wird.
1 Alle voranstehenden Zitate nach der 3. Auflage, Zürich 1956. 2 Vgl. den entsprechend überschriebenen Abschnitt am Ende der Einleitung (S. 52–54), worin es schon im ersten Satz heißt: „Lyrik im Banne der lateinischen Tradition ist nicht lyrisch in dem Sinne, in dem Emil Staiger das Lyrische erläutert hat“ und dann trotz Ansätzen zur Kritik an Staiger konzediert wird: „Das Wort ‚lyrisch‘ allerdings sollte in Zukunft nur mehr in seinem Sinne angewendet werden“ (S. 53). Die Einwände zielen vor allem darauf, daß Staigers Voraussetzungen zu eng seien und sein Begriff des Lyrischen daher „nur auf einen sehr kleinen Teil von Dichtung anwendbar“ (S. 53). Die Einwände bleiben damit ganz auf der Ebene einer geforderten morphologischen Deskription, die mit Staigers anthropologischem Ansatz nicht zu leisten sei, lassen sich aber, auch wenn vom „unhistorischen Verfahren Staigers“ (S. 53) kritisch die Rede ist, nicht wirklich auf das Problem der Geschichtlichkeit und des geschichtlichen Werdegangs der literaturwissenschaftlichen Begriffe ein. 3 Obgleich dieser in seiner Einleitung (S. 7) immerhin einen knappen Hinweis auf die Orientierung des antiken Begriffs „lyrisch“ an den neun kanonischen griechischen Lyrikern und an Horaz gegeben hatte, die z. B. Catull nicht als Lyriker gelten ließ (s. zu Staiger auch noch Anm. 63).
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Staigers Anschauungen von der lyrischen Dichtung, die wohl die Lyrik vom jungen Goethe bis zum Beginn der Moderne, doch weder die der Moderne selbst noch diejenige älterer Epochen zu erläutern vermögen, haben neben jenen Erscheinungen von Lyrik, an denen sie sich ersichtlich orientieren, zunächst die Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Voraussetzung, in welcher diese Lyrik reflektiert wird. Bei Friedrich Theodor Vischer (1857), für welchen – die Nähe zu Staiger, der denn auch Vischer ausdrücklich mehrfach zitiert (S. 23, 60f., 66), ist unverkennbar – der „lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht“, und der Lyriker „es daher so [sagt], daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt“,⁴ bei Vischer oder zuvor schon in Hegels „Ästhetik“ (postum gedruckt 1835–1837) steht – wie dann ausschließlicher noch bei Staiger – im Mittelpunkt das Lied, mit Vischers Worten: „Die wahre lyrische Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, so daß dieses ihn ausspricht, indem es frei und einfach sich und seinen augenblicklichen Stimmungszustand ausspricht, begreift die große Masse des Liederartigen. Alle Grundzüge des Lyrischen ... gelten vorzüglich von dieser Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit und Sangbarkeit ist seine Natur“ (S. 1351, § 891). Unterschieden wird vom Lied neben anderen lyrischen Arten vor allem die dabei immerhin noch eigens bedachte Ode als – so Vischer – „hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Inhalts in kunstreichen Strophen und kühn abspringender Composition“, die aber, wie Vischer unter Berufung auf Hegel⁵ kritisch hinzusetzt, „zwei entgegengesetzte Seiten“ habe, „die hinreißende Macht des Inhalts und die subjective poetische Freiheit, welche im Kampfe mit dem Gegenstande ... hervorbricht; Gluth und unläugbarer Frost sind in ihr verbunden“ (S. 1349, § 890). Gut ein halbes Jahrhundert zuvor hatte es in Johann Georg Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“⁶ von der Ode noch etwas anders geheißen: „... darin kommen alle Kunstrichter mit einander überein, daß die Oden die höchste Dichtungsart ausmachen, daß sie das Eigenthümliche des Gedichts in einem höhern Grad zeigen, und mehr Gedicht sind,als irgend eine andere Gattung ... Da sie die Frucht des höchsten Feuers der Begeisterung ... ist: so kann sie keine beträchtliche Länge haben. Denn dieser Gemüthszustand kann seiner Natur nach nicht
4 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3. Theil, 2. Abschnitt, H. 5: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1325, § 885. 5 Die von Vischer gemeinte Stelle in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S. 1024f. 6 Bd. 3, 21793 (ND Hildesheim u. a. 1994).
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lange dauern“ (S. 538f.). Dem Lied hingegen spricht Sulzer „Gleichförmigkeit und Einfalt“ „in Absicht der Gedanken und Aeußerung der Empfindungen“ zu (S. 253), das „einfacheste ist zum Lied das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist“ (S. 254). Solche Abgrenzung und Bewertung von Ode und Lied und die dabei hervortretenden Unterschiede sind das Ergebnis eines längeren Prozesses, in welchem im 18. Jahrhundert sich zugleich mit der allmählichen Unterscheidung von Ode und Lied erstmals ein viele einzelne Arten – darunter schließlich auch die zuvor ganz separat behandelte Elegie – umfassender Begriff von Lyrik im seither geläufigen Sinne als dem einer Hauptgattung neben Epik und Dramatik ausbildet. Das aber geschieht zunächst unter Führung der Ode, die einer noch selbstverständlich rhetorisch fundierten Poetik als die höhere und, als Ausdruck gesteigerten Empfindens, für lyrischer und überhaupt für poetischer gilt, die aber aus dieser Vorrangstellung in der Lyriktheorie dann nach und nach durch das einfachere Lied verdrängt wird, seit im Gefolge der Genieästhetik ein zunehmendes Verlangen nach Formen eines unmittelbareren, individuelleren lyrischen Sprechens immer mehr hervortritt.⁷ Die im 18. Jahrhundert zunächst als Theorie der Ode sich entfaltende Lyriktheorie weist ihrerseits zurück auf die Poetik des Barock mit ihren Kapiteln über „Oden und Lieder“,⁸ worin diese, weil sie als Entsprechungen zur sangbaren strophischen Dichtung der Antike gelten, noch nicht von jenen unterschieden werden, und über die barocke Poetik hinaus noch weiter zurück auf die ihr zugrunde liegende, zumeist lateinsprachige Poetik des europäischen Humanismus in der 2. Hälfte des 16. und der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hier begegnet man erstmals in der Neuzeit einer ausformulierten Lyriktheorie. Sie behandelt, gelegentlich um eigene Kapitel über besondere Arten wie Hymnus oder Dithyrambus ergänzt, immer aber von der Erörterung der Elegie getrennt, unter der Bezeichnung „lyrica“ oder „lyrica poesis“ jene Dichtungen in antiken strophischen Formen, für die sie auch das in der klassischen Antike noch ungebräuchliche Wort „ode“ verwendet, die aber späterhin als Folge jenes angedeuteten Veränderungsprozesses in der Lyriktheorie immer weniger als eigentlich lyrisch gelten werden, während von den Humanisten gemäß antiker Überlieferung überhaupt nur die Verfasser derartiger Gedichte
7 Näheres zu diesem vielschichtigen Prozeß in der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 8 Vgl. auch dazu die eben genannte Abhandlung.
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und damit vor allem die neun oder zehn kanonischen λυρικοὶ der Griechen und Horaz als poetae lyrici angesehen werden.⁹ In der bis ins 18. Jahrhundert hinein einflußreichen Poetik Julius Caesar Scaligers (1561) beispielsweise heißt es von solchen Gedichten: „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas ... Neque enim ea sine cantu atque Lyra pronuntiabant. vnde & Lyricorum appellatio. Odas quoque à canendo titulum suorum librorum fecit Horatius …“, „Lyricorum materiam planè demonstrauit Horatius. Mihi ita videtur. Quaecunque in breue Poema cadere possunt, ea Lyricis numeris colligere ius esse … Poscit verò frequentiam sententiarum …“¹⁰ (Am nächsten kommt das lyrische Gedicht in seiner Hoheit der Erhabenheit des Epos ... man trug sie nämlich nicht ohne Gesang und Lyra vor. Daher auch der Name der lyrischen Gedichte. Auch hat wegen des Gesanges Horaz seinen Büchern den Titel Oden gegeben ... Den Gegenstand der lyrischen Gedichte hat ganz klar Horaz gezeigt. Es scheint mir demnach so [zu sein]: Alles, was in ein kurzes Gedicht paßt, darf in lyrische Verse gefaßt werden ... Es fordert aber häufige Sinnsprüche). Oder in der Poetik des großen Späthumanisten Gerhard Johannes Vossius (1647), die durch ihre Gelehrsamkeit besonders aufschlußreich ist, kann man in
9 Dazu besonders ausführlich Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 80–85, c.15. – Nur um die jahrhundertelang gültige communis opinio von lyrischer Dichtung, die mit den von Vossius gründlich erörterten griechischen lurikoὶ und Horaz umrissen ist und das Fundament einer sich daraus entfaltenden und freilich dann auch sich wandelnden Lyriktheorie der Neuzeit darstellt, kann es im hier verfolgten Zusammenhang gehen. So erübrigt sich eine nähere Auseinandersetzung mit dem Bild der antiken Lyrik in der gegenwärtigen Klassischen Philologie, die sich zwar anders als frühere – noch lange vom Dichtungsverständnis der Goethezeit geprägte – Generationen der Unterschiede zwischen antiker und neuzeitlicher Lyrik deutlicher bewußt ist, aber vielfach trotzdem – offenkundig weiterhin im Banne der um 1800 etablierten Gattungstrias stehend – einen Jambos, Elegie und Melos zusammenfassenden Begriff von Lyrik für die Antike zu rekonstruieren sucht: vgl. z. B. die Artikel s.v. „Lyrik“ in: Der Neue Pauly, Bd. 7 (1999), Sp. 586–594. – Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hrsg. v. Bernhard Zimmermann (Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Bd. 1), München 2011, S. 124–138: Andreas Bagordo, Lyrik: Einleitung; hier S. 124 die problematische Behauptung, Proklos habe „als eine Gruppe der poetischen Formen Jambos, Elegie und Melos (‚Lied‘, ‚Gesang‘)“ zusammengefaßt, „die mit dem Epos das ‚Erzählende‘ (dihghmatikόn) vertreten“, obgleich bei Proklos tatsächlich diese vier Arten ohne eine erkennbare Zusammenfassung der drei bei Bagordo als erste genannten nebeneinander aufgezählt werden (wie als Teile des mimhtikόn Tragödie, Satyrspiel und Komödie nebeneinander gestellt werden): tὸ mὲn dihghmatikὸn ἐkφέretai di᾿ ἔpouς ἰάmbou te kaὶ ἐlegeίou kaὶ mέlouς (Proklos, Chrestomathia, innerhalb der „Bibliotheca“ des Photios: Migne, Patrologia Graeca, Bd. 103, Sp. 1196). 10 Poetices libri septem, S. 47 (l.I, c.44) und S. 169 (l.III, c.124 [recte 123]). S. jetzt auch die zweisprachige Ausgabe von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 378–381; Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 198f.
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den breit angelegten Kapiteln über die Lyrica noch genauer differenzierende und erklärende Sätze lesen wie diese:¹¹ „... lyricorum nomen est ab instrumento, quo carmen illud caneretur ...“ (S. 60), „Materies carminis lyrici primò fuit in argumento gravi. Ut sunt laudes Deorum, vel heroum … Postea extensus odarum usus ad convivia, & amatoria“ (S. 65f.), „… carmen … extendit se … ad … omne illud, quod breviter versibus lyricis constringi possit“ (S. 67), „… eâdem odâ amplecti varia permissum: ut res multorum annorum: sed sic ut breui omnia percurramus“ (S. 74), „Ordinem verò in vario argumento magis regit impetus poëtae, quàm anxia artis cura. Itaque concessum etiam est subitò ab uno ad aliud devolare argumentum … Imò varietas haec, atque immutatio, non modo est concessa: sed magis commendat carmen lyricum. Fit autem saepe per digressionem“ (S. 75), „Nihil verò est, cujus in carmine ly rico aequè studiosum esse oporteat, quam … suavitatis.¹² Nempe hoc suavitas est in lyricis, quod in epicis gravitas …“ (S. 75), „In dictione oblectant lumina tum verborum, tum sententiarum. Verba igitur sunto picta, ac florida, & polita. Interim, ne suavitas ista sit expers majestatis, lyrici solent imitari dictionem Homeri“ (S. 76), „In numeris est metrum, sive pedum collocatio metro Lyrico idonea … Ac primitus quidem uniusmodi erat metrum … Postea versus misceri coeperunt, quia varietate illâ aures magis demulcerentur“ (S. 77f.) (Der Name der lyrischen Gedichte stammt von dem Instrument, zu welchem das Gedicht gesungen wurde ... Der Gegenstand des lyrischen Gedichts bestand zunächst in erhabenen Dingen, wie es das Lob der Götter oder der Heroen ist ... Später ist der Gebrauch der Oden auf Trinkgelage und Liebesdinge ausgedehnt worden ... Das Gedicht erstreckt sich auf all das, was kurz in lyrische Verse gefaßt werden kann ... Es ist erlaubt, in ein und derselben Ode verschiedenes, wie etwa Ereignisse aus vielen Jahren, zu behandeln, aber so, daß man es in knapper Form durchlaufen kann ... Die Anordnung aber des verschiedenartigen Inhalts bestimmt mehr der Schwung des Dichters als die ängstliche Sorge der Kunst. Daher ist es auch erlaubt, plötzlich von einem Gegenstand zum anderen zu fliegen ... Ja, diese Abwechslung und Veränderung ist nicht nur zugelassen, sondern macht das lyrische Gedicht noch angenehmer. Das geschieht aber meistens durch Abschweifung ... Nichts aber gibt es, worum man im lyrischen
11 Die folgenden Zitate nach: Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres, III, S. 60–85, c.12– 15. 12 Vossius verweist am Ende dieses Absatzes auf seine Rhetorik, in der er auseinandergesetzt habe, „Quomodo verò suavitas à pulchritudine differat“: s. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum sive Oratoriarum Institutionum Libri sex, 3Leiden 1630 (ND Kronberg 1974), Pars altera, l.VI, S. 491–493: c.7, sectio 15: De secunda moratae orationis parte, quae est suavitas.
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Gedicht so bemüht sein muß wie um die Lieblichkeit. Denn diese Lieblichkeit [suavitas] ist im lyrischen Gedicht das, was im epischen die Erhabenheit ... In der Redeweise erfreut Schmuck an Worten und Sinnsprüchen. Die Worte sollen darum fein ausgeführt, blühend und geschmackvoll sein. Zuweilen pflegen die lyrischen Gedichte, damit ihre Lieblichkeit nicht der Erhabenheit entbehrt, die Redeweise Homers [also des Epos] nachzuahmen ... In den Versen ist für das lyrische Gedicht ein Versmaß oder eine Verknüpfung von Versfüßen passend ... Zuerst war das Versmaß freilich nur von einer Art ... Späterhin begann man Versmaße zu mischen, weil durch solche Verschiedenartigkeit den Ohren mehr geschmeichelt wird). In der Poetik der Humanisten, die sich damit auch in diesem Bereich als Voraussetzung aller neuzeitlichen Literatur erweist, finden sich, wie solche Zitate hinreichend andeuten, im Kern all jene Einzelmomente der Lyriktheorie, die in der Folgezeit, wie immer im einzelnen aus- und umgedeutet, eine Rolle spielen. Wo aber stammen sie her? Wie kommt es zu dieser hier erstmals voll ausgebildeten neuzeitlichen Lyriktheorie? In der antiken Überlieferung, deren umfassende Aneignung Ursprung und Nährboden des Humanismus war, konnten die Humanisten keine geschlossene Theorie lyrischer Dichtung finden. Für Epik und Dramatik hatte vor allem die Aristotelische Poetik, die seit ihrer Wiederentdeckung (Erstdruck in lateinischer Übersetzung 1481,¹³ in griechischer Sprache 1508) zum wichtigsten Fundament neuzeitlicher Literaturtheorie wurde, einen Ausgangspunkt geboten, auch wenn in der Geschichte ihrer allmählichen Rezeption keineswegs ewig gültige Gattungsgesetze nur wiederentdeckt, sondern geschichtlich geprägte neu entwickelt und weiter entfaltet wurden. Für eine nähere Bestimmung lyrischer Dichtung hingegen, die man als solche bei Aristoteles, wie immer man sich deren Fehlen erklären mochte, jedenfalls nicht fand, konnten auch die beiläufigen Erwähnungen des aus der Antike ohnehin nur lückenhaft überlieferten Dithyrambos bei Aristoteles – auch wenn die Vierzahl der Gattungen Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambos (Poetik, c.1, 1447a) in der humanistischen Poetik neben anderen antiken Schemata von Dichtungsarten wiederholt erwähnt und dabei zum Teil der Dithyrambos mit dem Melicum oder Lyricum
13 Es handelte sich um die aus dem Jahr 1256 stammende, auf dem „mittleren Kommentar“ von Averroes beruhende lateinische Übersetzung des Hermannus Alemannus (s. Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 7, 2010, Sp. 131f.), deren Druck bis ins 20. Jahrhundert hinein der Forschung unbekannt geblieben ist. Erstmals zur Wirkung kam der Text der Poetik mit der 1498 gedruckten lateinischen Version von Giorgio Valla und der 1536 folgenden lateinischen Übersetzung von Alessandro de’ Pazzi.
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gleichgesetzt, durch dieses ergänzt oder ersetzt wird¹⁴ – ebenso wenig dienlich sein¹⁵ wie der für das Dichtungsverständnis des Aristoteles zentrale Begriff der Mimesis, der vielmehr, sobald er im Lauf des 16. Jahrhunderts die europäische Poetik zu beherrschen begann, immer wieder der Theorie der Lyrik zu schaffen gemacht hat¹⁶ bis hin zur Nachahmungstheorie von Charles Batteux und der kritischen Auseinandersetzung Herders, Klopstocks und anderer Autoren des 18. Jahrhunderts mit ihr.¹⁷ Horaz andererseits hatte in seiner „Ars poetica“, die auch dem Mittelalter bekannt geblieben war¹⁸ und noch vor der Aristotelischen Poetik zum anderen Grundtext neuzeitlicher Poetik wurde,¹⁹ nur in wenigen Versen (83–85) von lyrischer Dichtung gesprochen und eigentlich nur
14 Vgl. dazu u. a. Minturno, De Poeta (1559), S. 104 (... Melici etiam, & Dithyrambici) – Viperano, De Poetica (1579), S. 27 (… Dithyrambicum, siue Melicum) – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587), Paraphrasis S. 14 – Ceruti, De re poetica (1588), S. 10 – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 97 (… Dithyrambica, seu Lyrica) – Vossius, De Artis Poeticae Natura (1647), S. 86. 15 S. dazu auch die Hinweise in Anm. 146 und im zugehörigen Text. 16 Vgl. dazu u. a. Minturno, De Poeta (1559), S. 387f. – Vettori, Commentarii (1560), S. 3f. – Minturno, L’Arte Poetica (1564), S. 175ff. – Viperano, De Poetica (1579), S. 149ff. (l.III, c.X: An vlla sit in lyrico imitatio: quotve lyrici poёmatis partes sint) – Ceruti, Paraphrasis (1588), S. 20 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 – Donatus, Ars poetica (1633), S. 26ff., 28ff., 327 – Vossius, De Artis Poeticae Natura (1647), S. 20f. (… si poesis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poёtarum numero debeant excludi) – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, P. II (1661), S. 327. 17 Vgl. dazu in diesem Band die einschlägigen Partien in den Abhandlungen „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“ (hier in Anm. 59 und 109 auch die oben in Anm. 16 zitierten Stellen aus Viperano und Vossius als Belege für den langen Traditionszusammenhang des Problems der Mimesis in der Lyrik herangezogen). 18 Vgl. dazu u. a. Accessus ad Auctores, S. 49ff., 111ff. – Faral, Les Arts Poétiques, bes. S.109– 193: Matthieu de Vendôme, Ars versificatoria; S. 265–320: Geoffroi de Vinsauf, Documentum de modo et arte dictandi et versificandi (Nachweise der zahlreichen Horaz-Zitate in den Marginalien des Herausgebers) – Karsten Friis-Jensen, Commentaries on Horace’s Art of Poetry in the incunable period, in: Renaissance Studies 9, 1995, S. 228–239 – Maria-Barbara Quint, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption, Frankfurt a.M. u. a. 1988, S. 204–241: Horaz als Lehrer der Dichtkunst. 19 Erstdruck der „Ars poetica“ wohl innerhalb der ersten Ausgabe der „opera“ des Horaz um 1470, wohl in Venedig oder Mailand (vgl. F.L.A. Schweiger, Bibliographisches Lexicon der gesamten Literatur der Römer, T.1, Leipzig 1832, ND Amsterdam 1962, S. 386f.). Bei Schweiger, S. 427ff. auch zahlreiche – teils undatierte, seit 1503 durchwegs datierte – Einzeldrucke der „Ars poetica“, die deren intensive Rezeption vor Augen führen; viele der frühen Drucke sind unkommentierte Lese- und Studienausgaben, die mit auffallend viel Durchschuß reichlich Platz für Notizen der gelehrten oder noch lernenden Benutzer boten und nach dem Zeugnis mancher überlieferten Exemplare entsprechend genutzt worden sind.
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ihre Gegenstände benannt, von denen man allenfalls einzelne Arten lyrischer Dichtung und unter Umständen auch gewisse Stilunterschiede ableiten konnte.²⁰ Aus der vielfach nur trümmerhaften Hinterlassenschaft hellenistischer und spätantiker Philologie, in der es mancherlei einschlägige Schriften gegeben hat,²¹ und bei ihren byzantinischen Nachfolgern konnte man wohl manches auflesen.²² Sie bot, ergänzt durch gelegentliche ähnliche Hinweise bei Cicero (de opt. gen. or. I,1) oder schon bei Platon (rep. III,394), Schemata zur Einteilung der Dichtungsgattungen²³ nach Darbietungsweisen oder Gegenständen, in welche die Lyrica durch ausdrückliche Nennung einbezogen waren oder doch eingeordnet werden konnten,²⁴ sie lieferte Belege für den Zusammenhang der Lyrica mit
20 Die Horaz-Verse – zitiert im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung – sind in der neuzeitlichen Poetikliteratur allenthalben so präsent, daß sich Belege dafür hier erübrigen. 21 Vgl. zur antiken und byzantinischen Philologie, ihrer Überlieferung und deren Lücken (worunter manches vor allem die Lyrica betreffend): Alfred Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, 2 Berlin, Leipzig 1909 (mit näheren Angaben zu zahlreichen antiken Autoren), u. a. S. 13–82 (A. Das Altertum. 1. Die Griechen, a-d), 99–132 (2. Die Römer), 139–150 (B. Das Mittelalter. 1. Die byzantinische Epoche) – Rudolf Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek 1970 (engl. 1Oxford 1968), u. a. S. 150f., 164f., 224–233, 252–257, 334f. – Einleitung in die griechische Philologie, hrsg. v. Heinz-Günther Nesselrath, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 87–103: Nigel Wilson, Griechische Philologie im Altertum; S. 104–116: Nigel Wilson, Griechische Philologie in Byzanz – Einleitung in die lateinische Philologie, hrsg. v. Fritz Graf, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 3–16: Robert A. Kaster, Geschichte der Philologie in Rom; S. 17–34: Ilsetraut Hadot, Geschichte der Bildung; artes liberales. – Speziell zu den Scholien und ihren zumeist verlorenen Quellen vgl. Ernst Friedrich August Gräfenhan, Geschichte der klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 3, Bonn 1846, S. 274–287, § 227. Scholien; Bd. 4, 1850, S. 256–268, § 276. Stoff der Exegese; S. 276–330, § 278. Kommentatoren – A. Gudemann, Grundriß, S. 82–94: Die griechischen Scholien und ihre Quellen; 132–139: Lateinische Scholien und ihre Quellen; 139–150: Das Mittelalter: 1. Die byzantinische Epoche (mit verstreuten Hinweisen zu Scholien) – RE, 2. Reihe, 3. Halbbd., 1921, Sp. 625–705 (A. Gudemann, Scholien) – Der Neue Pauly, Bd. 11, 2001, Sp. 209–214. 22 Vgl. die zahlreiche (im Humanismus freilich erst teilweise bekannte) Belege zusammentragende Arbeit von Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, und den Färber kritisch ergänzenden Aufsatz von A.E. Harvey, The classification of Greek Lyric Poetry, in: The Classical Quarterley 49, 1955, S. 157–175, der auf den begrenzten Erkenntniswert der späten antiken Zeugnisse für das ursprüngliche Verständnis der Lyrik in der Antike hinweist, sowie die materialreiche Monographie von Pascal Hummel, Philologica lyrica. La poésie lyrique grecque au miroir de l’érudition philologique de l’antiquité à la Renaissance, Paris 1997. 23 Vgl. dazu auch den ersten Abschnitt der freilich in manchem unzureichenden Arbeit von Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle 1940. 24 Vgl. die Hinweise bei Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, T. I, S. 3ff.; T. II, S. 5ff. sowie I. Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, S. 9ff.
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dem Gesang und für die Etymologie ihrer Namen²⁵ oder eine Erläuterung zum triadischen Bau vieler Oden Pindars.²⁶ Bei dem Rhetor Menander (3. Jh. n. Chr.) begegnete man in einem Traktat zur epideiktischen Beredsamkeit auch Hinweisen zum Umfang und Stil verschiedener Preisgedichte.²⁷ Die von dem gelehrten byzantinischen Theologen Photios (9. Jh.) in seiner „Bibliotheca“ überlieferte Chrestomathie des Proklos (wohl 2. Jh. n. Chr.) enthielt die Namen und eine knappe Charakterisierung zahlreicher Gedichtarten auf Götter und Menschen.²⁸ Aber das alles waren doch nur verstreute Einzelheiten, und ergiebiger zeigten sich auch die antiken Grammatiken nicht, die bis in die frühe Neuzeit hinein
25 Zwei übereinstimmende Belege für eine prägnante Formulierung dieser offenkundig über Jahrhunderte tradierten Erklärung, die dann im frühen 16. Jahrhundert allenthalben aufgegriffen wird, seien hier angeführt: in den erhaltenen Fragmenten des Grammatikers Didymos (1. Jh. v. Chr., Verfasser u. a. einer verlorenen Schrift perὶ lurikῶn poihtῶn) finden sich die Sätze: lurikoὶ dέ eἰsin oὗtoi· ᾽Alkmάn, Sthsίcoroϛ, ;᾽Alkaῖoϛ, ῎Ibukoϛ, ᾽Anakrέwn, Simwnίdhϛ, Pίndaroϛ, Bakculίdhϛ. oὕtw dὲ proshgoreύqhsan diὰ tὸ prὸϛ lύran ᾄδesqai tὰ poiήmata aὐtῶn. (Die Lyriker aber sind diese: Alkman, Stesichoros, Alkaios, Ibykos, Anakreon, Simonides, Pindaros, Bakchylides. So aber werden sie benannt wegen des Gesangs ihrer Gedichte zur Lyra) (Didymi Chalcenteri Grammatici Alexandrini Fragmenta, ed. Mauricius Schmidt, Leipzig 1854, ND Amsterdam 1964, S. 395). Diese Sätze mitsamt ihrem Kontext hat Drachmann nach einer Pariser Handschrift als letztes der „Capitula ad praefationem pertinentia“ im Anhang seiner Ausgabe der Pindar-Scholien (Vol. III, S. 310f.) abgedruckt. – S. auch die Nachweise ähnlicher Stellen in Anm. 64 und 67. 26 Als Belege (die z.T. erst später gedruckt worden sind, die aber zum Teil durch die Handschriftenkenntnisse früher Humanisten gewirkt haben dürften und jedenfalls symptomatisch für ein verbreitetes Verständnis des Baus Pindarischer Oden sind) vgl. z. B. Didymi Fragmenta, S. 395: tῶn dὲ ᾠdῶn aἱ mέn eἰsi monόstroφoi, aἱ dὲ triadikaί ... triadikaὶ dὲ aἱ sunestῶsai ἔk te stroφῆϛ kaὶ ἀntistrόφou kaὶ ἐpῳdoῦ. – Scholia vetera in Pindari Carmina, Vol. I, S. 8 (in: Pindάrou gέnoϛ, sogen. Vita Thomana) – Eustathios von Thessaloniki (der byzantinische Gelehrte und Theologe des 12. Jahrhunderts, Verfasser u. a. eines Kommentars zu Pindar, von dem nur die Vorrede erhalten ist): Prooimion zum Pindarkommentar. Einleitung, kritischer Text, Indices, besorgt v. Athanasios Kambylis, Göttingen 1991, S. 31 – s. auch in Anm. 30 Belege aus spätantiken Grammatikern. 27 Vgl. Menander, Perὶ ἐpideiktikῶn, I. Geneqlίwn diaίresiϛ tῶn ἐpideiktikῶn, S. 334–344, in: Rhetores Graeci, hrsg. v. L. Spengel, Bd. 3, Leipzig 1856 (ND Frankfurt a.M. 1966), S. 331–367 und die Einzelausgabe: Menander Rhetor, ed. with translation and commentary by D.A. Russel, N.G. Wilson, Oxford 1981, S. 6–28. – Gedruckt worden sind die beiden Traktate Menanders erstmals 1508. Poliziano aber z. B. hat sie schon zuvor offenkundig aus einer Handschrift gekannt und benutzt (s. bei den Drucknachweisen in diesem Band den Nachtrag zu Anm. 29 des Aufsatzes über das barocke Epicedium). 28 Migne, Patrologia Graeca, Bd. 103, Sp. 1199ff. (Laut S.F.W. Hoffmann, Bibliographisches Lexicon der gesammten Literatur der Griechen, Bd. 3, Leipzig 1845, ND Amsterdam 1961, S. 292, und Bd. 1, Leipzig 1838, ND Amsterdam 1961, S. 202, erstmals gedruckt Frankfurt 1590, mit lateinischer Übersetzung von Andreas Schott).
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für den Lateinunterricht maßgeblich geblieben sind. In ihrem üblichen metrischen Teil, zu welchem da und dort auch kurze Bemerkungen über Dichtungsgattungen gehören, referieren sie zwar rudimentäre Vorstellungen von Epos und Drama, die dadurch auch im Mittelalter als dünnes Rinnsal von Gattungspoetik geläufig geblieben waren und dann als Anknüpfungspunkte noch für Rezeption und Ausdeutung der aristotelischen Poetik im 16. Jahrhundert von Einfluß sein konnten,²⁹ für die Lyrik hingegen gibt es kaum mehr als die auch sonst verbreiteten Hinweise zu ihren Namen und ihrem Zusammenhang mit dem Gesang und im übrigen Erläuterungen der vielfältigen Metren, insbesondere des Horaz.³⁰ Mehr wissen denn auch die Grammatiken und metrischen Traktate der frühen Humanisten noch nicht zu sagen.³¹ Was die Verfasser der dann entstehenden, über Vers- und Stillehre hinausgehenden Poetiken an verstreuten Einzelheiten der antiken Überlieferung gebrauchen konnten, das ist in ihren Werken verarbeitet und immer wieder, mit oder ohne Nennung der antiken Gewährsleute,
29 Das gilt vor allem für den Abschnitt „De poematibus“ in Buch III der „Ars grammatica“ des Diomedes (Grammatici latini, Vol. I, S. 482–492) mit ihrer besonders wirkungsreichen antithetischen Bestimmung von Komödie und Tragödie (S. 487f.); s. aber auch mancherlei knappere Bemerkungen zu verschiedenen Gattungen, zur Etymologie ihrer Namen und vor allem zum Zusammenhang bestimmter Metren mit bestimmten Gattungen in den Werken verschiedener Autoren zur Grammatik, u. a. Grammatici latini, Vol. I, S. 494ff.; Vol. VI, S. 50, 173, 182, 210, 274, 312, 519; Vol. VII, S. 259, 337; Vol. VIII, S. CCXV, 236. 30 Vgl. u. a. Grammatici latini, Vol. I, S. 518ff.; Vol. IV, S. 468ff.; Vol. VI, S. 50, 58ff. (hier auch wie S. 294f. zur triadischen Gliederung von „carmina in deos scripta“, ohne Nennung des Namens Pindar), 160ff., 173, 183f., 266ff., 294ff., 305f., 406ff., 600. 31 Vgl. z. B. Franciscus Niger, Grammatica ... cum metrica arte ejusdem, Basel 1499 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. 103r (Liricum carmen dicitur a lira: quum veteres huiusmodi carminum Scriptores ad liram poemata sua cantare consueuerint. Liricum carmen in quattuor partes diuisum est: in oden: s. epodon. palinodiam & psalmodiam) – Johannes Aventin, Rudimenta Grammaticae … Ex Varrone, Cicerone, Quintili Diomede, Phoca, Aelio Donato, Seruio, Prisciano, Terentiano, Martiano Capella, collecta, Leipzig 1522 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. Y4v (Lyricum de varijs leuiusculis / … & hymnos complectitur. Ode gesang … gassenhawer / die man auff der lauten schlecht / apud nos simillima sunt / ita dicta vt est apud Ciceronem quod ad Lyram canebantur. Horatius) – Joh. Susenbrot, Grammaticae artis institutio, o.O. u.J. (Verf. †1543) (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. 25v (Sunt & alia complura carminum genera, quorum rationem apud Diomedem, modulationem apud Horatium, Martial, & Catullum exacte cognosces) – Heinrich Bebel, Ars versificandi & carminum condendorum, Tübingen 1512 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. F6r – Joh. Despauterius, Ars versificatoria, Straßburg 1512 (Expl. HAB Wolfenbüttel), Bl. CLXXIIv (Lyricum quod ad lyram canitur, vt sunt ea genera quibus in Odis vtitur Horatius … de quibus omnibus in X. lib. grammaticae suae Franciscus Niger ex Diomede & aliis scripsit pulcherrime) – Joachim Fortius Ringelbergius, Compendium de conscribendis versibus, Leiden 1531 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 4.
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angeführt.³² Aber eine zusammenhängende Theorie hatten sie mit der Rezeption solcher Quellen noch nicht, und wesentliche Momente der von ihnen dann entwickelten Lyriktheorie fehlten darin ganz. Wie also entstand diese dann? Betrachtet man mit dieser Frage die humanistische Poetik, die wie die Lehrbücher der Rhetorik durch praecepta und exempla, Regeln und Muster zu imitatio und aemulatio, zu Nachahmung und überbietendem Wetteifer mit den Mustern anleiten will, so kann einem auffallen, wie sehr ihre Darlegungen zur lyrica poesis vor allem auf zwei Muster gegründet sind,³³ ja zu großen Teilen geradezu Auslegung nur dieser Muster sind, als Erklärung dieser Muster entwickelt werden. Bei dem Bemühen, in Anknüpfung an die neu gesehene und in zunehmender Breite erschlossene Überlieferung der Antike und im Wetteifer mit ihr eine eigene umfassende Poetik zu schaffen, die dann zur Grundlage der neuzeitlichen Gattungen auch in den Nationalsprachen geworden ist, blieb offenkundig den Humanisten für die Lyrik, wo eigentliche praecepta fehlten, allein die Orientierung an Mustern. Diese Muster, legitimiert als solche schon durch den Katalog vorbildlicher griechischer und römischer Autoren in Quintilians Lehrbuch der Rhetorik (X,1,46–131), sind Horaz zuvörderst und neben ihm Pindar. Humanistische Lyriktheorie ist weithin Exegese der Gedichte Pindars und des Horaz, angeleitet von zwei antiken Gewährsleuten, von dem, was Quintilian in seinem Katalog musterhafter Autoren zu beiden gesagt hatte,³⁴ und von der
32 Besonders aufschlußreich sind dafür das Werk Scaligers (s. das Register der im Nachdruck vorliegenden Erstausgabe und die darüber hinausführenden Register in Bd. 6 der zweisprachigen Neuausgabe) sowie die einige Jahrzehnte jüngere Poetik des G.J. Vossius (s. darin das Register und die zahlreichen Marginalien). Es könnte eine lohnende, doch alles andere als leichte Aufgabe sein, die in diese und in viele andere Werke der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts eingegangene antike Überlieferung genauer zu sichten und zu erschließen. – Zur Rezeption verstreuter antiker Quellen in humanistischen Werken der Poetik s. ferner auch die Register in: A. Manuzio d.J., In Q. Horatii Flacci ... Librum de Arte Poetica (1576) – Pigna, Poetica Horatiana (1561) – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587) – Vadianus, De Poetica (1518) – Vettori, Commentarii (1560). 33 Neben vielen entsprechenden Partien in zahlreichen Werken, die dafür anzuführen wären, sind auch zusammenfassende Abschnitte kennzeichnend wie im 5. Buch bei Scaliger das 7. Kapitel mit der Überschrift „Horatii et Graecorum comparatio“ oder bei Vossius im 3. Buch das 15. Kapitel: „Quis carmen melicum invenerit, et qui eo maxime excelluerint“, das den zweiten Teil der Überschrift insbesondere mit nachdrücklichen Hinweisen zur Bedeutung von Pindar und Horaz beantwortet. 34 S. den Abdruck der betreffenden Stellen (X,1,61 und 96) im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. – Die langwährende Autorität der Äußerungen von Quintilian und Horaz dürfte die maßgebliche Ursache dafür gewesen sein, daß zwei antike Autoren, die späteren Zeiten ganz selbstverständlich als bedeutende lyrische Dichter gegolten haben, lange neben den Principes Lyricorum Pindar und Horaz keine bestimmende Rolle spielen: Anakreon (obgleich
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Huldigung an Pindar zu Beginn der 2. Ode im 4. Odenbuch des Horaz.³⁵ Darin aber sind der Poetik die Horaz- und Pindarausgaben mit ihren Kommentaren vorausgegangen, die ihrerseits vielfach ohne Zweifel noch wiederum das spiegeln, was zunächst in akademischen Vorlesungen oder im Schulunterricht vorgetragen worden ist. Wie die humanistische Poetik selbst fundiert und ergänzt wird von Kommentaren zur ars poetica des Horaz und dann zur Poetik des Aristoteles³⁶ und wie etwa auch die neuzeitliche Satiretheorie – Jürgen Brummack hat das eindrücklich vorgeführt³⁷ – in humanistischen Kommentaren zu den
zu den neun kanonischen griechischen λѵρικοί gerechnet, bei Quintilian allerdings namentlich nicht genannt) und Catull (der mit seinen Formen ohnehin dem ursprünglichen Begriff der λѵρικοί nicht entsprach und dessen späterer Aufstieg zum Rang eines Lyrikers eine eigene Untersuchung – u. a. anhand der Ausgaben und Kommentare – wert wäre). 35 S. den Abdruck der Ode im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 36 Vgl. die einschlägigen Beispiele aus der von Bernhard Fabian herausgegebenen Nachdruckreihe „Poetiken des Cinquecento“ im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung. 37 Zu Begriff und Theorie der Satire, in: DVjs 45, 1971, Sonderheft Forschungsreferate, S. 275*– 377*, darin bes. S. 286*–298*. – In den letzten Jahrzehnten ist in verschiedenen philologischen Disziplinen ein lebhaftes Interesse an den vielfältigen Erscheinungen und Leistungen von Kommentaren (darunter auch an antiken Kommentaren und den Scholien) wahrzunehmen, wie beispielhaft eine Reihe von Sammelbänden sowie Monographien und Aufsätzen belegen mag: der kommentar in der renaissance, hrsg. v. August Buck u. Otto Herding, Boppard 1975 – Les Commentaires et la Naissance de la critique littéraire France/Italie (XIVe–XVIe siècles), hrsg. v. Gisèle Mathieu-Castellani, Michel Plaisance, Paris 1990 – Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, hrsg. v. Jan Assmann u. Burkhard Gladigow, München 1995 – Commentatori e Traduttori di Properzio dall’Umanesimo al Lachmann, hrsg. v. Guiseppe Catanzaro u. Francesco Santucci, Assisi 1996 – Commentaries – Kommentare, hrsg. v. Glenn W. Most, Göttingen 1999 – Der Kommentar in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ralph Häfner u. Markus Völkel, Tübingen 2006 – Frank La Brasca, L’Humanisme vulgaire et la genèse de la critique littéraire italienne: étude descriptive du commentaire dantesque de Cristoforo Landino, in: Chroniques Italiennes N.6, 1986, S. 3–96 – Maria Teresa Casella, Il metodo dei commentatori umanistici esemplato sul Beroaldo, in: Studi medievali 16, 1975, S. 627–701 – Paul M. Clogan, The Latin Commentaries to Statius: a bibliographical project, in: Acta Conventus NeoLatini Lovaniensis, 1973, S. 149–157 (Fortsetzungen in: Acta Conventus Neo-Latini 1988 und 1991) – Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden u. a. 1995 (darin S. 105–126 über „Kommentar und Kritik“) – Michael Roberts, Interpreting Hedonism: Renaissance Commentaries on Horace’s Epicurean Odes, in: Arethusa 28, 1995, S. 289–307 – Udo W. Scholz, Zur Persius-Kommentierung um 1500: Scholia und Kommentare, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung, hrsg. v. Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1987, S. 143–156 – vgl. auch das von Paul Oskar Kristeller in Gang gebrachte große Unternehmen: Catalogus Translationum et Commentariorum. Medieval and Renaissance Latin translations and commentaries. Annotated lists and guides, 1960ff. Nur ein Teil der einschlägigen Arbeiten auf diesem Gebiet allerdings widmet sich so wie Brummack dem Anteil von Autorenkommen-
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römischen Satirikern Juvenal, Persius und Horaz sich auszubilden beginnt, so befestigen, wie zu zeigen sein wird, die Kommentare die Geltung von Pindar und Horaz als den allein maßgeblichen Mustern lyrischer Dichtung und entwickeln, indem sie deren Gedichte charakterisieren und erläutern, einige immer wieder auftauchende Gesichtspunkte zum Verständnis solcher Texte. Hier liegen – in Verknüpfung mit den verstreuten Hinweisen, die der antiken Überlieferung sonst zu entnehmen waren – die eigentlichen Wurzeln der humanistischen und damit der ganzen neuzeitlichen Lyriktheorie. Schon die erste Horaz-Ausgabe mit einem neuzeitlichen Kommentar, die 1482 in Florenz, 1483 in Venedig erschienene Ausgabe des Cristoforo Landino – vorausgegangen waren seit etwa 1470 einige wenige unkommentierte Ausgaben³⁸ und die ersten Drucke mit den antiken Horaz-Scholien des Porphyrio und des Ps. Acro,³⁹ – schon die Ausgabe des Landino preist Pindar in der Vorrede und im Kommentar zur Horazischen Ode IV,2 unter Berufung auf diesen selbst und
taren an Entstehung und Tradierung von Aspekten der Poetik oder gibt wenigstens Hinweise dazu: vgl. u. a. Anthony Grafton, Renaissance Readers and Ancient Texts: Comments on Some Commentaries, in: Renaissance Quarterly 38, 1985, S. 615–649 – Concetta Carestia Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics 1250–1500, Lewisburg u. a. 1981 – Malcom Heath, Unity in Greek Poetics, Oxford 1989 – Marvin T. Herrick, Comic Theory in the sixteenth Century, Urbana 1950 – Rainer Jakobi, Die Kunst der Exegese im Terenzkommentar des Donat, Berlin, New York 1996 – Roos Meijering, Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia, Groningen 1987 – Joyce Monroe Simons, Martial in the Renaissance: Three „Lost“ Commentaries Found, in: Acta Conventus Neo-Latini Torontonensis, 1991, S. 689–696 – Rainer Stillers, Humanistische Deutung. Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance, Düsseldorf 1988 – Bernard Weinberg, Badius Ascensius and the Transmission of Medieval Literary Criticism, in: Romance Philology 9, 1955/56, S. 209–216 – Penelope Wilson, Pindar and his Reputation in Antiquity, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 206, 1980, S. 97–114. 38 Vgl. Schweiger, Bibliographisches Lexicon der gesamten Literatur der Römer, T.1, S. 386ff. 39 Ps.Acro wohl zuerst Mailand 1474 (s. Schweiger, T.1, S. 387, 447). Porphyrio (zusammen mit Ps.Acro) zuerst wohl Venedig 1481 (s. Schweiger, T.1, S. 388, 447); die maßgeblichen kritischen Ausgaben der beiden Sammlungen s. im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung. Daß die beiden antiken Scholien-Sammlungen in zahlreiche weitere Horaz-Ausgaben (insbesondere der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) aufgenommen worden sind (s. die Nachweise bei Schweiger und viele der Titel im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung) und vielfach als Quellen der weiteren Kommentierung gedient haben, bedarf kaum der Erwähnung. – Zu Ps.Acro (die Autorschaft des wohl im 2. Jh. n.Chr. lebenden Grammatikers Helenius Acron ist zweifelhaft) und zu Pomponius Porphyrio (2./3. Jh. n.Chr.) vgl. u. a. Gräfenhan, Geschichte der Klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 4, S.260–263, 308–313 – Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, S. 136f. – RE 14, 1912, Sp. 2841–2844 – Schanz-Hosius, Geschichte der Römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian, 3.T., München 1922, S.165–168 – Silke Diederich, Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen
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auf Quintilian: „Ex omnibus autem qui apud graecos inter lyricos enumerantur Pyndarus sine controuersia princeps habetur: quem multi homero praeponere non dubitarunt“ (Bl. a1v)⁴⁰ (Von allen aber, die bei den Griechen unter den Lyrikern aufgezählt werden, gilt Pindar ohne Widerspruch als der princeps; viele zögerten nicht, ihn dem Homer vorzuziehen), und sie läßt zugleich nicht im unklaren darüber, daß ihm Horaz an Weisheit und Kunst vergleichbar sei. Von da an findet man immer wieder in zahlreichen Ausgaben ihrer Werke beide Autoren, einzeln oder zusammen, als Princeps oder Principes Lyricorum, als die Ersten, die Besten, die Anführer oder Fürsten der griechischen oder römischen oder überhaupt aller Lyriker benannt, vielfach unter Berufung auf jene Stellen bei Quintilian und Horaz,⁴¹ und viele Ausgaben bekunden solche Einschätzung schon auf dem Titelblatt, das „Horatii ... Poetae amoenissimi, exactissimique, atque inter Lyricos Latinos Principis opera“⁴² oder „Pindari Poetae vetustissimi, Lyricorumque omnium Principis, Olympica, Pythica, Nemea, Isthmia“⁴³ ankündigt. Diesen Ehrentitel der beiden Musterautoren machen sich dann auch viele der Poetiken zu eigen.⁴⁴ Nimmt man das Zeugnis von Schulordnungen⁴⁵ und
der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition, Berlin, New York 1999 – Der Neue Pauly, Bd. 5, 1998, Sp. 281; Bd. 10, 2001, Sp. 173f. 40 Zitiert nach der Ausgabe von 1483; ähnlich Bl. m8r zu Horaz Od. IV,2. 41 Vgl. als Belege in Horaz-Ausgaben z. B.: Badius Ascensius 1503, Bl.4v (Horatii Venusini Vita), XCVIIv (zu Od.IV,2) – Basel 1521, Bl.a 3v (Q. Horatii Flacci vita per Petrum Crinitum) – Basel 1531, S. 140 (zu Od.IV,2) – Glarean 1533, S. 141 (zu Od.IV,2) – Figulus 1546, Bl.**8r (Vorrede), S. 513 (zu Od.IV,2) – als Belege aus Pindar-Ausgaben z. B.: Lonicerus 1535, Bl.α3v (Widmungsvorrede) – Neander 1556, S. 13f. (De vita Pindari) – Melanchthon 1558, S. 125f. (De Pindaro) – Sudorius 1575, Bl. 3v (Widmungsvorrede). 42 Ausgabe Basel 1527. 43 Lateinische Übersetzung der Epinikien Pindars von Joh. Lonicerus, Basel 1528. Weitere Belege erübrigen sich angesichts der außerordentlichen Verbreitung solcher Angaben auf den Titelblättern der frühneuzeitlichen Pindar- und Horaz-Ausgaben (eine Reihe von Beispielen findet sich in den Titelangaben im Quellenverzeichnis am Ende dieser Abhandlung). 44 Vgl. z. B. Vadianus, De Poetica (1518), S. 256f. (Horaz) – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 123 (Pindar) – Minturno, De poeta (1559), S. 379 (Pindar) – Minturno, L’Arte Poetica (1564), S. 169 (Pindar), 182 (Pindar) – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 331 (zit. Quintilian zu Pindar und Horaz) – Vossius, Institutionum Poeticarum libri tres (1647), III, S. 81 (zit. Quintilian zu Pindar), 83f. (zit. Quintilian zu Horaz). Besonders markant für die Rolle von Pindar und Horaz als den entscheidenden Mustern der Lyrica ist eine Stelle im Abschnitt „De Ode“ in der im Schulbetrieb des 17. Jahrhunderts lange verbreiteten „Poetica“ der Gießener Professoren Conrad Bachmann und Christoph Helvicus (31623), an der Pindar und Horaz zusammen erwähnt werden als die „principes Lyricorum“ (S. 332 [recte 326]). 45 Vgl. Evangelische Schulordnungen, hrsg. v. Reinhold Vormbaum, Bd. 1, Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1860, u. a. S. 494 (Stralsund, 1591), 536 (Brandenburg, 1564), 559 (Gandersheim, 1571), 663, 665 (J. Sturm, 1538), 688, 690 (J. Sturm,
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Fakultätsstatuten⁴⁶ über die Bedeutung dieser Autoren im Unterricht der Schulen und Universitäten hinzu, für den viele der Ausgaben – wie die handschriftlichen Spuren in zahlreichen Exemplaren zeigen – intensiv benutzt worden sind, so mag man sich eine einigermaßen zutreffende Vorstellung davon machen,
1565: „Horatiana vel Pindarica carmina commutare non verbis, sed carminum generibus, laudabile est et fructuosum“), 737 (Lauingen, 1565) – Bd. 2, Die evangelischen Schulordnungen des siebenzehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1863, u. a. S. 46 (Sachsen-Coburg-Gotha, 1605), 100, 102 (Görlitz, 1609), 148, 157f., 163, 167 (Kurpfalz, 1615), 186 (Landgrafschaft Hessen, 1618), 206 (Soest, 1618), 273, 280 (Moers, 1635), 383 (Stralsund, 1643), 417, 418 (Braunschweig-Wolfenbüttel, 1651; mit Empfehlung zahlreicher Kommentare), 440 (Frankfurt a.M., 1654), 455 (Landgrafschaft Hessen, 1656), 485 (Grafschaft Hanau, 1658), 561 (Halle, 1661), 594 (Güstrow, 1662), 619 (Bremen, 1663), 767 (Nürnberg, 1698/99). 46 Vgl. dazu u. a.: Acten und Urkunden der Universität Frankfurt a.O., hrsg. v. Georg Kaufmann u. Gustav Bauch, H.3, Breslau 1900, S. 23 (Statuta facultatis philosophicae, zwischen 1640 und 1648: u. a. Vergil, Horaz, Lukrez, Juvenal als Prüfungsgegenstände) – Statuten und Reformationen der Universität Heidelberg vom 16. bis 18. Jahrhundert, bearb. v. August Thorbecke, Leipzig 1891, S. 98 (Reformation des Kurfürsten Otto Heinrich, 1558: Vorlesung zur griechischen Sprache über Homer, Hesiod, Theokrit, Apollonius, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Pindar, Arat, Demosthenes, Platon, Thukydides, Herodot, Xenophon u. a.), 100 (Professor der Poesie und Historie soll lesen u. a. über Livius, Caesar, über Plautus und andere mit Darlegung der Regeln des Aristoteles und des Horaz), 104 (Entwurf für das Pädagogium, 1557: als Lektüre Vergil, Episteln des Horaz, Ovid, Terenz, Plautus u. a.), 200 (Reformation des Kurfürsten Ludwig VI., 1580: lection poetices: Plautus, Lukrez, Vergil, Horaz, Ovid, Seneca, Lukan, Caesar, Sallust, Livius, Sueton, Tacitus u. a.; lection graecae linguae: diverse Historiker, Philosophen u. a.; Poeten: Homer, Hesiod, Sophokles, Euripides, „Pyndarus“, Theokrit etc.) – Die Statuten der Universität Helmstedt, bearb. v. Peter Baumgart u. Ernst Pitz, Göttingen 1963, Statuten von 1576: S. 128f. (§ 226: Aufgabe des Professors der griechischen Sprache u. a. Erklärung griechischer Autoren: Homer, Hesiod, Isokrates, Demosthenes, Euripides, Sophokles, Pindar, Herodot, Thukydides, Aristoteles, Ptolemaeus, Galen), 160 (§ 364: im Zusammenhang mit der Musica erwähnt Pindar und Simonides: „odas suas ipsi ad lyram ... cecinerunt“), 157 (§ 350: Horaz erwähnt im Zusammenhang mit der poetica), 158 (§ 356: Vorlesungen über Vergil, Ovid, Horaz, Seneca, Lukan), 162 (§ 371: Professor poesos soll lesen bes. über Vergil und Horaz de arte poetica) – Urkundenbuch der Universität Wittenberg, T.1 (1502–1611), bearb. v. Walter Friedensburg, Magdeburg 1926, S. 627 (Gutachten der Philosophischen Fakultät zum Entwurf der Universitätsordnung des Kurfürsten Christian II., nach 1603: der Professor graecae linguae hat schon längst gelesen über Homer, Demosthenes, Sophokles, teils sich vorgenommen, künftig zu lesen über Pindar, Isokrates, Thukydides, hält aber auch Hesiod, Theokrit, Euripides, die z.T. in den gedruckten alten Statuten genannt sind, für geeignet), 672 (letzte Fassung des Entwurfs, 1606: der Professor der griechischen Sprache soll lesen über Homer, Thukydides, Demosthenes, Isokrates, Sophokles oder auch Pindar und was die Fakultät für nützlich hält; der Professor oratoriae soll lesen über Cicero, Caesar, Livius etc., der Professor der lateinischen Sprache soll professor poeseos sein und lesen über Vergils Aeneis, Plautus, Terenz, Horaz, Ovid); T.2 (1611–1813), 1927, S. 249 (Satzung der Philosophischen Fakultät, 1666: der professor poeseos soll über Vergil, Plautus, Terenz, Horaz, Ovid u. a. lesen).
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wie sehr seit der Wende zum 16. Jahrhundert Horaz und Pindar für jeden Gebildeten Inbegriff lyrischer Dichtung sein mußten, wie sehr das, was Quintilian vom Rang beider Dichter, was er von Pindars Eigenart, von der Großartigkeit seines Geistes und dem Fluß seiner Beredsamkeit, was er von der Ebenbürtigkeit des Horaz und was dieser von der erhaben-enthusiastischen Dichtung Pindars gesagt hatte, zu den verbreitetsten literarischen Vorstellungen gehört haben muß. Das in den Kommentaren zuerst entwickelte Bild von Pindar und Horaz, die durch sie geleistete intensive Rezeption machten es möglich, daß diese Autoren nicht nur in der humanistischen Poetik als Muster fungieren, sondern – wie sich auch noch in der weiteren Geschichte der Pindar- und Horazphilologie und ihrem Verständnis der beiden Dichter bekundet⁴⁷ – diese für Jahrhunderte allen Lesern eingeprägte Rolle für die Lyriktheorie, bei allen Wandlungen, die diese durchmacht, bis in den Ausgang des 18. Jahrhunderts in hohem Grade behalten.⁴⁸ Allerdings gilt es auch Unterschiede zu beachten. Horaz, der auch im Mittelalter nicht vergessen war, auch wenn die Teile seines Werks in unterschied-
47 Ein markantes Beispiel aus dem 17. Jahrhundert für die Verknüpfung von Pindar-Rezeption und -Deutung mit den Grundlagen zeitgenössischer Produktion und Deutung von Literatur ist die noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein präsente Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid (1616) mit ihren rhetorisch-dialektischen Analysen der Pindarischen Epinikien. – Beispiele für das produktive Wechselverhältnis zwischen dem Literaturverständnis und insbesondere der Entfaltung der Lyriktheorie und der Pindar- und Horaz-Interpretation im 18. Jahrhundert sind u. a. diese Ausgaben und Schriften über Pindar: Vauvilliers 1772 – Schneider 1774 – Gedike 1777 – Greene 1778 – Gedike 1779 – Heyne 1798/99 – Costa 1808 – sowie diese Horaz-Ausgaben: Pellegrin 1715 – Dacier 1727 – Sanadon 1728 – Groschuf 1749 – Schmidt 1776 – Jani 1778/82 – Dorighello 1780. Manche anregenden Hinweise zur Geschichte der Pindar- und Horaz-Rezeption und -Deutung im 18. Jahrhundert bieten die Beiträge von Ernst A. Schmidt (Das Interesse am horazischen Einzelgedicht) und Thomas Gelzer (Pindarverständnis und Pindarübersetzung im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert) in dem von Walther Killy herausgegebenen Sammelband „Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz“ (München, 1981, S. 19–70 und 81–115), denen allerdings eine noch intensivere und differenziertere Berücksichtigung der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts gutgetan hätte. 48 Dafür mögen als prägnante Beispiele genügen: Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 423, 425, 429, 432 (T.II, 1. Hauptstück: Von Oden, oder Liedern) – Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, Berlin, Stettin 1783 (Expl. StB Berlin), S. 110, 111, 113 (Die lyrische Poesie) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (2 1793), S. 538, 540, 541, 542, 544, 545f., 547, 548, 549 (Artikel Ode). Vgl. auch zur Rolle von Pindar und Horaz für die Entwicklung von Herders Lyrikanschauung die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band sowie zum Erlöschen der Rolle von Pindar und Horaz als Muster lyrischer Dichtung im 19. Jahrhundert den Schlußteil der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“.
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lichem Maße bekannt waren,⁴⁹ ist früher gedruckt worden, ist in einer viel größeren Zahl von Ausgaben verbreitet, viel häufiger kommentiert, entsprechend häufiger auch übersetzt und nachgeahmt worden, wird als Gegenstand des Schulunterrichts viel häufiger genannt, ist sicherlich auch jenseits der Schule viel intensiver gelesen worden und damit ungemein stärker gegenwärtig gewesen – noch die eingehenden Auseinandersetzungen Lessings oder Herders mit Horaz bezeugen dies im 18. Jahrhundert,⁵⁰ und als es Klopstock gelang, antike Odenmaße im Deutschen nachzubilden, da waren es die Formen des Horaz und nicht die Pindars, so wichtig das seit dem 16. Jahrhundert überlieferte Bild seiner Dichtung für Klopstocks Dichtungs- und Selbstverständnis gewesen ist. Pindar, dessen Sprache die Humanisten im westlichen Europa sich anders als das immer lebendig gebliebene Latein erst neu aneignen mußten,⁵¹ ist mit dem einzigen vollständig erhaltenen Teil seines Werkes, den Epinikien, erst 1513 (Venedig), mehr als vier Jahrzehnte nach Horaz, durch den Druck zugänglich geworden. Zwar enthielt schon die nächste, 1515 in Rom erschienene Ausgabe auch die antiken Scholien,⁵² aber auch sie erschienen damit erst mehr als drei Jahrzehnte nach den Horaz-Scholien. Der Melanchthonschüler Johannes Lonicerus, dessen Vorreden die Schwierigkeiten der frühen Pindar-Rezeption zugleich mit dem Werben für diesen Dichter andeuten,⁵³ legte 1535 zusammen mit der zweiten Auflage seiner lateinischen Prosawiedergabe der Gesänge Pindars den ersten
49 S. dazu zusammenfassend die Arbeit von M.-B. Quint, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption, 1988. 50 Vgl. dazu – von vielen möglichen Einzelbelegen abgesehen – insbesondere Lessing: Ein Vade mecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange (1754) – Rettungen des Horaz (1754) – Herder: Briefe über das Lesen des Horaz (Adrastea, Bd. 5, 1803) – Nachdichtungen von Oden und Sermones des Horaz (SW, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 26, S. 213–283). 51 Die hingegen in Byzanz gegebene sprachliche Kontinuität hat es mit sich gebracht, daß hier Pindar auch im Mittelalter präsent geblieben ist (vgl. dazu: Johannes Irmscher, Pindar in Byzanz, in: Aischylos und Pindar. Studien zu Werk und Nachwirkung, hrsg. v. Ernst Günther Schmidt, Berlin 1981, S. 296–302). 52 Nähere bibliographische Angaben zu den beiden Ausgaben mit Exemplarnachweisen sowie zur maßgeblichen kritischen Ausgabe der Scholien im Anhang zu dieser Abhandlung. – Zu den aus vielen Quellen unterschiedlichen Alters gespeisten Pindar-Scholien vgl. u. a. Gräfenhan, Geschichte der Klassischen Philologie im Alterthum, Bd. 3, S. 279f. – Gudemann, Grundriss der Geschichte der klassischen Philologie, S. 84 – RE, 2. Reihe, 3. Halbbd., 1921, Sp. 647–652 – Mary R. Lefkowitz, The Pindar Scholia, in: American Journal of Philology 106, 1985, S. 269–282 – Dies., First-Person Fictions. Pindar’s Poetic ‚I‘, Oxford 1991, S. 72–88, 147–160 (in beiden Arbeiten der Verf. sehr kritische, aber nicht durchwegs überzeugende Bewertung der Scholien und ihrer Wirkungsgeschichte). 53 Ausgabe Basel 1528 (erste gedruckte lateinische Pindar-Übersetzung), Bl. A 2r f. – Ausgabe Basel 1535, u. a. Bl. α2v (Widmungsvorrede von 1532: ... Enarrationes adiecimus, e Graecis
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Kommentar vor, dem nur einige erläuternde Marginalien in der ersten Ausgabe seiner Übersetzung von 1528 vorangegangen waren – dies erst rund ein halbes Jahrhundert nach den ersten Horazkommentaren. Viel geringer bleibt denn auch in der Folgezeit die Zahl der Pindarausgaben und der Kommentare, und man kann zudem feststellen, daß Horaz vielfach auch in den Werken zur Poetik häufiger genannt und eingehender erörtert wird. Trotz solchen Verzögerungen und Beschränkungen der Rezeption gehen aber, seit er in das Blickfeld humanistischer Philologie getreten ist, auch von Pindars Werk, verstärkt durch die Autorität der einprägsamen Zeugnisse von Quintilian und Horaz, bedeutende Wirkungen auf die sich ausbildende Lyriktheorie aus. Freilich verbinden sie sich mit denen des anderen Musters, Horaz, auf komplizierte Weise. Aber gerade darin, im spannungsreichen Mit- und Gegeneinander der beiden verschiedenartigen Muster liegen auch Keime späterer Entwicklungen und Wandlungen der Lyriktheorie beschlossen. Wie den Rang Pindars und des Horaz als Principes Lyricorum und damit als Muster der Lyrik, so verknüpfen die Kommentare, vor allem in ihren Vorreden oder in ihren Erläuterungen zu den Versen 83–85 der Horazischen ars poetica, auch einige andere allgemeine Aussagen zu lyrischer Dichtung, für die sie ihrerseits Stichworte oder Anregungen in der Überlieferung vorfanden, von früh an mit diesen Mustern und prägen sie so für lange Zeit als Konstanten des zeitgenössischen Lyrikverständnisses ein, denen man dann in den Werken der Poetik wiederbegegnet. Ähnlich wie Johannes Franciscus Philomusus (d.i. Giovanni Francesco Superchi) aus Pesaro in einem Widmungsgedicht zu seiner Horazausgabe von 1490 (ungez. Bl. verso) und Jakob Locher in einer der lyrischen Dichtung geltenden Ode an Apoll, die in seiner Horazausgabe von 1498 der Widmungsvorrede folgt (Bl. 3v), hat Badius Ascensius, einer der wichtigsten humanistischen Kommentatoren antiker Literatur, in seiner Horazausgabe von 1503, im Blick auf v. 83–85 der ars poetica, als materia des carmen lyricum „laudes diuorum aut deorum [recte: heroum] victoriae / amores aut potationes“ (T. II, Bl. VIIIv) (Lob der Götter oder Siege der Heroen, Liebesdinge oder Trinkgelage) genannt. Solche Aufzählung der verschiedenartigen Gegenstände lyrischer Dichtung, später unter anderem bei Figulus (1546), im Kommentar zu Horaz, Ode I,6, v. 17, in die knappe, bei vielen anderen Kommentatoren und Poetikverfassern wiederkehrende oder in ihren Darlegungen zur Entfaltung der Lyrica abge-
Scholijs & optimis quibusque utriusque linguae autoribus decerptas: quarum opere Pindarum nostrum apertiorem fore quam antehac, equidem spero).
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wandelte ⁵⁴ Formulierung gefaßt: „Deorum et fortium uirorum laudes primum, postea iuuenum amores & conuiuia canebantur“ (S. 56) (zuerst wurde das Lob der Götter und kühnen Männer, später Liebesdinge der jungen Leute und Gastmähler besungen),⁵⁵ klingt noch nach in Hegels Aussagen über den Inhalt von Oden⁵⁶ und ist im 18. Jahrhundert eine der Voraussetzungen für die Unterscheidung von Ode und Lied. Gelegentlich wird dabei auch die in solchen Gegenständen sich erweisende varietas als solche eigens benannt,⁵⁷ die auch später noch häufiger als charakteristisches, von anderen Gattungen unterscheidendes, als auszeichnendes oder auch die Theorie erschwerendes Merkmal erörtert wird.⁵⁸
54 Als prägnante Beispiele vgl. u. a. Viperano, De Poetica (1579), S. 148f. – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 324 – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 65f. (Materies carminis lyrici primo fuit in argumento gravi. Ut sunt laudes Deorum, vel heroum … Postea extensus odarum usus ad convivia, & amatoria). 55 Ähnlich formuliert auch S. 515 (zu Od. IV,2,9) (unter Verweisung auf v. 83–85 der Ars poetica). 56 Ästhetik, S. 1024: „Einerseits ... erwählt sich der Dichter auch innerhalb dieser neuen Form und Äußerungsweise wie bisher einen in sich selbst gewichtigen Inhalt, den Ruhm und Preis der Götter, Helden, Fürsten, Liebe, Schönheit, Kunst, Freundschaft usf ...“. 57 Das geschieht wiederholt in engem Zusammenhang mit einer Würdigung der Dichtung des Horaz: vgl. z. B. Xylander 1576, Bl. a8v (Widmungsvorrede: ... mira est argumentorum & in lyrico carmine, & in sermoni ... varietas) – Stephanus 1588, Bl. )(4r (Dedikationsepistel: Multos alioqui eius amatores esse constet: quoniam vt varia sunt eius poematum argumenta, ita varias sui amandi occasiones pro ingeniorum varietate lectoribus praebet) – Torrentius 1608, Bl. ***2v (De Q. Horatii Vita ac Scriptis: Mira est in Odis & carminis argumentorum varietas …). 58 Vgl. dazu u. a. Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (21700), hrsg. v. Henning Boetius, Homburg v.d.H. u. a. 1969, S. 339 (Es können alle Sachen sich zu den Oden schicken / Geistliche / Sittliche / Liebreitzende / Kriegrische und dergleichen mehr ...) – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (41751), S. 428 (Die Materien, die in Oden vorkommen können, sind fast unzählig ... [der] ersten Erfindung zufolge, würde man ... nur traurige, lustige und verliebte Lieder machen müssen; oder höchstens Lobgesänge auf Götter und Helden machen dörfen. Aber nach der Zeit hat man sich daran nicht gebunden ... Indessen wenn man sich die Natur der Sachen ansieht, so ist es wohl am besten, wenn man sich von der ersten Erfindung so wenig entfernet, als möglich ist; und das Lob der Helden und Sieger, den Wein und die Liebe mehrentheils darinn herrschen läßt) – Johann Bernhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756 (Expl. StuUB Göttingen), S. 496 (... das Lob der Gottheit und andre Gebete; die Bewundrung und das Andenken außerordentlicher Thaten und Tugenden ... die Zärtlichkeit gegen Freunde und das schöne Geschlecht ... waren vermuthlich auch die Gegenstände der ersten Lieder ...), S. 606 (Man kann der Ode fast keine Regeln bestimmen, weil man den jedesmaligen Innhalt, und das Feuer, womit der Dichter schreibt, und welches verchiedne Grade haben kann, vor Augen haben muß ...) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (21793), S. 538 (Das kleine lyrische Gedicht, dem die Alten diesen Namen [Ode] gegeben haben, erscheinet in so mancherley Gestalt, und nimmt so vielerley Charaktere und Formen an, daß es unmög-
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Wie auf dieses, so machen, angeregt wohl von spätantiken Grammatiken, die auf die Vielzahl von Metren bei Horaz oder darauf hinweisen, daß in den scripta der lyricorum poetarum „diversa ... inter se metra posse coniungi“⁵⁹ (verschiedene Metren miteinander verbunden werden können), manche frühen Kommentare auch auf die „carminum varietas“, durch welche die Oden des Horaz erfreuen (delectant), auf die „varietas cantus“, die metrische Vielfalt als ein Kennzeichen lyrischer Dichtung aufmerksam,⁶⁰ das dann – zum Teil in Verbindung mit der varietas argumentorum – als ein Mittel der besonderen Wirkung lyrischer Dichtung auch in den Poetiken bedacht wird⁶¹ und einer Zeit, der die Wirkung und gattungsunterscheidende Kraft von Versen noch sehr unmittelbar bewußt und erfahrbar war, auch als Kriterium der Einteilung von Gedichtarten und der Abgrenzung von Gattungen gelten kann,⁶² als solches mit unverhohlener Kritik schließlich auch noch von Staiger erwähnt.⁶³ Eine Vorstellung, die noch weit größere Wirkung gehabt hat als die von der für Lyrik charakteristischen varietas argumentorum oder der varietas carminum hat schon der erste Horaz-Kommentator, Landino, in seiner einleitenden
lich scheinet, einen Begriff festzusetzen, der jeder Ode zukomme, und sie zugleich von jeder andern Gattung abzeichne). 59 Grammatici latini, Vol. VI, S. 600 (Malli Theodori liber de metris) – s. auch Vol. IV, S. 468 (Servius, De metris Horatii) – Vol. VI, S. 183 (Marius Victorinus, De metris Horatii) – S. 270ff. (Caesius Bassus, Fragmentum de metris). 60 Vgl. u. a. Landino 1483, Bl. a1v (Quod autem ad carminum genus pertinet: etsi hoc varium multiplexque sit: uno tamen nomine uniuersas huiuscemodi species lyricos uersus: quoniam ad lyram canuntur iure prisci illi graeci appellarunt) – Badius Ascensius 1503, T.I, ungez. Bl. 4r, Vorrede von Mancinelli (Delectant … carminum varietate) – Lonicerus 1535, S. 21 (Lyrici porro uersus & varij sunt, & variarum legum …) – Figulus 1546, S. 13f. (zu Od. I,1, v.33: Polyhymnia. Vna Musarum, quae lyram inuenit iuxta Apollonij commentarium. Sic dicta est a ua rietate cantus) – Xylander 1575, S. 417f. (At in Odis atque in Epodis magna est metri diuersitas). 61 In knapper Form schon bei Vadianus, De Poetica (1518), S. 76 (zu Horaz, unter Berufung auf Diomedes) – s. ferner z. B. Minturno, De Poeta (1559), S. 379, 381 – Viperano, De Poetica (1579), S. 148 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325 (zit. Pontanus) – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 76–79. 62 S. dazu u. a. Vadianus, De Poetica (1518), S. 74f. – Minturno, De Poeta (1559), S. 392f. – Viperano, De Poetica (1579), S. 53ff. (mit Hinweis auf die nähere Behandlung der Vielfalt von Metren bei den Grammatici) – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 134 (ebenfalls mit Hinweis auf die Grammatici) – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 236ff. – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 75f. 63 Grundbegriffe der Poetik, S. 21: „Der alten Poetik, welche die Gattung nach metrischem Kennzeichen zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße, ‚varietate carminum‘, Schwierigkeiten. Es bleibt ihr am Ende nichts anderes übrig, als eben diese ‚varietas‘ kennzeichnend für die Gattung zu finden“.
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„Vita Poetae“ mit dem Satz formuliert: „Quod autem ad carminum genus pertinet: etsi hoc varium multiplexque sit: uno tamen nomine universas huiuscemodi species lyricos uersus: quoniam ad lyram canuntur iure prisci illi graeci appelarunt“ (Bl. a1v) (Was aber die Art der Verse betrifft: auch wenn sie verschieden und mannigfaltig ist, haben jene alten Griechen derlei Arten zu Recht mit einem einzigen Namen lyrische Verse genannt, weil sie zur Lyra gesungen werden). Die mit der Etymologie der Namen lyricum und ode verknüpfte Feststellung, daß es sich dabei um Gedichte gehandelt habe, die gesungen wurden, konnte den Humanisten auch dadurch von Anfang an gegenwärtig sein, daß sie in rudimentärer Form auch von den spätantiken Grammatiken überliefert wurde.⁶⁴ Der wichtigste Gewährsmann jedoch, an den man nun zunächst anknüpft und durch den man jene Anschauung bekräftigt sieht, ist offenkundig Cicero mit seiner Erwähnung „eorum poetarum, qui lurikoὶ a Graecis nominantur, quos cum cantu spoliaveris, nuda paene remanet oratio“ (Orator 55, 183.184)⁶⁵ (jener Dichter, die von den Griechen Lyriker genannt werden, bei denen, wenn man sie des Gesanges beraubt, die Rede beinahe nackt zurückbleibt). Seit 1515 konnte man aber auch im Druck – in der zweiten, nun auch die Scholien bietenden Pindar-Ausgabe – die Anwendung jener lange tradierten Etymologie⁶⁶ auf Pindar innerhalb der von Calliergi hier mitgeteilten Scholien lesen, wo es bei Erläuterung des triadischen Odenbaus über Pindar heißt (Bl. a 3r): ᾿Epeidὴ lurikός ἐstin ὁ Pίndaroς, kaὶ prὸς lύran ᾂdontai tὰ poiήmata aὐtoῦ, katὰ triάdaς, stroφὴn, ἀntίstroφon kaὶ ἐpῳdὸn, kaὶ ἐk kώlwn tὰ mέlh sunίstantai (Weil denn Pindar ein lyrikos ist und seine Gedichte zur Lyra gesungen werden, sind die Lieder nach Triaden: Strophe, Antistrophos und Epodos, und aus Kola zusammengesetzt).⁶⁷ Entsprechende Formulierungen, die beispielsweise bei Lonicerus im ersten Pindarkommentar (1535) lauten: „Lyrici igitur poëtae sunt,
64 So bei Marius Victorinus; s. Grammatici latini, Vol. VI, S. 50: „melicum autem sive lyricum, quod ad modulationem lyrae citharaeve componitur“ – s. dazu auch Anm. 25. 65 Auf diese Stelle berufen sich ausdrücklich z. B. Willichius 1539, S. 23: „Lyrici sunt quorum poemata ad lyram, quae cythara est, decantabantur, de quibus sic Cicero inquit, si optimorum quorumque poetarum, qui Lyrici a Graecis appellantur …” – Figulus 1546, Bl. **8r: „Canebantur enim huiusmodi carmina ad lyram, unde & Lyrici sunt poetae. De quibus ita Cicero de Oratore: Si optimorum quorumque poetarum, qui λѵρικοὶ a Graecis appellantur“ – Marcilius 1605, S. 33: „At Horatij Odae quidam Lyricae, siue ad lyram, & Horatius Poёta lyricus, siue canens ad Lyram. De quo genere Tullius Orat. perfecto. Lyricos poetas cum cantu spoliaueris nuda paene remanet oratio“. 66 S. die Nachweise in Anm. 25. 67 S. diese Stelle auch (S. 11) im Abdruck der metrischen Scholien aus Calliergis Pindar-Edition und verschiedenen Handschriften bei August Boeckh: Pindari Opera quae supersunt, Bd. 2, Leipzig 1819, S. 11–21.
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quorum poёmata ad lyram sunt decantata“ (Bl. α3r, Pindari Encomium ... Marpurgi pronunciatum) (Lyriker sind also Dichter, deren Gedichte zur Lyra gesungen worden sind),⁶⁸ werden dann vielfach in den Kommentaren benutzt,⁶⁹ um zu erklären, womit es der Leser in den Ausgaben zu tun hat, die den Autor oft schon auf dem Titelblatt einen poeta lyricus nennen oder carmina lyrica ankündigen.⁷⁰ Zwar konnte man angesichts der Ungunst der Überlieferung darüber, welcher Art denn die Musik zu solchen Gedichten gewesen sein mochte, nichts aussagen. Aber die enge Beziehung der Gedichte Pindars und des Horaz zur Musik war für die Humanisten eine so lebendige Vorstellung, daß es deshalb eigene, vor allem von Conrad Celtis ausgehende Bemühungen um die Vertonung von Oden gab,⁷¹ an denen zum Beispiel der Horaz-Kommentator und Musiktheoretiker Glarean beteiligt war, der seine Kompositionen auch in seinem Kommentar erwähnt.⁷² Indem die Kommentare, gestützt auf jene antike Tradition und bestärkt durch jene Stellen, an denen in den Gedichten selbst von der Lyra und vom Gesang die Rede ist,⁷³ die ursprüngliche Verbindung solcher Dichtung mit
68 Vgl. auch S. 6 (im Zusammenhang einer Erläuterung der Gliederung in Strophe, Antistrophe und Epodos): „Lyrica carmina ad lyram decantabantur, dum chorum ducerent & saltarent uictores“. 69 So – neben den in Anm. 65 genannten Belegen – z. B. die Horaz-Ausgaben Basel 1521, S. 396 – Glarean 1533, Bl. 3r (Epistola dedicatoria) – Xylander 1575, S. 2f. (... lyricum, hoc est chordis sociatum carmen). Wie lange diese Erklärung präsent bleibt, zeigen Beispiele wie diese: Rodelius 1683, S. 1 (Libri isti, Odarum dicuntur & Carminum, sive cantionum, quas Graeci ᾠdὰϛ vocant, propterea quod versus ex quibus constant, canentur plerumque ad lyram: unde & Lyrici sunt appellati) – Juvancy 1702, S. 1 (Ode: Vox haec est Graeca; significat cantilenam quandam, qualis plerumque ad lyram cani solebat. Unde lyrica poёsis appellatur) – vom Wandel des Lyrikverständnisses und damit verknüpfter Distanz gegen die noch immer tradierte alte Erklärung geprägt: Jani 1778, T.I, S. CIV: „ODE (hoc mihi videtur esse caput & fundamentum poёseos lyricae) proprie est carmen canendum ad lyram, seu instrumentum musicum, sive revera can[t]atur, sive imitatione exprimat cantum, dum poёta illud sic, tamquam canendum, anima concipit. Itaque lyrici carminis fons est status animi, quo ad canendum nos ferri sentimus“. 70 S. dazu die Titel zahlreicher Ausgaben im bibliographischen Teil des Anhangs zu dieser Abhandlung. 71 S. dazu insbes. Karl-Günther Hartmann, Die humanistische Odenkomposition in Deutschland. Vorgeschichte und Voraussetzungen, Erlangen 1976 – Manfred Hermann Schmid, Musica theorica, practica und poetica. Zu Horaz-Vertonungen des deutschen Humanismus, in: Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, hrsg. v. Helmut Krasser u. Ernst A. Schmidt, Tübingen 1996, S. 52–67. 72 Glarean 1533, Bl. 3r (Epistola dedicatoria): Hinweis auf „modos nostros“ zu Horaz mit Ankündigung ihrer künftigen Publikation. 73 Vgl. z. B. Landino 1483, Bl. c5v zu Od.I,12, v.1f.: „Dixit autem lyra uel tibia: quoniam ab utraque recinerent Carmina …” – Badius Ascensius 1503, T.I, Bl. IIIIr zu Od.I,1, insbes. v. 31ff. –
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Gesang immer wieder hervorhoben, haben sie zu ihrem Teil den Gebrauch des Wortes lyricus verbreitet und gefördert und das Verständnis der Wörter poeta lyricus, carmen lyricum und ode und im Verein damit das Bild der Muster Pindar und Horaz in einer Weise geprägt, die nachhaltig fortgewirkt hat. Diese Prägung des Begriffs Lyrik durch das Merkmal ihrer engen Beziehung zur Musik, die sich dann überall auch in der humanistischen Poetik niederschlägt, ist einer der Gründe dafür, daß der Begriff lange Zeit auf sangbare oder als sangbar gedachte Dichtung beschränkt bleibt,⁷⁴ daß von so verstandener Lyrik in Übereinstimmung mit den Gattungsschemata antiker Gewährsleute, zu welchen auch Horaz selbst mit der ars poetica (v. 73ff.) gehört, so lange vor allem die Elegie ausgeschlossen bleibt und daß diese noch der Ästhetik Hegels oder Vischers ähnlich wie das Sonett Schwierigkeiten der Einordnung bereitet, daß andererseits etwa in der deutschen Barockpoetik die antiken Oden als Muster gleichgesetzt werden können mit der eigenen deutschen Liedtradition. Jene Prägung des Lyrikbegriffs bleibt auch noch wirksam, als im 18. Jahrhundert die Ode als Inbegriff gesteigerter Gefühlsaussprache im Mittelpunkt eines sich differenzierenden, Ode und Lied nach und nach unterscheidenden Lyrikverständnisses steht und dann hinter dem Lied zurücktreten muß. Bei Sulzer wird es denkbar, daß die Ode, die man anders ohnehin eigentlich gar nicht kannte, ausdrücklich „blos zum Lesen dienet“, während es ihm als Unterscheidungsmerkmal gilt, „daß das Lied allezeit müßte zum Singen ... eingerichtet seyn.“⁷⁵ Immer mehr erscheint nun das Lied, das man tatsächlich als gesungenes kannte, als das eigentlich sangbare lyrische Gedicht, das immer selbstverständlicher die Auffassung von Lyrik bestimmt. Noch darin aber, noch im wachsenden Anteil konkreter musikalischer Vorstellungen und Erwartungen am Bild der Lyrik und ihrer Beschreibung und an der Musikalisierung lyrischer Sprache insbesondere in der Romantik⁷⁶ wirken jene Ansichten vom Zusammenhang von Gedicht und Gesang nach,
Figulus 1546, S. 13 zu Od.I,1, v. 33 – Xylander 1575, S. 2f. zu Od.I,1 – Marcilius 1605, S. 33f., ausgehend von Od.I,32, v.2, ausführlich und mit Hinweisen auch auf Pindar und Berufung auf verschiedene antike Gewährsleute. 74 Zu den folgenden knappen Hinweisen ausführlicher die Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 75 Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3 (21793), S. 252. 76 Vgl. dazu u. a. Richard Erny, Entstehung und Bedeutung der romantischen Sprachmusikalität im Hinblick auf Tiecks Verhältnis zur Lyrik. Ein Beitrag zur Entstehungs- und Formgeschichte der romantischen Stimmungslyrik, Diss. Heidelberg 1957 Masch. – Ders., Lyrische Sprachmusikalität als ästhetisches Problem der Vorromantik, in: Jahrbuch d. Dt. Schillerges. 2, 1958, S. 114–144 – Carl Dahlhaus, Studien zur romantischen Musikästhetik, in: Archiv f. Musikwissensch. 42, 1985, S. 157–165 – Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995.
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zu deren Ausarbeitung und Verbreitung die frühen Kommentare auf ihre Weise den Grund gelegt haben. Eigenart und Mannigfaltigkeit der Gegenstände, metrische Vielfalt, Sangbarkeit – das sind Bausteine einer Lyriktheorie, die die Pindar- und Horazkommentare lieferten, indem sie Hinweise, die ihnen in verschiedenen Bereichen antiker Überlieferung begegneten, aufgriffen, ausformten, eng mit den Mustern Pindar und Horaz verbanden und so tradierten. Anders steht es mit den Vorstellungen von der Kürze und von Abschweifungen als Merkmalen lyrischer Dichtung und von deren Stil, die dann zu den zentralen Elementen der Lyriktheorie gehören und deren spätere Aus- und Umdeutungen besonders aufschlußreiche Symptome für deren Wandlungen sind. Auch diese Vorstellungen begegnen noch vor den ersten humanistischen Poetiken in den frühen Kommentaren zu Pindar und Horaz, aber hierzu fanden die Kommentatoren, wie es scheint, in antiker Überlieferung, außer in den Texten der Muster selbst und allenfalls in den dazu überlieferten Scholien, nichts vor, hier entstand, was sie an weiterwirkenden Gesichtspunkten gewannen, ganz aus der Exegese der Muster. Von der Kürze im Zusammenhang mit lyrischen Gedichten ist, soweit ich sehen kann, zum ersten Mal bei Badius Ascensius (1503) die Rede. In seinem verbreiteten Horazkommentar,⁷⁷ der eher beiläufig auch bei einer einzelnen Ode (IV,10), einer der kürzesten des Horaz, einmal eigens anmerkt, sie sei eine „Breuis ... & lepida ode, sed bonis moribus quibus paruum prodest nimis longa“ (T.I, Bl. CVIIv) (eine kurze und zierliche Ode, aber von guten Sitten, welchen eine allzu lange wenig nützt), gibt er zur Erläuterung der Verse 83–85 der ars poetica mehrere Regeln für das decorum lyrici carminis, die rechte Ausführung des lyrischen Gedichts. Die dritte lautet: „accurandum est ne quam oportet prolixior sit. Et ne vltra centesimum versiculum progrediatur“ (T.II, Bl. IXr) (es ist darauf zu achten, daß es nicht ausgedehnter als nötig ist und nicht über den hundertsten Vers hinausgeht). Wie von etwas Selbstverständlichem spricht drei Jahrzehnte später Lonicerus an verschiedenen Stellen seines für die Pindar-Rezeption wie für die Lyriktheorie besonders wichtigen Kommentars von der lyrica brevitas, der lyrischen Kürze. Zur 2. Olympischen Ode (Str. 5, v. 83ff.)⁷⁸ vermerkt
77 Weitere Ausgaben, z.T. zusammen mit Kommentaren mancher anderen Autoren, u. a. Paris 1511 – Paris 1528 – Paris 1543 – Venedig 1567 (s. das Quellenverzeichnis im Anhang zu dieser Abhandlung). 78 Verszählung nach der Tusculum-Ausgabe: Pindar, Siegesgesänge und Fragmente. Griechisch und deutsch, hrsg. u. übers. v. Oskar Werner, München (1967); die Zählung entspricht – bis auf gelegentliche geringfügige Abweichungen – der in der Teubner-Ausgabe von Snell benutzten Hauptzählung (am linken Rand in größeren Ziffern), die auf Boeckhs Pindar-Ausgabe zurückgeht.
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er, den Text paraphrasierend und erläuternd: „Breuiter autem ornateque dicere, sapientum est. Quo & Lyricam breuitatem, & interim tamen eloquentiam suam & ornatum, haud immodeste generali gnome commendat“ (S. 39) (Kurz aber und geschmückt zu sprechen, ist Sache der Weisen. Damit empfiehlt er [Pindar] in einem allgemeinen Sinnspruch die lyrische Kürze und zugleich dennoch seine Beredtheit und seinen Redeschmuck auf eine nicht ungebührliche Weise). Die 4. Pythische Ode, die mit rund 300 Versen längste der Pindarischen Oden, kritisiert und rechtfertigt Lonicerus in einem mit der Feststellung: „Et quia hic hymnus omnium epiniciorum est prolixißimus, quum certa quadam breuitate Lyrica gaudeant, modum excedit: eo rursus nomine omnium praeclarißima ode censenda est, quod quae uel Orpheus uel Apollonius Rhodius in suis Argonauticis complexi sunt, hic in unum ueluti fascem congesserit“ (S. 207) (Und weil dieser Hymnus der längste von allen Siegesliedern ist, überschreitet er das Maß, da lyrische Gedichte eine gewisse festgesetzte Kürze schätzen; hinwiederum ist er deshalb für die vortrefflichste Ode zu halten, weil er das, was sei es Orpheus, sei es Apollonius Rhodius in ihren Argonautica dargestellt haben, gleichsam in einem einzigen Bündel zusammengefaßt hat). Die Verse 76–79 der 9. Pythischen Ode (Str. 4) erklärt Lonicerus mit der Bemerkung: „Breuitatem suam gnome excusat, occasionis, adeoque temporis rationem habendam esse, quae iamnunc non permittat ingens dicendi spatium. Breuitas enim Lyricis poёtis propria est. Sic se tamen breuem esse contendit, ut paucis multa comprehendat, quae non nisi eruditis, quos solos sapientes uocat, pateant“ (S. 281) (Seine Kürze entschuldigt er [Pindar] mit dem Sinnspruch, daß man auf die Gelegenheit und insbesondere auf die Zeit bedacht sein müsse, welche gerade jetzt eine besonders große Ausdehnung der Rede nicht zulasse. Kürze nämlich ist den lyrischen Dichtern eigen. Er strebt indes danach, in der Weise kurz zu sein, daß er mit wenigen Worten vieles darstellt, was nur den Kenntnisreichen, die er allein weise nennt, zugänglich ist). Und – um noch einen weiteren aufschlußreichen Beleg anzuführen – zum Vers 63 der 1. Isthmischen Ode, dem in Pindars Text die Feststellung vorausgeht, alle Erfolge des Siegers zu verkünden, verbiete der Hymnus, da sein Maß kurz sei (... bracὺ mέtron ἔcwn ὕmnoς), gibt der Kommentator als eine mögliche Bedeutung zu erwägen: „... quod iucundum & pulchrum sit in loco braculόgoς esse: decet enim lyricos hymnos braculόgίa, neque quicquam makrologίa“ (S. 413) (… daß es erfreulich und schön sei, hier kurz im Ausdruck zu sein: denn es ziert die lyrischen Gesänge eine knappe Ausdrucksweise und nicht irgendeine weitläufige Redeweise).⁷⁹
79 Weitere Belege bei Lonicerus: Bl. a6r (Pindari Encomion), S. 171f. (Pyth. 1, Str. 5), 245 (Pyth. 5, Antistr. 13), 327 (Nem. 3, Ep. 4), 329 (Nem. 4, Str. 2, bei Lonicerus Antistr. 1), 379 (Nem. 9,
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Wie es zu dieser Vorstellung von der brevitas lyrica kommt, die, ehe sie dann bei Minturno (1559), Scaliger (1561) und Viperano (1579) in eigenen Kapiteln über die Lyrica Eingang in die Poetik findet,⁸⁰ nicht einmal besonders häufig zu belegen ist, dafür aber so deutlich ausgeprägt gerade in den besonders wirkungsreichen Kommentaren von Badius Ascensius und Lonicerus⁸¹ begegnet, und was damit hier eigentlich gemeint ist, das ist so leicht gar nicht zu sagen. Eine Anregung zu einer derart verallgemeinernden Auslegung bestimmter Stellen bei Pindar dürften einzelne Bemerkungen in den seit 1515 im Druck zugänglichen und von Lonicerus schon auf dem Titelblatt als eine Quelle seiner Erläuterungen genannten Pindar-Scholien gegeben haben, die die eigenen Hinweise Pindars paraphrasierend hervorheben.⁸² Daß allerdings die Forderung einer brevitas des carmen lyricum von Badius Ascensius in der Erläuterung der Verse 83–85 der ars poetica noch vor dem Bekanntwerden Pindars und der Pindar-Scholien formuliert wird, spricht dafür, daß die entscheidende erste Anregung in entsprechenden Äußerungen des Horaz zu suchen ist. Sie stehen in den Versen 25f. und 335ff. der ars poetica sowie in Vers 9f. der 10. Satire im ersten Satirenbuch des
Str. 4), 445 (Isthm. 6, Str. 3), 449 (Isthm. 7, Ep. 1), 454 (Isthm. 8, Str. 2). Im Register wird die oben zitierte Stelle S. 281 eigens als Lemma beim Buchstaben L angeführt in der Formulierung: „Lyricis poёtis breuitas propria“. 80 Vgl. Minturno, De Poeta (1559), S. 394 – Scaliger, Poetices libri septem (1561), S. 169 – Viperano, De poetica (1579), S. 149, 151. Mit Formulierungen, die an diejenigen Viperanos und Scaligers anklingen, handeln in der Folgezeit von der brevitas z. B. Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres (1594), S. 138 – Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325 (mit Nachweis der Stelle bei Scaliger) – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 324 (mit Nachweis der Stelle bei Scaliger). 81 Zur Wirkungsgeschichte des Horaz-Kommentars von Badius Ascensius s. die in Anm. 77 angeführten späteren Auflagen. Zu Lonicerus nennt Hoffmann (Bibliographisches Lexicon der gesammten Literatur der Griechen, Bd. 3, S. 104) zwei weitere Ausgaben, die 1543 und 1560 in Zürich erschienen sind. Erwähnungen des Lonicerus finden sich noch 1556 in der 2. Auflage der Pindar-Ausgabe von Coeporinus (Bl. a8v innerhalb einer Inhaltsübersicht: „Hasce omnes aliquando interpretatus est D. Joannes Lonicerus, quibus & docta adiunxit Commentaria“) und in der „Aristologia Pindarica Graecolatina“ des Michael Neander, der (Bl. b3v f.) als Grundlage seiner Beschäftigung mit Pindar neben Erasmus und Melanchthon („praeceptor noster“) auch Lonicerus nennt. 82 So etwa zu Pyth. 9, 78ff.: Scholia vetera in Pindari Carmina, Vol. II, S. 233 (sch. 135); zu Isthm. 1, 60ff.: Vol. III, S. 210 (sch. 85b). – Hier und an allen weiteren Stellen werden die erwähnten oder zitierten Scholien mit der Abkürzung sch. und der von Drachmann benutzten Verszählung bezeichnet, die auf der Zählung von Heyne beruht und in der Teubner-Ausgabe von Snell am rechten Rand in kleineren Ziffern mitgeführt wird.
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Horaz.⁸³ Freilich zielt die letzte Stelle auf die Darstellungsweise der Satire, und die beiden Stellen in der ars poetica sind allgemeine stilistische Ratschläge und Warnungen, die der rechten Wirkung jedes literarischen Werks dienen sollen und als solche, einer breiteren Tradition vor allem der Rhetorik angehörend, etwa ebenso bei Quintilian, aber auch in den mittelalterlichen Dichtungslehren wie in den Horaz-Scholien belegt sind.⁸⁴ So sind die Stellen bei Horaz denn auch im allgemeinen in den Kommentaren, auch in den zahlreichen separaten Kommentaren zur ars poetica, verstanden worden, oft in bloßer Paraphrase des Horazischen Wortlauts.⁸⁵ Daß sie aber eben auch, zumal der Vers 25 der ars poetica in der 1. Person Singularis formuliert ist, anders gelesen werden konnten und Horaz selbst damit als Muster der Kürze verstanden werden konnte, zeigen Kommentatoren wie Franciscus Philippus Pedimontius, der zur ars poetica v. 335 feststellt, Horaz gebe mit dieser Schrift selbst ein Beispiel der hier gefor-
83 ars poet. 25.26: ... brevis esse laboro, obscurus fio ... ars poet. 335–337: quidquid praecipies, esto brevis, ut cito dicta percipiant animi dociles teneantque fideles: omne supervacuum pleno de pectore manat. Sat. I, 10,9.10: est brevitate opus, ut currat sententia neu se inpediat verbis lassas onerantibus auris … 84 Vgl. Quintilian, Inst. orat. IV, 2, 40ff. – zur Kürze in mittelalterlichen Dichtungslehren s. Faral, Les Arts Poétiques, S. 185 (Mathieu de Vendôme, Ars versificatoria), 218ff. (Geoffroi de Vinsauf, Poetria Nova), 277ff. (Ders., Documentum de modo et arte dictandi et versificandi), 347f. (Evrard l’Allemand, Laborintus), 380 (Jean de Garlande, Poetria) – Ps.Acro, Scholia in Horatium Vetustiora, Vol. II, S. 107 (zu Sat.I,10,v.9), 313 (zu ars poet. 25), 362 (zu ars poet. 335) – Porphyrio, Commentum in Horatium Flaccum, S. 163 (zu ars poet. 25), 280 (zu Sat.I,10,v.9) – s. auch Histor. Wörterb. d. Rhetorik, Bd. 2, Sp. 53–60: brevitas – Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 31961, S. 479–485: Kürze als Stilideal. 85 Vgl. dazu u. a. Willichius 1539 (Commentaria in Artem Poeticam Horatii), S. 159 (zu v. 333ff.) – Gaurico, Super Arte poetica Horatii (1541), Bl. A4r (zu v. 25), D1r (zu v. 333ff.), D3v (zu v. 407, zwar lt. Marginale „De carmine lyrico“, dessen Aufgabe aber „ut hominibus uiam ad uirtutem significaremus“), E 2r – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 18 (zu v. 25f.) – Leiden 1551 (Poemata Omnia), S. 169 (zu v. 335) – Luisini, In Librum Q. Horatii Flacci De Arte Poetica (1554), Bl. 8rf. (zu v. 25, ausführlich, mit Berufung auf Cicero und die Rhetorik des Aristoteles).
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derten Kürze,⁸⁶ oder Nicolaus Colonius, der zu v. 25 – offenkundig nicht ohne gewisse Vorbehalte – anmerkt: „Brevis sine studio & attentione, non percipitur. Sic fere sunt Horatij carmina“ (Wer kurz ist, wird nicht ohne Neigung und Aufmerksamkeit angenommen. So sind meistens die Gedichte des Horaz).⁸⁷ Im Sinne eines derartigen Verständnisses der eigenen Äußerungen des Horaz zur brevitas sind von Badius Asensius und Lonicerus Horaz und Pindar offenkundig als Muster einer durch ihr Werk belegten brevitas verstanden worden, die damit zu einem der Merkmale des carmen lyricum werden kann. Dem Muster Horaz scheint dabei auch die genaue Grenze der brevitas abgelesen zu sein, die Badius Ascensius (T.II, Bl. IXr) mit hundert Versen angibt: die längste Ode des Horaz (III,4) umfaßt 80, die längste Epode (5) 102 Verse. Mit solcher genauen Festlegung freilich scheint es sich zunächst um eine sehr äußerliche Angelegenheit, um eine Frage nur der schieren, in Verszahlen meßbaren Länge eines carmen lyricum zu handeln, und das scheint sich zu bestätigen, wenn auf der anderen Seite dann die ersten Verfasser von Poetiken, die die Forderung der brevitas lyrica aufnehmen, sich schwer damit tun, diese brevitas genauer festzulegen, die sich, zumal angesichts der unleugbaren Längenunterschiede zwischen Pindar und Horaz, als eine zwangsläufig relative Größe erweist. So gesteht Minturno (1559) auf die Frage „Quantum sit carmen Lyricum“ (Wie groß ein lyrisches Gedicht sei) ein: „Quam porrò longè cantus prouehatur, ut non hercule facile definierem, ita contenderim in hoc modum quendam adhibendum esse, ne praetergrediatur fines, quibus longitudo eius claudenda est, neque breuis adeo sit, qui aureis implere nequeat, aut euanescat, antequam subeat sensum audiendi“ (S. 394) (Wie lang ein Gesang fortgehen mag – zwar könnte ich das – beim Herkules – nicht leicht bestimmen, aber ich würde behaupten, es sei dabei ein gewisses Maß einzuhalten, damit er weder die Grenzen überschreite, in welche seine Länge einzuschließen ist, noch so kurz sei, daß er die Ohren nicht zu füllen vermag oder entweicht, bevor er den Sinn des Hörenden erreicht), um dann festzustellen, daß Horaz das Muster für die rechte Länge gleichstrophiger und Pindar für ungleichstrophige Oden abgebe.⁸⁸
86 Pedimontius 1546, S. 52: „Quorum omnium in hisce poeticis legibus conscribendis auctor ipse consulto brevissimus fuit; ut desinant hallucinari, qui nimiam breuitatem crimini dare conantur“. 87 Colonius 1587, S. 9. – Vgl. auch: Glarean 1533, Bl. 2 v (Epistola dedicatoria): am Ende einer längeren Preisung des Horaz: „Quis breuius ac uerius?“ – Bucholtz 1639, S. 3 (Widmungsvorrede): „... cum Autoris hujus inimitabilis brevitate mista profunditas ...“. 88 Wenn späterhin da und dort in Werken zur Poetik ausdrücklicher von Unterschieden des Umfangs der Oden Pindars und des Horaz, die auch mit solchen der Gegenstände verknüpft sind, die Rede ist, so scheinen die Autoren eher Horaz (sicherlich auch als dem vertrauteren
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Bei aller Knappheit der frühen Belege für eine darin offenkundig als selbstverständlich angesehene Vorstellung läßt sich doch jedenfalls schon bei Lonicerus herauslesen, was mit der brevitas lyrica eigentlich gemeint ist und inwiefern sie denn ein Merkmal des carmen lyricum sein soll, und Badius Ascensius dürfte dasselbe im Sinn haben, wenn er im Blick auf das decorum von ihr als dritter Regel nach der Forderung der Übereinstimmung von materiae und genera lyricorum carminum (Gegenständen und Arten der lyrischen Gedichte) und vor der Forderung nach Abgrenzung des carmen lyricum von der majestas des Epos und der entsprechenden Eigenart der anderen Gattungen spricht. Zum einen geht es um einen stilistischen Sinn der brevitas, der sich aber nicht im sparsamen Gebrauch von Wörtern und in knapper Fügung der Sätze erschöpft, sondern in Entsprechung zum äußeren Umfang eine gedrängte Darstellung auch an sich größerer Sachverhalte meint, zum anderen aber geht es in engem Zusammenhang damit auch um die Zuordnung zu entsprechenden Stoffen, denen knappere Ausführung angemessen ist und die ihrerseits das carmen lyricum auch von anderen Gattungen unterscheiden.⁸⁹ Das klingt bei Lonicerus vor allem dort an, wo an der 4. Pythischen Ode Pindars als der längsten und daher das Maß der brevitas lyrica überschreitenden doch gerühmt wird, daß sie einen an sich epischen Stoff wie in ein Bündel zusammengefaßt habe. In solchem Sinne hebt später Pigna in seiner „Poetica Horatiana“ (1561) die Lyrica mit ihren umgrenzten Versmaßen als minora poemata ab vom Epos mit seinen unbegrenzt fortlaufenden Hexametern,⁹⁰
und im geläufigen Latein eher nachahmbaren Muster) als dem noch immer weniger vertrauten, wenngleich weiterhin als gültiges Muster lyrischer Dichtung angesehenen Pindar zuzuneigen und mit ihren Bemerkungen Symptome allmählicher Veränderungen in der Einschätzung einer angemessenen brevitas lyrica zu liefern, wie sie späterhin zu beobachten sind: vgl. u. a. Bachmann/Helvicus, Poetica (1623), S. 325: „Brevitas autem illa non ita arcta est, velut in Epigrammate, (videmus enim apud Horatium longiusculas & apud Pindarum longißimas,) sed opponitur integris tractatibus. Quanquam Stesichorus Lyrico carmine Bella & Ducum historias descripsisse legitur“ – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), der (III, S. 72f.) eine historische Erklärung heranzieht: „At non item conveniunt carmini lyrico regum historiae bellique descriptiones. Quamquam olim & ista eo carmine retulerint. Ut Stesichorus fecit ... Pindarus longis illis odis satis ostendit, quam multa hoc genere olim complecti solent. Quod magis pareret, si totus exstaret. Nam libros XVII dicitur reliquisse. Sane, de varietate poёsios Pindaricae, etiam testis est Horatius. Verum ipse potius Horatius sequendus est nobis; qui non alia admisit, quam quae breviter constringere liceret“. 89 Daß dazu auch eine Abgrenzung gegen die besondere brevitas des Epigramms gehört, wird im allgemeinen offenkundig eher vorausgesetzt als ausgesprochen; vgl. aber die in Anm. 88 zitierte Stelle aus der Poetik von Bachmann/Helvicus. 90 Vgl. S. 32 (zu ars poet. v.73f.): „Res gestae operis longitudinem denotant, quae uersibus nunquam necessario certis terminis finientibus respondebit, quales sunt Hexametri, nam-
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erwartet Minturno (1559), daß, auch wenn einer wie Orpheus oder Homer (in den Hymnen) zum Lob der Götter eine lange Reihe ihrer Taten besinge, er dies doch nur in einer kurzen Darstellung tue,⁹¹ spricht Viperano (1579), Scaligers Formulierung verdeutlichend, davon, daß nur das, was in lyrische Verse gefaßt und in ein kurzes Gedicht aufgenommen werden könne, zum lyrischen Gegenstand zählen zu können scheine und daß es zwar durch keine Regel verboten sei, „res gestas multorum annorum“ (Geschehnisse aus vielen Jahren) darzustellen, dies aber möglichst kurz geschehen müsse.⁹² Es ist dann erst das Ergebnis viel späterer Wandlungen der Lyriktheorie, daß die Kürze des carmen lyricum, die zuerst im Sinne der decorum-Forderungen einer rhetorisch fundierten Poetik auf die von anderen Gattungen, vor allem vom Epos unterscheidende knappere Darstellungsweise und die zu ihr passenden Gegenstände und Themen zielt und insofern, dem sichtlichen Unterschied gegenüber Horaz zum Trotz, auch bei Pindar gegeben ist,⁹³ nach und nach in jenem bei Staiger noch nachklingenden Sinne gedeutet wird, der ähnlich schon bei Vischer lapidar ausgesprochen worden ist und die Oden Pindars längst nicht mehr und die des Horaz auch kaum noch meinen kann: „Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen“ (S. 1334, § 887) oder etwas anders noch im 18. Jahrhundert als Eigenart vor allem der „eigentlichen“ Ode begriffen wird: „Da sie die Frucht des höchsten Feuers der Begeisterung ... ist: so kann sie keine beträchtliche Länge haben“ (Sulzer, Bd. 3, S. 539). Für die deutsche und zuvor schon für die französische Odentheorie des 18. Jahrhunderts ist aber das wohl wichtigste und für längere Zeit am häufigsten genannte Merkmal der beau desordre, die sogenannte lyrische Unordnung, die
que Elegi binis inambulant, Lyrici singulis strophis clauduntur“; S. 36 lyrica als „minora poemata“. 91 De Poeta, S. 387: „Nam etsi longam rerum gestarum seriem usu uenit ut explicet, quod fecit interdum, qui canit, ut Orpheus, ut Homerus; Deorum Laudes, breui tamen id expositione prosequitur“. 92 De Poetica (1579), S. 149: „In vniuersum quaecumque lyricis numeris colligari, & breui poёmate concludi possunt, videntur in lyricam materiam posse cadere“, S. 151: „At vero Narratio … nulla lege prohibetur ne res gestas multorum annorum complectatur: verum eo laudabilior fuerit. quo res breuius perstrinxerit …“. Sehr ähnlich später auch Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 74: „Contra etiam eadem oda amplecti varia permissum: ut res multorum annorum: sed sic ut brevi omnia percurramus“. 93 Bezeichnend ist dafür – um ein Beispiel zu nennen – die Selbstverständlichkeit, mit welcher – acht Jahrzehnte nach Lonicerus – Erasmus Schmid in seiner Pindar-Ausgabe den Begriff der brevitas lyrica benutzt, wenn er (T.1, S. 113) zur Erläuterung von Ol. 2,85 (Str. 5) die – ebenfalls schon von Lonicerus (s. die Zitate oben im Text) in solchem Sinne kommentierte – Stelle Pyth. 9, 76–79 heranzieht und dazu schreibt: „... ubi & eloquentiam, & strictam brevitatem Lyricam innuit“.
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vor allem durch Sprünge der Einbildungskraft, durch lyrische Abschweifungen zustande kommt, gleichwohl aber nicht ohne geheimen Plan ist⁹⁴ und die Ode als derart kunstreich gegliedertes Gebilde, das so auf Reichtum und Bewegung der Empfindungen zu verweisen vermag, geeignet sein läßt, für einige Zeit als gesteigerter, lebhaftester Ausdruck von Empfindungen zum Inbegriff lyrischen Sprechens zu werden, wie man es in der deutschen Literatur vor allem durch Klopstock verwirklicht sah. Die Odentheorie des 18. Jahrhunderts, deren Kritik dann zu einem der Kernpunkte von Herders folgenreicher Auseinandersetzung mit der Lyriktheorie seiner Zeit wird,⁹⁵ lebt mit der in Boileaus Formel vom beau desordre zu einem zentralen Merkmal der Ode avancierten Vorstellung vom Erbe der im 17. und noch im 18. Jahrhundert präsenten humanistischen Poetik,⁹⁶ die vielfach die digressiones als Merkmal und Schmuck lyrischer car-
94 Zur wirkungsreichen Formulierung dieses Merkmals durch Nicolas Boileau vgl. die entsprechende Passage in der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band und die Belege für ihre Verbreitung im 18. Jahrhundert in der zugehörigen Anm. 38. 95 Vgl. dazu u. a. die in den Abhandlungen „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian“ (hier auch in Anm. 16) in diesem Band angeführten Belege: Herder, SW I, S. 437; II, S. 180; XXXII, S. 77. 96 Dieser Zusammenhang wird in vielen Texten zur Odentheorie im 18. Jahrhundert, auch wenn er den Zeitgenossen sicherlich bewußt war, durch die dominierende Rolle der so geläufig gewordenen Formel vom beau desordre verdeckt, die keiner weiteren Explikation zu bedürfen scheint. Er tritt jedoch andeutungsweise dort zutage, wo zur Erläuterung der „schönen Unordnung“ von einer spezifischen Ordnung poetischer Einbildungskraft die Rede ist, so z. B. bei Georg Friedrich Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, Halle 1747 (Expl. StB München), S. 258: „Durchgehends muß eine schöne Unordnung herrschen, so wohl in einzeln Sätzen und Strophen, als auch in der gantzen Ode. Folglich muß alles vermieden werden, wodurch die Ordnung der Gedanken, und die Art ihrer Verknüpfung, gar zu leicht in die Augen fällt“, – in der anonymen Abhandlung „Von der Ode“ (Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 1763, Bd. 2, 1. St., S. 152–177; Expl. UB Erlangen), S. 162f.: Die Unordnung, hergeleitet vom „Begriffe des Enthusiasmus“, „ist größer, wenn mehrere kleine Bilder ... übergangen worden; wenn Dinge mit einander verbunden werden, die sich einander aufzuheben scheinen, und wenn die Verknüpfung derselben schöner ist“ oder bei Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), S. 107: „... daher die lyrische Unordnung, die aber mehr scheinbar als wirklich ist, weil die Ordnung und Gedankenreihe der begeisterten Phantasie doch immer dabey wirksam ist und zum Grunde liegt“. Darüberhinaus gibt es aber auch eine Reihe von Texten, die in besonders aufschlußreicher Weise den Traditionszusammenhang der Formel vom beau desordre mit den digressiones der humanistischen Poetik präsent halten, so wenn Bodmer und Breitinger im „Mahler der Sitten“, Bd. 1, Zürich 1746 (ND Hildesheim, New York 1972) zur Erläuterung der „schönen Unordnung“ von der „Ordnung der Empfindungen“ sprechen, die der „poetische Enthusiasmus“ lehre, und fortfahren: „In dieser Schreibart hat Pindarus seine Oden geschrieben ... Die Abweichungen
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mina wie selbstverständlich vermerkt: „Digressiones autem sunt lyricorum propriae“ (Abschweifungen sind eine Eigenart der Lyrica) konstatiert 1561 Pigna (S. 36), während etwa Pontanus 1594 genauer darlegt: „... digressiones & plures, & liberiores, quoniam ad laudationes amplificationesque conferunt ... requirit & amat poesis lyrica“ (S. 139) (zahlreiche und recht freie Abschweifungen, weil sie zum Lob [als Hauptaufgabe solcher Gedichte] und zur Ausschmückung beitragen, fordert und liebt die lyrische Dichtung).⁹⁷ Vorgearbeitet haben der humanistischen Poetik auch beim Stichwort der digressiones zunächst die Horazkommentare, die dazu in den antiken Scholien so gut wie keine Anregung finden konnten.⁹⁸ Bereits im ersten dieser Kommen-
von der gemeinen Ordnung sind darinnen in grosser Anzahl, und geschehen plötzlich. Sie sind oft sehr lang“ (S. 56), – wenn Herder gegen Entartungen der „schönen Unordnung“ und der „Ausschweifung“ polemisiert: „Die meisten neuern Oden sind entweder völlig ohne Handlung und einförmig; oder man verbirgt die ungereimteste Ausschweifung mit dem Namen der Odenunordnung; ein Wort, das die größten Schwätzer am wenigsten verstehen“ (SW XXXII, S. 77; Fragmente einer Abhandlung über die Ode, ca. 1765/65), „... bei uns ist leider! selbst die schöne Unordnung des Horaz zum abgezirkelten Gesetz geworden ... diese Poetische Phantasie gehet, wenn sie sich einmal nicht rasende Ausschweifungen nüchtern vorsetzt, ... ihren himmlischen Sonnenweg“ (SW II, S. 180; Ueber die Neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, 1767/68), – wenn Moses Mendelssohn in seiner Rezension der Gedichte von Anna Louisa Karsch eingehend die der Ode eigene „Ordnung der begeisterten Einbildungskraft“ erörtert, in welcher „öfters auch Digreßionen und Nebenbetrachtungen erlaubt sind“ (Gesammelte Schriften, Bd. 5/1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 586; zuerst in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, T. 17, 1764, S. 150) oder wenn Sulzer in seinem Artikel zur Ode an Beispielen von Horaz und Klopstock eine Vielfalt von Arten einer spezifisch poetischen Ordnung erläutert und dabei u. a. schreibt: „In andern Oden wechseln Ursach und Würkungen wechselweis ab. Der Dichter macht zwar öftere, aber kurze Ausschweifungen von seinem Gegenstand, kommt aber bald wieder auf ihn zurück“ (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3, 21793, S. 541). 97 Verschiedenartige Bemerkungen zu digressiones, besonders bei Pindar und Horaz, u. a. auch bei Minturno, De Poeta (1559), S. 388 – Viperano, De Poetica (1579), S. 150 – Donatus, Ars Poetica (1633), S. 333, 334, 336, 346 – Vossius, Poeticarum Institutionum libri tres (1647), III, S. 75: „Imo varietas ... atque immutatio, non modo est concessa: sed magis commendat carmen lyricum. Fit autem saepe per digressionem“ – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, P. II (1661), S. 331. 98 Der Begriff parecbasis kommt bei Porphyrio (Commentum in Horatium) an zwei Stellen (S. 53 zu Od. II,1; S. 96 zu Od. III,4, v. 42.43), bei Ps.Acro an einer Stelle vor (Vol. I, S. 235, ebenfalls zu Od. III,4, v. 42.43, fast wörtlich mit Porphyrio übereinstimmend). An einigen Stellen weist in den Scholien von Porphyrio ein deinde auf die mehrgliedrige Struktur einer Ode hin (so S. 53 zu Od. II,1, zusammen mit dem Wort parecbasis; S. 110f. zu Od. III,12, verknüpft mit der Wendung „hic transit“ zu v. 6); S. 119 zu Od. III,19; S. 149 zu Od. IV,3; S. 151 zu Od.IV,8). Zu einer ähnlichen Funktion des Verbums „transire“ bei Porphyrio vgl. einige der im Index Verborum der Ausgabe von Holder angeführten Belegstellen. – Daß übrigens Landino die erst kurz zuvor
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tare, bei Landino, der schon in seinem Prooemium das „mirificum consilium atque artificium [huius poetae] in singulis disponendis atque ornandis“ (ungez. Bl. 2r) (die bewundernswerte Klugheit und Kunstfertigkeit [dieses Dichters] in der Anordnung und Ausschmückung des Einzelnen) betont, die er nach Kräften sichtbar machen wolle, finden sich Hinweise, die auf einzelne Teile von Oden und deren Abfolge mit rhetorischen Begriffen wie dem des exordiums und mit Zeitadverbien wie primum, deinde, nunc, postea aufmerksam machen, so beispielsweise zur 12. Ode des 1. Buches.⁹⁹ An die ersten Strophen als eine rhetorische artificiosissima insinuatio (einen äußerst kunstreichen Redeteil zur Gewinnung der Aufmerksamkeit der Hörer) anknüpfend, hebt der Kommentar (wie auch viele spätere)¹⁰⁰ das Verfahren einer indirekten Preisung des Augustus hervor: „Nam dum multos sibi uiros heroas deosque laudandos occurrere demonstrat. Octauianum caeteris pene praeponit“ (Bl. c6v) (Denn während er [Horaz] darlegt, wie ihm viele des Lobes würdige Männer, Heroen und Götter vor die Seele treten, gibt er dem Octavian vor allen gänzlich den Vorzug), und bei Vers 33 faßt er den Aufbau der folgenden Strophen in den Satz zusammen: „optimus ordo: ut de diis primum: deinde de heroibus: postremo de uiris egregiis meminerit“ (Bl. c8r) (eine sehr gute Anordnung: daß er der Götter zuerst, darauf der Heroen und zuletzt der herausragenden Männer gedenkt). Solche Bemerkungen, die man bei Landino da und dort finden und in der Folgezeit in zahlreichen anderen Horazkommentaren ebenfalls in geringerer oder größerer Zahl lesen konnte,¹⁰¹ waren geeignet, den Blick für die Bestandteile, für Bauform und Verfahrensweise bestimmter mehrteiliger Horazischer Oden zu schärfen. Aber es fehlte dabei zunächst das für die Poetik später so selbstverständliche Stichwort der digressiones. Es taucht erst mit der Rezeption Pindars auf.
im Druck allgemein zugänglich gewordenen Scholien von Ps.Acro und Porphyrio offenkundig schon zur Kenntnis genommen, wenn nicht schon vor dem ersten Druck aus Handschriften kennen gelernt hat, zeigt deren respektvolle Erwähnung als doctissimi viri im Prooemium seiner Horazausgabe (ungez. Bl. 2 r). 99 Siehe den Abdruck der Ode im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 100 Vgl. z. B. Locher 1498, Bl. Xv (Mancinelli) – Badius Ascensius 1503, Bl. XIXv – Basel 1531, S. 25 – Figulus 1546, S. 93 – Leiden 1551, S. 18 – Antwerpen 1557, S. 22 – Fabricius 1571, Anhang S. 12 – Xylander 1575, S. 37 – Lambinus 1577, S. 35 – Cruquius 1578, S. 33. Eine Anregung für diese Deutungstradition dürfte in der Bemerkung zu Od. I,12, v. 1 bei Ps.Acro (S. 54) gelegen haben. 101 Vgl. als zwei frühe Beispiele: Locher 1498, Bl. IVv (zu Od. I,3), Bl. VIIr (zu Od. I,6), Bl. VIIv (zu Od. I,7), Bl. XXXIXv (zu Od. II,12), Bl. XLv (zu Od. II,13), Bl. LXXVv (zu Od. IV,1), Bl. LXXVIv (zu Od. IV,2) – Badius Ascensius 1503, Bl. IVv (zu Od. I,2), Bl. XIIIIr (zu Od. I,7), Bl. XXVIv (zu Od. I,16), Bl. XXXVr (zu Od. I,27), Bl. XLVv (Mancinelli, zu Od. II,1), Bl. LXVIIIv (Mancinelli, zu Od. III,3), Bl. CIIv (Mancinelli, zu Od. IV,6).
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Johannes Lonicerus, der erste Pindar-Kommentator, hatte schon im Vorwort seiner noch fast gänzlich unkommentierten lateinischen Übersetzung von 1528 von „nexus & cohaerentia“ (Verbindung und Zusammenhang) des Einzelnen gesprochen, welcher, „dum nobis obscurior apparet, fit, quo minus Pindaricum agnoscamus mentem“ (Bl. A 2r) (solange er dunkler erscheint, macht, daß wir umso weniger den Pindarischen Sinn erkennen). Im Kommentar der Neuausgabe seiner Übersetzung von 1535 stellt er dann das Vorkommen von digressiones an zahlreichen jener Stellen fest, an welchen Pindar den Preis der Wettkampfsieger, dem seine Enkomien dienen, mit ausgedehnten Erzählungen von Mythen und Darlegungen von Genealogien verknüpft, ein Verfahren, das seine Gedichte immer wieder für viele Leser schwer überschaubar gemacht hat, das Pindar immer wieder den Vorwurf der obscuritas¹⁰² eingetragen, ihn aber auch gerade deshalb interessant gemacht hat und das bis in das 20. Jahrhundert hinein es der Klassischen Philologie schwer gemacht hat, die Bauform von Pindars Gedichten zu verstehen und sie als Einheit zu begreifen.¹⁰³ Solche digressiones, die der Rhetorik als ein Mittel des Redners geläufig sind,¹⁰⁴ als eine Eigenart Pin-
102 Pindar-Herausgeber haben sich daher immer wieder genötigt gesehen, diesem Vorwurf mit unterschiedlichen Argumenten entgegenzutreten: vgl. u. a. die lateinische Übersetzung von Sudorius, der wiederholt feststellt: „Haec prima Pindari Oda nullam obscuritatem continet“ (Olympia, 1575, Bl. 33r), „Haec Oda in laudem Megalis Atheniensis scripta est, nec quidquam obscuritatis continet“ (Pythia, 1576, Bl. 47r) – E. Schmid 1616, Praefatio S. 4 (Dunkelheit Pindars erklärt aus jetzt beobachteten Textverderbnissen) – Costa 1808, S. 20: „Obscuritas ipsa factorum, quae cognitissima tunc Graecis erant, nobisque nunc omnino ignota sunt, non est in poeta, sed in nobis, qui historicis illorum temporum monumentis caremus ...“. 103 Für die Bemühungen um Antworten auf die Frage nach solcher Einheit war im 20. Jahrhundert auf lange Zeit maßgeblich die viel Zustimmung und produktive Nachfolge erfahrende, schließlich aber auch Widerspruch weckende und noch dadurch die neuere Forschung fördernde Untersuchung von Wolfgang Schadewaldt: Der Aufbau des Pindarischen Epinikion, Halle 1928 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. Klasse, Jg. 5, H. 3, S. 259–343), deren Hervorhebung hier genügen muß. S. ferner den gründlichen, von Boeckh bis in die frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts reichenden Forschungsbericht von David C. Young, Pindaric Criticism, in: Pindaros und Bakchylides, hrsg. v. William M. Calder III u. Jacob Stern, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung, Bd. 134), S. 1–95 (zuerst in: The Minnesota Review 4, 1964, S. 584–641) und zu Fragestellungen und Ergebnissen der jüngeren Pindar-Forschung die knappen Hinweise und die bibliographischen Angaben in: Der Neue Pauly, Bd. 9, 2000, Sp. 1033–1036 (Artikel Pindar) und in: Handbuch der griechischen Literatur der Antike, hrsg. v. Bernhard Zimmermann, Bd. 1, Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, S. 232f. und 243ff. (Andreas Bagordo, Pindar). 104 Als Beispiele aus der Antike und aus der Frühen Neuzeit vgl. Quintilian, Inst. orat. IV, 3,1–17, bes. 12ff.; IX, 1,28.35; 2,55. – Vossius, Commentariorum Rhetoricorum Libri Sex (1630), P. II, S. 338–342: De digressione.
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dars wahrzunehmen, dafür haben sicherlich die antiken Scholien zu Pindar, die seit 1515 im Druck zugänglich waren, Lonicerus die Augen geöffnet.¹⁰⁵ Mit dem griechischen Substantiv parέkbasiς und Formen des Verbums parekbaίnw weisen sie an mehr als zwei Dutzend Stellen auf derartige Erscheinungen hin.¹⁰⁶ Das sind zumeist nur neutrale Feststellungen des Vorkommens. Gelegentlich wird einmal eine parέkbasiς mit dem Hinweis verbunden, daß sie dem Lob des Besungenen diene,¹⁰⁷ mehrfach aber auch wird eine parέkbasiς kritisch als ἄkairoς (zur unrechten Zeit gebraucht) oder als ἄlόgoς (grundlos) und deshalb unangebracht angesehen: mέcri dὲ toύtwn ὁ Pίndaroς kalῶς tὸn ἐpίnikon grάφei· ἠstόchse dὲ tὰ metὰ taῦta ἀlόgῳ parekbάsei crhsάmenoς (Bis hierher schreibt Pindar das Siegeslied schön. Er irrte aber ab, indem er im Folgenden eine grundlose Abschweifung gebrauchte).¹⁰⁸ Weit über die Scholien hinaus aber, auf die er sich für mancherlei Auslegungsfragen ausdrücklich bezieht, macht Lonicerus an zahlreichen Stellen auf das Vorkommen derartiger digressiones aufmerksam, die in seinem Kommentar allenthalben als Eigenart Pindars – „suo more“ (nach seiner Weise) vermerkt der Kommentar verschiedentlich¹⁰⁹
105 Er nennt schon auf dem Titelblatt und in seiner Widmungsvorrede (s. das Zitat in Anm. 53) die Scholien als eine der Quellen seiner enarrationes. 106 Vgl. in der Ausgabe der „Scholia vetera in Pindari Carmina“: Vol. I, S. 254 (zu Ol. 8,53: sch. 70a), 255 (zu Ol. 8,53: sch. 71b), 383 (zu Ol. 13,93.94: sch. 133b); Vol. II, S. 38 (zu Pyth. 2,21: sch. 40a), 92 (zu Pyth. 4: sch. Inscr. a), 172 (zu Pyth. 5: sch. Inscr.), 210 (zu Pyth. 8,32: sch. 43a), 245 (zu Pyth. 10,29: sch. 46b), 249 (zu Pyth. 10,51: sch. 79b), 257 (zu Pyth. 11,17: sch. 23b), 259 (zu Pyth. 11,38: sch. 58a), 260 (zu Pyth. 11,30: sch. 58b.c); Vol. III, S. 20 (zu Nem. 1,33: sch. 49c), 48 (zu Nem. 3,23: sch. 38b), 49 (zu Nem. 3,26: sch. 45c), 58 (zu Nem. 3,65: sch. 114b), 73 (zu Nem. 4,34: sch. 53a), 74f. (zu Nem. 4,37: sch. 60b), 113 (zu Nem. 6,55: sch. 94a), 116 (zu Nem. 7,1: sch. 1a), 124 (zu Nem. 7,38: sch. 56a), 127 (zu Nem. 7,53: sch. 76), 143 (zu Nem. 8,19: sch. 32a), 170 (zu Nem. 10,19: sch. 35), 236 (zu Isthm. 4,72: sch. 92b). – Wie geläufig übrigens der Begriff parέkbasiϛ als Merkmal Pindars auch byzantinischen Gelehrten des Mittelalters war, belegt die Praefatio zum verlorenen Pindar-Kommentar des Eustathios (gedruckt freilich erst 1832; s. Hofmann, Bibliographisches Lexicon, Bd. 2, S. 117 und: Scholia Recentia in Pindari Epinicia, ed. Eugenius Abel, Vol. I, Budapest, Berlin 1891, S. 3f.), die geradezu von der parεkbatikὴ mέqodoϛ Pindars spricht (Eustathios, Prooimion zum Pindarkommentar, hrsg. v. A. Kambylis, 1991, S. 9; s. auch S. 7f., 16, 19f.). 107 So Scholia vetera, Vol. III, S. 124 (zu Nem. 7,38: sch. 56a): parεkbaίnei dὲ eἰϛ tὰ perὶ Neoptolέmou ... diὸ eἰs ἔpainon toῦ ὀnόmatoϛ tῇ ἡrwϊkῇ kέcrhtai parekbάsei. 108 Scholia vetera, Vol. II, S. 245 (zu Pyth. 10,29: sch. 46b) – ähnliche Stellen: S. 249 (zu Pyth. 10,51: sch. 79b; ähnlich, aber schwächer bei Lonicerus, S. 292), 257 (zu Pyth. 11,17: sch. 23b), 259 (zu Pyth. 11,38: sch. 58a) 109 Vgl. z. B. S. 23 (zu Ol. 2): „Digreßiones ad Semelem, Ino, Pelea, Achillem & reliquos suo loco inspergit suo more“ oder S. 191 (zu Pyth. 3): „More suo poёta digreditur, idque ante uoti completionem, ad Aesculapij & ortum & educationem“.
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– kenntlich werden. Lonicerus, der den kritischen Bemerkungen der Scholien, wenn überhaupt, dann nur in abgeschwächter Form folgt,¹¹⁰ geht zwar auch an vielen Stellen über die bloße Feststellung einer digressio oder ihres Endes nicht hinaus.¹¹¹ Doch mit Wendungen wie „Amplificatio per digreßionem“ (S. 11) (Ausschmückung durch Abschweifung), „eleganti & diuiti digreßione expediuit“ (S. 38) (in einer fein gebildeten und reichen Abschweifung erzählte er), „Porrò ut singulas odas peculiaribus fabulis aut historijs conspergit, sic hoc encomij, Herculis, Neptuni, Pyrrhae & Deucalionis fabulis exornat, katὰ parέkbasin, ut suo loco quaeque aperientur“ (S. 107) (Wie er ferner die einzelnen Oden mit besonderen Fabeln oder Geschichten bestreut, so ziert er dieses Stück eines Lobgedichts durch die Fabeln von Herkules, Neptun, Pyrrha und Deukalion, mittels der Abschweifung, wie alles an seinem Ort gezeigt werden wird), „docta & eleganti digreßione usus“ (S. 352) (eine gelehrte und passende Abschweifung benutzend)¹¹² läßt Lonicerus, der zudem vielfach auf einzelne Bauteile von Oden, auf Sentenzen und auf rhetorische Lobtopoi mitsamt ihrer gliedernden Funktion hinweist,¹¹³ spüren, daß er imstande ist, in den Digressionen Pindars Mittel poetischer Wirkung zu sehen, und mit seinem Kommentar zu deren Wahrnehmung anregen will. Nach ihm fehlen in kaum einem Pindarkommentar die entsprechenden Hinweise.¹¹⁴ Wie die Verfasser im einzelnen die Erscheinung
110 Vgl. als Beispiele dafür die in Anm. 108 genannten Stellen. 111 So z. B. S. 5 (zu Ol. 1), 21 (zu Ol. 1), 23 (zu Ol. 2), 31 (zu Ol. 2), 41 (zu Ol. 3) und an weiteren Stellen. 112 Entsprechende Wendungen u. a. auch S. 251 (amplificatio est, qua ... digreditur), 302 (In reliquis sectionibus amplificat digrediendo), 320 (Amplificat ... et ... digreditur), 331 (Temporis angustia a latiori digreßione se excludi testatur), 354 (Digreßio est ad laudem literarum, poetices tamen potißimum). 113 Vgl. z. B. S. 5 (postremo uoto claudit hanc Oden …), 19 (gnome tandem non uulgari concludit), 20 (Epiphonema est, quod praecedenti gnomae adhaeret … Generalis Chria est, qua sua cuiusque uirtus, ars, opera … commendatur), 29 (Elegans est hic anthitesis [sic] …), 33 (metaφorὰ est), 63 (Apostrophe est allegorica: tota enim tropica oratio est), 72 (Vtitur autem pulchra gradatione in his gnomis), 62 [recte 74] (Allegoria est, qua Lyrices & Musices suae praestantiam modeste laudat), 79 (Peroratio est, qua …), 80 (A comparatione orditur, eaque pulcherrima, ut semper in exordijs eximius est) und viele weitere Stellen. 114 Angesichts der Vielzahl von Beispielen, die mit ihren Unterschieden ein lohnendes Material für eine ins Detail gehende Geschichte der Pindar-Rezeption in der Neuzeit abgeben könnten, erübrigt sich die Anführung einzelner Belege. Die Hervorhebung der digressiones reicht u. a. bis zu der für die Pindar-Rezeption der Goethezeit wichtigen Ausgabe von Christian Gottlob Heyne (11773/74), der im Argumentum zu Ol. 1 (21799, Vol. II/1, S. 3) feststellt: „sequitur digressio de Pelope ... Redit poeta ad laudes victoris, et facit bona vota“ und damit noch ganz ähnlich formuliert wie Lonicerus (S. 5): „ad res de Tantalo & Pelope uulgatas digreditur: postremo uoto claudit hanc Oden …”.
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auch beurteilen mögen, kritisch, apologetisch oder bewundernd – das Bild Pindars ist auf Dauer durch die Fülle der Digressionen als Mittel abwechslungsreicher und spannungsvoller Gedichtgliederung geprägt, auf die Lonicerus als erster so eindringlich aufmerksam gemacht hatte. Anders steht es jedoch mit den Horazkommentaren. Viele von ihnen bleiben in den Spuren des ersten Kommentators Landino und bilden so eine feste, bis ins 18. Jahrhundert wirksame Tradition der Kommentierung Horazischer Odenbauformen aus, die sich mit Hinweisen auf die Abfolge der Teile begnügt.¹¹⁵ Erst einige Zeit nach dem Erscheinen des Pindarkommentars von Lonicerus nehmen einzelne Horazkommentare auch den Begriff der digressio auf.¹¹⁶ Am intensivsten geschieht dies 1571 bei Georg Fabricius, der 1555 bereits eine Horazausgabe mit einer Reihe älterer Kommentare besorgt hatte und in seinem eigenen Kommentar in mannigfacher Weise die Gliederung Horazischer Oden erörtert, dabei wiederholt und unter gelegentlicher ausdrücklicher Nennung Pindars den Begriff der digressio als eines Mittels Horazischer Kunst verwendet und einmal das Verfahren der digressio geradezu als mos lyricus, lyrische Gepflogenheit bezeichnet.¹¹⁷ Aber ihm sind, ehe es im 18. Jahrhundert üblicher wurde, auch Horaz im Zeichen einer vom Enthusiasmus bestimmten Odentheorie zu sehen,¹¹⁸ nur wenige gefolgt. Gemäß der unterschiedlichen Rolle, die der Begriff der
115 Solche Hinweise, die mit Zeitadverbien wie primum, deinde, nunc, postea einzelne Teile von Oden hervorheben, findet man in großer Zahl bald nach Landino auch in den Ausgaben von Mancinelli (1492), Locher (1498) oder Badius Ascensius (1503), aber ebenso z. B. noch bei Lambinus (1577), Pulmann (1581), Juvancy (1702) oder Gottschling (1753). 116 Das gilt vor Georg Fabricius vor allem von Hermann Figulus (1546), der z. B. von der Ode I,12 einleitend schreibt: „Ad imitationem Pindari Lyricorum principis, Deorum, Regum, principum, & virtute insignium uirorum laudes, hac Ode celebrat“ (S. 80) und dann zu v. 49 bemerkt: „Post longam digressionem, redit ad summum Iouem, humani generis parentem & defensorem ...“ (S. 93). 117 S. 56 (zu Od. III,27): „... euagatur in Europae fabulam ... Argumentum coeptum more Lyrico relinquit …”. 118 Dazu aus dem 18. Jahrhundert u. a. Pellegrin 1715, S. 37 (im Zusammenhang mit Boileaus Formel vom beau desordre als effet de l’art) – Groschuf 1749, S. 55ff. (Digressionen bei Horaz nicht etwa ein Mangel, sondern – mit Anspielung auf Boileau – lebhafte, ungezwungene Unordnung) – Miller 1761, Bl. **3r (am Ende der Vita des Horaz, in Anlehnung an – s. Anm. 119 – diejenige bei Torrentius: digressiones oppido venustae) – Jani 1778/82, Bd. 1, S. 30 (gegen diejenigen, die beklagen, Horaz verlasse mit Digressionen seinen ursprünglichen Plan: „Sed sic fieri solet. Poёta lyricus dum enthusiasmo suo abripitur, dum exprimit sensus suos eorumque naturalem consequentiam (qui lyricae poeseos character est“) – Doering 1815/28, Bd. 1, S. 10 (digressio aus summo amore).
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digressio in den Kommentaren zu Pindar und Horaz¹¹⁹ – in Korrespondenz mit den tatsächlichen Unterschieden ihrer Dichtung – spielt, ist Pindar, der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Ronsard¹²⁰ auch die Dichtung selbst, zunächst in Frankreich, zu befruchten beginnt, auch für die Poetik, seit sie den Begriff als proprium der poesis lyrica aus den Kommentaren übernommen hat, das eigentliche Muster für dieses wichtige Element der Lyriktheorie, neben dem Horaz zuweilen gar nicht oder aber erst an zweiter Stelle genannt wird. Die Art und Weise, in welcher Pindar als der Dichter der Digressionen und damit als Muster dieser Eigenart lyrischer Dichtung in der Poetik des Humanismus gesehen wird, bleibt aber auch noch nach dem 16. Jahrhundert vom Fortgang der Auslegungsarbeit in den Kommentaren beeinflußt. Das gilt vor anderen von der Pindarausgabe des Erasmus Schmid (1616), die bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts, bis zur Ausgabe von Christian Gottlob Heyne (1773/74, textkritisch, mit lateinischer Übersetzung; mit Kommentar 1798/99),¹²¹ mit ihrem Text, aber auch mit ihrem Kommentar maßgeblich geblieben ist, sodaß mit ihr, mit ihrem Bild von Pindar und von der Ode sich noch Herder bei seinen vielfältigen Entwürfen zu einer Oden- und Lyriktheorie immer wieder kritisch auseinandergesetzt hat.¹²² Schmid hat wie kaum einer sonst die frühen Ansätze von Lonice-
119 Zu nennen sind u. a.: Xylander 1575, S. 137 – Parthenius 1584, Bl. 8v (mit Bemerkungen zum Gebrauch von digressiones bei Rednern und Poeten und Berufung auf Pindar für die längeren Digressionen der Poeten) – Torrentius 1608, Bl. ***2v (am Ende einer Vita des Horaz: „Mira est in Odis & carminis & argumentorum varietas, summa copia & suauitas, sententiae graues, argutae, & artificiosissimae: digressiones oppido venustae ...), S. 263 („... ea occasione, vt solent poetae, ad Europae historiam digressus ...“) – Zurck 1696, S. 115, 217 (zu Pindar: „Digressionibus suis, saepe sine nexu abruptis, obscurus est, & in figuris ut magnificus, ita aliquando Dithyrambicus, & praeceps, eoque non imitabilis ... Horatius quod in eo vitiosum forte, vitavit“). 120 S. dazu das monumentale Werk von Isidore Silver: Ronsard and the Hellenic Renaissance in France, Bd. 2, Ronsard and the Grecian Lyre, T. I–III, Genf 1981–1987; darin zu Ronsard und Pindar insbes. die Kapitel XVI–XXX – ferner u. a. Thomas Schmitz, Pindar in der französischen Renaissance, Göttingen 1993. 121 Heyne hat in seiner Praefatio dem Editor Erasmus Schmid noch Anerkennung gezollt, indem er ihn am Ende einer Übersicht über frühere Pindar-Ausgaben einführt mit einer an Quintilians Lob Pindars anknüpfenden Wendung: „Tandem ad Schmidium peruentum est, editorum Pindari facile principem“, um dann freilich nach einer längeren Würdigung der editorischen Leistung kritisch zum Kommentar Schmids und seiner Orientierung an der Rhetorik Stellung zu nehmen (Heyne 1798/99, Vol. I, S. 45ff.; entsprechende Kritik schon in der Ausgabe von 1773/74, T. 2, S. 114). 122 S. dazu die Anm. 84 und 85 und die dazu gehörigen Partien der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. – Im Lauf des 20. Jahrhunderts und insbesondere in den letzten Jahrzehnten läßt sich zunehmend eine Abkehr von der im 18. Jahrhundert – in engem
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rus fortgeführt und eingehende Analysen zu allen Oden Pindars geliefert, die sich vor allem des Begriffs der digressio und zahlreicher rhetorischer Gesichtspunkte bedienen. Es ist für sein Pindar-Bild bezeichnend, daß er seiner Ausgabe eine Abhandlung „De Dithyrambis“ (T.4, S. 247–255) beigegeben hat, die wie an vielen Stellen so auch dort auf Pindar verweist, wo sie vom enthusiasmus poeticus handelt, „qui non tam addiscitur, quàm naturali quodam & occulto influxu certis individuis datur“ (der nicht so sehr erworben, als durch einen gewissen natürlichen und verborgenen Einfluß bestimmten Individuen gegeben wird). „Neqve tamen arte planè hic enthusiasmus caret, sed ita gubernandus est, ut ars quidem insit, ita tamen abscondita, ut non nisi peculiari vi stocastikῇ prae-
Zusammenhang mit einer wachsenden Kritik an der Rhetorik – entstandenen negativen Einschätzung der Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid und ihres rhetorisch-dialektischen Analyse-Verfahrens beobachten. Vgl. dazu u. a. Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Pindaros, Berlin 1922, S. 5f. – Z. Lempicki, Pindare jugé par les gens de lettres du XVIIe et du XVIIIe siècle, S. 30, in: Bulletin International de l’Académie Polonaise des Sciences et des Lettres, Classe de Philologie, Anné 1929, Krakau 1930, S. 28–39 – Wolfgang Schadewaldt, Pindar [Vorlesung von 1963], S. 248, in: Schadewaldt, Die frühgriechische Lyrik (Tübinger Vorlesungen, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1989, S. 217–356 – C.M. Bowra, Pindar, Oxford 1964, S. 321 – John Edwin Sandys, A History of Classical Scholarship, Vol. I, New York 1964, S. 272 – Penelope Wilson, Pindar and his Reputation in Antiquity, S. 107, in: Proceedings of the Cambridge Philological society 206, 1980, S. 97–114 – Thomas Gelzer, Pindarverständnis und Pindarübersetzung im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, S. 101ff., in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz, 1981, S. 81–115 – Glenn W. Most, The Measures of Praise. Structure and Function in Pindar’s Second Pythian and Seventh Nemean Odes, Göttingen 1985, S. 43f. – Stella P. Revard, Neo-Latin Commentaries on Pindar, S. 587, in: Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis, Binghamton, New York 1985, S. 583–591 – Malcolm Heath, The Origin of Modern Pindaric Criticism, S. 89f., 97, in: Journal of Hellenic Studies 106, 1986, S. 85–98 – Andrew M. Miller, Inventa Componere: Rhetorical Process and Poetic Composition in Pindar’s Ninth Olympic Ode, passim, in: Transactions of the American Philological Association 123, 1993, S. 109–147 – David Halsted, Koexistenz, Kontinuität, Transformation. Zur lateinischen und deutschen pindarischen Ode (1616–1642), S. 624ff., in: Daphnis 23, 1994, S. 621–639 – P. Hummel, Philologica lyrica, 1997, S. 476ff. – Ralph Häfner, Synoptik und Stilentwicklung. Die Pindar-Editionen von Zwingli/Ceporin, Erasmus Schmid und Alessandro Adinori, in: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow, Tübingen 2001, S. 97–121 – John T. Hamilton, Soliciting Darkness. Pindar, Obscurity, and the Classical Tradition, Cambridge, Mass., London 2003, S. 130ff. – Martin Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005, S. 5 u.ö. Unter den angeführten Arbeiten finden sich neben Stimmen, die vor allem die historische Bedeutung der Ausgabe von Erasmus Schmid – und z.T. auch die der kommentierten Übersetzung des Lonicerus – für die frühneuzeitliche Pindar-Rezeption würdigen, auch solche, die an ihr die frühe, verdienstvolle Bemühung um das Verständnis der Struktur von Pindars Dichtungen hervorheben und ihr zum Teil noch für die Pindar-Deutung der Gegenwart nicht ohne Gründe ein anregendes Interesse zusprechen.
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ditis appareat“ (S. 252) (Und dennoch entbehrt dieser Enthusiasmus durchaus nicht der Kunst, sondern er muß so gelenkt werden, daß Kunst zwar in ihm ist, doch derart verborgen, daß sie nur für die mit besonderem Scharfsinn Begabten in Erscheinung tritt). Das ist, anknüpfend an eine alte rhetorische Erwartung,¹²³ die Vorstellung, mit welcher später Boileau seine Formel vom beau desordre in der Ode erklärt. Unter dem Vorzeichen des Enthusiasmus, des furor poeticus, der, an sich ein altes Lehrstück der Poetik, für diese erst seit der Wende zum 18. Jahrhundert, im Zusammenhang auch mit der Rezeption der Schrift des Ps.Longin vom Erhabenen, fruchtbar wird, kann dann im 18. Jahrhundert die seit Lonicerus von den Kommentaren am Werk Pindars dargelegte Kunst der digressio zu einem wesentlichen Element der weiter sich entwickelnden Odentheorie werden. Mit der vom Bild des Musterautors Pindar bestimmten Entfaltung, die die Ausdeutung der Digressionen und ihrer Funktion nach und nach erfährt, sind eng verbunden schließlich auch die Stilvorstellungen der Lyriktheorie, für die im 18. Jahrhundert die Ode als Inbegriff lyrischer Dichtung ganz geprägt ist durch den hohen Stil im Sinne der hier noch wirksamen rhetorischen Stillehre mit ihrer das decorum erfüllenden Zuordnung von Gegenständen, Gattungen, Stilebenen. „Was er sagt“, heißt es bei Sulzer vom Odendichter, „das sagt er in einem poetischen Ton, in lebhaftern Bildern, in ungewöhnlicherer Wendung, mit lebhafterer Empfindung, als ein andrer Dichter. Mit einem Wort, er entfernet sich in allen Stüken weiter von der gemeinen Art zu sprechen, als jeder andere Dichter“ (Bd. 3, S. 538). Diese entschiedene Festlegung hat weiter zurückreichende Voraussetzungen, die sich jedoch ursprünglich auf komplizierte Weise mit anderen Möglichkeiten für den Stil eines carmen lyricum verschlingen. Scaliger beispielsweise hatte davon gesprochen, daß diese Gedichtart der majestas des Epos, das auch dem Stil nach als höchste Gattung galt, am nächsten komme (S. 47), Vossius hatte den Stil des carmen lyricum näher erläutert als suavitas, die auch der majestas nicht entbehre, und sie – in offenkundiger Anknüpfung an eine ähnliche Stelle im „Dialogus de oratoribus“ des Tacitus¹²⁴ – von der gravitas des Epos, den affectus der Tragödie, der simplicitas der Bukolik und so fort abgegrenzt (III, S. 75f.). Ähnlich hatte auch schon Minturno zwei
123 Im Zusammenhang mit unterschiedlichen Redeteilen und Redesituationen stehende Belege für die Möglichkeit einer besonderen Wirkung der Kunst des Redners gerade durch deren dissimulatio u. a. bei Quintilian: inst. orat. II,17,6; IV,1,9; 1,60; 2,117; XII,9,5. 124 S. c.10: „... ego vero omnem eloquentiam omnesque eius partes sacras et venerabiles puto, nec solum coturnum vestrum aut heroici carminis sonum, sed lyricorum quoque iucunditatem et elegorum lascivias et iamborum amaritudinem [et] epigrammatum lusus et quamcumque aliam speciem eloquentia habet, anteponendam ceteris aliarum artium studiis credo“.
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Jahre vor dem Erscheinen von Scaligers Poetik die Lyrici von den Tragici und Comici unterschieden: „inter hos medium locum Lyrici tanquàm suaviores, sed eò Tragicis humiliores, quo ampliores Comicis obtineant“ (S. 105) (zwischen diesen beiden haben die lyrischen Dichter als die gleichsam lieblicheren, aber um so viel im Verhältnis zu den Tragikern einfacheren wie im Verhältnis zu den Komödienschreibern ansehnlicheren die Mitte inne) und an anderer Stelle (S. 381) die „suavitas orationis“ (Lieblichkeit der Rede) und die „elegantia verborum“ (Feinheit der Wörter) mit der „pulchra numerorum varietas“ (schönen Vielfalt der Metren) als Wirkungsmittel des carmen lyricum verknüpft. Solche Hinweise auf die suavitas scheinen, da diese in der rhetorischen Tradition in erster Linie ein – wenn auch nicht allzu häufig begegnendes – Merkmal des mittleren Stils ist,¹²⁵ zuweilen auf die Meinung hinzudeuten, lyrische Gedichte seien durch einen solchen mittleren Stil gekennzeichnet. Masen erklärt denn auch ausdrücklich (1661), daß die Lyrik „in mediocri plerumque scribendi charactere“ (S. 333) (meistens im mittleren Stil) sich bewege, und der erste HorazKommentator, Landino, ist der Ansicht, daß Horaz sich zumeist dieser Stilebene bediene.¹²⁶ So taucht dann der Begriff „suavitas“ auch in manchen anderen Kommentaren zur Kennzeichnung des Horaz und seiner Oden auf.¹²⁷ Wenn er allerdings zusammen mit dem eher auf den hohen Stil weisenden Wort „gravitas“ (Würde, Erhabenheit) auf Horaz,¹²⁸ wenn er gelegentlich aber auch, allein
125 Belege u. a. bei Cicero: Or. 21,69 (Zusammenhang von delectare, suavitas und modicum genus dicendi); 26,91–27,96 (im Rahmen einer ausführlichen Behandlung des mittleren Stils: „hoc in genere nervorum vel minimum, suavitatis autem est vel plurimum“). 126 „Quod si quis quo caractere figuraue dicendi in suo uolumine usus sit oratius: requiret absolute: ut puto: uereque respondebitur mediocre pleraque stilo conscripta esse. Saepe numero tamen rebus ita postulantibus modo grauiori spiritu insurgit: modo in humilem usque figuram delabitur“. (Bl. a 2r ; in der Wendung „grauiori spiritu insurgit“ dürfte die Wendung „insurgit aliquando“ aus der Charakteristik des Horaz bei Quintilian, Inst. orat. X,1,96 – s. die Wiedergabe der ganzen Stelle im Anhang zu dieser Abhandlung – nachklingen). 127 S. u. a. Basel 1521, Bl. a 2r (… cuius poesi quid lepidius? quid suavius? quid tersius, copiosiusque?) – Glarean 1533, Bl. 2 r (Hic uero est author, in quo summa suauitas …) – Figulus 1546, Bl. *4v – Stephanus 1588, S. 92 (zu Od. IV,2, v. 25f., im Vergleich mit Pindar: „se api comparat: tanquam innuens sua carmina humilia quidem esse, sed dulcia“) – Leiden 1597, S. 3f. (Widmungsvorrede von Christoph Plantin: „Et reuera non solum carminis numerorumque mira suauitas & varietas in illo est ...“) – Bond 1621, Bl. A 3r (Horatius sine controuersia, omnibus Poetis & Graecis & Latinis ... est merito anteponendus, in quo sic suauitas cum vtilitate contendit“). 128 So z. B. Fabricius 1571, Bl. B1r (Talis doctor est [Horatius] in carmine Lyrico, quod magna suauitate & dulci lepore condidit, nec minore grauitate ac sapientia pertractauit) – Lambinus 1577, Bl. a4rf. (sine controuersia ceteris omnibus poetis Graecis ac Latinis … Q. Horatius Flaccus merito est anteponendus: in quo … suauitas grauitati par est).
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oder in Verbindung etwa mit dem Wort „grandiloquentia“ (pathetische Beredsamkeit) auf Pindar¹²⁹ angewendet werden kann, dann ist er vielfach doch eher ein – auch mit der Wirkung der besonderen lyrischen Versformen zusammenhängendes – Merkmal der Abgrenzung gegen andere Gattungen als eine genaue Festlegung des Stils. In den Horazkommentaren herrschen denn auch lange Zeit ganz andere Aussagen zur Stilebene vor, die sich insbesondere an einige Stellen in den Oden anschließen, an denen Horaz es ablehnt, kriegerische Ereignisse und große Taten zu besingen, und sich auf die Themen der Liebe und des Weins zurückzieht (vor allem I,6 und II,12, aber häufig auch I,12).¹³⁰ Das wird hie und da nur als eine Frage der persönlichen Neigung oder Begabung des Dichters verstanden,¹³¹ dem es nicht liege, hohe Dinge zu gestalten, wiederholt auch nur – ähnlich wie die Kürze – als Merkmal, welches das carmen lyricum als Gattung, welche keine continua narratio (fortlaufende Erzählung), keine „historias, siue veras, siue poёticas“ (keine wahren oder erdachten Geschichten) biete und folglich keine res graves (hohen Gegenstände) behandle,¹³² vom Epos und seinen Stoffen unter-
129 Porphyrio, Commentum in Horatium, S. 140 (zu Od. IV,2, v. 25: „Cycnum autem eundem [Pindarum] appellat a suauitate carminum, quia et cycni canori esse dicuntur“; zu v. 27f.: „vt Pindarum propter sublimitatem et suauit[at]em carminis comparauit, ita se api“) – Neander 1556, Bl. b1r („In Pindaro uate ut antiquissimo, ita quoque suauissimo, sunt … omnia plena uoluptatis, gratiae & doctrinae utilis …”) – Stephanus 1588, S. 92 (zu Od. IV,2, v. 25f.: „Pindarum alte volanti cycno propter grandiloquentiam & suauitatem, se api comparat …“) – Erasmus Schmid 1616, T. 1, Bl. 2 r (Prolegomena in Pindarum: „Puerum domo patria expositum Apes aluerunt, pro lacte mel subministrantes, ut scribit Aelian. l.12. c.45, quae res futuram carminum ejus dulcedinem haud obscure promisit“). 130 S. den Abdruck dieser Oden im Anhang (II. Texte) zu dieser Abhandlung. 131 So u. a. bei Landino 1483, Bl. b6v (zu Od. I,6: „... Laudat & Varium poetam: quem affirmat elegantia dignitateque sui stili posse describere egregia facinora agrippae: quae ipse tenuitate sui stili non posse“); h1r (zu Od. II,12, v. 1); o2v (zu Od. IV,15) – Leiden 1551, S. 12f. (zu Od. I,6: „Negat se esse eo ingenio, ut Agrippae res gestas pro dignitate scribere poßit: sibi non conuenire tam sublime argumentum“) – Fabricius 1571, S. 7 (zu Od. I,6: „De ingenij sui facultate … excusat ingenii sui tenuitatem, & Varium aptiorem esse testatur scribendis historiis, quam se: ideoque iudicio abstinere ab eo scripti genere, cui impar sit facultate …“); S. 36 (zu Od. II,12) – Bersmann 1602, S. 13 (zu Od. I,6: „… se conviviis tantum & amoribus describendis aptum esse profitetur“); 62 (zu Od. II,12). Anregungen für solche Deutungen konnten die Kommentatoren wie auch in manchen anderen Fällen in den spätantiken Scholien finden: s. Ps.Acro, Vol. I, S. 38 (zu Od. I,6: „ingenium suum inpar metrorum ludo deditum laudes bellicas canere“) – Porphyrio, S. 140 (zu Od. III,2, v. 27f.: „Per quod significat parua quidem et humilia se scribere, sed subtilia ac dulcia“). 132 Cruquius 1578, S. 111 (zu Od. II,12); Torrentius 1608, S. 152 (zu Od. II,12, v. 9), 151 (einleitend zu Od. II,12). Vgl. auch u. a. Locher 1498, Bl. VIIr (zu Od. I,6) – Poemata 1511, S. 58 (zu Od. II,12) – Basel 1531, S. 165 (zu Od. IV,15) – Perotti 1531, Bl. 34r (zu Od. II,12) – Figulus 1546, S. 262
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scheide. Wie aber auch dies in einer rhetorisch fundierten Poetik immer schon zugleich auf eine entsprechende Stillage deutet, so sind sehr früh bereits, bei Mancinellus (erstmals 1492) oder bei Badius Ascensius (1503)¹³³ Ansätze zu einer Deutung zu finden, die jene Stellen bei Horaz als allgemeine Stilaussagen zur Lyrik auffaßt. Bei Glarean (1533) etwa begegnet sie dann in aller wünschenswerten Deutlichkeit bei der Kommentierung der Ode II,12: „Moecenati se excusat, quod res graues non attendet, sed circa ioca & nugas uersetur, propter lyrici stili humilitatem, qui non conuenit rebus fortiter bello gestis“ (S. 70) (Er entschuldigt sich bei Maecenas, daß er sich nicht auf gewichtige Dinge richte, sondern sich mit Scherzen und Tändeleien befasse wegen der Einfachheit des lyrischen Stils, welche zu tapferen Kriegstaten nicht passe). So findet man es in vielen Kommentaren des 16. und 17. Jahrhunderts immer wieder an den entsprechenden Stellen als eine, wie es scheint, ganz unangefochtene Feststellung tradiert.¹³⁴ Das hätte eigentlich in den Poetiken, die doch stets eingehender mit dem Muster Horaz argumentieren, von Beginn an zu entschiedener Festlegung des carmen lyricum auf den einfachen Stil führen können, denn die Kommentare spiegeln dies ja jedenfalls als eine zeitgenössische Auffassungsmöglichkeit. Aber sie wird auf
(zu Od. II,12) – Lambinus 1577, S. 112 (zu Od. II,12) – Stephanus 1588, S. 44 (zu Od. II,12: „Lyricorum versuum mollitiei res graues & tragicas non conuenire: soluta autem oratione res gestas Augusti Maecenatem ipsum melius praescripturum …”). Auch für diesen Aspekt finden sich Anregungen in den Scholien, so bei Ps.Acro, Vol. I, S. 172 (zu Od. II,12: „Ad Mecenatem scribit, docens non conuenire historiam poetae et graues res carmini lyrico“) – Porphyrio, S. 70 (zu Od. II,12: „testatur poeta non conuenire historias et graues res lyrico carmini“); S. 93 (zu Od. III,3, v. 71f.: „Sensus est: desine magnas res, quae heroico magis carmini conveniunt, extenuare humilitate lyrici carminis“). 133 Entsprechende Hinweise teils von Mancinelli, teils von Badius Ascensius in der beider Kommentare enthaltenden Horaz-Ausgabe von 1503: Bl. XIIv (zu Od. I,6), XLVv (zu Od. II,1), XCIr (zu Od. III,25), XCVIIv (zu Od. IV,2), CXIr (zu Od. IV,15). 134 So u. a. Basel 1531, S. 73 (zu Od. II,12, übereinstimmend mit der oben zitierten Stelle aus Glareans Kommentar) – Köln 1537 (Ausgabe mit Kommentar aus vielen anderen Ausgaben), S. 95 (zu Od. II,12, übereinstimmend mit Glarean und der Ausgabe Basel 1531) – Figulus 1546, S. 51 (zu Od. I,6: „Ostendit Lyricum carmen humilius esse“), 54 (zu Od. I,6, v. 9: „nos humiles lyrici poetae non canimus res sublimes“), 261f. (zu Od. II,12, v. 1: „Ne cupias, ô Mecoenas, ut humili lyrici carminis stylo res bellicas, sublimem requirentes phrasim, describam“), 263 (zu v. 3f.), 520 (zu Od. IV,2, v. 31), 599f. (zu Od. IV,15), 600 (zu v. 3f.) – Leiden 1551, S. 56f. (zu Od. II,12, wie bei Glarean und anderen) – Chabotius 1594, S. 201 (zu Od. II,12), 394 (zu Od. IV,15) – Lubinus 1612, S. 16f. (zu Od. I,6) – Rappolt 1675, S. 167 (zu Od. II,12, v. 13) – Rodelius 1683, S. 15 (zu Od. I,6, v. 10). – Horaz hat an keiner Stelle die Wörter humilis oder humilitas als Stilbegriff für sich in Anspruch genommen, hingegen an zwei Stellen einen modus humilis (Od. III,25, v. 17) oder sermo humilis (a.p. v. 229) als im jeweiligen Zusammenhang unpassend abgewiesen.
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eigentümliche Weise vom Einfluß Pindars, des anderen Musters, überlagert und später zeitweilig fast gänzlich verdrängt. Quintilian hatte Pindar unter den neun kanonischen griechischen Lyrikern als den Princeps rühmend hervorgehoben und dabei mit lauter Merkmalen eines hohen Stils charakterisiert, Horaz ihn, woran Quintilian erinnert, wegen des gewaltigen Stroms seiner Beredsamkeit gerühmt und denjenigen, der ihn nachzuahmen versuchen wollte, mit Ikarus verglichen. Bestärkt durch solche Autoritäten und im Lichte ihrer immer wieder zitierten Äußerungen las man Pindar, nahm man den bisher nahezu unbekannten und schwierigen Dichter als Inbegriff hoher Dichtung auf. Schon sein erster Kommentator, Lonicerus, betont in seiner einleitenden Widmungsvorrede nachdrücklich die maiestas und sublimitas (Größe und Erhabenheit) der lyra Pindars, die nicht leicht irgend jemand erreichen könne (Bl. α2v), und kommentiert in solchem Sinne manche einzelnen Stellen, am eindrücklichsten vielleicht das Bild vom Adler in der 2. Strophe der 5. Nemeischen Ode, die – zusammen mit der 4. Epodos der 3. Nemeischen Ode¹³⁵ – der späteren Odentheorie das Bild vom hohen Flug der Ode¹³⁶ geliefert hat: „Confert characterem suum & seseipsum aquilae, nedum terras, sed
135 Von Lonicerus (S. 326f.) als Bild für Pindars Dichtung und deren Rang so kommentiert: „Insignis comparatio certe, qua poёta sese aquilae, alitum regi, (quae quia altißimi sit uolatus & nubes transuolet, ut est apud Aristotelem, Iouis ales credita est) ignauos uero poёtastros locutuleijs graculis aequiparat. Etsi, inquit, serius aequo hunc tibi hymnum concinuerim, felicius tamen hoc ego longe feci, quam plerique alij graculi & inepti poёtae, qui indigna & plane humilia argumenta contexunt, nec quomodo heroёm uirtute clarum effere debeant, norunt“. 136 Als Beleg für die lange Wirkungsgeschichte des Bildes seien einige Beispiele aus dem 18. Jahrhundert angeführt: Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 2, Zürich 1740 (ND Stuttgart 1966), S. 420 (Die Ode steiget in den Himmel, damit sie ihre Bilder und ihre Gleichnisse von dem Donner, den Sternen und den Göttern selbst entlehne) – (Samuel Gotthold Lange), Die Lehre von der Ode, S. 103, in: Der Gesellige, T.4, 1749 (ND Hildesheim u. a. 1987), S. 97–112 (Das Feuer des Odendichters ist der geflügelte und schnelle Pegasus, mit welchem er ... sich auch oft hoch in die Luft und weit über die Blicke des gemeinen Pöbels erhebt ...) – Anonym, Von der Ode (1763), S. 158 (im Zusammenhang mit dem Enthusiasmus zitiert die unten nachgewiesene Stelle bei Uz von „der Ode kühnen Flügeln“) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 3, 21793, S. 693 im Artikel über Pindar (Gar oft aber wendet er den Flug seiner Betrachtungen so schnell und springt so weit von der Bahn ab, daß wir ihm kaum folgen können) – Johann Peter Uz, Sämtliche poetische Werke, hrsg. v. August Sauer, Stuttgart 1890 (ND Darmstadt 1964), S. 43: Die lyrische Muse, 1746 (v. 1–4: Wohin, wohin reißt mich die strenge Wut? / Seht, auf der Ode kühnen Flügeln / Entweich ich, voller Glut, / Der blödern Musen Blick und diesen stillen Hügeln), S. 85f., Tempe, v. 43ff. – Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe, Bd. I,1, Oden, Berlin, New York 2010, S. 99: Friedrich der Fünfte, 1750 (v. 41: Fang den lyrischen Flug ... an), 429: Der Gränzstein, Fassung 1798 (v.65: Frey ist der Flug der Ode ...), s. auch S. 12: Auf meine Freunde, 1747, v. 61.
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maria uolatu suo emetiente. Mea, inquit, poemata nedum terras, sed & maria permeant. Et quia aquila, ob altißimum uolatum suum diuina ales … creditur, ideo characteris hic sui sublimitatem adumbrat“ (S. 341)¹³⁷ (Er vergleicht seinen Stil und sich selbst einem Adler, der mit seinem Flug nicht nur Länder, sondern auch Meere durchmißt. Meine Gedichte, sagt er, durchwandern nicht nur Länder, sondern auch Meere. Und weil der Adler wegen seines so hohen Fluges als ein göttlicher Vogel gilt, deshalb deutet er hier die Erhabenheit seines Stils an). Auch in den folgenden Ausgaben trat den Lesern Pindar immer wieder als Verkörperung einer höchsten Möglichkeit lyrischen Gesangs entgegen,¹³⁸ als die ihn auch seine Digressionen auswiesen. Das scheint die zum einen Teil zunächst noch, sofern es immer auch um das andersartige Muster Horaz ging, unscharfen, schwankenden Stilaussagen der Poetiken und dann – im Verein mit einzelnen Hinweisen bei antiken oder byzantinischen Gewährsleuten wie Menander oder Eusthatius¹³⁹ – die allmählich zunehmende Vorstellung vom vorwiegend
137 Weitere Bemerkungen zum herausragenden Stil Pindars bei Lonicerus u. a. S. 9 (zu Ol. 1, Antistr. 1: „... in comparationibus & hyperbolis, mirificus Quintiliano uisus est Pindarus“), 29 (zu Ol. 2, Antistr. 2: „Elegans est hic antithesis“), 259 (zu Pyth. 6, Str. 1: „Dura ac dithyrambica metaphora“), 262 (zu Antistr. 2), 364 (zu Nem. 7, Antistr. 4), 426 (zu Isthm. 4, Str. 2), 439 (zu Isthm. 6), 441 (zu Isthm. 6, Ep. 1: „Epitheton est heroicum“), 453 (zu Isthm. 8). 138 Dazu u. a. Neander 1556, Bl. α5r (Widmungsvorrede: „... Pindarus, poeta Lyricus ut suauissimus & sapientissimus, ita quoque caeterorum lyricorum facile princeps optimus, seu spiritus magnificentiam, seu sententiarum grauitatem spectes …”) – Sudorius 1575, Bl. 3v f. (Widmungsvorrede; mit Berufung auf Quintilian) – Portus 1583, S. 26 (zu Ol. 6: „Exornatio a loco similitudinis, vt in amplis & magnificis aedificiis vestibula magnificentiora extruuntur, & columnis ac marmore ornantur“) – Aretius 1587, S. 2 (Leservorrede: Ankündigung eines Kommentars mit „perpetua ἀnalύsei argumentorum & digressionum, quibus hoc poёma, nequaquam humi repens, sed dithyrambico more assurgens refertum est“) – Erasmus Schmid 1616, T. 2, Bl. )(3v (Brief Caspar Peucers, ursprünglich der lateinischen Version Melanchthons vorangestellt, anknüpfend an Horaz, Od. IV,2, v. 25ff.: „... quod verißimum esse, Lectores animadvertent, qvum videbunt Pindarum, sumpta occasione ex urbis aut familia alicuius origine, relicto humili argumento, velut evolantem in sublimen aetheream regionem laetißimo cantu, veteres historias celebrare“) – Marin 1617, Bl. a 5v – Benedictus 1620, Bl. a 2v – Vauvilliers 1772, S. 16 (mit Berufung auf Horaz) – Hezel 1805, S. 4 (zit. Quintilian), 329 (zum Anfang der Ol. 11: „… eine, im lyrischen Flug der Ideen des Dichters gegründete, Vernachlässigung der Construktion“). 139 Zu Menanders Hinweisen auf die Stilhöhe verschiedener Arten von Hymnen s. die Nachweise in Anm. 27. Eustathatios hat in seinem Kommentar zur Ilias (Erstdruck 1542) vom ὕψoϛ, der Erhabenheit der Ode gesprochen (Eustathius, Commentarii ad Homeri Iliadem pertinentes, ed. Marchinus van der Valk, Vol. I, Leiden 1971, S. 14). Diese Stelle referiert z. B. Torrentius 1608 am Beginn seines Kommentars zum 1. Buch der Satiren. Marolles 1652 hat am Beginn seiner „Remarques sur les Odes d’Horace“ dem Hinweis des Eusthatios auf „le sujet ... haut & sublime“ der Ode widersprochen mit dem Argument: „toutesfois Horace n’a pas laissé d’y mesler vn genre moins élevé, en quoy il a parfaitement reüssi“ (S. 341).
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hohen Charakter der Ode zu bedingen, bleibt aber auch nicht ohne Wirkung auf das Bild vom lyrischen Stil des Horaz, von dem schon Quintilian an der von den Kommentatoren immer wieder zitierten Stelle (X,1,96) gesagt hatte: „insurgit aliquando et ... est ... verbis felicissime audax“ (zuweilen erhebt er sich im Ton und ist ... in seinen Worten aufs glücklichste kühn). Schon Landino, sein erster neuzeitlicher Kommentator, nennt Horaz, noch ehe Pindar im Druck allgemein zugänglich war, gelegentlich „pene alter Pyndarus“ (Bl. c6v, zu Od. I,12, v.13)¹⁴⁰ (fast ein zweiter Pindar). Hinweise auf Züge des hohen Stils bei Horaz finden sich nach ihm dann allenthalben auch in anderen Kommentaren.¹⁴¹ In den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts kann sein erster deut-
140 Weitere Belege bei Landino für das Vorkommen eines hohen Stils bei Horaz u. a. Bl. a 2r (im Anschluß an Hinweise zum hohen Stil Pindars, über Horaz: „... mediocri pleraque stilo conscripta esse. Saepe numero tamen rebus ita postulantibus modo grauiori spiritu insurgit: modo in humilem usque figuram delabitur“), b7v (zu Od. I,6, v. 8ff.), e8v (zu Od. I,29), m1v (zu Od. III,25, v. 2). 141 Ausgewählte charakteristische Belege dafür, an denen zu beobachten ist, daß sie – nicht zum wenigsten auch im (nicht immer ausgesprochenen) Vergleich mit Pindar – mit zunehmender Eindringlichkeit formuliert werden und in wachsendem Maße auch die Gesamtcharakteristik des Horaz prägen: Badius Ascensius 1503, Bl. XIIv (zu Od. I,6: „... confitens: imbelli lyra non posse grandia & horrentia martis arma consequi. quod dum se posse negat mira artificio assequitur“) – Basel 1531, S. 25 (zu Od. I,12, mit Anklang an Ps.Acro: „Hac ode Pindarum imitatus est, in qua miro artificio insinuat se in laudes Augusti …“) – Figulus 1546, Bl. **8rf. (neben dem von Horaz zumeist gebrauchten einfachen Stil: „… Interdum, tamen etiam ad mediocre ... proxime accedit, altiusque nonnumquam egreditur“, mit Hinweis auf Quintilian) – Leiden 1551, S. 18 (wie Basel 1531) – Fabricius 1571, S. 4 (zu Od. I.3: „... Haec Oda singularis est, habet magna uerba, sonora epitheta, insignia exempla, sententias graues, aptam digressionem … Hic ille est spiritus heroicus, quem Fabius [Quintilian] in hoc poeta seruauit“) – Parthenius 1584, Bl. 30r (zu Od. I,12: „Quaeret aliquis, sub quod genus praesens Carmen reduci posset? profecto sub Dignitatem & Grauitatem …“) – Bersmann 1602, Bl. )(1v (Widmungsvorrede: „Quod enim ad carminum requiritur sonum & numeros, neruumque ac maiestatem, haec profecto nisi me admodum ratio fugit, & singula & vniuersa in Horatij lyricis non requiras inferiora ijs, qua in Epicis Maronis [Vergil] excellunt …“) – Marcilius 1605, S. 9 (zu Od. I,6: nach Hinweis auf den Verzicht des Horaz auf Preisung der res gestae des Agrippa wird doch v. 2 mit der Bemerkung kommentiert: „... tὸ ὕψoϛ nempe siue sublimitas stili, tanquam aquila, de qua Longinus“ (Indiz für den kommenden Einfluß der Ps.Longin-Rezeption auf das Bild auch des Horaz) – Torrentius 1608, S. 328 (Anfang des Kommentars zu Od. IV,15: „Praecedens Oda verbis ac materia ipsa paene ad heroici carminis maiestatem assurgit …”) – Minelli 1668, Bl. *4rf. (leicht redigierte, aber auf 1667 datierte Wiedergabe der den Horaz über alle griechischen und römischen Dichter – außer Homer – erhebenden Vorrede, die sich 1577 in der Ausgabe von Lambinus findet; s. das Teilzitat in Anm. 128) – Faber 1671, S. 296 (Notulae Tranquili Fabri, zu Od. I,3: „... grandia sunt, phantasías nobiles habent, & censoriam quandam gravitatem“) – Martignac 1678, T. I, Bl. a9r (La vie d’Horace: „On voit briller dans ses Odes tant de figures hardies, & tant d’expressions heureuses, qu’on le prefere avec raison aux Alcées, aux Saphos,
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scher Übersetzer, der Theologe und Romanautor Andreas Heinrich Bucholtz, bekennen, daß ihn die „Horatiana majestas“ (die Erhabenheit des Horaz) Sorge um das künftige Urteil der Leser über sein Unterfangen empfinden lasse.¹⁴² Am aufschlußreichsten für die Veränderungen des Bildes von Horaz und seinem Stil, die sich in den Kommentaren und dann auch in den Schriften zur Poetik vollziehen, ist vielleicht das, was Scaliger im 6. Buch seiner Poetik, in welchem er neuzeitliche und antike Autoren einer kritischen Musterung unterzieht, von Horaz sagt: „Carminum ... libri ... sunt ... neque solo dicendi genere humili, quemadmodum scripsit Quintilianus, contenti: verum etiam sublimi maxime commendandi. quid enim altius aut praeclarius illis?“ (Die Gedichtbücher ... sind ... wie Quintilian geschrieben hat, nicht nur mit dem einfachen Stil zufrieden, sondern sind auch des hohen Stils wegen aufs höchste zu empfehlen. Denn was ist erhabener oder großartiger als diese [Gedichte]?). Hier folgt die Aufzählung einer längeren Reihe von Oden des Horaz, die für Scaliger Beispiele eines hohen Stils sind und die er teilweise in solchem Sinne näher charakterisiert, darunter die 4. und 5. des 3. Odenbuchs mit den Worten: „Quarta nec Pindaro cedit, ac ne quinta quidem“ (Die vierte gibt Pindar nichts nach, und auch die fünfte gewiß nicht). Er fährt dann fort: „Quae recensere coactus sum, vt virum maximum, atque etiam cum ipso Pindaro in hisce conferendum, à calumnia vindicarem. Nam & Pindaro accuratior est, et sententiis crebrior“ (Ich bin gezwungen gewesen, diese Oden zu mustern, um den so großen und auch mit Pindar selbst in dieser Hinsicht vergleichbaren Mann gegen Anschuldigungen zu schützen. Denn er ist sowohl sorgfältiger als auch an Sentenzen reicher als Pindar), um schließlich von den Oden IV,3 und III,9 des Horaz zu sagen: „Quarum similes malim à me compositas, quàm Pythionicarum multas Pindari, & Nemeonicarum“ (S. 338f.) (Ich wollte lieber, daß ich diesen ähnliche verfaßt hätte als viele der Pythischen und Nemeischen Oden Pindars). Pindar ist hier immer wieder der Maßstab, um dessen willen Scaliger, an Quintilian anknüpfend, aber zugleich über sein „insurgit aliquando“ (zuweilen erhebt er sich im Ton) entschieden hinausgehend, Horaz als einen ebenbürtigen, ja teilweise sogar besseren Dichter hohen Stils darzustellen bemüht ist.
aux Pindares, & aux autres Grecs dont le nom s’est rendu fameux par les Poёsies Lyriques“) – Desprez 1691, Bl. e3v (Vita: „De ingenii scriptorumque nihil est quod dicam, cum tot saecula non sine admiratione praedicaverint junctam ab eo in carminibus Anacreontis suavitatem cum Pindari virtute & sublimitate“). 142 Erstes Verdeutschtes … Odenbuch Des … Q. Horatius Flaccus (1639), S. 4 (Widmungsvorrede: „... in lyra sua profundissimas sententias suaserit ... Quae Horatiana majestas mihi … timorem injicit, ne Lector de proposito judicet meo aliter, quam ipse mihi sum conscius“).
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Angesichts der hier sich abzeichnenden Verschiebungen kann es kaum verwundern, daß 1633 Donatus in einer der späten lateinsprachigen Poetiken, nachdem er zunächst einen früher dafür kaum genannten Autor, Anakreon, als Beispiel der suavitas angeführt hat, bündig erklärt: „Magis tamen placuit Melicis grande, splendidum, magnificum, figuratum, grauibus, & compositis vocibus numerosum loquendi genus: ita vt tumor carminis aliquando deceat: exilitas, & ieiunitas orationis dedeceat semper“ (S. 331) (Mehr aber schätzen die lyrischen Gedichte eine erhabene, glänzende, großartige, geschmückte, an hohen und kunstreich zusammengesetzten Wörtern reiche Weise des Sprechens, so daß sogar zuweilen Aufschwellung das Gedicht ziert; Trockenheit und Nüchternheit der Rede verunziert immer), und daß er, nach einem AristotelesZitat über den Stil der Dithyrambendichter (Rhet. III,3), bekräftigend die so oft angeführten Äußerungen Quintilians über Pindar wie über Horaz zitiert. Über Scaliger und auch über Donatus geht am Ende des 17. Jahrhunderts Daniel Georg Morhof in seinem am Ausgang des Barock stehenden „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“ noch hinaus, wenn er von der Ode feststellt, sie sei „der höhesten Redensart fähig. J.C. Scaliger saget / proxime ad Heroici Carminis majestatem accedit. Ja sie übersteiget selbst die Heldenart [das Epos] / dann es sind audaciores [kühnere] Metaphorae und andere Redensarten zu gelassen / die man in Heroico genere nicht gebrauchen kan“ (S. 339). Es ist das Ergebnis einer längeren Deutungs- und Rezeptionsgeschichte, in welcher die von den Kommentatoren zuerst durchaus wahrgenommene Unterschiedlichkeit der Stilhaltungen unter dem wachsenden Einfluß des einen Musters, Pindars, immer mehr zurücktritt, sodaß in englischen, französischen, deutschen Ausgaben des 18. Jahrhunderts auch Horaz vielfach nur noch als Dichter hohen Stils angesehen wird,¹⁴³ – es ist erst das Ergebnis dieses Vorgangs, daß die Ode seit dem
143 Als Beispiele – an denen vielfach auch zu beobachten ist, wie die aus der humanistischen Überlieferung und ihrer Exegese der Musterautoren Pindar und Horaz hervorgegangene, aber über sie hinaus fortentwickelte Odentheorie des 18. Jahrhunderts, deren Gewährsleute mitsamt der jetzt zur Wirkung gelangten Schrift des Ps.Longin dabei wiederholt ausdrücklich zitiert werden, nunmehr die Gesichtspunkte liefert für eine den zeitgenössischen Erwartungen entsprechende Charakterisierung eben jener beiden antiken Autoren – seien genannt: Pellegrin 1715, S. 8, 14 (mit Hinweis auf Ps.Longin), 18 – Tarteron 1723, T. I, Bl. *3r (Sorge des Übersetzers, daß seine französische Prosaversion der élévation und majesté der Dichtung des Horaz nicht gerecht werden könne) – Sanadon 1728, S. XXIIf. (Horace n’est point inférieur à Pindare pour la force de l’enthousiasme & de la fureur poétique; il en est seulement diférent en ce que son feu est plus réglé) – Bailey 1729, Bl. 2 v (… the learned have for so many Ages, not without admiration, ascrib’d to his Verses, the Sweetneß of Anacreon, joined with the Force and Loftiness of Pindar) – Groschuf 1749, S. 67 (Das in den Oden des Horaz vorkommende Kühne, „… die erhabene Art der lyrischen Verse … vielmehr ein wohlgeführter Schwung, eine Pracht
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18. Jahrhundert allen Unterschieden der Muster zum Trotz endgültig als erhabene Dichtungsart verstanden, als solche von der am gesteigerten Ausdruck der Empfindung interessierten Lyriktheorie, für die auch die Kürze und die Digressionen einen neu gesehenen Sinn erhalten, zunächst besonders geschätzt, dann aber zugunsten des – nach einem längeren Prozeß von der Ode endgültig unterschiedenen – einfacheren und damit vermeintlich unmittelbarer sprechenden Liedes abgewertet wird. Aber dessen Einfachheit ist, auch wenn ihre Voraussetzungen in den alten rhetorischen Zuordnungen von Stil und Gegenstand liegen und einzelne Stücke von Horaz immerhin als Lieder verstanden werden,¹⁴⁴ nicht mehr die suavitas oder die humilitas lyrici stili, die die frühen Kommentare an Horaz bemerkt hatten, sondern mit der Einfachheit des Liedes bestimmen nun,
und männliche Zierde derselben, als eine tadelhafte und sträfliche Verwegenheit zu nennen“) – Salmon 1752, S. IIff. (mit Berufung auf den „Discours sur la Poёsie en géneral, & sur l’Ode en particulier“ von Antoine Houdar de la Motte) – Jani 1778, Bd. 1, S. CIVff. („De Poesi lyrica, inprimis Horatiana“: Rekapitulation der zeitgenössischen Theorie der Ode als höchster Dichtungsart), S. 30 (Berufung auf die Behandlung der Ode I,3 als „un chef d’oeuvre dans le genre passioné“ in Jean François Marmontels Poetik, die französisch 1763, in deutscher Übersetzung 1766 erschienen ist; die betr. Stelle hier T. 2, S. 311), 31 (im Stellenkommentar zu Od. I,3, v. 1–8 Hinweis auf Klopstocks Ode an Bodmer) – Dorighello 1780, S. XLVI–LVIII (Praefatio De Lyrica Poesi; darin S. LIVf. Berufung auf Boileau und auf Alemberts „Reflexions sur l’Ode“) – Köppen 1791 (u. a. zu Od. I,3 Berufung auf J.J. Engels „Theorie der Dichtungsarten“, 11783). Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die lateinisch-französische Ausgabe von Dacier (1727), die in einer langen Einleitung u. a. auf Malherbe hinweist, der als erster französischer Dichter „ait bien connu le caractere & la majesté de l’Ode“ (S. LI), Horaz zwar von Pindar unterscheidet, aber auch jenem „élevation“ zuspricht (S. LII), Boileau (S. XC) und Ps.Longin (S. CXXI) zitiert und im Kommentar an mancherlei Stellen den Enthusiasmus, das Erhabene, die grandes beautés oder die majesté in den Oden des Horaz nachdrücklich hervorhebt. 144 Vgl. z. B. Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791 (Expl. UB Köln), S. 246 („Horaz und Klopstock gaben uns Gedichte unter den Namen der Oden. Sie sinds: aber sie enthalten doch manches Gedicht, das, mit vollem Recht, den Namen des Lieds verdiente“) – Karl Wilhelm Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften, Görlitz 1798 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 41f. („Unter den Römern ist Horaz der erste und der letzte wahrhaftig lyrische Dichter gewesen ... Weil er in allen lyrischen Arten [bei Ramler: heroische Ode, philosophische Ode, scherzhaftes Lied] gedichtet hat, so ist er bald erhaben und schwer, bald scherzhaft und leicht ...“) – Herder, SW XXIV, S. 199–222 (Adrastea, Bd. 5, 1803: Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund: Herder verwendet hier durchgehend den Begriff „Ode“; allein das – offenkundig als besonders anrührend empfundene – Gedicht auf den Tod des Quintilius – Od. I,24 – nennt er, S. 210, ein „Trauerlied“, „das wohl Seinesgleichen unter allen Nationen suchen dürfte“) – Ignaz Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Wien 1839 (ND Hildesheim, New York 1978), T. 2, S. 24 (im Artikel Lied: „Von den Römern sind Catull [der lange nicht als poeta lyricus galt] und Horaz auf uns gekommen“).
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bei Hegel oder Vischer, andere Muster einen gewandelten Lyrikbegriff: sie heißen vor allem Goethe und das Volkslied. Die Geschichte der neuzeitlichen Lyriktheorie ist ein vielschichtiger Vorgang der Entfaltung und Wandlung bestimmter früh entwickelter Grundvorstellungen, deren Anfänge sich – wie hier zu zeigen versucht worden ist – noch vor der humanistischen Poetik in den frühen Kommentaren zu Horaz und dann zu Pindar als an diesen Mustern gemachte Beobachtungen, als bei ihrer Erklärung sich aufdrängende Merkmale fassen lassen. Zwar steht zwangsläufig im Mittelpunkt humanistischer Ausgaben und ihrer Kommentare – wie ein Blick auf solche Ausgaben als ganze leicht lehren kann – zunächst das vielfach mühselige Geschäft der Gewinnung eines gesicherten Textes und der elementaren sprachlichen, sachlichen und metrischen Erläuterung. Aber an bestimmten Stellen, in Einleitungen, die dem durch ein humanistisch erneuertes Bildungswesen allmählich zunehmenden Kreis von Schülern und gelehrten Lesern die Autoren nahebringen wollen, im Kommentar zu einzelnen Texten, die dazu besonderen Anlaß bieten, ergibt sich von selbst schon früh auch poetologische Reflexion. Sie bleibt in diesen Quellen vorerst knapp, auf dieselben Stellen zumeist beschränkt, begegnet keineswegs als zusammenhängende Theorie, sondern in Einzelbemerkungen, die vielfach – oft bis in den Wortlaut hinein – voneinander abhängig sind.¹⁴⁵ Gerade solche Abhängigkeit und einprägende Wiederholung aber, worin sich spiegelt, was den humanistischen Editoren als Lesern und Kommentatoren wichtig ist und sich als communis opinio ausbildet, weisen auf das hin, was die frühen Ausgaben – neben Textkritik und eingehender sachlicher, sprachlicher und metrischer Erläuterung – vor allem durch die Ansätze poetologischer Reflexion leisten: sie machen Pindar und Horaz nicht nur verständlich und fördern deren Verbreitung, sondern sie schaffen das Fundament dafür, daß diese durch die antike Überlieferung beglaubigten Principes Lyricorum der beiden alten Sprachen für die Neuzeit bis ins späte 18. Jahrhundert, als längst eine davon angeregte reiche Dichtung in den Nationalsprachen entstanden war, die beherrschenden Muster lyrischer Dichtung und insbesondere ihrer Theorie sind, und sie formulieren – befördert zum Teil durch einzelne antike Anregungen, die aber doch erst in neuem Zusammenhang fruchtbar gemacht werden mußten – in aller Begrenzung anfänglicher Bemühung um Verständnis der Muster Aussagen zum carmen lyricum, die sich dann für Jahrhunderte als die bestimmenden Konstanten der Lyriktheorie in all ihrem Wandel erweisen.
145 Dies im einzelnen überall zu belegen, würde angesichts der Fülle der hier herangezogenen Quellen den Rahmen dessen, was in dieser Abhandlung zu leisten möglich war, sprengen.
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Zu breiter, zusammenhängender Darlegung solcher Theorie verknüpfen sich jene Aussagen erst in der humanistischen Poetik nach der Mitte des 16. Jahrhunderts. In deren Frühformen wie ihren Vorstufen und Parallelerscheinungen in Form spezieller Kommentare zur ars poetica des Horaz und nach und nach auch zum Teil breiterer, für Epos- und Tragödientheorie wichtiger Kommentare zur Poetik des Aristoteles bleiben die Bemerkungen zu den Lyrica noch begrenzt und wenig aussagekräftig, bestehen sie fast nur in Erwägungen, wieweit bei Aristoteles im 1. Kapitel neben Epos, Tragödie, Komödie und Dithyrambus mit dem Hinweis auf Flöten- und Kitharaspiel nicht doch auch die lyrica poesis gemeint sei,¹⁴⁶ oder in zumeist knappen Paraphrasen der Verse 83–85 bei Horaz.¹⁴⁷ Erst in den umfassend angelegten Werken einer eigenen systematischen Poetik des Humanismus – insbesondere bei Minturno (1559), dann bei Scaliger (1561) und zahlreichen weiteren Autoren nach ihnen – gewinnt auch die Lyrik, deren Bild nun, obgleich Horaz das häufiger zitierte und imitierte Muster bleibt, nachhaltig von der inzwischen geschehenen Pindar-Rezeption mitgeprägt wird, breiteren Raum, indem die Poetik die Stichworte, welche ihr die Kommentartradition liefert, aufgreift und aus diesen Mosaiksteinen – immer noch in engem Kontakt mit der sich fortentwickelnden philologischen Kommentierung und in Fortführung der von ihr begonnenen Exegese der Muster – eine eigentliche Theorie der Lyrik zusammenfügt und zunehmend weiter entfaltet und differenziert. In der Geschichte der Tradierung dieser Lyriktheorie, die dabei in Entsprechung zur gleichzeitigen Geschichte der Lyrik mancherlei Veränderungen und Erweiterungen erfährt und ihre einzelnen Momente in unterschiedlicher Weise ausdeutet und umbildet, zum Teil aber später auch aufgibt, treten jene Muster und die mit ihnen verknüpften Anfänge allmählich zurück, ja schwinden – in dem Maße, in welchem auch die immer mehr nur als hohe Dichtungsart verstandene Ode aus dem Zentrum der Lyriktheorie rückt und immer weniger als
146 Vgl. dazu u. a. Robortello, In librum Aristotelis de Arte Poetica Explicationes (1548), S. 7ff. – Maggi/Lombardi, In Aristotelis Librum de Poetica communes explanationes (1550), S. 33ff. – Vettori, Commentarii, in Primum librum Aristotelis de Arte Poetarum (1560), Bl. a4v, b1r, S. 3ff. – Riccoboni, Poetica Aristotelis (1587), Paraphrasis, S. 14, 95ff. 147 Vgl. hierzu z. B. Paris 1533, S. 47 (Kommentar Parrhasius) – Gaurico, Super Arte Poetica Horatii (1541; eine undatierte Fassung des Kommentars ohne den Text der Ars poetica schon ca. 1510), Bl. B2r; s. auch Bl. D3v (zu a.p. 402ff.) – Amerbach 1543, S. 27 – Pedimontius 1546, Bl. 14r – Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica (1550), S. 32f. – Luisini, In Librum Q. Horatii Flacci de Arte Poetica Commentarius (1554), Bl. 18r – Irenicus 1567, Bl. 12 v – Manuzio d.J., In Q. Horatii Flacci Venvsini Librum De Arte Poetica Commentarius (1576), S. 20f. – Kragius 1583, S. 15 – Colonius 1587, S. 20f. – Correa, In Librum de Arte Poetica Q. Horatii Flacci Explanationes (1587), S. 38 – Ceruti, Paraphrasis in Q. Horatii Flacci Librum de Arte Poetica (1588), S. 20.
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produktive lyrische Möglichkeit lebendig ist – aus dem Blickfeld, bis schließlich die daraus erst durch solche Veränderungen entstandenen Vorstellungen von Lyrik als zeitlos gültig erscheinen. Aber was ihnen vorausliegt, alle früheren Deutungen der in eigenartiger Weise sich durchhaltenden Konstanten sind nicht vorläufige, unzureichende oder gar falsche Auffassungen einer vermeintlich immer gleich bleibenden Sache, sondern sind je für sich gültige Beschreibungen ihres durch neue Beispiele und deren Sageweisen wie durch neues Lesen der schon vorhandenen Muster sich wandelnden Gegenstandes, der Lyrik, sind Niederschlag der Erfahrung von Lesern anderer Epochen. Wie solche sich wandelnden Vorstellungen von Lyrik herauswachsen aus den humanistischen Kommentaren und Poetiken, das beleuchtet auch die insgesamt eigenartige literarische Situation am Beginn der Neuzeit: daß sich literarisches Verstehen und literarische Produktion orientieren an der doch nur fragmentarisch überlieferten und dem Verständnis aus großem zeitlichen Abstand erst neu zu erschließenden Antike – ein Unterfangen, dem sich eine Vielzahl bis heute noch wirksamer oder jedenfalls durch die Literatur der Klassik und des 19. Jahrhunderts bis heute nachwirkender literarischer Erwartungen verdankt. Dazu gehört auch die auf den Humanismus zurückgehende Lyriktheorie mit ihrem so nur für Phasen der neuzeitlichen Literatur gültigen Verständnis von Ode und Lied, mit ihrer Entwicklung über eine nur ihr eigentümliche Odentheorie zu einem umfassenden Lyrikbegriff, der so nicht an ihrem Beginn steht und der auch mit dem der Antike keineswegs identisch ist. Die Bloßlegung der Wurzeln dieser neuzeitlichen Lyriktheorie vermag in exemplarischer Weise die Geschichtlichkeit literarischer Begriffe vor Augen zu führen, deren Beachtung Grundbedingung einer hermeneutisch bewußten Literaturwissenschaft und eines zureichenden Umgangs mit der literarischen Überlieferung ist. Das Beispiel dieser Lyriktheorie, deren Entfaltung sich von den Anfängen in den Pindar- und Horazkommentaren her verfolgen und dadurch in ihrer Eigenart erhellen läßt, macht Möglichkeiten eines historisch angemessenen Verstehens sichtbar, kann aber gewiß auch dessen Grenzen nicht vergessen lassen, da wir bei allem Bemühen, die Quellen zum Sprechen zu bringen, Vergangenes nie vollständig zu rekonstruieren vermögen und aus unserem eigenen geschichtlichen Augenblick, aus unseren eigenen geschichtlich gewordenen Begriffen, auch wenn wir sie durch den Blick auf ihre Geschichte zu relativieren versuchen, nie vollständig heraustreten können.
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Anhang I. Quellen Pindar: Ausgaben – Kommentare – Übersetzungen (chronologisch geordnet) Venedig 1513 PINDAROU. Olύmpia. Pύqia. Nέmea. Isqmia ... PINDARI. Olympia. Pythia. Nemea. Isthmia. Callimachi hymni qui inueniuntur, Venedig: Aldus Manutius 1513 (Expl. StuUB Göttingen). Rom 1515 PINDAROU, OLUMPIA. PUQIA. NEMEA. ISQMIA. Metὰ ἐxhgήsewϛ palaiᾶϛ panὺ ὠφelίmou kaὶ scolίwn ὁmoίwn, Rom: Zacharias Calliergi 1515 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lonicerus 1528 Pindari Poetae vetvstissimi, Lyricorumque omnium Principis, Olympica, Pythica, Nemea, Isthmia, à Joanne Lonicero latinitate donata, Basel 1528 (Expl. Martinus-Bibliothek Mainz). Lonicerus 1535 Pindari Poetae vetvstissimi, Lyricorum facile principis, Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia Per Joan. Lonicerum latinitate donata: adhibitis enarrationibus, e Graecis Scholijs, & doctissimis utriusque linguae autoribus desumptis, Basel 1535 (Expl. StuUB Göttingen). Coeporinus 1556 PINDAROU OLUMPIA, PUQIA, NEMEA, ISQMIA. ... Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia … Hae Victoriae, ad emendatum doctiß. Iacobi Coeporini exemplar collatae, nunc exeunt, Basel 1556 (11526) (Expl. StuUB Göttingen). Neander 1556 ARISTOLOGIA PINDARIKH … Aristologia Pindarica graecolatina. Hoc est, quicquid est in Pindaro … memorabile, notatu dignum, & rarum, nec alibi similiter obuium … studio Michaelis Neandri, Basel 1556 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Melanchthon 1558 Pindari Thebani Lyricorvm vetervm Principis, Olympia. Pythia. Nemea. Isthmia. Per Philippvm Melancthonem Latinitate donata, Basel 1558 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Sudorius 1575 Olympia Pindari Latino Carmine Reddita, per Nicolaum Sudorivm, Paris 1575 (Expl. StB München). Sudorius 1576 Pythia Pindari Latino Carmine Reddita, per Nicolaum Sudorivm, Paris 1576 (Expl. StB München).
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Portus 1583 Francisci Porti Cretensis, Commentarii in Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia, Genf 1583 (Expl. StB München). Aretius 1587 Commentarii absolutissimi in Pindari Olympia Pythia Nemea Isthmia. Authore Benedicto Aretio, Genf 1587 (Expl. StB München). Erasmus Schmid 1616 PINDAROU PERIODOS hoc est Pindari Lyricorum Principis ... emaculati … ’OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ’ISQMIONIKAI. Illustrati Versione nova fideli. Rationis metricae indicatione certa. Dispositione textus genuina. Commentario sufficiente … Opera Erasmi Schmidii, Wittenberg 1616 (Expl. UB Marburg). Marin 1617 Les Olimpioniques, Pythioniques, Nemeoniques, Isthmioniques, de Pindare … Translatées du Grec de Pindare … Par F. Marin, Paris 1617 (Expl. StuUB Göttingen). Benedictus 1620 PINDAROU PERIODOS ... Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia. Johannes Benedictus … ad metri rationem, variorvm exemplarivm fidem … totum authorem innumeris mendis repurgauit. Metaphrasi recognita, Latina paraphrasi addita, Saumur 1620 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Vauvilliers 1772 Essai sur Pindare, Contenant Une Traduction de quelques Odes de ce Poёte, avec une Analyse raisonnée & des Notes historiques, poétiques & grammaticales; Le tout précédé d’un Discours sur Pindare & sur la vraie manière de le traduire; Par M. Vauvilliers, Paris 1772 (Expl. StuUB Göttingen). Heyne 1773/74 Pindari Carmina cum Lectionis Varietate curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen 1773 – Pindari Carmina ex Interpretatione Latina emendatiore. Curavit Christian. Gottlob Heyne, Göttingen 1774 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Schneider 1774 Versuch über Pindars Leben und Schriften. Von Johann Gottlob Schneider. Straßburg 1774 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Gedike 1777 Pindars Olympische Siegeshymnen. Verdeutscht von Friedrich Gedike, Berlin, Leipzig 1777 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Greene 1778 The Pythian, Nemean, and Isthmian Odes of Pindar, Translated into English Verse; with Critical and Explanatory Remarks, London 1778 (übers. v. Edward Burnaby Greene) (Expl. StuUB Göttingen).
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Gedike 1779 Pindars Pythische Siegeshymnen. Mit erklärenden und kritischen Anmerkungen verdeutscht von Friedrich Gedike, Berlin, Leipzig 1779 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Heyne 1798/99 Pindari Carmina cum Lectionis Varietate et Adnotationibus itervm cvravit Chr. Gottl. Heyne, Vol. I–III, Göttingen 1798–1799 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Hezel 1805 Wilh. Friedr. Hezel’s Erläuterung auserlesener Oden Pindars, für Anfänger und ungeübte Lehrer, mit besonderer Rücksicht auf die Bildungsweise der Griechischen und Lateinischen Sprache, Riga 1805 (Expl. StuUB Göttingen). Costa 1808 TA TOU PINDAROU OLUMPIA, PUQIA, NEMEA, ISQMIA Pindari Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia Latinis translata carminibus et illustrata a Joanne Costa, T. I–III, Padua 1808 (Expl. StuUB Göttingen). Horaz: Ausgaben – Kommentare – Übersetzungen (chronologisch geordnet) Ps.Acro 1474 Acronis Commentatoris Egregii In Quinti Horatii Flacci Venusini Opera Expositio, Mailand 1474 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Landino 1483 Christophori Landini in Q. Horatii Flacci Libros omnes … Interpretationes, Venedig 1483 (1Florenz 1482) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Philomusus 1490 Horatii Flacci lyrici poetae opera, Venedig 1490 (mit den Kommentaren von Ps.Acro, Porphyrio, Landino; Herausgeber Jo. Franciscus Philomusus, i.e. Giovanni Francesco Superchi) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Mancinelli 1492 Horatius cum commentariis Ant. Mancinelli Acronis Porphyrionis: Christophori Landini, Venedig 1492 (Expl. StB München). Locher 1498 Horatij flacci Venusini Poete lirici opera cum quibusdam annotationibus Imaginibusque pulcherrimis aptisque ad Odarum concentus & sententias, Straßburg 1498 (Herausgeber Jakob Locher) (Expl. LB Stuttgart). Badius Ascensius 1503 T. I, Quinti Horatii Flacci Odae: Epodoe & seculare carmen cum duplici commentario [sc. Ascensii und Mancinelli] diligenter accuratione ascensiana coimpressa, 1503 – T. II, De arte Poetica Libellus, ipsius Ascensii opera, Paris 1503 – T. III, Sermones & Epistolae Quinti Flacci
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Horatii cum familiari & dilucida explanatione Iodoci Badii Ascensii ab eodem diligentius recognita, Paris 1503 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Paris 1511 Q. Horatii Flacci opera cum commentariis … Antonii Mancinelli: Et … Iodoci Badii Ascensii, Paris (Vorrede dat. 1511) (Expl. LB Stuttgart). Poemata 1511 Q. Horatij Flacci poemata, in quibus multa nuperrime correcta sunt, & institutiones suis locis positae, commentariorum quodammodo uice funguntur, 1511 (mit der Vorrede des Aldus Manutius zu der von ihm 1509 in Venedig gedruckten Ausgabe) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Basel 1521 Q. Horatii Flacci Poemata omnia Centimetrum Marij Seruij. Annotationes Aldi Manutii … Nicolai Peroti de metris Odarum Horatianarum libellus. Praecedit Epistola Nicolai Michael … ad studiosos, Basel 1521 (Expl. Stadtbibl. Mainz; Titelbl. defect, von neuerer Hand ergänzt). Basel 1527 Q. Horatij Flaccj Venvsini Poetae amoenissimi, exactissimique, atque inter Lyricos Latinos Principis opera, cum commentarijs Acronis grammatici haud quaquam uulgaris, nuper quam accuratissime castigati, Basel 1527 (Expl. Stadtbibl. Mainz) Paris 1528 Opera Q. Horatij Flacci Poetae amoenissimi cum quatuor commentarijs, Acronis. Porphyrionis. Anto.Mancinelli. Iodoci Badij Ascensij accurate repositis. Cumque annotationibus Matthei Bonfinis: & Aldi Manutij, Paris 1528 (Expl. StuUB Göttingen). Basel 1531 Q. Horatii Flacci, Avli Persii, Jvnii Jvvenalis, amoenissimorum, exactissimorumque inter Satyricos poetarum Opera: metrica carminum ratione, & Argumentis ubique, tum etiam Annotationibus in Horatij poёsin adiectis, Basel 1531 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Perotti 1531 Horatius. Nicolai Perotti libellus non infrugifer de metris Odarum Horatianarum, Paris 1531 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Glarean 1533 Q. Horatii Flacci Poemata Omnia Studio ac Diligentia Henr. Glareani P.L. recognita, eiusdemque Annotationibus illustrata … Adiecta sunt praeterea ubique argumenta, & Carminum rationes, Freiburg 1533 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Paris 1533 Q. Horatii Flacci Ars Poetica, cum trium doctissimorum commentariis, A. Jani Parrhasii, Acronis, Porphyrionis. Adiectae sunt ad calcem doctissimae Glareani annotationes, Paris 1533 (Expl. HAB Wolfenbüttel).
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Köln 1537 Q. Horatii Flacci Opera: Metrica carminum ratione, & Argumentis ubique Tum etiam doctißimorum uirorum D. Erasmi Roterodami, Angeli Politiani, M. Antonij Sabellici, Ludouici Coelij Rhod., Baptistae Pii, Petri Criniti, Aldi Manutij, Matthaei Bonfinis, & Iacobi Bononiensis Annotationibus in illius Poёmata adiectis, Köln 1537 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Willichius 1539 Commentaria in Artem Poeticam Horatii, authore Iodoco Willichio, Straßburg 1539 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Amerbach 1543 Viti Amerbachii in Artem Poёticam Horatij Commentaria, Straßburg 1543 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Paris 1543 Q. Horatii Flacci opera cum quatuor commentariis Acronis, Porphyrionis, Antonii Mancinelli, Iodoci Badii, Anno M.D.XLIII. repositis. Cumque adnotationibus Matthaei Bonfinis & Aldi Manutii à Philologo recognitis … Adiectae in calce libri evndem in Authorem Henrici Glareani, Poetae Laureati … annotationes, Paris 1543 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Figulus 1546 Q. Horatii Flacci Opera Lyrica, Brevibus, doctisque Annotationibus illustrata, Per Hermannum Figulum, Frankfurt 1546 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Pedimontius 1546 Francisci Philippi Pedimontii Ecphrasis In Horatii Flacci Artem Poeticam, Venedig 1546 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Leiden 1551 Quinti Horatii Flacci Venvsini Poetae Lyrici Poemata Omnia. Ad castigatißimi cuiusque exemplaris fidem quam accuratißime restituta, Scholijsque doctißimis illustrata, Leiden 1551 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Antwerpen 1557 Quinti Horatii Flacci Venvsini Lyricorum Latinorum facile Princeps Poёmata omnia. Exactior mvlto fide Scholijsque doctißimis, & nouis Annotationibus, varijsque lectionibus illustrata, Antwerpen 1557 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Venedig 1567 Q. Horatii Flacci Poetae Venvsini Omnia Poemata cum Ratione Carminum, & argumentis vbique insertis, interpretibus Acrone, Porphyrione, Jano Parrhasio, Antonio Mancinello, necnon Iodoco Badio Ascensio viris eruditissimis. Scoliisqve Angeli Politiani, M. Antonii Sabellici, Ludouici Coelij Rhodogini, Baptistae Pii, Petri Criniti, Aldi Manutij, Matthaei Bonfinis, & Iacobi Bononiensis nuper adiunctis. His nos praeterea annotationes Doctissimorum Antonij Thylesij Consentini, Francisci Robortelli Vtinensis, atque Henrici Glareani apprime vtiles addidimus. Nicolai Perotti Sipontini Libellvs De Metris Odarum, Auctoris Vita ex Petro Crinito Florentino. Quae omnia longe politius, ac diligentius, quam hactenus excusa in lucem prodeunt, Venedig 1567 (Expl. HAB Wolfenbüttel).
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Irenicus 1567 Francisci Irenici Ettelengiacensis In Artem Poeticam et Libros Epistolarum Horatij Annotationes doctissimae, Frankfurt a.M. 1567 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Georg Fabricius 1571 In Q. Horatium Flaccvm Georgii Fabricii Chemnicensis Argumenta & castigationes, Leipzig 1571 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Xylander 1575 Q. Horatii Flacci Poёmata: secvndvm optimas quasque editiones accuratissime castigata. Editio haec instructa est a Gvilielmo Xylandro, Heidelberg 1575 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Xylander 1576 Q. Horatii Flacci Ars Poetica. Illvstrata Commentarijs optimi & doctißimi viri D. Guilielmi Xylandri. Heidelberg 1576 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lambinus 1577 Dionysii Lambini … In Q. Horativm Flaccvm ex Fide atqve Avctoritate complvrivm Librorum Manvscriptorum a se emendatum … Commentarii copiosissimi & ab auctore plus tertia parte post primam Editionem amplificati. Editio postrema, Frankfurt a.M. 1577 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Cruquius 1578 Q. Horativs Flaccvs, Ex antiqvissimis vndecim lib. M.S. et Schedis aliquot emendatus, & plurimis locis cum Commentariis antiquis expurgatus et editus, opera Iacobi Crvqvii … Eiusdem in eundem enarrationes, obseruationes, & variae lectiones, Antwerpen 1578 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Pulmann 1581 Qvintus Horativs Flaccvs. Theodori Pvlmanni Craneburgij Annotationes, ex uarijs autoribus collectae … Adiecta svnt praeterea Carminum genera, Georgij Fabricij Argumenta … in singula carmina, Basel 1581 (Widmungsbrief so dat.) (Expl. Stadtbibl. Mainz). Kragius 1583 Q. Horatii Flacci Ars Poetica ad P. Rami Dialecticam & Rhetoricam, resoluta: Studio Andreae Kragii, Basel 1583 (Widmungsvorrede so dat.) (Expl. StuUB Göttingen). Parthenius 1584 Bernardini Parthenii Spilimbergii In Q. Horatii Flacci Carmina atque Epodos Commentarii quibus Poetae artificium, & uia ad imitationem atque ad Poetice scribendum aperitur, Venedig 1584 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Colonius 1587 Q. Horatii Flacci Methodvs De Arte Poetica: Per Nicolavm Colonivm Exposita, Quomodo antehac ab alio nemine, Bergamo 1587 (Expl. HAB Wolfenbüttel).
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Stephanus 1588 Qvinti Horatii Flacci poemata, Novis scholiis et Argumentis ab Henrico Stephano illustrata … Editio Secvnda, Quae praeter Scholiorum locupletationem, aliquot insuper Diatribas, & quasdam in Veri Porphyrionis commentarios emendatiores, nec non quasdam ad eos accessiones habet, Paris 1588 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Chabotius 1594 Petri Gvalterii Chabotii … Praelectionum in Q. Horatii Flacci Poemata Tomus Primus: Quo Libri IV. Carminum, et Liber I Epodon, Triplici artificio, Dialectico, Grammatico, & Rhetorico, plenissime & doctißime explicantur. Cum Catalogo Auctorum, quorum in his Commentariis usus fuit, Basel 1594 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Leiden 1597 Qvincti Horatii Flacci Opera omnia; cum novis Argumentis, Leiden 1597 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Bersmann 1602 Q. Horatii Flacci, Poemata, qvae extant, omnia argvmentis et Scholiis Virorvm Doctiß. Illustrata, cum indicatione diversarum lectionum … Studio et Opera Gregorii Bersmani, [Leipzig] 1602 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Marcilius 1605 Theodori Marcilii … ad Q. Horatii Flacci Opera omnia, Quotidianae & emendatae lectiones, Paris 1605 (Expl. StuUB Göttingen). Torrentius 1608 Q. Horativs Flaccvs, Cum erudito Laevini Torrentii Commentario, nunc primum in lucem edito. Item Petri Nanni Alcmariani in Artem Poёticam, Antwerpen 1608 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Lubinus 1612 Qvinctvs Horativs Flaccvs accuratissime emendatus, & explicatus Paraphrasi Nova Scholiastica Eilhardi Lvbini. Iam de integro edita, & multis in locis correcta, Frankfurt 1612 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Bond 1621 Qvinti Horatii Flacci Poemata, Scholiis siue Annotationibus, quae breuis Commentarii vice esse possunt, a Johanne Bond illustrata. Editio Tertia recognita … Nunc denuo in Germania in lucem edita, Hannover 1621 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Bucholtz 1639 Andreas Henrich Bucholtz Erstes Verdeutschtes / vnd mit kurtzen Nothen erklärtes Odenbuch / Des vortreflichen Römischen Poeten Q. Horatius Flaccus, Rinteln 1639 (Expl. HAB Wolfenbüttel). de Marolles 1652 Les Oevvres d’Horace Latin et Francois … De la Version de M. de Marolles Abbé de Villeboin, Paris 1652 (Expl. HAB Wolfenbüttel).
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Minelli 1668 Quinti Horatii Flacci Poemata: Cum Commentariis Joh. Minellii, Praemisso Aldi Manutii de Metris Horatianis Tractatu, Rotterdam 1668 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Faber 1671 Qvinti Horatii Flacci Opera ad Serenissimvm Delphinvm. Diligenter recensuit T. Faber, & Notulas ac Monita ad Odas addidit, Cum specimine novae interpretationis ad Lectorem, Saumur 1671 (Expl. StuUB Göttingen). Rappolt 1675 Qvintus Horatius Flaccus Cum Notis Marginalibus Johannis Minellii et D. Friderici Rappolti … Commentario I. In Satyras … II. In Epistolas … III. In Artem Poёticam … IV. In quinqve Carmina seorsim elucidata …, Leipzig 1675 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Martignac 1678 Horace de la Traduction de MR de Martignac, avec de Remarques. Tome I. Contenant les Odes et les Epodes. Tome II. Contenant les Satyres, les Epistres, et l’Art Poetique, Paris 1678 (Expl. StuUB Göttingen). Rodelius 1683 Petri Rodelii [Rodeille] e Societate Jesu, Horatius ad Serenissimum Galliarum Delphinum, Toulouse 1683 (Expl. StuUB Göttingen). Desprez 1691 Quinti Horatii Flacci Opera. Interpretatione et Notis illustravit Ludovicus Desprez ... Jussu Christianissimi Regis in usum Serenissimi Delphini, Paris 1691 (Expl. StuUB Göttingen). Zurck 1696 Q. Horatii Flacci Operum Pars Prima: Continens Odarum, seu Carminum Libros quinque. Quibus notas addidit Eduardus Zurck, Harlem 1696 (Widmungsvorrede so dat.) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Juvancy 1702 Q. Horatii Flacci Carmina expurgata et accuratis notis illustrata Authore Josepho Juvancy Societatis Jesu Sacerdote, Rom 1702 (Expl. Stadtbibl. Mainz) Pellegrin 1715 Les Oeuvres d’Horace Traduites en Vers François, eclaircies par des notes … Avec Un Discours sur ce celebre poёte, & un Abregé de sa Vie. Par Monsieur l’Abbé Pellegrin. Tome premier, Paris 1715 (Expl. StuUB Göttingen). Tarteron 1723 Traduction des Oeuvres d’Horace, Par le Pere Tarteron, de la Compagnie de Jesus. Nouvelle Edition … Tome premier, Paris 1723 (Expl. Stadtbibl. Mainz).
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Dacier 1727 Oeuvres d’Horace en Latin et en François, avec des Remarques Critiques et Historiques. Par Monsieur Dacier. Garde des Livres du Cabinet du Roi. Quatrième Edition, revûё, corrigée & augmentée considerablement par l’Auteur. Tome Premier (- Dixième), Amsterdam 1727 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Sanadon 1728 Les Poésies d’Horace, disposées suivant l’ordre chronologique, et traduites en François: avec des Remarques et des Dissertations Critiques. Par le R.P. Sanadon, de la Compagnie de Jesus. Tome Premier (- Second), Paris 1728 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Bailey 1729 Quintus Horatius Flaccus Compedibus metricorum numerorum solutus: … Odarum libri IV. Epodon Liber I. Scil. Ipsaemet Horatii voces ex metrico in prosaicum ordinem dispositae, ad faciliorem & expeditiorem expositionem facientes. In usum Tyronum. Opera & Studio N. Bailey, London 1729 (Expl. StuUB Göttingen). Groschuf 1749 Ungebundene Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus nebst den nöthigsten Anmerkungen und vorgängiger Lebensbeschreibung des Schriftstellers. I. (– II.) Theil, Kassel 1749 (Übersetzer Friedrich Groschuf) (Expl. StuUB Göttingen). Salmon 1752 Traduction des Oeuvres d’Horace en vers François; Avec des Extraits des Auteurs qui ont travaillé sur cette matiere, Et des Notes pour l’éclaircissement du Texte. Tome premier (–Cinquième), Paris 1752 (Übersetzer Abbé Salmon) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Gottschling 1753 Q. Horatii Flacci Poemata. Diese giebt mit Heinsii, Rappolti, Dacieri, Massoni, Tarteroni, Pierre Coste, auserlesenen, wie auch seinen eigenen philologischen und Historischen Anmerkungen, Seiner ihm anvertrauten Jugend zum Besten, Auf eine ganz neue, nützliche, und leichte Art, zum andermahl, und zwar vermehrter heraus M. Caspar Gottschling, Nürnberg 1753 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Miller 1761 Q. Horatii Flacci Opera Curante Joanne Petro Millero, Berlin 1761 (Expl. Stadtbibl. Mainz). Schmidt 1776 Horaz lateinisch und deutsch mit Anmerkungen für junge Leute von Jakob Friedrich Schmidt. Erster Theil, enthaltend das erste Buch der Oden, Gotha 1776 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Jani 1778/82 Q. Horatii Flacci Opera recensvit varietate lectionis et perpetva adnotatione illustravit M. Christianvs David Jani, Tomus Primus (- Secundus), Leipzig 1778–1782 (Expl. HAB Wolfenbüttel).
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Dorighello 1780 Q. Horatius Flaccus Selectis fere omnium Interpretum, ac praecipue Dacieri, & Sanadonis notis, & argumentis illustratus. Opera et Industria Francisci Dorighello. Editio secunda Auctior, & accuratior. Tomus primus (- tertius), Padua 1780 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Köppen 1791 Encyclopädie der lateinischen Classiker Erste Abtheilung. Dichtersammlung Vierter Theil. Ausgewählte Oden und Lieder von Horaz Herausgegeben von Joh. Henr. Just Köppen, Braunschweig 1791 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Doering 1815/28 Q. Horatii Flacci Opera recensvit et Illustravit Frid. Gvil. Doering. Editio secunda avctior et emendatior Tomus Primus (– Secundus), Leipzig 1815–1828 (Vorwort der 1. Aufl. dat. 1803) (Expl. HAB Wolfenbüttel).
Scholien zu Pindar und Horaz in Neuausgaben Scholia Vetera in Pindari Carmina. Recensuit A.B. Drachmann. Vol. I–III, Leipzig 1903–1927 (ND Amsterdam 1964). Ps.Acro, Scholia in Horatium vetustiora. Recensuit Otto Keller, Vol. I–II, Leipzig 1902–1904 (ND Stuttgart 1967). Pomponius Porphyrio, Commentum in Horatium Flaccum. Recensuit Alfred Holder, Innsbruck 1894 (ND Hildesheim 1967).
Spätantike und mittelalterliche Quellen Grammatici Latini. Ex recensione Henrici Keilii, Vol. I–VIII, Leipzig 1857–1880 (ND Hildesheim, New York 1981). Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht, Conrad d’Hirsau, Dialogus super Auctores. Édition critique entièrement revue et augmentée par R.B. Huygens, Leiden 1970. Edmond Faral, Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Recherches et Documents sur la Technique littéraire du Moyen Âge, Paris 1924 (ND Genf, Paris 1982).
Werke der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts – Nachdrucke humanistischer Kommentare des 16. Jahrhunderts zur Poetik des Aristoteles und zur Ars poetica des Horaz (alphabetisch nach Verfassern geordnet) Conrad Bachmann/Christoph Helvicus Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis, ex veteribus et recentibus Poetis, studiose conscripta, per Academiae Gissenae nonnullos professores, Tertia Editio,
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Denuo Recognita, Aucta & elimata, Gießen 1623 (Widmungsvorrede dat. 1617) (Expl. HAB Wolfenbüttel). Federico Ceruti De re poetica libellus incerti auctoris – Paraphrasis in Q. Horatii Flacci Librum de Arte Poetica, Verona 1588 (ND München 1968). Tommaso Correa In Librum de Arte Poetica Q. Horatii Flacci Explanationes, Venedig 1587 (ND München 1969). Alexander Donatus S.J. Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633 (Expl. UB Münster). Pomponio Gaurico Super Arte Poetica Horatii, Rom 1541 (ND München 1969). Jacopo Grifoli Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica … Interpretatione explicatus, Florenz 1550 (ND München 1967). Francesco Luisini In Librum Q. Horatii Flacci de Arte Poetica Commentarius, Venedig 1554 (ND München 1969). Vincenzo Maggi (= Madii)/Bartolomeo Lombardi In Aristotelis Librum de Poetica Communes Explanationes, Venedig 1550 (ND München 1969). Aldo Manuzio d.J. In Q. Horatii Flacci Venusini Librum de Arte Poetica Commentarius, Venedig 1576 (ND München 1969). Jacob Masen S.J. Palaestra Eloquentiae ligatae Pars secunda, quae Poёsin Elegiacam, Heroicam, Lyricam … complectitur, Köln 1661 (Expl. UB Münster). Antonio Sebastiano Minturno De poeta, Venedig 1559 (ND München 1970). Antonio Sebstiano Minturno L’Arte Poetica, Venedig 1564 (ND München 1971). Giovanni Battista Pigna Poetica Horatiana, Venedig 1561 (ND München 1969). Jacob Pontanus S.J. Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594 (Expl. StB München).
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Antonio Riccoboni Poetica Aristotelis Latina conversa: eiusdem Riccoboni paraphrasis in poeticam Aristotelis, Padua 1587 (ND München 1970). Antonio Riccoboni Compendium Artis Poeticae Aristotelis, Padua 1591 (ND München 1970). Francesco Robortello In librum Aristotelis de Arte Poetica Explicationes, Florenz 1548 (ND München 1968). Julius Caesar Scaliger Poetices libri septem, Lyon 1561 (ND mit Einl. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) (s. auch die in Anm. 10 genannte zweisprachige Ausgabe). Joachim Vadianus De Poetica et Carminis Ratione. Kritische Ausgabe v. Peter Schäffer, Bd. 1, München 1973 (1Wien 1518). Pietro Vettori Commentarii in primum librum Aristotelis de Arte Poetarum, Florenz 1560 (ND München 1967). Giovanni Antonio Viperano De Poetica libri tres, Antwerpen 1579 (ND München 1967). Gerardus Joannis Vossius De Artis Poeticae Natura, ac Constitutione, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln). Gerardus Joannis Vossius Poeticarum Institutionum libri tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln).
II. Texte Quintilian Institutionis oratoriae libri XII: X,1,61: 61 novem vero lyricorum longe Pindarus princeps spiritus magnificentia, sententiis, figuris, beatissima rerum verborumque copia et velut quodam eloquentiae flumine: propter quae Horatius eum merito credidit nemini imitabilem. 61 Unter den neun Lyrikern aber steht mit Abstand an erster Stelle Pindar durch die Großartigkeit seiner Begeisterung, die Sentenzen, Redefiguren, die überreiche Fülle seiner Gedanken und Worte und gleichsam durch einen Strom mitreißender Beredsamkeit; aus diesem Grunde hat ihn ja Horaz zu Recht für ganz unnachahmlich gehalten.
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X,1,96: at lyricorum idem Horatius fere solus legi dignus: nam et insurgit aliquando et plenus est iucunditatis et gratiae et varius figuris et verbis felicissime audax. Dagegen ist von den Lyrikern ebenfalls Horaz es wohl als einziger wert, gelesen zu werden; denn zuweilen erhebt er sich im Ton, ist auch voll von Munterkeit und Anmut, ferner abwechslungsreich in seinen Redefiguren und äußerst glücklich in der Kühnheit seines Wortgebrauches. (zit. nach: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn, 2. Teil, Darmstadt 1975)
Horaz Oden: I,6 Scriberis Vario fortis et hostium Victor Maeonii carminis alite, Quam rem cumque ferox navibus aut equis Miles te duce gesserit. Nos, Agrippa, neque haec dicere nec gravem Pelidae stomachum cedere nescii Nec cursus duplicis per mare Ulixei Nec saevam Pelopis domum Conamur, tenues grandia, dum pudor Inbellisque lyrae Musa potens vetat Laudes egregii Caesaris et tuas Culpa deterere ingeni. Quis Martem tunica tectum adamantina Digne scripserit aut pulvere Troico Nigrum Merionen aut ope Palladis Tydiden superis parem? Nos convivia, nos proelia virginum Sectis in iuvenes unguibus acrium Cantamus, vacui sive quid urimur, Non praeter solitum leves. | Mag ein Varius als Helden und Sieger dich In mäonischem Flug feiern, die Taten all, Die zu Schiff und zu Roß unser gewaltiges Heer vollbrachte, geführt von dir! Ich, Agrippa, kann dies, kann den verderblichen Zorn nicht singen des nie weichenden Peleussohns, Nicht des schlauen Ulyß’ irrende Meeresfahrt, Noch die Greuel in Pelops Haus,
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Für so Großes zu zart: Furcht und die Muse, die Mich nur friedliches Spiel lehrte, sie dulden nicht, Daß des großen August Ruhm und den deinen auch Je mein schwaches Talent entweiht. Wer preist würdigen Sangs Mars in des stählernen Kriegskleids prangendem Schmuck oder Meriones. Schwarz von troischem Staub, oder des Tydeus Sohn. Göttern gleich durch Athenes Huld? Ich, ich singe von Schmaus, Kämpfen der Mädchen nur, Die den Jünglingen mit Nägeln, mit stumpfen, dräun, Sei ich liebebefreit oder in Lieb entbrannt, Leichthin scherzend nach meiner Art. I,12 Quem virum aut heroa lyra vel acri Tibia sumis celebrare, Clio, Quem deum? Cuius recinet iocosa Nomen imago Aut in umbrosis Heliconis oris Aut super Pindo gelidove in Haemo? Unde vocalem temere insecutae Orphea silvae, Arte materna rapidos morantem Fluminum lapsus celeresque ventos, Blandum et auritas fidibus canoris Ducere quercus. Quid prius dicam solitis parentis Laudibus, qui res hominum ac deorum, Qui mare ac terras variisque mundum Temperat horis? Unde nil maius generatur ipso Nec viget quidquam simile aut secundum; Proximos illi tamen occupavit Pallas honores. Proeliis audax, neque te silebo, Liber, et saevis inimica virgo Beluis, nec te, metuende certa Phoebe sagitta. Dicam et Alciden puerosque Ledae, Hunc equis, illum superare pugnis Nobilem: quorum simul alba nautis Stella refulsit,
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Defluit saxis agitatus umor, Concidunt venti fugiuntque nubes, Et minax, quom sic voluere, ponto Unda recumbit. Romulum post hos prius an quietum Pompili regnum memorem an superbos Tarquini fasces, dubito, an Catonis Nobile letum. Regulum et Scauros animaeque magnae Prodigum Paulum superante Poeno Gratus insigni referam camena Fabriciumque. Hunc et incomptis Curium capillis Utilem bello tulit et Camillum Saeva paupertas et avitus apto Cum lare fundus. Crescit occulto velut arbor aevo Fama Marcelli; micat inter omnis Iulium sidus velut inter ignis Luna minores. Gentis humanae pater atque custos, Orte Saturno, tibi cura magni Caesaris fatis data: tu secundo Caesare regnes. Ille seu Parthos Latio imminentis Egerit iusto domitos triumpho Sive subiectos Orientis orae Seras et Indos, Te minor laetum reget aequos orbem; Tu gravi curru quaties Olympum, Tu parum castis inimica mittes Fulmina lucis. | Welchen Mann, o Klio, und welchen Heros Wählst du dir zur Lyra, zur hellen Flöte, Welchen Gott? Wes Name ertönt in Echos Scherzendem Gleichklang, Sei’s am Saum von Helikons schatt’gen Höhen, Sei’s auf Pindus’ Haupt und dem kalten Hämus? Woher einstens Wälder in wildem Taumel Folgten dem Orpheus,
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Dessen Kunst – der Mutter Geschenk – den Strom im Jähen Lauf, im Fluge die Winde festhielt Und mit Saitenspiel die entzückten Eichen Zauberisch nachzog. Wie begänn’ ich anders als mit des Vaters Altem Lob, der Menschen- und Götterschicksal, Der so Land als Meer und das Weltall lenkt im Wechsel der Zeiten? Er, von dem nichts Größeres stammt, als Er ist, Neben dem kein Gleiches erblüht, kein Zweites; Doch zunächst nach ihm hat der Ehren höchste Pallas errungen. Nicht vergess’ ich, Liber, dich kühnen Kämpfer, Nicht dich, Jungfrau, grimmigen Wildes Feindin, Phöbus, dich auch nicht, mit dem furchtbar sicher Treffenden Pfeile! Herkules auch sing ich und Ledas Söhne, Ihn zu Roß und ihn in dem Kampf der Fäuste Siegberühmt: kaum glänzt ihr Gestirn dem Schiffer Schimmernden Strahles, Strömt herab vom Fels die gepeitschte Meerflut, Legt der Sturmwind sich und die Wolken fliehen, Und ins Meer, da sie es gewollt, entsinkt die Drohende Welle. Soll ich nun erst Romulus singen oder Numas Friedensreich? des Tarquinius stolzen Herrscherstab – ich schwanke noch – oder Catos Ruhmvolles Sterben? Regulus, die Scaurer und Paulus, ihn, der Bei dem Sieg des Puniers hin die große Seele gab, preist dankbar mein Lied und jenen Helden Fabricius. Ihn und dich, o Curius, schlichtgelockter, Und Camillus reifte zu Kriegeshelden Strenger Armut Druck und der Ahnen Feld mit Ärmlicher Hütte. Wie der Baum unmerklich im Lauf der Jahre Wächst Marcellus’ Ruhm; doch hervor aus allen Strahlt der Stern der Julier wie der Mond aus Kleineren Lichtern.
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Du, der Menschheit ewiger Hort und Vater, Sohn Saturns, dir hat das Geschick vertraut des Großen Cäsars Wohl; o, so herrsche du und Cäsar als Zweiter! Ob er Parther, Latiums grimmige Feinde, Dienstbar mit sich führt in verdientem Siegszug Oder fern im Lande des Sonnenaufgangs Serer und Inder: Unter dir – so lenk’ er mit Huld der Erde Frohen Kreis; du, donnernden Gangs, erschüttre Den Olymp und wirf in entweihte Haine Rächende Blitze! II,12 Nolis longa ferae bella Numantiae Nec durum Hannibalem nec Siculum mare Poeno purpureum sanguine mollibus Aptari citharae modis Nec saevos Lapithas et nimium mero Hylaeum domitosque Herculea manu Telluris iuvenes, unde periculum Fulgens contremuit domus Saturni veteris: tuque pedestribus Dices historiis proelia Caesaris, Maecenas, melius ductaque per vias Regum colla minacium. Me dulcis dominae Musa Licymniae Cantus, me voluit dicere lucidum Fulgentis oculos et bene mutuis Fidum pectus amoribus; Quam nec ferre pedem dedecuit choris Nec certare ioco nec dare bracchia Ludentem nitidis virginibus sacro Dianae celebris die. Num tu quae tenuit dives Achaemenes Aut pinguis Phrygiae Mygdonias opes Permutare velis crine Licymniae Plenas aut Arabum domos, Cum flagrantia detorquet ad oscula Cervicem aut facili saevitia negat Quae poscente magis gaudeat eripi, Interdum rapere occupet? |
Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus
Nicht Numantias Sturz, spät erst nach trutzgem Kampf, Nicht des Hannibal Grimm, noch auch Siziliens Meer, Rot vom punischen Blut, fordre vom Leierklang, Der nur zartere Weisen kennt; Nicht Lapithischen Sturm, nicht des Hyläus Rausch, Nicht die schlotternde Angst, die einst der Tellus Brut In die gleißende Burg Vater Saturns gejagt, Nicht, wie Herkules sie gestürzt. Auch die Schlachten Augusts und, unters Joch gebeugt, Dräunder Fürsten Gestalt, stolz durch die Stadt geführt, Schilderst du, mein Mäcen, besser im freien Schritt, Wie er deine Historien ziert. Meine Laute ertönt nur von Licymnia; Von dem Zauber des Blicks, ihres Gesanges Schmelz, Ihrem Herzen, Mäcen, das deiner Liebe Treu’ Treulich auch zu vergelten weiß. Ei, wie schwebte ihr Fuß reizend im Tanz dahin, Huld umflog ihren Scherz, Anmut umfloß sie ganz, Als sie zierlich den Arm schlang in der Mädchen Kreis, Jüngst am großen Dianafest. Sprich, und böte man dir Schätze des Perserreichs, Was mygdonische Flur phrygischen Segens trägt, Was Arabien birgt – gäbest du wohl dafür Eine Locke Licymnias, Wenn zum brennenden Kuß hold sie den Nacken neigt, Oder spröde zum Schein wieder den Kuß versagt, Lieber rauben ihn läßt, mehr, als der Räuber, froh Ja, noch lieber ihn selbst dir raubt? IV,2 Pindarum quisquis studet aemulari, Iulle, ceratis ope Daedalea Nititur pinnis vitreo daturus Nomina ponto. Monte decurrens velut amnis, imbres Quem super notas aluere ripas, Fervet immensusque ruit profundo Pindarus ore, Laurea donandus Apollinari, Seu per audacis nova dithyrambos Verba devolvit numerisque fertur Lege solutis;
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Seu deos regesque canit, deorum Sanguinem, per quos cecidere iusta Morte Centauri, cecidit tremendae Flamma Chimaerae, Sive quos Elea domum reducit Palma caelestis pugilemve equomve Dicit et centum potiore signis Munere donat; Flebili sponsae iuvenemve raptum Plorat et viris animumque moresque Aureos educit in astra nigroque Invidet Orco. Multa Dircaeum levat aura cycnum, Tendit, Antoni, quotiens in altos Nubium tractus: ego apis Matinae More modoque Grata carpentis thyma per laborem Plurimum circa nemus uvidique Tiburis ripas operosa parvos Carmina fingo. Concines maiore poeta plectro Caesarem, quandoque trahet ferocis Per sacrum clivum merita decorus Fronde Sygambros: Quo nihil maius meliusve terris Fata donavere bonique divi Nec dabunt, quamvis redeant in aurum Tempora priscum. Concines laetosque dies et urbis Publicum ludum super inpetrato Fortis Augusti reditu forumque Litibus orbum. Tum meae, siquid loquar audiendum, Vocis accedet bona pars et ‚o sol Pulcer, o laudande!‘ canam recepto Caesare felix. Teque, dum procedis ‚io triumphe‘, Non semel dicemus, ‚io triumphe‘ Civitas omnis dabimusque divis Tura benignis.
Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus
Te decem tauri totidemque vaccae, Me tener solvet vitulus, relicta Matre qui largis iuvenescit herbis In mea vota, Fronte curvatos imitatus ignis Tertium lunae referentis ortum, Qua notam duxit, niveus videri, Cetera fulvos. | Wer sich kühn vermißt mit dem Schwunge Pindars, Fliegt wie Ikarus und vertraut sich, Jullus, Flügeln, die von Wachs, einem grünen Meer den Namen zu geben. Wie ein Bergstrom stürzt, den der Regen schwellte Hoch zum Bord hinaus des gewohnten Bettes, Also braust und stürzt wie aus tiefem Borne Schrankenlos Pindar, Immer wert des Schmucks von Apollos Lorbeer: Ob in neuen Lauten des Dithyrambus Kühn er, aller Bande des Maßes ledig, Strömt seine Lieder; Ob er Götter singt oder Göttersprossen, Deren Arm gestürzt der Centauren Rotte In verdiente Nacht und erstickt Chimäras Sprühende Flammen; Ob er singt das Roß und den Faustkampfsieger, Der auf Elis’ Bahn sich errang die Palme, Und sie reicher lohnt durch den Sang, als hundert Statuen könnten; Ob er klagend weint um den toten Jüngling, Der der Braut geraubt, und sein güldnes Wesen, Geist und Tat, dem finsteren Orkus neidend, Hebt zu den Sternen. Dirkes Schwan beflügelt ein starker Aufwind, Wenn empor, Antonius, zu der Wolken Himmelszug er strebt, während ich, nach Art der Biene der Heimat, Die am Waldessaum, an den Wassern Tiburs, Süßen Quendelhonig voll Mühe sammelt, Ganz bescheiden nur und mit Müh ersinne Kleinere Lieder.
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So glückt besser auch das Triumphlied Cäsars Deinem höhern Schwung, wenn, bekränzt mit Lorbeer Er auf heilgem Hang die verwegnen Völker Schleppt, die Sigambrer: Denn der Götter Huld, sie verlieh dem Erdball Größres, Schönres nicht, nicht für jetzt und nimmer, Stieg selbst noch einmal in die Welt herab das Goldene Alter. Singen wirst du auch von den Freudentagen, Von des Volkes Lust, des Gezänks Verstummen Auf dem Forum, da Held August zurückkehrt, Wie wir erflehten. Ja, dann laß auch ich meine Stimm’ ertönen, Singe, wenn’s gelingt, ein bescheidnes Lied und Rufe: „Schöner Tag, sei gegrüßt mir!“ – selig Ob seiner Rückkunft. Klingst du uns voran, o Triumph- und Heilruf, Fülln auch wir mit „Heil und Triumph“ die Lüfte. Wollen Weihrauch streun, das gesamte Volk, den Gütigen Göttern. Zehn der Stiere schuldest du, gleichviel Kühe: Mein Gelübde tilgt das bescheidne Kälbchen, Das die Mutter ließ und für mich auf fetten Matten heranwächst. Von der Stirne blinkt’s ihm wie Mondessichel, Der zum drittenmal schon am Himmel aufstieg, Rötlich rings der Leib, und allein die Zeichnung Strahlend wie Schneelicht.
Ars poetica: v. 83–85 Musa dedit fidibus divos puerosque deorum et pugilem victorem et equum certamine primum et iuvenum curas et libera vina referre. | Reiche Musengabe ward den Saiten der Lyra: Götter besingt sie und Söhne der Himmlischen, dazu den siegenden Boxer und das führende Rennpferd im Wettkampf, das Sehnen des Jünglings und den sorgenlösenden Wein. (zit. nach: Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. Hans Färber u. Wilhelm Schöne, München 1967)
2 Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert Die Lehrbücher der Poetik im 17. Jahrhundert, sofern sie nicht lyrische Gedichte nur von ihren Anlässen her im Rahmen der Anweisungen zur Gelegenheitsdichtung erörtern, behandeln sangbare Gedichte unter den synonym verwendeten Begriffen Ode oder Lied.¹ Im 18. Jahrhundert entwickelt sich, zunächst im Rahmen derselben Begriffsverwendung, eine genauere Theorie der Ode; sie gewinnt entscheidende Bedeutung für die Ausbildung eines bis dahin fehlenden und nicht benötigten umfassenden Begriffs von Lyrik als Hauptgattung neben Epik und Dramatik, sie führt zur Unterscheidung von Lied, Ode und Hymne als Hauptarten der Lyrik, zugleich mit solcher Differenzierung aber beginnt eine Veränderung der Einschätzung der Ode, ja Kritik an ihr sich zu entwickeln. Im 19. Jahrhundert dann muß die Ode, nun endgültig (wie F.Th. Vischer formuliert) als „hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Inhalts in kunstreichen
1 Vgl. u. a. Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, Nürnberg 1679 (ND Hildesheim, New York 1973), S. 106f., 115f. – August Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, Wittenberg 1665 (ND Tübingen 1966), S. 11f. – [Johann Hofmann] Der Taurende, Lehr-mässige Anweisung / Zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst, Nürnberg 1702 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 80–82 – Balthasar Kindermann, Der Deutsche Poet, Wittenberg 1664 (Expl. StB München), S. 283 (Buch III, Kap. IV, § 3: „Das XI. sind die Lyrischen Gedichte / so man Oden oder Lieder nennet / und sonderlich zur Music gebraucht werden“) – Joh. Christoph Männling, Der Europaeische Helicon, Alten Stettin 1704 (Expl. UB Greifswald), S. 148 – Georg Neumark, Poetische Tafeln, Jena 1667 (ND Frankfurt a.M. 1971), S. 16f. und Anmerkungen von Martin Kempe, S. 217ff. (für „Ode“ hier z.T. der – mit späterem Gebrauch nicht zu verwechselnde – Begriff „lyrisches Gedicht“) – Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1704 (Expl. UB Münster), S. 99 („Von den Oden / oder Geistund Weltlichen Liedern“) – Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Breslau 1624 (in: Gesammelte Werke, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II/1, Stuttgart 1978, S. 369f., 402) – Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Leipzig 1688 (ND Tübingen 2000), T.1, Bl. D7v („Tit. V. Von den gemeinen Oden oder Liedern“) – Justus Georg Schottel, Teutsche Vers- oder ReimKunst, Wolfenbüttel 1645 (Expl. StuUB Göttingen), S. 313 – Johann Peter Titz, Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Danzig 1642 (Expl. UB Tübingen), Bl. N5v. Mit eigenwilliger Konsequenz verfährt Philipp von Zesen in der Weise, daß er auch Gedichte in sapphischen oder pindarischen Metren Lieder (Saffische, Pindarische Lieder) nennt (Sämtliche Werke, Bd. X/1: Hoch-deutscher Helikon, 1656, hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin, New York 1977, S. 168ff.) und in seiner „Deutsch-lateinischen Leiter zum hochdeutschen Helikon“ (1656) im lateinischen Text stets das Wort „Ode“, im parallelen deutschen hingegen das Wort „Lied“ benutzt (Sämtliche Werke, Bd. XII, hrsg. v. Ulrich Maché, George Schulz-Behrend und Karl F. Otto Jr., Berlin, New York 1985, u. a. S. 42, 86f., 100f. 134f., 140f.).
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Strophen und kühn abspringender Composition“² bestimmt, zurücktreten hinter dem Lied als Inbegriff dessen, was man nun unter Lyrik versteht; sie fristet seitdem ein noch achtungsvoll erwähntes Dasein in systematischen Beiträgen zur Literaturwissenschaft bis hin zu Wolfgang Kayser oder Herbert Seidler und einzelnen jüngeren Werken,³ ohne doch noch in der Geschichte der Lyrik viel zu bedeuten,⁴ und scheint schließlich sogar den Anspruch auf einen Platz in literaturwissenschaftlichen Lexika kaum noch behaupten zu können.⁵ Man hat – das gilt zumal von Karl Viёtors bis heute nicht ersetzter, aber schon lange nicht mehr genügender „Geschichte der deutschen Ode“⁶ – man hat wohl einzelne Momente dieses merkwürdigen Vorgangs wahrgenommen: man hat die (wie man es sah) unrichtige Gleichsetzung von Ode und Lied im 17. und frühen 18. Jahrhundert gerügt oder jedenfalls ohne Bemühung um näheres Verständnis eher beiläufig vermerkt;⁷ man hat die Belebung der Diskussion um die
2 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3. Teil, 2. Abschnitt, 5. H., Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1349. 3 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 41956 (11948), S. 338ff. – Herbert Seidler, Die Dichtung. Wesen – Form – Dasein, Stuttgart 2 1965 (11959), S. 426f. – vgl. auch u. a. Günther Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik (11941), S. 118ff., in: G. Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968, S. 105–145 – Helmut Prang, Formgeschichte der Dichtkunst, Stuttgart u. a. 21971 (11968), S. 197– 205 – Bernhard Asmuth, Aspekte der Lyrik. Mit einer Einführung in die Verslehre, Opladen 61981 (11972), S. 110–113 – Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, hrsg. v. Otto Knörrich, Stuttgart 1981, S. 272–280 – Otto Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, Stuttgart 1992, S. 157– 163 – Dieter Burdorf, Ode, Odenstrophe, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 735–739. 4 Das gilt schon im 19. Jahrhundert, in welchem vor allem Klassizisten und Epigonen wie Platen oder Geibel an der Ode festhalten (s. hingegen zu Mörike Anm. 110), und es setzt sich fort im 20. Jahrhundert, in welchem weder Virtuosen der Form wie Rudolf Alexander Schröder oder Weinheber der Ode jene Geltung haben zurückgewinnen können, die sie im 18. Jahrhundert besessen hat, noch Einzelgestalten wie Ludwig Greve, der in eindrucksvoller Weise bekannt hat, daß ihm nach den Jahren der Emigration und Verfolgung und dem Verlust des Vaters durch die Form der Ode „eine Sprache, sagen wir, der Sterblichkeit gelang, die vielleicht vor beiden bestehen kann, den Opfern wie den Lebenden“ (Warum schreibe ich anders? S. 74, in: Ludwig Greve, Sie lacht und andere Gedichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 65–74). 5 Keinen Artikel „Ode“ (wohl aber einen zum „Lied“) findet man z. B. in: Handlexikon zur Literaturwissenschaft, hrsg. v. Diether Krywalski, 2 Bde., Reinbek 1978 (11974) – Literaturwissenschaftliches Lexikon, hrsg. v. Horst Brunner u. Rainer Moritz, Berlin 1997. 6 München 1923 (ND Darmstadt 1961) 7 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 59ff. (S. 60f. zu Opitz: „Ode ist immer nur eine andere, klassische Bezeichnung für das gesellige Lied ...“), S. 133 (nach Zitierung von Zedlers Oden-Artikel: „Das ist der Standpunkt von Gottscheds kritischer Dichtkunst, die ebenfalls Ode und Lied noch nicht genau unterschied“) – vgl. u. a. auch Karl Borinski, Die Poetik der
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Ode im Lauf des 18. Jahrhunderts konstatiert und manche der damals üblichen Bestimmungen der Ode herausgehoben;⁸ man hat auch gelegentlich erwähnt,
Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland, Berlin 1886 (ND Hildesheim 1967), S. 47, 169, 344 – Günther Müller, Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart, München 1925 (ND Darmstadt 1959), S. 28 – Hermann August Korff, Geist der Goethezeit, T.1, Nachdr. d. 2. Aufl., Leipzig 1955 (11927), S. 173ff. – Klaus Gerth, Studien zu Gerstenbergs Poetik. Ein Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert, Göttingen 1960, S. 178f., 189, 191 – Julius Wiegand, Werner Kohlschmidt, Ode, S. 710, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, 2 Bd. 2, Berlin 1965, S. 709–717 – Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 40 – Gerhard Storz, Der Vers in der neueren deutschen Dichtung, Stuttgart 1970, S. 176f. – Friedrich Gaede, Humanismus – Barock – Aufklärung. Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Bern, München 1971, S. 154 – Silvia Weimar-Kluser, Die höfische Dichtung Georg Rudolf Weckherlins, Bern, Frankfurt a.M. 1971, S. 48f. – Otto Knörrich, Die Ode, S. 272f., in: Formen der Literatur, hrsg. v. O. Knörrich, 1981, S. 272–280 („Unsere Vorstellung von der Ode als einer einheitlichen Gattung ist hauptsächlich von Klopstock abgeleitet; die Odentheorie vor ihm erscheint unübersichtlich und widersprüchlich ... Die Definition der Gattung durch ihre Abgrenzung vom Lied erfolgt dann erst 1783 durch Johann Joachim Eschenburg“) – Siegfried Kross, Geschichte des deutschen Liedes, Darmstadt 1989, S. 57ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XVII, 159 – Ulrich Leisinger, Die Ode in der poetischen Theorie und in der musikalischen Praxis, S. 191, in: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns, hrsg. v. Anselm Gerhard, Tübingen 1999, S. 187–216 – Stefanie Stockhorst, Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten, Tübingen 2008, S. 60 (mit anschließendem breiten Referat der einschlägigen Aussagen in der Poetikliteratur des 17. Jahrhunderts, das deren Voraussetzungen und antik-humanistischen Quellen vernachlässigt und poetikgeschichtlich unergiebig bleibt). – Auf die Problematik vieler der übrigen in den Anmerkungen 7–10 angeführten Belege aus der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte kann hier im allgemeinen nicht näher eingegangen werden. 8 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 133ff. – vgl. ferner u. a. Wiegand, Kohlschmidt, Ode, S. 711f. – Herbert Dieckmann, Zur Theorie der Lyrik im 18. Jahrhundert in Frankreich, mit gelegentlicher Berücksichtigung der englischen Kritik, S. 83ff., in: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. Wolfgang Iser, München 1966, S. 73–112 – Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 105ff., 198f., 216f. – Paul Franz Reitze, Beiträge zur Auffassung der dichterischen Begeisterung in der Theorie der deutschen Aufklärung, Diss. Bonn 1969, S. 48ff., 86ff., 204f., 240ff. – Uwe K. Ketelsen, Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1974, S. 169, 173f. – Formen der Literatur, hrsg. v. O. Knörrich, 1981, S. 276f. – Ulrich Schödlbauer, Odenform und freier Vers, S. 193ff., in: Literaturwiss. Jahrb. NF 23, 1982, S. 191–206 – Wolfgang Brand, Das Ende der Ode. Zur Entwicklung der französischen Lyrik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Romanist. Jahrb. f. Literaturgesch. 8, 1984, S. 44–59 – Georg Guntermann, Von der Leistung einer poetischen Form – Wandlungen der Ode im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels, Königstein 1984, S. 183–205 – Alfons Klein, „Die Lust, den Alten nachzustreben“. Produktive Rezeption der Antike in der Dichtung Friedrich
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daß die Theorie der Ode für die Entwicklung von Herders Dichtungsauffassung besonders wichtig sei⁹ oder daß in der Theorie der Lyrik schließlich das Lied bedeutsamer werde als die Ode.¹⁰ Aber man hat eigentlich nie diesen Vorgang der allmählichen Begründung einer eigentümlichen Gedichtart, der zunehmenden Differenzierung ihrer Theorie und schließlich ihrer Abwertung als ein Ganzes gesehen und erörtert. Was dabei im einzelnen vor sich geht, wie das mit der Geschichte der Lyrik verknüpft ist, was das für die Eigenart und die Geschichte der Ode und anderer lyrischer Arten besagt, was daraus für ein angemessenes Verständnis der Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert zu gewinnen ist – das soll hier an einigen charakteristischen Beispielen und Problemen der Odentheorie im 18. Jahrhundert verfolgt werden.
von Hagdorns, St. Ingbert 1990, S. 80ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XXIVff., 157ff. – Bernhard Asmuth, „Bewegung“ in der deutschen Poetik des 18. Jahrhunderts, S. 52, in: Rhetorik 19, 2000, S. 40–67. 9 Vgl. u. a. Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 136ff., 142f. (mit auffallend geringem Sinn für die intensive, produktive Auseinandersetzung Herders mit der zeitgenössischen Odentheorie) – Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 1, Barock und Frühaufklärung, 3Berlin 1964 (11937), S. 222, 234; Bd. 2, Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, 2 Berlin 1970 (11956), S. 370ff. – Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 238ff. – Alexander A. Kropp, F.J.W. Schröders „Kritische Abhandlung über das Natürliche in der Dichtkunst“. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Poetik zwischen Aufklärung und Sturm und Drang, Diss. Köln 1976, S. 268ff. – Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1, Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, S. 197f., 220 – Michael Feldt, Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900, Heidelberg 1990, S. 138ff. – Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, 1992, S. XXIVf. – Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/II, Sturm und Drang: Genie-Religion, Tübingen 2002, S. 232ff. 10 Vgl. u. a. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, S. 110f. – Gertrud Otto, Ode, Ekloge und Elegie im 18. Jahrhundert. Zur Theorie und Praxis französischer Lyrik nach Boileau, Diss. Konstanz 1971, S. 213f. – Andreas Huyssen, Sturm und Drang, S. 186, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1983, S. 177– 201 – Dorothea Ruprecht, Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860, Göttingen 1987, S. 138ff., 283ff. – Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 76f. – Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, Weimar 1995, S. 5 – Bernhard Asmuth, Von der Höhe der Rhetorik zur Mitte der Lyrik, S. 64f., in: Wahre lyrische Mitte? – „Zentrallyrik“? Ein Symposium zum Diskurs über Lyrik in Deutschland und in Skandinavien, hrsg. v. Walter Baumgartner, Frankfurt a.M. u. a. 1993, S. 51–85 – Rudolf Brandmeyer, Die Gedichte des jungen Goethe. Eine gattungsgeschichtliche Einführung, Göttingen 1998, S. 210ff. – Das Bild, das sich in der Gesamtheit der hier herangezogenen Beispiele bietet, ist freilich alles andere als einleuchtend, weil die Verfasser die Veränderungen im Verhältnis von Ode und Lied keineswegs übereinstimmend zur selben Zeit sich vollziehen sehen.
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In Johann Georg Sulzers „Allgemeiner Theorie der schönen Künste“ (11771– 1774)¹¹ oder Johann Joachim Eschenburgs „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“,¹² zwei repräsentativen Werken der Poetik und Ästhetik aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, findet man als „zwey Hauptgattungen lyrischer Gedichte“ unterschieden: „die eigentliche Ode und das Lied. Jene hat erhabnere Gegenstände, stärkre Empfindungen, höhern Schwung der Gedanken und des Ausdrucks: dieses wird gewöhnlich durch leichtere und sanftere Gefühle veranlaßt, und hat daher auch einen leichtern, gemässigtern Ton“ (Eschenburg, S. 106f.). Nähere Merkmale der deshalb als höchste Dichtungsart eingeschätzten Ode sind: ein hoher Grad dichterischer Begeisterung, Kürze, Mannigfaltigkeit der metrischen Elemente, der Empfindungen und Gedanken, des Plans, hoher ungleicher Flug, lyrischer Schwung, Abschweifungen, sogenannte lyrische Unordnung. Das Lied hingegen, zum Singen gedacht, erfordert Gleichförmigkeit und Einfachheit seiner metrischen Gestalt, des Tons, der Empfindung, das Einfachste ist hier „das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist“ (Sulzer, Bd. 3, S. 254), jeder Vers soll einen Sinneinschnitt, jede Strophe eine eigene Periode ausmachen oder in zwei Perioden geteilt sein.¹³ Solche Bestimmungen entsprechen, wenn auch nach und nach modifiziert, dem, was man bis in die Gegenwart hin-
11 Zitiert nach dem Nachdruck (Hildesheim u. a. 1994) der 1792–1794 erschienenen Neuen vermehrten 2. Auflage. Sie entspricht – bis auf die hier und in der Neuen vermehrten Auflage von 1786–1787 hinzugekommenen bibliographischen Zusätze von Friedrich von Blankenburg – in den Artikeln, die für die vorliegende Abhandlung einschlägig sind, der 1. Auflage von 1771–1774 nahezu wörtlich. 12 Zitiert nach der 1. Auflage, Berlin, Stettin 1783 (Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). Sie stimmt im Abschnitt über „Die lyrische Poesie“ – abgesehen von den jeweils vermehrten bibliographischen Angaben – mit den drei zu Lebzeiten des Verfassers folgenden Auflagen (21789, Expl. UB Mainz; 31805, Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz; 41817, Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz) nahezu wörtlich überein, auch wenn Eschenburg schon im Vorbericht zur dritten Auflage (S. IXf.) einzuräumen Anlaß sah, daß die „darin abgehandelten Gegenstände“ inzwischen „großentheils eine veränderte Ansicht, und vornehmlich durch die kritische Philosophie manche neue und schärfere Prüfungen und Bestimmungen erhalten“ und diese „die Ausarbeitung verschiedener neuer Lehrbücher veranlaßt“ hätten, die „zwar nicht völlig den Plan und den Umfang des meinigen hatten, denen ich aber gern den Vorzug zugestand, daß sie den herrschenden Grundsätzen und Zeitbedürfnissen angemessener waren“. Siebzehn Jahre nach Eschenburgs Tod erschien noch eine fünfte, nun „völlig umgearbeitete Ausgabe“ durch Moritz Pinder (auch sie noch in der Nicolaischen Buchhandlung, Berlin 1836; Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). 13 Zu den Merkmalen von Ode und Lied vgl. im einzelnen Sulzer, Bd. 3, S. 252–258, 538–548 – Eschenburg, S. 107–115.
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Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen
ein¹⁴ unter einer Ode einerseits, einem liedhaften lyrischen Gedicht andererseits zu verstehen gewohnt ist, und sie sind geeignet, die Unterschiede zwischen markanten Erscheinungen lyrischer Dichtung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie etwa Klopstocks Oden und der liedhaften Lyrik des jungen Goethe zu bezeichnen. Von da aus kann es gewiß verwunderlich erscheinen, daß noch in Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst“ etwa (11730) im 1. Hauptstück des 2. Teils laut Überschrift „Von Oden, oder Liedern“¹⁵ ohne solche Unterscheidungen die Rede ist und daß Entsprechendes auch von der literarischen Theorie des 18. Jahrhunderts vor und neben, ja auch noch nach Gottsched¹⁶ und
14 Vgl. als symptomatisches Beispiel: Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 8Stuttgart 2001, S. 466f. (Lied), 569ff. (Ode). 15 So in der 4. Auflage, Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 419–435. Entsprechend auch in der etwas anders gegliederten 3. Auflage von 1742: Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Joachim Birke und Brigitte Birke, Bd. VI/2, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil, Berlin, New York 1973, S. 3–57: Das I. Capitel. Von Oden oder Liedern. Man kann durch das ganze Kapitel hindurch beobachten, wie Gottsched beide Begriffe ständig wechselnd nebeneinander benutzt, auch dort, wo er Formzüge berührt, die Sulzer und Eschenburg nicht viel später teils der Ode, teils dem Lied als Unterscheidungsmerkmale zuordnen. – Vgl. auch Johann Christoph Gottsched, Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Leipzig 1760 (ND Hildesheim, New York 1970), Sp. 1019 (Artikel Lied): „Siehe Ode ...“; Sp. 1190 (Artikel Ode): „Ist der allgemeine Name aller Lieder ...“. 16 Vgl. dazu u. a. Anon., Anleitung zur Poesie, Breslau 1725 (Expl. Sammlung Jantz, Film Nr. 573), S. 108–113: Das XI. Capitel. Von geistlichen und weltlichen Oden (S. 108: „Oden sind Lieder oder eine Art von Poesien / welche mit Music verbunden seyn / oder doch können verbunden werden ...“) – Johann Andreas Fabricius, Philosophische Redekunst ... Nebst einem Entwurfe einer Teutschen Dicht- und Sprachkunst, Leipzig 1739 (Expl. UB Marburg), Bd. 2, S. 401 (als Beispiel darin rühmend erwähnt die von Gottsched als Senior herausgegebenen Oden der Leipziger Deutschen Gesellschaft, 1728) – Andreas Köhler, Deutliche und gründliche Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, Halle 1734 (Expl. StuUB Göttingen), S. 110–126 – Johann George Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, Halle 1724 (Expl. LB Wiesbaden), S. 863: „Oden oder bey uns Teutschen Lieder genennet, bestehen aus gewissen Gesetzgen ... welche so eingerichtet sind, daß sie füglich nach der Music können abgesungen werden“ – Johann Samuel Wahll, Gründliche Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie, Chemnitz 1723 (Expl. StuUB Hamburg), S. 51: „Alle diese kurtzen Genera der Verse aber werden sonst mit einem Worte Oden, Lieder oder Arien genennet, weil sie gemeiniglich unter eine gewisse Melodie gebracht und gesungen werden“ – Franciscus Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, Leipzig 1715 (Expl. StuUB Hamburg), S. 51f., 60. – Ein spätes Beispiel für die zum Teil noch fortwirkende und nicht überall schon konsequent aufgegebene Gleichsetzung von Ode und Lied ist ein Tübinger Specimen „de poёsi Ebraeorum“ (1788) von Hölderlins Freund Christian Ludwig Neuffer, der sich darin vertraut zeigt mit den Schriften von Lowth, Blair (über Ossian) oder Herder (Vom Geist der Ebräischen Poesie) und mit zentralen Bestimmungen der Ode, aber ohne weiteres die Begriffe Ode, Lied, Gesang wechselweise für die Poesie der Hebräer benutzt (bes. S. 189f., in: Wilhelm G. Jacobs, Zwischen Revolution
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erst recht von der deutschsprachigen Poetik des 17. Jahrhunderts¹⁷ gilt. Um den Vorgang, der durch die langdauernde Identifizierung und die spätere Unterscheidung von Ode und Lied signalisiert wird, und seine Gründe begreiflich zu machen, wird zunächst ein Blick in die deutsche Poetik des 17. Jahrhunderts nützlich sein. Besonders eingehend handelt „Von den Oden“ ein Kapitel in Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“ (11682),¹⁸ einem Werk, das die barocke Poetik und ihre Entwicklung zusammenfaßt, das von den folgenden Poetiken des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts mannigfach benutzt und zitiert wird (nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ode) und das bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bekannt bleibt.¹⁹ Oden sind nach
und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 175–197). 17 Vgl. die dazu schon in Anm. 1 angeführten Belege von Birken bis Zesen. 18 Zitiert nach der von Henning Boetius besorgten Neuausgabe (Bad Homburg v.d.H. u. a. 1969) der 2. Auflage von 1700. 19 Vgl. u. a. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, 1688, T.1, Bl. a 3rff. (nachdrücklicher Hinweis auf Morhofs Werk als Quelle zur Historie der Poesie), Bl. D4v (zur Pindarischen Ode), weitere Stellen im Register des Nachdrucks – Jakob Friedrich Reimann, Poesis Germanorum Canonica & Apocrypha Bekandte und Unbekandte Poesie der Teutschen, Leipzig 1703 (Expl. StuUB Göttingen), Bl. *8rff. zahlreiche Hinweise in Fußnoten) – Männling, Der Europaeische Helicon, 1704, S. 30, 83f. – Omeis, Gründliche Anleitung, 1704, S. 14, 18, 34, 52f., 141, 215, 364 – J.G. Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, 1724, S. 7, 18, 879f. (zur Pindarischen Ode) – Anon., Anleitung zur Poesie, 1725, S. 18 (Morhofs Werk als gute Anleitung zur Teutschen Poesie), 74, 76, 78, 81, 88f., 101, 166 – Köhler, Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, 1734, S. 1f. 110 (Von gemeinen Oden), 213 – Carl Friedrich Brämer, Gründliche Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst, Danzig 1744 (Expl. UB Greifswald), S. 81 – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 83 (im Zusammenhang mit Gesängen, Liedern und Oden als ältester Gattung der Poesie; s. weitere Stellennachweise im Register) – Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, T.3, Hamburg 1757 (ND Bern 1968), S. VII – Johann Christoph Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen, Braunschweig 1758 (Expl. Stadtbibl. Braunschweig), S. 9 – Johann Nikolaus Götz, Die Gedichte Anakreons und der Sappho Oden, Karlsruhe 1760 (ND Stuttgart 1970), S. 63 – [Johann Gotthelf Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, Königsberg, Leipzig 1772 (Expl. UB Freiburg), S. 214f. – Christian Heinrich Schmid, Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, Leipzig 1781 (Expl. StuUB Göttingen), S. 16, 86 – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, 21789, S. 71 – Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste (1792–1794), T.1, S. 638, 646, 677; T.2, S. 196, 507; T.3, S. 206, 302 (Artikel „Lyrisch“); T.4, S. 83 (Artikel „Reim“, bei Morhof gründlich und bündig behandelt), 768 – zu Erwähnungen Morhofs bei Herder s. Anm. 35 in der Abhandlung über die Entwicklung der Lyrikauffassung Herders in diesem Band sowie: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. XXV, Berlin 1885, S. 68 (Alte Volkslieder, T.II), 304 (Volkslieder,
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Morhof Carmina, die mit Musik verbunden sind, ursprünglich zum Gottesdienst und zum Lob der Helden dienten und bei den Deutschen Lieder genannt werden (S. 335). Mit Rücksicht auf die Musik sollen Versenden und Sinnenden oder doch Sinneinschnitte zusammenfallen (S. 338). Zum Stil und Gegenstand solcher Gedichte heißt es: „Ich wollte auch davor halten / daß man zwar außerlesene Wörter in den Liedern / die gesungen werden / aber keine gar hohe und Metaphorische Redensarten / gebrauchen solle. Denn / wenn die Wörter nicht verständlich sind / daß man zugleich mit dem Thon den vollkommenen Verstand der Wörter haben kann / so hat solches keine Krafft in Bewegung der Gemüther. Sonsten ist eine Ode / insonderheit wenn sie nicht gesungen wird / der höhesten Redensart fähig. J.C. Scaliger saget / proxime ad Heroici Carminis majestatem accedit. Ja sie übersteiget selbst die Heldenart / dann es sind audaciores Metaphorae und andere Redensarten zu gelassen / die man in Heroico genere nicht gebrauchen kann. Wenn die alte Prosodia der Music auch im Teutschen wäre / so könnte man Thöne und Wörter ohne grossem Nachdencken verstehen. Aber itzo muß die Deutligkeit des Carminis, der undeutlichen Music zu Hülffe kommen. Es können alle Sachen sich zu den Oden schicken / Geistliche / Sittliche / Liebreitzende / Kriegrische und dergleichen mehr / da denn zum Theil auch die Redensart sich nach der materie schicken muß“ (S. 338f.). Morhof erläutert dann weiter einzelne Arten von Oden und ihren Stil. Danach können z. B. in „Liebessachen ... nach dem die affectus sollen außgedrücket werden“, „Klagende oder verlangende Oden ... bißweilen abruptos sensus, tieffsinnige acumina haben“, in scherzenden Liedern aber muß „ein gleicher stylus“ sein (S. 342f.). „Die Metra können in den Oden vielfältig seyn“ (S. 345). „Der Trieb der Natur / oder / wie ihn die Poeten nennen / der ἐnθousiasmὸϛ, ist das vornehmbste in dieser Sache. Derselbige giebt den Erfindungen ein Leben, und wird in den Oden durch die Music erwecket / und gereitzet ... Dieser ἐnθousiasmὸϛ ist etwas / das von einer sonderlichen Glückseeligkeit der Natur kömpt / und durch die Kunst und Nachsinnen bißweilen nur gehindert wird. Es ist zu mercken / daß insgemein die ersten Einfälle / als welche aus diesem Triebe entstehen / die besten sind ...“ (S. 345), „... man verderbet / an der Erfindung insonderheit / leicht etwas / wenn
T.I). – Es ist in den hier beispielhaft zusammengetragenen, unterschiedlichen Belegen für die Wirkungsgeschichte Morhofs gewiß nicht zu verkennen, daß die Erwähnungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und nach kritischer werden und mehr den literarhistorischen als den gattungstheoretischen Passagen von Morhofs Poetik gelten. Gleichwohl ist es für die Bedeutung des Werks bezeichnend, daß es noch hundert Jahre nach seinem Erscheinen in einschlägigem Zusammenhang als erwähnenswert gilt.
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man zu viel drüber nachsinnet / und durch allzu grosse Kunst / die Natürligkeit einer Sache verdunckelt ...“ (S. 346). Hält man die Ausführungen Morhofs gegen die rund ein Jahrhundert jüngeren von Sulzer und Eschenburg, so muß auffallen, daß eine ganze Reihe von Bestimmungen wie die Ablehnung des Strophen- und Versenjambements, Vielfalt der Metren und Gegenstände, hohe Stillage, dichterische Begeisterung auch bei Morhof vorkommen, doch nicht so wie bei Sulzer und Eschenburg auf die beiden Arten, Ode und Lied, verteilt, obgleich es bei Morhof Ansätze zur Unterscheidung verschiedener Arten nach Gegenständen und Stil gibt. Auffällig ist andererseits aber auch, daß Morhof Begeisterung und Natur wichtiger findet als Kunst und Nachsinnen, obgleich doch sonst die barocke Poetik ihre Existenz der Meinung verdankt, daß der Dichter kunstreicher Anleitung zum Werk bedürfe. Solche scheinbaren Widersprüche und Unklarheiten erhellen sich, wenn man von Morhof aus noch einen weiteren Schritt zurücktut zur lateinischen humanistischen Poetik des 16. und noch des 17. Jahrhunderts, etwa zu den Werken von Julius Caesar Scaliger (1561),²⁰ den Morhof ausdrücklich zitiert,²¹ von Jacob Pontanus (1594),²² Alexander Donatus (1633),²³ Gerhard Johannes Vossius (1647)²⁴ oder Jacob Masen (1661)²⁵. Hier wird überall²⁶ in einem besonderen Abschnitt
20 Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561, hrsg. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 47–49: lib.I, Historicus, c.44: Lyrica; S. 169: lib.III, Idea, c.124: Lyrica. Vgl. jetzt auch Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, hrsg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 378–397 (unter der deutschen Kapitelüberschrift: Die lyrischen Gedichte); Bd. 3, 1995, S. 198–201 (deutsche Kapitelüberschrift: Die Lyrik). 21 Die von Morhof frei zitierte Stelle ist der erste Satz bei Scaliger, lib.I, c.44. 22 Jacob Pontanus S.J., Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594 (Expl. StB München), S. 133–143: lib.II, c.27–30: De lyrica Poesi. 23 Alexander Donatus S.J., Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633 (Expl. UB Münster), S. 323–346: lib.III, c.33–47 (über Dithyrambus und Ode als die zwei genera Lyrici poematis; mit vielfacher Berufung auf Scaliger). 24 Gerhard Johannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), Liber III, S. 60–85: c.12–15 über das carmen lyricum. 25 Jakob Masen S.J., Palaestra Eloquentiae ligatae, P.II, Köln 1661 (Expl. UB Münster), S. 321– 481: Lyrica Poesis, Praeceptionibus & Exemplis illustrata (die Praeceptiones reichen bis zur S. 347). 26 Vgl. ferner u. a. auch: Joachim Vadianus, De Poetica et Carminis Ratione (1518). Kritische Ausgabe, hrsg. v. Peter Schäffer, Bd. 1, München 1973, S. 76–78 (knapp über das Lyricum als secunda species poematis) – Antonio Sebastiano Minturno, De Poeta, Venedig 1559 (ND München 1970), S. 378–400 (innerhalb des Liber V über das Lyricum carmen) – Giovanni Antonio Viperano, De Poetica Libri Tres, Antwerpen 1579 (ND München 1967), S. 147–155: Lib.III, c.9– 12: über das Melicum sive Lyricum – Moritz Landgraf von Hessen, Poetices methodice confor-
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die lyrische oder melische Poesie der Antike und ihrer frühneuzeitlichen Nachahmer behandelt, die nicht mit dem heutigen, erst seit dem 18. Jahrhundert entstandenen weiteren Begriff der Lyrik identisch ist,²⁷ sondern den engeren Bereich der sangbaren strophischen Dichtung meint und für die die Humanisten auch die in der klassischen Antike ungebräuchliche Bezeichnung Ode verwenden. Lob der Götter und Helden ist ursprünglich ihr Gegenstand, dann alles, was in ein kurzes Gedicht gefaßt werden kann. Neben Sangbarkeit, Vielfalt der Gegenstände und Kürze sind varietas durch Abschweifungen, unterschiedliche Verlaufsformen und zusammengesetzte Metren, eine dem Epos vergleichbare maiestas oder ihr entsprechende suavitas, eine durch Tropen, Sentenzen und anderes gekennzeichnete Stilhöhe, libertas animi (Ungebundenheit des Geistes), ja Freiheit von Regeln und Gesetzen die wichtigsten Merkmale dieser Gattung. Bei Vossius heißt es unter anderem wörtlich: „Ordinem verò in vario argumento magis regit impetus poetae, quàm anxia artis cura. Itaque concessum etiam est subito ab uno ad aliud devolare argumentum“ (III, 75) (Die Ordnung aber in Hinsicht auf den verschiedenartigen Inhalt bestimmt der dichterische Impuls mehr als die ängstliche Sorge der Kunst. Daher ist es auch zugelassen, plötzlich von einem Gegenstand zu einem anderen zu eilen). Pindar und Horaz sind die maßgeblichen Vorbilder der Ode in der humanistischen Poetik. Stellen bei Horaz über die Vielfalt lyrischer Dichtung (ars poetica, v. 83–85), über die Mannigfaltigkeit und den hohen Schwung der Lyrik Pindars (carm. IV,2), Äußerungen Quintilians über den Rang Pindars und des Horaz (inst.orat. X,1) sind die wichtigsten antiken Belege,²⁸ auf die man sich immer wieder beruft.²⁹
matae libri duo, Kassel 1598 (Expl. LB Fulda), Bl. C6v–C7r: Lib.II, c.2: Lyricum Carmen (knappe Lehrsätze über Hymnus und Ode als Arten des Lyricum carmen) – Conrad Bachmann/Christoph Helvicus, Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis, ex Veteribus et Recentibus Poetis, studiose conscripta, per Academiae Gissenae nonnullos Professores, Gießen 1623 (3. Auflage dieser im Schulbetrieb des 17. Jahrhunderts sehr verbreiteten Poetik, Vorrede dat. 1617; Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 324–327: Lib.II, c.6, Abschnitt: De Ode (mit wiederholter Berufung auf Scaliger). 27 Das verdeckt leider die an sich so verdienstvolle zweisprachige Scaliger-Ausgabe, indem sie an den einschlägigen Stellen (s. oben Anm. 20) wiederholt Scaligers Begriff Lyrica umstandslos als Lyrik übersetzt. 28 Zitiert im Anhang zur Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 29 Als Belege seien aus den in den Anmerkungen 20 und 22–26 genannten Werken die folgenden Stellen angeführt: Scaliger, Poetices libri septem, S. 169 – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 137f., 139 – Donatus, Ars Poetica, S. 324, 327, 331 – Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, III, S. 66, 73, 81, 83f. – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, II, S. 326, 338 – Vadianus, De Poetica, Bd. 1, S. 76 – Minturno, De Poeta, S. 384f. – Viperano, De Poetica Libri Tres, S. 149 – Bachmann/Helvicus, Poetica. S. 327.
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In der Odentheorie der humanistischen Poetik liegt der Quellgrund der zuvor skizzierten Vorstellungen von Morhof wie von Sulzer oder Eschenburg und der damit verknüpften Fragen und Entwicklungen. Angesichts der fehlenden Behandlung lyrischer Arten in der sonst die neuzeitliche Poetik vor allem begründenden Poetik des Aristoteles gewinnt die humanistische Poetik eine Theorie der Ode aus philologischer Bemühung um die antiken Vorbilder. Die Merkmale der Ode, die dann über mehr als zwei Jahrhunderte hin tradiert werden, sind das Ergebnis einer Pindar- und Horaz-Exegese,³⁰ die geleitet wird von den Äußerungen Quintilians und des Horaz und angetrieben wird vom Willen, der imitatio der antiken Muster ein theoretisches Fundament auch in dieser Gattung zu geben und damit eine eigene mit der Antike wetteifernde Dichtung zu begründen. Daß dabei Verschiedenartiges, das zu Differenzierungen Anlaß geben könnte oder gar müßte, nebeneinander steht – das von Pindar abgeleitete Hohe und Schwungvolle etwa neben der von Horaz kommenden, auch weniger Hohes umfassenden Vielfalt der Odengegenstände – das muß kein Problem sein, so lange es um eine im Medium der lateinischen Sprache unmittelbar mögliche imitatio und angesichts der Schwierigkeit Pindars eigentlich doch nur um eine imitatio des wichtigsten Musters Horaz geht. Anders jedoch, wenn solche Bemühung sich im 17. Jahrhundert in deutscher Sprache vollziehen soll. Welche Schwierigkeiten das bringt, welche von den antiken und humanistischen Mustern und Anweisungen abweichenden Regelungen das doch erforderlich macht, spiegelt die Poetik Morhofs stellvertretend für die anderen deutschen Poetiken, die an diesem Punkt meist knapper bleiben als der gelehrte Kieler Professor. Symptomatisch sind vor allem zwei, zunächst vielleicht eher unscheinbar wirkende Momente bei Morhof: die Ablehnung des Vers- und Strophenenjambements und die Erörterungen über die Stillage verschiedener Odenarten. Die Ablehnung des Enjambements, auch in der übrigen deutschen Barockpoetik selbst bei knappster Behandlung der Oden oder Lieder genannten Gedichte fast stets ausdrücklich erwähnt,³¹ fehlt bei der Behandlung der Ode in der vorange-
30 Ihrem Ursprung und ihrer wirkungsmächtigen Entfaltung in den humanistischen Pindarund Horaz-Kommentaren gilt die Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 31 Vgl. dazu Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, S. 165 – Johann-Henrich Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, Bremen 1660 (Expl. LB Hannover), S. 171ff. (... stehet einem jeden frey / di Oden nach Beliben zu sezzen / doch daß ein völliger Verß in den Oden auch einen völligen Verstand begreiffe ...) – [Johann Hofmann], Lehr-mässige Anweisung, S. 81 – Männling, Der Europaeische Helicon, S. 148 (... es muß aber eine vollkommene Meinung in jede Strophe gebracht werden) – Neumark, Poetische Tafeln, Anmerkungen von Kempe, S. 219 (Eine Strophe / das ist ein Satz eines Liedes / ist die Richtschnur des gantzen Getichtes / ... und soll allezeit eine richtige Meinung in sich schliessen / von welchem Zwang die Hero-
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henden humanistischen Poetik in lateinischer Sprache.³² Sie muß hier fehlen, weil die antiken Formen und Muster, zu deren imitatio in lateinischer Sprache
ischen Verse [sc. das Epos oder Heldengedicht] / wie bekant / entfreyet seyn) – Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter, Nürnberg 1648–1653 (ND Darmstadt 1969), T.1, S. 119 – Omeis, Gründliche Anleitung, S. 89 – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, T.1, Bl. C 2rf., D7v, Tit. V. Von den gemeinen Oden oder Liedern (Wenn ein Gesetzgen aus ist / so muß der sensus zugleich aus seyn / welches die Alten in ihren Liedern nicht allemahl beobachtet haben) – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Bl. N3v f. – Philipp von Zesen, Sämtliche Werke, Bd. IX, Deutscher Helicon (1641), hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin, New York 1971, S. 59. 32 Nur hier und da finden sich Stimmen, die das Enjambement in antiker oder in aller lateinischen Dichtung – über seine gelegentliche Erwähnung als Merkmal des epischen Hexameters hinaus – eigens diskutieren und lange als zulässig rechtfertigen, und sie lassen zunehmend ahnen, daß sie sich im Zusammenhang mit einer allmählich sich im Wetteifer mit der antiken Überlieferung entfaltenden Dichtung in der Volkssprache dazu veranlaßt sehen: u. a. Scaliger (1561), S. 77 (l.II, c.33): unter Berufung auf Beispiele bei Ovid, Horaz und Catull Widerspruch gegen „multi“, die „curiose seruatum voluere: vt sententiae simul cum strophis absoluerentur“ – Pierre Ronsard im „Avertissement aux Oeuvres“ (1587) über die Gestaltung des Alexandriners in seiner „Henriade“: „J’ay esté d’opinion, en ma jeunesse, que les vers qui enjambent l’un sur l’autre, n’estoient pas bons en nostre poësie; toutefois j’ay cognu depuis le contraire par la lecture des bons autheurs Grecs et Romains“ (Oeuvres complètes II, Paris 1950, S. 1022) – Pontanus (1594), S. 76: Rechtfertigung des Enjambements als insigne ornamentum des epischen Hexameters (in Übereinstimmung mit Äußerungen wie diesen von Ronsard und Pontanus rechtfertigt Opitz im siebenten Kapitel seines „Buchs von der Deutschen Poeterey“ das Enjambement im deutschen Alexandriner; Ges. Werke, Bd. II/1, S. 395) – Erasmus Schmid in seiner Pindar-Ausgabe (1616; Expl. HAB Wolfenbüttel), T.I, S. 47: zum Enjambement bei Pindar (in den Prolegomena „De Carminibus Lyricis“, die für bestimmte Phänomene auch zeitgenössische deutsche Verse heranziehen) – Bachmann/Helvicus (1623), S. 233: unter Berufung auf Scaliger und mit Beispielen aus Virgil und Horaz Abwehr einer Ablehnung des Enjambements und seine Kennzeichnung als besonderer Liebreiz, unter anderem in den Lyrica. Anders hingegen der aus dem frühbarocken Kreis um Simon Dach stammende und später lange als Professor Poeseos ac Historiarum in Tübingen wirkende Christoph Kaldenbach, der in lateinischer Sprache eine Poetik für deutsche Verse schreibt (Poetice Germanica, Nürnberg 1674; Expl. StuUB Göttingen) und darin (S. 26) unter Berufung auf Opitz für Alexandriner und vers communs das Enjambement zuläßt, für Lyrica hingegen in Übereinstimmung mit der deutschsprachigen Barockpoetik ablehnt: „Secus fit in aliis Carminibus, praesertim Lyricis, quorum Strophae cum clausulis sententiam finiunt“. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich kann man – in dem Augenblick, in welchem vor allem mit Klopstocks Oden eine lyrische Dichtung beginnt, die die Möglichkeiten des Enjambements eindringlich zu nutzen weiß – in der Einleitung „Ungebundener Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus“ von Friedrich Groschuf (Kassel 1749; Expl. StuUB Göttingen) als ein besonders eigenartiges Beispiel für die lange Wirkung der Ausschließung des Enjambements aus deutschsprachiger Dichtung, die hier nun auch den lateinischen Musterautor antiker Odendichtung erfaßt, Bemerkungen lesen (Bl. *6rf.), die zwar einräumen, daß die „Verrückung des Verstandes in die folgende Strophe“ nicht so sehr darum hart klinge, „weil unser Geschmack daran noch nicht gewöhnet ist“, son-
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die humanistische Poetik anleitet, zu solcher Regel keinen Anlaß geben. Wenn dagegen die barocke Poetik immer wieder die Ablehnung des Enjambements betont, so ist gerade diese Differenz ein Indiz dafür, daß sie die von der humanistischen Poetik behandelten lateinischen Oden mit der aus vorbarocker Überlieferung stammenden deutschen Lieddichtung im Sinne einer imitatio veterum ohne weiteres identifiziert. Strophische Gliederung und Beziehung zur Musik, die beiden Erscheinungen eigen sind, bieten dafür die Voraussetzung. Wie immer man sich aber die Wirkung antiker Metrik und einen Zusammenhang antiker lyrischer Poesie mit Musik vorstellen mochte,³³ die Eigenart der deutschen Liedstrophen und der zu ihnen üblichen Musik machte im Blick auf Sangbarkeit und auf Verständlichkeit des Gesungenen die Forderung notwendig, Verse und Strophen möglichst weitgehend als in sich geschlossene Einheiten zu behandeln. Die Identifizierung antiker Oden und deutscher Lieder wirkt auch bei der Unterscheidung verschiedener Odenarten und ihrer Stillagen, wie sie bei Morhof begegnen, mit. Ansätze dazu liegen zwar in der humanistischen Odentheorie, die von der Vielfalt der Gegenstände spricht und dementsprechend die Angemessenheit unterschiedlicher Stillagen andeutet.³⁴ Wenn Morhof aber die Stilhöhe unter anderem danach unterscheidet, ob ein oden- oder liedartiges Gedicht gesungen wird oder nicht, dann geht auch für die genauere Zuordnung von Odenarten und Stillagen ein entscheidender Impuls offenkundig von jener Identifizierung von antiker und humanistischer Ode und deutschem Lied aus, und zwar wiederum wegen der bei Vertonung und Gesang nötigen Rücksicht auf Verständlichkeit wie überhaupt wegen des daraus resultierenden herkömmlich einfacheren Stilcharakters deutschsprachiger Lieddichtung, der die Gattung im ganzen Jahrhundert des Barock von anderen deutlich abhebt und eine Dif-
dern „weil es eine ganz andere Beschaffenheit mit dergleichen lateinischen Versen hat“ als mit „unserer deutschen Dichterey“, es dann aber doch sogar „dem Horaz allemal zum Fehler und zu einer Dürftigkeit“ auslegen, „wenn er den Schluß seiner Gedanken über die Grenzen der Strophe ausdehnen muß“, und erklären: „Besser sind die Oden ausgearbeitet, in welchen der Vers mit dem Verstande zugleich sich endiget“. 33 Zu den Bemühungen um eine Vertonung antiker Odenformen in der Frühen Neuzeit und zu deren Schwierigkeiten vgl. Karl-Günther Hartmann, Die humanistische Odenkomposition in Deutschland. Vorgeschichte und Voraussetzungen, Erlangen 1976. 34 Vgl. u. a. Scaliger, Poetices libri septem, S. 338f. (l.VI, c.7) – Donatus, Ars Poetica. S. 331f. – Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, III, S. 75f. – Masen, Palaestra Eloquentiae ligatae, II, S. 332ff. (insbes. S. 335: In compositione verborum sententiarumque videndum ut cum rebus consentiat oratio, quae in hac poesi omnis conditionis atque ordinis sunt, ut humiles, quae exponunt docentve … mediocres item quae in descriptionibus rerum cultioribus … occupantur, denique & sublimes, quae ad affectiones animorum impellendos valent).
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ferenzierung der lyrischen Arten dringlicher machen mußte, als das zuvor die durchaus wahrgenommene Vielfalt der Horazischen Muster tat. In Morhofs Ausführungen, die sich aus der Gleichsetzung deutscher Lieddichtung mit der zur aemulatio herausfordernden antiken Ode ergeben, liegen Voraussetzungen für die spätere Unterscheidung von Ode und Lied. Daß die systematische Grundlage dafür bei Morhof in der rhetorischen Lehre von den genera dicendi und vom aptum, der Angemessenheit von Gegenstand und Stil liegt – auf dieses bedenkenswerte Faktum wird noch zurückzukommen sein. Die bemerkbaren Unterschiede zwischen Morhof und der humanistischen Poetik weisen darauf hin, daß der von der literarhistorischen Forschung oft gerügte synonyme Gebrauch der Begriffe Ode und Lied nicht Ausdruck von Unverständnis oder terminologischer Unsicherheit ist, sondern Zeichen zwangsläufiger Identifizierung. Der die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts kennzeichnende Versuch, antike Poetik und Dichtung und deren humanistische Erneuerung fruchtbar zu machen für eine Dichtung in der eigenen Sprache, muß im Bereich lyrischer Dichtung dazu führen, daß die überkommene deutsche liedhafte Dichtung als die Entsprechung zur antiken Odendichtung verstanden wird. Daß das nicht ohne gewisse Spannungen gehen kann, zeigen, wie bei Morhof besonders deutlich wird, einzelne Momente der barocken Theorie. Entscheidend für die weitere Entwicklung aber ist nicht die aus solchen Spannungen sich herleitende Frage, ob und wann denn eine konsequente Unterscheidung von Ode und Lied vorgenommen wird. Entscheidend ist vielmehr, daß für eine Theorie lyrischer Dichtung die in der humanistischen Odentheorie formulierten Vorstellungen übernommen werden. Damit unterliegt auch die strophische, mehr oder weniger eng in Zusammenhang mit der Musik stehende deutsche Dichtung Erwartungen, die aus der antiken Überlieferung abgeleitet worden sind. Nur unter diesem Vorzeichen, erst im Gefolge der daraus hervorgehenden Entwicklungen kommt es späterhin zu einer Unterscheidung von Ode und Lied. Die aus deutscher Liedüberlieferung und humanistischer Odentheorie gespeiste Theorie strophischer Dichtung mit ihrer durchaus konsequenten synonymen Verwendung der Begriffe Ode und Lied bleibt in dem Stand, wie ihn etwa schon Morhof repräsentiert, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erhalten,³⁵
35 Vgl. u. a. Anon., Anleitung zur Poesie (1725), S. 108–113, XI. Kap. Von geistlichen und weltlichen Oden – J.A. Fabricius, Philosophische Redekunst ... Nebst einem Entwurfe einer Teutschen Dicht- und Sprachkunst, 1739, II, S. 401f., § 123–130 (im Rahmen eines knappen Abrisses der Poetik) – Köhler, Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, 1734, S. 110–139: 7. Kap., § 1. Von gemeinen Oden (unter Berufung auf Morhof); § 2. Von Pindarischen Oden (in beiden Paragraphen knappe praecepta mit einer Reihe von exempla) – J.G. Neukirch, Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, 1724, S. 863–882: Von Oden / Ringel-Oden und Pindarischen Oden
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weil – bei aller Kritik an manchen Erscheinungen des Barock – auch die allgemeinen humanistisch-rhetorischen Grundlagen der Poetik so lange erhalten bleiben. Zwar liefert Boileau in seinem „Art poétique“ von 1674 mit dem Vers vom „beau desordre“³⁶ – nach seiner eigenen späteren Erläuterung ein in der Regel der Nichtbeachtung von Regeln bestehendes Geheimnis der Kunst³⁷ – der deutschen Poetik ein seit dem frühen 18. Jahrhundert nach und nach immer häufiger und selbstverständlicher wiederholtes Stichwort.³⁸ Zwar vermittelt die
(knappe praecepta mit einer Reihe von exempla; Berufung auf Scaliger und Morhof) – Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, 1715, S. 49–51: 11. Kap. Von Pindarischen Oden; S. 51–61: 12. Kap. Von Arien und Liedern (rudimentäre praecepta mit einer Reihe von exempla). – Kennzeichnend für die unangefochtene Geltung bestimmter Grundvorstellungen ist es etwa auch, wenn Friedrich Andreas Hallbauer in seiner „Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie“ (Jena 1725; ND Kronberg 1974) innerhalb eines knappen Abrisses „Von der teutschen Poesie“ (T.III, 6. Kap.) die Ode lediglich mit diesen drei Sätzen charakterisiert: „Eine Ode ist ein Lied, welches aus verschiedenen Strophen bestehet. Jede muß einen vollkommenen Verstand ausmachen. Geistliche Oden findet man in allen Gesangbüchern“ (S. 779) oder wenn im Gefolge der humanistischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts sogar noch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Schulwerke zur Poetik in lateinischer Sprache erscheinen, die einen knappen Extrakt einer langen Tradition bieten: F.X.A.S.J., Polymathia Poetica, Augsburg, Freiburg 1757 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 122–126: Lyricum Carmen (unter Berufung auf Masen) – Anon., Artis Rhetoricae et Poeticae Institutiones, Breslau 1775 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 335–337: De Poemate Lyrico. 36 Nicolas Boileau, L’Art Poétique, hrsg. v. August Buck, München 1970, S. 67 (Chant. II, v. 71–72): Son stile impetueux souvent marche au hazard. Chez elle un beau desordre est un effet de l’art. 37 Nicolas Boileau, Oeuvres complètes, Paris 1966 (Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 188), S. 227 (Discours sur l’Ode, 1693): „Ce precepte effectivement qui donne pour regle de ne point garder quelquefois de regles, est un mystere de l’Art, qu’il n’est pas aisé de faire entendre à un Homme sans aucun goust, qui croit que la Clelie et nos Opera sont des modeles du genre sublime …“. 38 Morhof, der (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 21700, S. 355) Boileaus Satiren und seine Ps.Longin-Übersetzung erwähnt, dürfte auch seinen „Art poétique“ gekannt haben, zitiert ihn aber nicht im Kapitel „Von den Oden“ oder an anderer Stelle. Entsprechendes gilt fünfundzwanzig Jahre später für die anonyme „Anleitung zur Poesie“, worin neben anderen Gewährsleuten der Poetik auch der „Msr Boileau in Franckreich de arte poёtica“ (S. 18) genannt, jedoch nicht zitiert wird im Kapitel „Von geistlichen und weltlichen Oden“, wo nur Boileaus „Ode auf die Eroberung Namur“ (S. 110) als Beispiel einer Pindar nachahmenden Ode erwähnt wird. Drei Jahre früher allerdings – alle hier angeführten Belege können freilich nicht den Anspruch einer absoluten Chronologie der deutschen Boileau-Rezeption erheben – findet man in Bodmers und Breitingers „Discoursen der Mahlern“ (Zürich 1721–1723; ND Hildesheim 1969) eine Nachdichtung der Verse II, 1–72 des „Art Poétique“ (S. 33–35) mit der gegen noch verbreitete Dispositionsanweisungen nach Regeln der Logik gerichteten Schlußfolgerung: „Die künstlichste Ode ist diese / in welcher die Kunst verborgen ist / und in welcher der Poet / ohne
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französische Odentheorie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, in den Schriften der Boileau, Houdar de la Motte, Jean-Baptiste Rousseau oder Remond de Saint-Mard,³⁹ der deutschen Poetik im Zeichen einer wachsenden Ps.LonginRezeption eine Hervorhebung der Beziehung der Ode zum Erhabenen. Aber das sind – entgegen verbreiteter Meinung ⁴⁰ – nicht wirklich neue Erwartungen,
sich an die Regeln einer methodischen Chria zu binden / keine Ordnung folget / als diejenige welche ihm seine poetische Hitze oder der Enthusiasmus an die Hand giebet ...“ (T.II, 1723, S. 39). Gottsched hat in seiner „Critischen Dichtkunst“ am Ende des Kapitels „Von Oden oder Liedern“ in der 1. und 2. Auflage (1730, 1737) „des Boileau Regeln von der Ode“ (Art Poétique, II,58–77 und 81) zitiert (Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd. VI/3, Variantenverzeichnis, S. 82) und in der 3. und 4. Auflage (1742, 1751) nur den entscheidenden v.72 vom „beau desordre“ mit der Bemerkung „man pflegt zu sagen, daß eine schöne Unordnung in der Ode die Probe der höchsten Kunst sey. Boileau schreibt ...“ (4. Aufl., S. 435). Weitere Belege für die Rezeption von Boileaus Formel in den folgenden Jahrzehnten: Jakob Immanuel Pyra, Fortsetzung des Erweises, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe, Berlin 1744 (ND Hildesheim, New York 1974), S. 25 (wonach Gottsched die „schöne Unordnung“ der Ode nicht zureichend erklärt habe) – (Samuel Gotthold Lange), Die Lehre von der Ode (in: Der Gesellige, T.1–4, 1748– 1749; ND Hildesheim u. a. 1987: T.4, 155 St.), S. 102f. (mit eingehender Erläuterung der schönen Unordnung im Verein mit anderen traditionellen Momenten der Odentheorie) – Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst, 1758, S. 42 (zu Dommerich und seiner Poetik s. in diesem Band die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“) – Anon., Von der Ode. Ein Versuch, in: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, Bd. 2, St. 1, Breslau 1763, S. 152–177 (Expl. UB Erlangen), S. 161–163: Die schöne Unordnung (neben Abschnitten wie „Der Enthusiasmus“, „Der odenmäßige Schwung“, „Die Kürze“, „Das Erhabene“, „Der Plan“). 39 Dazu neben seinem „Art poétique“ und dem „Discours sur l’Ode“ (s. oben Anm. 36 und 37) auch Boileaus 1674 erschienene Übersetzung der Schrift perὶ ὕψouϛ die entscheidenden Anteil an der Ps.Longin-Rezeption im späten 17. und im 18. Jahrhundert gehabt hat – vgl. ferner (z.T. an Boileau anknüpfend): Antoine Houdar de la Motte, Discours Sur la Poёsie en géneral, & sur l’Ode en particulier (11709) in: Oeuvres, Tome Premier, Premiere Partie, Paris 1754 (Expl. Martinus-Bibliothek, Mainz), S. 13–60 – Jean Baptiste Rousseau, Odes, Cantates, Épigrammes, Épîtres et Poésies diverses, T.1, Paris 1799 (Expl. LB Karlsruhe; 11723), S. 5 (Préface) – Toussain Remond de Saint-Mard, Réflexions sur la Poésie en général, sur l’èglogue, sur la fable, sur l’élégie, sur la satire, sur l’ode et sur les autres petits poèmes, La Hague 1734 (ND Genf 1970), S. 193–250: Sur l’Ode. 40 Ein besonders markantes Beispiel für eine von den historischen Voraussetzungen und dem sachlichen Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen der Odentheorie abgelöste und daher zu fragwürdigen Deutungen und Thesen neigende Erörterung des beau desordre sind die Ausführungen von Herbert Dieckmann (Zur Theorie der Lyrik im 18. Jahrhundert in Frankreich, S. 83ff., in: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. W. Iser, 1966, S. 73–112) und insbesondere der entsprechende Teil der ihnen geltenden Diskussion (S. 401ff.).
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sondern schon in der humanistischen Poetik vorhandene Vorstellungen,⁴¹ die in der französischen Poetik wirkungsvoll formuliert und vorgetragen werden, aber mit der Fortgeltung der humanistischen Poetik und ihrer Hauptwerke⁴² als Fundament einer deutschsprachigen Poetik auch für die deutsche Literatur bis ins 18. Jahrhundert hinein präsent geblieben sind. So ist eine nennenswerte Veränderung der Theorie bis hin etwa zu Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ kaum festzustellen, auch wenn man an der Dichtung selbst beispielsweise bis hin zu den von Gottsched 1728ff. publizierten „Oden und Cantaten“ der „Deutschen Gesellschaft in Leipzig“ beobachten könnte, in welchem zunehmenden Umfang sie in gereimten Strophen den überlieferten, aus antiken Mustern abgeleiteten Anforderungen der Theorie der Oden oder Lieder über die Lieddichtung des 17. Jahrhunderts hinaus nachzukommen trachtet. Fortschreitende Ps.Longin-Rezeption⁴³ und Schätzung der Psalmen als herausragender Muster der Ode, Baumgartens Ästhetik mit ihrer Frage nach der
41 S. dazu das oben angeführte Scaliger-Zitat Morhofs (S. 338f.) zur maiestas der Ode (vgl. auch Anm. 21) und das Vossius-Zitat „magis regit impetus poetae, quam anxia artis cura“ (III,75) sowie die damit verwandte Stelle bei Morhof (S. 345); vgl. auch die einschlägigen Hinweise in der Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 42 Auch wenn die Barockpoetik, da es ihr um die Anwendung der tradierten praecepta auf eine deutschsprachige Dichtung und deren Erläuterung durch deutschsprachige exempla geht, viele grundlegende Vorstellungen oft nur andeutet oder gar nicht eigens erörtert, wird doch an mancherlei Hinweisen deutlich, wie sehr vor allem die Werke von Scaliger und G.J. Vossius, aber auch Schriften von Casaubonus, Heinsius und anderen als die maßgeblichen und den gelehrten Autoren und Lesern bekannten Quellen vorausgesetzt werden, die es nicht selten auch erlauben, die Anführung bestimmter praecepta von allgemeiner Gültigkeit durch die Nennung eines Gewährsmanns zu ersetzen: vgl. dazu neben Opitz, der Scaliger als eine seiner Quellen intensiv genutzt, aber offenkundig nur an zwei, allerdings markanten Stellen (Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 343, 360) namentlich genannt hat, u. a. Buchner, Anleitung Zur Deutschen Poeterey, S. 13f. (Von dem ersten und andern – i.e. „Erfindung der Sachen“ und deren „Ordnung“, inventio und dispositio – haben wir nicht Ursach viel Worte zu machen / weil ... der Hochgelehrte Scaliger in seinem dritten Buch von der Poeterey hiervon statlich und satsam Bericht gethan hat / dessen man sich gebrauchen kann“), 18, 32 – Harsdörffer, Poetischer Trichter, T.1, S. 1, 16, 106; T.2, S. 71, 72, 75, 80, 84, 93, 95, 99 – Neumark, Poetische Tafeln: Anmerkungen von Kempe, S. 217, 310 – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie: s. die Nachweise insbes. zu Scaliger im Register in Band 2 des Nachdrucks – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen: in den Marginalien eine Fülle von Nachweisen zu Scaliger als wichtigstem Gewährsmann. 43 Während frühe Hinweise auf Ps.Longin bei Morhof (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, S. 319, 322, 355, 358), aber auch noch in der anonymen „Anweisung zur Poesie“, 1725 (S. 25) eher beiläufiger Art bleiben und auch Gottsched ihn, obgleich er ihn schon in der Vorrede zur 1. wie zur 2. Auflage der „Critischen Dichtkunst“ (1730, 1737; s. Ausgewählte Werke, Bd. VI/1, S. 13) zu den „größten Meistern und Kennern der Dichtkunst“ zählt, in den Kapiteln
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Eigenart des Dichtungsvermögens, die von ihr entscheidend geförderte Entwicklung einer psychologisch fundierten, auf die Analyse der Seelenvermögen gerichteten Produktions- und Wirkungsästhetik, die damit zusammenhängende Neubestimmung, Erweiterung, Veränderung grundlegender traditioneller Begriffe der humanistischen Poetik, die in solchem Rahmen sich entwickelnden und artikulierenden veränderten Dichtungserwartungen, wie sie etwa Bodmer und Breitinger wirkungsvoll vertreten – all das läßt von der Mitte des 18. Jahrhunderts an Bewegung in die Theorie der Ode kommen, macht sie zum Gegenstand besonderer Traktate und breiter Erörterungen in den Werken zur Poetik und Ästhetik, ja gibt ihr unter Umdeutung und Neuwertung tradierter Bestimmungsmerkmale paradigmatische Bedeutung. Georg Friedrich Meier, Schüler und Propagator Baumgartens, in dessen früher Schrift „Meditationes Philosophicae De Nonnullis ad Poema Pertinentibus“ (1735) man lesen konnte: „Sensiones fortiores sunt clariores, ergo magis poeticae, quam minus clarae, & imbecilles ... sensiones fortiores comitantur affectum vehementiorem ... Ergo excitare affectus vehementissimos maxime poeticum“⁴⁴ (Stärkere Empfindungen sind klarer, also poetischer als weniger klare und schwache. Stärkere Empfindungen begleiten einen stärkeren Affekt ... Also ist das Erregen heftigster Affekte in höchstem Grade poetisch) – Meier entwickelt 1747 in seiner „Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst“⁴⁵ einen Gegenentwurf zu Gottscheds Behandlung der Ode und macht darin das
„Von verblümten Redensarten“ (ND der 4. Aufl., S. 285) und „Von der poetischen Schreibart“ (S. 347, 366, 371) nur an einzelnen Stellen seiner Ausführungen zur Eigenart des poetischen Stils heranzieht, setzt fast zur selben Zeit vor allem bei Bodmer und Breitinger – beginnend mit einzelnen Stellen in den frühen Schriften und voll entfaltet dann in ihren Hauptschriften aus den 40er Jahren – eine breiter werdende und folgenreiche Diskussion über Ps.Longin auch im deutschen Sprachbereich ein, zu deren frühen Dokumenten z. B. auch die nur handschriftlich überlieferte Schrift „Über das Erhabene“ (ca. 1738/42) von Immanuel Jacob Pyra gehört (hrsg. v. Carsten Zelle, Frankfurt a.M. 1991). 44 Halle 1735 (Expl. UB Halle), S. 13, § XXVII; s. auch die zweisprachige Ausgabe, übers. v. Heinz Paetzold, Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek, Bd. 352), S. 26f. 45 Halle 1747 (Expl. StB München), § 185–191. – Einen Vorläufer hat Meier mit seiner Gottsched-Kritik in Carl Friedrich Brämer, der im historischen Teil seiner Abhandlung „Gründliche Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst“ (1744) den „Begrif der Poesie“ in Antike und Neuzeit kritisch mustert und im vorvorletzten § 71 (S. 94–99) Widersprüche in der Konzeption Gottscheds bloßlegt, um im vorletzten § 72 (S. 99–101) positiver, wenn auch nur knapp von Bodmer und Breitinger zu sprechen und im letzten § 73 (S. 101f.) zwar nur noch kurz, aber sichtlich interessiert auf Baumgartens „Dissertatio“ und ihren „ganz neuen Begrif von einem Gedicht“ hinzuweisen, „welcher unserer Aufmerksamkeit wehrt ist, weil er vom Herrn Baumgarten kommt“.
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Pathetische zum Zentralbegriff, ausgehend von dem auf Baumgarten zurückweisenden Satz „Das Pathetische ist die gröste poetische Schönheit“ und der daran anknüpfenden Folgerung: „Ich setze also den Unterscheidungs-Character einer Ode, was die Gedancken betrift, darin, daß sie durchgehends pathetisch seyn muß, ob gleich nicht in einerley Grade“ (S. 257). Fast in denselben Jahren hebt Samuel Gotthold Lange, zu dessen „Horatzischen Oden“ (1747) G.F. Meier eine Vorrede vom Wert der Reime beigesteuert hatte,⁴⁶ in der Vorrede seiner Horaz-Übersetzung (1752) die Beherrschung der Sprache der Leidenschaften und Gemütsbewegungen an Horaz hervor ⁴⁷ und preist in der Vorrede seiner Breitinger gewidmeten Psalmennachdichtung (1746) die durch Feuer und Schwung ausgezeichneten Psalmen als untadelhaftes, Pindar und Horaz weit hinter sich lassendes Muster der Ode.⁴⁸ Ähnlich äußert sich nur wenig später der Klopstock-
46 Samuel Gotthold Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747 (ND Stuttgart 1971); Meiers für die Reim-Diskussion dieser Jahre wichtige Vorrede auf S. 3–21. 47 Des Quintus Horatius Flaccus Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch poetisch übersetzt von Samuel Gotthold Lange, Halle 1752 (ND z.T. im Anhang zu: Lange, Horatzische Oden), Bl. a4v f.: „Horatz ... beobachtete die Wortfügung der Lateiner, die doch so viele Freyheit besitzet, so wenig ... weil er wohl wußte, daß die Sprache der Leidenschaften und Gemüthsbewegungen (welche die Sprache der Dichtkunst überhaupt, und der Ode insbesondere ist,) sich von der Sprache der Unterredung durch etwas mehr, als durch das Sylbenmaaß unterscheide. Horatz war ein Dichter ... der Affect riß ihn hin, er redet lauter Empfindungen, und mahlet in einer beständigen Entzückung. Sein Feuer verstattete ihm keine erkältende Ordnung gemeiner Wortfügung ... Seine vorzügliche Stärke bestehet theils in dem Schwung seiner Gedanken, der etwas plötzliches und unvermuthetes eigen hat, theils in der kraftvollen Kürze, und selbst in der Versetzung der Wörter, die er in solcher odenmässigen Unordnung unter einander wirft, oder vielmehr kunstreich ordnet, als sie sich dem Gemüthe des Lesers darstellen sollen“. 48 S.G.L. Oden Davids oder poetische Uebersetzung der Psalmen, mit einer Vorrede Sr. Hochwürden, des Herrn Doctor [Sigmund Jakob] Baumgarten, T.1 Halle 1746 (Expl. UB Marburg), Bl. )(5v: „Hier finden wir ein untadelshaftes Muster der Ode. Pyndar und Horatz, die grossen Dichter, welche in der Ode geleistet haben, was man nur von menschlichen Kräften fodern kann, bleiben weit zurücke. Die Ursache ist leicht zu errathen ... warum sie unter die davidische Ode bleiben ... Es ist ... nicht zu verwundern, daß das Erhabene in diesen Gedichten das höchste sey. Nichts ist erhabener als GOtt und seine Handlungen ...“; Bl. )(6vf.: „es kan ein jeder leicht begreiffen, daß ein Gedichte nicht besser, als durch ein Gedichte übersetzet wird ... Insbesondere können Oden nicht besser als durch Oden übersetzet werden. Das Feuer, der Schwung, die Kürtze sind ihnen so eigen, daß sie in aller andern Art zu übersetzen etwas verliehren ... Ich habe daher meine Uebersetzung nach dem äusserlichen meiner Urkunde gerichtet“. – Es ist für die Entfaltung und die Wandlungen der Odentheorie um die Mitte des 18. Jahrhunderts höchst bezeichnend, wie S.G. Lange, der auch mit einer eigenen Abhandlung über „Die Lehre von der Ode“ (1749; s. oben Anm. 38) daran teilgenommen hat, mit großer Selbstverständlichkeit in seinen Vorreden verschiedene Bestimmungsmerkmale der Ode als literaturkritisches
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Freund Johann Andreas Cramer in Vorreden und Abhandlungen zu seiner seit 1755 veröffentlichten Psalmen-Nachdichtung.⁴⁹ 1759 erscheint in der von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn herausgegebenen „Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“ die deutsche Übersetzung einer Abhandlung Edward Youngs „über die lyrische Dichtkunst“;⁵⁰ darin heißt es von der Ode, sie sei „an Empfindung, Schall, Ausdruck und Ausführung entfernter von der Prose“ als irgendeine andere Dichtungsart, sie solle hinreißen (S. 210), es sei ihr wahres Verdienst, „einige
Instrumentarium zur Wertung der Psalmen oder der weiterhin als mustergültig verstandenen Oden des Horaz benutzt. Vergleichbares läßt sich auch schon in Bodmers Vorrede zu der für die Situation der Lyrik um die Jahrhundertmitte so wichtigen Sammlung „Freundschaftliche Lieder“ (1745) von Lange und Pyra beobachten (hrsg. v. August Sauer, Heilbronn 1885; ND Nendeln 1968), worin (S. 6) das neuartige Vergnügen „an dem poetischen Taumel, an dem Scheine der Unordnung, an den unerhörten Ausdrücken, und den Bildern“ ausgespielt wird gegen die nicht mehr befriedigenden „abgepaßten Schritte der Oden ..., wo die Ordnung so methodisch, so mechanisch ist, als einer Chrie“, gegen die „abgenutzten moralischen Lehren, welche mit dem Hertzen in keiner Verbindung stehen, und mit der Ode kein Gantzes ausmachen“. 49 Johann Andreas Cramer, Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster – Vierter Theil, Leipzig 1755–1764 (Expl. StB München), darin insbes. T.I, S. 257–290: Von dem Wesen der biblischen Poesie; T.IV, S. 263–288: Von dem poetischen Charakter der Psalmen; S. 291–336: Von den Vorzügen der Schreibart in den Psalmen. Begeisterung, Feuer des Affekts, Pathos, scheinbare Unordnung sind Aspekte der sich in diesen Jahren entfaltenden Odentheorie, die von Cramer zur Charakterisierung der Psalmen als erhabener Poesie herangezogen werden, verbunden wie bei Lange mit der Abgrenzung der Psalmen gegen die antike lyrische Poesie (T.I, S. 236 gegen Pindar und Alkaios; T.IV, S. 335 gegen Pindar und Horaz). Wie sehr Cramer in den nach und nach erscheinenden Teilen seiner PsalmenNachdichtung teilhat am Gang der vor allem der Odentheorie geltenden ästhetischen Diskussion dieser Jahre zeigt sich auch an seiner offenkundigen Vertrautheit mit dem (freilich nur selten genannten) Ps.Longin, an seiner Beteiligung an der beginnenden Auseinandersetzung mit Batteux (s. T.I, S. 260; vgl. auch die entsprechende Passage in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band) und an seiner aufmerksamen und achtungsvollen, aber auch kritischen Rezeption (s. T.IV, S. 264–288) der kurz vor dem 1. Teil von Cramers PsalmenNachdichtung erstmals in Oxford veröffentlichten und in Deutschland vor allem durch die wenige Jahre später erschienene Ausgabe von J.D. Michaelis wirksam gewordenen „De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academiae Oxonii habitae“ von Robert Lowth (s. die bibliographischen Nachweise und die Belege für Herders Lowth-Rezeption in Anm. 27 sowie 112 der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“) und seiner verdienstvollen, aber nicht zureichenden Deutung der Psalmen als Oden. 50 Bd. 2, Berlin 1759 (Expl. UB Freiburg), 1. Stück, S. 206–219. Der englische Text „A Discourse on Lyric Poetry“ (1728) in: Edward Young, The Complete Works. Poetry and Prose, ed. by James Nichols, Vol. I, London 1854 (ND Hildesheim 1968), S. 414–419 (im Anschluß an Youngs „Ode to the King“). Die deutsche Übersetzung gibt den englischen Text zuverlässig und zumeist wörtlich wieder.
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Gemüther ein wenig zu erschrecken“ (S. 211), „Feuer, Schwung und ausgesuchter Gedanke sind unvermeidlich nothwendig“, und „eine niedrige, kriechende und pöbelhafte Ode“ sei „der erbärmlichste Irrthum, den eine Feder begehen kann“ (S. 210). Wenige Jahre darauf, 1763, wird in den Breslauer „Vermischten Beyträgen zur Philosophie und den schönen Wissenschaften“ eine in der Folgezeit vielfach zitierte anonyme Abhandlung „Von der Ode“ publiziert.⁵¹ Unter Anknüpfung an Baumgartens Definition des Gedichts,⁵² hier wiedergegeben als „vollkommen sinnlich schöne Rede“ (S. 156), wird hier die Ode definiert als „ein kurzes vollkommen affektvolles Gedichte“ (S. 156), ihre Wirkung als Rührung (S. 155) und der Enthusiasmus als „die Quelle“ benannt, „woraus alle andere Bestimmungen der Ode hergeleitet werden können“ (S. 158), und auf solcher Grundlage werden dann in je eigenen Abschnitten die einzelnen traditionellen Merkmale der Ode eingehender erörtert und begründet. Dabei kann man u. a. auch die kennzeichnenden Sätze lesen: „Der höchste Grad des Erhabnen ist der größte Affekt. Eine Ode aber, wo der größte Affekt herrscht, ist die vollkommenste; also ist die erhabne Ode die vollkommenste“ (S. 168). Ein Jahr danach, 1764, werden in den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“ Umrisse einer Theorie der Ode im Rahmen einer Moses Mendelssohn zuzuschreibenden Rezension⁵³ der Gedichte der Anna Louisa Karsch entwickelt: als wesentliches Merkmal der Ode im Unterschied zu anderen Gattungen wird „die Ordnung der begeisterten Einbildungskraft“ (S. 150)⁵⁴ genannt, es folgt daraus als Definition: „Eine
51 Bd. 2, St. 1, S. 152–177. – Zur Rezeption bei Herder s. Anm. 24 in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band; vgl. ferner u. a. Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, Leipzig 1767 (Expl. StuUB Göttingen), S. 300–308: 15. Kap. Von der Lyrischen Poesie, 1. Theorie (ausdrücklich an die Darlegungen in den Breslauer Beyträgen anknüpfend) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 373 – Christian Heinrich Schmid, Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, 1781, S. 342 (anders als in seinem Lehrbuch von 1767 urteilt der Verf. über die anonyme Oden-Abhandlung von 1763, die er hier dem Herausgeber der Breslauer Beyträge, Samuel Benjamin Klose, zuschreibt, jetzt kritisch, weil sie im „alten Schlendrian batteuxischer Regeln“ verbleibe) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, 21789, S. 145 – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3, S. 551 (wie bei Eschenburg in einer knappen Auswahl von Literaturhinweisen). 52 „Oratio sensitiua perfecta est POEMA“ (Meditationes Philosophicae, S. 7, § IX). 53 Briefe, die neueste Litteratur betreffend, T.17, Berlin 1764 (Expl. LB Wiesbaden), S. 123–179, 272.–276. Brief, 23.2.–22.3.1764. Vgl. auch den Abdruck in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 5/1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 574–601 sowie die Erläuterungen in Bd. 5/3b, 2004, S. 796–801. 54 Eingeleitet werden die entscheidenden Darlegungen der Rezension am Beginn des 275. Briefes durch kritische Sätze, in denen sich ein im Zuge der weiteren Entfaltung der Odentheorie wachsendes Ungenügen an der bis über die Jahrhundertmitte produktiv rezipierten
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einzige ganze Reihe höchst lebhafter Begriffe, wie sie nach dem Gesetze einer begeisterten Einbildungskraft auf einander folgen, ist eine Ode“ (S. 150), und dies ist der kritische Maßstab, mit dem in dieser Rezension die Gedichte der Karschin gemessen werden.⁵⁵ Es ist allen diesen Dokumenten⁵⁶ zur Odentheorie aus den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts gemeinsam, daß sie die Ode als ein Zeugnis begeisterter
Formel Boileaus andeutet: „Es hat der Dichterin gefallen die erste Hälfte ihrer Gedichte Oden zu überschreiben. Vielleicht weil in denselben eine Unordnung herscht, und sie gehöret hat, daß man gemeiniglich der Ode die schöne Unordnung für ein Verdienst anrechnet. Allein die wahre Critik erkennet in der Ode eine höhere Ordnung, die zwar versteckt seyn, aber niemals vernachläßiget werden darf“ (S. 149). 55 In ihrem Briefwechsel mit Gleim, der mit den Briefen beider Partner eine aufschlußreiche Quelle für die Rolle von – unterschiedlich präzis gefaßten – Lehrstücken der zeitgenössischen Odentheorie bei Erklärung und Bewertung neuerer Gedichte ist, hat sich die Karschin am 3.8.1764 über die Rezension in den Literatur-Briefen geäußert und sich über die nach ihrem Verständnis ungerechte Kritik (S. 164–166, Beschluß des 275. Briefs) an ihrem Gedicht „Der Spaziergang auf dem Fürstenwall“ (s. Anna Louisa Karschin, Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, ND Stuttgart 1966, S. 214–216), die in der Feststellung gipfelt: „Mich dünkt ... daß die Dichterin von dem schönen Ideal einer Ode nicht den mindesten Begrif haben muß“, beklagt: „Endlich ... laß ich die Verurtheilung der brieffschreiber über die neueste Litteratur, Sie haben vielles angegriffen, was ich selbst Tadle und ich muß denken daß meine Lieder diesen Herrn woll nicht ganz schlecht vorkamen weill Sie sich die mühe gaben so viel darüber zu schreiben, Eins verdrießt mich, daß man sich über daß Lied den Spaziergang auff den fürstenwall auffhällt, Ich weiß so gut als der Kunstrichter daß man nichts weniger als die Eigenschafft der Ode darinen findet, indeßen ist mirs immer lieb gewesen weill Sein schluß so ganz die sprache meines Herzens redet, aber diese Leütte wißen nicht Eigentlich was Sie wollen ...“ („Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, hrsg. v. Regina Nörtemann, Bd. 1, Göttingen 1996, S. 222). 56 Als weitere Zeugnisse der Diskussion und ihrer Ausbreitung vgl. u. a. Johann Berhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756 (Expl. StuUB Göttingen), S. 604ff. – Michael Georg Curtius, Aristoteles Dichtkunst, ins Deutsche übersetzet. Mit Anmerkungen, und besondern Abhandlungen versehen, Hannover 1753 (ND Hildesheim New York 1973), S. 371, 379 (Abhandlung von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst) – Christian Adolph Klotz, Opuscula varii argumenti, Altenburg 1766 (Expl. MartinusBibliothek, Mainz), S. 114–173: VI. Libellus de felici audacia Horatii (11762): Charakterisierung des Horaz mit den Gesichtspunkten der zeitgenössischen Odentheorie unter häufiger Berufung auf Ps.Longin – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, 1772, S. 372–377 (unter Berufung u. a. auf die Karschin-Rezension der Literatur-Briefe, auf die anonyme Abhandlung in den Breslauer „Vermischten Beyträgen“ und auf Herders Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“, 3. Sammlung, T.3) – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, 1767, S. 300–308 (im Anschluß an die anonyme Abhandlung in den Breslauer „Vermischten Beyträgen“). Ein eigentümliches Beispiel einer zu ambivalenten Urteilen führenden Anwendung der im Fluß befindlichen zeitgenössischen
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dichterischer Einbildungskraft auffassen. Sie bringen damit keineswegs etwas völlig Neues in die Theorie der Ode. Sie knüpfen vielmehr an das schon in der humanistischen und barocken Poetik aus antiker Überlieferung gegenwärtige und da und dort auch mit Erscheinungen lyrischer Dichtung verknüpfte Stichwort vom ἐnqousiasmὸϛ, vom furor poeticus⁵⁷ an, das freilich, auch wenn man vielleicht eine Erscheinung wie die pindarischen Oden des Gryphius mit seiner Tradierung zusammenbringen kann, nur eines unter anderen herkömmlichen Merkmalen der Oden oder Lieder war. Das Entscheidende ist, daß dieses eine überlieferte Merkmal, mit dem der distanziert referierende Gottsched (Critische Dichtkunst, 41751, S. 429: „die so genannte Begeisterung, das berühmte Göttliche, so in den Oden stecken soll, weswegen Pindar so bewundert worden“)⁵⁸ noch kaum etwas zu beginnen wußte, – daß dieses Merkmal nun im Sinne der aufklärerischen Lehre von den unterschiedlichen Seelenvermögen konkreter bestimmt und zum zentralen Merkmal der Odentheorie gemacht wird, von dem aus alle anderen Kennzeichen und Vorschriften der Ode begriffen und genauer begründet werden. Einer immer mehr sich entwickelnden Dichtungsauffassung, die zunächst noch im Rahmen der überlieferten, rhetorisch begründeten Poetik und in Auseinandersetzung mit ihr, unter Abwertung der rhetorischen Zwecke des docere und delectare und Aufwertung des rhetorischen movere, zunehmend sich abhebt von der belehrenden Darlegung oder der unterhaltenden Umspie-
Odentheorie auf deren antiken Musterautor ist das Werk von F. Groschuf: Ungebundene Uebersetzungen der Gedichte des Q. Horatius Flaccus nebst den nöthigsten Anmerkungen und vorgängiger Lebensbeschreibung des Schriftstellers, 1749. 57 Vgl. dazu u. a. Jacopo Grifoli, Q. Horatii Flacci Liber de Arte poetica Iacobi Grifoli Lucinianensis interpretatione explicatus, Florenz 1550 (ND München 1967), S. 93 – Erasmus Schmid, (Praeses), De Dithyrambis. Quaestio in Promotione XXXII. Philosophiae Candidatorum d. 23. Martii Anno 1607, à M. Joachimo Jaschio proposita, S. 252f., in: PINDAROU PERIODOS hoc est PINDARI … OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ISQMIONIKAI. Opera ERASMI SCHMIDII, Wittenberg 1616 (Expl. HAB Wolfenbüttel), T.4, S. 247–255 – Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), 8. Kap. (Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 409) – Donatus, Ars Poetica, 1633, S. 41–45 – Gerhard Johannes Vossius, De Artis Poeticae Natura ac Constitutione Liber, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), S. 68–75 – Daniel Georg Morhof, De Enthusiasmo, Seu Furore Poetico Dissertatio, Lectionibus publ. In Claudiani de Raptu Proserpinae libros, mense Novembris 1661 praemissa, in: Morhof, Dissertationes academicae, Hamburg 1699 (Expl. LB Stuttgart), S. 71–82 – Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, 1679, S. 168ff. – Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 21700, S. 315, 345 (Kap. XV. Von den Oden; zitiert oben auf den ersten Seiten dieser Abhandlung). Mancherlei Belege ließen sich natürlich auch aus den Kommentaren in den Pindar- und Horaz-Ausgaben der Frühen Neuzeit anführen. 58 So auch in den vorangegangenen Auflagen; s. Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd. VI/2, S. 13 und das Variantenverzeichnis in Bd. VI/3, S. 81, das zu dieser Stelle keine Variante der ersten beiden Auflagen vermerkt.
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lung von Sachverhalten und stattdessen nach der das Herz rührenden Bekundung der die dichterische Einbildungskraft bewegenden Affekte verlangt⁵⁹ – einer solchen Dichtungsauffassung bietet sich die Ode mit dem schon in der bisherigen Poetik ihr zugehörigen Merkmal des Enthusiasmus als Paradigma an, an dem jene Dichtungsauffassung besonders eindringlich sich entwickeln und darstellen läßt. Das rückt die Ode und ihre Theorie für geraume Zeit in den Mittelpunkt poetologischer Erörterungen, das läßt die Ode, wie etwa Sulzer dann formuliert, als „höchste Dichtungsart“ (Bd. 3, S. 538) erscheinen, ja macht sie zum Inbegriff des Dichterischen. Dementsprechend blüht in diesen Jahrzehnten eine auf erhabene Gegenstände sich richtende, enthusiastisch bewegte Odendichtung in gereimten und zunehmend auch in ungereimten Strophen; ihre historisch herausragende Erscheinung – später freilich zu sehr nur als Vorläufer weiterer Entwicklungen, zu wenig als Ertrag humanistischer Dichtungstradition gesehen – ist die seit 1747, dem Jahr von Meiers Gottsched-Kritik entstehende, in voller Öffentlichkeit freilich erst 1771 gesammelt hervortretende Odendichtung⁶⁰ Klopstocks, nicht Anlaß erst, wie Viёtor meinte,⁶¹ für die neue Theorie der Ode, sondern Entsprechung zu ihr, Bestätigung für sie und ihre bedeutendste Frucht. Klopstocks Wirkung exemplifiziert die eigentümlich paradoxe Bedeutung, die die Odentheorie und eine ihr entsprechend veränderte Odendichtung im 18. Jahrhundert haben: die aus allgemeineren poetologischen Wandlungen gespeiste Aktivierung eines tradierten Merkmals, des der Ode zugehörigen Enthusiasmus, läßt eine aus der humanistischen Antikerezeption herkommende Gattung zur produktiven Vermittlerin
59 Für diese Entwicklung sei nur als an ein besonders eindringliches Zeugnis erinnert an Klopstocks 1759 im „Nordischen Aufseher“ veröffentlichten Aufsatz „Gedanken über die Natur der Poesie“, worin es heißt: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andere wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt. Wenn man mir einwirft, daß dies eine Definition der höhern Poesie sei; so antworte ich, daß die angenehme Poesie vieles von diesem allen tun müsse, wenn sie nicht den Namen einer versifizierten Prosa verdienen will“ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 992). 60 Zu den 1771 gleichzeitig erschienenen drei Sammlungen (z.T. unautorisiert) und zu den vorausgegangenen Publikationen in Zeitschriften, Almanachen und Einzeldrucken vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abtlg. Addenda III: Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken, Bd. 1, Berlin, New York 1981, S. 65–74 und 81–232. 61 Viёtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 133: „Klopstocks Dichtung stellte die poetische Theorie vor ganz neue Phänomene. Die alten Definitionen und Regeln wollten dazu nicht mehr passen“.
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einer Entwicklung werden, die schließlich von der Tradition humanistisch-rhetorischer Poetik ganz fortführt und bei einer jener Gattung fremden Unmittelbarkeit des subjektiven Gefühlsausdrucks endet, die mit dem Enthusiasmus der Ode in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht gemeint war. An dieser Entwicklung haben zwei Momente besonderen Anteil, die mit der zentralen Rolle des Enthusiasmus in der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so sehr belebten Odentheorie aufs engste zusammenhängen und deren über die Gattung selbst hinausreichende Bedeutung besonders eindringlich bezeugen: diese Momente sind die Mitwirkung der Odentheorie an der nach und nach sich vollziehenden Herausbildung eines umfassenden, lange wirksam gebliebenen Lyrikbegriffs im 18. Jahrhundert und die allmähliche Unterscheidung von Ode und Lied. Wichtige Anregungen zur Ausbildung eines Lyrikbegriffs, der viele Arten von Gedichten umgreift, die Lyrik in einem sich jetzt entwickelnden triadischen Gattungsschema neben Epik und Dramatik treten läßt und damit die in humanistischer und barocker Poetik übliche isolierte Behandlung einzelner, nach Gegenstand, Anlaß oder Form unterschiedener Gedichtarten ablöst, liegen in dem 1746 erschienenen, bald von Gottsched, Johann Adolf Schlegel und Ramler übersetzten Werk „Les Beaux Arts réduits à un même Principe“ von Charles Batteux⁶² und in der kritischen Diskussion⁶³ seiner Thesen. Bei Batteux liest man in Schlegels Übersetzung: „Die lyrische Poesie ist ganz den Empfindungen geheiligt“.⁶⁴ Das ist freilich vorerst noch nicht ein alle möglichen Gedichtarten umfassender Begriff von Lyrik, sondern knüpft vielmehr, wie die näheren Ausführungen bei Batteux – unter anderem zu verschiedenen Odenarten – zeigen,
62 S. die bibliographischen Angaben zum Werk von Batteux und zu den Übersetzungen Ramlers und Schlegels in Anm. 29 und 58 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. – Gottsched hat keine vollständige Batteux-Übersetzung geliefert, sondern einen Extrakt: Auszug aus des Herrn Batteux ... Schönen Künsten, aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1754 (Expl. StB Berlin, Preuß. Kulturbesitz). Eine weitere Batteux-Übersetzung publizierte Philipp Ernst Bertram: Die schönen Künste auf einen Grundsatz gebracht, aus dem Französischen des Batteux, Gotha 1751 (vgl. Jöcher/Adelung, Bd. 1, 1784, Sp. 1783). 63 S. die Hinweise zur Batteux-Rezeption in Deutschland in den einschlägigen Passagen der eben genannten Abhandlung und in der zugehörigen Anm. 60. Zahlreiche Hinweise zur Auseinandersetzung der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts mit Batteux in der materialreichen Arbeit von Walter Serauky, Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850, Münster 1923 (s. dort das Register). 64 S. 205 in der 2. Auflage von 1759; S. 380 in der im Nachdruck vorliegenden 3. Auflage von 1770. Der französische Text lautet: „la Poёsie lyrique est toute consacré aux sentimens“ (ND der Ausgabe von 1773, S. 323).
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an den engeren Begriff lyrischer Dichtung aus der antiken Überlieferung, den man in der humanistischen und barocken Poetik in der Lehre von den Oden oder Liedern aufgegriffen hatte, an und bleibt insofern von dem weniger genau gefaßten älteren Begriff der Ode geprägt. Das für die weitere Diskussion Wichtige aber ist, daß die zwar noch keineswegs alle später hinzugerechneten Arten umfassende lyrische Dichtung von Batteux im Rahmen seines Versuchs einer systematischen Begründung von Dichtungsarten wie auch der übrigen Künste neben epische und dramatische Dichtung gestellt wird und daß sie, in Anknüpfung auch hier offenkundig an das zur Ode gehörende Merkmal des Enthusiasmus, als „den Empfindungen geheiligt“ verstanden wird, wobei Batteux freilich, so die lyrische Dichtung gleich den anderen Gattungen dem Prinzip der Nachahmung zuordnend, noch – in der Tradition älterer, rhetorisch fundierter Auffassungen – mit der Darstellung nachgeahmter Empfindungen als der Norm rechnet und wahre Empfindungen nur als die Ausnahme gelten läßt.⁶⁵ Dagegen aber wendet sich schon Johann Adolf Schlegel in den kritischen Anmerkun-
65 Wie gewunden Batteux – nicht zum wenigsten aus Ehrfurcht gegenüber den Psalmen, die dann auch in den gegen ihn vorgebrachten Einwänden eine bedeutende Rolle spielen – argumentieren muß, zeigen Sätze wie diese: „Sind die Empfindungen wahr und wirklich, wie sie es beym David waren ... So ist dieß ein Vortheil für den Poeten ... Alsdann schränkt sich die poetische Nachahmung, auf Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang ein ... Wenn die Empfindungen aber nicht wahr und wirklich sind, das heißt, wenn der Dichter sich nicht wirklich in derjenigen Verfassung befindet, welche diejenigen Empfindungen, deren er benöthigt ist, hervorbringt: So muß er solche Empfindungen in sich erwecken, welche den wahren ähnlich sind ...“ (2. Aufl., 1759, S. 208ff.; ND der 3. Aufl. von 1770, S. 383f.; entsprechend im französischen Text). – Angesichts der Beschränkung des Begriffs der lyrischen Poesie und der offenkundigen Schwierigkeit, diese dem Prinzip der Nachahmung unterzuordnen, kann freilich hier so wenig wie in älteren Werken der Poetik, wo sie von der lyrischen Poesie, den Lyrica sprechen, davon die Rede sein, daß, wenn nicht schon viel früher, dann doch endlich bei Batteux jene später so selbstverständlich gewordene Trias der Gattungen als vermeintlicher Naturformen der Dichtung erreicht wäre, die sich doch erst im späten 18. Jahrhundert voll entwickelt und durchsetzt und, was Anteil und Wesen der – erst nach und nach als über die Ode hinausreichende Gattung verstandenen – Lyrik darin betrifft, das paradoxe Ergebnis der von Batteux ausgelösten Diskussion um das Verhältnis der lyrischen Poesie zur Nachahmung darstellt. Das ist neben vielen anderen Forschungsbeiträgen insbesondere auch den – viel zu oft unbesehen rezipierten – poetikgeschichtlichen Untersuchungen von Irene Behrens (Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle 1940) und von Klaus Scherpe (Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, 1968) kritisch vorzuhalten (vgl. demgegenüber die historisch differenzierende Arbeit von Stefan Trappen, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 2001, insbes. S. 123ff. – s. auch SvenAage Jørgensen, Nachahmung der Natur. Verfall und Untergang eines ästhetischen Begriffs, in: Kopenhagener germanistische Studien 1, 1969, S. 198–212).
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gen und ergänzenden Abhandlungen zu seiner Batteux-Übersetzung,⁶⁶ und wo weiterhin von dem zunehmend eingebürgerten Begriff der lyrischen Dichtung oder des lyrischen Gedichts die Rede ist, da wird die keineswegs ewig gültige und allein mögliche, aber für den historischen Wandel der Dichtungsauffassung im 18. Jahrhundert so bezeichnende Erwartung, daß es um den Ausdruck
66 Wie sehr für Schlegel die Ode im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem von Batteux zum umfassenden Prinzip der Dichtung erklärten Begriff der Nachahmung steht, zeigt schon die an Gellert gerichtete Vorrede zur 2. Auflage seiner Übersetzung (1759), wo es u. a. heißt: „Bey der Uebersetzung kam mir seine Methode, die Natur der Ode zu erklären, nur unbeqvem und mühsam vor; bey der Durchsicht erkannte ich sie für falsch und der Ode nachtheilig. Indem er ihre Ehre gegen die Einwürfe, die aus seinem allzueingeschränkten Grundsatze natürlicher Weise herfließen, zu retten sucht, bringt er sie selbst eigenwillig ins Gedränge. Hier fällt zudem die Unzulänglichkeit seines Grundsatzes am sichtbarsten in die Augen. Denn, wer, wenn er auch geneigt sein sollte, das Lehrgedichte dem Systeme aufzuopfern; wer wird wohl die Ode, diese wesentlichste Gattung der Poesie, die ursprünglich unter allen die erste war, gleichfalls Preis geben wollen? Und dazu wird er gezwungen seyn, wenn er die Nachahmung der Natur für den einzigen Grundsatz erkennet“ (S. XII). Diesem kritischen Ansatz gemäß mehren sich gegenüber der 1. Auflage von 1751 die in Fußnoten vorgebrachten Einwände des Übersetzers zu einzelnen Behauptungen und Argumenten von Batteux und werden zum Ausgangspunkt einer in weiteren Fußnoten ausgetragenen Diskussion zwischen Autor und Übersetzer (s. die Nachweise in Anm. 62 der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band). Schlegels Kritik an Batteux, die einen Schwerpunkt in der Frage einer zutreffenden Bestimmung der Ode hat, gipfelt 1770 (innerhalb der jetzt erweiterten Abhandlung des Übersetzers „Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie“ im 2. Band) beispielsweise in Sätzen wie diesen: „Er verläugnet hier die gründliche Sprache der Kritik, die ihm sonst so eigen ist, um die spitzfindige Sprache der Disputierkunst zu reden, die, ob sie sich gleich in die Enge getrieben fühlet, dauernd die Vertheidigung einer fast verlornen Sache nicht aufgeben will. Er sieht sich genöthiget, zu läugnen, daß die Oden oft die Ausdrücke der wirklichen Empfindungen unsers Herzens sind, und machet sie zu einer Reihe nachgemachter Empfindungen. Da er es gleichwohl sich selbst nicht verbergen kann, daß viele vortreffliche Odendichter ihre eignen Empfindungen in ihren Gesängen ausgedrücket haben; so hält er dieß für einen zufälligen Vortheil, der den Poeten, so zu sagen, zu dem Nachahmer seiner selbst macht. Wie viel willkührliche Foderungen, die er alle nicht erweisen kann! Und wie viele Widersprüche und Fehlschlüsse, vor denen so viel angenommene Sätze ihn nicht verwahren können; ja darein sie selbst ihn verwickeln“ (S. 193f.). Anders als Schlegel denkt übrigens noch Gottsched in seinem Batteux-Auszug von 1754, der die Position von Batteux mit einem Hinweis auf Pindar verteidigt: „Pindar ist wohl sonder Streit der größte lyrische Dichter gewesen. Aber wer kann sichs wohl einbilden, daß er bey allen seinen Siegern ... so voll wahrer Bewunderung und Entzückung gewesen, als seine Oden zeigen? ... Was war es also? Nichts, als eine Nachahmung der Empfindungen, eines versammleten Volkes, welches um andrer Ursachen willen, an diesen Siegen Theil nahm. Er stellte sich entzücket, und redete, wie einer, der wirklich den Sieger bewundert hätte. Er ließ sich, was noch mehr ist, gut dafür bezahlen ... Wer sieht hier die Nachahmung nicht?“ (S. 155f.).
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wirklichen, wahren Gefühls gehe, rasch selbstverständlich als Wesensmerkmal gerade der lyrischen Dichtung.⁶⁷ So heißt es in einer für Johann Jakob Engel verfaßten Abhandlung Moses Mendelssohns „Von der lyrischen Poesie“ (1778)⁶⁸: „In keiner Dichtungsart kömmt die Natur der Kunst so nahe, als in der lyrischen. Denn wenn der Dichter wirklich in dem besungenen Gemüthszustande sich befindet, so ist er sich selbst Gegenstand, also causa objectiva und causa efficiens zugleich“ (S. 337). Und Engel seinerseits erklärt 1783 – entschiedener über die bei Mendelssohn noch anklingende Problemlage von Batteux hinausgehend – in seiner Schrift „Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus Deutschen Mustern entwickelt“⁶⁹ vom lyrischen Dichter u. a.: „... der Dichter [will] ... bloss seinem Herzen Luft machen ... sich bloss seiner Empfindungen, so wie sie sich nacheinander in seiner Seele entwickeln werden, entschütten ... der Dichter läuft aus, ohne ... zu wissen, oder sich auch nur vorzusetzen, wo er ankommen will ... Nunmehr wird es uns klar, was wir eigentlich dabei dachten, als wir dem lyrischen Dichter Empfindungen zum Stoff seiner Werke gaben. Jeder Dichter muss mit Empfindung, muss aus der Fülle des Herzens reden; kein
67 Wie sehr dieser Vorgang in umfassende Veränderungen der Künste und ihrer zeitgenössischen Interpretation eingebettet ist, zeigen sehr deutlich auch mancherlei Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten zur Theorie und Geschichte der Musik im 18. Jahrhundert, die den Weg vom Affekt zur Empfindung, von der Nachahmung zum Ausdruck erörtern und dabei immer wieder auch die Verbindungen zur literarischen Theorie der Zeit sichtbar werden lassen: vgl. u. a. Carl Dahlhaus, Musica Poetica und musikalische Poesie, in: Archiv f. Musikwiss. 23, 1966, S. 110–124 – Ders., Einleitung, S. 15f., 56ff., in: Die Musik des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Carl Dahlhaus, Laaber 1985 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 5) S. 1–68 – Ders., Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 28ff. – Hans Heinrich Eggebrecht, Das Ausdrucks-Prinzip im musikalischen Sturm und Drang, in: DVjs 29, 1955, S. 323–349 – Arno Forchert, Vom „Ausdruck der Empfindung“ in der Musik, in: Das musikalische Kunstwerk. Geschichte. Ästhetik. Theorie. Festschr. Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, Laaber 1988, S. 39–50 – Stefan Hübsch, Vom Affekt zum Gefühl, S. 145ff., in: Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, hrsg. v. Stefan Hübsch und Dominic Kaegi, Heidelberg 1999, S. 137–150 – Ulrike Küster, Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang von Dichtung und Musik im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1994 – John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven, London 1896. 68 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 3/1, Schriften zur Philosophie und Ästhetik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 (ND der Ausg. Berlin 1932), S. 335–341; zur Datierung s. S. LXf. 69 Zitiert nach: Johann Jakob Engel, Schriften, Bd. 11, Berlin 1806 (ND Frankfurt a.M. 1971); darin S. 443–532: Achtes Hauptstück. Von dem lyrischen Gedicht. – Die daraus zitierten Sätze knüpfen an Ramlers Ode „Auf ein Geschütz“ an und begründen die Wahl dieses Beispiels mit dem weiter unten zitierten Hinweis (S. 444) auf den besonderen Rang der Ode unter den lyrischen Dichtungsarten.
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andrer Ton ist wahrhaft dichterisch; aber nicht jeder Dichter macht die Rührung der Seele zum Hauptwerk ... Hingegen bei dem lyrischen Dichter ist die Rührung Alles; er will nur sein volles Herz entschütten: und so ist sein Werk, wenigstens dem Ansehen nach, weiter nichts als Ausdruck des Zustandes, worein seine Seele durch gewisse Ereignisse, gewisse Ideen versetzt ist ...“ (S. 450–453). Das sind bereits Aussagen über lyrische Dichtung, wie sie dann im 19. Jahrhundert geläufig geworden und weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus – man denke nur an Staigers „Grundbegriffe der Poetik“ und ihre Wirkung – allen Entwicklungen der Moderne zum Trotz allzu selbstverständlich geblieben sind. Aber es ist nicht zu übersehen, daß der auf weitere Entwicklungen vorausweisende Begriff lyrischer Dichtung bei Engel und Mendelssohn in entscheidender Weise von der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts so gesteigerten Theorie der Ode und dem bei ihr ins Zentrum gerückten Merkmal des Enthusiasmus geprägt ist. So erscheinen bei Mendelssohn, der als Arten lyrischer Dichtung Ode, Lied und Elegie unterscheidet, Elemente der Odentheorie wie Abschweifungen, Kürze, Sprünge, plötzliche Übergänge, versteckte Ordnung als allgemeine Merkmale der lyrischen Dichtung.⁷⁰ Und Engel erklärt: „Man hat der lyrischen Dichtungsarten mehrere: Ode, Lied, Elegie. Den Odendichter hält man für den vornehmsten, für den am meisten lyrischen Dichter; eben in der Ode also wird das Wesen dieser Dichtungsart am sichtbarsten hervorstechen müssen“ (S. 444). Wenn die Ode als Dichtungsart der gesteigerten Empfindung Paradigma nicht nur einer neuen Dichtungsauffassung, sondern eigentliche Verwirklichung eines sich allmählich herausbildenden Begriffs lyrischer Dichtung wird, wenn dieser Begriff in Entsprechung zu den auch metrisch fundierten Unterschieden antiker Dichtungsarten auf länger noch beispielsweise die Elegie nur gelegentlich umfaßt,⁷¹ dann ist deutlich, daß gerade die auf Rezeption und Deutung der anti-
70 Von der lyrischen Poesie, S. 337: „Die Folge der Begriffe auf einander geschieht nach der Verbindung der Theilnehmung. Bei jedem Fortschritt eine kurze, oder längere, Abschweifung in gleichartige Nebenbegriffe ... Sobald die Haupttheilnehmung nicht mehr lebhaft genug ist in Worte sich zu ergießen; so schließt sich das lyrische Gedicht. Alle Nebenideen ... muß der lyrische Dichter verschweigen. – Daher die Sprünge, die plötzlichen Uebergänge, die versteckte Ordnung ...“. 71 Eine Reihe chronologisch geordneter Belege mag – ohne Anspruch auf erschöpfende Dokumentation – zeigen, wie lange die Elegie noch Gegenstand separater theoretischer Erörterung bleibt, ohne Zusammenhang mit der „lyrischen Dichtung“ oder in ausdrücklicher Abgrenzung gegen sie: Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 419–435: Von Oden, oder Liedern; S. 657–668: Von Elegien, das ist, Klagliedern und verliebten Gedichten – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1 (1767), S. 290–301: 14. Kap. Von der Elegie (ihre Theorie lange schwankend und zweifelhaft geblieben; ist „der poetische Ausdruck unsrer vermischten Empfindungen“); S. 302–393: 15. Kap. Von der lyrischen Poesie
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ken lyrischen Dichtung und ihrer Hauptmuster zurückgehenden Züge der seit dem Humanismus entwickelten Odentheorie die Anhaltspunkte für die Heraus-
(„poetischer Ausdruck einer reinen Hauptempfindung“) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 378–380: § 13. Von der Elegie (Unterscheidung von Elegie und Ode wie bei Schmid) – Johann Justus Herwig, Grundriß der eleganten Litteratur, Würzburg 1774 (Expl. StB München), S. 410–417: 3. Von der lyrischen Poesie; S. 417: 6. Von der Elegie – Christian Friedrich Daniel Schubart, Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften für Unstudierte, Leipzig 1777 (Expl. UB Köln), S. 54–64: Von der lyrischen Dichtkunst; S. 76–77: Von der Elegie (behandelt zwischen Satire und Roman) – Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791 (Expl. UB Köln), S. 175–202: 6. Von der Elegie; S. 202–263: 7. Von der Lyrischen Poesie (S. 203: Wir machen drey Hauptklassen: Ode, Lied und Romanze) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste, 4Berlin, Stettin 1817, S. 165–172: VI. Die Elegie; S. 172–195: VII. Die lyrische Poesie (so schon seit der 1. Auflage von 1783; die getrennten Kapitel aber auch noch beibehalten in der von M. Pinder bearbeiteten 5. Auflage von 1836). Die anhaltende Nachwirkung der lange Zeit vorherrschenden Unterscheidung von Elegie und lyrischer Dichtung zeigt sich noch in Schellings Vorlesungen über „Philosophie der Kunst“ (1802/05 gehalten, 1859 aus dem Nachlaß gedruckt), in denen die Elegie zusammen mit Idylle, Lehrgedicht und Satire im Rahmen eines weitgefaßten Begriffs epischer Poesie behandelt wird (ND der Ausgabe von 1859: Darmstadt 1966, S. 302), oder bei Friedrich Schlegel, in dessen Schriften sich unterschiedliche Aussagen finden, die die allgemeinen Wandlungen der Lyriktheorie spiegeln: vgl. z. B. Kritische Ausgabe, Bd. 11, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn 1958, S. 60f. (Geschichte der europäischen Literatur, 1803/04): Betonung der antiken Unterscheidung zwischen „den Jamben und der Elegie und den lyrischen Gedichten“); Bd. 17 (Fragmente zur Poesie und Literatur), 1991, S. 93 (XVI, 1807, I. Nr. 289): Elegie „ein mittleres zwischen dem lyrischen Gedicht und dem epischen“; S. 459 (XXIII, 1823, Nr. 1): „Die lyrische Gattung besteht aus drey Arten – Elegie, Lied und Chor“). – Gegenüber den zahlreichen Beispielen für die langwährende Unterscheidung von Elegie und lyrischer Dichtung bleiben die oben angeführten Stellen bei Mendelssohn (1778) und Engel (1783), die von Ode, Lied, Elegie als den Arten der (freilich von der Ode dominierten) lyrischen Dichtung sprechen, vorerst noch vereinzelte frühe Stimmen, denen sich erst nach und nach weitere hinzugesellen: vgl. z. B. Karl Heinrich Heydenreich, System der Aesthetik, Bd. 1, Leipzig 1790 (Expl. UB Marburg), der Ode, Lied, Elegie als Arten, die „vorzüglich auf die Leidenschaft, das Gefühl gerichtet“ sind, zusammenstellt (S. 298), in einem langen Exkurs (S. 317–352) aber sein Ungenügen an der bisherigen Theorie bekundet und diese für die Zuordnung der Elegie als besonders problematisch ansieht (S. 321ff.) – Karl Wilhelm Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften, Görlitz 1798 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 40–45: Lyrische Gedichte (S. 44: „Zu den lyrischen Gedichten gehören auch die Elegien“) – August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. Edgar Lohner, Bd. 5, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 1. Teil (1809), S. 40: „In der lyrischen Poesie finden nur Grade und Abstufungen statt, zwischen dem Liede, der Ode und der Elegie aber keine eigentliche Entgegensetzung“; s. auch A.W. Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, Vorlesungen über Ästhetik I, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1989, S. 69–83: Lyrische Dichtungsart (in: Vorlesungen über philosophische Kunstlehre, 1798–1799) – Aloys Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik,
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bildung eines Lyrikbegriffs liefern, der sich dann von dieser Herkunft immer entschiedener emanzipiert. Das wird umso klarer, wenn man beachtet, daß es sich jetzt nicht mehr um eine nicht näher differenzierte Theorie der Oden oder Lieder wie im 17. und frühen 18. Jahrhundert handelt, sondern daß sich – im engsten Zusammenhang mit der Konzentrierung der Odentheorie auf das Bestimmungsmerkmal des Enthusiasmus und mit der korrespondierenden Begründung eines Begriffs von lyrischer Dichtung neben epischer und dramatischer – teils unter dem Namen noch der Odentheorie, teils unter dem der lyrischen Dichtung eine zunehmend entschiedene Sonderung von Ode (auch eigentliche Ode zunächst oft genannt) und Lied (dazu z.T. auch der Hymne als besonderer Art der Ode)⁷² vollzieht. Ansätze dazu liegen, wie weiter oben schon angedeutet, in den Hinweisen der humanistischen und barocken Poetik zu den verschiedenartigen stofflichen und stilistischen Möglichkeiten der Oden oder Lieder. Eine genauere Sonderung und Beschreibung aber brauchte man in der Theorie nicht und kannte man in der Praxis kaum, solange die überlieferte Lehre vom ἐnqousiasmὸϛ keine dominierende Rolle in der Theorie spielte und solange die versuchte Erneuerung und Fortführung der antiken Ode sich in gereimten Liedstrophen vollzog, die man lediglich durch Abwechslung verschiedenartiger Verse der Eigenart antiker Odenstrophen ähnlich zu machen versuchen konnte.⁷³ Je mehr aber seit Mitte
Heidelberg 1809 (Expl. LB Speyer), S. 222 (vier Arten der lyrischen Poesie: Hymnus, Ode, Lied, Elegie) – Johann August Eberhard, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen, 4. Teil, 2 Halle 1820 (11803–1805) (Expl. UB Marburg), S. 259–268: Arten des lyrischen Gedichts. Ode, Hymne. Psalm. Lied. Elegie. Romanze – Philipp Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2, Wien 1824 (Expl. Deutsches Institut, Universität Mainz), S. 7: Gliederung der „lyrischen Dichtkunst“ in „rein lyrische Poesie“ und „elegische Poesie“ – Joseph Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, oder Theorie und Geschichte der schönen Literatur, Bd. 1, Mainz 1827 (Expl. UB Freiburg), S. 117–138: Lyrische Poesie (S. 123: drei Dichtungsarten der lyrischen Poesie: Lied, Ode, Elegie; S. 127 Kritik an einer „oft einseitig und nach zufälligen Merkmalen“ verfahrenden Wesensbestimmung der Elegie). Auch wenn in diesen Beispielen die Einordnung der Elegie in die lyrische Poesie längst vollzogen und geläufig geworden ist, klingt doch in manchen Bemerkungen noch deren ursprüngliche Schwierigkeit an, die sich auch noch in der Ästhetik Hegels und Vischers in der Einordnung der Elegie in die gewachsene Zahl lyrischer Arten spiegelt, welche der selbstverständlich gewordene Begriff der Lyrik nunmehr umfassen soll. 72 Kennzeichnend für diese – um wenigstens zwei Beispiele zu nennen – die ihr geltenden Paragraphen im Kapitel über „Die lyrische Poesie“ bei Eschenburg und der Artikel „Hymne“ bei Sulzer (Bd. 2, S.659ff.). 73 Vgl. u. a. Martin Rinckart, Summarischer Discurs vnd Durch-Gang / Von Teutschen Versen / Fuß-Tritten vnd vornehmsten Reim-Arten. Oder Teutsche Prosodia, Leipzig 1645 (Expl. StuUB Göttingen), S. 46f. (... so ist auch gar sehr wol erlaubet vnd zugelassen / daß man in einer eige-
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des 18. Jahrhunderts der Enthusiasmus zum bestimmenden Merkmal der Ode wird, je mehr damit andere traditionelle Merkmale wie Sprünge und Digressionen, die lyrische Unordnung eine verstärkte, konkrete Bedeutung gewinnen und immer stärker in der poetischen Praxis geübt werden, je mehr höchste Gegenstände und gesteigerter Stil als notwendige Züge einer im Enthusiasmus begründeten lyrischen Dichtung gelten, desto mehr muß doch auch bewußt werden, daß es auch sehr andersartige Erscheinungen lyrischer Dichtung, daß es mindestens Grade der sie beherrschenden Empfindung gibt. Das wird verstärkt durch den fortgeschrittenen Stand der Rezeption der Antike, der im Bewußtsein des Abstands bisherige Formen ihrer imitatio nicht mehr ohne weiteres genügen läßt,⁷⁴ und durch die allmählich sich entwickelnde Fähigkeit zur Nachbildung der antiken Versformen und Odenstrophen. Noch 1723 zum Beispiel hatte Johann Samuel Wahll in seiner „Gründlichen Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie“⁷⁵ erklärt: „Die Genera der Lateiner nachzumachen
ner Erfindung / entweder nach dem Exempel der Griechischen / oder Lateinischen / oder der Vnserigen Beliebung / alte oder newe Reim-Arten nehme / mache vnd gebrauche / darinnen nicht nur zweyerley / sondern wol alle viererley Arten: Jamben; Trochen; Anapaesten; vnd Dactylen zu befinden) – Kaldenbach, Poetice Germanica, 1674, S. 23f. (Cap. V. De Carmine & Strophis) – Männling, Der Europaeische Helicon, 1704, S. 148 (Die Zwanzigste Art. Von Oden) – Woken, Anleitung zur Teutschen Poesie, 1715, S. 51 (12. Kap. Von Arien und Liedern) – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 41751, S. 427 (Von Oden, oder Liedern). Bezeichnend für den mit der Nachbildung antiker Versmaße sich vollziehenden Wandel ist schließlich das kritische Urteil in Sulzers Artikel „Lyrische Versarten“ über die herkömmlichen Vers- und Strophenformen in deutscher lyrischer Dichtung: „Vor noch nicht langer Zeit hatten die deutschen lyrischen Dichter sehr eingeschränkte Begriffe von den lyrischen Versarten in ihrer Sprache. Fast alles war durch das ganze lyrische Gedicht entweder in Jamben, oder Trochäen gesetzt; und die größte Mannigfaltigkeit suchte man darin, daß der jambische, oder trochäische Vers bald länger, bald kürzer gemacht wurde. Um das Jahr 1742 fingen Pyra und Lange an, einige alte lateinische, oder vielmehr griechische Versarten in der deutschen Sprache zu versuchen: die Sache fand bald Beyfall ...“ (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3, 21793, S. 305; es folgt ein Hinweis auf Ramler und vor allem auf Klopstock). 74 Als dafür symptomatisch sei hier nur erinnert an die „Querelle des anciens et des modernes“ und ihr Fortwirken im 18. Jahrhundert; s. dazu die Hinweise in Anm. 94 zu der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. 75 S. 68; der Verfasser fährt u. a. fort: „Warum solte sich auch die galante teutsche Sprache von einer andern so fesseln lassen. Thut man also am besten, wenn man mit bißher angeführten Generibus zufrieden ist, oder nach deren Beschaffenheit neue erfindet“ (S. 69). – Auch wenn Morhof von der Möglichkeit antiker Metren in deutscher Sprache meint: „... will ich mich verpflichten / daß ich die meisten davon im Teutschen so nachmachen will / daß sie nicht unlieblich seyn sollen ... Wer es nur versuchen will / und die Worte und Reime zu seinem Willen hat / dem wird es nicht fehlen / und wundert mich sehr / daß da man so viele Neuerungen gemacht / auch hierauff nicht mehr befliessen gewesen ist“ (Unterricht von der Teutschen
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gehet nicht wohl an“. 1746 wendet sich Samuel Gotthold Lange in der Vorrede seiner Psalmennachdichtung⁷⁶ gegen die in der älteren deutschen Odentheorie obligate Forderung nach Vermeidung des Enjambements,⁷⁷ bleibt aber noch mit Rücksicht auf das Publikum beim Reim. Im Jahr darauf erklärt Georg Friedrich Meier in der Vorrede zu Langes „Horatzischen Oden“,⁷⁸ daß wichtiger als der Reim die Bemühung um Bereicherung der deutschen Silbenmaße sei (S. 11) und
Sprache und Poesie, 21700, S. 303), ist die Skepsis gegen Möglichkeit und Sinn solcher Nachahmung nicht nur im 17. Jahrhundert verbreitet, sondern bleibt auch noch über Wahll hinaus im 18. Jahrhundert für längere Zeit wirksam: vgl. u. a. Schottel, Teutsche Vers- oder ReimKunst, 1645, S. 215 – Kaldenbach, Poetice Germanica, 1674, S. 26f. – Omeis, Gründliche Anleitung, 1704, S. 84 („Die Sapphische und Phalaecische Art ... etwan ausgenommen / so achte ich die übrige vor unnöthige Schul-Grillen“) – Köhler, Deutliche und gründliche Einleitung, 1734, S. 108 – Heinrich Braun, Anleitung zur deutschen Dicht- und Versekunst, München 1761 (Expl. StB München), S. 142–152: VIIII. Hauptstück. Von den aus dem Lateinischen und Griechischen entlehnten Versarten (zustimmend zwar zum Gebrauch des Hexameters, des Distichons und des Sapphicums, skeptisch jedoch S. 150f. gegen weitere: „Von den übrigen, die noch hin und wieder (wiewohl gar selten) in den Poeten vorkommen, könnte man sich vieleicht nur noch die alkaischen und die asclepiadischen Verse merken“) – zur weiteren Diskussion im 18. und 19. Jahrhundert: Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen. In Quellenschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit kommentierter Bibliographie, hrsg. v. HansHeinrich Hellmuth u. Joachim Schröder, München 1976. 76 Oden Davids oder Poetische Uebersetzung der Psalmen, Bl. )( )(3r: „Ich weiß auch nicht, mit welchem Ansehen man vertheidigen wolle, daß der Verstand mit jeder Zeile voll seyn müsse, oder daß der Punct mit der dritten Zeile den Satz schliessen müsse. Bey mir wenigstens sind diese Regeln von keinem Gewichte, und die Gründe, mit denen sie unterstüzt werden, sind mir bis jetzo noch gantz unbekant“; Bl. )( )(2rf.: „Meine Uebersetzung ist in Reimen verfasset, oder vielmehr eingefasset. Ich habe sie diesesmahl nicht weglassen können, ich möchte in gewissen Verstande die Worte gebrauchen: ihr könnets jezt noch nicht dulden. Die wenigsten würden Geschmack an meiner Arbeit finden, wann sie sich mit einmal zu viel angewöhnen müßten. Ich werde zu frieden seyn, wann einige andere Neuerungen durchgehen“. 77 Zu dieser Forderung s. oben Anm. 31. – Zu Langes Kritik an dieser Forderung s. auch seine anonyme Abhandlung „Die Lehre von der Ode“, S. 108f. (Der Gesellige, 155. St., 1749). Weitere Belege für solche Kritik neben und nach Lange, z.T. ausdrücklich verknüpft mit zunehmender Unterscheidung von Ode und Lied oder mit einer Hervorhebung der Wirkung des Enjambements in antiken Oden, u. a. bei: G.F. Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747), S. 243f., 262ff. – Klopstock, Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1755; Ausgewählte Werke, hrsg. v. K.A. Schleiden, S. 1046) – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie, T.1 (1767), S. 308 – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 374 – Gottfried August Bürger, Lehrbuch der Ästhetik, hrsg. v. Karl v. Reinhard, Berlin 1825 (Expl. UB Mainz), T.2, S. 251f. (aus Vorlesungen zwischen 1784 und 1794) – W.F. Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 246f. 78 S.G. Lange, Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747, S. 3–21.
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daß der Reim in „Gedichten, wo der Schwung der Gedanken nicht kühn seyn darf, wo man nicht die höchsten poetischen Schönheiten anbringen darf, wo die angenehme Verwirrung und mannigfaltige Abwechselung der Gedanken nicht so groß seyn darf“, noch eher geduldet werden könne, „als in andern, die wie z.E. eine pindarische oder horatzische Ode beschaffen seyn müssen“ (S. 17f.).⁷⁹ Lange selbst gibt in diesem Band noch unvollkommene Nachbildungen antiker Oden, verzichtet nicht überall auf den Reim und erklärt sich auch noch 1752 in der Vorrede seiner Horaz-Nachdichtungen einschränkend über die Möglichkeit einer Nachbildung antiker Metren.⁸⁰ Doch gibt seit 1747 vor allem Klopstock in immer wachsendem Maße das unübersehbare Beispiel einer konsequent in antiken Metren und entsprechenden eigenen Erfindungen verwirklichten lyrischen Dichtung. Und so spricht schließlich, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, auch die Odentheorie immer selbstverständlicher von der Möglichkeit einer Verwendung antiker Strophenformen,⁸¹ die freilich erst
79 Die über viele Jahrzehnte sich erstreckende Diskussion über den Reim reicht – um wenigstens einige charakteristische Punkte zu markieren – von der Skepsis Morhofs, der reimlose Verse für „unnöthige Arbeit“ (S. 276) hält und die „metra und pedes“ der Griechen und Lateiner für schwieriger als deutsche Reime (S. 279), oder Hallbauers Hervorhebung der „sonderbaren Lieblichkeit“ und „Anmuth“ der Reime über die früh einsetzende mannigfache Polemik Bodmers und Breitingers gegen den Reim und seine angebliche besondere Anmut bis hin zu Sulzer, der den so lange umstrittenen Reim noch „als eine Deke, die man vor die Schwäche und Fehler des Verses zieht, als ein Hülfsmittel des Gedächtnisses, als ein körperliches Mittel, träge Ohren zu reizen, gelten lassen“ will, ihn aber zugleich „für überflüßig und gothisch“ erklärt: Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (21700), S. 273–276: 3.T., 7. Kap. Von den Reimen /ob sie nothwendig sind in der gemeinen Poesie; S. 277–285: 8. Kap. Vertheidigung der Reime – Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie (Jena 31736; Expl. UuLB Jena), S. 752 – Bodmer/Breitinger, Die Discourse der Mahlern, T.II (1722), S. 49ff.; T.IV (1723), S. 5f. – Johann Jakob Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 2, Zürich 1740 (ND Stuttgart 1966), S. 460 – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.4 (21794), S. 82. S. im übrigen auch die materialreiche, aber in ihrer poetikgeschichtlichen Perspektive begrenzte Arbeit von Claus Schuppenhauer, Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bonn 1970. 80 Des Quintus Horatius Flaccus Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch poetisch übersetzt, Bl. a6v ff. 81 Vgl. z. B. Franz Seraph. Haase, Kurzgefaßter und ausführlicher Innbegriff der Kenntnisse und Lehrsätze zur Einsicht und Verfassung aller nothwendigern Gattungen der Gedichte, T.1, München 1778 (Expl. UB Köln), S. 61f. – Engel, Theorie der Dichtungsarten (11783), S. 496ff. (u. a. S. 499f.: „Ferner liebt der Odendichter die vollern, tönendern, prächtigern Sylbenmasse ... auch die aus mancherlei Füssen zusammengesetzten ... Der Liederdichter liebt dagegen die leichtern, fließendern, kürzern, bestimmtern Sylbenmasse, die aus lauter gleichförmigen Füssen, Jamben, Trochäen, Daktylen bestehen“) – Bürger, Lehrbuch der Ästhetik (Vorlesungen 1784/94), Bd. 2, S. 252f. (nahezu wörtlich nach Engel) – Eschenburg, Entwurf einer Theorie
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späterhin, im Lauf des 19. Jahrhunderts zur weithin maßgeblichen metrischen Form der Ode werden.⁸² Was durch den Prozeß der Aneignung antiker Versmaße und Strophenformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Odendichtung möglich wird, das steht der antiken Odendichtung gewiß näher, ist gewiß eine angemessenere imitatio dieses Musters als die von der bisherigen Odentheorie gemeinten Gedichte in deutscher Sprache. Aber das ist doch erst im Gang eines längeren Rezeptionsprozesses möglich gewesen, und das Ergebnis, die Odendichtung zumal Klopstocks oder Hölderlins ist – nicht zum wenigsten deshalb, weil die ihr entsprechende Odentheorie von der ins Zentrum gerückten Vorstellung des dichterischen Enthusiasmus bestimmt ist – so sehr von der betonten Bindung an das Erhabene geprägt und damit von der Vielfalt antiker Odendichtung abgehoben, daß sie auch damit Anlaß zur Sonderung der lyrischen Arten gibt, die freilich auch erst hier möglich wie nötig wird und deren Ertrag für die Ode nicht etwa die endliche Wiedergewinnung eines vermeintlich genau faßbaren antiken Odenbegriffs, sondern die endgültige Ausbildung eines neuzeitlichen und gegen spätere Um- und Abwertung keineswegs gesicherten ist. Analog zu jener zunehmenden Verknüpfung der Ode mit dem Erhabenen und den antiken Metren setzt sich im Lauf der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die
und Literatur der schönen Wissenschaften (21789), S. 63 („Keine Sprache ist zur Nachahmung griechischer und römischer Sylbenmaaße so bequem, als unsre deutsche; und daher hat sie sich zugleich, bei dieser Nachahmung, der Fesseln des Reims mit dem glücklichsten Erfolg entledigt. Dieß ist besonders der Fall in größern epischen Gedichten ... in der höhern Ode, die durch das lyrische Sylbenmaaß der Alten einen freiern Schwung, einen edlern Gang und Ausdruck erhält; und im versifizirten Schauspiel“) – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 207 („Die Deutschen bedienten sich ehemalen nur der Jambischen und Trogäischen Versarten zur Ode; Klopstock und Ramler aber, haben, mit viel Glück, die Horazischen Odensylbenmaase nachgeahmt“) – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.3 (21793), S. 539f. – A. Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik (1809), S. 240 („Die rhythmischen Formen für die Ode entlehnt der Dichter von den Alten, oder er bedient sich des Reims“). 82 Vgl. z. B. J.A. Eberhard, Handbuch der Aesthetik, T.4 (21820), S. 260ff. – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 74, 76 („Die verschiedenen Arten der Versmaße, in welchen Oden geschrieben werden können, sind so zahlreich ... daß, sie nur einiger Maßen erschöpfend anzugeben, nicht möglich ist. Die vorzüglichsten, deren sich die deutschen Dichter bisher bedienten, sind den alten griechischen und römischen nachgebildet“) – Ignaz Jeitteles, Aesthetisches Lexikon, Wien 1839 (ND Hildesheim, New York 1978), T.2, S. 141 – F.Th. Vischer, Aesthetik, 3.T. (1857), S. 1349 („kunstreiche Strophen“ als eines der Merkmale der Ode) – rückblickend auf eine schon vergangene Blütezeit der Ode in antiken Metren: Tony Kellen, Die Dichtkunst, Essen 1911, S. 366: „Meist wurden antike Strophen beibehalten, doch gibt es auch vorzügliche gereimte Oden. In neuester Zeit ist dieser Zweig der lyrischen Poesie fast ganz vernachässigt worden“ (s. auch S. 364).
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Unterscheidung von Ode und Lied durch,⁸³ deren Ergebnis in den 80er Jahren in einer eingangs schon einmal zitierten repräsentativen Formulierung Eschenburgs lautet: „Vornehmlich aber lassen sich zwei Hauptgattungen lyrischer Gedichte absondern, die sich durch Inhalt und Vortrag merklich unterscheiden; nämlich, die eigentliche Ode, und das Lied. Jene hat erhabnere Gegenstände, stärkre Empfindungen, höhern Schwung der Gedanken und des Ausdrucks; dieses wird gewöhnlich durch leichtere und sanftere Gefühle veranlasst, und hat daher auch einen leichtern gemäßigtern Ton“ (S. 146). Ausschlaggebend für die Unterscheidung ist entsprechend dem zuvor schon in anderer Hinsicht Beobachteten das verschiedene Maß der Empfindung, dem sich die Gegenstände und der Ausdruck zuordnen. Systematische Grundlage ist dabei noch die Tradition der Rhetorik und der von ihr geprägten humanistischen Poetik mit ihrem Verfahren der Gattungsbestimmung durch inventio, dispositio und elocutio, mit ihrer Lehre von den genera dicendi und der durch das aptum geregelten Zuordnung von Gegenstand und Stil. Die führende Stellung hat dabei, wie sich schon in anderem Zusammenhang zeigte, die auf das Erhabene gerichtete Ode,⁸⁴ und
83 Als ausgewählte Belege seien genannt: Johann Peter Uz, Sämtliche Poetische Werke, hrsg. v. August Sauer, Stuttgart 1890 (ND Darmstadt 1964), S. 5 (Vorrede des ersten Herausgebers [i.e. Gleim] der lyrischen Gedichte 1749: „höhere Ode“; Lieder, „welche sänftere Empfindungen nachahmen“) – Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, 3.T. (1757), S. XVff. – Chr. H. Schmid, Theorie der Poesie, T.1 (1767), S. 301ff. („Aus jenen Graden des Affects entstehen die mancherley Gattungen der lyrischen Poesie“) – [Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2 (1772), S. 374ff. (nach Chr. H. Schmid) – J.J. Herwig, Grundriß der eleganten Litteratur (1774), S. 411ff. (nach Chr. H. Schmid) – Haase, Kurtzgefaßter und ausführlicher Innbegriff (1778), u. a. S. 58 („Die Ode ist der geistvolle melodische Ausdruck einer heftig gereizten Empfindung“), S. 60 („Das Lied erheischet eben keine Hohheit oder Stärke der Gedanken: hingegen muß es einen sanften, feinen, gefälligen, anmuthigen, und gesellschaftlichen Charakter besitzen“) – Engel, Theorie der Dichtungsarten (11783), S. 444, 497ff. – Bürger, Lehrbuch der Ästhetik (Vorlesungen 1784/94), Bd. 2, S. 251ff. (weitgehend nach Engel) – Heydenreich, System der Aesthetik, Bd. 1 (1790), S. 298ff., 317ff. – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 202ff. – Ramler, Kurzgefaßte Einleitung in die schönen Künste und Wissenschaften (1798), S. 40ff. (ausdrückliche Unterscheidung auch nach der Höhe des Stils). Als Belege aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen sich z.T. schon über die selbstverständlich gewordene Unterscheidung von Ode und Lied hinaus eine Ausweitung des Begriffs der lyrischen Poesie abzeichnet, der zunehmend weitere Arten einzubeziehen hat: J.A. Eberhard, Handbuch der Aesthetik, T.4 (1820), S. 259ff. – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 73ff. – Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, Bd. 1 (1827), S. 123 – Jeitteles, Aesthetisches Lexikon (1839), T.2, S. 22ff. (Lied), S. 32ff. (Lyrische Poesie), S. 139ff. (Ode). 84 S. auch dazu die in der vorigen Anmerkung genannten Belege, in denen die vorerst noch führende Rolle der Ode nicht nur an den unterscheidenden Bestimmungen von Ode und Lied sichtbar wird, sondern zumeist auch schon an der Reihenfolge ihre Behandlung.
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was Eschenburg in späteren Paragraphen zum Lied und seinen Inhalten sagt, zeigt, daß es hier noch stärker geselligen Charakter und noch sehr viel weniger Anteil am Begriff von Lyrik als Ausdruck der Empfindung des Dichters hat: „... die Gegenstände, welche sie veranlassen, sind minder erhaben, und von minder ausgebreitetem Einfluß. Sanfte und erfreuende Religionsempfindung, Freude über den Anblick der Natur, das Gefühl der Zärtlichkeit und der Freundschaft, der frohe Genuß des geselligen Lebens, Scherz und Fröhlichkeit, durch diesen Genuß erweckt und belebt, machen den gewöhnlichsten Inhalt des Liedes aus“ (S. 155). Es ist aber die auch hier zu beobachtende eigentümliche Paradoxie, daß das später als ganz unrhetorisch geltende Lied gerade mit den Eigenschaften, mit denen es in einer rhetorisch bestimmten Systematik der Gedichtarten der Ode untergeordnet ist, nach und nach im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert die Ode aus ihrer Rolle als Inbegriff lyrischer Dichtung verdrängen kann.⁸⁵
85 Als Beispiele für die nach und nach sich vollziehenden Veränderungen in der Charakterisierung und Bewertung des Liedes und im Verhältnis von Ode und Lied seien angeführt: Heydenreich, System der Aesthetik (1790), Bd. 1, S. 343ff. – Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks (1791), S. 245–248: (Charakterisierung des Liedes in fortwährender Abgrenzung gegen die Ode; u. a.: „... weder tiefe Gedanken, noch Worte wichtigen Innhalts, noch kühne Wendungen, noch andere Oden-Schönheiten, hat das Lied nöthig. – Uebrigens muß der Ausdruck des Lieds einfach, ungekünstelt, und, soviel möglich, durch das ganze Lied, sich gleich seyn. Alles muß, in kurzen Sätzen ausgedrückt werden, mit natürlicher und leichter Zusammenordnung der Worte. Die Schilderungen müssen kurz und höchst natürlich seyn. Nichts darf auf Nachdenken und folglich von der Empfindung ableiten; daher auch der eigentliche und figürliche Ausdruck, mit allen Bildern, geläufig und natürlich seyn muß“ (S. 248) – F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 3, S. 113 (Rez. Goethes Werke 1806, in: Heidelbergische Jahrbücher, 1808): „das lyrische Gedicht, das Lied, ist die freieste Äußerung der Poesie“; Bd. 19, S. 268 (Gedanken, 1808/09): „Lied das Höchste der reinen Poesie“ – A. Schreiber, Lehrbuch der Aesthetik (1809), S. 242: „Das Lied ist reiner Ausdruck der Freude, die sich von selbst in Gesang auflößt“ – Ph. Mayer, Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten, Bd. 2 (1824), S. 93: „... die vorzüglichsten Eigenschaften des Liedes: a) Einfachheit der Darstellung ... [Goethe als Beispiel] ... b) Die melodische Weise des Ausdrucks. Hierin liegt das eigentliche Wesen des Liedes und seine Vollkommenheit; man möchte sagen, die Seele desselben“, S. 150f.: „Göthe ist einer der vorzüglichsten lyrischen Dichter aller Zeiten ... So vorzüglich aber auch alles ist, was er im Gebiete der Ode geleistet, so sind es doch seine Lieder vor Allem, die ihm den ersten Rang unter Deutschlands Dichtern auch in dieser Gattung anweisen“ – Hillebrand, Lehrbuch der Literar-Aesthetik, Bd. 1 (1827), S. 123: drei Dichtungsarten: „Man kann dieselben nach ihrem jedesmaligen Grundcharakter näher bezeichnen als Lied, Ode und Elegie“ (die allgemeine Kennzeichnung der lyrischen Poesie, die S. 117 als die „Poesie des Gemüths“ verstanden wird, ist freilich, auch wenn das Lied hier eine deutliche Aufwertung in der Hierarchie der lyrischen Arten erfährt, noch immer von traditionellen Elementen der Odentheorie wie „lyrisch-poetische Begeisterung“, „lyrische Unordnung“, „lyrischer Schwung“ durchzogen, die nur ganz allmählich ihre einst beherrschende Bedeutung verlieren und zunehmend zurücktreten).
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Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen
Für diesen eigenartigen Vorgang sind die Äußerungen Herders zur Lyrik und darin zur Ode besonders aufschlußreich. Von Herder, der oft allzu einfach als der große Anreger und Vertreter einer liedhaften, gefühlsunmittelbaren Lyrikauffassung gilt, gibt es eine Reihe von Schriften und Entwürfen, die über mehrere Jahrzehnte hin die allgemeine Entwicklung der Oden- und Lyriktheorie begleiten und in ihren nicht immer leicht durchschaubaren Begriffen und ambivalenten Urteilen deren Probleme und Antriebe spiegeln.⁸⁶ Herder hat sich in den frühen 60er Jahren in zahlreichen Exzerpten und Entwürfen zu einer eigenen Abhandlung mit der damaligen Diskussion der Ode auseinandergesetzt.⁸⁷ In den Fragmenten „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ hat er 1767 Ramler, Klopstock, Uz, Lange als Nachahmer der Horazischen Ode gewürdigt (SW I, S. 450–469), dabei zustimmend grundlegende Passagen aus Mendelssohns Rezension der Gedichte der Karschin in den „Litteraturbriefen“ von 1764 zitiert (S. 463–465) und unter Anspielung auf die eigenen Pläne eine philosophisch begründete vollständige Theorie der Ode gefordert, für die er als kritisch zu sichtendes Material französische und deutsche theoretische Schriften vor allem des 18. Jahrhunderts nennt. Noch 1795 im 2. Teil der „Terpsichore“ bekundet Herder hohe Schätzung der Ode (SW XXVII, S. 182ff.), der Dichtung des Horaz, zu der er Scaliger zitiert (S. 196f.), der Leistung Klopstocks und der Bedeutung der von ihm durchgesetzten Eindeutschung antiker Metren (S. 172f.). Überall ist für Herder die Ode als das „erstgeborne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst, und der Keim ihres Lebens“ (SW XXXII, S. 62) eine zentrale Erscheinung lyrischer Dichtung, und es wird, trotz mancher mit der herkömmlichen Identifizierung von Ode und Lied zusammenhängender Unklarheit, doch deutlich, daß unter dem Wort Ode bei Herder zumeist besonders das gemeint ist, was man in diesen Jahrzehnten zunächst als eigentliche Ode zu benennen und dann ausdrücklich vom Lied zu unterscheiden beginnt.⁸⁸ Aber schon in dem frühen Fragment einer Abhandlung über die Ode steht neben deren Schätzung Kritik an unreflektierter Horaz-Nachahmung (SW XXXII, S. 65f.), an kalten Oden, mechanisch befolgten Regeln der Ode (S. 73), am alten Stichwort der Odenunordnung, unter dem man die „ungereimteste Aus-
86 Ausführlicher hierzu die Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“ in diesem Band. – Die Zitate aus Herders Schriften nach: Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) = SW. 87 Vgl. SW XXXII, S. 61–85 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode) sowie die Hinweise in Anm. 22–29 zur eben genannten Abhandlung. 88 Vgl. dazu die letzten Absätze der erwähnten Herder-Abhandlung in diesem Band und die zugehörigen Anm. 129–131 und 134.
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schweifung“ verberge (S. 77). Im „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“ (1773 gedruckt) verschärft sich, obgleich die hohe Schätzung Klopstocks bezeichnenderweise bestehen bleibt (SW V, S. 204), die Kritik Herders an aller Künstlichkeit von Regeln für lyrische Dichtung, an der „gekünstelten Horazischen Manier“ deutscher Dichter und den „neuern sogenannten Philosophischen und Pindarischen Oden der Engländer“ (S. 203), sieht Herder im Kontrast zu den „Kunstsprüngen der Ode“ Sprünge und Würfe als Ausdruck wahrer, unmittelbarer Empfindung in den von der antik-humanistischen Tradition unberührten Liedern alter, ferner, wilder Völker (u. a. S. 196f.), fordert er, die „Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck zu befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden“ (S. 203), verlangt Herder, „daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dörfe“ (S. 204f.), und erhofft: „Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur“ (S. 206). Bei Herder tritt das Lied nicht etwa schon an die Stelle der Ode als Inbegriff lyrischer Dichtung, ja es wird nur teilweise erst von ihr unterschieden. Die Ode steht sogar weithin im Vordergrund von Herders Äußerungen zu lyrischer Dichtung. Aber im Rahmen solcher Schätzung der Ode beginnt Kritik an ihr oder jedenfalls an bestimmten Mustern, an der Verbindlichkeit ihrer Vorschriften und am Sinn einzelner Merkmale. Je mehr Ausdruck der Empfindung, dessen sich der frühe Herder freilich erst in seinen Entwürfen hat vergewissern müssen,⁸⁹ als selbstverständliche Leistung von Lyrik gilt, desto mehr kann sich Zweifel regen, ob denn dies, um dessentwillen sie zunächst gerade im 18. Jahrhundert so wichtig geworden war, die Ode zu leisten vermöchte, von deren Plan noch 1764 Mendelssohn in der Karschin-Rezension bekannt hatte, daß er „kein Werck der Begeisterung, sondern des Nachdenkens und der überlegenden Vernunft“ sei (S. 151), und von deren Unordnung man dementsprechend immer wieder gesagt hatte, daß sie zuletzt doch nur eine scheinbare sei.⁹⁰ Zwar konnte Herder in dem,
89 S. auch dazu die einschlägigen Abschnitte in der Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“. 90 Zu dieser Aussage, die an Boileaus Feststellung (L’Art poétique II,72), der von ihm geforderte beau desordre sei „un effet de l’art“, anknüpft, vgl. u. a. Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, Der Mahler der Sitten, Bd. 1, Zürich 1746 (ND Hildesheim, New York 1972), S. 55 (im Anschluß an eine Teilübersetzung des Boileau): „... er will allein anbefehlen, daß man die Ordnung darinnen durch die Kunst, so wohl als die Kunst selbst verberge“ – (Lange), Die Lehre von der Ode (1749), S. 102f.: „... Zusammensetzung der Gedanken, bey welcher die Ordnung, und wie der Dichter von einem auf das andere komt, nicht vor die Augen gelegt
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was Klopstock aus der Ode gemacht hatte, eine Erfüllung seiner eigenen Erwartungen von der Lyrik als Ausdruck der Empfindung sehen.⁹¹ Doch je mehr solcher Ausdruck der Empfindung natürlich und unmittelbar sein soll, desto mehr muß die Ode mit ihren herkömmlichen Merkmalen, mit ihrer Bindung an überpersönliche erhabene Gegenstände und mit ihrer zunehmenden Prägung durch die genau gemessenen, strengen antiken Metren als eigentlich doch zu künstliche und hohe Form erscheinen. Die Ode bleibt bei Herder so sehr Ausgangspunkt, daß er, wenn er von den „Würfen und Sprüngen“ in den Liedern alter Völker spricht, einen zentralen Begriff der Odentheorie zur Bezeichnung des von ihm gesuchten Andersartigen überträgt und in der Einleitung zum 2. Teil seiner Sammlung „Volkslieder“ (1779) nur gelegentlich durch den Begriff „Weise“ als eines Wesensmerkmals des Liedes ergänzt.⁹² Aber wenn Herder in beginnendem Unbehagen an dem zuweilen als zu künstlich empfundenen Formanspruch der Ode fordert, die „Lyrischen Gesänge ... zu einfältigen ..., von so manchem drückenden Schmuck zu befreien“ (SW V, S. 203), dann bereitet sich in solchen Äußerungen jedenfalls eine Abwendung von der Ode vor, die mit ihrer Art des in der Lehre vom Enthusiasmus begründeten Empfindungsausdrucks eben gerade – im Sinne einer rhetorisch begründeten Poetik – dem hohen Stil zugeordnet ist und ihre Kraft aus dem ihm zugehörigen und zeitweilig in den Mittelpunkt des Dichtungsverständnisses gerückten Redezweck des movere bezieht, der seinerseits auch mit dem Zurücktreten einer Wirkungs- und dem Hervortreten einer Ausdrucksabsicht an Bedeutung als Element der Dichtungslehre verliert. Zugleich kann sich das Lied um seiner rhetorisch verstandenen Einfachheit willen, die es zunächst der Ode untergeordnet sein ließ, den sich verändernden Erwartungen von Lyrik, wie sie sich bei Herder anbahnen, zunehmend als Gefäß anbieten. Wie das gerade auf dem Hintergrund einer von der zunächst immer noch bestimmenden Ode ausgehenden Bemühung um Abgrenzung und Defini-
wird“, „eine scheinbare Unordnung“ – Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (41751), S. 435 (unter Berufung auf Boileau) – Anon., Von der Ode (1763), S. 161ff. 91 Vgl. die schon oben erwähnten Stellen: SW XXVII, S. 172 (Terpsichore, T.2, 1795) im Zusammenhang mit Klopstocks Verdienst um die Eindeutschung der antiken Odenmaße: „Damit hat er nicht nur Griechen und Römer uns näher gebracht ... sondern, was ungleich mehr sagt, Er hat uns in diesen Gedanken- und Empfindungsweisen der Alten für unsre eigensten und reinsten Empfindungen gleichsam eine neue Sprache geschaffen, und damit dem innigsten Gemüth eine Bildung, der Seele eine Selbsterkenntniß, dem Herzen einen Ausdruck, der Sprache eine Zartheit, Fülle und Wohlklang verliehen, von der man vor ihm nicht träumte“ und die Preisung des namentlich nicht einmal genannten Klopstock und seiner kurz zuvor (1771) erschienenen Oden-Sammlung am Ende des Ossian-Briefwechsels (SW V, S. 204). 92 SW XXV, S. 332; s. auch die Anm. 129 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band.
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tion des Liedes möglich wird, zeigt etwa auch ein Brief Moses Mendelssohns an Johann Jakob Engel vom 2.10.1782, worin es heißt: „Ich glaube, das Lied unterscheide sich durch einen eigenthümlichen Charakter von der Ode. Ich glaube, das Lied sei ein Ausbruch der Freude, wenn das Gemüth zur Fröhlichkeit, ohne Bewußtseyn einer bestimmten Veranlassung, zum Singen bestimmt ist; dahingegen bei der Ode diese Veranlassung bestimmt seyn, und sogar aus dem Gange der Ideen sich ergeben muß“.⁹³ Damit das Lied seine bei Herder sich erst allmählich abzeichnende Rolle an Stelle der Ode in der Lyrikauffassung gewinnen kann, muß es freilich auch sich selbst wandeln, muß seine noch bei Eschenburg sichtbare vorwiegend gesellige Funktion zurücktreten, muß es privater werden und sich auch dadurch von der Ode unterscheiden und aus dem rhetorischen System der Gedichtarten lösen, muß seine in der Ablehnung des Enjambements immer festgehaltene Sangbarkeit einen verinnerlichten Sinn erhalten, muß sein Merkmal stilistischer Einfachheit erst als Möglichkeit unmittelbaren Empfindungsausdrucks aktiviert, muß seine Sprache erst entsprechend verwandelt werden. Als exemplarisch für diesen Prozeß, der seine Voraussetzung in der Odentheorie und der aus ihr heraus entwickelten neuen Vorstellung und Erwartung vom Lied hat, kann die Entwicklung der Lyrik des jungen Goethe von den noch vom Rokoko geprägten Anfängen an gelten. Mit ihrem Ertrag ist sie dann nicht ohne Grund Hauptmuster der Lyrik in der Theorie des 19. Jahrhunderts. Das abschließende Ergebnis der hier angedeuteten Veränderungen der Lyriktheorie liegt in besonders prägnanten Formulierungen in Hegels vor allem seit 1820 vorgetragenen, 1835–1837 postum erschienenen „Vorlesungen über die Ästhetik“⁹⁴ und, noch endgültiger, im letzten Band der „Aesthetik“ Friedrich Theodor Vischers (1857)⁹⁵ vor. In Hegels Systematik der lyrischen Arten erscheint nach Hymne und Ode als dritte Stufe, wo die „ganze unendliche Mannigfaltigkeit der lyrischen Stimmung und Reflexion“ sich auseinander breitet, das Lied, „in welchem deshalb auch die Besonderheit der Nationalität und dichterischen Eigentümlichkeit am vollständigsten zum Vorschein kommt“ (S. 1025). Während Hegel vielen Erscheinungen hymnischer Dichtung eine kalt und abstrakt wir-
93 Johann Jakob Engel, Briefwechsel aus den Jahren 1765–1802, hrsg. und kommentiert v. Alexander Košenina, Würzburg 1992, S. 85; auch in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Briefwechsel III, bearb. v. Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 81. 94 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955 (Neuausgabe der 1842 erschienenen 2. Auflage von H.G. Hothos Edition), S. 1022–1029 (II. Die lyrische Poesie: 2,c, Die Arten der eigentlichen Lyrik). 95 3. Teil, 2. Abschnitt, 5.H. Die Dichtkunst, S. 1342–1374 (Die lyrische Dichtung: 2. Die Arten der lyrischen Dichtung).
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kende künstlichere Hitze vorwirft (S. 1024), während er an den Oden des Horaz vieles „sehr kühl und nüchtern und von einer nachahmenden Künstlichkeit“ findet und von Klopstocks Begeisterung meint, sie bleibe „nicht jedesmal echt, sondern wird häufig zu etwas Gemachtem“ (S. 1025), heißt es hingegen vom Lied:⁹⁶ „Da braucht’s nicht viel Inhalt, innere Größe und Hoheit; im Gegenteil, Würde, Adel, Gedankenschwere würden der Lust, sich unmittelbar zu äußern, nur hinderlich werden. Großartige Reflexionen, tiefe Gedanken, erhabene Empfindungen nötigen das Subjekt, aus seiner unmittelbaren Individualität und deren Interesse und Seelenstimmung schlechthin herauszutreten. Diese Unmittelbarkeit der Freude und des Schmerzes, das Partikuläre in ungehemmter Innigkeit soll aber gerade im Liede seinen Ausdruck finden. In seinen Liedern ist sich jedes Volk daher auch am meisten heimisch und behaglich“ (S. 1025f.).⁹⁷ In der etwas anders angeordneten Systematik der lyrischen Arten bei Vischer steht das Lied, in anderer Weise, aber im selben Sinne wie bei Hegel herausgehoben, als Lyrik des reinen Aufgehens des Gegenstandes im Subjekt zwischen der Lyrik des Aufschwungs zum Gegenstand, zu der Hymne, Dithyrambus und Ode gehören, und der Lyrik der beginnenden und wachsenden Ablösung aus dem Gegenstand oder der Betrachtung, wozu Formen wie Elegie, Sonett, Epi-
96 Für die Umprägung einer immer noch wirksamen Tradition, die sich in Hegels Systematik vollzieht, ist es bezeichnend, daß die hier zitierte Bestimmung des Liedes und weitere, die ihr folgen („geht ... nicht etwa in begeisterndem Fluge von einem Gegenstande zum andern fort ... bleibt ... ohne Ungleichheit des Fluges und Affekts, ohne Kühnheit der Wendungen und Übergänge ...“), wiederholt abgrenzend Bezug nehmen auf lange tradierte Merkmale der Ode. 97 Dieselbe Reihenfolge der lyrischen Arten und eine vergleichbare Hervorhebung des Liedes finden sich in den knapper als Hothos Edition referierenden Nachschriften der Hegelschen Ästhetik-Vorlesungen, die in den letzten beiden Jahrzehnten ediert worden sind: Vorlesung über Ästhetik, Berlin 1820/21. Eine Nachschrift, hrsg. v. Helmut Schneider, Frankfurt a.M. u. a. 1995 (Nachschrift von Wilhelm von Ascheberg u. Willem Sax van Terborg), S. 317: „Das eigentlich deutsche lyrische Gedicht ist das Lied“ – Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Darmstadt 2003 (Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho von 1823), S. 298: „Das Lied ist denn vornehmlich ein modernes lyrisches Gedichte. Die Goethischen Lieder sind das Wirkensvollste, weil sie ganz ihm und seinem Volk angehören“ – Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon u. Karsten Berr, Frankfurt a.M. 2004 (Nachschrift von P. von der Pfordten), S. 243: „Das dritte ist das Lied, das die ganze lyrische Mannigfaltigkeit in sich faßt; dies ist die eigentliche Bestimmung des Lyrischen für uns“ – Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826. Mitschrift Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2004, S. 220: „Das dritte ist das Lied, das die ganze lyrische Mannigfaltigkeit umfaßt“.
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gramm rechnen (S. 1342ff.).⁹⁸ Auch hier fallen, zugleich mit der eingangs zitierten zusammenfassenden Definition der Ode, kritische Bemerkungen über die Verbindung von Glut und unleugbarem Frost in der Ode (S. 1349, mit Berufung auf Hegel), über die Sprünge, die sie „künstlich methodisirt“ habe (S. 1351). Vom Lied hingegen heißt es bei Vischer: „Alle Grundzüge des Lyrischen ... gelten vorzüglich von dieser Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit ist seine Natur“ und „Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Gebiete die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr Dichter sei, er oder Göthe“ (S. 1351f.).⁹⁹ Hegel und Vischer zeigen in eindringlicher Weise, welche tiefgreifende Umwertung und Umkehrung sich spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in der Theorie der Lyrik und der Systematik ihrer Arten vollzogen und endgültig durchgesetzt hat und wie sehr in einem nun umfassend definierten Begriff von Lyrik das Lied anstelle der Ode als Inbegriff der ganzen Gattung dominiert.¹⁰⁰ Alles, was vorher die herausgehobene Stellung der Ode und ihre
98 Als Repetent am Tübingen Stift hat Vischer 1835 in einer Ästhetik-Vorlesung, wie aus einer Nachschrift Eduard Zellers hervorgeht, noch eine andere Einteilung vorgetragen: a) „Lyrik der ausströmenden Empfindung“ mit Hymne, Dithyrambus, Ode und Lied, b) „Lyrik der sich betrachtenden Empfindung“ mit Elegie, Sonett, Epigramm, Epistel, Satire, Romanze und Ballade (Berlin, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Eduard Zeller, 15). 99 Symptomatisch für die Selbstverständlichkeit der zentralen Rolle, die das Lied für das Lyrikverständnis des 19. Jahrhunderts gewonnen hat, ist es, daß ähnlich dezidierte Äußerungen wie bei Vischer schon vor ihm u. a. bei Autoren wie Heine oder Herwegh zu finden sind: Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 10, Hamburg 1993, S. 328 (Notizen über Freiligrath, vermutlich 1842): „Alles kann er machen, nur kein Lied – Ein Lied ist das Criterium der Ursprünglichkeit“ – Georg Herwegh, Werke, hrsg. v. Hermann Tardel, Berlin u. a. 1909, T.2, S. 211 (Die Poesie in Österreich, 1840): „... das Lied ist der Prüfstein für einen Lyriker“. 100 Wie umfassend dieser Vorgang war und wie sehr er über die Lyriktheorie hinaus das an Traditionen anknüpfende und geschichtlich sich wandelnde zeitgenössische Verständnis der Eigenart und Leistung von Formen der Kunst insgesamt betraf, lehrt ein Blick in Wörterbücher des 18. und 19. Jahrhunderts zur Musik, deren Theorie freilich, beschäftigt mit der Frage nach der Komponierbarkeit poetischer Texte, schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Distanz gegenüber der Ode neigte. Das „Musicalische Lexicon“ von Johann Gottfried Walther (Leipzig 1732; ND Kassel, Basel 1953) besitzt keinen Artikel „Lied“ und referiert unter dem Stichwort „Oda“ die herkömmliche Gleichsetzung von Ode und Lied: „Oda ... war bey den Alten ein Lied, so das Lob der Götter, Helden ... in sich hielt ... In heutiger Poesie ists ein Gedicht, welches mit etlichen Absätzen, die alle ein gleiches Zeilen- und Reimen-Maß halten, durchge-
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Bedeutung für die Theorie und Entwicklung der Lyrik begründete, wird nun zum eher zweifelnd registrierten, Distanz begründenden Merkmal. Alles, was gegenüber der Ode als der höchsten Dichtungsart das Lied als untergeordnet erscheinen ließ, macht nun seinen besonderen Rang aus und bestimmt durch und durch den Begriff der Lyrik. Und zugleich mit solcher Umkehrung der Hierarchie verfallen auch zuvor noch etwa bei Herder hochangesehene Muster lyrischer Dichtung wie Horaz oder Klopstock skeptischer Kritik.¹⁰¹ Zwar weist ein
führet wird: ein Lied. Sie werden gemeiniglich zu Lob-Gesängen gebraucht, und wollen mit hohen Worten und scharfsinnigen Gedancken ausgearbeitet seyn“ (S. 448), ohne auf die Frage nach deren Vertonung einzugehen. Dasselbe gilt von dem zum Teil an Walther anknüpfenden „Kurtzgefaßten Musicalischen Lexicon“ (11737; ND Leipzig 1975, S. 264). Mehr als ein halbes Jahrhundert später hingegen kennt das „Musikalische Lexikon“ von Heinrich Christoph Koch (Frankfurt 1802; ND Hildesheim 1964) keinen eigenen Artikel zur Ode mehr, sondern notiert nur (Sp. 1085): „Ode, s. Lied“, welches an seiner Stelle eingehend vor allem in musikalischer Hinsicht behandelt wird als „lyrisches Gedicht von mehreren Strophen, welches zum Gesange bestimmt“ ist und erfordert, „daß der Ausdruck der in dem Texte enthaltenen Empfindung durch einfache, aber desto treffendere Mittel erlangt werden muß“ (Sp. 901f., wo nur innerhalb eines Zitats neben anderen literarischen Formen auch die Ode erwähnt wird). Ähnlich steht es im „Kurzgefaßten Handwörterbuch der Musik“ (Leipzig 1807; ND Hildesheim, New York 1981) desselben Autors, der auch hier vom Stichwort „Ode“ nur auf den Artikel „Lied“ verweist, bei welchem er als besondere Leistung dieser Form feststellt: „Das Lied ist unter allen Kunstprodukten der mit der Musik vereinigten Poesie das einzige, wodurch jeder Mensch selbst durch Gesang seine angenehmen Empfindungen aussprechen, oder sich im Drange unangenehmer Empfindungen Erleichterung verschaffen kann. Schon hieraus springt es ins Auge, welch ein wichtiges Kunstwerk das Lied sey“ (S. 213). Die von Gustav Schilling redigierte „Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften“ schließlich kennt zwar einen (wenn auch nur sehr kurzen und fast nur der Antike gewidmeten) Artikel „Ode“ (Bd. 5, Stuttgart 1837, S. 202f.), behandelt aber viel eingehender das Lied (Bd. 4, Neue Ausgabe, Stuttgart 1840, S. 383–387), von welchem u. a. gesagt wird: „Ein ächtes, ein gelungenes Lied halten wir ... für ein großes Kunstwerk, und es waren von jeher auch nur große Geister, hehre Genie’s, die wahre Lieder schufen ... keine Nation ist so sehr für das rein Gemüthliche gestimmt, das im Liede sich ausspricht, als eben die deutsche“ (S. 384f.). – Zum Wandel des Verhältnisses von Ode und Lied in Musik und Musiktheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. auch die Hinweise bei: Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998, S. 313–331 – Heinrich W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit 1770–1814, Regensburg 1965, S. 20ff. 101 Symptomatisch für die schon vor Hegel sich vorbereitende Kritik an Horaz, dem einst allen Gebildeten vertrauten und für lange Zeit wichtigsten Musterautor lyrischer Poesie, sind Bemerkungen in den kurz nach 1800 gehaltenen Vorlesungen der Brüder Schlegel: August Wilhelm Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, Vorlesungen über Ästhetik I, S. 676ff. (Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, 2. Teil, 1802–1803): „Horaz. Stifter der künstlich nachgeahmten, von Musik nicht mehr begleiteten Lyrik. Wird gewöhnlich noch viel zu sehr für Original gehalten ... Zweifel an Horazens künstlerischer Infallibilität ... Conventionelle Kunst-
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Moment wie die Kürze, die noch bei Staiger – ohne Kenntnis der Vorgeschichte – als vermeintlich immerwährende Eigenschaft des lyrischen Gedichts hervorgehoben wird,¹⁰² auf die Herkunft der bei Hegel und Vischer formulierten und dann so lange nachwirkenden, am Lied orientierten Lyriktheorie aus der Geschichte der Odentheorie zurück:¹⁰³ Scaliger hatte im Blick auf Horaz formuliert (und Opitz war ihm darin gefolgt):¹⁰⁴ „Mihi ita videtur. Quaecunque in breue Poema cadere possunt, ea lyricis numeris colligere ius esse“.¹⁰⁵ Eschenburg beispielsweise begründete im 18. Jahrhundert solche Kürze als Merkmal der vom Lied unterschiedenen Ode mit dem Satz: „Die Natur des leidenschaftlichen Zustandes und die bald vorübergehende Währung desselben macht die Kürze, sowohl der Gedanken als des Ausdrucks, der Ode, und überhaupt der lyrischen Poesie, nothwendig“.¹⁰⁶ Auch bei Engel gibt es ähnliche Bemerkungen im Rahmen einer von der Ode bestimmten Erläuterung lyrischer Dichtung,¹⁰⁷
sprache der Lyrik, von Horaz auf die späteren fortgepflanzt ... Lyrik im Treibhause. – Ausgearbeitete aber kalte Eleganz der Horazischen Oden ... Begeisterung ... bloß lyrisches Costum“ – Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 11, S. 71 (Geschichte der europäischen Literatur, 1803–1804): „Ein Beweis, daß es für uns ganz unmöglich ist, die griechischen Lyriker nachzuahmen, gibt uns am auffallendsten Horaz ... Genau genommen ist er auch kaum ein Dichter zu nennen, am wenigsten in seinen Oden“. 102 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 31956 (11946), u. a. S. 23f. („Alle echt lyrische Dichtung dürfte nur von beschränktem Umfang sein“), S. 71 („Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung aufmerksam“), S. 81 („Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt“). 103 Zum Ursprung des Merkmals der Kürze vgl. die entsprechende Passage in der Abhandlung „Principes Lyricorum“ in diesem Band. 104 Buch von der Deutschen Poeterey (in: Gesammelte Werke, Bd. II/1), S. 369. – Weitere Beispiele aus dem 16. und 17. Jahrhundert u. a. bei Moritz von Hessen, Poetices Methodice Conformatae libri duo (1598), Bl. C 7r: „Caeterum Lyricum carmen requirit cum animi libertate frequentiam sententiarum, & in ijs elegantem brevitatem“ – Bachmann/Helvicus, Poetica (31623), S. 324f.: „Ode est carmen breve Lyricum“ (mit folgender Berufung auf Scaliger und Abgrenzung gegen die Kürze des Epigramms) – Ph. von Zesen, Hoch-deutscher Helikon (1656; Sämtliche Werke, Bd. X/1), S. 170: „Die besten lieder seind / welche kurtz und an zahl der sätze ungerade / gemacht werden ...“. 105 Poetices libri septem (1561), S. 169 (lib. III, c.122). 106 Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (11783), S. 108. 107 Theorie der Dichtungsarten (1783), S. 478f.: „Die Ideen müssen immer über den Dichter, nie der Dichter über die Ideen herrschen; sobald er zur Besonnenheit erwacht, hat sein Gesang ein Ende“; S. 489: „Das Feuer des Tons ... kann ... eine neue Veranlassung zum Schluss der Ode werden. Der Dichter schliesst nehmlich, wenn die Empfindung bei ihm so hoch schwillt, dass er nichts mehr sagen kann“ – S. auch Mendelssohn, Von der lyrischen Poesie (Gesammelte Schriften, Bd. 3/1), S. 337: „Sobald die Haupttheilnehmung nicht mehr lebhaft genug ist in Worte sich zu ergießen; so schließt sich das lyrische Gedicht“.
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während dieses Merkmal dann bei Hegel¹⁰⁸ etwa oder Vischer¹⁰⁹ in eine vom Lied beherrschte Lyrikauffassung übergeht und von da her auch noch bei Staiger als Wesensmerkmal einer ganz und gar vom Lied her verstandenen Lyrik mit Selbstverständlichkeit tradiert wird. Aber trotz solchem Symptom, das noch einmal die Herkunft einer schließlich ganz am Lied orientierten Lyrikauffassung aus der Entfaltung der Odentheorie bezeugt, wird spätestens bei Hegel und Vischer das Ende jener Entfaltung der Odentheorie, die hier abschließend formuliert ist und sich bis heute nicht mehr gewandelt hat, sichtbar und damit zugleich das Ende der produktiven Bedeutung der Form als solcher für die Lyrikgeschichte.¹¹⁰ Und im Rückblick von hier aus mag bewußt werden, wie sehr schon um 1800 Hölderlin, wenn er dem Beispiel des fast ein halbes Jahrhundert älteren, nun aber schon am Ende seines Lebens und Werks stehenden Klopstock folgend, die Ode in eindrucksvoller Weise zu einer der grundlegenden Formen seiner Lyrik macht, eigentlich bereits unzeitgemäß ist. Der hier skizzierte Gang durch die Geschichte der Odentheorie und ihrer Stellung innerhalb der Lyriktheorie macht den Aufstieg der Ode im engeren Sinn im 18. Jahrhundert und den Übergang der Orientierung der Lyrikauffassung von der Ode zum Lied sichtbar als Ausdruck der tiefgreifenden Wandlung der Lyrik und Lyrikauffassung im Zeichen der Ablösung der Dichtung von der rhetorisch begründeten humanistischen Dichtungstradition. Die Ode, mit ihrer Theorie aus dieser Tradition kommend, treibt, indem bestimmte ihrer Merkmale sich mit anderen, neuen Momenten verbinden, diese Ablösung auf ihre Weise voran, tritt in der Ausformung, die sie damit erhält, für begrenzte Zeit in den Mittelpunkt
108 Ästhetik, S. 1018: „Im Lyrischen ... ist es die Empfindung und Reflexion, welche ... die vorhandene Welt in sich hineinzieht, dieselbe in diesem innern Elemente durchlebt und erst, nachdem sie zu etwas selber Innerlichem geworden ist, in Worte faßt und ausspricht. Im Gegensatz zu epischer Ausbreitung hat daher die Lyrik die Zusammengezogenheit zu ihrem Prinzipe und muß vornehmlich durch die innere Tiefe des Ausdrucks, nicht aber durch die Weitläufigkeit der Schilderung oder Explikation überhaupt wirken wollen“. 109 Aesthetik, T.3, S. 1325: „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt“; S. 1334: „Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen“; S. 1338: „Daß die lyrische Dichtung auf Kürze angewiesen ist, geht aus der Natur des Gefühls hervor“. 110 Einen wachen Sinn dafür bewies Mörike, der seit seiner Schulzeit in Ludwigsburg, Stuttgart und vor allem am Niederen Seminar in Urach in seinem Dichtungsverständnis noch vielfältig geprägt war von der langen Überlieferung einer an der Antike orientierten humanistischen Poetik und in seine „Classische Blumenlese“ (1840) auch eine Reihe von Oden des Horaz, versehen mit einer verständnisvollen Einleitung, aufgenommen hat, die Form der Ode aber in der eigenen Dichtung nur noch scherzhaft-parodistisch oder satirisch verwendet hat.
Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert
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der Lyriktheorie, um dann, voll in einem bestimmten Sinne ausgebildet, unaufhaltsam zurückzutreten und anderen Orientierungen Platz zu machen. Was sie wichtig gemacht hat, läßt sie dann gerade als fragwürdig erscheinen. Der Blick hinter das 18. Jahrhundert zurück, in die humanistische und barocke Poetik, zeigt, daß die im 18. Jahrhundert zu solcher Bedeutung gelangte Ode und ihre Theorie nicht eine plötzlich erst vorhandene neue Sache, nicht das Ergebnis einer plötzlich entstandenen Einsicht in das vermeintlich immergültige Wesen einer Gattung sind, sondern Ertrag und Teil eines langen, mit der humanistischen Philologie und Poetik beginnenden Rezeptionsprozesses, in welchem es ständige Tradierung bestimmter Vorstellungen und Merkmale wie deren Erweiterung und Wandlung, Aus- und Umdeutung gibt. Erst in solchem dauernden geschichtlichen Prozeß konstituiert sich die Gattung oder vielmehr konstituieren sich je verschiedene Erscheinungsformen der Gattung und vollzieht sich deren Wandlung. Auch die mit dem Zurücktreten der Ode hervortretende Auffassung von Lyrik als unmittelbarem Gefühlsausdruck und eine entsprechende liedhafte subjektivere Lyrik sind nicht Freilegung vermeintlich allein wahrer Lyrik, sondern sind nur möglich als Stufe in jenem Prozeß, in welchem sich nicht nur die Auffassungen von Literatur oder deren Form, sondern deren Wesen selbst wandelt. Solche Wandlungen schlagen sich in der Poetik nieder. Poetikgeschichte, in diesem Sinne als Rekonstruktion der zeitgenössischen Auffassungen auf der Grundlage einer unvoreingenommenen kombinierenden Interpretation der Gesamtheit der Quellen betrieben, kann den hermeneutischen Weg zu wahrhaft historischem Verstehen der Literatur weisen. Von den einzelnen Stufen der Odentheorie und der ihr korrespondierenden Lyrikauffassung her könnten sich die einzelnen Phasen der neueren Lyrikgeschichte in ihrer Eigenart und geschichtlichen Leistung – und zwar auch solche, die uns fremd geworden sind – aufschlußreich interpretieren lassen.
3 Pindar – Horaz – Ossian Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung* Von der starken Wirkung, die von Herder auf die damals junge Generation von Literaten ausgegangen ist, geben manche Stimmen von Zeitgenossen ein lebendiges unmittelbares Zeugnis, Goethe etwa, der im 10. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ im späten Rückblick auf die Straßburger Begegnung mit Herder im Herbst und Winter 1770/71 bekennt: „Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie gaben das Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben“,¹ oder Gottfried August Bürger, der am 18. Juni 1773 nach der Lektüre des Herderschen Aufsatzes „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“ an Heinrich Christian Boie schreibt: „Der [Ton], den Herder auferweckt hat, der schon lang auch in meiner Seele auftönte, hat nun dieselbe ganz erfüllt, und – ich muß entweder durchaus nichts von mir selbst wissen, oder ich bin in meinem Elemente. O Boie, Boie, welche Wonne! als ich fand, daß ein Mann wie Herder, eben das von der Lyric des Volks und mithin der Natur deütlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht und empfunden hatte. Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einiger Maßen entsprechen“.²
* Herders Werke und Briefe, sein Nachlaß und sein Buchbesitz werden mit den folgenden Abkürzungen zitiert: SW = J.G. Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) Br = J.G. Herder, Briefe. Gesamtausgabe, bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold, Bd. 1ff., Weimar 1977ff. HN = Herders Nachlaß, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (s. dazu Anm. 23) Bibl. Herderiana = Bibliotheca Herderiana, Weimar 1804 (ND Köln 1980) (Verkaufskatalog der von Herder hinterlassenen Bibliothek) 1 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, Bd. 9, 9München 1981, S. 408f. 2 Briefe von und an Gottfried August Bürger, hrsg. v. Adolf Strodtmann, Bd. 1, Berlin 1874, S. 122. S. auch Bürgers Brief an Herder vom 24.1.1778 (Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß, hrsg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder, Bd. 3, Leipzig 1862, ND Hildesheim, New York 1981, S. 288f.).
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Kein Zweifel also, daß Herder eine zentrale Figur,³ nachhaltiger Beförderer und bedeutendes Symptom tiefgreifender Wandlungen von Lyrik und Lyriktheorie im 18. und frühen 19. Jahrhundert ist, an deren Ende Vorstellungen stehen, wie sie, bis hin zu Emil Staiger nachwirkend, formuliert sind im letzten Band der „Aesthetik“ Friedrich Theodor Vischers (1857)⁴: „Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls“ (S. 1325). „die lyrische Poesie hat nicht sowohl bestimmten Körper, als bestimmten Duft“ (S. 1333). „Die wahre lyrische Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, so daß dieses ihn ausspricht, indem es frei und einfach sich und seinen augenblicklichen Stimmungszustand ausspricht, begreift die große Masse des Liederartigen ... Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit ist seine Natur“ (S. 1351). „Schiller hat kein einziges reines Lied und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach, naiv hervorfließe, kann man an Göthe’s Liedern wie an einer reinen Norm ersehen“ (S. 1352). Solche Sätze Vischers, die das liedartige ausdruckshafte Gedicht kanonisieren, auch wenn seine „Aesthetik“ daneben noch von Formen wie Hymne oder Ode handelt, sind Ergebnis eines grundlegenden – nicht selten freilich als vermeintliche Wiederentdeckung wahrer Lyrik nur angesehenen und damit mißverstandenen – Prozesses der Veränderung einer Lyrik, die im Barock exemplarische Darstellung von Affekten mit den wirkungsreichen Mitteln der Rhetorik war und in großartigen Beispielen sich entfaltet hatte und die im Lauf des 18. Jahrhunderts in zunehmenden Maße unmittelbarer Ausdruck der Empfindung sein soll und dafür schließlich im Lied ihre bevorzugte Form findet. Zu den Begleiterscheinungen, die das Ausmaß der da vollzogenen Transformation der Lyrik sichtbar machen, gehört es, daß damit die vorausgegangene Lyrik des Barock, bald aber auch Klopstock sogar, einst selbst Träger jener Veränderung, für lange dem Verständnis entrückt und daß antike Dich-
3 Als solche hat ihn z. B. Paul Böckmann eindringlich charakterisiert im umfangreichen Herder-Abschnitt (S. 598–628) des sechsten, der „Entwicklung der literarischen Ausdruckshaltung durch Klopstock und den Sturm und Drang“ gewidmeten Kapitels seiner „Formgeschichte der deutschen Dichtung“ (Bd. 1, 1Hamburg 1949, S. 553–694). 4 Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, 3.T., 2. Abschn., 5. Heft, Die Dichtkunst, Stuttgart 1857.
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ter wie Pindar und – früher noch – Horaz⁵ ihre Bedeutung als Muster lyrischer Dichtung verlieren. Wie sehr Herder, dem Vischer, ihn ganz für seine Lyrikauffassung beanspruchend, nachrühmt, er habe „wie Wenige, das Organ gehabt“, den „Duft“ lyrischer Poesie „zu finden und zu unterscheiden“ (S. 1333), an jenem Prozeß der Veränderung der Lyrik und ihrer Theorie teilhat, das wird beispielhaft deutlich, wenn zwar der junge Herder ganz früh – darauf ist noch zurückzukommen – sich noch die Frage stellt, ob die Ode „ein Ausfluß“ der Empfindung sei oder „dieselbe blos ... durch Nachahmung“ male,⁶ dann aber später wie selbstverständlich vielfältig vom „Abdruck der innern Empfindung“,⁷ von „Abdrücken der Seele“⁸ spricht oder feststellt: „Daß die Poesie die Empfindungen ausdrückt, mit den Empfindungen nicht spielen dürfe, sagt schon ihr Name“.⁹ Eigenartig
5 In Vischers „Aesthetik“ werden beide nur noch beiläufig erwähnt. In der Hotho’schen Fassung von Hegels „Ästhetik“ (hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, S. 1025) wird Pindars Oden noch „siegende innere Herrlichkeit“ zugesprochen und Horaz noch einer ausdrücklichen Kritik gewürdigt: „Horaz dagegen ist besonders da, wo er sich am meisten erheben will, sehr kühl und nüchtern und von einer nachahmenden Künstlichkeit, welche die mehr nur verständige Feinheit der Komposition vergebens zu verdecken sucht“. Vgl. auch die knapperen Bemerkungen zu Pindar und Horaz in den Nachschriften der Hegel’schen Ästhetik-Vorlesungen von 1820/21 (Nachschrift von Ascheberg und van Terborg, hrsg. v. Helmut Schneider, Frankfurt a.M. u. a. 1995, S. 316) und von 1826 (Nachschrift von F.C.H.V. von Kehler, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2004, S. 218f. – Nachschrift von P. von der Pfordten, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Jeong-Im Kwon u. Karsten Berr, Frankfurt a.M. 2005, S. 241ff.). 6 Zitate aus einem Entwurf zur Oden-Abhandlung von ca. 1764 im Herder-Nachlaß (HN XXV, 170b). Dem früheren Leiter der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Bibliotheksdirektor Dr. Tilo Brandis, bin ich zu Dank verpflichtet für die in seiner Amtszeit erteilte Genehmigung, den Nachlaß zu benutzen und daraus zu zitieren. In den Zitaten aus den Handschriften werden um der Lesbarkeit willen die zahlreichen Abkürzungen, soweit sie eindeutig genug und nicht geläufigster usus sind, im allgemeinen stillschweigend aufgelöst. – Bei der Einarbeitung in die Entzifferung der frühen Handschriften hat mich einst Hans Dietrich Irmscher †, dem ich meinen Dank nun nicht mehr wiederholen kann, durch die Überlassung seiner damals schon vorliegenden Transkriptionen der Entwürfe zur Odentheorie unterstützt. Es ist zu hoffen, daß diese Texte möglichst vollständig in der angekündigten kritischen Ausgabe der „Studien und Entwürfe“ Herders (hrsg. v. Marion Heinz, Hans Dietrich Irmscher † u. Heinrich Clairmont) abgedruckt werden. 7 SW V, 163 (Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian, 1773). 8 SW XX, 328 (Rez.: Klopstocks Werke. Oden, 1798). 9 SW XXII, 151 (Kalligone, T.2, 1800). Vgl. ferner z. B. SW XII, 232 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783): „Also werden seine [Davids] Lieder auch Ausdrücke der innersten, der individuelsten Herzenssprache“; XXVII, 171 (Terpsichore, 2.T., 1795): „die lyrische Poesie ist ‚der vollendete Ausdruck einer Empfindung, oder Anschauung im höchsten Wohlklange der Sprache‘“.
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könnte es dann freilich anmuten, daß Herder, wo immer er von lyrischer Dichtung handelt, weit häufiger von der Ode als vom Lied spricht; daß er sich über die Dichtung Bürgers, der sich doch als sein Gefolgsmann verstand, mehr ablehnend als zustimmend geäußert hat,¹⁰ aber in den Materialien zur Volkslieder-Sammlung „unsern klassischen Opitz“ gegen den Vorwurf mangelnder „lyrischer Talente“ in Schutz nimmt und in seinem „Liedchen“ „Ach Liebste / laß vns eilen“¹¹ „in Vers, Gang, Sylbenmaas und in dem Unnennbaren was umherschwimmt, eine Eile, fast recht schaudernd süß und zärtlich“ findet (SW XXV, 111) und noch 1795 in der „Terpsichore“ Klopstock mit den schönen Worten rühmt: „Er hat uns in diesen Gedanken- und Empfindungsweisen der Alten für unsre eigensten und reinsten Empfindungen gleichsam eine neue Sprache geschaffen, und damit dem innigsten Gemüth eine Bildung, der Seele eine Selbsterkenntniß, dem Herzen einen Ausdruck, der Sprache eine Zartheit, Fülle und Wohlklang verliehen, von der man vor ihm nicht träumte“ (SW XXVII, 172);¹² daß Herder, der doch als Entdecker des Volksliedes gilt, sich in den Jahrzehnten nach dem Ossian-Aufsatz und der Volksliedersammlung, trotz der Absicht einer Neuauflage, sehr viel sporadischer mit diesen befaßt als – immer erneut und höchst verständnisvoll – mit Pindar und vor allem Horaz, aber auch mit dem großen, am Vorbild des Horaz geschulten neulateinischen Lyriker Jakob Balde. Wäre all das nur zu erklären teils aus letztem Befangensein des jungen Herder in überholten Anschauungen, teils aus zuneh-
10 Vgl. u. a. Br III, 58 (an Th. und Chr.G. Heyne, Ende November 1773, über Bürgers „Lenore“, die Karoline Herder in einer Nachschrift dementsprechend „das garstige Ding“ nennt); IV, 106 (an Ildefons Kennedy, 27.12.1779, über Bürger und andere, „die mich von Herzen mit ihrem EiaPopeia! ärgern“); V, 247 (an F.L.W. Meyer, Anfang November 1787, über eine „abscheuliche“ Ode Bürgers). Mittelbar gegen Bürger gerichtet scheinen manche anderen Stellen, so SW XXIII, 337 (Adrastea, Bd. 2, 4. St., 1801, Zitat ohne Nennung des Autornamens), 572 (Adrastea, Bd. 3, 2. St., 1802), XXIV, 253f. (Adrastea, Bd. 5, 2. St., 1803) und XXV, 308 (Volkslieder, T.1, 1778). Auf Bürger gerichtete Erwartungen hingegen spricht Herder in dem Aufsatz „Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst“ (1777) aus (SW IX, 531). Ambivalent ist Herders Urteil in einer erst aus seinem Nachlaß veröffentlichten Rezension der 1798 erschienenen Schrift von L.Chr. Althof über Bürger (SW XX, 377–379). 11 Martin Opitz, Gesammelte Werke, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. 2/II, Stuttgart 1979, S. 666f. 12 Hegel dagegen kritisiert nur wenige Jahrzehnte später im Anschluß an die oben in Anm. 5 zitierte Abwertung des Horaz: „Auch Klopstocks Begeisterung bleibt nicht jedesmal echt, sondern wird häufig zu etwas Gemachtem ...“ (Ästhetik, S. 1025). Vgl. in den verschiedenen Vorlesungsnachschriften die Bemerkung, es herrsche in Klopstocks Oden „viel Schönheit, aber auch sehr viel Leerheit“ (Nachschrift Ascheberg/Terborg, 1820/21, hrsg. v. H. Schneider, S. 316) oder die Wendung von der „aufgespreizten Würde“ Klopstocks (Nachschrift v. Kehler, 1826, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert u. B. Collenberg-Plotnikov, S. 218 – Nachschrift von der Pfordten, 1826, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert u. a., S. 241).
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mendem literarischen Konservativismus des alternden Herder? Oder gibt es nicht vielmehr Anlaß, dem historischen Zusammenhang verstärkt nachzufragen, in welchem Herder steht und seine Vorstellungen von der Lyrik entwickelt hat?¹³ „Zuerst muß ich Ihnen also ... sagen“ – so heißt es in Herders „Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“, von dem neben seiner Volksliedsammlung wohl die stärkste Wirkung auf Lyrik und Lyriktheorie ausgegangen ist – „Zuerst muß ich Ihnen also ... sagen, daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks ... Alle alte Lieder sind meine Zeugen! ... je älter, je Volksmässiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender“ (SW V, 186f.). Diese Wendung von den Sprüngen und Würfen, die den ganzen Ossian-Briefwechsel durchzieht, gilt vielfach als ureigenste Prägung Herders¹⁴
13 Dieser historische Zusammenhang und die Quellen, in welchen er faßbar wird, kommen weitgehend zu kurz in den wenigen spezielleren Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten zur Lyriktheorie bei Herder: s. vor allem Dieter Lohmeier, Herder und Klopstock. Herders Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und dem Werk Klopstocks, Bad Homburg v.d.Höhe u. a. 1968, S. 143–160 – Heinz Peyer, Herders Theorie der Lyrik, Diss. Zürich 1955 – Gerhard Sauder, Herders Gedanken über lyrische Sprache und Dichtkunst, in: Herder Jahrbuch 6, 2002, S. 97–114 – Gerhard Sauder, Lyrikmuster: Das „Silberne Buch“ und Herders Theorie des Gedichts, in: Herder Jahrbuch 7, 2004, S. 113–121 – Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 234–274. 14 Seit dem 19. Jahrhundert begegnet in der Forschung immer wieder die zum Klischee erstarrte Vorstellung, daß die von Herder gewiß eindringlich und wirkungsvoll gebrauchte Formel von den „Sprüngen und Würfen“ von ihm allein erst erfunden oder jedenfalls als ein stets gegebenes Wesensmerkmal des Volkslieds oder jeglicher als besonders ursprünglich geltender Dichtung erstmals wahrgenommen worden sei: vgl. unter vielen anderen z. B. Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Bd. 1, Berlin 1880, S. 444 – Hans Günther, Johann Gottfried Herders Stellung zur Musik, Diss. Leipzig 1903, S. 68 – Erwin Kirchner, Volkslied und Volkspoesie in der Sturm- und Drangzeit, S. 30f. („... dem Gebiet beschreibender Poetik gehört die Herdersche Prägung ‚Sprung und Wurf‘ an ...“), in: Zeitschr. f. Deutsche Wortforschung 4, 1903, S. 1–57 – Eugen Kühnemann, Herder, 2 München 1912, S. 175 – Elisabeth Blochmann, Die deutsche Volksdichtungsbewegung in Sturm und Drang und Romantik, S. 428 („‚Sprung und Wurf‘ ..., die er als dieser Volkspoesie charakteristisch erkannte“), in: DVjs 1, 1923, S. 419–452 – Alexander Gillies, Herder und Ossian, Berlin 1933, S. 43 – Clemens Lugowski, Der junge Herder und das Volkslied, S. 225, in: Sturm und Drang, hrsg. v. Manfred Wacker, Darmstadt 1985, S. 215–233 (zuerst in: Zeitschr. f. Deutsche Bildung 14, 1938, S. 265–277) – Ernst Klusen, Volkslied. Fund und Erfindung, Köln 1969, S. 133 – Hermann Strobach, Herders Volksliedbegriff, S. 28 („... verdichtet zu der Formel von den ‚Sprüngen und Würfen‘“), in: Jahrb. f. Volkskunde u. Kulturgeschichte 21, 1978, S. 9–55 – Howard Gaskill, ‚Ossian‘ Macpherson: towards a rehabilitation, S. 138, in: Comparative criticism 8, 1986, S. 113–146 – Gerhard Kaiser, Zu Johann Gottfried Herders „Edward“, S. 60 („... die von Herder als Charakteristikum der volksläufigen Lyrik herausgestellten Würfe und Sprünge ...“), in: Gedichte und Interpretationen. Deutsche Balladen, hrsg. v. Gunter E. Grimm, Stuttgart
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zur Kennzeichnung des Lebendigen, Natürlichen, Ursprünglichen, das er in europäischen Volksliedern wie in den Gesängen unzivilisierter Völkerschaften sieht. Aber die Ossian-Schrift selbst enthält einen Hinweis auf einen ganz anderen Bereich, aus dem jene Wendung stammt, wenn Herder eine grönländische Totenklage einführt mit den Worten: „da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der Morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmäßig ausgesponnen hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden“ (SW V,197). Die von Herder so oft gebrauchte Wendung stammt aus der Odentheorie des 18. Jahrhunderts und verweist damit auf einen für die Lyrikdiskussion und überhaupt für die Poetik der Zeit zentralen Bereich, in welchem sich auch Herders Vorstellungen von der Lyrik entwickeln, aus welchem sie sich herleiten. Die im 18. Jahrhundert geläufige Theorie der Ode ist seit dem Humanismus ausgebildet und durch das Barock, unter Identifizierung deutscher Liedformen mit antiken Strophenformen, weitergegeben worden. Sie ist von der humanistischen Poetik in Auseinandersetzung mit Pindar und Horaz als den höchsten Mustern antiker Lyrik entwickelt worden. Zu den Merkmalen der Ode gehören danach hohe Gegenstände, starke Empfindungen, hoher Schwung der Gedanken und des Ausdrucks, starke dichterische Begeisterung, Kürze, Mannigfaltigkeit der metrischen Elemente, der Empfindungen und Gedanken, des Plans, hoher, ungleicher Flug, Abschweifungen, plötzliche,
1988, S. 59–68 – Wolfgang Martin, Mit Schärfe und Zartheit. Zu einer Poetik der Sprache bei Hölderlin mit Rücksicht auf Herder, Bonn 1990, S. 18. Erst in den letzten Jahrzehnten begegnen hie und da einzelne Hinweise auch auf die Tradition, die hinter Herders Rede von den Sprüngen und Würfen steht, oder auf unmittelbare Vorläufer seiner Verwendung dieser Begriffe: s. u. a. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 2, 2 Berlin 1970 (11956), S. 181 – Hans Dietrich Irmscher, Probleme der Herder-Forschung, S. 310, in: DVjs 37, 1963, S. 266–317 – H.D. Irmscher, Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001, S. 159 (im Ossian-Aufsatz „weist Herder zudem darauf hin, daß diese Texte jene Merkmale des ‚hohen Stils‘ aufweisen, die sonst nur der Ode zugeschrieben werden: ‚Sprünge‘ und ‚Würfe‘“) – Wolf Gerhard Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons ‚Ossian‘ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1, Berlin, New York 2003, S. 373f.; Bd. 2, Berlin, New York 2003, S. 674f. („Die hier [im Ossian-Briefwechsel] bereits entwickelten Theoreme des Sturm und Drang speisen sich großenteils aus Topoi des primitivistischen Ossiandiskurses“, wofür als Belege u. a. Turgot und Blair angeführt werden; „Die von den Zeitgenossen wahrgenommenen ‚Herderianismen‘ – wie die Metapher ‚Sprünge und kühne Würfe‘ – sind somit weniger ‚selbst geprägt‘ als intertextuell vermittelt und nur bedingt Ausdruck einer neuen Perzeption der Ossianischen Gedichte“).
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kühne Umschwünge, sogenannte lyrische Unordnung. Im 18. Jahrhundert rückt die Ode, rückt ihre Theorie – im Zusammenhang mit dem Einfluß der Ästhetik Baumgartens, der aufklärerischen Erkenntniskritik und Psychologie, der Ps.Longin-Rezeption und unter Aktivierung des der Ode zugehörigen Moments des Enthusiasmus – in den Mittelpunkt der poetologischen Diskussion, der die Ode ein Muster für die Verknüpfung der Poetik mit der aufklärerischen Lehre von den Seelenvermögen, für die Wirksamkeit der Einbildungskraft und für die Rolle der Empfindungen in der Dichtung ist und darum vielfach nun als die höchste Dichtungsart vor Epos und Tragödie gilt. Dabei sind – weil es in der Antike keine umfassende Theorie der Lyrik gibt und ein weiter Gattungsbegriff sich erst aus der Entfaltung der Odentheorie im 18. Jahrhundert ergibt – die Worte Lyrisch, Lyrik lange nahezu gleichbedeutend mit Ode, ist Lyriktheorie weitgehend eins mit Odentheorie, und wo es nach und nach gemäß dem Grad der darin wirksamen Empfindungen zu einer Differenzierung zwischen „eigentlicher Ode“ und Lied kommt, behält jene lange den höheren Rang als wichtigste Art lyrischer Dichtung. Erst als letztes Ergebnis der hier nur angedeuteten Geschichte der Odentheorie¹⁵ verdrängt das Lied die Ode aus diesem Rang. Hegels Ästhetik und noch mehr diejenige Vischers liefern die Belege dafür. Auch wenn Herder sich gelegentlich spöttisch-abweisend gegen eine allzu eng aufgefaßte Odentheorie, gegen allzu regelgerechte Oden ausläßt,¹⁶ sehen doch noch die Instruktionen des Weimarer Generalsuperintendenten für das dortige Gymnasium 1788 die Darlegung der Odentheorie an Beispielen lateinischer Dichtung vor,¹⁷ durchdringt die Odentheorie – bis in den Ossian-Aufsatz
15 Des näheren dazu die Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 16 Vgl. außer der oben angeführten Stelle SW V, 197 u. a. I,437 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767): es sei „ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, so und so, nach diesen oder jenen Mustern, mit der und jener Kunst angelegt zu seyn, daß sie die schöne Einheit und die schöne Unordnung, die schöne Kürze und die schöne Methode habe, und was dergleichen schöne Regeln mehr sind, die nichts gelten, wenn man, um sie zu beobachten, schöne, künstliche und frostige Oden macht“; III,342f. (Kritische Wälder, 1769, 2. Wäldchen): gegen die Schrift „de felici audacia Horatii“ von Chr. A. Klotz: „Sie ist nach dem Fachregister des lieben Batteux gezimmert, wie man bei einer Ode Sprung, Abreißung, Umschweifung, Anfang und Ende, u.s.w. bemerken und sich abstecken müsse, eben als wenn Horaz je nach solchen Absteckungen, wie über ein Schulthema, gearbeitet hätte ... Ich weiß, daß ich hier gegen die Mode schreibe; denn seit einiger Zeit zirkeln wir Deutschen kein Gedicht so gern ab, als eine Ode ...“, und S. 350f.; X,14 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 1.T., 1780). 17 SW XXX, 446f.: „Zugleich geben die abwechselnden Gattungen der gewählten Stücke [in der für den Unterricht benutzten „Chrestom. poet. lat.“ des Gymnasialdirektors Heinze] ... dem
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und die Vorreden zu den Volkslieder-Sammlungen – allenthalben die Äußerungen Herders zur Lyrik und macht seine Terminologie, die Bedeutung des Wortes „lyrisch“ darin, seine schwankende und nicht immer klare Verwendung des Begriffs „Lied“ verständlich, das nur gelegentlich von der Ode ausdrücklich unterschieden wird,¹⁸ liefert die Odentheorie das kritische Instrumentarium, dessen sich in frühen wie in späteren Jahren die zahlreichen Schriften und Bemerkungen Herders über lyrische Dichter wie Pindar, Horaz, Balde, Gleim, Ramler, die Karschin, Klopstock bedienen.¹⁹ Vor allem aber steht an Herders Anfängen eine intensive und für seine weiteren theoretischen und kritischen Schriften grundlegende Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Odentheorie. Welchen Umfang und welche Bedeutung diese Auseinandersetzung hat, das läßt – über Andeutungen in Rudolf Hayms Monographie²⁰ und über die wenigen im 32. Band von Suphans Ausgabe publizierten Stücke²¹ sowie die Mitteilung einzelner bisher ungedruckter Texte durch Ulrich Gaier²² hinaus – erst
Lehrer Gelegenheit, seinen Schülern die Theorie der Ode, des Catullischen und Martialischen Epigramms, der poetischen Beschreibung u.f. an diesen Beispielen ... zu entwickeln“. 18 Vgl. z. B. SW III,330 (Kritische Wälder, 1769, Zweites Wäldchen): „Ich beklage, daß Hr. Kl[otz] uns mit seiner gelehrten Erläuterung [zu Horaz, od. I,1] ganz aus dem Tone, der im Ganzen der Ode herrscht, wegerläutert: uns mit seinen furchtbaren Citationen den ganzen Sinn des Liedes, die ganze schöne Stimmung der Seele, in der Horaz sang, wegcommentirt“; X,82 (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 1.T., 1780); XII,58f. (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783). Ansätze einer Unterscheidung hingegen, wie sie sich auch bei anderen Autoren entwickelt, z. B. SW XII,20 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T.): „Welcher Art nun der Effekt ist, der im Liede herrschet; darnach wird sich auch sein Gang, seine Harmonie fügen: ein staunender Hymnus und eine feurige Ode, ein sanftes Lied der Freude, oder eine Elegie der Betrübniß, werden nicht gleich moduliren“ oder XXXII,71 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode, ca. 1765). Vgl. ferner auch unten Anm. 129–131 und 134. 19 Vgl. knappere oder ausführlichere, zum Teil die Kriterien der zeitgenössischen Odentheorie auch skeptisch reflektierende Bemerkungen zu diesen Autoren u. a. SW I,325f. (Pindar), 336 (Gleim), 351f. (Karschin), 451ff. (Ramler); III,153 (Pindar), 330ff. (Horaz), 348ff. (Pindar), 350f. (Horaz), 361 (Horaz); IV,245f. (Horaz), 261ff. (Ramler); V,350ff. (Klopstock); XX,273ff. (Karschin), 327ff. (Klopstock); XXVII passim (Balde). – HN XXV, 185 (Analyse einiger Oden des Horaz; ca. 1765); XXVIII,2,105rf. (Bemerkungen u. a. zu Pindar und Horaz; Rigaer Zeit); XXVIII,10,r v-sv (Bemerkungen zu einzelnen Oden Ramlers; ca. 1767). 20 Haym, Herder, Bd. 1, S. 115ff. 21 SW XXXII, 61ff.: Fragmente einer Abhandlung über die Ode – 85ff.: Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst. 22 Herder, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 1, Frühe Schriften 1764– 1772, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, S. 57–99: Von der Ode (Dispositionen, Entwürfe, Fragmente), darin aus dem Nachlaß Nr. 1–3 und 5 (dazu entsprechende Nachweise im Kommentar S. 929, 931, 933, 942, 966; zu dem Text Nr.1 und den Bemerkungen dazu auf S. 928f. und 931 vgl. aber unten Anm. 51.
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der Nachlaß Herders richtig erkennen, der mit seinen unzähligen Exzerpten und Entwürfen als das Fundament und Arsenal von Herders Bildungsgeschichte und schriftstellerischen Laufbahn jetzt durch den großen Katalog von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler²³ vorbildlich erschlossen ist. Neben Exzerpten zur Odentheorie und zu verwandten Fragen aus den Breslauer „Vermischten Beyträgen zur Philosophie und den schönen Wissenschaften“,²⁴ aus Schriften von Friedrich Josef Wilhelm Schröder,²⁵ Marmontel,²⁶ Robert Lowth,²⁷
23 Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler, Wiesbaden 1979 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Kataloge der Handschriftenabteilung, Reihe 2, Bd. 1). 24 Bd. 2, 1. Stück, 1763, S. 152–177: Anon., Von der Ode. Ein Versuch. Notizen und Exzerpte Herders dazu: HN XXV, 181,1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 14,3–4 („V.d.Ode aus d. Breslauer Beiträgen“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2,106r („Brokken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit). Nachweis des Werks in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 5631/32. – Auszüge aus der für die Oden-Diskussion der Zeit so wichtigen Karschin-Rezension von Moses Mendelssohn in den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“ (T.17, 1764, S. 123–179, 272.–276. Brief) enthält der Nachlaß offenkundig nicht. Daß Herder jedoch auch sie – wie nicht anders zu erwarten – zur Kenntnis genommen hat, belegen eine Fußnote im Abschnitt „Sappho und Karschin“ der 2. Sammlung der „Fragmente“ (1767; SW I,351) und das lange, nur leicht gekürzte Zitat aus dem 275. Brief (S. 149–153) im Abschnitt „Von der Horazischen Ode“ in der 3. Sammlung der „Fragmente“ (SW I, 463–465). Nachweis des Werks in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 5560–5570. 25 HN XXV, 249, 5r–7v („Schröder v. d. lyr. Poesie“; Königsberger Zeit), aus: Friedrich Joseph Wilhelm Schröder, Lyrische, Elegische und Epische Poesien, nebst einer kritischen Abhandlung einiger Anmerkungen über das Natürliche in der Dichtkunst und die Natur des Menschen, Halle 1759, S. 32–111: Dritte Anmerkung. Von der lyrischen Poesie und der Empfindung; oder vom Tone, vom accordmäßigen Schwung und vom Tackte. 26 Jean François Marmontel, Poétique françoise, Paris 1763; darin S. 408–453: De l’Ode; dt. Des Herrn Marmontels Dichtkunst, Bremen 1766; darin T.2, S. 297–347: Vierzehntes Kapitel. Von der Ode. Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN XXV, 181,1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 4,49r („Auszug aus Marmontel“; Rigaer Zeit); XXVI, 14,1–3 („Marmontel von der Ode“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2,106r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit). 27 Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academiae Oxonii habitae, ed. J.D. Michaelis, Göttingen 1758/62, 21769/70 (Oxforder Erstausgabe 1753). Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN II,49 („Von der Ode aus Lowths Buch II“; ca. 1765); XXV, 170a (Entwurf zur Odenabhandlung, mit Hinweis auf eine Psalm-Analyse von Michaelis in seiner Lowth-Ausgabe; ca. 1764); XXV, 179, 4r, 4v („Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“; ca. 1764); XXV, 180, 2 r (Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65); XXVI, 4, 5v („Dichtkunst“, s. dazu unten Anm. 36ff.; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVII, 18 („Lowth de sacra poesi Hebraeorum“, Auszüge; ca. 1770); XXVIII, 2, 106r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit), 127v–128v (Auszüge und Bemerkungen zu Lowth; Rigaer
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J. Brown,²⁸ Batteux²⁹ und dessen deutschen Bearbeitungen durch Ramler und Johann Adolf Schlegel finden sich hier zahlreiche bibliographische Notizen, Stichwörter, Schemata, Entwürfe, fragmentarische Ausarbeitungen des etwa zwanzigjährigen Herder zu geplanten, eng miteinander verknüpften Abhandlungen über die Ode, über den „Ursprung des Liedes“, über die „Geschichte des Liedes“ und wie die entworfenen Titel sonst noch lauten. Die Abhandlungen sind als solche nie zu Ende geführt worden, doch haben in den Vorarbeiten dazu viele der Bemerkungen zur Ode und ihrer Theorie in den schon bald erscheinenden frühen literaturkritischen Schriften wie in manchen späteren Werken ihren Wurzelgrund. Die Papiere des Nachlasses zeigen, wie der junge Herder durch intensive Lektüre neuester Schriften in die Literatur der Zeit hineinwächst und mit seinen eigenen Fragen von ihr seinen Ausgang nimmt. Für das Verständnis dieser Fragen und der aus ihnen entwickelten Erwartungen werden allerdings der Nachlaß und die frühen Schriften erst dann in vollem Umfang fruchtbar, wenn man die Probleme der Ode und damit der Lyrik, die zweifellos einen Schwerpunkt bilden, im größeren Umkreis der Bildungsgeschichte des jungen
Zeit), 153r–154r (Bemerkungen zu Lowth; Rigaer Zeit). Nachweis der Göttinger Ausgabe von 1758/62 in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 2791 (Jahreszahl 1768 offenkundig Druckfehler für 1758). 28 John Brown, A Dissertation on Rise, Union, and Power, the Progressions, Separations and Corruptions of Poetry and Music, London 1763; Betrachtungen über die Poesie und Musik, nach ihrem Ursprunge, ihrer Vereinigung, Gewalt, Wachsthum, Trennung und Verderbniß, übers. v. Johann Joachim Eschenburg, Leipzig 1769. Notizen und Exzerpte Herders hierzu: HN XV, 414 („Brown Betr. Über Poesie und Musik“; Bückeburger oder Weimarer Zeit); XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765). 29 Charles Batteux, Les Beaux Arts réduits à un même Principe, Paris 1746; Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, übers. v. Johann Adolf Schlegel, Leipzig 1751; Cours de belles-lettres, distribué par exercices, Paris 1747/48; Nouv. Éd.: Cours de BellesLettres ou Principes de la littérature, Paris 1753/55; Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux ... von C.W. Ramler, Leipzig 1756/58. Notizen und Exzerpte Herders hierzu (wobei nur z.T. erkennbar ist, auf welche der verschiedenen französischen und deutschen Ausgaben sich diese jeweils beziehen): HN XXV, 169, 5v („Ramlers Batteux“, Auszüge; ca. 1765); XXV, 180, 2 v (Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65); XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“; ca. 1765); XXVI, 5, 67 („Poetisches Fach“, Bemerkungen zu verschiedenen Autoren und Werken; Königsberger Zeit); XXVI, 14, 1 („Marmontel von der Ode“; Königsberger oder Rigaer Zeit); XXVIII, 2, 105r („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“; Rigaer Zeit); XXVIII, 2, 147v (Auszug aus den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend“, T.5, zu Schlegels Batteux-Übersetzung; Rigaer Zeit); XXIX, 1, v r („Aus Schmids Literatur der Poesie Leipzig 1775“; Bückeburger Zeit?); s. ferner auch unten Anm. 46 und 50. Nachweis einer Göttinger Ausgabe „Principes de la Litterature par Batteux“ (1764) in Herders Besitz: Bibl. Herderiana, Nr. 6029/33.
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Herder sieht. Es ist leicht, in Schriften aus allen Lebensphasen Belege zuhauf dafür beizubringen, wie Herder sich – nicht selten mit beträchtlichem Witz oder Sarkasmus – über späthumanistische Schulgelehrsamkeit und selbstgenügsame Philologie, über absolut gesetzte Regeln der Poetik und über pedantische rhetorisch-logische Exercitien des Sprechens, Denkens und Schreibens³⁰ mokiert. Doch können sie, sieht man genauer hin, nicht verbergen, daß Herder, einer der verständnisvollsten Kenner und Liebhaber griechischer und römischer Dichtung im 18. Jahrhundert, auch noch tief vertraut war mit der philologisch-literarischen Überlieferung des europäischen Humanismus und der ihr zugehörigen Poetik und Rhetorik – ähnlich und mindestens ebenso sehr davon geprägt wie Klopstock und wie er wohl als einer der letzten deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts.³¹ Die Begriffsgruppen ars und ingenium, praecepta, exempla und exercitatio, res und verba, das Rangverhältnis von Dichter und Redner, die Frage nach dem Gebrauch der Mythologie in geistlichen Gedichten, die Lehre von den drei Stilarten, den genera dicendi, der sermo humilis in geistlicher Literatur, die officia oratoris docere, delectare, movere oder das prodesse und delectare des
30 Vgl. z. B. SW I,326 („koste aus den Dichtern, und aus dem Dichterischen Plato etwas von dem heiligen Trank der Corybanten; statt dich bey elenden Commentatoren aufzuhalten, die einander ausgeschrieben“); 384f. („In der Schuloratorie und Schullogik bestand bei vielen Schulen ein Theil der Weisheit darinn, wie man einige Rhetorische und Logische Kunstgriffe, Werkzeuge und Spielwerke Lateinisch benennen sollte ... Dies bringt jene dürre unfruchtbare Barbarei in die Methode, die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt, und die Seele vom Denken zurückhält“); 406 („Gewinnt der Ausdruck, weil eine Sprache an sich schöner ist? so denken blos die Schulmeister, die aus den Alten Phrases aufjagen, Lexicon und Grammatik plündern, und sich ein buntes Kleid zusammen sticken, mit vieler Mühe es verbrämen, um lächerliche Arlekins zu seyn“); II, 361f. („Da die Sprachen der Alten todt sind: so verfällt man durch bloße Nachahmung derselben nur gar zu leicht selbst in Tod: man betrachtet ihre Poesie und Rednerkunst nur gar zu gern als bloße modos linguarum: ihre Wißenschaften und Geschichte als eine Gedächtnißsache: und ihre ganze Denkart wird Philologie“); III,351 („Der zweite Abweg, Horaz zu lesen, ist, wenn sie Hauptgeschmack wird, die Parallelenmacherei. Hr. Kl.[otz] darf nur ein großes Bild, einen gefallenden Gedanken in einem Dichter finden: so steht ihm bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich so viele andre zu Diensten, daß der vorige Gedanke glatt weg ist ... Schade um die Schönheit, die ich erst aus hundert Vergleichungen schön finden soll ... wer blos durch Vergleichungen, durch Parallelen Empfindung bekommt, dem schadets nicht, wenn er keine habe“); s. ferner u. a. SW I,7, 74, 373, 403, 502ff.; II,55, 141, 245; III, 325f., 354ff.; IV, 388f.; V, 182f., 303ff., 332, 638; VIII, 406f.; IX, 429, 529; XI, 293; XIV, 102f.; XXV, 88, 538f. 31 Ein eindrucksvolles Zeugnis der Gelehrsamkeit und der umfassenden humanistischen Interessen Herders ist der Verkaufskatalog der von ihm hinterlassenen Bibliothek, insbesondere mit ihrer „Sectio I. Libri Theologici“ (Bibl. Herderiana Nr. 1–1591), „Sectio II. Libri Philologici: Graeci, Latini, Orientales“ (Nr. 1592–2892 [recte: 2902] und der „Sectio III. Libri Philosophici (Nr. 2903–4760).
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Horaz, Arten der Kasualdichtung, Übersetzen als Übung der eigenen Sprache – das alles³² sind – verbreitet übrigens natürlich auch noch sonst allenthalben in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und weit darüber hinaus³³ – Momente humanistischer und barocker Poetik und der ihr eng verbundenen Rhetorik, die Herder vertraut sind und nicht nur in den Nachlaßteilen der Frühzeit, sondern
32 Vgl. u. a. zu: ars/ingenium: SW XVIII, 81 („Die Gabe der Muse ist eine angeborne Himmelsgabe“, doch auch „dem feurigsten Kopf ... ist Lehre nötig“) – praecepta/exempla/exercitatio: SW IX, 305 („Wie aber Theorie allein nicht alles thut, so kömmts am meisten auf Beispiele solcher an, die in den höhern Wissenschaften mit wahrem Sinne der Menschheit und in den schönen mit Sinn und Vorgeschmack der höhern geschrieben und gehandelt haben“); XV, 538; HN XVI, 246, 11v („jede Gelegenheit ... ergreift er [Balde], seinen Freunden bei ihren Werken Fleiß und Feile als unumgängliche Mittel zu Vollendung derselben anzurathen“) – res/verba: SW I, 394ff. (Fragmente, 3. Sammlung, 6. In der Dichtkunst ist Gedanke und Ausdruck wie Seele und Leib, und nie zu trennen), 414ff. (10. Wie klebt in der Weltweisheit der Gedanke am Ausdruck, sinnlich, Technisch und Grammatisch?) – Dichter/Redner: HN XXVI, 4, 52 r („Nicht das Sylbenmaas und der Reim machen allein ein Gedicht aus; sondern lebhafte Gedanken, die das Feuer und den Schwung des Redners weit übertreffen“); XXVI, 5, 36r (nach Gellert: „in der Beredsamkeit Wahrh. u. Gründe – in der Poesie Wahrscheinl. u. Wunderb.“) – Mythologie in geistlicher Dichtung: SW III, 226–258 (Zweites Wäldchen, 5–8) – genera dicendi: SW XXII, 228 („Lange vor ihm [Longin] hatten die Rhetoriker die mancherlei Gattungen des Vortrags nach Höhe und Tiefe eingetheilt ... Der Natur der Sache nach blieben die drei Haupt-Abtheilungen, des Hohen, Mittleren, Niedern die gemeinsten Abzeichen; ihre Grenzen flossen in einander“) – sermo humilis: SW I, 502–513 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung: III,6. Sollen wir Ciceronen auf den Kanzeln haben?); XI, 74 („Im Felde der Theologie, im einfältigen Zuspruche der Homilie, des Gebets, des Kirchengesanges hasse ich diese glänzenden Lappen auf den Tod“) – docere/delectare/movere, prodesse/delectare: HN XXV, 249, 6r (Stichwortauszüge aus F.J.W. Schröder: „Nutzen der Poesie: 1) vergnügen ... rühren ... 2) lehren); XXVIII, 2, 154r (Bemerkungen zu Lowth: Zuordnung der einzelnen officia zu einzelnen Gattungen) – Arten der Kasualdichtung: HN XXV, 164 (De melicis s. lyricis: Aufstellung von Gedichtarten, z.T. nach der Chrestomathie des Proklos; u. a. encomium, epinicium, hymenaeus, threnus, epicedium); XXVIII, 16, 38v („Melische Poesie vielfach nach Anwendungen“, Aufstellung mit entsprechenden Gedichtarten, auch unter Berufung auf Proklos) – Übersetzen als Übung der eigenen Sprache: SW XXX, 446f. (aus den Instruktionen für das Weimarer Gymnasium, u. a. zur classis secunda: „Die explicirten Stücke [aus Cicero] werden sämmtlich übersetzt und als Aufsätze im Deutschen nach den Regeln der reinen und guten Schreibart corrigiret ... Wenn den Knaben insonderheit zu reinen und schönen Übersetzungen dieser Stücke [aus der lateinischen Poesie] Muth gemacht wird: so bekommen sie beinah alle Formen des poetischen Vortrags in die Seele“). Vgl. ferner etwa auch HN XXV, 249, 2 r–4v („Plan zur Poetik“, ein an viele Traditionselemente anknüpfendes Entwurfsschema) oder SW V, 377–400 (Rezension von T.I von Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“, 1774). 33 Es genügt, dafür an Autoren wie Batteux, Baumgarten, Bodmer, Breitinger, Gottsched oder Sulzer zu erinnern, die der junge Herder aufmerksam wahrgenommen und vielfach exzerpiert hat.
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immer wieder auch in den Schriften späterer Jahre begegnen. Selbst wo Herder solche Momente kritisch aufgreift,³⁴ wird sichtbar, daß er sich von der humanistischen Tradition nicht einfach abwendet, sie bloß ablehnt und fortschiebt, sondern daß er sich mit ihr noch auseinandersetzt, daß er, noch von ihr mitgeprägt, aus ihr heraus fragt, aus ihr heraus, sie umwandelnd, seine eigenen Vorstellungen entwickelt und damit dann freilich auch am Ende zu ihrer Auflösung und Ablösung beiträgt, ohne daß er sich selbst aber schon ganz von ihr löst. Das alles gilt auch und in besonderem Maße für die Odentheorie, von deren humanistischen und barocken Gewährsleuten Herder verschiedene gekannt, besessen, zitiert hat, so die Poetiken von Scaliger, von Pontanus und Masen, von Morhof, Omeis, Schottel oder von Vossius, bei dem die Vorstellung von den kühnen Sprüngen der Ode formuliert ist mit den Worten: „concessum etiam est subito ab uno ad aliud devolare argumentum“.³⁵ Ein besonders aufschlußreiches Dokument für Herders Verwurzelung in jener humanistischen Tradition und seinen Ausgang von ihr und für den vorerst nur tastenden Beginn des über sie hinausführenden eigenen Weges, zugleich insbesondere ein frühester Beleg für seine Bekanntschaft mit der überlieferten Odentheorie ist eine 55 Seiten umfassende Niederschrift mit dem Titel „Dichtkunst“,³⁶ enthalten in einem „Studienbuch“ Herders, dessen Inhalt zumeist aus der Königsberger und Rigaer Zeit stammt, an einzelnen Stellen aber bis in die Bückeburger Zeit reicht.³⁷ Die „Dichtkunst“ überschriebene Aufzeich-
34 Vgl. u. a. SW I, 286ff. (gegen blinde Orientierung an den Griechen als exempla) – 394f. (Vorbehalte gegen isolierte praecepta, exempla, verba) – 429ff. (gegen vermeintliche Unentbehrlichkeit der Mythologie für die Dichtung; bes. S.433) – II, 106 (Vorbehalte gegen das Übersetzen zur Ausbildung der eigenen Sprache) – s. auch viele der in Anm. 30 angeführten Belegstellen zur Kritik an erstarrter Gelehrsamkeit. 35 Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri Tres, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln); Lib. III, S. 75 (Cap. XIV, De ratione tractandi argumentum lyricum). – Zu Besitz und Kenntnis dieser Werke bei Herder s. Bibl. Herderiana, Nr. 2385 (Scaliger, Poetices libri 7, 1617), 5152 (Morhof, Teutsche Sprachlehre, 1702 [i.e. Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie]), 5165 (Omeis, Reim- und Dichtkunst, 1712), 5166 (Schottel, Teutsche Vers- und Reimkunst, 1656). Vgl. ferner z. B. SW XXVII, 196 den (deutsch) zitierten Beleg für die Hochschätzung bestimmter Oden des Horaz durch Scaliger (Poetices libri, 1561, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 339 A/B 1; ähnliche Berufung Herders auf diese Stelle auch HN XVI, 245, 8r, Über die lyrische Poesie); Nennung von Vossius und Scaliger (HN XXV, 181, 1r), von Morhof, Scaliger, Pontanus, Masen (4r/v) in Autorenlisten zur Geschichte des Liedes; Bestellung von Vossius bei der Weimarischen Fürstlichen Bibliothek (Br VII, 166, Frühjahr 1795). 36 HN XXVI, 4, 5r–32 r. – Der Band enthält außerdem u. a. Auszüge aus Homes und Marmontels Schriften und aus Shakespeares Hamlet sowie Entwürfe und Dispositionen zur Ästhetik, zu einer Geschichte der schönen Wissenschaften und zur Geschichte der Dichtkunst. 37 Der handschriftliche Nachlaß J.G. Herders. Katalog, S. 226.
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nung, im Katalog von Irmscher und Adler als „Grundriß einer Poetik“ aus der Zeit in Königsberg oder Riga gekennzeichnet, läßt sich auf eine bisher übersehene und bei Herder selbst wohl auch sonst nirgends erwähnte Quelle zurückführen: den „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen abgefasset von M. Johan Christoph Dommerich Rektor der Herzogl. großen Schule zu Wolfenbüttel“, erschienen in Braunschweig 1758,³⁸ also erst wenige
38 Expl. Stadtbibliothek Braunschweig. Zu Dommerich (1723–1767), der in Halle (u. a. bei G.F. Meier) studiert und dort am Waisenhaus und am Paedagogium unterrichtet hatte, ehe er – nach Zwischenstationen an anderen Orten – 1749 Rektor in Wolfenbüttel und zuletzt 1759 Professor für Logik und Metaphysik in Helmstedt wurde, und zu seinen theologischen, philosophischen und literaturtheoretischen Schriften vgl. u. a. Jöcher-Adelung 2, Sp. 734–736 – ADB 5, 326f. – Kosch 33, Sp. 443; zu seiner Tätigkeit in Wolfenbüttel: Mechthild Raabe, Wolfenbütteler Schulalltag und Schülerlektüre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 7–9, 12, in: Lesekulturen im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker, Hamburg 1992 (Aufklärung 6, H.1), S. 5–26 – Glaubenslehre, Bildung, Qualifikation. 450 Jahre Große Schule in Wolfenbüttel, Berlin 1993 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 69), u. a. S. 73, 97, 135f., 139f., 174, 341f. Mit seinem Lehrbuch „Vernünftige theoretische Anweisung zur wahren Beredsamkeit“ von 1746 (vgl. dazu Hermann Stauffer, Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen, Frankfurt a.M. u. a. 1997, S. 31f.), das Johann Georg Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 4.T., Leipzig 21794; ND Hildesheim, Zürich, New York 1994) noch am Ende des Jahrhunderts in seiner ausführlichen Bibliographie zum Stichwort „Redekunst; Rhetorik“ erwähnt (S. 65), steht Dommerich zunächst stark im Banne Gottscheds, der zwar Dommerichs Schrift in seinem „Versuch einer deutschen RednerBibliothek“ (in: Akademische Redekunst zum Gebrauch der Vorlesungen auf hohen Schulen, 1759, S. 19; Expl. Sammlung Jantz, Film Nr. 222) anführt (s. auch: Catalogus Bibliothecae quam Jo.Ch. Gottschedius ... reliquit, Leipzig 1767, ND München 1977, S. 93), den Verfasser an anderer Stelle aber, teils namentlich, teils ohne Namensnennung, als Nachahmer, ja Plagiator seiner eigenen Anleitung zur Rhetorik angeprangert hat (s. Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. P.M. Mitchell, Bd. 7/1, Berlin, New York 1975, S. 7 und die Erläuterungen in Bd. 7/4, 1981, S. 7f.). Mit seiner früh für den „Messias“ eintretenden Schrift „De Christeidos Klopstockianae praecipua venere praelusio“ (1752; dt. Von den vornehmsten Schönheiten in der Meßiade des Hrn. Klopstocks, in: Altes und Neues von Schulsachen, T.3, Halle 1773), an deren Kenntnis Klopstock sich in einem Brief an Giseke (4.10.1752; Klopstock, Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe, hrsg. v. Horst Gronemeyer u. a., Briefe 1751–1752, hrsg. v. Rainer Schmidt, Berlin, New York 1985, S. 216) interessiert zeigte, hat Dommerich dann Verdacht und polemische Gegnerschaft der Kreise um Gottsched auf sich gezogen (s. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897, S. 577f., 588, 591 – zu Dommerichs Schrift: Paul Großer, Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit, Diss. Breslau 1937, S. 101f.). Seinem „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“, der u. a. von Johann Gotthelf Lindner, in der ersten Rigaer Zeit Herders noch Rektor der Domschule, in seinem Lehrbuch „Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst“ (T.II, Königsberg, Leipzig 1772, S. 214; Expl. UB Freiburg) unter den Anleitungen zur Dichtkunst erwähnt wird (s. auch Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen, T.1, Leipzig 1767, S. 100f.; Expl. StuUB Göttin-
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Jahre alt, als Herder sich damit beschäftigte. Herders Niederschrift erweist sich als eine stichwortartige, im ganzen getreue, hie und da inhaltlich ergänzende,³⁹ am Ende fragmentarische⁴⁰ Wiedergabe von Dommerichs knappem, seinerseits nur an die 70 Seiten umfassenden Leitfaden. Es muß offen bleiben, ob Herders Ausarbeitung seiner Unterrichtstätigkeit in Königsberg oder in Riga dienen sollte.⁴¹
gen; Ders., Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, Leipzig 1781, S. 86; Expl. StuUB Göttingen – Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, T.1, Leipzig 2 1792, ND Hildesheim, Zürich, New York 1994, s.v. Dichtkunst, Poetik, S. 681), hat Dommerich, dem insofern Schmid und Sulzer zu Unrecht eine unmittelbare Abhängigkeit von Gottsched zuschreiben, eine „Beurtheilung der Vorübungen der Dichtkunst des Herrn Professor Gottscheds zum Gebrauche der Schulen“ (1757; Expl. HAB Wolfenbüttel) vorausgehen lassen, worin er – mit zustimmendem Hinweis auf G.F. Meiers Kritik an Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ und unter Widerspruch gegen auch ihm selbst geltende satirisch-polemische Schriften aus dem Gottsched-Kreis und gegen den seiner „Anweisung zur wahren Beredsamkeit“ geltenden Nachahmungsvorwurf Gottscheds – an dessen Schul-Poetik vielfältige, z.T. freilich auch pedantisch-kleinliche Kritik übt. Gottsched seinerseits hat in der zweiten Auflage seiner „Vorübungen“ (Leipzig 1760; Expl. Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 627), ohne den Namen Dommerichs zu nennen, auf die Einwände „eines gewissen Rectors von einer grossen Schule aus einer kleinen Stadt“ mit wiederholten polemischen Seitenhieben gegen „meinen Zoilus“ reagiert. 39 So ergänzt Herder, gestützt offenkundig auf seine vielfältigen Kollektaneen wie auf seine durch unermüdliche Lektüre wachsenden literarischen Kenntnisse, die historischen Partien der ganz auf die „Deutsche Dichtkunst“ gerichteten Schrift Dommerichs durch umfangreiche, charakterisierende Listen von Autoren der Antike und anderer europäischer Literaturen der Neuzeit, charakterisiert und erweitert ebenso die Nennung deutscher Autoren, besonders des 18. Jahrhunderts, die Behandlung der Epochen der deutschen Literatur, die Hinweise zu deren Geschichte und zu entsprechenden Gewährsleuten wie auch die Liste von „Anweisungen zur Poesie“, in die er antike und humanistische Autoren einbezieht, aber auch den bei Dommerich noch nirgends genannten Batteux, und stützt sich gelegentlich auch auf andere Gewährsleute. Die von Dommerich in den §§ 48ff. behandelten „wesentlichen Schönheiten eines Gedichts“ erläutert Herder durch eine mehrseitige eigene „Anwendung dieser Schönheiten auf den 2ten Gesang des Cissides u. Paches, v. He. [Ewald v.] Kleist“. Darüberhinaus illustriert Herders Niederschrift zahlreiche Details der Vers- und Stillehre (zumal der ganzen Fülle der rhetorischen Figuren), die bei Dommerich nur knapp aufgezählt werden, durch antike wie neuzeitliche (zumeist deutsche) Autoren und Zitate, insbesondere von Horaz, Vergil, Hagedorn, Ewald von Kleist und Klopstock. 40 Herders Aufzeichnung bricht auf Bl. 32 v bei der Behandlung der Fabel ab. Bei Dommerich folgen danach weitere Gattungen und ein letztes Kapitel „Von der Verfertigung der Gedichte“ (S. 57–66). 41 Gegen die Möglichkeit, daß es sich um eine Kollegnachschrift handeln könnte, mit welcher R. Haym bei einer knappen Erwähnung dieser Handschrift – ohne Kenntnis der tatsächlichen Quelle – zu rechnen scheint (Herder, Bd. 1, S. 115: „Wie ein Auszug aus einem Lindnerschen
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Dommerichs Werk überliefert die in Humanismus und Barock entwickelten Lehren, unter Einschluß der rhetorischen Stillehre und der rhetorischen Figuren, in einer für die Poetik der Aufklärung kennzeichnenden Fassung. Gottsched ist noch nicht gänzlich abgetan,⁴² die Schweizer gelten mehr, und mit besonderem Nachdruck werden Schriften G.F. Meiers, dessen Schüler Dommerich in Halle gewesen ist, und die „Meditationes de nonnulis ad Poema pertinentibus“ (1735) und die „Aesthetica“ (1750) des dann auch für Herder so wichtigen Alexander Gottlieb Baumgarten genannt,⁴³ aus denen Dommerich seine Definition eines
oder Bockschen Collegienheft nimmt sich sodann eine, mehrere Bogen füllende Poetik aus ...“), spricht vor allem die übersichtliche und präzise, wenn auch vielfach stichwortartige Form der Darlegungen. Angesichts des offenkundigen Mangels an schulgeschichtlichen Dokumenten über Herders Tätigkeit am Collegium Fridericianum in Königsberg (1762–1764) und an der Domschule in Riga (1764–1769), deren Behandlung in der älteren wie neueren Literatur zu Herder und zu den beiden Schulen nur erkennen läßt, daß er dort neben anderem auch Poesie bzw. deutschen Stil unterrichtet habe, ist eine Zuordnung seiner Dommerich-Bearbeitung zu der einen oder anderen Schule schwierig. Für die Königsberger Zeit könnte aber sprechen, daß dort, wo Herder Literaturhinweise einfügt, die jüngsten Erscheinungsjahre nicht weiter als bis 1761/62 reichen. Nicht gänzlich auszuschließen ist freilich auch, daß Herder auf Dommerichs Werk erst durch Lindner, der die Schrift (s. Anm. 38) einige Jahre später auch in seinem „Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst“ unter den Anleitungen zur Poesie erwähnt hat, hingewiesen worden ist und sich unmittelbar vor oder nach dem Antritt seines Rigaer Schulamts auf der Grundlage von Dommerichs Text, der vielleicht sogar an der Rigaer Domschule als Lehrbuch Verwendung fand, einen eigenen, durch Früchte seiner vielfältigen Lektüre bereicherten Unterrichtsleitfaden angelegt hat, auch wenn er gleichzeitig schon an einer eigenen Abhandlung zur Ode arbeitete, wie seine Briefe an Hamann aus dem Jahre 1765 belegen (s. Br I, 36, 37, 45). 42 Zu Dommerichs Verhältnis zu Gottsched s. schon oben Anm. 38. In der Vorrede zum „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“ verweist er (Bl. A 3v f.) kritisch auf Gottscheds „Vorübungen der deutschen Dichtkunst“ und auf seine kurz zuvor erschienene Kritik von Gottscheds Vorübungen der lateinischen Dichtkunst. Vgl. aber auch Anm. 43. 43 In § 18 (S. 10f.) hebt Dommerich als die „vornehmsten“ der Schriften, „darin die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften vorgetragen werden“, „Herrn A.G. Baumgartens Dissertatio de nonnullis ad poema pertinentibus ... imgl. seine Aesthetica“ hervor sowie „Herrn G.Fr. Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften“ und „dessen kleinere Schriften“. Für die „eigentlichen Anweisungen zur deutschen Dichtkunst“ führt er zwei „weitläufige und ausfürliche Systemata“ an: „Hrn. Prof. Gottscheds critische Dichtkunst, doch nicht ohne dabei Herrn Prof. Meiers Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst ... zu gebrauchen; besonders Herrn. Canon. Breitingers critische Dichtkunst“. Als Beispiele für „besondere Abhandlungen aus der deutschen Dichtkunst“ erwähnt er vor allem „Breitingers Abhandlung von Gleichnissen, Herr Bodmer von Poetischen Gemälden und dem Wunderbaren in der Poesie“. In der Vorrede (Bl. A4v) weist Dommerich ausdrücklich darauf hin, daß er seinen „Entwurf den Schriften anderer geschikten Männer gröstenteils zu danken habe“, die man im § 18 und im voraufgehenden § 17 („Schriftsteller von der Geschichte der deutschen Poesie“) finde.
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Gedichts als „eine sinnliche Rede, die so wol in den Gedanken als in dem Ausdruk derselben die mehresten Schönheiten besizt“ (S. 1), herleitet, ohne freilich davon für die Behandlung der einzelnen Lehrstücke spürbaren Gebrauch zu machen. In Herders Niederschrift wird das Urteil über Gottsched verschärft,⁴⁴ die Definition des Gedichts abgewandelt zu der näher an Baumgarten heranführenden Formulierung „eine Rede, die die höchstmögliche sinnliche Schönheit besitzt“ (Bl. 5r),⁴⁵ mit Nachdruck der später von Herder immer wieder vehement abgelehnte Batteux empfohlen, dessen Bearbeitung durch Ramler „jedem schönen Geist unentbehrlich“ sei.⁴⁶ Im metrischen Teil werden über Dommerich hinaus auch antike Odenmaße behandelt und zum Teil mit einzelnen Versen Klopstocks belegt,⁴⁷ in dem gegenüber Dommerich erweiterten historischen Teil wird wie bei diesem Klopstock freilich nur erst als Dichter des „Messias“ gepriesen⁴⁸ und als der „gröste Odendichter nach dem wahren alten Geschmack“ der bei Dommerich nicht genannte Uz hervorgehoben,⁴⁹ der später bei Herder nur noch im Schatten Klopstocks begegnen wird.
44 Im Abschnitt über die „Wiederherstellung der deutschen Poesie“ im 18. Jahrhundert heißt es (Bl. 8r) über ihn: „Gottsched warf sich zu Deutschlands Lehrer auf, drang beinahe übertrieben auf die Regeln ... Weil dies nun allmählich auf eine Mattigkeit u. wäßerige Poesie führte: so konnte dieser Abweg nicht lange geduldet werden. Einige Schweizer machten Gottsched, das Recht einen Aristarchus vorzustellen, streitig ...“ und im Abschnitt über „Anweisungen zur Poesie“: „Gottscheds Kr.[itische] D.[ichtkunst] ist wegen der Erkl. nicht u. Anweisung, sondern einiger Litteratur brauchbar. Breiting[ers] D.[ichtkunst] ist beßer“ (Bl. 10 v). Im Sinne solcher eingeschränkten Geltung wird Gottscheds „Critische Dichtkunst“ einigemal (Bl. 7v, 12 r, 24r) als Quelle für Einzelfragen herangezogen (nach der 4. Ausgabe von 1751, die sich ebenso wie die erste von 1730 in Herders Besitz befunden hat: Bibl. Herderiana, Nr. 5167 und 5168). 45 Baumgarten, dessen „Dissertatio“ und „Aesthetica“ wie bei Dommerich unter den „Anweisungen zur Poesie“ (und zwar „a zu den schönen Wissenschaften überhaupt“) genannt werden (Bl. 10 v), wird von Herder wiederholt auch bei Einzelfragen herangezogen (u. a. Bl. 16r, 26v). 46 Bl. 10v in der Übersicht über „Anweisungen zur Poesie“. Weitere Berufungen auf Batteux: Bl. 5r, 5v (s. auch unten Anm. 50). Da Dommerich sich ganz auf deutsche Dichtung und dafür auf deutsche Gewährsleute konzentriert, bleibt die Frage nach seiner Kenntnis des Batteux offen. 47 Bl. 13v f.; vgl. bei Dommerich, S. 20 den sehr allgemein gehaltenen § 47. 48 Bei Dommerich, der an späterer Stelle mit Klopstock ausnahmsweise auch einmal ein Muster (S. 57, für den Hexameter im Epos) nennt, heißt es von ihm im Katalog zeitgenössischer Autoren lediglich: „Keiner aber hat so vielen Beifall erhalten, als der Herr Klopstock, durch Verfertigung seiner Meßiade“ (§ 16). Bei Herder hingegen lautet die entsprechende Passage: „Klopstock der Deutschen Homer oder Virgil, gab die 1sten Gesänge des Meßias 1751.52. zu Halle heraus. Ein Genie ohne gleichen“ (Bl. 8v). 49 Bl. 8v; vgl. dagegen Dommerich, dessen Autorenkatalog (S. 9) insgesamt viel begrenzter ausgefallen ist.
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Herders Niederschrift stellt im Gattungsteil⁵⁰ wie Dommerich die Ode an die Spitze,⁵¹ und im Anschluß an dessen knappen Paragraphen 93 wie an die ganze Tradition der Odentheorie⁵² nennt sie – bei Dommerich nur zum Teil erwähnte – herkömmliche Bestandteile wie Begeisterung, kühnen Beginn, Sprung – der wohl früheste Beleg des Wortes bei Herder – als Merkmal einer freien Gedankenfolge, schöne Unordnung, Digressionen (Ausschweifungen), Kürze, Erhabenheit, hohen Stil. Sie geht aber auch in bezeichnender Weise über Dommerich hinaus, so wenn sie dessen Definition der Ode als Gedicht, „so aus Strophen“ bestehe „und darin durchgehends ein besonderes Feuer herschet“, zwar referiert, aber als ungenau, da „es Oden ohne Strophen u. besonder Feuer geben kan“, durch die ihr als besser geltende ersetzt: „ein Gedicht, das eine gewiße Empfindung ausdrückt und zum Singen gemacht ist“; wenn die von Dommerich (§ 94) übernommenen Einteilungsmöglichkeiten eingeleitet werden durch die Sätze: „Da eine jede gute Ode ihren eigentümlichen Carakter hat: so ist eine ganz genaue Eintheilung derselben nicht füglich möglich. Indeßen ist folgende bequem ...“; wenn die erste dieser Einteilungen, die sich bei Dommerich nach der „Art zu denken“ richtet und „heroische, oder mitlere, oder niedere Oden“ unterscheidet, und die dritte „in Absicht auf die Stärke der Leidenschaften“ von Herder, mit Unterordnung der Stillagen unter die Affektgrade, zusammengefaßt werden zu einer einzigen, die sich nach „ihrer Begeisterung und Stärke“
50 Er steht hier (Bl. 29r) wie bei Dommerich (S. 41) unter der Überschrift „Von den verschiednen Arten der Gedichte“ und wird übereinstimmend mit der Feststellung eröffnet, die Einteilung der Gedichte könne auf vielerlei Weise geschehen. Herder expliziert das, indem er zunächst den „Entwurf des Batteux“ mit der Einteilung in epische, dramatische, lyrische und didaktische Poesie skizziert, um ihm dann den „Entwurf des Dommerichs“ – die einzige Stelle, an der Herder seine Quelle nennt, und der Schlüssel zu deren Aufdeckung – nach dessen § 92 (S. 41f.) folgen zu lassen. 51 Bl. 29 v f.; Dommerich S. 42f., § 93 und 94 (weitgehend und zumeist wörtlich abhängig von Georg Friedrich Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst, Halle 1747, Expl. StB München, S. 256–259, § 185 und 186). – Den Abschnitt über die Ode hat Gaier, da ihm, dem Katalog von Irmscher und Adler gemäß, Herders Aufzeichnung ohne Kenntnis ihrer Quelle als ein selbständiger „Grundriß der Poetik“ gilt, den „Herder sich nach dem Studium der einschlägigen Hauptwerke ... angelegt“ habe (Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 928), als Nr. 1 (S. 59–61) seiner Zusammenstellung von Texten „Von der Ode“ (s. oben Anm. 22) mitgeteilt und (S. 931f.) mit einer recht beliebigen Auswahl aus zeitgenössischen und älteren Gewährsleuten (Ramler/Batteux, Boileau, Scaliger u. a.) und nicht ohne einzelne Irrtümer kommentiert. 52 Festzustellen, welche Quellen im einzelnen an Herders Zusätzen und Umformulierungen von Dommerichs Text, soweit diese nicht nur eine communis opinio wiedergeben, Anteil haben, wäre eine lohnende, die umfassende Rezeption der literarischen Überlieferung und der zeitgenössischen Diskussionen durch den lesehungrigen jungen Autor erhellende Aufgabe, für deren Erfüllung hier jedoch der Ort nicht ist.
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im Sinne einer gerade erst sich anbahnenden deutlicheren Differenzierung gliedert in „Dithyrambische Oden“, die „den höchsten Grad der Begeisterung“ erreichen, „Oden von der mittlern Art, kat’ ἐxochn Oden“ und „Oden , die in der Odenschreibart die niedrigsten sind, einen ruhigen Affekt ausdrücken ...: Lieder“; wenn überhaupt die einzelnen Bestimmungen der Ode stärker als bei Dommerich von der Begeisterung, vom Affekt abgeleitet und die Begeisterung selbst, der seit alters der Ode insbesondere zugeordnete Enthusiasmus mit den – bei der Beschreibung seiner Entstehung freilich noch an ältere Vorstellungen anknüpfenden – Worten erläutert wird: „da der Dichter durch die Vorstellung seine Einbildungskraft so erhizt hat als hätte er die Sache vor sich und wäre wirklich im Affekt“. Was solche Abweichungen von Dommerich bedeuten und inwiefern Herders Niederschrift zur „Dichtkunst“ für die Entwicklung seiner Lyrikauffassung aufschlußreich ist, das wird sichtbar, wenn man ihr eine Reihe von Sätzen aus den – nach ihrem Inhalt zu urteilen – wohl frühesten, um 1764⁵³ niedergeschriebenen eigenen Überlegungen Herders zur Ode gegenüberstellt: „Daß der Inhalt der wahren Ode merklich reine Empfindungen sind ... ist ein Grundsatz auf den wir uns zwar stützen; aber dabei noch vieles auszumachen bleibt. Ist sie ein Ausfluß dieser Empfindung, oder malet sie dieselbe blos ... durch Nachahmung? ... Empfindungen drückt sie aus? ... Daß Worte Gedanken ausdrücken, weis ich wohl, aber Empfindungen? Nein! eigentlich zu reden auch nicht eine einzige ... eine ausgedrückte Empfindung ist ein Wiederspruch ... Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm ... Das Zeitalter der Natur, da man nicht dachte, sondern empfand, nicht redete, sondern handelte, war arm an Worten, aber reich an Handlungen durch Minen, Accente und Thaten ... Laßt einen NaturMenschen im Taumel seiner Affekt Begeisterung diese ganze Folge der Naturzeichen ausdrücken; seine Ode wird eine Abstuffung von wenigen Worten enthalten ... So bald die Ode ein Gedicht wird, so drückt sie auch Empfindungen der Kunst aus: denn aus der Empfindung der Natur wird doch wohl nie eine Ode fließen. Man nehme den frömmsten Psalm; die weinendste Elegie des Hallers; diese Empfindungen können nicht erborgt seyn, aber der Gang der Empfindung gewiß, ihr Kleid; es ist hier kein Wiederspruch sich selbst Empfindungen nachahmen. Laßt Klopstocken bei dem Leichnam seiner Meta weinen; mit Empfindung ... laßt die Empfindung verrauchen: so ist der Gang der Natur, daß Einbildungskraft ihre Stelle einnimmt; füllt diese mit Poetischen Bildern, so wird eine Ode werden, die nicht empfindet, sondern Empfindung malet ... Aber wie? – Wenn du willt, daß ich weinen [soll] ... das bestätigt meine Meinung, daß sie nie Empfindung ausdrückt. Ich weine, – aber blos eine Poetische Träne; und die wird auch blos der andre weinen. Seine Phantasie verwirrt sich, weil er meine verworren sieht ... Ich dichte also die Ode vor dies Poetische Gefühl; wohl so werde ich mich ihm auch bequemen und meine Empfindung aus diesem Gesichtspunkt schildern, wo er die Aehnlichkeit am besten einsehen kann; folglich schildre ich auch
53 So im Katalog des Herder-Nachlasses, S. 203.
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der Form nach nicht mehr wahre Empfindungen, sondern ein perspektiv von ihnen, in dem sie der andre siehet. Beide sind von einander so verschieden, daß der künstliche Odendichter schon nie seine Empfindung malen will, sondern sich völlig außer sich, an die Stelle des Lesers sezt ... Wäre eine Ode der Natur Empfindung möglich so würde sie so dunkel, eintönig, verworren, hart, seyn, daß sie alten kalten Leuten lächerlich wäre; aber jetzt da er schreibt (um gelesen zu werden) so ordnet er alle Bilder der Empfindung nach dem Gesichtspunkt und der Ordnung des Lesenden; je mehr er diese trift, desto künstlicher ist die Ode; verbirgt er seine Kunst; so sage ich: sie ist Natur: Er hat die Gegenstände geschildert, wie ich sie würde empfunden haben, so daß ich mich künstlich hintergehe mit der Wahrheit. Ist Zwang zu sehen; so ist er ein Künstler im bösen Verstande; Die Ode ist also ein künstlicher Ausdruck einer künstlichen Empfindung durch die Sprache; – die Empfindung drückt sich also eigentlich durch Zeichen aus; und uneigentlich durch Worte ... der Ausdruck durch künstliche Worte sezt eine künstliche Empfindung der Einbildungskraft voraus. Einen Ausdruck durch die Sprache; könnte ich vielleicht Rede nennen; der Ausdruck der Einbildungskraft ist am größten Grad sinnlich folglich könnte ich unter allen Gedichten die Ode ... die vollkommenste sinnliche Rede nennen“.⁵⁴
Schon in Herders Aufzeichnungen zur „Dichtkunst“ nach Dommerich deutet sich über diesen hinaus an, was die Ode für Herder wie für die Zeitgenossen so wichtig werden läßt. Wo sich das Interesse der Poetik – dieser Prozeß ist schon vor Herders Beginn seit Jahrzehnten im Gang – im Zusammenhang mit den Fragen und Thesen aufklärerischer Psychologie und ihrer differenzierten Lehre von den Seelenvermögen auf das noch in der Barockpoetik immer nur als selbstverständlich vorausgesetzte Dichtungsvermögen, seine Verfahrensweisen wie auf die zuvor als Ziel von prosaischer wie poetischer Rede in Rhetorik und Poetik ebenfalls vorausgesetzten Affekte richtet, ihr Wesen und Funktionieren genauer zu bestimmen sucht, wo in engem Zusammenhang damit – auch unter dem Einfluß der wachsenden Rezeption der Schrift des Ps.Longin vom Erhabenen – das movere zunehmend auf Kosten des docere und delectare für viele zum eigentlichen Zweck der Dichtung wird, da richtet sich der Blick zwangsläufig vor anderem auf die Ode, weil ihr schon seit langem ein besonderes Maß an poetischem Enthusiasmus als Merkmal zugehört, weil sie als Dichtung hoher Gegenstände und hohen Stils in besonderem Grade mit den Affekten oder, wie man nun zunehmend sagt, den Empfindungen verbunden ist und sich dadurch mehr noch als andere Dichtungsarten den neuen Erwartungen und Überlegungen als Modell anbietet. Dabei aber mußte es sich zunehmend auch fragen, welcher Art denn die Empfindungen, von denen die Ode spricht, seien, ob sie, um
54 HN XXV, 170b (da dieser Text Niederschlag ständig in Gang befindlicher und unter manchen Wiederholungen nach immer neuen Formulierungen suchender Gedanken ist, wird im voranstehenden Zitat nicht zwischen gestrichenen und ersetzenden Partien unterschieden).
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glaubhaft zu sein und die beabsichtigte Wirkung zu erreichen, nicht unbedingt wahr, wirklich sein müßten. Der rhetorisch fundierten Poetik von Humanismus und Barock, der das im 18. Jahrhundert dann immer wieder – so auch bei Herder – angeführte Wort des Horaz „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ (ars poetica v.102f.; wenn du mich weinen machen willst, mußt du zuerst selbst Schmerz empfinden) durchaus geläufig ist,⁵⁵ stellt sich jene Frage so nicht. Ihr und dem zeitgenössischen Publikum – wie wir annehmen müssen – genügt es, ja es ist ihre Erwartung, daß Affekte in exemplarischer Weise mit den wohlkalkulierten Mitteln der Rhetorik, für die etwa die Redefiguren nicht bloße Schmuckmittel, sondern Werkzeuge der Affekterregung und Affektvermittlung sind, eindringlich und damit wirkungsvoll vorgeführt werden, gleichgültig, ob der Verfasser solche Affekte selbst schon erfahren hat, von ihnen beim Verfertigen seines Textes mitbestimmt ist oder sie sich nur vorgestellt hat. Solche Poetik kann daher auch jene Fülle von Kasualdichtung begründen, die, auch wenn sie mit späteren Begriffen betrachtet bloße Pflichtübung der Verfasser scheint, ihre Wirkung tut, und auch das Verfertigen von Gedichten im Namen eines anderen ist für solche Poetik nicht fragwürdig. Anders im 18. Jahrhundert, in welchem zunehmend die Erwartung, vor allem die lyrische Poesie könne doch wohl nur aus wirklichen Empfindungen ihre Wahrheit und Wirkung gewinnen, sich verbreitet und zum Problem der Poetik wird. In Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ klingt es an in Bemerkungen zu Trauergedichten von Canitz und Besser auf den Tod ihrer eigenen Frauen, die er unter die Nachahmungen rechnet, „ob sie gleich ihren eignen Schmerz, und nicht einen fremden vorstellen wollen: denn so viel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten dann, wann er die Verse macht, die volle Stärke der Leidenschaft nicht empfinden kann“.⁵⁶ Eingehender stellt sich dem Problem Batteux, der – in Johann Adolf Schlegels Bearbeitung⁵⁷ seiner Schrift „Les Beaux Arts réduits
55 S. z. B. das Klopstock-Zitat unten bei Anm. 63 sowie unten S. 317ff. weitere einschlägige Hinweise und den Aufsatz von Jürgen Stenzel: „Si vis me flere ...“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: DVjs 48, 1974, S. 650–671. 56 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4Leipzig 1751 (ND Darmstadt 1962), S. 145. Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion von Epicedien auf die eigene Ehefrau der Autoren die Skizze „‚Ich öffne meines Herzens Wunden‘“ in diesem Band. 57 Von den verschiedenen Batteux-Übersetzungen und -Bearbeitungen wird diese hier herangezogen, da sie in der deutschen Diskussion (s. Anm. 60) die größte Rolle gespielt hat. Zur Bekanntschaft Herders mit Schlegels wie Ramlers Batteux s. die Hinweise in Anm. 29 und 46 sowie SW I, 338; IV, 150; V, 282 (wonach er bei zunehmender Kritik an Batteux die Version Ramlers noch eher gelten lassen mochte als diejenige Schlegels).
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à un même Principe“ – als möglichen Einwand gegen sein alle Künste umfassendes Prinzip der Nachahmung formuliert: „Man gehe auf den Ursprung der Dichtkunst zurück. Ist die Poesie nicht ein Gesang, welchen Freude, Verwunderung, Dankbarkeit einflößen? Ist sie nicht ein lebhafter Ausdruck des Herzens, ein schneller Ausbruch seiner Empfindungen, wobey die Natur alles, und die Kunst nichts thut? Ich sehe keine Schilderey, kein Gemälde darin neu. In ihr ist alles nichts als Feuer, Gefühl, Trunkenheit. Solchergestalt sind folgende zweene Sätze gewiß; erstlich, daß lyrische Poesien wirkliche Gedichte sind, zweytens, daß diese Poesien keine Spur einer Nachahmung an sich haben. Dieß ist der Einwurf in seiner ganzen Stärke“.⁵⁸ Batteux gibt die Möglichkeit, daß es in lyrischen Gedichten um wirkliche Empfindungen gehen könne, zu, ja er sieht sie vor allem in den poetischen Texten der Bibel, denen solche Wahrheit abzusprechen unmöglich wäre, aber auch sie subsummiert er doch dem Prinzip der Nachahmung, weil für ihn erst durch die bewußte Umsetzung in Sprache Gedichte als Werke der Kunst – und auf sie richtet sich seine Erwartung – denkbar sind: „Die Natur mag das Feuer entzünden; wenigstens muß die Kunst ihm die Nahrung geben, und es im Brande erhalten ... Warum finden wir überdieß in den heiligen Gesängen für uns so viel Schönheit? Rührt es nicht daher, daß wir die Empfindungen darinnen so vollkommen ausgedrückt finden, wie wir sie, nach unserm Bedünken, gehabt haben würden, wenn wir in eben den Umständen uns befunden hätten, in denen die Propheten sich befanden? Wenn diese Empfindungen bloß wahr, und nicht auch wahrscheinlich wären, so würden wir ihnen Ehrerbietung schuldig seyn; aber sie würden keinen Eindruck des Vergnügens in uns machen. Solchergestalt muß man, wenn man den Menschen gefallen will, selbst alsdann, wenn man nicht nachahmt, sich doch anstellen, als ob man nachahmte, und auf diese Weise der Wahrheit die Züge der Wahrscheinlichkeit geben ...“ (T.I, S. 200ff.; 1770: T.I, S. 374ff.). „Sind die Empfindungen wahr und wirklich, wie sie es beym David waren, als er seine geistlichen Gesänge verfertigte: So ist dieß ein Vortheil für den Poeten ... Alsdann schränket sich die poetische Nachahmung auf Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang ein, die der Beschaffenheit der darinnen enthaltnen Sachen gemäß seyn müssen. Wenn die Empfindungen aber nicht wahr und wirklich sind, das heißt, wenn der
58 Zitiert (da der frühe Herder diese oder die 1. Auflage von 1751 gekannt haben dürfte) nach: Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1759 (Expl. StBPK Berlin), T.I, S. 193. Den Stellennachweisen wird der leichteren Zugänglichkeit wegen jeweils auch die Seitenzahl in dem Nachdruck (Hildesheim, New York 1976) der 3., verbesserten und vermehrten Auflage (Leipzig 1770) hinzugesetzt (das obige Zitat hier T.I, S. 359ff.).
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Dichter sich nicht wirklich in derjenigen Verfassung befindet, welche diejenigen Empfindungen, deren er benöthigt ist, hervorbringt: So muß er solche Empfindungen in sich erwecken, welche den wahren ähnlich sind ... Hat er gerade den ersten Grad der Hitze erreicht, der gegenwärtig erfodert wird: Wohlan, so singe er! Er ist begeistert ...“ (T.I, S. 208ff.; 1770: T.I, S. 383ff.).⁵⁹ Jüngeren Zeitgenossen genügt diese zwiespältige Haltung nicht mehr, und so entzündet sich gerade daran die Diskussion um Batteux in Deutschland.⁶⁰ Schon 1755, kurz nach dem Erscheinen von Schlegels Batteux-Übersetzung (1751) und Gottscheds Auszug aus Batteux (1754) wendet der mit Klopstock befreundete Johann Andreas Cramer in einer der Abhandlungen zu seiner Psalmennachdichtung gegen Batteux ein: „... wie viel Witz muß er nicht verschwenden, an der Ode nicht eben diese Ungerechtigkeit zu begehen [sie nämlich wie das Lehrgedicht aus dem Gebiet der Dichtkunst zu verweisen]. Er sieht sich gezwungen, sie als eine Reihe nachgemachter Empfindungen zu beschreiben, und gleichwohl kann er nicht läugnen, daß die Oden oft die Ausdrücke der wirklichen Empfindungen unsers Herzens sind. Aber ehe er das eigentliche Wesen der Dichtkunst in der Begeisterung suchen sollte, eher macht er lieber den Dichter, wenn er in seinen Gesängen seine eignen wahren Empfindungen ausdrückt, zum Nachahmer seiner selbst. So sehr muß er sich widersprechen, ob er sich gleich auf eine sinn-
59 Daß Batteux übrigens seinerseits in einer längeren, mit der humanistischen Rezeption der Aristotelischen Mimesis zusammenhängenden Diskussionstradition steht, die hier allerdings nicht näher erörtert werden kann, sei wenigstens mit zwei charakteristischen Zitaten angedeutet: „... videtur quibusdam nullam esse lyricam poёsin, quoniam in ea nulla est humanarum actionum imitatio: contra aliis videtur satis illam imitari, dum hominum mores & affectus exprimit; & quamuis interdum vera pronuntiet, tamen in singularibus personis, non secus atque Epopoeiam, & Tragoediam, actiones effingere vniversales“ (Giovanni Antonio Viperano, De Poetica Libri Tres, Antwerpen 1579, ND München 1967, S. 149f.) – „Nunc solum dicam, quod si poesis citra figmenta foret nulla; DAVID, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poetarum numero debeant excludi“ (Gerardus Joannes Vossius, De Artis Poeticae Natura ac Constitutione liber, Amsterdam 1647, Expl. UB Köln, S. 20). 60 Zur Batteux-Rezeption in Deutschland und zur Rolle von J.A. Schlegels Batteux-Übersetzung vgl. u. a. die Arbeiten von Christoph Siegrist (Batteux-Rezeption und Nachahmungslehre in Deutschland, in: Geistesgeschichtliche Perspektiven. Festgabe für Rudolf Fahrner, Bonn 1969, S. 171–190), Joyce S. Rutledge (Johann Adolf Schlegel, Bern, Frankfurt a.M. 1974) und Irmela von der Lühe (Natur und Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland, Bonn 1979), die im einzelnen allerdings stärkerer poetikgeschichtlicher Fundierung und Differenzierung bedurft hätten. – Beispiel der fortschreitenden Kritik an der zunächst die literarische Diskussion in Deutschland befruchtenden Konzeption des Batteux und ausgiebiger Beleg für die Abkehr von seiner ursprünglichen Nähe zu Batteux ist die Rezension der 3. Auflage von J.A. Schlegels Batteux-Ausgabe (1770), die Herder 1772 in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ publiziert hat (SW V, 278–290).
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reiche Weise widerspricht“.⁶¹ Johann Adolf Schlegel führt in den Anmerkungen und Abhandlungen zu den verschiedenen Auflagen seiner Batteux-Übersetzung eine vielfältige polemische Auseinandersetzung mit dem Autor, in der gerade auch diese Frage eine wesentliche Rolle spielt.⁶² Klopstock meint 1759 in seinen „Gedanken über die Natur der Poesie“ lapidar: „Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: ‚Wenn du willst, daß ich weinen soll; so mußt du selbst betrübt gewesen sein!‘ ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! der ahmt also sich selbst nach?“.⁶³ Das lyrische Gedicht als Nachahmung oder Ausdruck der Empfindung – wobei der Begriff „Ausdruck“ selbst, wie die zitierten Passagen aus Batteux ebenso wie die von Herder zeigen, zunächst noch ambivalent bleibt und seinerseits erst allmählich nur noch unmittelbare Bekundung statt Abbildung,
61 Johann Andreas Cramer, Poetische Uebersetzung der Psalmen, T.1, Leipzig 1755 (Expl. StB München), S. 260. 62 Umfangreiche kritische Anmerkungen zu Batteux enthält schon die 2. Auflage (1759) von Schlegels Übersetzung. Auf einige von ihnen hat Batteux zuerst in der 1764 in Göttingen, Leiden und Paris erschienenen Ausgabe seines Werks (s. Jean-Rémy Mantion, Introduction, S. 64, in: Ch. Batteux, Les Beaux-Arts réduits à un même principe. Édition critique, Paris 1989) mit polemischen Gegenbemerkungen reagiert, die in die Pariser Ausgabe von 1773 übernommen worden sind (s. deren Nachdruck, Genf 1969, S. 62–65, 155f., 169f., 172, 233f., 294f., 317f., 319f. und die kritische Edition von Mantion). Alle diese Einwände des Autors gegen seinen kritischen Übersetzer hat dieser dann in der 3. Auflage (1770) seinerseits unter beträchtlicher Erweiterung seiner ursprünglichen Anmerkungen zum Gegenstand fortgesetzter Polemik gemacht. Dieses Fußnotendiskussion konzentriert sich auf Stellen, an denen es um die Rolle der Nachahmung für die Bestimmung der verschiedenen Künste, für die Gattungsgliederung der Poesie und insbesondere für die lyrische Dichtung geht, die bei Schlegel auch über die von Batteux aufgegriffenen Einwände hinaus einen Schwerpunkt seiner gerade hier den Text um ein Mehrfaches an Umfang übertreffenden kritischen Fußnoten bildet. 63 Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 993 (Erstdruck im „Nordischen Aufseher“, 1759). Zu Klopstocks vorausgegangener eingehender Beschäftigung mit Batteux vgl. die Belege in seinem Arbeitstagebuch von 1755/56: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Addenda, Bd. 2, hrsg. v. Klaus Hurlebusch, Berlin, New York 1977, S. 34f., 46, 90, 102.
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Darstellung meint⁶⁴ –, Nachahmung oder Ausdruck der Empfindungen – das ist der eigentliche Drehpunkt der Veränderungen der Lyrik und Lyriktheorie im 18. Jahrhundert.⁶⁵ Mit diesem Problem müht sich auch der angeführte längere Text Herders zur Ode ab, mit dem Versuch seiner Klärung tritt Herder in die Lyrikdiskussion seiner Zeit ein. Die auf Dommerich beruhende Niederschrift Herders hatte noch ganz im Sinne von Batteux formuliert: „da der Dichter durch die Vorstellung seine Einbildungskraft so erhizt hat als hätte er die Sache vor sich und wäre wirklich im Affekt“. Jetzt, in den beginnenden eigenen Überlegungen verläßt er diese Position zwar noch nicht gänzlich, aber er versucht, genauer zu verstehen, wie sich denn wahre Empfindung, die ihm anders als Batteux offenkundig nicht mehr nur als Sonderfall zu gelten beginnt, mit dem immer noch als Nachahmung verstandenen Verfahren des Gedichts verbinden könne. Herders Antwort lautet hier: die Empfindung ist wahr, aber ihr Ausdruck im Gedicht, das noch nicht allein als Bekundung des hervorbringenden Subjekts, sondern in langer Tradition mindestens ebenso sehr im Blick auf den Leser oder Hörer gesehen wird, ist nur möglich als ein Werk der Kunst: das Gedicht ist „ein perspektiv“ wahrer Empfindungen, „in dem sie der andere siehet“, der Dichter „hat die Gegenstände geschildert, wie ich [der Leser] sie würde empfunden haben, so daß ich mich künstlich hintergehe mit der Wahrheit. Ist Zwang zu sehen; so ist er ein Künstler im bösen Verstande“. Das bleibt noch in der Nähe des Batteux, aber geht doch einen entscheidenden Schritt über ihn hinaus: die Wahrheit der Empfindung ist hier Bedingung der Möglichkeit des Gedichts, wenn dieses auch noch nicht allein aus ihr abgeleitet wird. Im einzelnen bleibt dabei freilich vieles unentschieden, tastend, widersprüchlich, in dieser wie in den anderen frühen Aufzeichnungen, die die Ode von ihren überlieferten Merkmalen her zu verstehen, diese auch fortzuentwickeln suchen, die an bestimmten Stellen auch zur Kritik an ihr ansetzen, aber doch an ihr als dem Modell einer den Empfindungen
64 Zur Geschichte des Begriffs „Ausdruck“ und seiner Wandlungen im 18. Jahrhundert vgl. u. a. die Artikel von G. Tonelli und B. Fichtner in: Histor. Wörterb. d. Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 653–661 und von H.U. Gumbrecht (Abs. I u. II; ohne Erwähnung Herders) in: Ästhet. Grundbegriffe, Bd. 1, 2000, S. 418–423, sowie ferner den Exkurs VI „Zum Begriff des Ausdrucks“ bei Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 474–476 und die großangelegte, wenngleich nicht immer strikt genug historisch verfahrende Monographie von Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. 65 An mancherlei, meist allerdings knappen und wenig differenzierten Hinweisen zu diesem grundlegenden Vorgang, die im einzelnen hier anzuführen sich erübrigt, fehlt es in der Herder-Literatur wie in anderen Arbeiten zum 18. Jahrhundert nicht, wohl aber zumeist an entschiedenen Ansätzen, dies als einen Vorgang fortwährender Transformation zu begreifen und zu beschreiben.
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geweihten Dichtung festhalten. Manches wirkt in die ersten publizierten Schriften hinein, wo sich denn in der 3. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ (1767) noch einmal eine freilich entschiedener gewordene, aber deutlich an die frühere Aufzeichnung anknüpfende Formulierung von Herders vorläufiger Antwort auf die Frage nach wahrer Empfindung und Nachahmung findet: „Hieraus, glaube ich, geht man der Frage entgegen, die unter einigen neuen Kunstrichtern, bald verneint, bald bejahet ist: ob die Ode wahre Empfindung, oder Nachahmung sey! Spielt man nicht mit der ganzen Frage; so muß man theilen, und fragen: ist die Ode ein würklicher Ausbruch von Leidenschaft und Empfindung? Unmöglich; wenn ich eine Ode nach der gewöhnlichen Bedeutung verstehe, so ist sie schon immer künstliche Sprache. Kann die Ode ein Poetischer Ausdruck einer wahren Empfindung seyn? Ja, und billig sollte sie es durchaus seyn. Kann der Poetische Ausdruck einer wahren Empfindung Nachahmung heißen? Meinetwegen! nur den Poetischen Ausdruck betrifft das Nachahmende allein; die Empfindung bleibt die wahre, nur sie ist schon so gelindert, daß die Einbildungskraft gleichsam ihren natürlichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunst überträgt“ (SW I, 478f.). Nicht ohne Gründe scheinen die vielen Entwürfe Herders zur Ode und zu einer Geschichte der Dichtkunst aus ihrem Ursprung als Lied nicht zu einem Ende gekommen zu sein, so wichtig sie für sein weiteres Denken gewesen sind. Sie zeigen, wie schwierig es begreiflicherweise sein mußte, die sich allmählich vollziehende Veränderung des Lyrikverständnisses bewußt zu machen und zu formulieren. Wenn die ersten Versuche Herders, über Batteux hinauszugehen, noch so in der Schwebe bleiben, so hat das freilich seinen besonderen Grund darin, daß er in der oben zitierten frühen Niederschrift ein Moment der Batteux’schen Begründung für den Nachahmungscharakter der lyrischen Poesie, das Angewiesensein auch der als Ausnahme verstandenen wahren Empfindung auf „Gedanken, auf Ausdrücke, auf den Wohlklang“ (T.I, S. 209; 1770: T.I, S. 384), radikaler als Batteux sieht: „Daß Worte Gedanken ausdrücken, weis ich wohl, aber Empfindungen? Nein! eigentlich zu reden auch nicht eine einzige ... eine ausgedrückte Empfindung ist ein Wiederspruch ... Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm ...“. Herder kann sich eine unmittelbare Bekundung von Empfindung, auch dabei übrigens noch ein bei Batteux nicht ganz fehlendes Moment aufgreifend, das bei ihm selbst dann mächtig weiterwirken wird, – er kann sich solche unmittelbare Bekundung von Empfindung allenfalls in einem frühen, fast sprachlosen Zustand der Natur vorstellen, durch „Minen, Accente und Thaten“ geschehend, nicht aber in der Sprache als dem Mittel vernünftigen Denkens, die die Empfindungen immer nur mittelbar, eben doch nur nachahmend ausdrücken zu können scheint, mag auch das, was sie so ausdrückt, wahre, wirklich erfahrene Empfindung sein. Erst indem Herder in
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seinen frühen Schriften, zumal im ersten Teil der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ (1767) und in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772), in Anknüpfung an mancherlei ältere wie zeitgenössische Vorstellungen die Sprache selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens macht,⁶⁶ wird es ihm möglich, Sprache als Ausdruck zu denken. Indem er die Frage nach dem Ursprung der Dichtung ausweitet zu der nach dem Ursprung der Sprache, die er in ihrem ersten Auftreten geradezu „als eine Sammlung von Elementen der Poesie“ (SV V, 56) versteht, treten für ihn die unmittelbar sinnlichen Möglichkeiten der Sprache als Mittel des Ausdrucks hervor: „Da die Sprache aus der Wildheit zur Politischen Ruhe trat, war sie merklich von der Prosaischen unterschieden; die stärksten Machtwörter, die reichste Fruchtbarkeit, kühne Inversionen, einfache Partikeln, der klingendste Rhythmus, die stärkste Declamation – alles belebte sie, um ihr einen sinnlichen Nachdruck zu geben, um sie zur Poetischen zu erheben“,⁶⁷ heißt es nun in der ersten Sammlung der Fragmente, wo Herder kurz darauf in Polemik gegen eine zu sehr nur auf die Verstandesleistung der Sprache gerichtete Auffassung Sulzers erneut feststellt: „... in einer sinnlichen Sprache müssen uneigentliche Wörter, Synonymen, Inversionen, Idiotismen seyn“ (SW I, 160f.). Zwar gilt all dies nach Herders Auffassung vor allem für frühe, ursprüngliche Zeiten, trifft spätere der Verdacht des Verfalls in die bloße Prosa der Gedanken – ein Spannungsverhältnis, das, auch als Gegensatz von Natur und Kultur formuliert, immer wieder auch im späteren Werk Herders begegnet und immer wieder auch Mißtrauen gegen die Ode als eine künstliche und daher vielleicht doch nur nachahmende poetische Form wachwerden läßt, aber auch gegen die Möglichkeit späterer, kälterer Zeiten, empfindungsreiche Oden überhaupt hervorzubringen.⁶⁸ Doch in dem Maße, in welchem Herder
66 Vgl. dazu u. a. Ulrich Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, StuttgartBad Cannstatt 1988 – Hans Dietrich Irmscher, Nachwort, in: Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1966, S. 137–175. 67 SW I, 157 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur. 1. Sammlung von Fragmenten. S. auch den aus dem Nachlaß veröffentlichten Entwurf zur Bearbeitung der 1. Sammlung für die 2. Ausgabe in: Herder, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur 1, hrsg. v. Regine Otto, Berlin, Weimar 1985, S. 561–568. 68 HN XXV, 170a (Entwurf zur Odenabhandlung, ca. 1764): „... was bleibt nach dem jetzigen Zustand uns vor Oden übrig. Daß bei uns die Empfindung erstorben, sehen wir am Goldnen Alter ... Ist die Ode im Anfang blos wahre wirkliche Empfindung gewesen wie ward sie nachher nachgeahmte Empfindung ...“ – SW XXXII, 73 (Fragmente einer Abhandlung über die Ode, 1764/65): „Übernähme man’s, die ältesten wahrhaftig lyrischen Stücke ... zu zergliedern: so würde sich nicht blos die Wahrheit ihrer Empfindung im Ganzen, sondern auch in ihren feinen Gängen zeigen, und sich der kalte Zwang der Neuern entdecken, die sich in einen fremden Affekt der Alten setzen ... wir zirkeln uns kalte Plane nach Regeln ab, um künstlich trunken
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sich, wie zahlreiche eindringliche Wendungen der frühen Schriften bezeugen, solcher sinnlichen Qualitäten der Sprache vergewissert, in dem Maße auch, in welchem er in engem Zusammenhang damit – wiederum vor allem im Blick auf die Ursprünge und unter Rezeption einer Reihe wichtiger zeitgenössischer Beiträge⁶⁹ – dem Zusammenhang von Dichtung und Musik, Poesie und Gesang nachgeht, wird es möglich, solche Momente auch mit der Ode als der sangbaren Dichtungsart gesteigerter Empfindungen und ihren Spielarten zu verknüpfen und auch in Gedichten späterer Zeiten verwirklicht zu sehen. In Auseinandersetzung mit dem sich als Pindarnachfolger verstehenden Johann Gottlieb Willamov und im Blick auf Klopstock und die Karschin heißt es in der Überarbeitung der 2. Fragmentensammlung „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ von 1767/68: „so werde die Nachahmungslose, feurige Begeisterung des Dithyramben Vorbild: denn bei uns ist leider! selbst die schöne Unordnung des Horaz zum abgezirkten
in ihnen zu kindern. Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten, und wißenschaftliche Reimer beschließen die Zahl.“ – Br I,76 (an J.G. Scheffner, März 1767): „Ihre lyrische Methode scheint aber blos künstliche Oden gebären zu wollen: ich bin also nicht vor sie“ – SW IX, 529ff. (Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, 1777): „Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und eckle Rezensenten, ... machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet ... Wer hat nicht von den Wundern der Barden und Skalden gehört ... Hier war zwar einfältiger, aber starker, rührender, wahrer Sang und Klang, voll Gang und Handlung, ein Nothdrang ans Herz ... Ihr neuen Romanzer, Kirchenlieder- und Odenversler, könnet ihr das? ... Für Euch sollen wir alle im Lehnstuhl ruhig schlummern, mit der Puppe spielen, oder das Versebildlein als Kabinetstück auffangen, daß es im klassischen vergoldtem Rahm da zierlich müssig hange.“ 69 Intensiv, wenngleich nicht unkritisch, hat Herder vor allem diese Schriften rezipiert, die er z.T. auch noch in späteren Jahren erwähnt: John Aikin, Essays on Song Writing, London 1771: SW V, 470–474 (Rezension, 1772); XXV, 578, 600 (Aikin als Quelle von Nachdichtungen englischer „Volkslieder“; s. auch HN XIII, 76, 218f., 229; XX, 135); Br II, 212 (an Hamann, 1.–25.8.1772); Bibl. Herderiana, Nr. 6690 (Ausgabe Warrington 1774) – John Brown, A Dissertation on the Rise, Union, and Power, the Progressions, Separations and Corruptions of Poetry and Music, London 1763; Betrachtungen über die Poesie und Musik, nach ihrem Ursprunge, ihrer Vereinigung, Gewalt, Wachsthum, Trennung und Verderbniß, übers. v. J.J. Eschenburg, Leipzig 1769: SW V, 59 (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772); 398 (Rezension: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 1774); VIII, 337 (Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker, 1778); X, 77f. (Briefe, das Studium der Theologie betreffend, T.I, 1780); XII, 177 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, T.II, 1783); XXXII, 129 (Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 1765/66); s. auch Anm. 28 – Gottfried Krause, Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752: Br I, 64f. (an J.G. Scheffner, 23.9./4.10.1766); Bibl. Herderiana, Nr. 5518 – Daniel Webb, Observations on the Correspondence between Poetry and Music, London 1769; Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie und Musik, übers. v. J.J. Eschenburg, Leipzig 1771: SW V, 309–311 (Rezension, 1772); XXII, 95 (Kalligone, T.I, 1800); Br II, 64 (an Nicolai, Ende August 1771); HN XXXIV, 2, Meine Bücher. Den 21.Jun.776, S. 20, Nr. 397.
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Gesetz geworden. Die Einbildungskraft, von einem würdigen reichen Gegenstande aufgefodert, von Musik und Sprache geleitet: diese Poetische Phantasie gehet, wenn sie sich einmal nicht rasende Ausschweifungen nüchtern vorsetzt ... ihren himmlischen Sonnenweg, voll Glanz und Licht und Feuer ... Zwar wird sie alsdenn nicht Horazische Oden, deren Gang ein bittrer Censor so schulmeisterhaft abgezirkelt hat; sie wird nichts, als – Gemälde der Einbildungskraft liefern, die eben dieser Schulverbeßerer so geringe hält; was hat sie aber mit ihnen geliefert? Lebende Abdrücke einer ungemein Menschlichen Seele: warme Abgüße der Empfindung in ihren besten Stunden; und als solche wie weit stehen sie bei dem Kenner von Poetischem Gefühl vor allen regelmäßigen Nachahmungen voran? ... Von selbst wird also auch die Sprache Dithyrambisiren, und mit edelm Ungestüm Zaum und Zügel bisweilen abwerfen: sie wird flechten und formen, kämpfen und siegen: aus dem ungedachten und unempfundenen Chaos, auch ungesagte Worte sagen, ungegebne Gesetze geben, und in neue Wege lenken. Aber alles nicht, um Dithyrambisch zu seyn, wie es unser Dithyrambensänger und meistens also ohne Grund, und Ort und Zweck und Kraft gethan hat; sondern weil sie es so seyn muste: wie Klopstock und Karschin zeugen, von welcher sich auch manche getadelte Zusammensetzungen retten ließen. Sylbenmaasse endlich: ungebunden und stark: so viel sie den Affekt stüzzen, so viel sie Musik ausdrücken: so viel sie den Tanz hören laßen können. Dies Können aber welche steile und unabsehbare Höhe, wenn ich nicht nach Regeln und Mustern ein Baugerüst aufschlagen will ... Eine lyrische Monologue voll Affekt und Handlung, und Musik, und malendem Tanze – die höchste Stuffe des Ausdrucks! Wohlan! sie heiße Dithyrambe!“ (SW II, 180f.). Sofern Herder in der Sprache selbst und auch in ihrer metrischen Formung Ausdrucksmöglichkeiten findet, die auch die Ode nicht als ein nur engen Regeln folgendes Erzeugnis, sondern als ein aus dem Gang, aus der Bewegung der Empfindung abgeleitetes lebendiges Gebilde vorstellen lassen, gewinnt die Rede vom Ausdruck der Empfindungen, vom Abdruck der Seele oder von der Sprache des Herzens⁷⁰ – auch wenn noch in späteren Schriften eigentümlich schillernde, auf ein ursprünglich rhetorisches Verständnis noch zurückweisende Formulierungen begegnen können⁷¹ – eine von der zuerst nur zögernden Umformulierung
70 Vgl. z. B. auch SW I, 436 (Eine Ode, die würklich Empfindungen singt und in mir erregen will, muß sich in das Labyrinth der Mythologie gar nicht, oder nur selten verlieren); 467 (Alle seine [Klopstocks] Oden sind meistens Selbstgespräche des Herzens); V, 350 (da ... die ganze Fülle des Herzens und der Seele alle Stücke des Verf. [Klopstocks] durchgeht ... welch ein Geschenk hat unsre Sprache, unsre Dichtkunst ... an dieser einzigen Sammlung Oden). 71 Vgl. z. B. SW XII, 6 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783): „Von außen strömen Bilder in die Seele: die Empfindung prägt ihr Siegel drauf, und sucht sie auszudrucken durch Geber-
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der Batteux’schen Position immer weiter fortführende Sicherheit und Geläufigkeit, kann auch gerade die Ode – sei es im engeren, sei es im weiteren, aber eben doch auch von der gesteigerten, begeisterten Empfindung bestimmten Sinne – das Modell bleiben, von dem dann die geschichtlichen Wirkungen von Herders Lyrikauffassung ausgehen. Damit es zu solcher Wirkung kommt, bedarf es freilich nicht nur der allmählichen, aber folgenreichen Umprägung der Vorstellung von einer Nachahmung von Empfindungen zu der vom Ausdruck wahrer Empfindungen als dem, was mit den alten Bestimmungen der Ode gemeint sei, sondern auch der Umprägung eines anderen grundlegenden Moments humanistischer Poetiktradition und seiner Anwendung auf die Ode. Zu den praecepta, den Regeln – in ihrem Bereich vollzieht sich Herders Auseinandersetzung mit der Odentheorie – gehören im humanistischen Verständnis von Poetik, das seine Wurzeln in der Antike hat, die exempla, die Muster hinzu. An ihnen hat sich die Poetik ausgebildet, an ihnen wird sie dargelegt, sie dienen auf dem Wege der imitatio der Einübung und der Entfaltung eigener poetischer Produktion des Adepten solcher Poetik. Muster der Ode sind seit dem frühen Humanismus Pindar und Horaz, an ihrer Kommentierung und Exegese hat sich die neuzeitliche Odentheorie entwickelt.⁷² In Herders früher Niederschrift zur „Dichtkunst“ wird in dem über Dommerich hinaus erweiterten historischen Teil Pindar „Der Gröste hitzigste Lyricus u. (nach Horaz) unnachahmlich“ (HN XXVI, 4, Bl. 5v), wird Horaz „der einzige Lyricus in Rom und ein wahres Muster“ (Bl. 6r) genannt. In den schon in den Zusammenhang der eigenen Überlegungen zur Ode und zur Geschichte der Dichtung oder des Liedes gehörenden frühen Papieren des Nachlasses heißt es von Pindar ganz ähnlich: „Seine Oden sind die feurigsten, von der ausgelaßensten Einbildung, erhaben“ und von Horaz: „Der gröste Odendichter der Römer ... Mit dem Pindar will er sich zwar nicht meßen, aber doch ist er unnachahmlich“,⁷³ und in einer schematischen Übersicht von
den, Töne und Zeichen“; XXII, 146 (Kalligone, 2.T., 1800): „... was in mir vorgeht, drucke ich durch Töne und Gebehrden aus“; 154f.: „Dem darstellend-erzählenden Dichter folge ich willig, wohin er mich führet; ich sehe, höre, glaube, was er mich sehen, hören, glauben macht; vermag er dies nicht, ist er kein Dichter. Ein Gleiches ist mit dem Ausdruck seiner Empfindungen; vermöge der dem Ausdruck selbst einwohnenden Macht fühle ich mit ihm“. 72 Hierzu in diesem Band die Abhandlung „Principes Lyricorum“. 73 HN XXVI, 4, 55r u. 58r (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; Rigaer Zeit). – Nicht verwunderlich ist, daß in den zitierten Äußerungen Herders die Urteile Quintilians über Pindar (inst. orat. X,1,61) und Horaz (X,1,96) anklingen, die entscheidende Orientierungspunkte der gesamten neuzeitlichen Pindar- und Horazrezeption gewesen sind.
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Gattungen wird bei der Ode Pindar als der „Vater der heroischen Ode“, Horaz als der „Vater der lehrreichen“ angeführt.⁷⁴ Herder knüpft damit auch in der Orientierung an Mustern auf die selbstverständlichste Weise an die Überlieferung der humanistischen Poetik an. Und diese Beziehung zu Pindar und Horaz als den wichtigsten Mustern antiker Lyrik bleibt für ihn und seine Beschäftigung mit der Lyrik und ihrer Theorie lebenslang bestehen, wobei Horaz gemäß der von der Schwierigkeit Pindars bestimmten neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte das Übergewicht hat.⁷⁵ Im Nachlaß liegen aus den frühen Jahren verschiedene Aufzeichnungen zu Pindar und Horaz, Analysen einzelner Oden mit den Mitteln der Odentheorie, Ansätze zu Abhandlungen, Notizen und Exzerpte,⁷⁶ die vielfach mit den Plänen zu Abhandlungen über die Ode und die Geschichte der Dichtkunst zusammenhängen. Wiederholt hat Herder Ausgaben oder Übersetzungen der beiden Dichter und Kommentare zu ihnen rezensiert,⁷⁷ beiden Dichtern gelten intensive Bemühungen um angemessene Nachdichtungen,⁷⁸ mit Pindar hat Herder sich u. a. im Blick auf Willamovs Dithyrambendichterei wiederholt beschäftigt,⁷⁹ und noch im postumen letzten Teil der „Adrastea“ gilt Pindar ein Aufsatz „Pindar, ein Bote der Götter, Ausleger alter Geschichten“ (SW XXIV, 335–338). Horaz hat Herder eingehend – und unter
74 HN XXVI, 4, 61v (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit). 75 Das spiegelt sich auch in der Vielzahl älterer und neuerer Horaz-Ausgaben und -Übersetzungen, die Herder besessen hat: Bibl. Herderiana, Nr. 1983, 2012, 2041, 2223, 2234, 2267, 2268, 2269, 2270, 2271, 2272; Appendix, Folio Nr. 19; zu Horaz Nr. 2065. Zu Pindar-Ausgaben in Herders Besitz s. Anm. 84. – Zur Rezeption Pindars in der Neuzeit vgl. insbesondere die Monographie von Martin Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005 (darin S. 159–179 zu Herder). 76 Vgl. u. a. HN I,30 („Über Pindar“); XV, 158 (Notizen über Pindar); XXIII, 118, 31r („Aus Klotzens Vindiciae“), 32bv–32 ur (Übersetzungsversuche zu Pindar und Bemerkungen über ihn; Untersuchungen und Exkurse über Pindars Oden); XXV, 57, 4v („Plan zu einer Ästhetik“); 164 („De melicis sive lyricis“); 170a (Entwurf zur Odenabhandlung); 185 („Horatius Carmen saec.“, Interpretationen von 10 Oden des Horaz); 249, 5rff. („Schröder von der lyrischen Poesie“, Exzerpte); XXVI, 14, 1 („Marmontel von der Ode“); 14, 3–4 („Von der Ode aus den Breslauer Beiträgen“); XXVIII, 2, 105rf. („Brocken aus dem klaßischen Alterthum“); XXVIII, 12, 57rf. (Aufzeichnungen über Pindars Ol. 6–8). 77 Vgl. SW V, 303–309 (J.C. Briegleb, Vorlesungen über den Horaz, 1770); 427 (Anon., Versuch einer prosaischen Übersetzung der griechischen Lieder des Pindar, 1771); XXXIII, 206–215 (Pindari carmina cum lectionis varietate curavit Christian.Gottlob Heyne, 1773). 78 SW XXVI, 188–210 (Pindars Siegsgesänge); 213–283 (I. Oden von Horaz; II. Sermonen von Horaz). 79 SW I, 68–72 (Rez.: [Willamov], Dithyramben, 1764), 307–330 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, IV. Von der Griechischen Litteratur in Deutschland. B. 2: Pindar und der Dithyrambensänger); IV, 251–260 (Rez.: [Willamov], Dithyramben, 21766).
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Verwendung der Kriterien der Odentheorie – gegen Schriften des Altphilologen Christian Adolf Klotz verteidigt,⁸⁰ Horaz dient Herder immer wieder zum Vergleich und als Maßstab bei der Beschäftigung mit zeitgenössischen Autoren wie Ramler oder Klopstock oder mit dem Neulateiner Balde;⁸¹ Horaz, den der junge Herder „meinen Liebling“ (HN XXV, 170a) nennt und der alte Herder noch „jenes feine Echo der Griechen“ (SW XVII, 65), „diesen schönen Dichter“ (SW XVIII, 10), den „vielleicht ... schätzbarsten Dieb aller Zeiten“, der „die Griechen so schön bestahl“ (SW XXIII, 245), und den er mit „unbeschreiblicher Freude“ (SW XVII, 65) liest – Horaz widmet Herder noch in seinem Todesjahr in der „Adrastea“ „Briefe über das Lesen des Horaz“ (SW XXIV, 199–222). Dazu treten viele weitere Stellen, an denen Pindar und Horaz in anderem Zusammenhang genannt werden und sich immer wieder als die überlieferten mächtigen Muster lyrischer Dichtung erweisen.⁸² Und um solche Bedeutung geht es auch dort, wo Herder bei aller Beziehung zur humanistischen Tradition von bestimmten Zügen des überlieferten Bildes dieser Dichter kritisch abrückt, wenn er etwa wiederholt die Form der sogenannten pindarischen Ode, die, vom Barock rhetorisch-dialektisch als spannungsreiches Gebilde aufgefaßt, bei Gryphius großartige Gedichte ermöglicht hatte, ablehnt, weil er solches Formverständnis nach rhetorischen und logischen Gesichtspunkten offenkundig nicht mehr zu teilen vermag,⁸³ wenn er, auch hier den rhetorischen Blick auf einen Text, bei aller noch vorhandenen eigenen rhetorischen Schulung, nicht mehr teilend, immer wieder gegen die bedeutende, durch ihre rhetorischen Analysen für das Barock bezeichnende und noch im 18. Jahrhundert lange maßgebliche Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid aus dem Jahre 1616⁸⁴ polemisiert, weil man aus ihrer lateinischen Ver-
80 SW III, 320–364 (Kritische Wälder, 1769: 2. Wäldchen über einige Klotzische Schriften, III. Ueber einige Horazische Rettungen und Erläuterungen); IV, 243–251 (Rez.: Christ. Adolph. Klotzii opuscula varii argumenti, 1766). 81 Vgl. HN XXVIII, 10, r v–sv (zu Ramler); SW I, 450ff. (zu Ramler); 467f. (zu Klopstock); XXVII, 4, 8, 212f., 220ff. (zu Balde). 82 Vgl. dazu die Nachweise im Register SW XXXIII, 99 und 130f. 83 So SW I, 450 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: III,1 Von der Horazischen Ode); XVIII, 104 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, 1796, Nr. 98); HN XXIII, 118,32e (Untersuchungen und Exkurse über Pindars Oden, ca. 1766: „... man ... beurteile ihn nicht nach unsern Regeln d. Pind. Ode ...“). 84 PINDAROU PERIODOS hoc est Pindari Lyricorum Principis ...’OLUMPIONIKAI. PUQIONIKAI. NEMEONIKAI. ’ISQMIONIKAI. Illustrati Versione nova fideli. Rationis metricae indicatione certa. Dispositione textus genuina. Commentario sufficiente … Opera Erasmi Schmidii, Wittenberg 1616 (Expl. HAB Wolfenbüttel). Herder hat – neben anderen Pindar-Ausgaben – auch die von Schmid besessen: vgl. sein eigenhändiges Verzeichnis „Meine Bücher. Den 21.Jun.776“ (HN XXXIV, 2), S. 8, Quart Nr. 119 (danach unter Nr. 120/121 die für das spätere
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sion Pindar nicht verstehen könne (HN I, 30) und weil Schmid, wie eine frühe Notiz im Nachlaß besagt, Pindar „in seinen Tabellen zerräderte“ (HN XXIII, 118, Bl. 32e),⁸⁵ wenn er in der sehr kritischen Rezension eines Horazbuches⁸⁶ über Horaz-Ausgaben spottet, „wo auch jede Ode in sechserlei Sinn, grammatisch, poetisch, rhetorisch, moralisch und wie weiß ich mehr? durchgenommen“ (SW V, 303) werde, oder wenn er sich kritisch über die Behandlung der – zuerst von Quintilian hervorgehobenen – audacia, der Kühnheit des Odendichters Horaz durch Klotz ausläßt.⁸⁷ Pindar und Horaz als Muster der Ode und damit der Lyrik – das ist eine Konstante in Herders ganzem Werk, die sich nicht deutlich genug vor Augen halten kann, wer nach Herders Vorstellungen von lyrischer Dichtung, nach ihren Voraussetzungen und nicht nur nach ihren Wirkungen fragt. Aber daneben stehen Bemerkungen wie diese (1767 in der Rezension der „Opuscula“ von Klotz): „... vor allen Dingen würde ich im Quintilian das Wort aliquando: Horatius insurgit aliquando [Horaz erhebt sich bisweilen], nicht überhüpfen ... Ich würde dem alten bescheidnen Kunstrichter zufolge, die Poesie des Horaz nicht für die Schranken aller Lyrischen Kühnheit ansehen, und es aus unsrer Denkart und Stuffe der Cultur wahrscheinlich zu machen suchen, daß er, zum Trost der Odendichter, nicht alles Glück der Odenschwünge erschöpft habe. Ich würde mir mehr Mühe drum geben, wie bescheiden er die Kühnheit der Griechen nur von Ferne nachgeahmt; wie viel Vorrechte er als der erste kühne Lyrische Sänger in Rom, hatte; und nun kommt das große Feld, wie weit sind ihm die Neuern an Kühnheit ihrer Nachbildungen nahe gekommen? wie weit verbietet es die Zeit, ihm vorzufliegen, oder ihn zu erreichen? Betrachtungen, wo überall die Parallele zwischen Urbild und Kopie statt Beispiel und Erläuterung sein müßte“ (SW IV, 247) oder in der Bearbeitung der 2. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere deutsche Litteratur“ (1767/68): „... wenn eine Dichtungsart Zwang erleidet, und Zwang auflegt: so ist es die Lyrische vielleicht. Zum Unglück sind
18. Jahrhundert maßgebliche, bahnbrechende Pindar-Ausgabe von Christian Gottlob Heyne) und Bibl. Herderiana, Nr. 1623 (hier weitere ältere und neuere Pindar-Ausgaben unter Nr. 1661/2, 1785–1789, 1803, 1888; zu Pindar Nr. 1638 und 1663). – Zur Bedeutung der Ausgabe von Schmid für die Pindar-Rezeption s. in diesem Band die Abhandlung „Principes Lyricorum“ (dort insbes. S. 41f.). 85 Vgl. auch SW I, 308, 325; II, 161 („… daß man ihm [Pindar], wie unser werthe Landsmann Erasmus Schmid durch Uebersetzung und Commentar, einen spanischen Mantel umwirft ...“); III, 348; XXXIII, 206 (hier – in den einleitenden Sätzen einer Rezension der 1773 erschienenen Heyne’schen Ausgabe – ein etwas milderes Urteil). 86 SW V, 303–309: Rezension der „Vorlesungen über den Horaz. Von J.C. Briegleb, Altenburg 1770“, erschienen in F. Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek“, 1772. 87 S. in den in Anm. 80 genannten Schriften: SW III, 342ff. und IV, 243ff.
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hier die Gesetze von zu wenigen Mustern und meistens von dem einzigen Horaz abgezogen: in ihr sind die größern Originale andrer Nationen ... und selbst der Griechen, weniger bekannt, wenigstens nicht so häufig, als Vorbilder genutzt: in ihr hat man also auch vielleicht die wenigsten Originalgattungen. ‚Horaz hat,‘ (wie dies selbst der größte Dichter der Deutschen schreibt, und der künstlichste Dichter der Deutschen⁸⁸ beweiset) ‚Horaz hat den Hauptton der Ode, durch die seinigen, bis auf jede seiner feinsten Wendungen bestimmt. Er hat alle Schönheiten erschöpft, deren die Ode fähig ist. Man kann den Werth einer Ode nicht beßer ausmachen, als wenn man frägt: würde Horaz diese Materie so ausgeführet haben? Das Wesentliche, was die lyrische Poesie fodert, dem sich selbst ein Originalgenie unterwerfen muß, dies Wesentliche hat Horaz, durch sein Muster festgesetzt!‘ O welcher Horazische Despotismus! Ihr Genies der lyrischen Poesie! laßet uns dies Sklavische Land verlaßen, wo uns Hauptton, Mythologie, Wendung, und was weiß ich mehr für Bürden aufgelegt werden. Nach beßern Nationen, nach dem Ursprunge der Dichtkunst wollen wir wallfahrten ... „ (SW II, 179). Und wie hier wird der an dieser Stelle mit Namen nicht genannte Klopstock⁸⁹ – bei aller Verehrung, die Herder für ihn als Oden- und Messias-Dichter empfand – auch sonst mehrfach – mit oder ohne Nennung des Namens – für die Kanonisierung von Horaz als eines alleinigen Musters der Ode getadelt.⁹⁰ Kritische Äußerungen Herders wie diese, verknüpft mit Kritik an einer Odentheorie, die als zu eng empfunden wird, nicht nur, weil der Ausdruck der
88 Der frühe Herder wußte Ramlers, des hier gemeinten „künstlichsten Dichters der Deutschen“, Leistung als eines „vollkommenen Musters“ einer an Horaz geschulten deutschen Ode (SW I, 463; „Von der Horazischen Ode“, in der 3. Sammlung der „Fragmente“, 1767) sehr wohl zu schätzen (s. auch SW IV, 261–271: Rezension von Ramlers „Oden“, 1767, in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, 1768) und hat das auch später nicht verleugnet (s. z. B. SW XVIII, 172; Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, Nr. 104, 1796). Aber im Zuge der eigenen intellektuellen Entwicklung und des allgemeinen Geschmackswandels kommt es bei ihm dann doch auch zu harscher Kritik, die bei Ramler „schöne Regelgerippe mit Mythologie behangen“ sieht (Br I, 315; an A.P. von Hesse, 13.3.1771) oder im Vergleich mit Horaz „Ramler u. alle seine Nachahmer ... steife Böcke“ (Br VI, 70; an W.Chr.G. Herder, 28.10.1788) nennen kann, weil sie immer stärker am starren, einseitigen Festhalten an Horaz als dem verabsolutierten antiken Musterautor der Ode Anstoß nimmt. 89 Die mit einiger Freiheit zitierte Passage stammt aus Klopstocks Aufsatz „Gedanken über die Natur der Poesie“, der 1759 im „Nordischen Aufseher“ erschienen ist (Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. K.A. Schleiden, S. 995). Dieselbe Passage zitiert und positiver bewertet SW I, 468 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767). 90 Vgl. z. B. SW I, 461 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: Von der Horazischen Ode); V, 354 (Rez. Von Klopstocks „Oden“, 1771, in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, 1773); XX, 274 (Rez. der Gedichte der Karschin, 1797).
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Empfindung sich selbst seine Regeln schaffen müsse, sondern auch, weil sie aus zu wenigen oder eigentlich nur einem Muster abgeleitet sei, – solche Äußerungen zeigen, daß Pindar und Horaz, so hoch ihre Geltung bei Herder auch ist, als Muster der Ode dennoch nicht unangefochten sind, nicht weil Muster als solche von Herder abgelehnt würden, sondern weil sich mit ihnen für Herder die Frage stellt, in welchem Sinne sie denn Muster sein und als solche nachgeahmt werden können. Damit aber steht Herder im Zusammenhang einer seit Jahrhunderten geführten Erörterung. So grundlegend die imitatio von antiken Mustern für die Ausbildung einer neuzeitlichen Literatur durch den Humanismus gewesen ist, so sehr gehört von früh an die Frage nach der richtigen Art, dem richtigen Maß solcher imitatio, die Diskussion von imitatio und aemulatio zu diesem Vorgang hinzu.⁹¹ Einer der frühen markanten Beiträge ist der gegen Auswüchse der Cicero-Nachahmung gerichtete „Ciceronianus“ des Erasmus, den Herder besessen hat.⁹² Einen Beleg aus dem 17. Jahrhundert führt Herder an, wenn er in der „Terpsichore“ (1795) aus Baldes „Dissertatio de studio poёtico“ ausführliche Passagen über die Alten als exempla und über die auf sie gerichtete angemessene aemulatio übersetzt und in dem Satz zusammenfaßt: „Wir sollen Muster nachahmen, daß wir selbst Muster werden“ (SW XXVII, 217).⁹³ Eine ins
91 Vgl. hierzu jetzt die materialreichen Artikel im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ von Barbara Bauer (Bd. 1, 1992, Sp. 141–187: Aemulatio) und Nicola Kaminski (Bd. 4, 1998, Sp. 235– 285: Imitatio). – Zu Herder finden sich neben mancherlei knappen Hinweisen, die das Spannungsverhältnis von imitatio und aemulatio kaum mehr als nur konstatieren, in der jüngeren Forschung auch Arbeiten, die die bis in die Antike zurückreichenden historischen Voraussetzungen des Problems – wenn auch in Grenzen – einzubeziehen suchen, so u. a. Hans Asbeck, Das Problem der literarischen Abhängigkeit und der Begriff des Epigonalen, Diss. Bonn 1978 – Gunter E. Grimm, „Der Kranz des Patrioten“. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder, in: Lenz-Jahrbuch 4, 1994, S. 101–112 – Manfred Jobst, Herders Konzeption einer kritischen Literaturgeschichte in den „Fragmenten“, Diss. Gießen 1973 – Andreas F. Kelletat, Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u. a. 1984. 92 Vgl. Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Werner Welzig, Bd. 7, hrsg. v. Theresia Payer, Darmstadt 1972, S. 1–355: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive De optimo dicendi genere (11528). Herder hat die Schrift in einer Ausgabe von 1529 besessen (Bibl. Herderiana, Nr. 2470). 93 Dieser Satz findet sich – jedenfalls in der mir zugänglichen Ausgabe von Baldes Schrift (München 1658; Sammlung Faber du Faur, Nr. 293) – nicht, entspricht aber den aus Baldes Schrift mit einiger Freiheit übersetzten Partien, in deren Kontext Herder ihn stellt. Bei Balde heißt es u. a.: „Nimirum Philosopho, veritatem amanti, novitas interdicitur: â Poëta, figmentis delectante, exposcitur, fidibus, & fidiculis ... Neque simplex novitas poscitur, sed illecebrosa; neque haec tantùm, sed scita dictione, facilique imitandi felicitate, fragrantia Veterum vina redolens, contrarijs quodammodo se intendentibus. Antiquitatis venerandae ratio semper
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18. Jahrhundert hinüberwirkende aktuelle Form gewinnt diese Diskussion im literarischen Frankreich des späten 17. Jahrhunderts durch die „Querelle des anciens et des modernes“, ausgelöst 1687 durch Perraults Lobgedicht auf Ludwig XIV. und fortgesetzt unter anderem in Perraults „Parallèle des Anciens et des Modernes“ (1688–1697) – jene bis hin zu Schiller und Friedrich Schlegel ausstrahlende Auseinandersetzung,⁹⁴ in welcher, bei aller Skurrilität mancher Einzelheiten, nachdrücklich die Frage gestellt war, in welcher Weise denn im wachsenden Abstand von der wirkungsmächtigen Antikerezeption des Humanismus die so lange mehr oder weniger selbstverständliche Vorbildlichkeit der
habenda est … Atqui, objicere potes; ad imitandum provocamur. Recte, non nisi lectione Vett. in nostros usus conversa“ (Bl. A8rf. und A9v). – Wenn übrigens Herder Baldes Überlegungen in einem Satz zusammenfaßt, der unüberhörbar an Winckelmanns berühmtes Postulat „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ in den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ (1755) anklingt, die Herder in der 2. Ausgabe von 1756 besessen (Bibl. Herderiana, Nr. 3065) und in seinen Schriften über Winckelmann mehrfach besonders hervorgehoben hat (so SW VIII, 450f.: Denkmahl Johann Winckelmanns, unter Abwandlung jenes Postulats; XV, 38, 41, 44: Winckelmann, Leßing, Sulzer), so wird daran greifbar, wie sehr auch Winckelmann in einer langen Diskussionstradition steht und von Herder in ihrer Perspektive rezipiert wird. 94 Zur Querelle insgesamt, zu ihrer Vorgeschichte und zu ihrer Rezeption in Deutschland vgl. u. a.: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, hrsg. und eingeleitet v. Werner Krauss u. Hans Kortum, Berlin 1966 – Gyula Alpár, Streit der Alten und Modernen in der deutschen Literatur bis um 1750, Pécs 1939 – Hans Robert Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der „Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, ND München 1964, S. 8–64 – Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 11–66: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität (zuerst 1965); S. 67–106: Schlegels und Schillers Replik auf die „Querelle des Anciens et des Modernes“ (zuerst 1967) – Peter K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981 – T.R. Kuhnle/J. Klein, Querelle, in: Histor. Wörterb. d. Rhetorik, Bd. 7, 2005, Sp. 503–532 – Thomas Pago, Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1989 – Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München 1980 – zu Herder insbes.: Karl Menges, Herder und die ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in: Kontroversen, alte und neue, hrsg. v. Albrecht Schöne, Bd. 8, Tübingen 1986, S. 154–160 – Karl Menges, Herder and the ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, in: Eighteenth Century German Authors and their Aesthetic Theories, ed. by Richard Critchfield, Wulf Koepke, Drawer 1988, S. 147–183 – Thomas Pago, „Aus der Welt hinaus gerückt“. Aspekte der Querelle des Anciens et des Modernes bei Herder, in: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Fs. f. Wolfgang F. Bender, Bielefeld 2001, S. 149–160.
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Antike in einer ihrer geschichtlichen Andersartigkeit zunehmend sich bewußt werdenden Gegenwart noch gelten könne. Herder hat, wie Notizen im Nachlaß zeigen,⁹⁵ die Querelle, wohl vor allem durch Perrault, ganz früh zur Kenntnis genommen, und er erwähnt sie und den Namen Perrault auch später noch mehrfach.⁹⁶ Das geschieht zwar stets in ironisch-abschätzigem Sinne, weil für Herder die antiken Autoren selbst und vor allem Homer in dem Streit gar nicht richtig gesehen worden waren: „nie hätten die Perraults in Frankreich und Deutschland über das Lächerliche Göttliche und Häßliche in Homer so feine Bemerkungen, Programm’s und Briefe geschrieben, wenn sie sich mit dem Dichter in eine Zeit, Nation, und Stellung hätten setzen können. Erklärt würden sie ihn haben, statt ihn zu tadeln.“⁹⁷ Gleichwohl gehört die Kenntnis der Querelle offenkundig für den jungen Herder zum Grundbestand seiner literarischen Orientierung, und er nimmt die von ihr so nachhaltig verfolgte Fragestellung und die Methode ihrer Erörterung, die ihrerseits schon im Dichtervergleich humanistischer Poetiken, etwa bei Scaliger, ein Vorbild hatte, in seinem ersten größeren gedruckten Werk deutlich auf. Die Fragmente „Ueber die neuere deutsche Litteratur“ (1767) sind nicht nur in großen Teilen ein Kommentar zu den „Briefen die neueste Literatur betreffend“ von Lessing, Mendelssohn und Nicolai, sondern sie sind zugleich und vor allen Dingen – und ihre Auswahl aus den Literaturbriefen entsprechend treffend – „Parallèles des anciens et des modernes“: die Abschnitte „Vergleichung unsrer Orientalischen Dichtkunst mit ihren Originalen“, „Von der griechischen Litteratur in Deutschland: B. Wie weit haben wir sie nachgebildet“ und „Von einigen Nachbildungen der Römer“ sind wesentliche Teile der 2. und 3. Sammlung, wie denn schon eine frühe Aufzeichnung „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ die ausdrückliche Absicht einer „Parallele zwischen den Alten und Neuen“ (HN XXV, 179, Bl. 1v) enthält.⁹⁸ Von hier aus ist das Verhältnis der Alten und Neuen, ist die Frage
95 Vgl. HN XXV, 181, 1r (Disposition „Geschichte des Liedes“, ca. 1765) und 181, 4r (Bücherliste zur Poetik, ca. 1765): Nennung Perraults in Listen einschlägiger Autoren; XXVI, 4, 55r („Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst“, Rigaer Zeit): knappe kritische Rekapitulation der Fronten der Querelle unter Nennung von Perrault, Fontenelle, de la Motte und Madame Dacier. 96 Vgl. das hier folgende Zitat (SW II, 161) sowie SW XVIII, 5 (Briefe zu Beförderung der Humanität, 7. Sammlung, 1796, Nr. 81), 135 (8. Sammlung, 1796, Nr. 107); XXIII, 72f. (Adrastea, Bd. 1, 1801, 1. St.); XXX, 516f. (Hodegetische Abendvorträge an die Primaner Emil Herder und Gotthilf Heinrich Schubert, 1799). 97 SW II, 161 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur: Stücke der umgearbeiteten 2. Sammlung, 1767/68). 98 Vgl. auch SW XVIII, 446–462 (Homer und Ossian, 1795); XXXII, 140–144 (Parallele zwischen den Griechischen und Französischen Tragödienschreibern: Vorbericht und Anmerkun-
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nach der Mustergültigkeit der Antike und nach den Möglichkeiten und den Grenzen ihrer imitatio ein Grundthema, das sich durch das ganze Werk Herders zieht. Wohl kaum ein anderer deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts hat es so intensiv und so unermüdlich reflektiert, wohl keinen anderen hat es so sehr umgetrieben wie ihn. Dauernde, aus langer humanistischer Tradition gespeiste Überzeugung von der Bedeutung der Antike, ja stärkstes Fasziniertsein von ihr, zumal in ihrer im deutschen 18. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund rückenden griechischen Erscheinung, und Verlangen nach einer Möglichkeit der Selbstbehauptung, nach begründeter Selbständigkeit ihr gegenüber stehen hart nebeneinander, ja liegen miteinander in beständigem Streit. Gegenüber den Diskussionen der Querelle freilich, die Herder bis in die späten Jahre noch als Anstoß gegenwärtig bleiben, radikalisiert und differenziert sich für den Leser Montesquieus und Rousseaus, Youngs und Winckelmanns, Lowth’ und anderer Werke zum Alten Testament, zahlreicher historischer und geographischer Werke und Reiseberichte die Frage auf mehrfache Weise. Die Ansätze historischen und kulturkritischen Denkens seiner Zeit aufnehmend, richtet Herder seinen Blick auf die Vielfalt der Völker, ihrer Geschichte und ihrer Räume und wird sich der Aufgabe, aber auch der Schwierigkeit eines Verstehens geschichtlicher Erscheinungen als aus je besonderen Bedingungen erwachsender bewußt. Schon in den frühen Aufzeichnungen hält er bestimmten Hypothesen über den Ursprung der Dichtung vor, „daß sie sich nicht in das älteste Zeitalter zurücksezzen können“,⁹⁹ notiert er an anderer Stelle, der Auf- und Abstieg der Dichtung habe sich überall „nach dem Clima, dem Temperament, der Religion, ihren äußerlichen Umständen, u. ihrer Sprache gerichtet“.¹⁰⁰ Dem entsprechend muß auch die Möglichkeit der Nachahmung zum Problem, muß sie schwieriger werden, muß eine einfache Nachahmung sich verbieten. Dazu heißt es in der 3. Sammlung der Fragmente: „es bleibt also nicht schlechterdings ein Ruhm: dieser Dichter singt wie Horaz, jener Redner spricht wie Cicero ... aber das ist ein großer, ein seltener, ein beneidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann: so hätte Horaz, Cicero, Lucrez, Livius geschrieben, wenn sie über diesen Vorfall, auf dieser Stuffe der Cultur, zu der Zeit, zu diesen Zwecken, für die Denkart dieses Volks, in dieser Sprache geschrieben hätten. Das letzte heißt: einen Alten nachbilden, und ihm nacheifern; das erste ihn kopieren, und ihm nachahmen.
gen zu einer 1766 angekündigten, aber unvollendeten Übersetzung des anonymen Werks „Parallèle des Tragiques Grecs et Français“, 1760). 99 HN XXV, 180, 1v (aus dem Entwurf zu einer Abhandlung über den Ursprung der Poesie als Lied; ca. 1764/65). 100 HN XXVI, 4, 52 r (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; aus der Rigaer Zeit).
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Das erste [eigentlich: Letzte] ist leider! sehr selten, weil man dabei das beiderseitige Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zeiten kennen, vergleichen, und so brauchen muß, daß keinem Zwang geschieht. Diese Kunst ist bildend für das Genie; weil sie es aber auch sehr oft unterdrückt; weil die, so die Alten in ihrem Glanze kennen, oft auch von ihnen geblendet werden; so hat Young in seiner Schrift von Originalwerken Recht, daß meistens das Lesen der Alten schädlich wird; er hat Recht, ohne doch daß das Lesen der Alten auch nur im geringsten Stücke deswegen abzuschaffen wäre“ (SW I, 383). Auch indem Herder, über die Sprache reflektierend, sich von der rhetorischen Unterscheidung von res et verba, Sachen und Wörtern abwendet, sie nicht mehr akzeptieren kann, wird ihm nicht nur – das richtet sich gegen die neulateinische Dichtung – ein Dichten in fremden Sprachen fragwürdig, sondern scheint ihm allein ein aus dem Geist der eigenen Sprache entwickeltes Dichten lebendig und wirkungsfähig: „wenn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so vest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen und Gewalt über die Worte, die größeste Känntniß derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesezzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die Muttersprache ... Ein Originalschriftsteller im hohen Sinne der Alten ist ... beständig ein Nationalautor. Ein Mann, dessen Seele, von Gedanken schwanger, zu gebären ringet, denket nie darauf, wie ein Aesthetischer Regelnschmid einst an ihm sizzen wird, um Beispiele des Ausdrucks zu seinen Schulgesezzen auszuklauben: und es wird ihm also unmöglich, den Ausdruck abgesondert vom Gedanken zu behandeln, zu ordnen, zu wählen ... man siehet, daß wenn dieser Schriftsteller nicht ganz mißrathen will: so muß er in seiner Muttersprache schreiben ...“.¹⁰¹ So ergibt sich als Forderung: „Je beßer die Alten erkannt, um so weniger geplündert: desto glücklicher nachgebildet, desto eher erreicht. Und das endlich ist kopirendes Original, wo keine Kopie sichtbar ist, wo man sich an einem Griechischen Nationalautor zum Schriftsteller seiner Nation und Sprache schaffet: wer dies ist, der schreibt für seine Litteratur!“¹⁰² Muster und ihre Nachahmung als ein wichtiges Element literarischer Produktion werden mit solchen Überlegungen Herders nicht ausgeschlossen, aber sie werden im Bewußtsein historischer Unterschiede und Wandlungen in ihrer Absolutheit eingeschränkt und auf die Eignung hin, zur Hervorbringung von Originalwerken zu helfen, betrachtet. Für die Muster der Lyrik bedeutet dies, daß Pindar,
101 SW I, 400, 402f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767). 102 SW II, 162 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Stücke der umgearbeiteten zweiten Sammlung, 1767/68, 1. Abt., Nr. 11).
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daß Horaz, wie Herder schon sehr früh formuliert, je als „Sänger seiner Zeit“¹⁰³ betrachtet werden müsse, was nicht geleistet zu haben, er vielen Philologen und Schulmännern seiner Zeit in seinen Rezensionen und polemischen Schriften zum Vorwurf macht. Als Dichter ihrer Zeit müssen die überlieferten Muster lyrischer Dichtung erst darauf befragt werden, in welchem Sinne sie denn in einer anderen Zeit Muster sein können, und es sollen die Regeln der Gattung nicht fraglos aus ihnen abgeleitet werden. Gerade weil Muster und ihre rechte Nachahmung keineswegs grundsätzlich von Herder negiert werden, erfahren aber die literarischen Muster der Antike auch noch in einem anderen Sinne eine folgenreiche Einschränkung ihrer seit dem frühen Humanismus geläufigen Geltung. Geschichtliches und kulturkritisches Denken lenkt die Aufmerksamkeit auf andere geschichtliche Erscheinungen neben denen der griechischen und römischen Antike und weckt ein besonderes Interesse für die frühesten Anfänge, für das Entstehen, für entlegene Beispiele menschlicher Kultur, in denen Herder die ursprünglichsten, vollsten, lebendigsten Formen und Möglichkeiten von Sprache und Dichtung als elementaren Erscheinungen menschlichen Wesens zu finden hofft. Poesie, Gesang ist – immer wieder begegnet die an eine Prägung Hamanns anknüpfende Wendung in den frühen Entwürfen und in gedruckten Schriften Herders, auch noch aus späteren Jahren –, Poesie ist die Muttersprache, die erste Sprache des menschlichen Geschlechts,¹⁰⁴ und deshalb kann Herder in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) feststellen: „Fast in allen kleinen Nationen aller Welttheile, so wenig gebildet sie auch seyn mögen, sind Lieder von ihren Vätern, Gesänge von den Thaten ihrer Vorfahren der Schatz ihrer Sprache,
103 So zu Pindar SW III, 446 (Kritische Wälder, 1769: 3. Wäldchen, II); ähnlich schon zu Horaz in einem der frühen Entwürfe zu einer Odenabhandlung (HN XXV, 170a; ca. 1764): „er ward ein Odendichter seiner Zeit“. Vgl. SW I, 410f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767: 8. Was gewinnt der neuere Lateinische Dichter, und was wagt er für sich?); II, 160f. (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, Stücke der umgearbeiteten zweiten Sammlung, 1767/68, 1. Abt., Nr. 11); V, 354f. (Rez.: Klopstock, Oden, 1773); XII, 21 (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 2.T., 1783). 104 Vgl. u. a. HN, XXV, 179, 1r (Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt; ca. 1764); der Anfangssatz dieser Aufzeichnung lautet: „Poesie ist die Muttersprache des Menschlichen Geschlechts, u. die Muttersprache der Dichter ist das Lied“); SW V, 57 (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772; hier formuliert: „Die Tradition des Alterthums sagt, die erste Sprache des Menschlichen Geschlechts sei Gesang gewesen“); XI, 168 (Briefe das Studium der Theologie betreffend, 5.T., postum 1808); XVI, 18 (Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, 1792; mit Berufung auf die betr. Stelle in Hamanns „Kreuzzügen des Philologen“, ohne Nennung des Verfassernamens; XXII, 145 (Kalligone, 2.T., 1800, 2. Poesie und Beredsamkeit; mit ähnlicher Anspielung auf die Stelle in Hamanns Schrift).
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und Geschichte, und Dichtkunst ... Die Griechen sangen von ihren Argonauten, von Herkules und Bacchus, von Helden und Trojabezwingern: und die Celten von den Vätern ihrer Stämme ... Unter Peruanern und Nordamerikanern, auf den Caraibischen und Marianischen Inseln herrscht noch dieser Ursprung der Stammessprache in den Liedern ihrer Stämme und Väter ...“ (SW V, 122f.). Als ein „Proteus unter den Völkern“ erscheint Herder die Dichtung, überall vorhanden, aber die „Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Accent der Völker“¹⁰⁵ wandelnd. Deshalb können, soweit Muster für Herder sinnvoll und auch notwendig sind, dazu nicht nur allein die Werke der griechischen und römischen Antike dienen, sondern ist es nötig, auch nach anderen Mustern in anderen Literaturen Ausschau zu halten und sie in ihrer jeweiligen Besonderheit zu erfassen, um so eine genetisch begründete Vorstellung von den Möglichkeiten der Dichtungsarten zu gewinnen. Deshalb sind die frühen Entwürfe zu einer Odenabhandlung von vornherein nicht nur auf das Problem gerichtet, die der Odentheorie zugehörige Begeisterung als Ausdruck wahrer Empfindung denken zu können, sondern – darum auch zugleich eng verzahnt mit Entwürfen zu einer Geschichte der Dichtkunst oder des Liedes – fast alle zugleich auch Ansätze zu einer über die antiken Muster hinausgehenden geschichtlichen Darstellung, bemüht, die Ode als den „Proteus unter den Nationen“, die „nach der Empfindung, dem Gegenstande und der Sprache, ihren Geist und Inhalt und Mine und Gang“ stets verändert habe (SW XXXII, 63), in solcher geschichtlichen Vielfalt zu begreifen und damit auch einer Klärung der Odenregeln näher zu kommen. Auf die eigenen Pläne anspielend, spricht Herder in der 3. Sammlung der anonym erschienenen Fragmente (1767) die Erwartung aus: „Ich habe eine Geschichte des Lyrischen Gesanges angekündigt gelesen; vielleicht wird der Verf. den Charakter desselben unter Ebräern, Arabern, Griechen und Römern bestimmen, und aus der Denkart, Zeit, und den äußerlichen Hülfsmitteln, der Sprache und Musik erklären: vielleicht wird er das Genie jedes großen Originals unter den Lyrischen Dichtern entwickeln, ihre Hauptwerke Aesthetisch nach Plan und Composition, nach den Schönheiten des Details, dem Licht und Schatten, den Wendungen und Bildern und Versifikation und Sprache zergliedern: vielleicht wird er die Nachbildungen aus den Alten gegen ihr
105 So formuliert 1796 in der 8. Sammlung der „Briefe zu Beförderung der Humanität“ (SW XVIII, 134). Das Bild vom Proteus gebraucht Herder aber auch schon in den frühen Fragmenten zu einer Odenabhandlung, verknüpft mit ganz ähnlichen Gesichtspunkten (SW XXXII, 63; s. das nächste Zitat im folgenden Text). Vgl. auch eine entsprechende Formulierung zur Sprache in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, 1772 (SW V, 127): „die Sprache wird ein Proteus auf der runden Oberfläche der Erde“.
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Original und ihre Nebengemälde halten, und den großen Zweck ausführen: ein Odengenie in die Magische Werkstatt des Apolls, und in den Geist seiner Muster einzuführen; ja vielleicht wird er endlich aus diesen verschiednen Gattungen Hauptbegriffe des Schönen in dieser Dichtungsart herausziehen, sie zu Regeln erhöhen, diese Regeln in unsere Seele zurückführen [d. h. auf unsere Seele z.], und also einen Philosophischen Begriff der Ode festsezzen, aus welchem man auf ein weites Feld der Aesthetik sichere und kühne Blicke wird thun können“ (SW I, 465f.). Einer der Bereiche, die neben der klassischen Antike andere Muster lyrischer Poesie liefern können, ist hier schon genannt: die hebräische und im weiteren Sinne morgenländische Poesie, insbesondere natürlich die Texte des Alten Testaments und vor allen anderen die immer schon als Gesänge verstandenen und deshalb so oft nachgedichteten Psalmen. Diese Poesie steht vielfach in den frühen Entwürfen schon selbstverständlich neben den Griechen und Römern,¹⁰⁶ ja kann sogar noch geradezu normativen Charakter haben wie diese: „Nehme ich einen Begrif der Ode an, wie er ohngefähr aus den Werken der Alten, einem Pindar, Horaz und aus den göttlichen Mustern der Hebräischen Poesie bestimmt würde: so haben die Franzosen wenige, oder gar keine Oden ...“ (SW II, 228).¹⁰⁷ Mit solchem literarischen Verständnis der biblischen Texte, dem die Auffassung des Hebräischen als der dritten klassischen Sprache des Altertums in der theologisch-humanistischen Bildungstradition¹⁰⁸ und die Berufung auf
106 Vgl. u. a. HN XXVI, 4, 59ff. (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit), wo in verschiedenen Schemata zur Geschichte einzelner Gattungen die „Ebräer“ den Griechen und Römern vorausgehen, besonders ausgeprägt bei der Ode (Bl. 61v): „1.Ebr: David: Charact.d.Ebr. 2.Griechen 1.) Pindar ... 3.Römer. 1 Horaz ...“ (für die Neuzeit folgen: „4.Engl. ... 5.Franz: ... 6.Deutsche: (Uz) Ramler uns.Hor: Cramer [unser] Dav: Gleim [unser] Anakr.)“ – XXVI, 4, 5r–32 v (die auf Dommerichs „Entwurf einer Deutschen Dichtkunst“ beruhende Aufzeichnung zur „Dichtkunst“; s. oben Anm. 36ff.), wo in dem gegenüber Dommerich erweiterten historischen Teil (s. oben Anm. 39) den umfangreichen Listen griechischer und römischer Autoren (Bl. 5v–6v), denen eine noch umfangreichere Liste deutscher Autoren (Bl. 6v–8v) und knappere zu französischen, italienischen und englischen Autoren folgen, ein (unter Berufung auf den Gewährsmann Lowth freilich knapp gehaltener) Hinweis auf die morgenländische Dichtung vorangestellt ist: „Bei den Hebräern: Biblische Proben, u. von den übrigen Morgenländern ist gleiches wegen des Gleichen Temperaments zu vermuthen: Lowth de sacra poesi“ (Bl. 5v). 107 Aus den „Zurückgelegten älteren Stücken (1766)“ zur 3. Sammlung der Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“. 108 Als beispielhafte Belege seien drei enzyklopädische Werke vom frühen 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts angeführt, die dort, wo sie von den Sprachen und von der Poesie handeln, stets als erste in kennzeichnender Abfolge die hebräische, griechische und lateinische behandeln: Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia, 1630 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1989–1990), Bd. 1, S. 136–229 (Lexicon) und S. 528–570 (Poetica Hebraica, Poetica Graeca, Poetica Latina);
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biblische exempla zur Rechtfertigung der Poesie in der barocken Poetik¹⁰⁹ vorgearbeitet hatten, steht Herder in einer breiteren zeitgenössischen Strömung,¹¹⁰
s. auch Bd. 4, S. 2017–2020 über die Aetates linguae Hebraicae, Graecae und Latinae – Daniel Georg Morhof, Polyhistor Literarius, Philosophicus et Practicus, 41747 (ND Aalen 1970), Bd. 1, Lib. IV, Cap. III und Vff. – Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, Bd. 1, 1752 (ND Hildesheim, New York 1978), S. 85–137, § XVIII–XX: Von der Hebräischen Sprache; Von der Griechischen Sprache; Von der lateinischen Sprache; S. 137ff., § XXIff. Von der Teutschen Sprache; Von andern Morgenländischen Sprachen; Von andern Abendländischen und Nordischen Sprachen. – Daß insbesondere von den angehenden Theologen eingehende Kenntnisse der drei Sprachen zum Verständnis der biblischen Texte wie zur Lektüre der theologischen Überlieferung seit den frühen Kirchenvätern gefordert wurden, ist, wie zu erwähnen kaum nötig ist, selbstverständlicher Bestandteil der Anleitungen zum Studium der Theologie; vgl. u. a.: Johann Hülsemann, Methodus Studii Theologici, S. 268–270, in: Hülsemann, Methodus Concionandi, auctior edita, Wittenberg 1648 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 263–328 – Leonhard Hutter, Consilium ... De Studio Theologico recte inchoando feliciterque continuando, S. 398, 414, in: Hülsemann, Methodus Concionandi, S. 397–417 – Joh. Forster, Consilium … de Studio Theologico rite instituendo & absolvendo, S. 419f., 429ff., in: Hülsemann, Methodus Concionandi, S. 418–435 – Nikolaus Rebhan, Concionator Quomodo comparatus esse, quaque ratione conciones suas instituere debeat, Jena 1625 (Expl. HAB Wolfenbüttel), S. 65ff. 109 Vgl. z. B. Johann Rist, Sabbahtische Seelenlust, 1651 (Expl. Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 76), Vorrede, S. 5 – Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, 1679 (ND Hildesheim, New York 1973), Bl. )(8rff. – Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 1700 (ND Homburg v.d.H. u. a. 1969), S. 342 (11682) – Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, 1704 (Expl. UB Münster), S. 2ff. Ein bemerkenswertes Beispiel für die vielschichtigen Traditionswurzeln der Diskussionen des 18. Jahrhunderts findet sich bei Gerardus Joannes Vossius, De artis poeticae natura ac constitutione liber (1647), wo in einer z.T. schon oben in Anm. 59 zitierten Stelle mit David als der besonders häufig genannten Beispielfigur zur biblischen Begründung von Dichtung das noch bei Batteux und seinen Kritikern virulente Problem des Geltungsanspruchs der imitatio als des grundlegenden Merkmals aller Dichtung verknüpft wird: „Nunc solum dicam, quod si poësis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poëtarum numero debeant excludi. Quippe, qui Dei laudes, veramque historiam, habeant pro argumento. Mihi vero psalmi, quos Apostolus etiam cani a nobis jubet, nobilissimum poëtae opus videntur“ (S. 20). 110 Vgl. dazu u. a. Dieter Gutzen, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Diss. Bonn 1972 – Dieter Gutzen, Ästhetik und Kritik bei Johann Gottfried Herder, in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Henning Graf Reventlow, Walter Sparn, John Woodbridge, Wiesbaden 1988, S. 263–285 – Grit Schorch, Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder, in: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, hrsg. v. Christoph Schulte, Hildesheim u. a. 2003, S. 67–92 – zu entsprechenden Erscheinungen in der englischen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts:
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für die das Oden-Kapitel des Batteux oder Cramers Psalmendichtung mit den sie begleitenden Abhandlungen Beispiele sind, die aber vor allem mit den „De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones“ des englischen Theologen Robert Lowth (zuerst 1753)¹¹¹ verbunden ist, der darin unter anderem die Psalmen nach Anleitung der zeitgenössischen Odentheorie analysiert hatte. Ihn hat Herder, der später eine eigene Schrift „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (1782/83) veröffentlicht hat, früh und intensiv, wenn auch nicht unkritisch, rezipiert.¹¹² Daß sie, weil in einem heißen Land und früheren Kulturzustand entstanden, reicher an lebendiger, ursprünglicher Einbildungskraft und Empfindung seien,¹¹³ macht
Rolf P. Lessenich, Dichtungsgeschmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der englischen Literaturkritik, Köln, Graz 1967 – Maria Lücker, Die französischen Psalmenübersetzungen des XVIII. Jahrhunderts als Ausdruck der geistigen Strömungen der Zeit, Bonn, Köln 1933. 111 Zu den frühen zeitgenössischen Ausgaben des lateinischen Originaltextes und zur Göttinger Ausgabe in Herders Besitz s. Anm. 27. Die englische Übersetzung von G. Gregory (Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, London 1787) liegt in einem ND (Hildesheim 1969) vor. – Zur Lowth-Rezeption vgl. Rudolf Smend, Epochen der Bibelkritik, München 1991, S. 43–62: Lowth in Deutschland. 112 Das belegen insbesondere die in Anm. 27 angeführten frühen Notizen und Exzerpte in Herders Nachlaß. Dementsprechend ist das Werk von Lowth auch in den publizierten frühen Schriften Herders wie noch in späten allenthalben insbesondere als Gewährsmann für die poetischen Qualitäten der hebräischen Sprache und bestimmter Bücher des Alten Testaments präsent: z. B. SW I, 89 (Rez. von Chr.G. Hases Auslegung des Hohenliedes, 1765), 205 (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 1. Sammlung, 1766, Nr. 14, zum Hexameter); V, 350 (Rez. der 1771 erschienenen Sammlung von Klopstocks Oden, 1773, mit Andeutung einer Kritik an der Anwendung der Odentheorie auf die Psalmen bei Lowth, auf die sich Herders Exzerpte z.T. gerichtet hatten), 399 (Rez. von Sulzers „Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“, 1774). Vgl. u. a. auch VIII, 361; X, 15, 28; XII, 209, 211 (ohne Nennung seines Namens kritisch zu der von Lowth praktizierten Anwendung der Odentheorie auf die Psalmen); XXIV, 355 und weitere Nachweise im Register SW XXXIII, 113. 113 Vgl. u. a. HN XXV, 249, 2 r–4v (Plan zur Poetik; Königsberger Zeit): 3v – XXVI, 4, 52 r–58v (Grundlinien zur Geschichte der Dichtkunst; Rigaer Zeit): „Die Dichtkunst u. alle schöne Wißensch. haben ihren Ursprung in allen Ländern zu den Zeiten der wilden Einfalt gehabt ... die Dichtkunst nahm immer mehr ab, je beßer die Prose wurde. Daher sind die Griechen nicht den Ebräern: die Römer nicht den Griechen; u. den Römern keine von den neuern Nationen beigekommen: u. unter einem jeden von diesen Völkern hat sich die Geburt, Erziehung, Blüthe, Fall, Tod u. Wiederauflebung der Dichtkunst, nach dem Clima, dem Temperament, der Religion, ihren äußerlichen Umständen, u. ihrer Sprache gerichtet“ (52 r), „Die Ebräer redeten in geflügelten Sprüchen zu denen sie, wie die Bibel sagt, den Mund aufthaten wie eine Posaune. Daher ist ihre Poesie, die wir noch in der Bibel finden, voll großer Bilder ... Nicht blos die Juden, sondern alle Morgenländer, haben Flügel der Einbildungskraft ... Der Reichthum der Morgenländischen Sprachen kommt ihrer Dichtkunst sehr zu statten“ (53r), „Die Griechen waren sanfter, u. haben die Dichtkunst bis zum höchsten Gipfel gebracht“ (54r), „Die Römer sind späte
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die poetischen Texte der Bibel, macht alle morgenländische Dichtung als Erweiterung der griechischen und römischen Muster willkommen. Und doch können sie, weil auch sie doch schon eine relativ späte Kulturstufe repräsentieren und weil sie einer fremden Sprachwelt entstammen wie die griechischen und römischen Muster, den Erwartungen noch nicht vollkommen genügen,¹¹⁴ die sich für Herder aus der Auseinandersetzung mit dem Problem literarischer Muster und literarischer Nachahmung in Verknüpfung mit geschichtlichem Bewußtsein, Kulturkritik und Sprachphilosophie ergeben. Neben ihnen bedarf es, um einer eigenen nationalen Literatur durch die volle Vielfalt poetischer Muster zur Selbständigkeit durch rechte Nachahmung zu verhelfen, auch solcher Muster, die von möglichst ursprünglicher Art und also von möglichst ursprünglicher Empfindungskraft sind und dem eigenen oder doch einem näheren Sprachbereich entstammen. Während die Fragmente „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“ die Diskussion von Mustern und imitatio noch ganz an den drei Bereichen der morgenländischen, griechischen und römischen Poesie durchführen, während noch einer der frühen Entwürfe zur „Geschichte der Dichtkunst“ in
Nachahmer der Griechen, die sie aber nie erreichten“ (57r) – XXVI, 4, 59ff. (Geschichte der Dichtkunst; Königsberger Zeit): im Anfangsteil eines Schemas zum Ursprung der Dichtkunst: „1. Bei den Ebr. ... hizzig. Karakt.“ (60r) – XXVIII,2 (Disposition zu einer „Geschichte des Liedes“; Königsberger oder Rigaer Zeit): „Von der hebr. Ode“ u. a.: „Ursachen: 1. Ihrer Denkart: bildervoll 2. Ihrer Gemüthsart: Nationalenthus.“ (49r) – SW I, 270: „Die gesittete Freiheit, in der wir leben, läßt Künste und Wissenschaften blühen; die etwas rauhere, die mit Gährungen des Staats und mit Unterdrückungen kämpft, läßt, wie bei den Römern und Griechen, die Beredsamkeit ihre Wunder thun; aber wilde Einfalt ist das Feld der Dichter. In dieser haben die Hebräer sehr lange gelebt“ (Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 2. Sammlung, 1767). 114 Das spiegelt sich in den in Anm. 106 und 113 erwähnten Schemata zur Geschichte der Dichtkunst dort, wo die hebräische bzw. allgemein die morgenländische Poesie zwar als ursprünglichere noch vor der griechischen und römischen genannt wird, aber mit diesen doch auch in einen Prozeß von Entfaltung, Blüte und Verfall einbezogen und damit als von ihrer ursprünglichen, auch für spätere Zeiten Erneuerung verheißenden Wirkung zunehmend entfernt gesehen wird. Ein späterer Reflex der sich wandelnden Einschätzung der hebräischen biblischen Poesie sind etwa die Bemerkungen über deren Niedergang in der Preisschrift „Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten“ von 1778 (SW VIII, 362ff.) und demgegenüber das spätere Kapitel „Würkung der Dichtkunst bei den Nordischen Völkern“ (S. 388ff.) oder die skeptisch gewordene Einschätzung der Psalmen in der Schrift „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (2.T., 1783), wo es nun von den herkömmlich als Muster geltenden Psalmen heißen kann: „Nun ists unläugbar, daß David den lyrischen Gesang der Ebräer sehr verfeinert und verschönt hat ... Indessen ist es auch unverkennbar, daß damit die rohe Stärke, der lebendige Tanz und Wohllaut der alten Poesie kaum erreicht ward ... So hat alles in der Welt seinen Gang und jede menschliche Einrichtung ihre verschiedne Seiten. Was die Poesie an gottesdienstlicher, politischer, lyrischer Cultur gewann, verlor sie vielleicht an natürlicher Stärke“ (SW XII, 206f.).
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einem Schema von Ursprung, Wachstum, Gipfel, Fall und Tod der Poesie fast jede dieser Stufen nur mit jenen drei Erscheinungen alter Literatur ausfüllt und allenfalls für eine vierte gelegentlich eine leere Stelle läßt (HN XXVI, 4, Bl. 60r; Königsberger Zeit),¹¹⁵ begegnen in anderen Papieren hie und da Hinweise auf altnordische Dichtung, auf „Skaldrer“ und auf „angränzende Völker“,¹¹⁶ aber nur sehr beiläufig zunächst taucht die Erscheinung auf,¹¹⁷ die dann als Inbegriff neuer, andersartiger Muster jene leere Stelle aufs wirkungsvollste auszufüllen bestimmt ist: Ossian. Herder hat dieses – so viele nach Ursprünglichkeit verlangende Leser des 18. Jahrhunderts täuschende – Werk einer späten nachahmenden Phantasie, das für ihn trotz allen späteren Debatten immer ein echtes Werk alter Zeiten geblieben ist¹¹⁸ und das er vor allem als eine Sammlung von Liedern verstan-
115 So etwa zur 2. Stufe: „Wachstum 1) Bei den Ebräern ... 2) " " Griechen ... 3) " " Römern ... 4) – – – –. " und zur 3. Stufe nur: „Gipfel 1) Ebr: z.Zt.Davids 2) Griechen: ... homerische Periode 3) Römer: – August“ Bezeichnend übrigens ist, wie am Ende des Schemas für die 6. Stufe, die Palingenesie der Dichtung seit dem 15. Jahrhundert, nach Italien, Frankreich, England zuletzt Deutschland mit kritischen Feststellungen charakterisiert wird, hinter denen ein Verlangen nach Veränderung und Erneuerung schon zu ahnen ist: „Wetteifer – 17.Saec. Spaltung gleich anfangs – unglückl. Anfang – übel gereinigt durch Gottsched – Neue Parthey – Deutsche bleiben Copien“. (Zu anderen Schemata in dieser handschriftlichen Aufzeichnung, die solche leere Stelle noch nicht aufweisen, s. oben Anm. 106). 116 HN XXVIII, 2, 49 v (Disposition zu einer „Geschichte des Liedes“; Königsberger oder Rigaer Zeit): Die Hinweise auf „Skaldrer“ und „angränzende Völker: Rußen: Letten: Liven: Polen: Holländer“ folgen auf Schemata „Von der hebr. Ode“ und „Von der Morgenl. Ode überhaupt“. Vgl. auch Bl. 48v, wo der Formel „Die Poesie ist die Muttersprache. etc. die Muttersprache d. Poesie, das Lied etc.“ die Aufzählung folgt: „Hebräer, Griechen, Celten, Druiden“. – S. z. B. auch SW II, 179, 188; III, 26f. 117 So HN XXV, 179 (Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt; ca. 1764): „Unter den barbarischen Nationen lobt schon Tacitus die Nordischen Skaldrer, die durch ihre Gesänge Barden der vergangnen Zeiten hießen ... für uns eben so wohl Dokumente der Geschichte als Muster der Lieder. Das Zeugniß eines Dalins, die Proben der Skaldrergesänge in Mallets Geschichte Dänemarks: vorzüglich aber Fingal u. die übrigen Lieder durch Macphersons Fleiß gesammlet: sind reiche u. volle Beweise“ (3v). 118 Auch wenn sich Herder gelegentlich gehalten sieht, die Frage der Echtheit und die ihr geltenden Diskussionen nicht gänzlich zu übersehen, geht er doch allenfalls so weit, offen zu
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den hat,¹¹⁹ erst allmählich genauer kennen gelernt.¹²⁰ Der endgültige Durchbruch seines emphatischen Interesses daran vollzog sich offenkundig durch die Ossian-Lektüre während seiner Schiffsreise von Riga nach Frankreich 1769 und während eines nächtlichen Schiffbruchs auf der Reise nach Eutin 1770. Herder hat davon in seinem Ossian-Aufsatz berichtet: „Wißen Sie, warum ich ein solch Gefühl theils für Lieder der Wilden, theils für Oßian insonderheit habe? Oßian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in Bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos amusante, abgebrochene Lecture, kaum lesen können. Sie wißen das Abentheuer meiner Schiffahrt; aber wie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult
lassen, ob „Ossian ganz alt oder nur aus alten Gesängen zusammengesetzt und geschaffen“ sei (SW VIII, 391; Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker, 1778), hält aber doch an seiner Überzeugung fest: „Mac-Pherson hat seinen Ossian nicht erfunden“ (SW XVI, 88; Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, 1792); vgl. u. a. auch SW IX, 542 (Fragment über die beste Leitung eines jungen Genies zu den Schätzen der Dichtkunst; 2. Hälfte der 70er Jahre); XVIII, 450f. (Homer und Ossian, 1795; mit einer ausführlichen Fußnote zum philologisch unbefriedigenden Stand der Echtheitsdiskussion). – Beiläufig erwähnt sei hier, daß Herders Überzeugung von einer jedenfalls weitgehend ursprünglichen Überlieferung als dem Fundament von Macphersons Ossian eine späte Ehrenrettung durch die neuere Forschung erfährt, die in Macpherson nicht mehr einfach einen die Zeitgenossen erfolgreich täuschenden Fälscher, sondern den – freilich eigenwilligen – Bearbeiter einer im Kern echten Dichtungstradition sieht: vgl. dazu u. a. Howard Gaskill, ‚Ossian‘ Macpherson: towards a rehabilitation, in: Comparative criticism 8, 1986, S. 113–146 – Ossian Revisited, ed. by Howard Gaskill, Edinburgh 1991 – Astrid Grewe, Ossian und seine europäische Wirkung, S. 174, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 15, Europäische Romantik II, Wiesbaden 1982, S. 171–188 – Wolf Gerhard Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘. James Macphersons ‚Ossian‘ und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1, S. 3f., 14ff. – Derick S. Thomson, The Gaelic Sources of Macpherson’s ‚Ossian‘, Edinburgh, London 1951 – Josef Weisweiler, Hintergrund und Herkunft der Ossianischen Dichtung, in: Literaturwiss. Jahrb., NF 4, 1963, S. 21–42. 119 So z. B. 1773 im „Briefwechsel über Oßian“ (SW V, 160) wie mit ähnlicher Emphase noch spät in der „Adrastea“ (SW XXIV, 302; 5. Bd., 10. Stück, 1803: V. Vom Funde der Gesänge Oßians). Vgl. auch Br I, 277 (an J.H. Merck, 28.10.1770); 294 (an K. Flachsland, Ende Dezember 1770); II, 216 (an R.E. Raspe, 25.8.1772); ferner u. a. SW V, 182, 204; VIII, 391f.; XVIII, 447, 464. 120 Vgl. dazu bes. Alexander Gillies, Herder und Ossian, Berlin 1933, S. 11ff. sowie W.G. Schmidt, ‚Homer des Nordens‘ und ‚Mutter der Romantik‘, Bd. 2, S. 644ff. – Es ist bezeichnend, wie Ossian in den Schriften der zweiten Hälfte der 60er Jahre – auch da, wo er schon neben oder im Vergleich mit Erscheinungen wie den Psalmen oder Homer, aber auch Milton und Klopstock genannt wird – für Herder zunächst doch nur ein – wenngleich zunehmend wichtiger – Beispielautor neben anderen ist: s. u. a. SW I, 75, 432f., 437; II, 119, 157, 161; III, 29, 154. Umfassender und schon eindringlicher dann die Rezension des ersten Bandes der OssianÜbersetzung von Denis (SW IV, 320–325; 1769).
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und Rangespoßen der Bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf ofnem allweiten Meere ... mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben Endlosen Elementen umgeben ... nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen ... jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Thaten geschahen, und Ossians Lieder Wehmuth sangen, unter eben dem Wehen der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da laßen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors ... Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hofte ...“ (SW V, 168f.). Hier offenbar erst ist Herder ganz aufgegangen, daß er in Ossian, verstanden als ein Werk urtümlicher Frühzeit und als aus einer der nordischen und damit auch der eigenen Welt nahen Überlieferung stammend,¹²¹ ein Beispiel vor sich hatte, das die in ihrer herkömmlichen Ausschließlichkeit als zu eng empfundenen Muster der griechischen und römischen und selbst der morgenländischen Poesie auf entscheidende Weise zu erweitern vermochte. Ossian, verstanden als Inbegriff ursprünglicher und ganz nationaler, d. h. ganz aus den besonderen Gegebenheiten eines Landes und Volkes erwachsener Dichtung, scheint plötzlich zum bis dahin unklaren Zielpunkt aller vorangegangenen Betrachtungen Herders über exempla und imitatio zu werden, der als solcher auch die Aufmerksamkeit auf entsprechende Erscheinungen im heimischen wie in anderen, den klassischen Mustern fernen Bereichen, auf englische und deutsche Volkslieder – die nähere Begegnung mit Percys „Reliques of ancient English Poetry“ geschieht in derselben Zeit (1771)¹²² – und auf die Lieder ferner und wilder Völker lenkt. Das Ergebnis des Zusammentreffens von Herders jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Problem der Muster und ihrer Nachahmung mit seinem Ergriffensein von der Lektüre Ossians ist jener rhapsodische Aufsatz „Auszug aus einem
121 Vgl. Gillies, Herder und Ossian, S. 38ff. – Zum Zusammenhang, in welchem Herder dabei mit der zeitgenössischen Zuwendung zum fernen, unbekannten, ursprünglichen, Erneuerung verheißenden Norden steht, vgl. u. a. Klaus Bohnen, Die ‚fremde Heimat‘ der Deutschen. Der ‚Mythos vom Norden‘ in deutscher Kulturtradition, in: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Bd. 11, München 1991, S. 356–365 – Karl Heinz Bohrer, Der Mythos vom Norden. Studien zur romantischen Geschichtsprophetie, Diss. Heidelberg 1961 (Masch.). 122 Vgl. Br II,31 (an R.E. Raspe, 31.5.1771); 63 (an J.H. Merck, Ende August 1771); 80 (an J.H. Merck, Anfang Oktober 1771).
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Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“, 1771 niedergeschrieben und 1773 gedruckt. Den Zusammenhang der intensiven Zuwendung zu Ossian und zugleich zu den Liedern des Volkes mit jener seit Herders allerersten literarischen Anfängen geführten Auseinandersetzung bezeugt wohl am deutlichsten die Vorrede zum 4. Buch der ersten, 1774 z.T. schon gedruckten, aber dann zurückgezogenen Volksliedersammlung: „Man hat von einem kleinen Erdstriche, den wir erleuchtet nennen, Proben, Muster, Meisterstücke, Regeln des Geschmacks fast in allen Arten der Litteratur, Dichtkunst und Menschenbildung erhalten, denen man mit Ausschließung alles andern folgt! Sehr gut! denn diese Erdstriche waren würklich von feiner Bildung und sehr glücklicher Lage! Aber auch nicht sehr gut! wenn man dumm folgt! Autorität für Regel, Hülle für Kern und fremdeste Uebereinkommniß für Erste Nothdurft der Nachfolge hält. Nicht sehr gut! wenn man über lauter liebe leidige Kunst und Nachahmung die ganze Natur vergißt, aus der doch auch nur jene Kunst, jenes Vorbild kam! ... Die Griechen ... waren selbst nichts anders, als Halbwilde, da sie den Samen ihrer schönsten Blüthen und Gewächse zogen. Wer Homer mit gesunden Augen gelesen, wird weit weniger Kunst in ihm antreffen, als alle seine Rhapsoden, Kommentatore und Verdollmetscher in ihn gelegt: edle, blühende Natur – wie Ossian noch neulich im großen Vorbilde ... laut gepredigt ... So tiefe Ehrfurcht also die würklich unvergleichbare Griechen verdienen mögen: auf Einmal werde ich selbst dieses Ehrfurchthabens unwerth, wenn ich sie nicht mehr mit gesunden Augen ansehe! für Menschen, die sie waren! sondern für an die Wand gemahlte Regeln, idealische Fratzenvorbilder der Welt und Nachwelt ... Was ist hiefür und hiewider nun gut? Mich dünkt, nichts als Vorbilder andrer Völker! freier Völker, die von Griechen und Römern nichts wusten! Wilder! Konnten die auch erfinden, wie die Griechen: und Empfindungen ausdrücken, wie die Griechen: und mahlen und singen, wie die Griechen (nur freilich nicht griechische Mythologie und Griechisch!) warum nicht wir?“ (SW XXV, 84f.).¹²³ Neue Muster zu geben und zu rechter Nachahmung hinzuführen, das ist die Absicht des Ossian-Aufsatzes und der Volksliedersammlungen mit ihren Vorreden und kommentierenden Hinweisen, nicht aber, die alten Muster damit zu verdrängen und aufzugeben. Zwar kann sich in einer Wendung gegen „gekünstelte Horazische Manier“ (SW V, 203), in der Erwartung, „daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar
123 Diese Stelle setzt sich bezeichnenderweise fort in sarkastischer Abweisung einer sklavischen, „ohne Natur in den Affekt der Liebe“ sich schraubenden Nachahmung etwa der Sappho (S. 85).
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oder Orbil,¹²⁴ statt unser, sprechen dörfe“ (SW V, 204f.), die Abkehr von falscher Nachahmung absoluter Muster mit den Namen von Horaz und Pindar als den alten Mustern der Ode verknüpfen und dem die Hoffnung auf eine andere Wirkung der neuen Muster gegenübergestellt werden: „Oßian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf beßern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wolten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebei stehen, und da wird wieder Nichts“ (SW V, 203). Aber die Hoffnung enthält auch zugleich die Warnung vor einer wiederum nur äußerlichen Nachahmung solcher Muster.¹²⁵ Und so wenig Herder verschweigt, daß manche seiner neuen Muster, so sehr er sie als kunstlose Natur schätzt, doch allzu roh sein und eines bessernden Eingriffs der Kunst bedürfen mögen,¹²⁶ so wenig will er doch „regelmäßigere Gedichte oder die künstlichere nachahmende Poesie gebildeter Völker ... verdrängen“ (SW XXV, 308), und so selbstverständlich gehören für ihn die antiken Dichter weiterhin zum erweiterten Bestand von Beispielen lyrischer Dichtung: Pindar, von dem auch die Vorrede zum zweiten Teil der „Volkslieder“ von 1778/79 eigens handelt (SW XXV, 317), und Horaz stehen denn auch – ganz abgesehen von Herders sonstiger späterer Beschäftigung mit ihnen – als Beispiele in einem Schema zu einer Sammlung oder Geschichte der „Stimmen der Völker“ (SW XXV, S. XI). Was Herder in Ossian, in Volksliedern und Gesängen zivilisationsferner Völker sucht, das sind Beispiele für den – wie es mehrfach in den kom-
124 L. Orbilius Pupillus, römischer Grammatiker, Lehrer des jungen Horaz. 125 Demgemäß hat Herder, der Gleim, Klopstock und vor allem Gerstenberg als Vertreter der in den 60er und 70er Jahren beliebten Bardendichtung gelten ließ (s. u. a. SW V, 337; Br I, 86, 94 bzw. IX, 63f.), wiederholt in Rezensionen (SW V, 330ff., 334ff., 337) und Briefen an Erscheinungen falscher Nachahmung in der Bardendichtung, an „neueren schreienden Barden“ (Br II, 88) und deren „erborgtem Ceremonienkram“ (Br II, 99) Kritik geübt. 126 Vgl. z. B. im „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker“: „In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben [der schottischen Romanzen] gewiß nicht nachgeben würden; nur wer ist der sie sammle? ... sich um Lieder des Volks bekümmre? ... um Lieder, die oft nicht skandirt, und oft schlecht gereimt sind ...“ (SW V, 189); „da ich weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage ich kein Bedenken, Ihnen z.E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein sehnendtrauriges Liebeslied hinzusetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler oder Gerstenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern überträfe“ (191) oder in den Volksliedersammlungen: „Zum Volkssänger gehört nicht, daß er aus dem Pöbel seyn muß, oder für den Pöbel singt; so wenig es die edelste Dichtkunst beschimpft, daß sie im Munde des Volks tönet. Volk heißt nicht, der Pöbel auf den Gassen, der singt und dichtet niemals, sondern schreyt und verstümmelt“ (SW XXV, 323, Volkslieder, 2.T., 1779; s. auch die Belege S. 107, 328, 545).
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mentierenden Bemerkungen der „Volkslieder“ von 1778/79 heißt – „Ausdruck einer wahren Empfindung“¹²⁷ – Beispiele dafür, daß solcher Ausdruck wahrer Empfindung auch hier und nicht nur in den alten Mustern der Ode zu finden sei und seine Lebendigkeit durch den „Abdruck des Äussern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange Stromweise in die Seele fliesset“ (SW V, 163), erhalte. Hierin trifft – und das markiert die Stellung des Ossian-Aufsatzes in der Entwicklung von Herders Lyrikanschauung – seine Auseinandersetzung mit der Frage der exempla und ihrer imitatio zusammen mit der Umformung der Odentheorie, die er von der Batteux’schen Nachahmungslehre aus mit den frühen Entwürfen und Aufzeichnungen begonnen hatte. Auch die überlieferte Theorie der Ode gibt er so wenig wie deren klassische Muster preis. Gewiß gibt es im Ossian-Aufsatz wie in den Beigaben der Volksliedersammlungen polemische Bemerkungen gegen „lahme Kunstrichter“ (SW V, 186), gegen „Regeln ... deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet“ (SW V, 182), wird der junge Lappländer gepriesen, der „schönere Liebesgesänge, als der süßlichste Sapphopedant in der künstlich verschrobensten Odenchrie nach all ihren Gesetzen“ mache (SW XXV, 88), findet Herder in den „sogenannten Pöbelvorurtheilen, im Wahn, der Mythologie, der Tradition, der Sprache, den Gebräuchen, den Merkwürdigkeiten des Lebens aller Wilden ... mehr Poesie und Poetische Fundgrube, als in allen Poetiken und Oratorien [i.e. Redeanweisungen] aller Zeiten“ (SW XXV, 88). Doch ist die im Ossian-Aufsatz und auch in den Volksliedersammlungen so häufige Wendung von den „Würfen und Sprüngen“ nicht nur ein Anzeichen dafür, daß Herders Vorstellungen von der Lyrik ihren Ausgang von der Odentheorie des 18. Jahrhunderts genommen haben, sondern, statt die das Lyrikverständnis der Zeit beherrschende Theorie aufzuheben, geht es mit Wendungen wie der, daß „die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben“ (SW V, 185), „daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks“ (SW V, 186), „was kühn geworfener, abgebrochner und doch natürlicher,
127 So SW XXV, 300 (zu T.I, Buch 1, Nr. 13, Wiegenlied einer unglücklichen Mutter: „... ist, wie die schönsten lyrischen Stücke aller Zeitalter und Sprachen, Ausdruck einer wahren Empfindung“) oder 303 (zu Buch 2, Nr. 10, O Weh, O Weh: „Ein alter Gesang und wie voll Ausdrucks wahrhafter Empfindung“); vgl. auch z. B. eine Bemerkung wie diese (306, zu Buch 3, Nr. 18, Die Todtenglocke): „Es war dem Uebersetzer mehr um den rührenden Ton dieses Trauer- und Todtenliedes zu thun, als um seinen Inhalt“.
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gemeiner, Volksmässiger seyn kann“ (SW V, 189)¹²⁸ – geht es mit solchen Wendungen Herder darum, die neuen Muster gerade im Horizont der Odentheorie zu rechtfertigen, zu zeigen, wie sehr sie den Erwartungen solcher Theorie entsprechen, ja diese bestätigen, sofern sie, was in ihr für Herder mit der Begeisterung gemeint ist, den lebendigen Ausdruck der Empfindung als Merkmal, als eine natürliche Wirkung der poetischen Einbildungskraft selbst unter allen Völkern erweisen, die keiner engen Regeln bedarf, wohl aber einem nachdenkenden Begreifen zugänglich ist. Weil auch sie die Würfe und Sprünge der begeisterten poetischen Einbildungskraft zeigen, wie die klassischen Muster, kann Herder von den neuen Mustern als Beispielen einer ursprünglichen, weniger kunstreichen Poesie als „Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart [die Romanze] haben könnte“, erwarten, daß sie „unsere Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas ... einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben … gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck … befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden“ (SW V, 203), oder an anderer Stelle des Ossian-Aufsatzes: „Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur!“ (SW V, 206). Gewiß arbeiten solche Erwartungen und ihre Formulierung der Rolle vor, die späterhin das – verglichen mit der eigentlichen Ode – einfachere Lied für eine unmittelbare Gefühls- und Erlebnislyrik spielen wird, gewiß schließt schon die überlieferte Odentheorie das später von der Ode im engeren Sinn unterschiedene Lied mit ein. Aber wo Herder – und er steht damit nicht allein – vom Lied spricht, meint er vielfach nur einzelne Erscheinungen des wirklich gesungenen Liedes, das Kirchenlied etwa oder andere Formen gemeinschaftlichen Gesanges,¹²⁹
128 Vgl. im Ossian-Briefwechsel u. a. auch SW V, 196 (Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: „woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?“ ... Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der That die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann) sowie S. 197 und 198. 129 Besonders kennzeichnend dafür ist eine Bemerkung in der Rezension einer Sammlung christlicher Lieder Lavaters vom Jahre 1776: „Das wahre Lied ist für alle, und muß für alle seyn: sonst ists kein wahres Gebet, kein Gespräch mit Gott, kein Lied“ (SW IX, 468). Vgl. u. a. auch SW I, 335f.; II, 183ff.; V, 160, 164, 187, 189, 470ff.; VIII, 346, 348; IX, 531; X, 77, 230f., 233; XI, 398; XXXI, 207ff., 717ff. Die hier beispielhaft herausgehobenen Stellen gelten bezeichnenderweise neben neueren geistlichen oder zeitgeschichtlichen Liedern den Liedern früher Zeiten oder ferner Völker, die als gemeinschaftlich gesungen aufgefaßt werden und als solche Gegenstand seiner Bemühung um Sammlung sogenannter Lieder des Volkes sind. Dabei kann Herder dann gelegentlich sogar ausdrücklich den aus der Odentheorie stammenden und an so vielen anderen Stellen von ihm auch mit den als Volkslieder bezeichneten Gesängen verbundenen
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oder gebraucht er das Wort zumeist als Synonym für Ode,¹³⁰ und in den wenigen Fällen,¹³¹ in denen er eine Aufgliederung lyrischer Formen in Hymne etwa, Ode oder Lied andeutet oder solche Aufgliederung hinter der Verwendung des Begriffes „Lied“ zu stehen scheint, versteht er unter diesem eigentlich nur gesellige, vor allem anakreontische Gedichte, wie es ähnlich etwa auch der von Herder geschätzte Eschenburg¹³² in seinem „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“ (zuerst 1783)¹³³ tut, dessen Lyrikbegriff sich noch
Begriff der „Sprünge“ in Frage stellen: „Der Kirchengesang geht langsam und feierlich daher; was sollen ihm Sprünge“ (SW XI, 67; Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 4.T., 46. Brief). – Es ist auch das tatsächlich gesungene Lied, dem am Ende der Vorrede zum 2. Teil der „Volkslieder“ von 1779 eine längere Passage gilt, in welcher Herder einmal ausdrücklich seine Auffassung vom „Wesen des Liedes“ zu kennzeichnen sucht: „Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte ...“ (SW XXV, 332). Die Vorrede klingt dann zuletzt zwar in eine Abgrenzung des zuvor explizierten Begriffs „Weise“ gegen den des „Wurfs“ aus, doch ist dies eher eine ironische Abwehr eines befürchteten schlagwortartigen Mißbrauchs beider Begriffe denn eine Verabschiedung des letzteren: „jedem Jüngerlein [sei] freigestellt, jetzt viel von Weise eines Liedes zu gacken, wie es bisher von Wurf gethan hat“ (S. 334). 130 S. z. B. SW III, 332 (Kritische Wälder, 2. Wäldchen): „... nun wird der Ode ihr Geist, die lebendige Grazie der Anschaulichkeit genommen: der Ton eines Liedes verfehlt, und Sinn und Leben, und Affekt und Alles verfehlt“ (zu Klotz, Vindiciae Horatii); V, 203 (Briefwechsel über Oßian): „... verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart haben könnte, nämlich unsre Lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen“; XI, 360 (Vom Geist der Ebräischen Poesie): Ps. 8 als „pindarisches Loblied“; vgl. auch das Zitat SW III, 330 in Anm. 18 und einige der anderen dort genannten Belege sowie ferner etwa SW III, 266; V, 198; XI, 73. Ein besonders aufschlußreicher Beleg für den noch schwankenden Gebrauch der Begriffe „Ode“ und „Lied“ ist übrigens das Zitat SW V, 203 durch das Hinzutreten des Begriffs „Gesang“, der nicht selten bei Herder neben einem jener anderen Begriffe, aber auch unabhängig von ihnen begegnet und teils als Oberbegriff aller denkbaren Spielarten lyrischer Dichtung, teils als Bezeichnung für besonders affektbewegte und auch zu höherem Stil neigende, ja geradezu hymnische Dichtung fungiert. 131 So SW I, 106f. (in der Rez. einer Sammlung „Neue Lieder zum Singen entworfen“): „ja es sind Anakreontische Lieder“; Hagedorn, Uz, Lessing, Gleim, Weiße, Gerstenberg, mit den entsprechenden Zügen ihrer Dichtung charakterisiert, als „unsre alten Liederdichter“ hervorgehoben; II, 181ff. (einzelne Merkmale eines genaueren Liedbegriffs benannt in Hinsicht auf „Gleims Lieder nach Anakreon“); XII,20 (zit. oben in Anm. 18). 132 S. im Register SW XXXIII, 89 die Nachweise von Erwähnungen und Rezensionen, die dem Autor, Herausgeber und Übersetzer Eschenburg gelten und wiederholt seinen „feinen Geschmack“ (SW XVI, 245) oder etwa seine Verdienste um zahlreiche Autoren (SW XX, 358) hervorheben. 133 Eine „Neue, umgearbeitete Ausgabe“ erschien 1789 (drei weitere dann noch im 19. Jahrhundert: 1805, 1817 und 1836). – Herder, in seinem Amt als Generalsuperintendent in Weimar für
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deutlich von Hegel oder gar Vischer unterscheidet. Für Herder bleibt wie bei Eschenburg die Ode, die sein Ausgangspunkt war,¹³⁴ auch später als die lyrische Form der gesteigerten Empfindung bestimmend, bleibt Lyriktheorie Theorie der Ode, tritt Ossian nicht an die Stelle von Pindar und Horaz, sondern an ihre Seite,
das Schulwesen des Herzogtums zuständig, hat das Werk (bei gleichzeitiger Abschaffung des Batteux) als Lehrbuch eingeführt (s. SW XXX, 452). An den Autor schrieb er dazu am 21.4.1788: „Ihr Lehrbuch über die schönen Wissenschaften habe ich seit 2 Jahren in unserm Gymnasium eingeführt, u. ich denke mehrere Ihrer Bücher den Lehrern so wohl als den Schülern in die Hände zu bringen. Wenn ich ins Bad gehe, will ich ein durchschoßenes Exemplar mitnehmen, u. aufschreiben, was mir beifällt. Mich dünkt, ich schrieb Ihnen schon neulich, daß ich in den zerstreuten Blättern allmälich die Theorie mehrerer Dichtungsarten fortzusetzen hoffe ... Ihr Beifall, lieber Eschenburg, freut mich ungemein: Sie sind, ohne Heuchelei gesagt, Einer der Wenigen, für die ich am liebsten schreibe. Der Leute unsres Geschmacks giebt es jetzt gar so viel nicht in Deutschland: denn wir gehören auch schon zu den Alten“ (Br V, 282). 134 Bezeichnend sind dafür auch diejenigen frühen Entwürfe, die Überschriften wie „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ (HN XXV, 179), „Das Lied ist die Erstgeburt der Dichtkunst“ (HN XXV, 180), „Geschichte des Liedes“ (HN XXV, 181) tragen. Hier meint das Wort Lied nicht etwa eine neben der Ode selbständige und womöglich gar als dominant verstandene Art lyrischer Dichtung, sondern wird als ein Inbegriff sangbarer Dichtung eingesetzt, um Herders Vorstellung vom Ursprung aller Dichtung im noch fast unartikulierten Gesang als urtümlichster Äußerung des Menschen zu entfalten. Wo diese Entwürfe dann Schemata zur geschichtlichen Entfaltung der Ursprungsvorstellung skizzieren, können neben dem Lied im engeren Sinne auch Ode und Hymne stehen, bezogen auf tradierte kanonische Musterautoren: „V.d.Liede der Griechen ... 1.Hymnen; Homers, Callimach. 2.Heldenoden; Pindars; Chöre [i.e. der Tragödie]: 3.Mädchenlied: Anakreons …“ (HN XXV, 181, 2 r). Vor allem aber tritt in den viel breiter ausgearbeiteten, wenngleich ebenfalls nie abgeschlossenen, Entwürfen (abgedruckt SW XXXII, 61–85 als „Fragmente einer Anhandlung über die Ode“, z.T. nur in Auszügen) „Von der Ode“ (HN XXV, 170), „Fragment über die Ode“ (HN XXV, 171) und „Fragmente einer Abhandlung über die Ode“ (HN XXV, 172), die auch auf den Zeitraum 1764/65 datiert werden, aber offenkundig erst unmittelbar nach den knapper gebliebenen Entwürfen einer Geschichte des „Liedes“ entstanden sein und diese geradezu abgelöst haben dürften, der hergebrachte umfassende Begriff der Ode wieder an die Stelle des Liedes als eines zeitweilig erprobten Inbegriffs ursprünglicher gesungener Dichtung (s. auch die Bemerkungen aus der frühen Rigaer Zeit in Briefen an Hamann vom Januar, Februar und Juli 1765 – Br. I, 36, 37 und 45 –, die nur noch von „meiner Abhandlung von der Ode“ sprechen). Daher kann es von der Ode nun z. B. heißen: „Das erstgebohrne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst u. der Keim ihres Lebens ist die Ode“ (HN XXV, 172, 1r; s. SW XXXII, 62), wo Herder zuvor sehr ähnlich „Von dem Ursprunge des Liedes überhaupt“ geschrieben hatte: „Poesie ist die Muttersprache des Menschlichen Geschlechts, u. die Muttersprache der Dichter ist das Lied ... Das Lied ist die Erstgeburt der Dichtkunst“ (HN XXV, 179, 1r u. 2 r). Es dürfte auch eine Folge dieser fast gleichzeitig bei den Begriffen „Lied“ und „Ode“ ansetzenden Bemühungen um eine Bestimmung lyrischer Dichtung sein, daß sich dann in Herders Volksliedersammlungen eine auf die Ursprünglichkeit lyrischer Artikulation zielende Verwendung des Wortes „Lied“ verknüpft mit dem Gebrauch markanter Kriterien der bisherigen Odentheorie.
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bleibt Klopstock – in einen begeisterten Hinweis auf seine soeben erschienene Odensammlung klingt der Ossian-Briefwechsel aus – die eigentliche zeitgenössische Erfüllung seiner Erwartungen, und Herder kann, ohne daß man einen Bruch in der Entwicklung seiner Lyrikanschauung darin zu sehen hätte, in späteren Jahren sich immer wieder noch mit Hingabe Pindar und Horaz zuwenden und alle lyrische Dichtung mit den Kriterien der Odentheorie begreifen.¹³⁵ Der Ossian-Briefwechsel und die Volkslieder-Sammlungen sind als begeisterte Propagierung neuer Muster eines lebendigen Ausdrucks der Empfindung Gipfelpunkte der schon vom ganz jungen Herder begonnenen, viele zeitgenössische Anregungen aufgreifenden Auseinandersetzung mit der Lyrik, seiner Frage nach den Möglichkeiten der Ode, dem Sinn ihrer Theorie und seiner Suche nach einer über zu enge imitatio hinausführenden Vielfalt von Mustern. Er hat einen schon vor seinem eigenen literarischen Beginn längst in Gang befindlichen Prozeß in jahrelanger Reflexion bis zu einem Punkt geführt, an dem Jüngere, der junge Goethe zumal und die ihm folgten, ihre eigenen, wirkungsmächtig entfalteten Anregungen daraus entnehmen und dem Proteus Lyrik neue Gestalten geben konnten, welche manche älteren dann bald vergessen werden oder in das Dämmerlicht des Vergangenseins entrücken ließen. Aber Herder hat an diesen Punkt nur geführt, nur führen können, indem er, am äußersten Ende einer langen humanistischen Literaturtradition stehend, die ihr zugehörige Theorie der Ode nicht aufgehoben, sondern verwandelt hat. Die Tradition, von der er ausging, und die Momente, die er umformte, genauer zu beachten, das kann erst ganz auch die Unruhe des Fragens, die Ausdauer des Umschmelzens, die Offenheit für Neues ins Licht rücken und verständlich machen, die schon in den frühen Exzerpten und Entwürfen des Nachlasses am Werk sind und aus denen Herders geschichtliche Wirkung erwächst.
135 Belege dafür s. oben in Anm. 19.
4 Poetik und Enzyklopädie Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel I. Am 12. August 1741 schreibt Friedrich von Hagedorn, beschäftigt offenkundig mit der Vorbereitung seiner Sammlung Neuer Oden und Lieder (1742ff.), an seinen Freund Matthäus Arnold Wilckens: „Ich untersuche itzo, welchen Unterschied die Lehrer der Dichtkunst zwischen den Oden der Neuern und den eigentlichen Liedern, Chansons bestimmen. Ich begreiffe, daß in dem ursprünglichen Begriffe eine jede Ode ein Lied sey, daß aber in den nachherigen Zeiten die Lieder, die blosserdings des Singens und der Fröhlichkeit halber, abgefasset worden, als Balladen, Mey-Lieder ... u. die Villanelle p sich des erhabnern Nahmens der Oden verlustig gemacht haben. Ich würde auch eher anacreontische Lieder setzen, als pindarische, wenn ich ja einer von diesen beyden Arten Oden die Benennung eines Liedes beyzulegen hätte. Aber die eigentliche notam characteristicam der Oden und der Lieder getraue ich mir nicht anzugeben, und dazu bedarf ich die autoritaet anderer. Sende mir den Discours sur l’ode des de la Motte und den Richelet sur Malherbe. Hättestu das Dictionnaire de Trevoux oder das della Crusca, so wäre es mir sehr lieb, aus beyden die definition zu haben ... weil mir daran gelegen ist, diesen Unterschied zu wissen ...“.¹ Einige Jahrzehnte zuvor stand in der Schrift Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst von Magnus Daniel Omeis am Beginn des Kapitels Von den Satyren oder Straf-Gedichten – nach einem Hinweis auf den Ursprung dieser Gedichte, der sich an Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind und DichtKunst (1679) anschloß – die Bemerkung: „De Satyris (sive Faunis) kan man lesen Lexicon Hofmanni P.I & II ad voc. Satyri, und die allda citirte Scriptores; auch Rappoltum in Comment. ad Horat. p. 1287 ...“.² Und noch vor Omeis hatte sich Albrecht Christian Rotth im Kapitel Von den Satyren auf dieselben Gewährsleute berufen.³
1 Original: StuUB Hamburg (Sup. Ep. 113,74). Eine Kopie samt Transkription verdanke ich der Freundlichkeit von Prof. Dr. Horst Gronemeyer, Direktor der Bibliothek, der eine Ausgabe der Briefe Hagedorns vorbereitet, den ersten Hinweis auf diesen Brief einem Zitat bei: Uwe K. Ketelsen, Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1974, S. 173. 2 Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und DichtKunst, Nürnberg: Michahelles/Adolph 1704 [UB Münster], S. 223. 3 Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Bd. 3, Leipzig: Lanckisch 1688 [StuUB Göttingen], S. 61: „... schreibt von der Etymologie des Wortes [Satura] Hofmannus in Lexic. universali part. 2 ... Es sind aber die Satyri/ wie gedachter Rappolt in seinem Commen-
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Auch wenn die angeführten Stellen zwangsläufig nur Zufallsfunde sind, scheinen sie doch von symptomatischer Bedeutung zu sein. Kein heutiger Kritiker, kein Literarhistoriker wird von einer neueren Auflage des Brockhaus Belehrung über eine literarische Gattung erwarten, und man wird andere darauf wohl höchstens zu flüchtiger erster Information verweisen. Doch der Rokokodichter, der neben einem der wichtigsten Beiträge zur französischen Odentheorie im 18. Jahrhundert⁴ und einer Schrift über Malherbe,⁵ Hauptmuster der französischen Ode noch im 18. Jahrhundert, auch zwei Nachschlagewerke⁶ zu Rate ziehen will für Überlegungen, die dann ihren Niederschlag gefunden haben in der Vorrede seiner Gedichtsammlung⁷ und diese Vorrede zu einem charakteristischen Dokument der Lyrikdiskussion um die Mitte des 18. Jahrhunderts machen,
tario p.m.1287 anzeucht/ nicht einerley ...“ (gewisse Differenzen zeigen, daß Omeis bei seinen Nachweisen von Rotth angeregt worden sein mag, dessen Gewährsleute aber auch selbständig benutzt haben muß). 4 Antoine Houdar de la Motte, Discours sur la poésie en general, et sur l’ode en particulier (1707). 5 Für sie ließ sich allerdings bisher kein bibliographischer Nachweis finden. Vielleicht bezieht sich Hagedorn in irrtümlicher Verkürzung auf den Schluß des Artikels „Ode“ bei Pierre Richelet, Dictionnaire François, Genf: Widerhold 1679/80 (Neudr. Genf 1970), Bd. 2, S. 83: „Voiez Nicolas Richelet, Commentaires sur Ronsard, & les odes de Malherbe“. Der hier angeführte Kommentar (Pierre de Ronsard, Les Œuvres, Bd. 2, Les Odes, commentees par N. Richelet, u. a. Paris: Tibout/Baraigne 1630 [HAB Wolfenbüttel] zu Ronsard, dem eigentlichen Begründer der französischen Ode, erwähnt in der Vorrede die Vielfalt der für die Ode bezeichnenden Gegenstände (S. 3) und erörtert in den Erläuterungen zum Widmungsgedicht an Heinrich II. Unterschiede zwischen antiker Ode und neuzeitlicher chanson (S. 15), wie sie ähnlich dann in französischen Nachschlagewerken des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gekennzeichnet werden (vgl. unten u. a. Anm. 60, 65 und 66). 6 Dictionnaire de Trevoux, Paris: Delaune u. a. 1743 [UB Mainz]; Text der ersten Auflage 1704 mit der hier benutzten weitgehend identisch, an einzelnen Stellen allerdings knapper, zudem ohne Artikel über Autoren wie Anakreon, Catull, Horaz, Pindar (zu dem, was für Hagedorns Zwecke im Dictionnaire de Trevoux zu finden war, vgl. u. a. unten Anm. 47, 60 und 66). – Vocabolario degli Academici della Crusca, Venedig: Alberti 11612 (Neudr. Florenz 1976), mit sehr knappen Erläuterungen einschlägiger Begriffe (ode/ᾠdή nur im Index lateinischer bzw. griechischer Wörter unter Verweisung auf das Stichwort „Canzone“); auch in der 4. Auflage z. B. (Florenz: Manni 1729–1738 [StB Berlin]), an welche Hagedorn gedacht haben könnte, bleiben die Erläuterungen, bei etwas vermehrtem Stichwortbestand (darunter auch „Oda“), ähnlich karg. 7 Leicht zugänglich im Nachdruck (Bern 1968) der posthumen Gesamtausgabe: Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, Hamburg: Bohn 1757, Tl. 3, S. III–XXII: Vorbericht (ergänzt durch die am Ende auf S. 133–190 angefügten Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen von de la Nauze in der Übersetzung von J. A. Ebert). In der Sammlung Neuer Oden und Lieder ist Hagedorns Vorbericht in Tl. 1 enthalten (Hamburg: Bohn 31752 [StB Berlin], Bl. a2r–b4v).
Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel
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– der Präses des Pegnesischen Blumenordens und der Hallesche Konrektor, die zur Ergänzung ihrer Bemerkungen über Ursprung und Namen einer Gattung außer auf einen Horaz-Kommentar⁸ des späteren 17. Jahrhunderts auch auf ein Lexicon verweisen, das seit 1677 in mehreren Auflagen verbreitet gewesen ist,⁹ – sie deuten darauf hin, daß zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Enzyklopädien und verwandte Werke für die Literatur, für die an ihr Interessierten und tätig Teilnehmenden als Vermittler von Kenntnissen und Regeln von Belang sein konnten und neben den speziellen Werken zur Poetik eine die literarischen Vorstellungen und Erwartungen mitprägende Bedeutung und Wirkung gehabt haben. Verwunderlich erscheinen kann das kaum angesichts des umfassenden wissenschaftstheoretischen Anspruchs vieler Werke frühneuzeitlicher Enzyklopädik, der auch dort noch wirksam ist, wo die Darstellung des anwachsenden Wissens zwar nicht mehr systematisch geordnet, sondern zunehmend dem Alphabet anvertraut wird, aber doch noch in bewußter Beziehung auf ein zugrunde gelegtes Wissenschaftssystem steht und vielfach entsprechend umfangreiche Artikel hervorbringt.¹⁰ So dürfte es sich lohnen, um der Geschichte literarischer Theorie und ihrer Rezeption wie um der Eigenart und der Funktionsgeschichte frühneuzeitlicher Enzyklopädik willen dem Verhältnis von Poetik und Enzyklopädie nachzugehen¹¹ und zu fragen, was Enzyklopädien der frühen Neuzeit von der jeweiligen zeitgenössischen Poetik überliefern, in welchem zeitlichen Verhältnis zu deren Entwicklung sie dabei stehen, was sie an maßgeblichen Quellen,
8 Friedrich Rappolt, Commentarius in Q. Horatii Flacci Satyras & Epistolas omnes, Artem item Poëticam, quinqve Carmina peculiaria, & libros duos priores Carminum, Leipzig: Grosse 1675 [HAB Wolfenbüttel]. 9 Johann Jacob Hofmann, Lexicon universale, Basel: Widerhold 1677; Continuatio, Basel: Widerhold 1683 [StB Berlin]. Zusammenfassung dieser insgesamt vier Bände in einem Gesamtalphabet in der Ausgabe Leiden: Hackius u. a. 1698 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz] (hier im allgemeinen nach dieser Ausgabe zitiert). – Hinweise auf spätere Ausgaben unten in Anm. 33. 10 So in Zedlers Universal Lexicon, in der Encyclopédie d’Alemberts und Diderots, aber auch noch in den frühen Auflagen des Brockhaus und in anderen Conversations-Lexica der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 11 Es gibt einzelne, aber – wenn ich recht sehe – nicht sehr zahlreiche Arbeiten, welche Enzyklopädien als Quelle für Fragen der Rezeption von Literatur und der Poetik beachten, so Margaret Gilman, The Idea of Poetry in France. From Houdar de la Motte to Baudelaire, Cambridge, Mass. 1958; Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1970; Erwin Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963; Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen 1987.
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was sie an Abhängigkeiten untereinander, was an Konstanten und an Wandlungen literarischer Theorie erkennen lassen. Welchen Anteil mögen sie an der Verbreitung literarischer Normen gehabt haben, und wieweit spiegeln sie deren Veränderungen? Wieweit können sie die Geläufigkeit bestimmter literarischer Vorstellungen bezeugen, die späteren Zeiten fremd geworden sind? Wieweit können sie wahrnehmen lassen, welche Bestimmungen, sofern sie selbst in knapp zugeschnittenen enzyklopädischen Werken nicht fehlen, für das Literaturverständnis früherer Epochen von besonderem Gewicht, von fundamentaler Selbstverständlichkeit gewesen sind, und damit auf ihre Weise das Bemühen unterstützen, die Poetik der frühen Neuzeit als Beschreibung der jeweiligen literarischen Realität und der sie bestimmenden Erwartungen ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen? Wieweit also können Enzyklopädien – ob sie nun geradezu Positionen der je zeitgenössischen Poetik produktiv diskutieren und eigenständig zu begründen suchen oder mehr das als selbstverständlich Tradierte zusammenfassen und belegen – neben den speziellen Werken der Poetik seit dem Humanismus und in deren Ergänzung Wegweiser zur Beobachtung und Analyse historisch unterschiedlicher Erwartungen von der Literatur und ihrer geschichtlichen Wandlungen sein und damit auch ihrerseits der Nutzung poetischer Normen anderer Epochen für einen angemessen verstehenden Umgang mit deren Texten dienen? Als ein Beispiel für die Erörterung solcher Fragen, die hier keineswegs abschließend werden beantwortet werden können, bietet sich die Lyriktheorie, die lange Zeit vor allem Odentheorie ist, deshalb an, weil sie vom Humanismus bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert hinein eine höchst eigenartige und für Wandlungen der Literatur sehr charakteristische Entfaltung und Veränderung erfährt. Hagedorn mit seinem Wunsch, die unterscheidende „notam characteristicam der Oden und der Lieder“ zu bestimmen, steht als ein früher Zeuge am Beginn eines besonders markanten Abschnitts dieser Geschichte. Sie ist hier zunächst kurz zu rekapitulieren,¹² damit vor diesem Hintergrund von ihrem Niederschlag in der enzyklopädischen Literatur des näheren die Rede sein kann. Die humanistische, aus vielerlei antiken Quellen gespeiste Poetik und in ihrem Gefolge auch die barocke Poetik erörtern unter der Bezeichnung Lyrica
12 Im einzelnen handeln davon die in diesem Band vorausgehenden drei Untersuchungen „Principes Lyricorum. Pindar- und Horaz-Kommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie“, „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ und „Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung“, deren Ergebnisse hier vorausgesetzt und deren Quellen und Literaturhinweise daher nicht im einzelnen als Beleg angeführt werden.
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oder auch Melica, die dann zunehmend Oden genannt werden, strophische, gesungene oder doch als sangbar gedachte Gedichte. Pindar und Horaz gelten in gleichem Maße als Hauptmuster solcher Gedichte und üben als solche nachhaltigen, durch ihre Unterschiedlichkeit freilich komplizierten Einfluß auf die Einzelheiten der Theorie aus. Nachantike Formen wie Sonett oder Madrigal werden erst spät in die Theorie der Lyrica einbezogen, antike Gedichtarten wie Epigramm und Elegie, die durch ihre andersartige, nichtstrophische metrische Gestalt charakterisiert sind, bleiben vom Begriff der Lyrica naturgemäß sehr lange und sehr entschieden ausgeschlossen. Die Wörter lyrica/carmen lyricum und lyricus/poeta lyricus bezeichnen Oden – allenfalls unter Einschluß von Hymnen und Dithyramben – und deren Verfasser und sind damit in ihrer Bedeutung weit entfernt von jenem umfassenden Lyrikbegriff, wie er sich erst spät und nur in engstem Zusammenhang mit Veränderungen der Dichtung selbst und mit der Wandlung des Gattungssystems zu der um 1800 erst sich endgültig ausformenden und wirkungsmächtig werdenden Trias von Epik, Dramatik und Lyrik herausbildet. Hauptmerkmale der in der humanistischen Poetik an den antiken Mustern entwickelten Odentheorie sind neben der strophischen Gliederung und der Sangbarkeit, die auch in der Herleitung des Namens Lyrica von der Lyra und in den Erläuterungen des Namens Ode immer wieder betont wird, vor allem die Mannigfaltigkeit der Gegenstände (nach v. 83–85 der ars poetica des Horaz, wobei das hier am Anfang stehende Lob der Götter und Heroen oft besonderes Gewicht erhält), metrische Vielgestaltigkeit, Kürze, hoher, von maiestas oder suavitas gekennzeichneter Stil, libertas animi und durch erlaubte Abschweifungen geprägte Bauform, ja Freiheit von Regeln und Gesetzen und damit eine betonte Nähe zum ἐnθousiasmόϛ oder furor poeticus – Merkmale, die die Ode zur Darstellung von Affekten besonders geeignet sein lassen. Die deutschsprachige Barockpoetik übernimmt die Odentheorie des Humanismus, indem sie, um imitatio der antiken Muster in der eigenen Sprache bemüht, mit der antiken Ode das deutschsprachige Lied aufgrund seiner strophischen Form und seiner Sangbarkeit identifiziert. Als ein neues, durch die gereimte Versform nahegelegtes Merkmal fügt sie der Theorie mit Rücksicht auf die Verständlichkeit gesungener Lieder die Forderung nach Vermeidung des Vers- und insbesondere des Strophenenjambements hinzu. Die lange Zeit ziemlich unverändert tradierte Odentheorie erfährt im Lauf des 18. Jahrhunderts in wachsendem Maße tiefgreifende Veränderungen. Zu den daran beteiligten, sie hervorrufenden oder beeinflussenden Momenten gehören unter anderem die Diskussion des Nachahmungsbegriffs, die mit den nicht Handlungen, sondern nur Empfindungen darstellenden lyrischen Gedichten ihre – schließlich doch produktiven – Schwierigkeiten hat, – die aufklärerische Bestimmung der unterschiedlichen Seelenvermögen und ihre Einwirkungen auf
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das Dichtungsverständnis, – der wachsende Einfluß der Ps. Longin-Rezeption, durch welche die Vorstellung vom dichterischen ἐnθousiasmόϛ stärker als zuvor zur Geltung kommt, – die zunehmende Reflexion der Unterschiede zwischen Antike und Neuzeit und der Mustergültigkeit der Antike, – die allmählich entwickelte Fähigkeit zur Nachbildung der antiken Versfüße und Strophenformen. All das bewirkt einerseits eine außerordentliche Belebung der Diskussion der Ode, die als eine Dichtungsart gesteigerter Empfindungsaussprache für einige Zeit in den Mittelpunkt poetologischer Erörterungen rückt, auf der anderen Seite dann aber auch eine wachsende Differenzierung von Ode (samt Hymne und Dithyrambus) und Lied, die an bestimmte, bis dahin latent gebliebene Differenzen in der Theorie und zwischen deren Mustern Pindar und Horaz anknüpft. Die Ode wird entschiedener noch als bisher zu einer lyrischen Dichtart erhabenen Charakters und immer enger gebunden an den Gebrauch der antiken Strophenformen, das Lied, immer mehr als schlichte, in eigentlichem Sinne sangbare, schon durch seine Sprache musikalische Form verstanden, entwickelt sich geradezu zum Gegenpol der Ode. In dem Maße, in welchem sich diese Sonderung vollzieht, wird lyrische Dichtung von der Erwartung einer Empfindungsaussprache bestimmt, die immer stärker unmittelbar, individuell, erlebnishaft sein soll und nur dadurch als wahr gilt. Der sich so verändernde und damit in die Entwicklung der Gattungstrias einfügende Lyrikbegriff öffnet sich nun auch für Formen wie die Elegie, gewinnt damit eine zuvor undenkbare Ausdehnung und läßt dabei an der Stelle der Ode, von der einst die zunächst als Odentheorie entwickelte neuzeitliche Lyriktheorie ausgegangen war, das jetzt von ihr unterschiedene Lied zum eigentlichen Inbegriff von Lyrik werden – ein Vorgang, der nicht ohne tiefgreifende Veränderungen der Lyrik selbst im 18. Jahrhundert möglich gewesen ist, welche sich ihrerseits in den Veränderungen ihrer Theorie aufschlußreich spiegeln.
II. „lyrici ... pugiles ĩ certaminibus uictores laudibus exornãt, aut bacchũ, aut quod uis tale illorum numen celebrant … Lyricorum praecipuum est uario uti carminum genere ipsaq´ue ad lyram canere …” ist am Beginn des 16. Jahrhunderts im posthumen De expetendis, et fugiendis rebus opus¹³ des Georgius Valla zu lesen. Abgehandelt werden die carmina lyricorum als Teil der communis species im Rahmen einer knappen Darstellung der „poeticæ artis species tres“: „actiua siue
13 Georgius Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus, Venedig: Manutius 1501 [Stadtb. Mainz], Bd. II, Lib. XXXVIII, De Poetica Volumen unicum, Bl. EE8v.
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imitatiua ... enarratiua siue enuntiatiua ... counis, uel mixta“ (Bl. EE8r). Diese wenigen, an einer Stelle auf v. 84f. der Horazischen ars poetica anspielenden Feststellungen zu den Gegenständen und zum Zweck der Lyrica, zu ihrer Herleitung vom Gesang ad lyram und zur Verwendung vielfältiger metrischer Formen, die strophisch gegliedert zu denken sind, mitsamt der Zuweisung zur communis species innerhalb der vor allem vom spätantiken Grammatiker Diomedes¹⁴ sich herleitenden Zuordnung aller möglichen, unterschiedlichen Gedichtarten zu den von Valla angeführten drei species, deren Unterscheidung an der Redeform orientiert ist – das ist ein Grundbestand, wie er sich in vergleichbarer Weise auch schon in den enzyklopädischen Werken des Mittelalters findet, wo diese im Rahmen der Grammatik als eines Teils des Triviums von der Poesie handeln, ihrerseits dabei in der Tradition der spätantiken Grammatik¹⁵ stehend. „Lyrici poetæ dicuntur, à potu lyrin,¹⁶ idest à varietate carminũ, vnde & lyra dicitur ...“ formuliert z. B. Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum doctrinale.¹⁷ Das liest man früher schon bei Hrabanus Maurus,¹⁸ und lange vor Vinzenz und Hrabanus findet sich bereits bei Isidor¹⁹ dieselbe Formulierung, die auf eine sinngemäß entsprechende Stelle bei dem Grammatiker Marius Victorinus zurückweist.²⁰ Mit der auch bei Isidor stehenden längeren Passage über die poetae, in welcher der Satz über die lyrici, die varietas carminum und die lyra begegnet, verknüpft Hrabanus in seinem Kapitel De poetis eine Wiedergabe der Diomedischen Einteilung der „poematis genera“ in der um biblische Muster erweiterten Fassung, die
14 Diomedes, Artis Grammaticae lib. III: De poematibus (Grammatici latini, ed. Henricus Keil, Bd. 1, Leipzig 1857, S. 482f.). 15 Hugo von St. Victor begnügt sich in seinen Eruditionis didascalicae libri septem (Lib. II, cap. XXX, De grammaticae divisione) sogar mit der knappen Erwähnung nur einzelner Gegenstände der Grammatik und verweist zur näheren Ausführung auf die Grammatiker Donatus, Diomedes und Priscian (Migne, PL, Bd. 176, Sp. 763). 16 Recte: apo tou lyrein (vgl. die in Anm. 18 angeführte Stelle bei Hrabanus Maurus). 17 Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. II, Sp. 288 (Lib. III, cap. CX, De poetis). 18 Hrabanus Maurus, De universo, Lib. XV, cap. II, De poetis (Migne, PL, Bd. 111, Sp. 419): „Lyrici poetae apo tou lyrein, id est, a varietate carminum: unde et lyra dicta“. 19 Isidor von Sevilla, Etymologiarum liber VIII, cap. VII, De poetis (Migne, PL, Bd. 82, Sp. 308). 20 Marius Victorinus, Artis Grammaticae lib. I: De Metris (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 6, Leipzig 1874, S. 50): „melicum autem sive lyricum, quod ad modulationem lyrae citharaeve componitur … carmen autem lyricum, quamvis metro subsistat, potest tamen videri extra legem metri esse, quia libero scribentis arbitrio per rhythmos exigitur“. – Zur antiken Tradition der etymologischen Erklärung der lyrica vgl. im übrigen Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, S. 13.
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vorher bei Beda belegt ist,²¹ während er in seiner Excerptio de arte grammatica Prisciani die ursprüngliche Fassung von Diomedes selbst übernimmt,²² die die lyrica eigens erwähnt und dem genus commune zuordnet. Ähnlich wie in den mittelalterlichen Enzyklopädien oder dann bei Valla – und wie auch dort gelegentlich ergänzt durch Nennung von Horaz, später auch Pindar als Muster²³ – sehen die Hinweise zu den lyrica auch noch im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert aus. In dem über mehr als hundert Jahre hin in zahlreichen Auflagen verbreiteten Thesaurus Eruditionis Scholasticae, sive Ratio Docendi ac Discendi (1571) des Basilius Faber beispielsweise lauten die Erläuterungen einschlägiger Lemmata: „Carmen, oratio ligata, numeris suis & mensura certa constans ... Gesang“ – „Hymnus ... cantio laudans, Lobgesang“ (mit einem Pindar-Zitat) – „Lyricus, vt Poëta lyricus, qui carmina sua ad lyram recitabat. Inter eos Poëtas excellere se iactat, Horat. Ode. I ... [zit. Od. I, 1, v. 35f.] Lyrici apud Græcos nouem fuere, inter quos excelluit Pindarus“ – „Melicum vt Poëma melicum, hoc est Musicum …” – „Oda, ae, vel Ode, es ᾠdή, cantio, carmen“.²⁴ Ob die
21 Beda Venerabilis, De arte metrica, Abschnitt: Quod tria sint genera poematos (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 7, Leipzig 1880, S. 259f.). 22 Im Abschnitt De vi ac varia potestate metrorum: „Coeni vel communis poematos species sunt duae. Quarum prior heroica, ut est Iliadis et Aeneidos; altera est eliaca [vgl. hierzu die Lesarten bei Keil zu der unten genannten Stelle bei Diomedes], quae et lyrica dicitur, ut est Archilochus et Horatius“ (Migne, PL, Bd. 111, Sp. 670). Vgl. Diomedes (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 1, S. 483): „koinoῡ vel communis poematos species prima est heroica, ut est Iliados et Aeneidos; secunda est lyrica, ut est Archilochi et Horatii“ (eine entsprechende Stelle steht – soweit ich sehe – bei Priscian, auf den sich Hrabans Titel bezieht, offenkundig nicht). 23 Vgl. das auf Diomedes beruhende Zitat aus Hrabanus Maurus in Anm. 22; Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. IV, Speculum historiale, S. 195 über den Rang des Horaz „inter satyricos, & lyricos poetas latinos“ (S. 99f. biographische Nachrichten über Pindar noch ohne solche Wertung); Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus (wie Anm. 13), Bd. II, Bl. FF1r: „Fuerũt sane apud græcos lyrici decem ... At liricorum oĩum facile prĩceps Pĩdarus“. – Vgl. auch die Artikel über Pindar bzw. Pindar und Horaz in den Werken von Hermann Torrentinus, Elucidarius Poeticus (11498), Ausgabe München: Leysser 1630 [Stadtb. Mainz], S. 291 und Estienne, Dictionarium (11553), Ausgabe Paris: Macaeus 1578 [HAB Wolfenbüttel], Bl. Bb8r, Pp3v, die keine Sachartikel zur Lyrik enthalten, sowie die entsprechenden Stellen in den in Anm. 24 genannten weiteren Werken. 24 Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, Leipzig: E. Vögelin 1587 [UB Mainz], S. 141f., 394, 471, 492, 561. Die knappen Erläuterungen Fabers bleiben auch in den späteren Ausgaben weitgehend unverändert, hie und da durch einzelne Zusätze erweitert, so in den Auflagen der auf August Buchner zurückgehenden Bearbeitung, wo es s.v. carmen ergänzend heißt: „... Caeterùm aliquando latius, quandoque strictius sumitur, & vel Epicum; vel Lyricum carmen significat … Horatius quoque libros suos, non odarum; sed carminum nomine inscripsit … Carmina: videlicet Lyrica“ (Leipzig/Frankfurt: Fritzsch 1680 [UB Mainz], Bd. 1, Sp. 451). – Vgl. auch u. a. Raphael Volateranus, Commentariorum Vrbanorum libri, Rom: Besicken 1506
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enzyklopädischen Werke dabei auf den altüberlieferten Grundbestand deshalb sich beschränken, weil sie die Entfaltung der sich längst erweiternden und stärker differenzierenden Theorie in den speziellen Werken zur Poetik noch nicht als verbindlich rezipiert haben, oder vielleicht doch eher darum, weil sie oft mehr auf die Vermittlung des Systems des Wissens oder auch nur des nötigsten Extrakts als auf seine Einzelheiten gerichtet sind,²⁵ wird offen bleiben müssen. Die Konstanz aber der auf die Sangbarkeit und metrische Vielfalt, daneben auch auf bestimmte Gegenstände gegründeten und auf Horaz und dann auch Pindar als Muster sich berufenden Bestimmungen²⁶ der Lyrica über Jahrhunderte hin macht deutlich, wie sehr dieser Kernbestand, verankert im System der Artes und seiner Tradierung durch die spätantiken lateinischen Grammatiken, das Fundament aller weiteren Vorstellungen ist,²⁷ wie sehr auch allerdings dieser Kernbestand vom Humanismus, von den humanistischen Pindar- und Horaz-
[Stadtb. Mainz], Bl. CCCCLXVIrf.; Ringelbergh, Lucubrationes (11529), Basel: Westhemerus 1541 [Stadtb. Mainz], S. 162; Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Zürich: Froschauer 1545 [HAB Wolfenbüttel], Bl. 563r, 575v; Zwinger, Theatrum vitae humanae, Basel: Oporinus/Frobenius 1565 [Stadtb. Mainz], S. 63, 64, 78; Lang, Florilegium (11598), Straßburg: Lazarus Zetzners Erben 1645 [UB Mainz], Sp. 2372; Goclenius, Lexicon Philosophicum, 1613, Neudr. 1964, S. 182 und Garzoni, Piazza univerale (1585, dt. 11619), Frankfurt/M.: Jennisius 1626 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 372), S. 728. 25 Dafür könnte sprechen, daß vergleichbare Werke auch noch im späteren 17. und im frühen 18. Jahrhundert sich auf jenen Kernbestand beschränken: vgl. u. a. Pexenfelder, Apparatus Eruditionis (11670), Sulzbach: Endter 31687 (Sammlung Jantz, Film Nr. 403), S. 287f.; Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon (11684), Gotha: Mevius 81725 [StB Berlin], S. 569, 814; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, Altdorf: Hofmann/Meyer 1695 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 488), S. 718; Hederich, Reales Schul-Lexicon, Leipzig: Gleditsch 1717 [Stadtb. Mainz], Sp. 1530, 1787, 1878, 2033 (im Detail begrenzt trotz Berufung der Vorrede u. a. auf Scaliger und Vossius als Quellen der Poetik); Fahsius, Atrium Eruditionis, Goslar: König 1718/19 [HAB Wolfenbüttel], S. 651ff. 26 Weniger konstant ist nur die alte Zuordnung der lyrica zur communis species der Poemata, weil die Diomedische Dreigliederung nach der Redeform, die mit der um 1800 ausgebildeten, einen umfassenden Lyrikbegriff einschließenden Gattungstrias keineswegs identisch ist, insgesamt in der Poetik der Frühen Neuzeit nicht gleichmäßig tradiert wird, auch wenn sie an der Vorgeschichte und Ausbildung der Gattungstrias – auf eine allerdings komplizierte und bisher nicht ausreichend aufgehellte Weise – Anteil hat. 27 Das macht auch begreiflich, daß das Verständnis des Wortes „lyricus/lyrisch“ so lange vor allem geprägt bleibt durch die Vorstellung von Sangbarkeit und strophischer Gliederung und daß dieses Wort damit einen engeren, aber auch präziseren (und von anderen Gedichtarten prägnant abgrenzenden) Sinn hat, als spätere Zeiten ihm gegeben haben, und es wird auch durch diese Bekräftigung der frühneuzeitlichen Bedeutung des Wortes verständlich, daß Ode und Lied bis weit ins 18. Jahrhundert nicht nur der Sache nach als Hauptform des lyrischen Gedichts identifiziert, sondern auch sprachlich völlig gleichgesetzt werden, wie es Nachschla-
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kommentaren zunächst, mit ihnen zusammen sodann seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der humanistischen Poetik zu einer ausgearbeiteten und lange wirksamen Lyriktheorie erweitert worden ist. Das wird innerhalb der Enzyklopädik im frühen 17. Jahrhundert besonders gut greifbar bei Johann Heinrich Alsted, der auch bei Behandlung der Poetik seinen Rang als umsichtig-systematischer Universalgelehrter erweist. Im Liber decimus, exhibens poeticam seiner Encyclopædia von 1630 führt Alsted in der Sectio I, cap. XII. De poëmate über das Carmen lyricum (so die Bezeichnung in den Marginalien) unter der Überschrift VII. De carmine melico sunt hi canones aus: 1. Hoc poëma gaudet vocum sonorumq ´ue concentu. Dicitur lyricum; quia olim ad lyræ cantum applicabatur, vel etiam ad chelyn. Aliâs appellatur ode, melos, eἶdoϛ & idyllion, quod est diminutivum ab eἶdoϛ, quòd hæc poëmata essent quasi rerum species quædam. 2. Ex monocolis gaudet maximè iambico, trochaico, & choriambico: ex polycolis omnia admittit, præter elegiacum. 3.Lyricum carmen requirit verba selecta, & iucundam numerorum varietatem, & cum animi libertate frequentiam sententiarũ, & elegantem brevitatem. 4. Ejus materia est multiplex: videl. amores, laudes, jurgia, insectationes, hilaritates, convivia, objurgationes, vota, desideria, exhortationes, querelæ, res gestæ, invitationes, dehortationes, & similia multa. 5. Summa ipsius genera sunt quatuor. Primò est ode didascalica: quò pertinent descriptiones rerum; adhortationes,dehortationes, & res similes. Deinde est epinicion, ode quæ victori canitur. Tertiò est hymnus, qui Deo dicitur. Quartò est pæan, quo ethnici gratulabantur diis pro victoriâ in præliis.²⁸
Dem belesenen Gelehrten ist es hier gelungen, in knapper Fassung der Einzelheiten und straff geordneter Form der Darlegung die im Lauf des 16. Jahrhunderts entwickelte Theorie der Lyrica oder Odae zusammenfassend – und nicht ohne Andeutung gelehrten erklärenden Details – wiederzugeben. Kaum eine der wesentlichen Bestimmungen, die nicht ausdrücklich genannt, keine eigentlich, die nicht wenigstens indirekt berührt würde.²⁹ Dabei lassen viele der Formulierungen die Hauptquelle für den Abschnitt über die carmina lyrica erkennen: es ist Julius Caesar Scaligers groß angelegtes Werk Poetices libri septem, auf das
gewerke des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigen, die auf die Erläuterung lateinischer und deutscher Terminologie zugleich bedacht sind (vgl. die Belege in Anm. 64). 28 Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 525. 29 Letzteres gilt für die Digressionen und die auch anderswo ohnehin erst nach und nach ausdrücklicher als Merkmal der poesis lyrica genannte besondere Beziehung der Ode zum furor poeticus, auf welche die Hinweise auf den Stil, die numerorum varietas und die animi libertas mittelbar doch mit hindeuten.
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offenkundig die Mehrzahl der von Alsted angeführten Bestimmungen unmittelbar zurückgeht.³⁰ Alsted steht damit, wie ein Blick in andere enzyklopädische Werke des 17. Jahrhunderts zeigt, keineswegs allein. Antonio Zara war ihm in seiner Anatomia Ingeniorum et Scientiarum³¹ vorausgegangen, wenn auch mit knapperen Ausführungen, deren Aufzählung von Gegenständen des carmen lyricum dem Katalog bei Scaliger folgt. Aus dem ersten Kapitel Scaligers über die Lyrica (Lib. I, S. 47f.) zitiert Laurentius Beyerlinck in seinem Magnum Theatrum vitae humanae³² – beginnend mit der auch anderswo oft angeführten Feststellung „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas“ – mit einigen Umstellungen und Auslassungen lange Passagen, an deren Ende Scaliger als Quelle eigens genannt wird. Im Lexicon universale³³ von Johann Jacob Hofmann wird in den Artikeln „Lyra“ sowie „Melos“ und in einem eigenen Artikel „Ode“ dieselbe Formulierung Scaligers als Hauptbestimmung neben Momenten wie der im Namen dieser Gedichte angezeigten Sangbarkeit, der Vielfalt der Gegenstände und der Gliederung der pindarischen Ode angeführt. Überall nehmen im 17. Jahr-
30 Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Lyon: Vincentius 1561, Faksimile-Neudruck, hrsg. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964; vgl. Insbesondere S. 47–49 (Lib. I, cap. XLIIII, Lyrica) und S. 169 (Lib. III, cap. CXXIIII, Lyrica). Scaliger, der in Alsteds Enzyklopädie z. B. auch für den Abschnitt De poëmate dramatico eine der Quellen ist, wird in Alsteds zehn Jahre früher erschienener erster Enzyklopädie (Alsted, Cursus Philosophici Encyclopædia, Herborn: Corvinus 1620 [HAB Wolfenbüttel], Bd. 3: Septem artes liberales) im entsprechenden Abschnitt (Lib. XXVI, Poetica, p. I, cap. VIII, De inventione poëmaticâ, IV. Carmen lyricum), der eine weniger vollständige Vorform des Textes von 1630 ist, an einer Stelle (Sp. 725) ausdrücklich als Gewährsmann angeführt. 31 Zara, Anatomia Ingeniorum, Venedig: Typographia Ambrosii Dei & Fratrum 1615 [HAB Wolfenbüttel], S. 195. Auch hier steht der Abschnitt über die Tragödie ebenfalls in Beziehung zu Scaliger. 32 Beyerlinck, Magnum Theatrum, Köln: Hieratus 1631 [Stadtb. Mainz], Bd. 6, S. 473f., innerhalb des Abschnitts Melopoei in Genere. Lyrici, Melici im Kapitel Poeta (S. 462–500). Im ersten Teil des Kapitels empfiehlt Beyerlinck unter den „Poeticæ Magistri, Præceptores, Doctores“ Scaliger eindringlich mit den Worten: „Jul. Cæsar Scaliger Poëticã artẽ libris septẽ elegantissimè & eruditissimè complexus, præcepta optimorum scriptorum exemplis sic illustrauit, vt nihil in hoc genere perfectius vel à veteribus vel à recentioribus elaboratum videatur. Cuius scripta ab omnibus Poëticæ studiosis diligenter legenda censeo, nostro præsertim seculo“ (S. 465). – In Zwingers Theatrum vitae humanae, das eine vielfach wörtlich benutzte Quelle Beyerlincks ist, fehlen die Berufungen auf Scaliger noch. 33 Hofmann, Lexicon universale (11677–83), 1698, Bd. 2, S. 898; Bd. 3, S. 123 und S. 416; die einschlägigen Artikel des Lexicon universale auch noch in den anonymen späteren Bearbeitungen: [Johann Jacob Hofmann], Lexicon universale, Köln: Moretus 1720 [Stadtb. Mainz] und Leiden: Moretus 1726 [Stadtb. Mainz]. – Im Artikel über Scaliger (Bd. 4, S. 85) heißt es von diesem: „... Scripsit Poëticam, opus admirandum“ (so auch schon 1677, Bd. 2, S. 318).
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hundert die enzyklopädischen Werke seit Zara und Alsted entscheidende neuere Momente der Lyriktheorie auf, die zu einem Teil von der erst im Lauf des 16. Jahrhunderts sich entwickelnden Pindar-Rezeption geprägt sind: die Betonung des hohen Stils vor allem, die deutlichere Benennung der mannigfachen Gegenstände und deren Gliederung in Anlehnung an Horaz, die Kürze oder eine genauere Bestimmung der metrischen Vielfalt. Die noch immer vorwiegend lateinisch geschriebenen Werke, welche die Inhalte der gelehrten Bildung der Zeit zusammenfassen, führen damit zugleich vor Augen, welche Vorstellungen von den Lyrica und Oden auch für die sich in diesem Zeitraum entwickelnde deutschsprachige Barockpoetik und für die Verfasser deutscher Gedichte verpflichtend sein mußten. Wenn das in so auffälliger Weise im Zeichen Scaligers geschieht,³⁴ wenn dabei bestimmte Formulierungen Scaligers bemerkenswert lange präsent bleiben, dann bekräftigen die Enzyklopädien die ungewöhnliche Wirkung, die unter allen humanistischen Poetiken diejenige Scaligers³⁵ – und
34 Die Wendung Scaligers von der „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas“ führt Daniel Georg Morhof, der sie auch im Oden-Kapitel in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (hrsg. v. Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. u. a. 1969, S. 339) zitiert, in seinem Polyhistor (Bd. 1, S. 1067) bei Behandlung der antiken und neueren lateinischen Odendichter an. – Weitere Beispiele für die Berufung auf Scaliger bei der Behandlung von Spielarten der lyrica u. a. Hofmann, Lexicon universale, 1698, Bd. 2, S. 86f. s.v. Dithyrambus; Bd. 2, S. 559f. s.v. Hymnus; Lloyd, Dictionarium historicum, geographicum, poeticum (11670, Bearbeitung des 1553 zuerst erschienenen Dictionarium von Estienne, vgl. Anm. 23), Genf: de Tournes 1693 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz], S. 412 s.v. Dithyrambus, mit gleichzeitiger Anführung einer einschlägigen Abhandlung in der bis ins 18. Jahrhundert maßgeblichen und einflußreichen Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid (1616); Moreri, Grand Dictionaire (11674), Amsterdam/ Den Haag: Aux Dépens de la Compagnie 1702 [UB Mainz], Bd. II, S. 362 s.v. Dithyrambe; Buddeus, Allgemeines Historisches Lexicon (11709), Leipzig: Fritsch 21722 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 57 s.v. Dithyrambus. Hinweise auf Scaliger in Artikeln zu einzelnen Gedichtarten reichen im übrigen noch tief ins 18. Jahrhundert hinein, so u. a. bei Zedler, Universal Lexicon, Bd. 25, 1740 [UB Mainz], Sp. 447 s.v. Ode; Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 4, Amsterdam: Rey 1777 [UB Mainz], S. 92 s.v. Ode; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Élégie. 35 Demgemäß wird in den Enzyklopädien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (vgl. auch die in Anm. 33 genannten späteren Bearbeitungen von Hofmanns Lexicon universale) Scaliger auch in den Artikeln zu Stichworten wie Poesie, Poetik und dergleichen immer wieder als einer der Hauptgewährsleute genannt: vgl. u. a. Richelet, Dictionnaire François, Bd. 2, S. 180 s.v. Poësie, S. 181 s.v. Poëtique; ebenso noch: Pierre Richelet, Nouveau Dictionaire François, Genf: de Tournes u. a. 1710 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 183; Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 3, Bl. Q3r s.v. Poëtique; Jablonski, Allgemeines Lexicon, Leipzig: Fritsch 1721 [HAB Wolfenbüttel], S. 559 s.v. Poesie (z.T. nach Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f.); ebenso noch in der von Johann Joachim Schwabe bearbeiteten Ausgabe Königsberg/Leipzig: Zeissen/ Hartung 1767 (Sammlung Jantz, Film Nr. 285), S. 1076 s.v. Poesie (der Artikel hier erweitert, z.T. in Übereinstimmung mit demjenigen in Gottsched, Handlexicon, Neudr. 1970, Sp. 1315;
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später neben ihr auch die ähnlich gelehrte und ergiebige des Gerhard Johannes Vossius³⁶ – gehabt, die prägende Kraft, die gerade durch sie die humanistische Dichtungslehre gewonnen hat, an deren Tradierung gelehrte Enzyklopädien bis ins 18. Jahrhundert hinein beträchtlichen Anteil haben. Unter ihnen ist das Lexicon universale Hofmanns dadurch besonders aufschlußreich, daß es Scaligers Formel von der „proxima heroicae maiestati lyrica nobilitas“ gleich an mehreren Stellen anführt. Es bezeugt damit nicht nur eindrücklich das Gewicht gerade dieser Vorstellung vom erhabenen Charakter der Lyrica und die besondere Rolle gerade Scaligers für deren Verbreitung, sondern ist auch Indiz einer terminologischen und sachlichen Veränderung, die sich im Zuge einer Wandlung der Enzyklopädie wie der Entwicklung der Lyriktheorie nach und nach vollzieht. Wer bis dahin im Rahmen systematisch angelegter enzyklopädischer Werke – und so sind sie, von den alphabetischen Lexika historischer, biblischer, mythologischer, geographischer Namen abgesehen,³⁷
hier ist in der Vorrede, Bl. *5r, Jablonski seinerseits als einer der Vorläufer genannt); Walch, Philosophisches Lexicon, Neudr. 1968, Bd. 2, Sp. 456, 458 s.v. Poesie (bis auf wenige, als solche gekennzeichnete Zusätze identisch mit dem Text der ersten beiden Auflagen von 1726 [StB Berlin] und 1733 [StB Berlin]; Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, 1741 [UB Mainz], Sp. 978, 980 s.v. Poesie (in erheblichem Umfang nach Walch). Hederichs Reales Schul-Lexicon führt in der Vorrede (Bl.)(2 v) Scaliger unter seinen Quellen für das Gebiet der Poetik an. Auch noch in den vielfach mit gründlicher Gelehrsamkeit gearbeiteten Konversationslexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Scaliger – nunmehr schon zunehmend aus historischer Perspektive – neben anderen Autoren des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts im Artikel „Poetik“ erwähnt: vgl. u. a. Conversations-Lexicon, Bd. 5, 1819 [UB Mainz], S. 664; Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824 [UB Mainz], S. 649; ebda., Bd. 8, 71830 [UB Mainz], S. 632; ebda., Bd. 8, 81835 [UB Mainz], S. 641; Rheinisches Conversations-Lexicon, Köln: Bruère, Bd. 9, 41843 [UB Mainz], S. 941. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bricht diese späte, letzte Phase einer langen gelehrten Tradition und damit der Wirkungsgeschichte Scaligers ab. 36 Auf Gerhard Johannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri tres (Amsterdam: Elzevier 1647 [UB Köln]) beruft sich u. a. noch d’Alemberts und Diderots Encyclopédie in den Artikeln über Dithyrambus und Elegie (Bd. 4, 1754 [UB Mainz], S. 1066, hier zugleich Erwähnung der oben in Anm. 34 genannten Pindar-Ausgabe von E. Schmid; Bd. 5, 1755 [UB Mainz], S. 484), ebenso der Artikel „Lyricum Carmen“ im illegitimen Bd. 18 von Zedlers Universal Lexicon (Hof: Schultze 1738 [Stadtb. Mainz], Sp. 2569). In den Artikeln über Poesie und Poetik figuriert neben Scaliger fast stets auch Vossius als einer der maßgeblichen Autoren (vgl. dazu alle zu Scaliger zusammengestellten Belege in Anm. 35 mit Ausnahme von Walch und Zedler; s. auch die Berufung auf die Schrift De artis poeticae natura ac constitutione, 1647, des Vossius bei Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f. s.v. Poesis), bis auch für ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Tradition abbricht. 37 Vgl. z. B. die weitgehend auf Personalartikel beschränkten und deshalb alphabetisch angelegten Werke von Torrentinus (vgl. oben Anm. 23); Gesner, Bibliotheca Vniversalis; Estienne, Dictionarium; Lloyd, Dictionarium oder Moreri, Grand Dictionaire. Alphabetisch angelegt sind
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bis zum späteren 17. Jahrhundert fast alle gestaltet – die betreffenden Gedichte behandelte, tat dies – in Übereinstimmung mit der humanistischen Poetik³⁸ – gemäß der vom Instrument Lyra abgeleiteten Sangbarkeit als altüberliefertem Hauptmerkmal dieser Gedichte im allgemeinen unter dem Namen der lyrica, der lyrica poesis, des carmen lyricum und gelegentlich auch unter dem entsprechenden eines carmen melicum, wobei dann auch der erst im Humanismus dafür üblich werdende Begriff Ode, als Synonym oder auch als Unterart, ergänzend genannt und erläutert wird. So geschieht es beispielsweise bei Alsted in Entsprechung zu Scaliger.³⁹ Hofmann hingegen, der als einer der ersten in einem mehrbändigen Werk einen ausgedehnten Wissensstoff in zahllose, alphabetisch geordnete Einzelartikel zerlegt darbieten will,⁴⁰ sieht sich beim Stand der
begreiflicherweise auch Werke wie das Vocabolario ... della Crusca (1612; vgl. oben Anm. 6), das vorwiegend sprachliche Auskunft geben will, oder Goclenius, Lexicon Philosophicum, das einen speziellen Bestand fachlicher Termini zusammenstellt. 38 In der lateinischen Poetik bleiben bis hin zu Vossius (1647) und Masen (1654ff.) lyrica und daneben auch melica die maßgeblichen Bezeichnungen. Vereinzelt stehen mit der Kapitelüberschrift „De Ode“ Konrad Bachmann und Christoph Helwig da (Poetica, Gießen: Hampelius 31623 [HAB Wolfenbüttel], S. 324), deren Werk Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 109, neben einigen anderen Anleitungen zur Poesie nennt. 39 Scaliger, Poetices libri septem, Lib. I, cap. 44, S. 47: „… ita hæc Ode, & mέloϛ, & molpή ... Odas quoque à canendo titulum suorum librorum fecit Horatius, Grammatici Pindaricas inscripsere cantiones, mέlh. alii verò maluerunt eἴdh. vnde diminutiuum Idyllion ...“. Zu Alsted s. die oben im Text zitierte Stelle. Vgl. u. a. auch Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473, wo innerhalb des umfangreichen Scaliger-Zitats auch die oben angeführten Sätze enthalten sind; Zara, Anatomia Ingeniorum, S. 195, wo auf den auf Scaliger beruhenden Katalog der Gegenstände der lyrica der Satz folgt: „Odæ etiam à cantu nomen traxêre“ und dann auch Hymni, Dithyrambi usw. genannt werden; Pexenfelder, Apparatus Eruditionis, 31687, S. 288, wo es im Kap. 53 Poëtica seu Schola Humanitatis heißt: „Ab instrumentis indigitantur: Lyricum à lyra, quæ Hymnis & Odis ... adhiberi consuevit“. 40 Beyerlinck beispielsweise, Hofmann um einige Jahrzehnte vorausgehend, ordnet in seinem vielbändigen Magnum Theatrum den Stoff zwar alphabetisch, doch in umfangreichen, als Teile eines umfassenden Systems gedachten Artikeln. So wird etwa unter dem Stichwort „Poeta“ auf fast vierzig Seiten die gesamte Behandlung der Poetik zusammengefaßt. Ein frühes, aber zu seiner Zeit wohl vereinzeltes Beispiel kleinteiliger alphabetischer Ordnung eines weit ausgreifenden Wissensbestandes ist – rund ein Jahrhundert vor Hofmann – Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (Vorrede datiert 1571), der sich, bewährt offenkundig als ein nützliches Hilfsmittel für Lehrer und Schüler, u. a. in der Bearbeitung durch August Buchner bis mindestens ins späte 17. Jahrhundert im Gebrauch erhalten hat (vgl. die Ausgaben 1680 und Leipzig: Gleditsch 1692 [UB Mainz]). Das einbändige Werk enthält von Beginn an u. a. zahlreiche Artikel zu den für das carmen lyricum einschlägigen Begriffen und Musterautoren. An Einläßlichkeit und gelehrter Ergiebigkeit aber kann es sich mit Hofmanns Lexicon universale nicht messen.
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Theorie veranlaßt, jedem der einschlägigen Begriffe – und dazu weiteren Arten der Lyrica wie Hymnus, Dithyrambus und dergleichen, die wie auch bestimmte Arten der Kasualdichtung z.T. eine eigene, weiter zurückreichende Tradition der Behandlung im enzyklopädischen Schrifttum haben, hier aber nicht eigens im einzelnen verfolgt werden können – eigene Artikel zu geben⁴¹ und darin Scaligers Wendung von der „proxima heroicae maiestati nobilitas“ als ein nun offenkundig besonders zentrales Merkmal dieser Gedichte erneut anzuführen. Die Zuordnung des Begriffs „ode“ zu den beiden anderen Begriffen, „lyrica poesis“ und „melos“, bleibt zwar wie überhaupt das Verhältnis aller drei zueinander unscharf und schwankend,⁴² und mit den nicht durchaus systematisch auf sie verteilten Einzelheiten stellen diese Artikel erst zusammen eine Summe der von Hofmanns Lexikon vermittelten zeitgenössischen Vorstellungen von der lyrica poesis dar. Aber indem das Werk dem Begriff „ode“ einen eigenen Artikel zuteilt⁴³ und darin unter anderem das Wort als „titulus librorum Horatii“ bezeichnet und dann vor allem das triadische Schema der pindarischen Ode – in Anknüpfung an eine ältere Tradition seiner metrischen Erklärung und genetischen Herleitung – erläutert, gibt es das wachsende Eigengewicht des Terminus und seine besondere Offenheit für eine Poesie hohen Stils zu erkennen. Das mehr oder weniger gleichberechtigte Nebeneinander der Begriffe „lyricum/carmen lyricum“ und „ode“ im Stichwortbestand der Enzyklopädien läßt sich noch für längere Zeit nach Hofmann in manchen Werken beobachten, in
41 Die Artikel „Lyra“ (als Musikinstrument; mit den Ausführungen zu lyrica poesis), „Melos“ und „Ode“ finden sich erstmals in der 1683 erschienenen Continuatio (Bd. 1, S. 1062; Bd. 2, S. 56 und 277) zur Erstausgabe von 1677, in der auch manche anderen Stichworte aus dem Bereich der Poetik noch fehlen. 42 Vgl. Bd. 2, S. 898 s.v. Lyra: „Hinc Lyrica poësis, cui proxima Heroicae Majestati nobilitas: Ode, & mέloϛ & molpὴ dicta. Neque enim ea sine cantu atque Lyra pronuntiabant, unde & Lyricorum appellatio orta, quorum genera multa“; Bd. 3, S. 123 s.v. Melos: „Cùm autem lyricorum genera multa sint, Melos sive Ode kat’ ἐxocὴn dicitur, quibus curas amatorias decantant … Alia genera in laudibus Heroum, locorum laudationibus … Vide plura hanc in rem apud Scaligerum … ubi nobilissima Carmina Hymnos & Pæanes esse dicens, secundô loco collocat Mela & Odas & Scolia, quæ in virorum fortium laudibus versabuntur; tertio loco Epica ponit, &c.“; S. 416 s.v. Ode: „Ode: Graecè ’Wdὴ , titulus librorum Horatii, cui à canendo nomen. Scaliger Poëtices l. I. C. 44. Proxima heroicae majestati Lyrica nobilitas …“. 43 Dies ist – neben dem knappen Artikel bei Richelet (1679/80) – eines der frühesten Beispiele eines gesonderten Artikels zum Stichwort „Ode“, das dann nach und nach für längere Zeit zur Hauptstelle der Lyriktheorie im Zuge ihrer weiteren Entwicklung wird. Den Artikeln bei Hofmann und Richelet geht – von der ganz knappen Worterläuterung bei Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (s. oben im Text bei Anm. 24), abgesehen – zumindest der Artikel bei Micraelius, Lexicon Philosophicum (Neudr. 1966, S. 919) voraus, der seinerseits eine Kurzfassung von Alsteds canon 1 und 5 bietet.
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welchen die Ode zwar als eigenes Stichwort auftaucht, aber doch nur als Synonym oder Unterart des carmen lyricum behandelt⁴⁴ und nicht stärker hervorgehoben wird, während wesentliche Bestimmungen wie etwa die Mischung von Versarten oder Hinweise zum Stil nur beim anderen Stichwort⁴⁵ oder bei beiden zugleich geboten werden.⁴⁶ Daneben aber mehren sich seit dem späteren 17. Jahrhundert diejenigen enzyklopädischen Werke, die unter dem Stichwort „lyricum/lyrisch/lyrique“ zwar weiterhin den althergebrachten, etymologisch fundierten Hinweis auf die Sangbarkeit solcher Dichtung geben, auch zum Teil noch an dieser Stelle das ebenfalls althergebrachte Merkmal der metrischen Vielfalt nennen, vielfach aber selbst dieses, vor allem aber wesentliche andere Bestimmungen nur beim Stichwort „Ode“, auf das von jenem anderen her als auf die Haupterscheinungsform des carmen lyricum zum Teil nun ausdrücklich verwiesen wird, abhandeln und dabei jetzt stets vor anderem die bevorzugte Verwendung der Ode für panegyrische Dichtung oder insbesondere ihre enge Beziehung zum hohen Stil hervorkehren. Das gilt schon für die knapperen Erläuterungen bei Pierre Richelet (1679/80), der für „les anciens“ zwar die Vielfalt der Gegenstände nach der ars poetica des Horaz anführt, aber zugleich feststellt: „parmis nous, l’ode embrasse rarement le vin & l’amour. Elle n’est le plus-souvent qu’un panegirique“ (Bd. 2, S. 83), wie Jahrzehnte später für die großen Enzyklopädien von Zedler und d’Alembert/Diderot.⁴⁷
44 Vgl. Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 1787: „Lyricum Carmen, ist ein Gedicht, wie es vor Zeiten in die Leyer mit abgesungen wurde, meist aus vermischten kurtzen Versen bestunde, und sonst auch Carmen melicum, item mit einem Worte, ob wohl mit einigem Unterscheide, Oda, Melos und Eἶdoϛ genannt wird“; Sp. 2033: „Oda ist in der Poësie ein Gedicht, so aus Lyrischen Versen bestehet, und ehemahls in ein Instrument, als Leyer ... u.d.g. pflegete gesungen zu werden. Wie es denn auch den Nahmen von ἀeίdw, cano, hat, als von welchem erstlich ’Aoidὴ, und aus diesem per contractionem ᾠdὴ, gemacht wird, welches Lateinisch mithin eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset“. 45 Vgl. das erste Zitat aus Hederich in Anm. 44. 46 So z. B. bei Chambers, Cyclopaedia (11728), London: Mitwinter u. a. 1741ff. [HAB Wolfenbüttel], der in manchen anderen Formulierungen Vorgängern wie Furetière oder dem Dictionnaire de Trevoux verpflichtet ist: Bd. 2, Bl. 5Eee2 v s.v. Lyric: „The characteristic of lyric poetry, which distinguishes it from all others, is sweetness … in the lyric, the poet applies himself wholly to sooth the minds of men, by the sweetness and variety of the verse, and the delicacy of the words, and thoughts; the agreeableness of the numbers, and the description of things most pleasing in their own nature“; Bl. 7L1v s.v. Ode: „The distinguishing character of the ode is sweetness: The poet is to sooth the minds of his readers by the variety of the verse, and the delicacy of the words, the beauty of numbers, and the description of things most delightful in themselves“. 47 Vgl. auch u. a. Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 2, Bl. Eee3r (Lyrique), Bl. Hhhh3v (Ode); Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, Paris: Coignard 1694 [HAB Wolfen-
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Zedlers Universal Lexicon beschränkt sich unter dem Stichwort „Lyricum carmen“ (Bd. 18, 1738, Sp. 1547) auf die knappe Erklärung, die zwei Jahrzehnte zuvor Hederichs Reales Schul-Lexicon enthalten hatte,⁴⁸ während es zwei Jahre später in Bd. 25 (Sp. 446–454) einen umfangreichen Artikel „Ode“ bietet, der zunächst an die ursprüngliche, von den „hohen Worten und scharffsinnigen gedancken“ in der Ode geprägte Definition bei Jablonski⁴⁹ anknüpft, dann – unter Berufung auf Scaliger, J. A. Fabricius, Dacier, Rapin und andere – einen historischen Überblick über die Odendichtung der verschiedenen Völker von den Psalmen bis ins frühe 18. Jahrhundert gibt und schließlich aus der 2. Ausgabe von Gottscheds Critischer Dichtkunst (1737) – mit dem ausdrücklichen Bemerken, dieser habe „noch zur Zeit die beste Nachricht von der Beschaffenheit der Oden der Welt mitgetheilet ... und also besonders in der Theorie seine Meriten“ (Sp. 449) – einen großen Teil des Kapitels Von Oden, oder Liedern wiedergibt (Sp. 449–454), endend mit Sätzen Gottscheds, die noch einmal den eigentümlichen Charakter der Ode als einer Dichtung hohen Stils betonen.⁵⁰ Der Artikel
büttel], Bd. 1, S. 672 (Lyrique); Bd. 2, S. 139 (Ode): „Sorte de poëme lyrique divisé par strophes ou stances de mesme mesure, & dont ordinairement le stile doit estre noble & eslevé“; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 434 (Lyrique), Sp. 1337f. (Ode): „… L’Ode demande beaucoup de noblesse & de grandeur“; Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721 (ohne ein Stichwort „lyricum“ oder dergleichen), S. 510 (Ode): „... Sie werden gemeiniglich zu lobgesängen gebraucht, und wollen mit hohen worten und scharffsinningen gedancken ausgearbeitet seyn“ (mit anschließender Verweisung auf Furetière); in der Auflage von 1767 ist der Artikel (S. 979) ausführlicher (z.T. – jedoch nicht beim folgenden Zitat – in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Gottscheds Handlexicon, vgl. Anm. 35; so auch bei dem nun bei Jablonski vorhandenen Artikel „Lyrisches Gedicht“) und entspricht der inzwischen geschehenen weiteren Entfaltung der Odentheorie mit Sätzen wie: „Es gehöret aber zu deren Verfertigung eine eigene Begeisterung, die den von seiner Materie ganz eingenommenen Dichter dahin reißt, ihn auf eine unerwartete und zuweilen ganz fremde und besondere Art anfangen läßt, und auf Gedancken führet, deren Entstehung und Verbindung man nicht gleich auf den ersten Anblick einsieht, ihm auch solche Ausdrückungen und Redensarten eingiebt, welche Feuer, Kühnheit, ja Verwegenheit entdecken“. 48 Vgl. das Zitat in Anm. 44. 49 Zum Teil zitiert oben in Anm. 47. 50 Zedler, Universal Lexicon, Bd. 25, Sp. 454: „Aus allen den angeführten Oden aber wird man wahrnehmen, daß darinnen durchgehends eine grössere Lebhafftigkeit und Munterkeit als in andern Gedichten herrschet. Dieses unterscheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie machet nicht viel Umschweiffe mit Verbindungs-Wörtern oder andern weitläufftigen Formuln. Sie fängt jede Strophe so zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Ausdrückungen und Redensarten; sie versetzt in ihrer Hitze zuweilen die Ordnung der Wörter: Kurtz, alles schmeckt nach einer Begeisterung der Musen“. – Zur ganzen von Zedler zitierten Passage vgl. Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Joachim u. Brigitte Birke, Bd. VI/2, Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer, besonderer Theil, Berlin/New York 1973, S. 4–19 (Text der 3. Ausgabe von 1742) und die Lesarten der 2. Ausgabe in Bd. VI/3, S. 79–82. Wieweit das
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„Lyrique“ im 9. Band (1765) von d’Alemberts und Diderots Encyclopédie, der in einzelnen Formulierungen an Furetière bzw. Chambers anknüpft, ist etwas umfangreicher als der bei Zedler und betont als Merkmal vor allem: „dans le lyrique, le poëte doit principalement s’appliquer à étonner l’esprit par le sublime des choses ou par celui des sentimens, ou à le flatter par la douceur & la variété des images, par l’harmonie des vers, par des descriptions & d’autres figures fleuries, ou vives & véhémentes ...“ (S. 780). Ungleich eingehender aber handelt von seinem Gegenstand auch in der Encyclopédie der Artikel „Ode“ (Bd. 11, 1765, S. 344–347), der zuerst im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux die Bedeutung des Begriffs in der Antike und in der französischen Dichtung der Neuzeit erläutert⁵¹ und dann – unter Berufung auf Boileau und Batteux und im Anschluß an sie – ausführlich vor allem „l’enthousiasme, le sublime lyrique, la hardiesse des débuts, les écarts, les digressions, enfin le desordre poétique“ als Merkmale der Ode einzeln erörtert und diese Darlegung wesentlicher Teile der zeitgenössischen Odentheorie mit historischen und kritischen Hinweisen ergänzt. Das Nebeneinander der Begriffe „lyricus/lyrique/lyrisch“ und „Ode“ wie die Verschiebungen im Verhältnis zwischen ihnen, das wachsende Eigengewicht des Begriffs „Ode“ in den Enzyklopädien und seine zunehmend ins Detail gehende Behandlung belegen gleichermaßen, mit welcher Selbstverständlichkeit bis tief ins 18. Jahrhundert hinein der Begriff „lyrisch“ Bezeichnung allein für sangbare strophische Dichtung bleibt, wie man sie in der Ode verkörpert sieht. Wenn dabei aber die Ode nun nicht mehr bloß beiläufig angeführtes Synonym ist, sondern – durch an Umfang wachsende Artikel hervorgehoben – so sehr zum Inbegriff lyrischer Dichtung wird, daß viele Einzelbestimmungen von deren Theorie nur unter dem Stichwort „Ode“ behandelt werden, vielfach vom Artikel „lyricus/lyrique/lyrisch“ ausdrücklich auf jenen verwiesen wird und dieser für einige Zeit eher von untergeordneter Bedeutung ist, bevor der Begriff seit dem späteren 18. Jahrhundert dann in einem sich wandelnden Gattungssystem eine erweiterte und damit veränderte Bedeutung erhält (die er nicht zuletzt erst durch die vorausgegangene Verselbständigung des Begriffs „Ode“ erhalten kann), so hängt dies freilich auch aufs engste damit zusammen, daß
umfangreiche Gottsched-Exzerpt zur Ode ein Indiz für die wohl noch immer ungeklärte Frage einer unmittelbaren Beteiligung Gottscheds an Zedlers Lexikon ist (vgl. Kossmann, Deutsche Unviersallexika, Sp. 1570; Quedenbaum, Zedler, S. 59f.), muß dahingestellt bleiben. 51 d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 11, S. 344: „Dans la poésie greque & latine, l’ode est une piece de vers qui se chantoit, & dont la lyre accompagnoit la voix. Le mot ode signifie chant, chanson, hymne, cantique. Dans la poésie françoise, l’ode est un poëme lyrique, composé d’un nombre égal de rimes plates ou croisées, & qui se distingue par strophes qui doivent être égales entr’elles …“
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der Begriff der Ode seinerseits jetzt – wie aus der Poetikliteratur und dann auch aus entsprechenden Spezialschriften näher zu belegen wäre – weiter entfaltet und genauer bestimmt wird und sein vermehrtes eigenständiges Gepräge insbesondere durch die bevorzugte oder auch fast ausschließliche Bestimmung als Dichtung hohen Stils gewinnt. Vorbereitet war dies – wie die immer wieder begegnende Berufung auf Scaliger in den Enzyklopädien vor Augen führt – durch die humanistische und barocke Poetik und durch die von ihr zunehmend aufgenommenen Ergebnisse der im frühen 16. Jahrhundert einsetzenden Pindar-Rezeption. Verstärkt wird die auf diesem Fundament sich vollziehende weitere Entfaltung des Begriffs der Ode als hoher Dichtung seit dem späten 17. Jahrhundert durch Impulse, die vor allem von der allmählich einsetzenden Ps.Longin-Rezeption und der damit verbundenen Erweiterung der Vorstellungen vom Erhabenen und vom dichterischen Enthusiasmus ausgehen. Kennzeichnendes Indiz dieses Vorgangs ist es, daß man – in Artikeln zur Ode, aber auch zu damit verwandten Stichwörtern – nun immer wieder den Vers „Chez elle un beau desordre est un effet de l’art“ auch in den Enzyklopädien zitiert findet,⁵² in welchem die Behandlung der Ode im Art poétique (1674) Boileaus, des französischen Ps.Longin-Übersetzers, gipfelt.⁵³ Boileau, der in den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts in wachsendem Grade neben Scaliger und immer mehr an seiner Stelle als maßgebliche Autorität in Fragen der Poetik hervortritt,⁵⁴ hat mit jenem Vers – das ist einer verbreiteten
52 Vgl. u. a. Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1338 s.v. Ode (zit. zusammen mit den Versen 58–60, 62, 68, 71); Bd. 5, Sp. 231 s.v. Pindare (dieser Artikel noch nicht in der Erstausgabe von 1704); ferner ohne wörtliches Zitat Bd. 4, Sp. 434 s.v. Lyrique, im Blick auf Pindar; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 8Y2 r s.v. Pindaric (in englischer Prosaversion); d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 4, S. 1067 s.v. Dithyrambique; Bd. 11, S. 344 s.v. Ode (im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux, mit der dem Zitat folgenden Feststellung: „C’est M. Boileau qui parle, & qui dans ses beaux vers si dignes de la sublime matiere qu’il traite, donne sur cette espece de poésie des préceptes excellens ...“); Bd. 12, S. 639 s.v. Pindarique; Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 4, S. 88, 90 s.v. Ode (im Rahmen eines aus Marmontel übernommenen Teils des Artikels, vgl. dazu unten bei Anm. 56). Ohne ausdrückliche Erwähnung Boileaus oder seines Verses begegnet die entsprechende Vorstellung vom Bau der Ode u. a. bei Jablonski (vgl. das Zitat aus der Auflage von 1767 in Anm. 47) oder bei Zedler (vgl. das Zitat in Anm. 50, das auf Gottsched zurückgeht, der seinerseits kurz nach der von Zedler benutzten Stelle seiner Critischen Dichtkunst ebenfalls jenen Vers Boileaus zitiert). Das auf Boileaus Vers verweisende deutsche Stichwort „lyrische Unordnung“, das auch z. B. die Aesthetik F. Th. Vischers (Bd. 3/II, Stuttgart 1857, S. 1335) noch kennt, wird – mit einiger Reserve – u. a. noch erwähnt in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 8, 81835, S. 31; Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 9, 41843, S. 318. 53 II,72 (vgl. Nicolas Boileau, L’Art Poétique, hrsg. v. August Buck, München 1970, S. 67). 54 Vgl. dazu u. a. auch Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 3, Bl. Q3r s.v. Poëtique; Walch, Philosophisches Lexicon, Bd. 2, Sp. 458 s.v. Poesie; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 1,
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Meinung entgegenzuhalten – nicht etwas ganz Neues formuliert. Die seit den ersten humanistischen Kommentaren beobachteten Digressionen Pindars sind bereits im 16. und 17. Jahrhundert ein zentrales Moment der Pindar-Rezeption und der von ihr beeinflußten Poetik und führen z. B. schon bei Vossius zu entsprechenden Wendungen. Aber Boileau hat mit seinem Vers die Vorstellungen von der erhabenen, durch den poetischen Enthusiasmus getragenen und darum in ihrem Bau eigenwilligen Ode für das 18. Jahrhundert besonders wirkungsvoll formuliert. Mit der bis in die Konversationslexika des frühen 19. Jahrhunderts anhaltenden direkten oder indirekten Berufung gerade auf ihn bestätigt das enzyklopädische Schrifttum aufs eindringlichste die Rolle, die Boileau insbesondere mit dem Vers vom beau desordre der Ode für die weitere Ausprägung von deren Theorie im 18. Jahrhundert gespielt hat. Ergänzt wird dieses Bild, das die Enzyklopädien von der Entwicklung dieser Theorie bieten, dadurch, daß d’Alemberts und Diderots Encyclopédie und deren Supplément für die einschlägigen Artikel neben und über Boileau hinaus zwei andere Werke, die für die weitere Entwicklung der Poetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders einflußreich gewesen sind, ausgiebig heranziehen. Der Artikel „Ode“ der Encyclopédie (Bd. 11, 1765) enthält umfangreiche Auszüge aus dem Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature von Charles Batteux,⁵⁵ worin – eingehender als in seiner Schrift Les Beaux Arts réduits à un même Principe (1746) – unter intensiver Benutzung der Begriffe des „enthousiasme“ und des „sublime“ die bis dahin herausgebildeten Bestimmungen der Ode erörtert werden, um auch im einzelnen für die „Poësie lirique“ als „celle qui exprime le sentiment“ (S. 8) nachzuweisen, daß sie „est soumise au principe de l’imitation“ (S. 1). Auch die Artikel „Poésie lyrique“ (Bd. 12, 1765, S. 839) und „Poete lyrique“ (S. 845ff.) der Encyclopédie bestehen zum größten Teil in Auszügen aus demselben Teil des Werks von Batteux, der zwar mit seiner Fassung des Begriffs der Naturnachahmung sehr rasch vehementen Widerspruch gefunden hat, um die Mitte des 18. Jahrhunderts aber von erheblichem produktiven Einfluß auf die Entwicklung des Dichtungsverständnisses insgesamt und auf die Diskussion der Oden- und Lyriktheorie insbesondere gewesen ist. Das Supplément à l’Encyclopédie (Bd. 4, 1777) ergänzt (S. 94–100) den Artikel „Ode“ des
Bl. 3Ii1r s.v. Elegy; Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, Sp. 980 s.v. Poesie (in erheblichen Teilen identisch mit dem entsprechenden Artikel bei Walch); d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 5, S. 484 s.v. Elégie; Bd. 12, S. 848 s.v. Poétique. 55 Charles Batteux, Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature (11747–1748), Nouvelle Edition, Bd. 3, Frankfurt: Bassompierre/Berghen 1755 [StB Berlin], S. 1–83: Troisième Section. Sur la Poësie lirique.
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Hauptwerks – nach einer fast vollständigen Wiedergabe (S. 88–94) des einschlägigen Kapitels der 1763 erschienenen Poetik Marmontels,⁵⁶ worin das Bild der Ode ebenfalls stark vom Enthusiasmus bestimmt ist – durch den Artikel über die Ode in J. G. Sulzers erst kurz zuvor (1771–1774) erschienener Allgemeiner Theorie der schönen Künste,⁵⁷ der bezeugt, wie die im 18. Jahrhundert immer entschiedener vom Enthusiasmus und vom Erhabenen bestimmte Ode für einige Zeit nicht nur Inbegriff lyrischer Dichtung ist, sondern einer immer stärker als Ausdruck wahrer Empfindung verstandenen Dichtung überhaupt, und am Ende bis zur deutschen Odendichtung der Zeit, zu Pyra, Lange, Uz, Ramler und Klopstock führt.⁵⁸ In dem Maße, in welchem die Enzyklopädien nach und nach den erhabenen Charakter der Ode immer stärker hervorheben, lassen sie zugleich erkennen, daß diese Entfaltung der Odentheorie den Ansatzpunkt für einen Prozeß der Differenzierung in der Lyriktheorie insgesamt bietet, welcher für deren weitere Geschichte im 18. und frühen 19. Jahrhundert ausschlaggebend geworden ist. Das bezeugt sich in zunehmend verbreiteten Bemerkungen über gewisse Unterschiede in der Bedeutung der Begriffe „lyrisch/lyrique/lyricus“ und „Ode“ in Antike und Neuzeit und vor allem im Aufkommen des neuen Stichworts „Lied/ chanson/song“. Beide Momente sind übrigens offenkundig auch verknüpft mit der wachsenden Selbständigkeit einer aus der Übertragung humanistischer Impulse hervorgegangenen Dichtung in den einzelnen Nationalsprachen und mit der sich mehrenden Zahl enzyklopädischer Werke in den Nationalsprachen anstelle der lateinisch verfaßten – ein Vorgang, auf welchen hier nur beiläufig hingewiesen werden kann, ohne daß seine Geschichte und seine Konsequenzen an dieser Stelle im einzelnen verfolgt werden könnten. Anfänglich wird in den frühneuzeitlichen Enzyklopädien, die ebenso wie die speziellen Werke zur Poetik zunächst nur die antiken Muster vor Augen haben, die geläufige etymologische Herleitung des Wortes „lyricus“ von der Lyra und die damit verbundene Vorstellung vom Singen der als „lyrica/lyrica
56 Vgl. Jean François Marmontel, Poetique Françoise, Bd. 2, Paris: Lesclapart 1763 [HAB Wolfenbüttel], S. 408–453, Chapitre XVI: De l’Ode. 57 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 3, S. 538–550 im Nachdruck (Hildesheim/New York 1967) der Ausgabe Leipzig 1792, die dem Erstdruck getreu entspricht. 58 Vgl. ferner im Supplément den ebenfalls auf Sulzer beruhenden Artikel „Poëme“ (Bd. 4, 1777, S. 422–426), worin z.T. Aspekte der Lyriktheorie behandelt werden. – Auch in der Deutschen Encyclopädie (1778ff. [Stadtb. Mainz]), von der nur die Bde. 1–23 (A-K) erschienen sind und in der daher Artikel wie „lyrisch“ oder „Ode“ leider fehlen, lassen die vorhandenen Artikel zu Aspekten der Poetik eine enge Anlehnung an Sulzer erkennen.
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carmina“ bezeichneten Gedichte ohne irgendeine Erwägung historischer Differenzen geboten. Allenfalls begegnet dabei einmal wie bei Alsted ein leicht einschränkendes „olim“.⁵⁹ Seit dem späten 17. Jahrhundert aber fallen dabei in wachsender Zahl abgrenzende Bemerkungen auf, sei es, daß der antiken Ode als der vielfältige Gegenstände umfassenden die neuzeitliche, insbesondere nationalsprachliche als die vorwiegend oder ausschließlich erhabene entgegengesetzt, sei es, daß jene als Bezeichnung für alle Arten von Gesängen von der neuzeitlichen als einer nicht mehr wirklich gesungenen unterschieden wird.⁶⁰ Das Supplément zur Encyclopédie d’Alemberts und Diderots, die ähnlich formuliert hatte wie die Vorgänger,⁶¹ verschärft derartige Hinweise an verschiedenen Stellen: Le poëme lyrique chez les Grecs, étoit non-seulement chanté, mais composé aux accords de la lyre: c’est là d’abord ce qui le distingue de tout ce qu’on appelle poésie lyrique chez les Latins & parmi nous … A cet égard le poëme lyrique, ou l’ode, chez les Latins & chez les nations modernes, n’a été qu’une frivole imitation du poëme lyrique des Grecs: on a dit, je chante, & on n’a point chanté; on a parlé des accords de sa lyre, & on n’avoit point
59 Vgl. dazu den Anfang des weiter oben gebotenen längeren Zitats aus Alsted, Encyclopædia, Bd. 1, S. 525. 60 Vgl. u. a. Richelet, Dictionnaire François, Bd. 2, S. 83 s.v. Ode (zitiert oben im Text kurz vor Anm. 47); Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 2, Bl. Hhhh3v: „Chez les Anciens l’Ode ne signifioit autre chose que chant. Ils les faisoient à l’honneur de leurs Dieux, comme les Odes de Pindare; quelquefois sur d’autres sujets, comme celles d’Anacreon. Horace a excellé à faire des Odes sur diverses matieres. Les Odes Françoises sont faites pour loüer les Heros, & non pas pour mettre en chant …”; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1337: „Dans la Poësie Grecque & Latine, l’Ode est une pièce de vers propre à être chantée, & faite pour cela … Dans la Poësie Françoise l’Ode est un Poëme lyrique, mêlé de grands & de petits vers, composés d’un nombre égal de rimes plates, ou croisées, & qui se distingue par stances, ou strophes … L’Ode demande beaucoup de noblesse & de grandeur … Chez les Anciens l’Ode ne signifioit autre chose que chant …“ (der erste der zitierten Sätze noch nicht in der Erstausgabe von 1704); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1767, S. 819 s.v. Lyrisches Gedicht; S. 979 s.v. Ode (so noch nicht in der Erstausgabe von 1721); Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 7L1v s.v. Ode (ähnlich wie im Dictionnaire de Trevoux); Zedler, Universal Lexicon, Bd. 18, Sp. 1547 s.v. Lyricum carmen (ähnlich wie Jablonski, unmittelbar abhängig offenkundig von der in Anm. 44 zitierten Stelle bei Hederich); Bd. 25, Sp. 446 s.v. Ode: „ ... war bey den Griechen und Römern der allgemeine Name aller Lieder, und begreifft vielerley Gattungen unter sich ... In heutiger Poesie ists ein Gedicht, welches mit etlichen Absätzen, die alle ein gleiches Zeilen- und Reimenmaaß haben, durchgeführet wird: Ein Lied“; Gottsched, Handlexicon, Sp. 1040 s.v. Lyrisches Gedicht; Sp. 1190 s.v. Ode (an beiden Stellen ähnlich wie Jablonski). 61 d’Alembert/Diderot, Encyclopédie, Bd. 9, S. 780 s.v. Lyrique; Bd. 11, S. 344 s.v. Ode (z.T. zitiert oben in Anm. 51); diese Stellen übereinstimmend teils mit Furetière, teils mit dem Dictionnaire de Trevoux bzw. Chambers.
Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel
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de lyre. Aucun poëte, depuis Horace inclusivement, ne paroît avoir modelé ses odes sur un chant.⁶²
Noch weiter zugespitzt findet man die Unterscheidung von antiker und neuzeitlicher Ode schließlich in enzyklopädischen Nachschlagewerken des frühen 19. Jahrhunderts: Ode ... hieß bei den Griechen jeder Gesang, d. h. jedes lyrische Gedicht, Lied, welches sich zum Singen eignete ... Die Alten unterscheiden sich in ihren Oden von den gleichnamigen Gedichten der Neuern zunächst dadurch, daß sie den Ausdruck Ode im weiteren Sinne gebrauchten ... Die Neuern haben das Wort Ode erst mit der Nachahmung der Alten aufgenommen. Daher versteht man häufig unter Ode jedes Gedicht, ja überhaupt jedes noch so poesielose Machwerk, in dem eines der bekannten Versmaße der Alten nachgeahmt ist. Da aber ein so fremdes Gewand nur mit Mühe angenommen wird, so wirkt dieses auf die Poesie selbst zurück, und nur da, wo der Gedanke mächtig, kühn, vermag er die schwere Form zu bewältigen, daß in dieser Bewältigung sogar Schönheit heraustreten kann, wie in den Oden von Klopstock. Die Ode hat daher mit Recht bei den Neuern überhaupt die Bedeutung hochfliegender lyrischer Poesie angenommen ...⁶³
Wenn sich hier wie schon im Supplément ein verschärftes Bewußtsein dafür, daß die Ode erst im Lauf der Neuzeit immer mehr und immer ausschließlicher einen erhabenen Charakter angenommen hat, mit Zügen kritischer Distanz gegenüber dieser Ausformung einer von den antiken Mustern hergeleiteten Dichtart paart, so korrespondiert dies jenem anderen Vorgang der Veränderung in der Lyriktheorie des 18. Jahrhunderts, der sich im Stichwortbestand der Enzyklopädien und ihren entsprechenden Ausführungen markant niederschlägt, und seinem Ergebnis: der allmählichen Herausbildung einer Unterscheidung des Liedes als eigener Art von der Ode in einem nun enger gefaßten Sinn und einer daran anschließenden Verschiebung in der Bewertung beider Dichtarten. Für manche
62 Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 3, S. 820 s.v. Lyrique; z.T. ähnlich Bd. 4, S. 433 s.v. Poésie. Vgl. auch Bd. 4, S. 88 s.v. Ode: „L’ode françoise n’est plus qu’un poëme de fantaisie, sans autre intention que de traiter en vers plus élevés, plus animés, plus vifs en couleur, plus véhémens & plus rapides, un sujet qu’on choisit soi-même, ou qui quelquefois est donné. On sent combien doit être rare un véritable enthousiasme dans la situation tranquille d’un poëte qui, de propos délibéré, se dit à lui même, faisons une ode, imitons le délire, & ayons l’air d’un homme inspiré …” 63 Neuestes Conversationslexikon für alle Stände, Leipzig: Leich/Wiegand, Bd. 5, 31836 [UB Mainz], S. 483. Ähnlich die frühen Brockhaus-Ausgaben oder auch Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Section III, Bd. 1, 1830 [UB Mainz], S. 310–335 s.v. Ode, mit eingehenden kritischen Erwägungen zur Anwendbarkeit des neuzeitlichen Begriffs der Ode auf antike Dichtungen.
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enzyklopädischen Werke des späteren 17. und noch des frühen 18. Jahrhunderts ist das Wort „Lied“ bloß die Übersetzung des Wortes „Ode“, und es wird darum nur bei diesem Stichwort erwähnt: „Ode ist in der Poësie ein Gedicht, ... welches Lateinisch ... eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset“.⁶⁴ Solche Belege können von der sprachlichen Seite bekräftigen und damit zusätzlich verständlich machen, daß eine an der Erklärung der antiken Muster und ihrer Übertragung in eine nationalsprachliche Dichtung orientierte Poetik in heimischen Liedformen zunächst sehr unbefangen die Entsprechung zur antiken Ode sieht und, die Wörter nur als Synonyme betrachtend, noch bis hin etwa zu Gottscheds Critischer Dichtkunst beide zusammen unter der Überschrift Von Oden, oder Liedern behandeln kann, obgleich bestimmte Differenzierungen bereits im Gange sind. Daß diese sich freilich schon länger anbahnen, ist auf dem Felde der Enzyklopädie an denjenigen Werken abzulesen, die seit dem späten 17. Jahrhundert „Lied/chanson/song“ neben der nicht lange zuvor zum gesonderten Stichwort gewordenen Ode – und neben ihr meist in engerem Sinne zugeordneten Begriffen wie Dithyrambus und Hymne – zum selbständigen Stichwort machen. Man begegnet ihm früh bei Furetière,⁶⁵ dann im Dictionnaire de Trevoux, bei Jablonski oder Chambers.⁶⁶ Das sind zunächst nur knappe Hinweise, und sie nehmen
64 Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 2033. Vgl. auch Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon, 81725, S. 814: „Oda, Ode, Odes, & Ital. Ode, ein Lied“; entsprechend schon in der frühen Ausgabe Nehring, Manuale Juridico-Politicum, Frankfurt/Leipzig: Boëtius 1690 [HAB Wolfenbüttel], S. 625 und noch Frankfurt/Leipzig: Brönner 111772 [Stadtb. Mainz], S. 368; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, S. 718; Spanutius, Lexicon, Leipzig: Förster 1720 [HAB Wolfenbüttel], S. 341. 65 Furetière, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 1, Bl. Xx1r: „Chanson … Petite piece de vers qu’on met en air pour chanter, & qui se chante par le peuple“. 66 Dictionnaire de Trevoux, Bd. 1, Sp. 1948: „Chanson … Petite pièce de vers aisés, simples & naturels, qu’on met en air pour les chanter … La chanson ressemble assez au Madrigal: elle a ordinairement pour objet l’amour, ou le vin … ses vers doivent être aisés, coulans, naturels, & avoir une certaine harmonie … qui marie agréablement la Poësie avec la Musique …“ (der kürzere Artikel in der Erstausgabe von 1704 enthält von den zitierten Sätzen nur den ersten); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721, S. 402: „Lied, Canticum, Hymnus, ode: Cantique, Ode, Chanson. Ein geticht, in welchem ein lob, oder ruhm, oder unterweisung mit sinnreichen und zierlichen redarten enthalten. Es wird mehrentheils mit kurtzen gemessenen reimzeilen abgefasset ... welches so dann nach einer dazu gesetzten Weise gesungen werden kan ...“; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 11Bb1r: „Song, in poetry, a little composition, consisting of simple, easy, natural verses, set to a tune, in order to be sung ... The song bears a deal of resemblance to the madrigal; and more to the ode, which is nothing but a song according to the ancient rules … Its object is usually either wine or love … the verses are to be easy, natu-
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durchaus noch nicht durchwegs eine konsequente Abgrenzung vor.⁶⁷ Zedlers Universal Lexicon hat sogar zwar auch ein eigenes Stichwort „Lied“ (Bd. 17, Sp. 1010), schreibt dazu aber nur: „siehe Music und Poesie“ und verwendet das Wort im Artikel „Ode“ noch als bloßes Synonym für diese,⁶⁸ und Gottscheds Handlexicon widmet dem Stichwort „Lied“ zwar einige Zeilen (Sp. 1019), verweist aber von dort auf den umfangreicheren Artikel „Ode“ (Sp. 1190f.), jedoch nicht umgekehrt. Gleichwohl lassen die Belege, indem sie Merkmale wie „aisé“, „simple“, „naturel“ betonen, zur Mehrzahl erkennen, wie sich nach und nach, in Anknüpfung an die noch gültige rhetorische Stillehre und die Verschiedenartigkeit der bei Horaz genannten Gegenstände und mit Blick vor allem auf Anakreon als ein neben Pindar und Horaz wirksames Muster, eine Auffassung vom Lied als eigenständiger Art einfacheren Stils neben der zunehmend als erhaben verstandenen Ode entwickelt. Welche Konsequenzen sich schließlich daraus noch ergeben können, deutet sich im Artikel „Chanson“ in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie an, der zu Beginn die Formulierungen der Vorgänger vom einfachen Charakter des sangbaren Liedes anklingen läßt, dann aber dazu neigt, den Begriff „chanson“ – statt des zuvor dominierenden Begriffs „Ode“ – zur umfassenden Bezeichnung aller poésie lyrique“ zu machen.⁶⁹ Eine fortgeschrittene Phase sich vollziehender Umwertungen dokumentieren Enzyklopädien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Noch die 6. und 7. Auflage der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie des Verlages Brockhaus stellen zwar im Artikel „Lied“ nach einer Kennzeichnung zunächst der metrischen Form fest: „Innerlich dürfte der Charakter des Liedes insofern verschieden sein, als das Lied einen engern Kreis hat, in welchem es sich bewegt, und den es nicht überschreiten darf. Dieser Kreis ... bleibt nur bei dem Einen stehen, bei dem Ergusse des Gefühls. Die Ode hingegen schweift in das Erhabene aus, und berührt in ihrem Fluge das Geistige und das Irdische, das Hohe und das Tiefe“, klagen aber einleitend: „Die Benennung Lied ist bisher so unbestimmt gebraucht worden, daß es schwer wird, den eigentlichen Charakter desselben genügend zu bezeichnen, und es von den ihm verwandten Gedichten, der Ode und dem Hymnus, zu unter-
ral, flowing, and to contain a certain harmony … which unites poetry and music agreeably together“. 67 Vgl. dazu die Differenzen in den an sich weithin übereinstimmenden Zitaten aus dem Dictionnaire de Trevoux und Chambers in Anm. 66 und die Synonymenreihe im Zitat aus Jablonski in derselben Anmerkung. 68 S. das Zitat in Anm. 60. 69 d’Alembert/Didertot, Encyclopédie, Bd. 3, 1753, S. 139; vgl. auch Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 2, 1776, S. 319f.
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scheiden“.⁷⁰ Schon die 8. Auflage hingegen⁷¹ führt mit gewachsener Sicherheit aus: Lied, eine lyrische Dichtart, ist der einfache dichterische Ausdruck eines in sich abgeschlossenen sanften Gefühls ... Wenn das Wesen der Lyrik überhaupt musikalisch ist, so tritt dies vorzugsweise bei dem Liede hervor, das, als einfachster und unmittelbarster Ausdruck des Gefühls, sich, seiner Natur nach, in musikalischen Rhythmen und Abschnitten bewegt und seine Melodie mit sich auf die Welt bringt ... Aus dem Gesagten ergibt sich, daß jede Entfernung von dem Naturgemäßen die Wesenheit des Liedes zerstört; keine Gattung fodert mehr den Charakter der Volksthümlichkeit, und keine ist durch den eingebildeten Vorzug classischer Muster mehr beeinträchtigt worden als diese ... Der heutige Sprachgebrauch unterscheidet das Lied von der Ode, und in der That bewegt sich das erstere, als der Ausdruck einer gemäßigtern Empfindung, in einem engern Kreise, der jene Mannichfaltigkeit der Darstellung ausschließt, mit der die Ode in ihrem Fluge das Irdische wie das Geistige, das Tiefste wie das Höchste berührt.
Das letzte Ergebnis eines Umwertungsprozesses, für dessen Einzelheiten Werke wie die Ästhetik Hegels oder Vischers ergiebige Quellen sind, und die Selbstverständlichkeit seines Ergebnisses, mit dem das Lied, verstanden als natürlichste und unmittelbarste Form, an der Stelle der Ode zum Inbegriff von lyrischer Dichtung geworden ist, spricht am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem einschlägigen Artikel in Meyers Konversations-Lexikon: Lied, die Hauptart der lyrischen Dichtungsgattung. Es ist im allgemeinen als diejenige Art der Dichtung zu charakterisieren, bei welcher in unmittelbarster und darum einfachster Weise das eine Persönlichkeit erfüllende Gefühl, die Stimmung ... zum sprachlichen Ausdruck gelangt, daher keine Art der Poesie ein so inniges Verhältnis zur Musik hat als das L. ... Das eigentliche L. ist jederzeit einfach, ungekünstelt in Sprache und Form, seinem Inhalt nach von dem abstrakt Gedanklichen, Reflexionsmäßigen möglichst weit entfernt ... bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gelang es nur wenigen Kunstdichtern, den echten Liederton zu treffen ... Die vollendetsten Schöpfungen im Bereich des Kunstliedes sind Goethes Lieder, die an Innigkeit, melodischer Klangfülle, herzbewegender Einfachheit und formeller Vollendung nicht nur in der deutschen, sondern in der Litteratur aller Völker ihresgleichen suchen.⁷²
70 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 5, 61824, S. 741f.; sehr ähnlich Bd. 6, 71830, S. 590f. 71 Ebda., Bd. 5, 81834, S. 642f. 72 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 11, 51896 [Privatbesitz], S. 336. Der Beleg ist nicht als Hinweis auf eine absolute Datierung gemeint; ähnliche Formulierungen mögen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon vorher in Auflagen des Meyer oder des Brockhaus finden, die mir nicht zur Verfügung stehen. Im ersten, von Karl Rosenkranz stammenden Teil des Artikels „Ode“ in Ersch/Grubers Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste
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Wie tiefgreifend die im 18. Jahrhundert in Gang gekommene und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Veränderung der Lyriktheorie ist – die in umfassende Wandlungen des Dichtungsbegriffs eingebettet ist und sich übrigens am erweiterten, zuletzt auch die Elegie einschließenden Lyrikbegriff und der zunehmenden Selbstverständlichkeit seiner Einfügung in die von der idealistischen Ästhetik nachhaltig sanktionierte, an die Stelle eines älteren, vielfältigeren und lockeren Systems von Dichtungsarten getretene Gattungstrias innerhalb der Enzyklopädien verfolgen ließe⁷³ –, das machen die Enzyklopädien auf drastische Weise schließlich auch sichtbar an Verfall und Ablösung der antiken Muster lyrischer Dichtung. Über Jahrhunderte hin gelten Pindar und Horaz unangefochten als principes lyricorum, als die maßgeblichen Muster lyrischer Dichtung. So sagen es schon die Titel der Ausgaben ihrer Gedichte, so sehen es die Werke der Poetik, so prägen es auch die Enzyklopädien ein.⁷⁴ Neben Pindar und Horaz kommt selbst Anakreon, wie Pindar einer der neun kanonischen griechischen Lyriker, als Muster in der Theorie kaum auf,⁷⁵ auch wenn seine jahrhundertelange produktive Wirkung so wie dann auch sein Anteil an einer allmählichen Unterscheidung lyrischer Arten nicht zu verkennen ist. Catull aber, dessen Werk nur wenige Oden enthält, kommt darum für die frühe Neuzeit als lyrischer Dichter lange nicht in Betracht.⁷⁶ Er ist auch für die Enzyklopädien nur unter den Epigrammatikern „in hoc genere princeps“⁷⁷ und neben Tibull und Properz einer der „Princes de l’Elégie“.⁷⁸
(III,1, S. 319) heißt es übrigens schon 1830, das Lied sei „als der innigste Ausdruck des dichterischen Gemüthes im reinsten Sinne lyrisch, fühlend, subjectiv“. 73 Zu vergleichen wären dazu Artikel zu Stichworten wie „Elegie“ und „Poem“, „Poesie“, „Poet“, „Poetik“, nach und nach auch „Dichter“, „Dichtkunst“, „Dichtungsarten“. 74 Vgl. u. a. die in Anm. 23 und 24 angeführten Stellen. Die Belege dafür sind bis ins späte 18. Jahrhundert in den entsprechenden Personalartikeln und den Artikeln zu Stichworten wie „Ode“, „lyricum carmen“ und so fort so zahlreich und selbstverständlich, daß sich weitere Einzelnachweise erübrigen. 75 Bezeichnend noch im Artikel „Anacréontique“, der auch Anakreon selbst behandelt, in d’Alemberts und Diderots Encyclopédie der Satz: „Le tendre, le naïf, le gracieux, sont les caracteres du genre anacréontique qui n’a mérité le nom de lyrique dans l’antiquité, que parce qu’on le chantoit en s’accompagnant de la lyre: car il differe entierement & par le choix des sujets & par les nuances du style, de la hauteur & de la majesté de Pindare“ (Bd. 1, 1751, S. 396). 76 Allenfalls werden bei den Angaben über ihn die libri tres seiner poemata genannt, „quorum primus lyrica ... continet“ (Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587, S. 148). Ähnlich z. B. bei Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Bl. 159 v; ganz vereinzelt steht, soweit ich sehe, seine Bemerkung: „A Fabio Quintiliano & Diomede inter Iambicos reponitur, ab alijs inter Lyricos“ (Bl. 160r). 77 Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473. 78 Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Élégie.
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Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert jedoch bieten die Enzyklopädien Indizien für sich anbahnende Umwertungen. In der Deutschen Encyklopädie kann Catull beiläufig einmal als Vertreter „der lyrischen Dichtkunst ... bey den Römern“⁷⁹ neben Horaz figurieren. In Enzyklopädien des frühen 19. Jahrhunderts wird da und dort mehr oder weniger verhaltene Kritik an den alten Mustern laut. Von Pindar kann es, bei fortwährendem Ansehen, doch heißen: „Nicht alles indeß, was wir noch von diesem großen Dichter haben, ist gleich vortrefflich und anziehend. Manche machen ihm den Vorwurf, daß seine Metaphern bisweilen zu gesucht, zu frostig seien, und finden den Gang seiner Gedanken zuweilen allzu regellos und ausschweifend ... Genug, daß nach dem Urtheile der größten Männer die pindarischen Gesänge zu dem Schönsten und Herrlichsten gehören, was uns aus dem Alterthume übrig geblieben ist“.⁸⁰ Von Horaz meint dasselbe Werk zwar: „Will man den Horaz als Lyriker würdigen, so vergesse man nicht, daß er unter den Römern der erste war, welcher die römische Sprache für die lyrische Poesie ausbildete“, stellt jedoch auch fest: „Zugegeben aber, daß man Horaz, dem Lyriker, Originalität nicht zugestehen könne, so wird sie doch Niemand Horaz, dem Satyriker, absprechen“, und es moniert an anderer Stelle: „Schon Horaz verfällt oft in den Reflexionston, und seine Bilder sind nicht selten nur kalte Erzeugnisse einer gereizten Phantasie“.⁸¹ Mit Urteilen von noch weitergehender Entschiedenheit aber bekräftigt wiederum im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Meyers Konversations-Lexikon die Umwertung der Muster, die sich im Zusammenhang der Veränderungen des Lyrikverständnisses vollzogen hat. Pindar zwar gilt dank seinem althergebrachten hohen Ruhm doch weiter als „der größte lyrische Dichter der Griechen“, dem allerdings nachdrücklich ein wohl „kunstvoller, freilich oft durch Nebengedanken und Einflechtung passender Mythen verdunkelter Plan“ nachgesagt wird.⁸² Insbesondere gegen die Oden des Horaz aber richten sich schwerwiegende Vorbehalte: „Allerdings reicht seine poetische Begabung keineswegs an seine großen Vorbilder heran; Gefühl und Phantasie werden bei ihm durchaus vom Verstand überwogen, und die Vorzüge seiner lyrischen Dichtungen ... bestehen nicht in der Wärme der Empfindung, noch in der Tiefe der Gedanken, sondern in der Klarheit der Anlage, der Feinheit u. Gewandtheit des Ausdrucks, der Bestimmtheit, Reinheit und Schönheit der
79 Deutsche Encyklopädie, Bd. 7, 1783 [Stadtb. Mainz], S. 206 s.v. Dichter. 80 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824, S. 571. 81 Ebda., Bd. 4, 61824, S. 839 s.v. Horaz; Bd. 7, 61824, S. 28 s.v. Ode. 82 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 13, 51896, S. 938f. – Zur Berufung auf dieses Werk vgl. die Bemerkung in Anm. 72.
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Sprache und der Strenge des Versbaues“.⁸³ An seiner Stelle ist nun ein anderer, welcher der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst als „einer der besten römischen Dichter“ oder „ein berühmter römischer Dichter“ galt,⁸⁴ endgültig zum eigentlichen Muster lyrischer Dichtung der Antike aufgestiegen: Catull – „der größte röm. Lyriker“.⁸⁵
III. Was enzyklopädische Werke in ihren Darlegungen zur Lyrik und ihrer Theorie, die hier durch einige Jahrhunderte hindurch im Überblick nachgezeichnet worden sind, zu bieten vermögen, ist gewiß keine vollständige Lehre von der Lyrik und ebenso keine erschöpfende Geschichte dieser Theorie. Vieles, was zur jeweiligen Theorie der Lyrik gehört, findet sich in den zahlreichen speziellen Werken der Poetik eingehender, genauer, vielschichtiger, wohl auch widersprüchlicher dargelegt, viele kleine Schritte allmählicher Umdeutung und Veränderung, in welchen sich solche Geschichte vollzieht, sind nur in jenen Werken wahrnehmbar. Manches Einzelne, was zum Kernbestand der entsprechenden Abschnitte in Werken der Poetik zählt – die Kürze lyrischer Gedichte etwa oder die Forderung nach Vermeidung des Enjambements, lange Zeit unabdingbares Merkmal lyrischer Gedichte für die deutschsprachige Poetik –, spielt in den Enzyklopädien nur eine begrenzte Rolle, sei es, weil sie, die länger als die Poetik an der lateinischen Sprache festhalten, damit auch lange auf die antiken Muster mehr als auf die Entwicklung der nationalsprachlichen Dichtung gerichtet sind und deshalb beispielsweise auch später als die Poetik die zunächst so fraglose Identifizierung heimischer Liedformen mit der antiken Ode in ihrer Terminologie sichtbar werden lassen, sei es, weil sei gemäß ihrer Funktion eher Zusammenfassung gelehrten Wissens als praktische Anweisung sein wollen, sei es natürlich auch, weil überhaupt die Einläßlichkeit der Sachdarlegung in Enzyklopädien zwangsläufig in hohem Grade abhängig ist vom jeweiligen Typus, vom je besonderen Zuschnitt und Zweck. Die Enzyklopädien formulieren – auch wenn manche gelehrt-ausführliche, wie die eingangs zitierten Zeugnisse zeigen, geeignet ist, den Zeitgenossen mehr als nur oberflächliche Information zu vermitteln – gewiß auch nicht immer den allerneuesten Stand der Meinungen und Diskussionen, weil sich ihnen Bestandsaufnahme und nicht Fortentwicklung von Wissen
83 Ebda., Bd. 8, 51895, S. 1014f. 84 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 2, 61824, S. 409; Bd. 2, 71830, S. 517; Bd. 2, 81833, S. 499. 85 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3, 51894, S. 927.
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und Ansichten als Aufgabe stellt. Mit Verzögerungen in der Rezeption aktueller Vorstellungen ist dabei – so sehr in bestimmten Fällen die Benutzung neuester Schriften zum Gegenstand offenkundig ist – auch deshalb vielfach zu rechnen, weil die Größe der Aufgabe, vielfältiges Wissen in teilweise vielbändigen Werken zusammenzufassen, einen anderen Zeitablauf bedingen muß als die Abfassung einer einzelnen Poetik und zudem begreiflicherweise die vielfach zu beobachtende Anlehnung an Vorgänger oder das Ausschreiben von anerkannten Quellen besonders nahelegt.⁸⁶ Gleichwohl stellen die einschlägigen Passagen in enzyklopädischen Werken nicht lediglich einen beschränkten Auszug dessen dar, was in der jeweiligen zeitgenössischen Poetik besser zu lesen wäre. Die Aufgabe, Zusammenfassung und Überblick zu geben, und der Zwang zur Auswahl des Details und zu mehr oder weniger knapper Definition und Beschreibung können vielmehr ebenso wie die Verschiebungen im Stichwortbestand, im Umfang der Artikel und in ihrem sachlichen Verhältnis zueinander manches schärfer als im ausführlichen Kontext der Poetik hervortreten lassen, können über Jahrhunderte tradierte Konstanten besonders auffällig machen, die lange Geltung bestimmter Autoritäten besonders eindringlich vor Augen führen, können aber auch die gleichwohl sich vollziehenden Veränderungen, ihre Hauptphasen, ihr Ausmaß und ihre Ergebnisse besonders nachdrücklich markieren. Sangbarkeit, strophische Gliederung, auch Vielfalt der Versformen etwa erweisen sich, weil sie eigentlich überall genannt und an die Spitze der Darlegungen gestellt werden, gerade im Spiegel der Enzyklopädien als ein jahrhundertelang gültiges Hauptbestimmungsmerkmal lyrischer Dichtung, das den gegenüber einem jüngeren, bis heute wirksamen Verständnis des „Lyrischen“ sehr andersartigen, auf strophische Gedichte begrenzten, damit aber auch sehr konkreten Sinn des Wortes „lyricus/lyrisch“ ebenso begreiflich macht wie die eng damit zusammenhängende, lang anhaltende Gleichsetzung antiker Oden und nationalsprachlicher Liedformen. Auch die allmähliche Modifikation und schließliche Auflösung dieser Gleichsetzung wie das wachsende Bewußtsein von Unterschieden zwischen antiker und sich weiterentwickelnder neuzeitlicher lyrischer Dichtung und die zunehmende Ausprägung eines erhabenen Charakters der Ode, auf die vielfach durch die so oft wiederholte Formel Boileaus vom beau desordre hingedeutet wird und die eng mit dem in der Poetik wirksam werdenden Begriff des Enthusiasmus verknüpft ist, lassen sich als Indiz und Triebkraft einer sich vollziehenden
86 Dafür geben viele der Anmerkungen zu diesem Beitrag eine hinreichende Zahl von Belegen, ohne doch die Abhängigkeiten zwischen den hier ausgewerteten Enzyklopädien und deren sonstige Quellen erschöpfend aufdecken zu können.
Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel
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Differenzierung lyrischer Arten an der Abfolge der Enzyklopädien anschaulich ablesen. Sie bekräftigt aber auch in einprägsamer Weise die jahrhundertelange Geltung und nachhaltige Wirkung von Pindar und Horaz als Mustern lyrischer Dichtung wie deren spätere Abwertung und dann ihre Ablösung durch den früher neben ihnen nie genannten, ja für eine ältere Auffassung von lyrischer Dichtung neben ihnen gar nicht denkbaren Catull. Die spätantiken Grammatiker und die neuzeitlichen Theoretiker Scaliger, auch Vossius, dann Boileau, Batteux und schließlich Sulzer, deren Gewicht auch in der Poetikliteratur nicht zu verkennen ist, erweisen sich in den Enzyklopädien mit besonderer Deutlichkeit als Hauptquellen und Hauptautoritäten einer Lyriktheorie, deren Phasen sich auch an der Abfolge dieser offenkundig ungemein wirksamen Gewährsleute, ihrer Ablösung oder Ergänzung nachzeichnen lassen. Weil ihre Absicht und Aufgabe sein muß, dasjenige zu bieten, was zu ihrer Zeit als wesentlich und gültig angesehen wird, können die Enzyklopädien als Quellen gelten, die die systematischen Werke der Poetik zu ergänzen vermögen. Was Enzyklopädien aufnehmen und was in ihnen allenthalben zu finden ist, wird man, gerade weil sie auswählen müssen, als Spiegelung verbreiteter Anschauungen ihrer Zeit verstehen dürfen, als Zeugnisse literarischer Vorstellungen und Erwartungen, die nicht allein beliebige Meinung einzelner Theoretiker, sondern Allgemeingut sind und in ihrer Geltung durch die Aufnahme in Enzyklopädien befestigt und auch durch sie nachhaltig verbreitet werden. In solchem Sinne können die Enzyklopädien der frühen Neuzeit die methodische Bedeutung der Poetikliteratur als eines Schlüssels zum andersartigen Literaturverständnis früherer Epochen, zu Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur in vergangenen Jahrhunderten und zu den Wandlungen der Literatur im Lauf ihrer Geschichte bestätigen und in deren Ergänzung auch selbst als solcher Schlüssel dienen. Auch im Felde literarischer Theorie tut darum ein auf Verstehen des Vergangenen in seiner fremden Eigenart gerichtetes historisches Interesse gut daran, sich der frühneuzeitlichen Enzyklopädien als einer ergiebigen und perspektivenreichen Quelle anzunehmen und dabei auf solche Beschäftigung mit einer Vielzahl von gelehrten Büchern als Motto umzumünzen, was Morhof einst zur Rechtfertigung einer wahren Polymathia und ihrer enzyklopädischen Darstellung gesagt hat: „Est scilicet quædam scientiarum cognatio & conciliatio, unde & ἐgkuklopaideίan vocant Græci, ut in una perfectus dici nequeat, qui ceteras non attigerit“.⁸⁷
87 Morhof, Polyhistor, Bd. 1, S. 2 (Lib. I, cap. 1, § 3).
Teil II: Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
1 Das barocke Epicedium Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert „Mit einem ästhetischen Schauder nur“ – so beginnt im Jahre 1909 ein Aufsatz über Deutsche Gelegenheitsdichtung bis zu Goethe – „vermag man die Gesamtausgabe eines Durchschnittsdichters der deutschen Renaissance aufzuschlagen, wenn man sie zu einem anderen Zweck als dem von vornherein entsagungsvollen wissenschaftlicher Kleinarbeit in die Hand nehmen sollte. Nur selten fällt eine persönliche Formung in die Augen, klingt ein Herzenston auf in diesen Unendlichkeiten von Reimereien, die durch die unbedeutendsten und zufälligsten ‚Ereignisse‘ veranlaßt sind“.¹ Knapp zwei Jahrzehnte später heißt es im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte im Artikel Gelegenheitsgedichte zwar einerseits: „In der Gelegenheitsdichtung darf man mit Recht den charakteristischsten Ausdruck der Lyrik des 17. Jhs. sehen“; zugleich aber fährt der Artikel fort: „Ihr Überhandnehmen ist nur denkbar in einer Zeit seelischer und geistiger Armut. Es ist begründet im Geist jenes Jhs., der zwar aufstrebte, sich aber noch nicht zu schöpferischer Befreiung des inneren Menschen hindurchgerungen hatte und deshalb noch tote Formeln und Inhalte in das lyrische Gewand preßte. Nur darum nahm auch niemand Anstoß an dem ewigen Einerlei dieser Stoffe, an ihrer Phrasenhaftigkeit und Hohlheit, an der gröblichst darin zutage tretenden gesellschaftlichen Lüge. Noch war Lyrik nur eine äußere Form, eine gelehrte Übung für kurzweilige Stunden, nicht Sprache der Seele. Die Geburtsstunde der lyrischen Persönlichkeit mußte folgerichtig die Todesstunde der Gelegenheitsdichtung werden. Christian Günther beendet mit der Epoche der Barockdichtung auch die der Gelegenheitslyrik.“² Und noch 1958 meint der mildernde Bearbeiter dieses Artikels in der zweiten Auflage des Reallexikons doch: „Die Feier der bürgerl.[ichen] und höfischen Familienfestlichkeiten in poet.[ischer] Sprache erschien als eine nicht unwichtige Aufgabe für den Dichter, der dem Gesetz einer festen Lebens- und Standesordnung unterstand. Daher auch die schablonenhafte Ausführung dieser G.[elegenheitsdichtung], welche überall nur das gegebene Muster auszufüllen sucht und für persönliche Auffassungen keinen Raum läßt“ und: „[Günthers] Lyrik erwächst in jedem Fall aus
1 Carl Enders, Deutsche Gelegenheitsdichtung bis zu Goethe, in : German.-Roman. Monatsschr. 1 (1909), S. 292–307, S. 292. 2 A. Gramsch, Gelegenheitsgedichte, in : Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin 1925–1926, S. 426–428, S. 428.
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persönlichem Empfinden und Schicksal. Während die G.[elegenheitsdichtung] im alten Sinne allmählich zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt, weist Günthers lyrische Art auf Goethe voraus.“³ Andernorts zwar mag man neuerdings noch etwas vorsichtiger im Urteil über die Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts geworden sein.⁴ Gleichwohl deuten die angeführten Zitate, die sich leicht vermehren ließen,⁵ darauf hin, daß hier in der Erforschung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts bis heute eine schwache Stelle liegt, die zwar nicht ganz ohne begreifliche Ursachen, aber dennoch befremdlich ist. Denn die Erforschung der deutschen Barockliteratur insgesamt hat im vergangenen Halbjahrhundert, nicht ohne engen Zusammenhang mit der Geistes- und Literaturgeschichte dieser Jahrzehnte, bemerkenswerte Fortschritte gemacht, sie hat zu mancherlei Umwertungen geführt und noch neuerdings wieder kräftige Belebung erfahren. Man hat immer mehr Einsichten in die besonderen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Literatur gewonnen. Man hat erkannt, daß ihr nicht mit den seit dem 18. Jahrhundert entwickelten literarischen Erwartungen und Kriterien beizukommen ist. Man begreift immer mehr, wie sehr die aus der Antike überkommenen Lehren der Rhetorik Grundlagen dieser Literatur sind, man sieht, welche große Rolle überhaupt in dieser Literatur die Bindung an Traditionen, an überlieferte Formen und Gehalte spielt, und man versucht, diese Rolle positiv zu verstehen. Man lernt, daß diese Literatur, nachdem erst einmal ihr Eigenrecht anerkannt worden ist,
3 Rudolf Haller, Gelegenheitsdichtung, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, 2 Berlin 1958, S. 547–549, S. 548. 4 Vgl. z. B. Richard Newald, Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit, 2 München 1957 (H. de Boor/R. Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 9 – andeutungsweise auch schon bei Erich Trunz (Rez.), Simon Dach, Gedichte, 3. u. 4. Bd., hrsg. v. W. Ziesemer, in : Dt. Literaturztg. 6o (1939), Sp. 154–160. 5 Vgl. z. B. Max von Waldberg, Die Deutsche Renaissance-Lyrik, Berlin 1888, S. 5f. – Walther Ziesemer, Simon Dach, in: Altpreußische Forschungen 1 (1924), Heft 1, S. 23–56, S. 50f. – Walther Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928 (Dt. Vierteljahrsschr. f. Literaturwissensch. u. Geistesgesch., Buchreihe, Bd. 14), S. 193 – Herbert Hertel, Die Danziger Gelegenheitsdichtung der Barockzeit, in: Danziger Barockdichtung, hrsg. v. H. Kindermann, Leipzig 1939 (Dt. Literatur, Reihe Barock, Ergänzungsbd.), S. 165–230, S. 165 – Maria Krause, Studien zur deutschen und lateinischen Gelegenheitsdichtung von Martin Opitz, Diss. (Mschr.) Breslau 1942, u. a. S. 4ff. – Christiane Rukkensteiner, Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung, Diss. (Mschr.) Innsbruck 1957, u. a. S. 27, 70, 104, 174 – Franz Dostal, Studien zur weltlichen Lyrik Simon Dachs, Diss. (Mschr.) Wien 1958, u. a. S. 7, 10, 278. Entsprechende fragwürdige Urteile zur neulateinischen Gelegenheitsdichtung bei Georg Ellinger, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jh., Berlin/Leipzig 1929ff., u. a. Bd. 1, S. 329f.; Bd. 2, S. 12ff., 32ff., 370ff.; Bd. 3/I, S. 39f., 193, 318f.
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zureichend doch nur im größeren Zusammenhang der europäischen Literaturentwicklung seit der Renaissance zu erfassen ist und daß dafür auch die bis ins 17. Jahrhundert hinein blühende neulateinische Literatur besonders wichtig ist, die man früher allzu leicht als artfremd und künstlich zu mißachten geneigt sein mochte. Man ist auf einzelne Erscheinungen und ihre literarische Auswirkung besonders aufmerksam geworden, auf den Einfluß der allegorischen Schriftauslegung, auf die Emblematik, auf die Schriften der Kirchenväter, die dem 17. Jahrhundert noch als kirchliches Erbe wie als Teil einer noch nicht auf einen engen klassischen Kanon reduzierten antiken Überlieferung gegenwärtig waren. Man versucht schließlich auch, in die lange als bloße Schulfuchsereien verachteten Lehrbücher der Poetik einzudringen und sie als Schlüssel zum Verständnis der barocken Literatur zu nutzen.⁶ Bei aller Bewegung aber und Ausweitung ist doch eine gewisse Einseitigkeit der Barockforschung nicht zu verkennen, und zwar für die Lyrik noch mehr als für den Roman und die dramatischen Formen des 17. Jahrhunderts. Immer wieder ist man – und wohl um so mehr, je mehr man begreift, daß man es mit nicht unmittelbar interpretierbaren und mit in vielen Einzelheiten besonders stark traditionsbedingten Werken zu tun hat – immer wieder ist man geneigt gewesen, sich vor allem mit Fragen des Sprachstils und der Bildlichkeit zu befassen, mit Erscheinungen also, an denen die Andersartigkeit der barocken Literatur am auffälligsten ist und ihre Eigenart, auch gegenüber ihren Voraussetzungen und Vorbildern, noch am leichtesten faßlich zu sein scheint. Die förderlichen Arbeiten zu diesen Fragen sind immer wieder zahlreicher als jene, die unter Berücksichtigung der Traditionsbindungen Gehalte, Gattungsgesetze, Strukturphänomene und damit auch einzelne Werke angemessen verstehen lehren. Von jenen drei Bereichen, in denen nach dem Verständnis des 17. Jahrhunderts die Dichtkunst der Redekunst verschwistert ist, von den Bereichen der inventio, dispositio und elocutio oder, wie es im Buch von der Deutschen Poeterey des Opitz heißt, der Erfindung der Dinge, der Einteilung der Dinge, der Zubereitung und Zier der Wörter,⁷ – von diesen drei Bereichen bevorzugte die Forschung damit in auffälliger Weise den dritten, den der elocutio, der Zubereitung und Zier der Wörter, von dem freilich sogar Ernst Robert Curtius meinte, daß er „dem modernen Verständnis am nächsten“ stehe.⁸
6 Zu diesen zusammenfassenden Hinweisen ist vor allem zu erinnern an die neueren oder älteren Arbeiten von Alewyn, Barner, Böckmann, Conrady, Dyck, L. Fischer, Fricke, E. Geisenhof, Jöns, W. Kayser, Pyritz, Schings, Schöne, Trunz, Wentzlaff-Eggebert, Windfuhr. 7 Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, 5Halle 1949 (Neudrucke dt. Literaturwerke des XVI. u. XVII. Jh.s, Nr. 1), S. 17 (Kap. V.). 8 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3Bern/München 1961, S. 80. Vgl. auch Karl Otto Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik
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Solcher, hier nur knapp angedeuteter Stand der Dinge aber bringt es mit sich, daß man gegenüber der Literatur ds 17. Jahrhunderts ständig noch in der Gefahr ist, es sich in paradoxer Weise zu einfach zu machen, indem man sich einerseits, in Untersuchungen, Anthologien, Neudrucken, vielfach nur an noch unmittelbar verständliche, als eindrucksvoll oder als noch lebendig geltende Texte hält, andererseits aber, beispielsweise unter dem Aspekt der Bildlichkeit oder der generellen Bestimmung barocken Stils, oft ohne genauere Differenzierung alles gleichermaßen interessant, weil eben barock, findet. Sollte man dort, wo man Wertung, Unterscheidung, Auswahl trifft, für die man sich nicht selten immerhin auch auf die eigenen Urteile des 17. Jahrhunderts berufen könnte, nicht doch noch stärker erst aus den Voraussetzungen jener Epoche selbst die Kriterien entwickeln, die solche Wertung ermöglichen und auch jene Urteile der Zeitgenossen bestimmt haben? Ist es dazu aber nicht nötig, ständig noch schärfer das Problem wahrzunehmen, wie überhaupt innerhalb einer so außerordentlich traditionsbezogenen Literatur ein einzelnes Werk, wenn man seine Traditionsbindung ganz ernstnimmt und seine traditionellen Bestandteile und Züge genau genug erfaßt, zugleich doch als ein einzelnes und individuelles unterschieden, verstanden und ausgelegt werden kann? Sollte dazu nicht jegliche für das 17. Jahrhundert wichtige Tradition selbst als Medium des Vergleichens und sollte dabei nicht insbesondere die Poetikliteratur der Zeit, die freilich selbst vielfach erst der Interpretation bedarf, gerade mit ihren zu oft vernachlässigten Aussagen zu den Bereichen der inventio und dispositio dienlich sein können? Diese Fragen stellen sich mit eigener Dringlichkeit im Blick auf die sogenannte Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts, für die – aus Gründen, die mit den bisherigen Hinweisen und Überlegungen angedeutet sind – die Belebung der Barockforschung bislang am wenigsten erbracht hat, an der sich die Einsicht in die Eigengesetzlichkeit der Literatur jener Zeit aber doch besonders
des 17. Jh.s, Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur dt. Literatur, Bd. 4), S. 49 : „Imitatio im Bereich der auf die Poesie bezogenen Rhetorik knüpft sich in besonderem Maße an die Lehre vom Ausdruck (elocutio), da es ja gerade dieser Teil des Rhetoriksystems ist, der für die Dichtung Bedeutung hat.“ Bezeichnend für die Neigung der Forschung zum Bereich der elocutio ist auch noch der Umfang, den gerade seine Erörterung in den neueren, auf den Zusammenhang von Poetik und Rhetorik gerichteten Arbeiten einnimmt: Renate Hildebrandt-Günther, Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jh., Marburg/Lahn 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 13); Ludwig Fischer, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968 (Studien zur dt. Literatur, Bd. 10); in geringerem Grade bei Joachim Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, Bad Homburg v.d.H. 1966 (Ars poetica, Bd. 1), wo auch der Topik ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
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zu bewähren hätte.⁹ Wohl gibt man, wie die einleitenden Zitate gezeigt haben, immer selbstverständlicher zu, daß die Gelegenheitsdichtung eine der besonders charakteristischen Erscheinungen des 17. Jahrhunderts sei. Aber allzu schnell begnügt man sich vielfach auch mit dem Hinweis auf die gesellschaftliche Bedingtheit der Gelegenheitsdichtung und ist dann im übrigen rasch mit Bemerkungen über Formelkram und unpersönliche Art bei der Hand, allenfalls summarisch Gedichte der namhaftesten Autoren von solchem Verdikt ausnehmend. Aber darf man so leicht nehmen, was jene Epoche so wichtig genommen hat? Wie hat jene Zeit selbst diese Dichtungen verstanden? Wo sind, abgesehen davon, daß minderwertige Lyrik auch in jeder anderen Epoche in beliebiger Menge zu finden ist, – wo sind gerade hier die unterscheidenden Kriterien? Welche Aufschlüsse die ernstgenommenen Traditionsbindungen auch und gerade für die Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts geben können und welche Kriterien auch für individuelle Unterscheidungen und Wertungen damit zu gewinnen sind, das sollen die folgenden Hinweise an einem Beispiel jener Gelegenheitsdichtung, an einem Typus des deutschsprachigen Begräbnisgedichts zeigen, das in Gedichtsammlungen wie in Drucken von Leichenpredigten außerordentlich verbreitet ist. Diese Hinweise können freilich nicht mehr als ein Versuch sein. Von Johann Henrich Hadewig, dem Verfasser einer in zwei Auflagen erschienenen, vor allem von Opitz abhängigen Poetik mittleren Wertes, gibt es ein 1658 entstandenes Begräbnislied auf den „hochEdelgebornen / Gestrengen und Vesten Herrn / Herrn Philip Sigißmund von dem Busche / zur Ippenburg und
9 Einige Ansätze jetzt bei Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 68ff., 78 – Leonard Forster, The icy fire. Five studies in European Petrarchism, Cambridge 1969, S. 84–121 – für den Bereich der niederländischen Dichtung des 17. Jh.s: S.F. Witstein, Funeraire poëzie in de nederlandse renaissance. Enkele funeraire gedichten van Heinsius, Hooft, Huygens en Vondel bezien tegen de achtergrond van de theorie betreffende het genre, Assen 1969 (Neerlandica Traiectina, Bd. 17) (vgl. hierzu aber die kritischen Hinweise unten in Anm. 20). An allen diesen Stellen sind die Ansätze zum Verständnis von Gelegenheitsgedichten des 17. Jh.s bezeichnenderweise verknüpft mit der Beachtung von Anweisungen zur inventio und dispositio in Rhetorik und Poetik. Entsprechendes auch für die übrige Lyrik der Zeit bei Dyck, Ticht-Kunst, S. 50, und besonders bei Erwin Rotermund, Affekt und Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau, München 1972 (Beihefte zu Poetica, Heft 7), u. a. S. 44ff., 95f. Die oben in Anm. 5 genannten Spezialarbeiten von Dostal, Krause und Ruckensteiner hingegen bleiben noch ganz unzulänglich, weil sie die Rhetorik und Poetik als Grundlagen der Dichtung des 17. Jh.s nicht ernstnehmen oder gar nicht beachten und nicht zuletzt deshalb für die traditionellen Züge der Gelegenheitsdichtung kein angemessenes Verständnis finden können.
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Harlinghausen erbgesessen / und Hochfürstl. Oßnabrückischen wol verordneten Landraht“.¹⁰ Es dient uns hier als ein beliebiges Durchschnittsbeispiel, das seiner Überschaubarkeit und seiner vom Verfasser intendierten exemplarischen Bedeutung wegen gewählt worden ist. Seine beiden ersten Strophen lauten: „Edler Busch / du edle Seele! immer schade nach der Welt! daß dir schon des Grabes höle so früzeitig wird beställt / daß du schon wirst hingeraft aus der edlen Ritterschaft. Edler Herr / nach dem geblüte und von grauen Ahnen her / Edel auch nach dem Gemüte am Verstand’ und aller Ehr’ / eine kluge Wissenschaft wird mit dir hinweg geraft!“
Die folgenden Strophen berichten von der Trauer des Landesherrn, der Stände, des Volkes, der Jungen und Alten, Reichen und Armen. Die 10. Strophe spricht vom Dichter: „Mögt’ ich / wi ich willig wollte / meine Feder würd’ allein / das mir bässer flissen sollte / dir zur Lust geschärffet sein / mein Beginnen / mein Gemüt sünge gern ein Freuden Lid.“
Die nächsten beiden Strophen setzen demgegenüber die Klage fort. Die 13. hingegen erklärt: „Doch was nüzzet grosses Klagen / was nicht mehr zu ändern steht / sol man mit Gedult ertragen; wenn hernächst di Welt vergeht / sind wir wieder frisch und stark und verlassen unser Sark.“
Und in ähnlichem, tröstenden und mahnenden Sinn handeln die letzten drei Strophen von der Ruhe des Leibes im Grab und der künftigen Auferstehung, vom Aufenthalt der Seele im Himmel, vom Dauern des Toten im Gedächtnis der Lebenden.
10 Johann Henrich Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, Bremen 1660, S. 352–357.
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Was diese sechzehn Strophen in nicht allzu kunstvollem und flüssigem Stil aneinanderreihen, Bestürzung über den plötzlichen Tod, Verherrlichung des Toten, Bericht über die allgemeine Trauer, in die der Dichter sich einschließt, tröstende und mahnende Einwände gegen die Klage – das könnte einem ganz unbefangenen Leser einfach als das erscheinen, was jedem Verseschmied bei einem Trauerfall von selbst in die Feder fließen mag. Daran würde sich vielleicht auch noch nicht viel ändern, wenn man in Hadewigs 1660 erschienener Poetik Wolgegründete teutsche Versekunst, in der das Gedicht als Beispiel steht, unmittelbar vorher liest: „Es sind aber di totden Lider trauerGetichte / darinnen des abgestorbenen Lebens-Lauf kan bescriben / seine Tugend gerümet und sein absterben mitleidentlich beklaget werden / und sonst di nichtige Flüchtigkeit dises Lebens eingefüret / und dagegen di himmlische Herlichkeit den betrübten zum Trost vorgestellet werden“ (S. 351f.). Was es mit diesem Hinweis aber, der durch das teilweise zitierte Lied exemplifiziert wird, eigentlich auf sich hat, das wird deutlicher, wenn man in einige andere Poetiken des 17. Jahrhunderts hineinschaut. In der Teutschen Rede-bind und Dicht-kunst von Sigmund von Birken (Nürnberg 1679) heißt es: „In den LeichGedichten oder Epicediis, ist hauptsächlich dreyerlei zu beobachten / des Verstorbenen Lob / die Klage / und der Trost für die Hinterbliebenen“ (S. 226). Johann Christoph Männling lehrt in seinem Europaeischen Helicon (Alten Stettin 1704): „Ein Leichen-Carmen begreifft den Verlust des Todten und sein Lob / als auch den Trost an die Hinterbliebenen“ (S. 89). Und im selben Jahr stellt Magnus Daniel Omeis in einer Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst (Nürnberg 1704) im Kapitel Von unterschiedlicher im gemeinen Leben öffters fürkommender Gedichten Erfindung und Ausarbeitung fest: „Die Erfindungen zu den Leich-Gedichten werden genommen (1) von dem Lob der verstorbenen Person ... Hierauf folget (2) die Klage und Erweckung zur Traurigkeit ... (3) Folget der Trost ...“ (S. 173f.). Überall also wird in der deutschen Poetikliteratur der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts für das Begräbnisgedicht ein und dasselbe dreiteilige Schema gefordert, das aus Lob, Klage und Trost besteht. Es liegt auch dem angeführten Lied Hadewigs auf den Herrn von dem Busche zugrunde, und es findet sich wiederholt ebenso in Balthasar Kindermanns Schrift Der Deutsche Poët (Wittenberg 1664) oder in Christoph Kaldenbachs Poetice germanica (Nürnberg 1674), die beide keine theoretische Anleitung zur Verfertigung von Begräbnisliedern geben, sondern eine praktische durch Analyse von Begräbnisgedichten von Zeitgenossen.¹¹
11 Kindermann (S. 457–515) erörtert Gedichte von Opitz, Rist, Tscherning, David Schirmer, Fleming, Sieber; Kaldenbach, der in jüngeren Jahren dem Königsberger Dichterkreis angehörte, behandelt (S. 52–92) Gedichte von Georg Mylius, Tscherning, Michael Behm, H. Albert und vor
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Sollte es sich dabei aber nun nur um eine im 17. Jahrhundert herausgebildete, von den gesellschaftlichen Zuständen und den Sitten der Zeit bedingte Konvention handeln?¹² Die Vermutung liegt selbstverständlich nahe, daß dem nicht so sei, und sie bestätigt sich, sobald man sich auch nur im nächstgelegenen Traditionsbereich, der neulateinischen Poetik und Dichtung umsieht und zunächst zu derjenigen lateinischen Humanistenpoetik greift, die für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts lange Zeit besonders hohe Geltung besessen hat, Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem, zuerst erschienen 1561. In dieser „Summa der Dichtungslehren der Renaissance“,¹³ auf die sich zum Beispiel Johann Peter Titz in seiner Poetik Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (Danzig 1642) für alle Arten von Gelegenheits- und anderen Gedichten unter völligem Verzicht auf eigene Anweisungen als Hauptquelle beruft (Bl. O1vff.), – in dieser Summa findet man im 122. Kapitel des 3. Buchs (S. 168) unter der Bezeichnung Epitaphium oder Epicedium ein zwar etwas andersartiges, nämlich fünfteiliges Schema, in dem jedoch unschwer jene drei in den deutschsprachigen Poetiken genannten Teile, Lob, Klage, Trost als die Hauptsache auszumachen sind. Nach Scaliger soll ein Begräbnisgedicht bestehen aus: laudes (Lob des Toten und seines Sterbens), iacturae demonstratio (Darstellung des eingetretenen Verlusts), luctus (Trauerklage), consolatio (Tröstung), exhortatio (Ermahnung der Lebenden). Zur Erläuterung bezieht sich Scaliger dabei auf eigene lateinische Werke. Daß iacturae demonstratio und exhortatio nur zusätz-
allem zahlreiche Stücke von Simon Dach. – Vgl. zum dreiteiligen Schema des Begräbnisgedichts auch Daniel Richter, Thesaurus oratorius novus, Nürnberg 1660, S. 137, die bei Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. u. 18. Jh.s, Stuttgart 1966 (Germanist. Abhandlungen, 15), S. 119–122 zitierte Stelle aus J.F. Reimmanns „Poësis Germanorum canonica & apocrypha“ (1703) und noch Johann Samuel Wahll, Gründliche Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie, Chemnitz 1723 , S. 76–78. 12 Der Ansicht, daß die Regeln der Gelegenheitsdichtung sich im wesentlichen im 17. Jh. selbst herausbilden, scheint R. Haller in seinem Artikel „Gelegenheitsdichtung“ in der 2. Aufl. des „Reallexikons der dt. Literaturgesch.“ zu sein, der zwar in § 2 Scaligers Poetik und humanistische Vorbilder erwähnt, das aber nicht näher ausführt, mögliche Einflüsse antiker Überlieferung nicht in Erwägung zieht und daher im einzelnen u. a. meint: „In den Hochzeitsgedichten bildet sich bei einzelnen Lyrikern (Simon Dach u. a.) geradezu ein festes Schema der stofflichen Gliederung heraus ... die Leichencarmina [entlehnen] ihre Gedanken vorwiegend aus dem christlich-religiösen Bereich der Psalmendichtung und der Predigten“ (S. 548). Ein richtigerer, wenngleich ganz knapper Hinweis auf die bestehenden Traditionsvoraussetzungen hingegen bei Hans Dieter Schäfer, „Sagt nicht frühvollendet“. Zur Geschichte des Totengedichts, in: Almanach für Literatur und Theologie 4 (1970), S. 119–138, S. 120f. 13 August Buck in der Einleitung (S. XX) zu: Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 (Faks.-Neudr. d. Ausg. Lyon 1561).
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lich unterschiedene Untergliederungen sind, die sich dem zweiten und dritten Hauptteil des Schemas, luctus und consolatio, zuordnen,¹⁴ das bestätigt unter anderem die 1647 zuerst erschienene Poetik des Gerhard Johannes Vossius, die beim Epitaphium ebenfalls von jenen drei Teilen spricht und zugleich auf die aus dem frühen 17. Jahrhundert stammende Rhetorik desselben Verfassers verweist, wo diese Teile als Teile der oratio funebris, der Leichenrede, und des Epicediums genannt werden mit den griechischen Bezeichnungen ἔpainoϛ, θrῆnoϛ und paramu qίa und den lateinischen Entsprechungen laus, lamentatio und consolatio.¹⁵ Wie hier bei Vossius und Scaliger so findet man auch sonst in der humanistischen neulateinischen Poetik¹⁶ und Dichtung – in Deutschland offenbar vor allem seit den 1531 erschienenen Illustrium ac Clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia des Helius Eobanus Hessus¹⁷ – das in laudes (laudatio), luctus (lamentatio), consolatio, Lob, Klage, Trost gegliederte Begräbnisgedicht, von dem auch die deutschsprachigen Poetiken des 17. Jahrhunderts sprechen. Daß sie das genauer erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tun, erklärt sich wie bei anderen Gattungen daraus, daß zunächst nur das schon vorliegende neulateinische Vorbild nachgeahmt wird, das in der neulateinischen Poetik bereits ausreichend erläutert wird.¹⁸ Dieses dreiteilige Begräbnisgedicht tritt vorwiegend unter der auch in deutschsprachigen Poetiken noch auftauchenden Bezeichnung Epicedium auf, während das von Scaliger, Vossius und anderen daneben verwendete Wort Epitaphium zumeist ein kürzeres, epigrammatisches
14 Sie können deshalb hier bei den folgenden allgemeinen Erörterungen zum Epicedium im allgemeinen beiseite bleiben, erweisen sich aber doch zur detaillierten Analyse einzelner Texte öfters als nützlich. 15 Gerardus Joannes Vossius, Poeticarum Institutionum, libri tres, Amsterdam 1647, Teil 3, S. 115f. – Ders., Commentariorum Rhetoricorum, sive Oratoriarum Institutionum, Libri Sex, 4Leiden 1643, Teil 1, S. 412. 16 Vgl. dazu insbesondere auch Alexander Donatus, Ars Poetica sive Institutionum Artis Poeticae Libri Tres, Köln 1633, S. 299–303 (mit Berufung auf Scaliger) – Jacobus Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594, S. 212–250. 17 Vgl. dazu Ellinger, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jh., Bd. 2, S. 12. 18 So spricht Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 22 (Kap. V), nur im Zusammenhang mit den „Sylven oder wäldern“, für die er Statius als Beispiel nennt, summarisch von Gelegenheitsgedichten. Titz, Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, BI. O2v, sagt ausdrücklich zur Gelegenheitsdichtung: „vnd scheinet auch / daß wir diesfalls im Deutschen keiner absonderlichen vnterweisung gar groß von nöthen haben / weil wir bey denen / so von der Kunst der Poeterey in Latein geschrieben / (vnter welchen der grosse Scaliger billich / wo nicht allein / doch zum ersten genennet wird /) sattsame Handleitung vnd Nachricht finden können.“ Andere frühe Poetiken befassen sich, nicht zuletzt wohl aus ähnlichen Gründen, überhaupt weitgehend nur mit Fragen der Prosodie und der elocutio.
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Grabgedicht mit weniger ausgebildeter Theorie meint, zu dem vielfach, da es inschriftartig das Lob des Toten bewahren will, keine consolatio gehört und das hier wie andere , weniger genau bestimmte Formen der Grabdichtung außerhalb des Kreises der weiteren Betrachtung bleiben wird.¹⁹ Wenn die neulateinische Literatur so der deutschen mit dem Epicedium vorangeht, dann ist allerdings ohne weiteres anzunehmen, daß sie dabei nicht die primäre Quelle, sondern nur die Mittlerin viel älterer, nämlich antiker Überlieferung ist. Daß dies der Fall ist, daß dabei aber nicht nur poetische Vorbilder im Spiel sind, sondern etwas kompliziertere Verhältnisse vorliegen, darauf deutet die schon erwähnte Rhetorik des Vossius hin, auf die Vossius in seiner Poetik an entsprechender Stelle den Leser zu genauerer Unterrichtung verweist. Bei Behandlung der oratio funebris im 3. Buch beruft sich Vossius für die Dreiteilung der oratio funebris und zugleich des Epicediums auf die unter dem Namen des Dionysios von Halikarnaß fragmentarisch überlieferte Rhetorik. Als Beispiele führt er neben Reden von verschiedenen griechischen und römischen Autoren auch solche von Kirchenvätern an, und neben Prosareden nennt er Grabgedichte, vor allem Epicedien von Statius. Damit sind die verschiedenen, untereinander freilich auch wieder in Beziehung stehenden antiken Quellen der humanistischen und barocken Epicediendichtung und ihrer Theorie angedeutet.²⁰ Sie sind hier
19 Die Terminologie für Grabreden und -dichtungen und die Unterschiede des Wortgebrauchs seit der Antike bedürften ebenso wie die sonstigen Erscheinungsformen der Grabdichtung im 17. Jh. einer weitausgreifenden, genaueren Untersuchung (keine oder noch nicht hinreichende Ansätze dazu bieten die schon oben bzw. in Anm. 20 genannten Arbeiten von Conrady, Witstein, Schäfer und Springer sowie der zwangsläufig kurze Absatz, den Ferdinand van lngen in seiner Untersuchung über „Vanitas und Memento Mori in der deutschen Barocklyrik“, Groningen 1966, S. 115–119, dem Begräbnisgedicht widmet). In Anbetracht der für eine umfassendere Untersuchung nötigen Vorarbeiten und der erforderlichen Materialfülle beschränkt sich der vorliegende Versuch bewußt darauf, den einen, besonders klar sich abhebenden Typus etwas näher zu erörtern, der, trotz vorhandenen Abweichungen im Wortgebrauch, am besten unter dem Namen Epicedium zu fassen ist. 20 Daß sie das wichtigste Vorbild, Statius, ganz und die rhetorischen Quellen der Theorie fast ganz ignoriert, ist der entscheidende, jeden wirklichen Ertrag verhindernde Mangel der Untersuchung von Elisabeth Springer, Studien zur humanistischen Epicediendichtung, Diss. (Mschr.) Wien 1955. Die Verf. verkennt die Gesetze der Gattung und ihre Topik, sie übersieht vor allem, daß die consolatio ein integrierender Bestandteil des Epicediums ist, und sie kann daher die Texte, die auch nur teilweise wirklich Epicedien, sonst vielfach eher Epitaphien sind, nur als Quellen für die Suche nach Charakterbildern der behandelten Toten ansehen. Damit läßt sich kein angemessener Zugang gewinnen, und es muß ständig zu überraschenden Fehlurteilen und mäkelnden Mißverständnissen kommen (vgl. u. a. S. 99, 245, 261, 348, 371, 373, 375). K.O. Conrady beurteilt in seinen knappen, aber sachhaltigen Hinweisen zur Epicediendichtung des 16. und 17. Jh.s (Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s,
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kurz zu rekapitulieren.²¹ Unter anderen Formen der Grab- und Totendichtung, die die Antike gekannt hat, die aber teilweise in sehr fragmentarischen Quellen
S. 285–288) die Arbeit von E. Springer noch zu milde, weil er selbst nur Vollmers Hinweise (vgl. unten Anm. 24) auf das Bauschema der Epicedien des Statius, nicht aber Scaliger und andere Humanistenpoetiken beachtet. – Sehr viel mehr auf die antiken Vorbilder und die antike und humanistische Theorie bezogen und dadurch sehr viel sachnäher und ertragreicher als die Arbeit von E. Springer ist die schon oben in Anm. 9 angeführte Arbeit von S.F. Witstein (Funeraire poëzie in de nederlandse renaissance), die vor allem die rhetorischen Grundlagen dieser Dichtung ernstnimmt und von da aus umfangreiche Analysen von Texten unternimmt. Allerdings stützt sie sich für die Theorie des Epicediums fast nur auf Scaliger und vor allem Pontanus und vernachlässigt insbesondere Vossius. Daher nimmt sie die verbindliche Bedeutung von Ps. Dionysios von Halikarnaß und Menander nicht ernst genug, hält die Teile des Epicediums für beliebig vertauschbar, unterscheidet verschiedenartige Typen von Begräbnisgedichten nicht ausreichend voneinander und rückt alles zu sehr unter den dabei in fragwürdiger Weise isolierten und verabsolutierten Aspekt des decorum. So liegt der eigentliche Ertrag der Arbeit mehr im Nachweis der einzelnen Argumenta und Topoi als in der zureichenden Erläuterung der Bauformen. 21 Vgl. dazu folgende Arbeiten, auf die nicht bei jeder Einzelheit eigens verwiesen werden wird: Johannes Bauer, Die Trostreden des Gregorios von Nyssa in ihrem Verhältnis zur antiken Rhetorik, Diss. Marburg/Lahn 1892 – Édouard Boyer, Les consolations chez les Grecs et les Romains, Thèse Montauban 1887 – Vincenz Buchheit, Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles, München 1960 – Karl Buresch, Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum historia critica, in: Leipziger Studien zur Class. Philol. 9 (1886/87), S. 1–170 – Theodore C. Burgess, Epideictic Literature, Diss. Chicago 1902 – José Esteve-Forriol, Die Trauer- und Trostgedichte in der römischen Literatur untersucht nach ihrer Topik und ihrem Motivschatz, Diss. München 1962 – Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936 – Charles Favez, La consolation latine chrétienne, Paris 1937 – Edouard Galletier, Étude sur la poésie funéraire romaine d’après les inscriptions, Paris 1922 – A. Gercke, De consolationibus, in: Tirocinium Philologum Sodalium Regii Seminarii Bonnensis, Berlin 1883, S. 28–70 – Ewald Griessmair, Das Motiv der Mors immatura in den griechischen metrischen Grabinschriften, Innsbruck 1966 (Commentationes Aenipontanae, XVII) – Hereswitha Hengstl, Totenklage und Nachruf in der mittellateinischen Literatur seit dem Ausgang der Antike, Diss. München 1936 – Gerhard Herrlinger, Totenklage um Tiere in der antiken Dichtung. Mit einem Anhang byzantinischer, mittellateinischer und neuhochdeutscher Tierepikedien, Stuttgart 1930 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissensch., Heft 8) – Horst-Theodor Johann, Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod, München 1968 (Studia et Testimonia Antiqua, V) – Rudolf Kassel, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958 (Zetemata, Heft 18) – George Kennedy, The art of persuasion in Greece, Princeton 1963 – Richmond Lattimore, Themes in Greek and Latin Epitaphs, Urbana 1942 (Illinois Studies in Language and Literature, Vol. 28, Nr. 1–2) – Bruno Lier, Topica carminum sepulcralium latinorum, in: Philologus 62 (1903), S. 445–477, 563–603; 63 (1904), S. 54–65 – Constant Martha, Études morales sur l’antiquité, Paris 1883, S. 1–59: L’éloge funèbre chez les Romains; S. 135–189: Les consolations dans l’antiquité – Clifford Herschel Moore, The Epi-
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nur noch undeutlich zu fassen sind,²² entwickelt sich in der römischen Dichtung wohl im unmittelbaren Anschluß an hellenistische Vorbilder und vielleicht in gewissem Zusammenhang mit der altrömischen Totenrede als ausgeprägteste Form neben dem Grabepigramm das Epicedium als ein längeres, mehrgliedriges Trauergedicht.²³ Für dieses fast stets in elegischem Maß oder in Hexametern verfaßte Gedicht hat die neuere altphilologische Forschung aus den Texten
cedia of Statius, in: Anniversary papers by Collegues and Pupils of George Lyman Kittredge, Boston 1913, S. 127–137 – Peter von Moos, Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, 4 Bde., München 1971–1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 3/I-IV) – Alfredo Pais, Degli epicedii latini, in: Rivista di filologia 18 (1890), S. 142–150 – Eugen Reiner, Die rituelle Totenklage der Griechen, Stuttgart/Berlin 1938 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissensch., Heft 30) – Ludwig Ruland, Die Geschichte der kirchlichen Leichenfeier, Regensburg 1901 – Otto Schantz, De incerti poetae consolatione ad Liviam deque carminum consolatoriorum apud Graecos et Romanos historia, Diss. Marburg/Lahn 1889 – Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, Hildesheim 1963 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1885) – Friedrich Vollmer, Laudationum funebrium Romanorum historia et reliquiarum editio, in: Jahrbücher f. class. Philol., Suppl.bd. 18 (1892), S. 445–528 ° – Carmina sepulcralia latina, collegit Johannes Cholodniak, Petersburg 1897 – ÉIoge funèbre d’une matrone romaine (Éloge dit de Turia). Texte établi, traduit et commenté par Marcel Durry, Paris 1950 – Griechische Grabgedichte. Griechisch und deutsch von Werner Peek, Berlin 1960 (Schriften u. Quellen der alten Welt, Bd. 7) – ferner die einschlägigen Artikel in: Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft; Der kleine Pauly, Lexikon der Antike; The Oxford Classical Dictionary; Lexikon der alten Welt – außerdem neuestens die noch ungedruckte Untersuchung von Joachim Soffel, Die Regeln Menanders für die Leichenrede in ihrer Tradition dargestellt, hrsg., übersetzt u. komment., Diss. Mainz 1974. 22 Vgl. dazu bes. die in Anm. 21 genannten Arbeiten von Esteve-Forriol (S. 1ff., 112ff.), Färber (S. 38f., 65f.), Galletier (S. 191ff.), Reiner und die Artikel über Epikedeion/Epicedium, Nenia, θrῆnoϛ/Dirge in den dort ebenfalls genannten Handbüchern. 23 Wortgebrauch und Wortbedeutung innerhalb der antiken Literatur und der klassischen Philologie sind nicht völlig eindeutig. Während H. Färber das ἐpikήdeion in Abgrenzung gegen den θrῆnoϛ (als selbständige Gattung) nur nach griechischen Quellen und ohne nähere Angaben über die Bauform behandelt und G. Herrlinger sich unter dem Stichwort Tierepikedien vorwiegend mit Epigrammen beschäftigt, unterscheidet der Artikel von O. Crusius bei Pauly-Wissowa zwei Haupttypen von Epicedien, einen „volkstümlich-lyrischen und epigrammatischen“, „nachzuweisen vor allem in Grabinschriften und in den halbparodischen“ Tierepikedien – dieser Typus später weithin bezeichnet als Epitaphium, das wiederum zu unterscheiden ist vom ἐpitάφioϛ lόgoϛ, der in verschiedenen Spielarten auftretenden antiken Leichenrede – und „eine besonders bei den Römern aus den Consolationes und Epitaphioi ... entwickelte rhetorische Spielart“, und versteht J. Esteve-Forriol unter Epicedien nur Stücke der zweiten Art. Das scheint auch sonst der vorherrschende Sprachgebrauch zu sein und entspricht dem überwiegenden Verständnis von Wort und Sache in Humanismus und Barock. In diesem begrenzteren Sinne wird der Begriff daher hier gebraucht (vgl. auch schon oben S. 223f. mit Anm. 19).
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selbst teilweise ein fünf- oder sechsteiliges Aufbauschema (etwa: Begründung des tröstenden Zuspruchs, laudatio des Toten, Beschreibung der Krankheit und des Todes, Beschreibung der Bestattung, Aufnahme des Toten in der Unterwelt, Trostgründe²⁴) erschlossen, das aber dem fast immer als dreiteilig verstandenen Bau des humanistischen neulateinischen Epicediums bis auf gewisse, durch den Unterschied der Zeiten bedingte Differenzen,²⁵ sichtlich entspricht. Früheste vollständig erhaltene Beispiele stammen von Horaz (carm. 1, 24), Ovid (amores 2, 6 u. 3, 9), Properz (eleg. 3, 18 und 4, 11), spätere Beispiele sind vor allem die ausdrücklich unter dem Titel epicedium oder consolatio überlieferten Begräbnisgedichte in den Silvae des Statius und die anonymen Gedichte Elegiae in Maecenatem und Consolatio ad Liviam. In diesen späteren Beispielen verstärkt sich, im Zusammenhang mit einer wachsenden Beziehung zur Rhetorik und der von ihr gepflegten und vor allem von der Stoa bestimmten Prosaconsolatio,²⁶ das Gewicht des letzten, der Tröstung dienenden Teils des Epicediums. Vor allem die Epicedien des Statius offenbar sind dann bevorzugte Vorbilder der Neulateiner.²⁷
24 So Friedrich Vollmer in seiner Ausgabe der „Silvae“ des Statius (Leipzig 1898), S. 317 (worauf O. Crusius im Artikel „Epikedeion“ bei Pauly-Wissowa und Moore, The Epicedia of Statius, S. 129, verweisen). Fünf Teile unterscheidet Esteve-Forriol, a.a.O., S. 113 (Einleitung mit Billigung der Trauer oder Aufforderung dazu; laudatio des Toten; lamentatio oder comploratio des Dichters; descriptio der Krankheit und des Todes, der Bestattung oder des Grabmals; consolatio) . Von drei Teilen (laudatio, comploratio, consolatio) sprechen im Blick auf Statius E. Galletier, a.a.O., S. 202, und O. Schantz, a.a.O., S. 61 (unter Hinweis auf Menander). 25 Sie ergeben sich u. a. für die Beschreibung der Bestattung und für die Aufnahme des Toten im Jenseits. 26 Im einzelnen ist das Verhältnis und die Frage einer wechselseitigen Beeinflussung von Dichtung, Rhetorik und Philosophie im Bereich der Todes- und Trostliteratur in der altphilologischen Forschung umstritten; vgl. dazu u. a. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 114ff., Kassel, a.a.O., S. 43ff. 27 Vgl. an entsprechender Stelle die Erwähnung des Statius in der Rhetorik des Vossius (Teil 1, S. 412), bei Donatus, Ars Poetica, S. 302 (zugleich Nennung Ovids), auch bei Antonio Sebastiano Minturno, De Poeta (1559), Nachdr. München 1970 (Poetiken des Cinquecento, Bd. 5), S. 405; dazu dann auch im Bereich der deutschsprachigen Epicediendichtung die bezeichnende Nennung des Statius bei Christoph Kaldenbach, Deutsche Grab-Getichte, Elbing 1648, Teil 2, Buch 3, S. 88, am Ende eines Gedichts auf den Tod der eigenen Mutter. Auf andere lateinische Vorbilder wie Ovid, Properz, die Elegiae in Maecenatem und die Consolatio ad Liviam beruft sich Eobanus Hessus (Illustrium ac Clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia, Nürnberg 1531, Bl. C 3rf.) am Beginn seines Epicediums auf Johannes Reuchlin. Zur besonderen Bedeutung, die Statius überhaupt für die humanistische und barocke Gelegenheitsdichtung gehabt hat, vgl. die entsprechenden Erwähnungen in der Poetik des Vossius (Teil 3, S. 117ff.), bei Donatus, Ars Poetica, S. 283, 285f., 287, 292; Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 22; Omeis, Gründliche Anleitung, S. 151, 164, 168.
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Für die neulateinische Epicediendichtung wird die antike Überlieferung aber noch in anderer Weise wichtig, wie der erwähnte Hinweis auf die Rhetorik des Ps. Dionysios von Halikarnaß bei Vossius zeigt. Die schon in der Antike selbst vorhandene Nähe zwischen Dichtkunst und Rhetorik, die dann zur entscheidenden Grundlage der humanistischen und barocken Dichtung bis ins 18. Jahrhundert hinein wird, ermöglicht es, daß die Neulateiner in der antiken Rhetorik die Begriffe finden, mit denen sie und vielleicht schon ebenso die antiken Theoretiker die römischen Epicedien verstehen und ihre eigene Epicediendichtung begründen. In Frage kommen dafür nicht die vor allem an der Gerichtsrede orientierten rhetorischen Schriften von Cicero und Quintilian, sondern eben jene fragmentarische Rhetorik des Ps. Dionysios von Halikarnaß und dazu die Schrift Perὶ ἐpideiktikῶn des dem 3. Jahrhundert n. Chr. angehörenden Rhetors Menander. Diese Schriften handeln eingehend von den Reden des gέnoϛ ἐpideiktikὸn oder genus demonstrativum, der dritten, neben dem genus iudiciale und dem genus deliberativum, der Gerichts- und Beratungsrede stehenden, Lob- und Tadelreden umfassenden antiken Redegattung, die in der späteren Rhetorik besondere Bedeutung gewonnen hatte. Hier wird auch der ἐpitάφioϛ lόgoϛ, die oratio funebris, Leichenrede erörtert.²⁸ Ps. Dionysios wie Menander nennen als die drei Bestandteile von Leichenreden ἔpainoϛ, q rῆnoϛ und paramu qίa,²⁹ das sind laudatio, lamentatio, consolatio, Lob, Klage, Trost,
28 Zur Entwicklung der griechischen und römischen Leichenrede und zu ihren Spielarten sowie zu deren Verhältnis zur rhetorischen Theorie der Gattung und zu den Einzelheiten dieser Theorie ist, da darauf hier nicht näher eingegangen werden kann, auf die in Anm. 21 genannte einschlägige Literatur zu verweisen. 29 Vgl. Menander, perὶ ἐpideiktikῶn, S. 418–422, in: Rhetores Graeci, hrsg. v. L. Spengel, Bd. 3, Leipzig 1856 (Nachdr. Frankfurt a. M. 1966), S. 368–446 – Dionysius Halicarnaseus, Ars rhetorica, hrsg. v. H. Usener, Leipzig 1895, S. 54 (Nach Johann Albert Fabricius, Bibliotheca Graeca, Bd. 4, 1795, S. 396f. bzw. Bd. 6, 1798, S. 105, waren diese Schriften im griechischen Text seit 1508 gedruckt zugänglich in der Ausgabe griechischer Rhetoren von Aldus Manutius und dann im 16. u. 17. Jh. durch verschiedene weitere griechische und lateinische Ausgaben. Die Schrift von Menander wird, zusammen mit der des Ps. Dionysios, ausdrücklich zitiert z. B. in der Rhetorik des Vossius, Teil 1, S. 50f., im Kapitel „De Ratione laudandi, vel gentium Deos, vel verum Deum Israelis“, das zu einer Reihe von Kapiteln über das genus demonstrativum gehört). Ps. Dionysios, auf den sich für die Leichenrede nicht nur Vossius, sondern z. B. auch noch Christian Weise (Politischer Redner, Leipzig 1691, S. 560) als Gewährsmann beruft, nennt jene drei Teile der Leichenrede allerdings nicht in dem ausführlichen Kapitel über die mέqodoϛ ἐpitaφίwn (ed. Usener, S. 25–31, wo er, S. 29, Klage und Trauer über die Toten ablehnt), sondern an der oben genannten Stelle in dem Traktat perὶ ἐschmatismέnwn (De oratione figurata). Den Nachweis dieser mit Menander übereinstimmenden Stelle, die in der Forschung vielfach übersehen worden ist (vgl. z. B. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 116f., Kassel, a.a.O., S. 41), verdanke ich einer freundlichen Auskunft des Altphilologen Andreas Spira, Mainz. Die angesichts der
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jene drei Teile also, die dann die humanistische und barocke Poetik bis ins 18. Jahrhundert hinein für das Epicedium, das seinerseits beiläufig schon von Ps. Dionysios als poetische Entsprechung zur Grabrede erwähnt wird, fordert und die übrigens zugleich ebenfalls bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auch für Trauerreden, vor allem für die Leichabdankung, als verbindlich gelten.³⁰ Neben dem Dreierschema bleiben aber in der humanistischen und barocken Epicediendichtung und ihrer Theorie auch manche Einzelanweisungen des Ps. Dionysios und des Menander lebendig wie die, daß Klage und Trost nur in Reden auf erst jüngst Verstorbene Platz haben dürfen³¹ oder daß in öffentlichen Reden der Trost knapper zu halten sei als in privaten.³²
fragmentarischen Überlieferung und der Unklarheiten über Autor und Datierung der Ps. Dionysischen Rhetorik schwierige Frage, wie sich die beiden Stellen bei Ps. Dionysios zueinander verhalten, scheint mir über die bisherigen Hinweise der altphilologischen Forschung hinaus weiterer Klärung zu bedürfen; sie muß daher hier offenbleiben. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, daß auch Ps. Dionysios die drei Teile Lob, Klage, Trost kennt und daß er in diesem Sinne von der humanistischen und barocken Rhetorik und Poetik rezipiert worden ist. – Die von J. Bauer, a.a.O., S. 17f., und von L. Ruland, a.a.O., S. 153f., vertretene Meinung, daß Menander den qrῆnoϛ, von dem er sagt, daß er auch überall im Lobteil mit einzumischen sei, gar nicht zugleich als selbständigen Teil der Leichenrede aufgefaßt habe, ist durch neuere Arbeiten (s. u. a. Burgess, Kennedy, besonders aber Soffel) als erledigt anzusehen. – Vgl. den Nachtrag beim Drucknachweis zu dieser Abhandlung am Ende des Bandes. 30 Vgl. dazu außer Vossius und Chr. Weise (s. Anm. 29) u. a.: D. Richter, Thesaurus oratorius novus, 1660, S. 136 – Balthasar Kindermann, Teutscher Wolredner ... gebessert / und ... gemehret von dem Spaten [Kaspar Stieler], Wittenberg 1680, S. 641, 665, 689 – August Bohse-Talander, Getreuer Wegweiser zur Teutschen Rede-Kunst und Briefverfassung, Leipzig 1692, S. 446 – Christian Friedrich Hunold-Menantes, Einleitung Zur Teutschen Oratorie Und Brief-Verfassung, Halle/Leipzig 1715, S. 386 – Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 31736, S. 729 – Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Hildesheim/New York 1973 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1736), S. 456 – Johann Andreas Fabricius, Vernünftige Grundregeln Zum Parentiren, Jena 21739, Bl. a7v f. – Johann Andreas Fabricius, Philosophische Redekunst, Leipzig 1739, S. 187. Dem besonderen Charakter der Leichabdankung entsprechend wird an den angeführten Stellen zumeist als 4. Teil ein abschließender Dank an die am Begräbnis Teilnehmenden genannt. 31 Menander, S. 418. Vgl. dazu z. B. Scaliger, Poetices libri septem, S. 168; ein entsprechendes poetisches Beispiel unten im Exkurs. 32 Dionysius Halicarnaseus, S. 25f., 29. Vgl. dazu z. B. das unterschiedliche Gewicht der verschiedenen Teile in den nach dem Stand der Toten abgestuften Anweisungen bei Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 212ff., oder die Epicedien des Eobanus Hessus, die fast alle bekannten Persönlichkeiten gelten und daher knappere Trostteile enthalten als viele privater gehaltene deutschsprachige Epicedien des 17. Jh.s. Überhaupt liegt hier wohl einer der Unterschiede zwischen der neulateinischen und der barocken deutschen Epicediendichtung (vgl. dazu auch unten S. 240f.). Unterschiede im Verhältnis von Lob- und Trostteil je nach der
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In den Lehren der antiken Rhetorik über die zum genus demonstrativum gehörende oratio funebris also wie in der römischen Epicediendichtung, vor allem in ihrer voll ausgebildeten Form bei Statius, hat der noch von der deutschen Baraockdichtung allenthalben festgehaltene dreiteilige Aufbau des Epicediums seinen Ursprung. Doch nicht nur darin, nicht nur im Bereich der dispositio also, liegt die Bedeutung dieser der deutschen Barockdichtung durch die neulateinische Dichtung und Poetik vermittelten antiken Quellen. Vielmehr stammen aus ihnen und der zugehörigen Prosaliteratur auch die inventiones, die Erfindungen, d. h. die einzelnen Gesichtspunkte, Argumente, Motive der neulateinischen und deutschen Epicediendichtung. Besonders reichhaltig begegnen in jenen Quellen einerseits die Topoi des Enkomions, der laudatio, die für den ersten Teil des Epicediums maßgeblich sind, und andererseits die anzuwendenden Trostargumente, die innerhalb der Rhetorik teils bei der Behandlung der oratio funebris selbst, teils im Zusammenhang mit der dann auch noch bei Vossius und selbst in der Poetik des Scaliger gesondert erörterten Gattung der Consolatio³³ angeführt werden. Dabei finden die antiken, vorwiegend stoischen Trostgründe eine Ergänzung durch spezifisch christliche, wie sie in den zur Tradition der Prosaconsolatio gehörenden Schriften von Kirchenvätern entwickelt werden,³⁴ die dann auch Vossius nennt. Wohl alles, was in dem früher angeführten Lied Hadewigs steht, Bestürzung über den Todesfall, Lob des Toten nach seiner Herkunft, seinen Anlagen, seinen Taten, Nennung der Mittrauernden, das die Trauer und Klage bekräftigende Ungenügen der Dichtung, der mit einem „doch“ betont einsetzende Widerspruch gegen die Klage, die einzelnen Trostgründe – all das läßt sich bis ins einzelne auf antike und frühchristliche Quellen und Vorbilder zurückführen.³⁵ Und dasselbe gilt eigentlich für alle Epicedien der neulateinischen und der barocken deutschen Dichtung. So erweist sich die im 17. und noch im frühen 18. Jahrhundert so verbreitete deutsche Epicediendichtung ebenso wie das unmittelbare neulateinische
Person und Stellung des Toten lassen sich aber z. B. auch innerhalb der Begräbnisdichtung Simon Dachs feststellen. 33 Vgl. Menander, S. 413–414, perὶ paramuqhtikoῦ – G.J. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 394–401, De Consolatione – J.C. Scaliger, Poetices libri septem, S. 168–169, Consolatio. 34 Vgl. hierzu bes. die Untersuchung von Ch. Favez, La consolation latine chrétienne. 35 Neben den entsprechenden Stellen bei Menander und Ps. Dionysios vgl. dazu bes. die reichen Hinweise und Zusammenstellungen in den in Anm. 21 genannten Arbeiten von EsteveForriol, Favez, Johann, Kassel, Lattimore, Lier, v. Moos, Soffel. Entsprechende breitere Ausführungen innerhalb der humanistischen und barocken Poetik und Rhetorik vor allem bei Birken, Donatus, J.A. Fabricius, Hallbauer, Kindermann, Omeis, Pontanus, Weise.
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Vorbild als in einem außerordentlich hohen Grade nach inventio und dispositio, nach Motiven und Bauschema von der antiken Überlieferung abhängig und damit als eine der am stärksten traditionsgebundenen Gattungen der Zeit. Dieser Befund, der, einmal ausdrücklich herausgearbeitet, schließlich gar nicht einmal so überraschend erscheinen mag, gibt gleichwohl zu einigen ersten Folgerungen Anlaß. Ganz offenkundig genügt es angesichts dieses Befundes nicht, die Epicediendichtung nur aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Barockzeit, aus den Wirkungen einer strengen Standesordnung herzuleiten, mögen solche Gegebenheiten auch den Boden für die Ausbreitung dieser Dichtung bereiten und ihre Ausformung im einzelnen mitbestimmen. Solche Herleitung wäre um so weniger ausreichend, als sich, wie das in den Poetiken erläuterte Schema zeigt, Absicht und Aufgabe des Epicediums nicht, wie man wohl leicht meint, in der öffentlichen Rühmung des Toten erschöpfen, sondern auch ebenso auf Klage und Trost erstrecken. Wenn sich vielmehr die Epicediendichtung so sehr ausbreitet, daß sie eine allmählich ganz alltägliche, überall geübte Erscheinung ist, daß sie in immer größer werdenden Gruppen in den Gedichtsammlungen der meisten Autoren auftritt und, zusammen mit anderen Formen von Leichengedichten, allenthalben in Einzeldrucken oder im Anhang zu den für die Zeit so bezeichnenden Drucken von Leichenpredigten,³⁶ wie man sie heute noch in umfangreichen Sammlungen wie der Stolbergschen³⁷ oder der der Universitätsbibliothek in Göttingen kennenlernen kann, auftaucht – dann ist das auch nur ein Teil des großen, seit der Renaissance unternommenen Versuchs, aus der Erneuerung und Wiederaneignung der Antike das eigene literarische Leben sehr kunstbewußt neu zu gestalten.³⁸ Diesen Versuch unternimmt die deutsche
36 Hinweise zu der im ganzen bisher nicht geschriebenen Geschichte der Leichenpredigten, Leichabdankungen und ihrer Drucke im 16.–18. Jh. bei Manfred Bunzel, Die geschichtliche Entwicklung des evangelischen Begräbniswesens in Schlesien während des 16., 17. und 18. Jh.s, Diss. (Mschr.) Breslau 1920 – Maria Fürstenwald, Andreas Gryphius, Dissertationes funebres. Studien zur Didaktik der Leichabdankungen, Bonn 1967 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissensch., Bd. 46), S. 7ff. – Hugo Grün, Die Leichenrede im Rahmen der kirchlichen Beerdigung im 16. Jh., in: Theolog. Studien u. Kritiken 96/97 (1925), S. 289–312 – Rudolf Mohr, Protestantische Theologie und Frömmigkeit im Angesicht des Todes während des Barockzeitalters hauptsächlich auf Grund hessischer Leichenpredigten, Diss. Marburg/ Lahn 1964, S. 14ff. – Wolfgang Reich, Die deutschen gedruckten Leichenpredigten des 17. Jh.s als musikalische Quelle, Diss. (Mschr.) Leipzig 1962, S. 1ff. – Eberhard Winkler, Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, München 1967 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, Reihe 10, Bd. 34). 37 Jetzt im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Zweigarchiv Schloß Kalkum. 38 Da es das neulateinische Epicedium schon vor dem 17. Jh. gibt und eine zunehmende Verbreitung der Leichenpredigt (s. Anm. 36) schon seit dem 16. Jh. zu beobachten ist, andererseits
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
Barockdichtung, später als die anderen nationalsprachlichen Literaturen und von ihrem Vorbild mit angespornt, vor allem im Gefolge der neulateinischen Dichtung und Poetik und im Sinne der von ihr beispielgebend vollzogenen Verbindung von Poesie und Rhetorik. Das Kühne dieses zu Beginn des 17. Jahrhunderts freilich schon für Europa nicht mehr neuen Versuchs und das für die deutsche Literatur dieses Augenblicks Neuartige spiegelt sich in der Begeisterung, mit der die literarisch Interessierten im frühen 17. Jahrhundert ihn überall aufnehmen, und klingt das ganze Jahrhundert hindurch nach in dem Gefühl der erreichten Erneuerung, das die Autoren erfüllt. In diesem Sinne geschieht auch die Übernahme des Epicediums, das, bei Weckherlin praktisch noch nicht vorhanden, bei einem frühen Barockdichter wie Plavius sich auch erst schüchtern anmeldend,³⁹ dann ganz parallel zur Entfaltung der gesamten barocken Literatur in Deutschland sich immer mehr verbreitet. Ehe man diese Gattung verachtet, weil zu viele Unbegabte sie auch aufgegriffen haben, sollte man sich das Eindrucksvolle des Vorgangs klarmachen: die Gesetze für Bau und Inhalt einer antiken literarischen Gattung werden nach anderthalb Jahrtausenden im Begräbnisgedicht und parallel dazu in der die Leichenpredigt ergänzenden Leichabdankung, der Danksagung an die Trauergäste, so wieder erneuert, daß sie für mehr als ein Jahrhundert die Art, in der das Begräbnis eines deutschen Bürgers begangen wird, mitprägen. Hier geschieht eine bemerkenswert praktische, lebendige, den Alltag formende Aneignung der Antike. Sie wird offenbar dadurch gefördert, daß die consolatio, die Tröstung, die eben ein gleich wichtiger Teil des Epicediums neben laudatio und lamentatio ist, einen gut christlichen Sinn gewinnen kann und dementsprechend auch im Gefolge der antiken Prosaconsolatio schon von den Kirchenvätern gepflegt worden ist, von denen
aber auch ganz andere Arten von Gelegenheitsdichtungen (insbesondere Hochzeitsgedichte) im 17. Jh. ebenso stark gepflegt werden, ist die auffällige Verbreitung des Epicediums sicherlich viel weniger durch die sonst feststellbare Bedeutung der Erfahrung des Todes für das Barock (vgl. André Chastel, Le Baroque et Ia Mort, in: Retorica e Barocco, Rom 1955, S. 33–46 – Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung, S. 189ff. – Friedrich-Wilhelm WentzlaffEggebert, Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jh.s, Leipzig 1931) als durch die Aneignung antiker literarischer Möglichkeiten und die Funktion bedingt, die ihnen bei ihrer Übertragung in das Medium der deutschen Sprache für die Gestaltung bestimmter Lebensereignisse gegeben wird. Auch die Blüte von Leichenpredigt und Leichabdankung hängt offenkundig eng mit der seit dem 16. Jh. zunehmenden Rolle der aus der Antike überlieferten Rhetorik zusammen. 39 Vgl. die verschiedenartigen Trauergedichte bei Georg Rudolf Weckherlin, Gedichte, hrsg. v. Hermann Fischer, Darmstadt 1968 (Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1894 bis 1895), Bd. 1, S. 229, 247, 426f., 437; Bd. 2, S. 271ff., 296, 297ff., 301, 304, 305, und bei Johannes Plavius, Trauer- und Treugedichte (1630), S. 104–122, in: Danziger Barockdichtung (s. oben Anm. 5), S. 43–164.
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Vossius in seiner Rhetorik im Abschnitt über die Consolatio sagt, daß sie diesen Gegenstand weit kräftiger behandelt hätten als die heidnischen Autoren.⁴⁰ Mit der Epicediendichtung zusammen aber ist die ganze Gelegenheitsdichtung des deutschen Barock wie schon der Neulateiner nicht ein zufälliges Produkt ihrer Zeit, nicht eine skurrile Randerscheinung, die allenfalls ihrer Verbreitung wegen als charakteristisch gelten mag, sondern sie ist ein ebenso zentrales wie nahezu zwangsläufiges Ergebnis der literarischen Bewegung des Humanismus und des Barock; sie ist, wie das Beispiel des Epicediums lehrt, eine durch die entschiedene Begründung der Dichtkunst in der Rhetorik bedingte Verwirklichung antiker Kunstlehren. Unter den drei genera orationum der antiken Rhetorik, dem genus iudiciale, dem genus deliberativum, dem genus ἐpideiktikὸn oder demonstrativum, ist letzteres, das genus der Prunk-, der Lob- und Tadelrede, dasjenige, in welchem vorzugsweise sich auch die Dichtung ansiedeln läßt und aus dem sie ihre inventiones und ihre dispositio abzuleiten hat.⁴¹ In den von der humanistischen und danach von der barocken Poetik übernommenen Lehren vom genus ἐpideiktikὸn und zumal in seiner späten Ausformung bei Ps. Dionysios und Menander fand man mit den Anweisungen zu Lob-, Hochzeits-, Geburtstags-, Geleit-, Trauer- und vielen anderen Reden auch die Anleitung für inventio und dispositio all jener Gelegenheitsgedichte, die eine Haupterscheinungsform humanistischer und dann auch barocker Dichtung sind. Der Versuch, Dichtung aus der Rhetorik heraus zu begründen – und dieses Zusammenhanges ist man sich auch im 17. Jahrhundert noch ständig bewußt gewesen⁴² –, bedeutet Entfaltung des genus ἐpideiktikὸn. Das aber führt zwangsläufig zur
40 G.J. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 396: „Sed gentiles mitto. Longè enim fortiùs hoc argumentum tractant Christiani doctores.” 41 Zur Nähe, die schon in der Antike zwischen dem genus demonstrativum der Rhetorik und der Dichtung entsteht, vgl. u. a. Burgess, a.a.O., S. 166ff., und Kennedy, a.a.O., S. 153. Zu entsprechenden Beziehungen auch im Mittelalter vgl. Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle 1928, S. 34ff. – Curtius, a.a.O., S. 163ff. – Annette Georgi, Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969 (Philol. Studien u. Quellen, Heft 48). 42 Zur Verknüpfung der Poetik mit der Rhetorik insgesamt vgl. bes. die näheren Hinweise bei Dyck, Ticht-Kunst, S. 25ff., und L. Fischer, Gebundene Rede, S. 22ff. Zur Beziehung im Bereich des genus demonstrativum vgl. als ausdrückliche Belege u. a. Conrad Dieterich, Institutiones Oratoriae, Jena 1630, S. 52f., wo zum genus demonstrativum neben verschiedenen Reden auch eine Reihe von poetischen Gattungen gerechnet wird – D. Richter, Thesaurus oratorius novus, 1660, S. 136f., und Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, 1643, Teil 1, S. 23, 412, wo die Zugehörigkeit der Leichenrede zum genus demonstrativum betont und zugleich mit dieser das Epicedium behandelt wird.
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Gelegenheitsdichtung,⁴³ die hier ihre entscheidende Grundlage hat und damit auch ein Teil der großen Auseinandersetzung mit der antiken Überlieferung ist, die mit der Renaissance in Gang gekommen ist und im 18. Jahrhundert dann auf andere Weise fortgesetzt wird. Daraus gewinnt die Gelegenheitsdichtung des Humanismus und des Barock ihre zentrale Rolle, nur von da her, nicht von modernen ästhetischen Erwartungen aus, ist sie angemessen zu verstehen. Und was an ihr so leicht als „schablonenhafte Ausführung“,⁴⁴ als unpersönlicher Formelkram mißverstanden wird, das ist die für die einzelnen Spielarten des genus ἐpideiktikὸn maßgebliche Topik,⁴⁵ die eine nach den Regeln der Rhetorik gearbeitete Dichtung, um kunstgerecht zu sein, gebrauchen muß, die man freilich sehr kunstvoll und sehr kunstlos verwenden kann. Der Gewinn, der für das Verständnis des barocken Epicediums aus seiner Konfrontierung mit den humanistischen und antiken Vorbildern und Voraussetzungen zu ziehen ist, reicht aber noch über die Einsicht in den in inventio und dispositio besonders traditionsgebundenen Charakter des Begräbnisgedichts und die Bedingungen, die es selbst wie die übrige Gelegenheitsdichtung entstehen lassen und rechtfertigen, hinaus. Wiederum ist es der für Humanismus und Barock bezeichnende enge Zusammenhang von Dichtkunst und Rhetorik, der dabei wichtig wird. Wenn Scaliger bei Erläuterung der einzelnen Teile des Epicediums unter anderem erklärt, daß das Epicedium zuweilen mit einem sanften und dem Gefühl der Trauernden angemessenen Proömion beginnen könne, wenn er fordert: „Iactura demonstratur suaui primùm, mox incitatiore narratione. in qua immoratio & amplificatio auget amissae rei desideriū. à qua parte statim luctus“ (S. 168) (Der Verlust wird zuerst durch eine gelinde, dann durch eine erregtere Erzählung gezeigt. Dabei vermehrt das Verweilen und Ausmalen die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Darauf folgt sofort die Bekundung der Trauer), wenn Scaliger dann feststellt: „Post haec est Cōsolatio aggredienda“ (Danach ist die Tröstung zu beginnen), – dann drängt sich der Eindruck auf, daß ihm dabei nicht eine mehr oder weniger zufällige Reihenfolge, sondern ein ganz bestimmter sinnvoller Zusammenhang der einzelnen Teile des Epicediums vor-
43 Dementsprechend groß ist der Raum, den sie in vielen Poetiken einnimmt, so bei Donatus, Pontanus, Scaliger, Birken, Hadewig, Kaldenbach, Kindermann, Männling, Omeis. 44 Vgl. Haller, Gelegenheitsdichtung, S. 548. 45 Bei Pontanus (Poeticarum Institutionum libri tres, S. 212ff.) etwa, der hier für die Trauerdichtung eine besonders genaue, nach Stand und sonstigen Umständen gegliederte Anweisung gibt, läßt sich sehr gut beobachten, wie es dabei eben nicht darum geht, in persönlicher Darstellungsweise individuelle Züge zu zeigen, sondern z. B. je nach Stand typische Tugenden, für die sich ganz bestimmte antike und biblische Exempla als Vergleichsfiguren anbieten, hervorzuheben, um gerade so des Toten angemessen zu gedenken.
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schwebt. Was sich hier andeutet, wird klarer in der fast anderthalb Jahrhunderte später, 1704 erschienenen Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Reimund Dicht-Kunst von Magnus Daniel Omeis, der, wie schon früher erwähnt, noch selbstverständlich das dreiteilige Schema des Epicediums vorträgt. Omeis führt dabei den zweiten Teil mit den bezeichnenden Worten ein „Hierauf folget (2) die Klage und Erweckung zur Traurigkeit“ (S. 173) und sagt im Zusammenhang mit den einzelnen Gesichtspunkten zur Ausführung dieses Teils: „Es kan auch der affect vermehret werden / wann man siehet auf die Zeit und Art des Todes ...“ (S. 174). Das Begräbnisgedicht hat also nicht nur die Klage, die ihrerseits, wie Birken in seiner Poetik eigens betont, aus den Tugenden und Sitten des Verstorbenen folgt,⁴⁶ zu bekunden, sondern es hat geradezu die Trauer wach- oder wieder wachzurufen,⁴⁷ die dann im letzten Teil durch den Trost gestillt werden soll. Die Quelle solcher Vorstellungen liegt wiederum in der spätantiken Rhetorik. Menander, der eindeutiger als Ps. Dionysios für die Grabrede einen Klageteil als unentbehrlich fordert, erklärt, daß der Redner dabei die Zuhörer bis zu Tränen zu rühren habe, um alsdann dem qrῆnoϛ die paramuqίa, den Trost folgen zu lassen.⁴⁸ Die Trauerrede wie das Epicedium haben es also mit der Erregung und Beschwichtigung von Affekten zu tun. Das wird möglich, weil die Rhetorik, die auch Voraussetzung des Epicediums ist, insgesamt seit je eng auf die Lehre von den Affekten bezogen, ja zu nicht unerheblichem Teil eine Anleitung zur Erre-
46 S. v. Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 226: „Die löbliche Tugenden und Sitten des Verstorbenen / ziehen notwendig eine Klage nach sich: weil man soviel treffliches an und mit ihm verlohren.“ Vgl. auch B. Kindermann, Der Deutsche Poët, S. 473f.: „Wir reitzen auch bey vornehmer gelehrter Leute Absterben Erstlich an / den Gott der Musen / daß Er den Todt des Verstorbenen bejammern helffe / (a) ingleichen / die ihm und seinen Töchtern geheiligte Brunnen / (b) so auch das gantze (c) Deutschland zur Zeit wol selbst / nicht minder die Stadt (d) in der Er gelebet / und dan auch (e) die Tugenden ... Darnach reden wir uns zu / und besänfftigen unser Gemühte / mit einem oder dem anderen Troste ...“ (das wird dann mit einer pindarischen Ode auf Harsdörffers Tod exemplifiziert). 47 Vgl. dazu im einzelnen z. B. die Art, wie in Trauergedichten – das steht in Zusammenhang mit der antiken Topik des Epicediums und der Consolatio (vgl. u. a. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 126ff., und v. Moos, a.a.O., Testimonienband, S. 49ff.) – die Trauernden zum Weinen und Klagen nachdrücklich aufgefordert oder ihre Traueraffekte und deren Äußerungen eindringlich beschrieben werden, so etwa bei Simon Dach, Gedichte, hrsg. v. Walther Ziesemer, Halle 1936–1938, Bd. 4, S. 258f., 326f., oder Johann Christian Günther, Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausg., hrsg. v. Wilhelm Krämer, Darmstadt 1964 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1930ff.), Bd. 5, S. 100f., 125f. 48 Menander, S. 421, Z. 10ff.: „... oἶkton kinῶn, eἰϛ dάkrua sugcέwn toὺϛ ἀkoύontaϛ. metὰ toῦto tὸ keφάlaion qήseiϛ keφάlaion ἔteron tὸ paramuqhtikὸn ...“; vgl. auch 413, Z. 21ff.
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gung oder zur Beschwichtigung der verschiedensten Affekte ist, die die Antike unterschieden hat und die man noch bis ins 17. Jahrhundert in engem Anschluß an die antiken Quellen erörtert.⁴⁹ Besonders stark auf die Affekte bezogen ist u. a. auch die mit Trauerrede und Epicedium in enger Beziehung stehende Gattung der Consolatio.⁵⁰ Vom Lob des Toten ausgehend den Affekt der Trauer zu erregen und dann im Trostteil abzufangen, das offenbar ist die Aufgabe des Epicediums, wie sie auch schon ein Autor wie Statius verstanden haben mag. Das Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung scheint das Formgesetz zu sein, das die einzelnen Teile des Epicediums zusammenhält und ihre Abfolge bestimmt.⁵¹ Es bestätigt sich in einem immer wiederkehrenden stilistischen Charakteristikum: in zahlreichen antiken, neulateinischen wie deutschen Beispielen setzt der Trostteil ein mit einer adversativen Partikel wie at, tamen, sed, doch, dennoch, aber.⁵² Das auch dadurch betonte große Gewicht, das der der Klage entgegengesetzte Trostteil besitzt, bestätigt, daß das Epicedium zu eng verstanden wird, wenn es vor allem als dem Zweck der Verherrlichung des Toten dienend angesehen und wenn daraus geradezu seine Beliebtheit abgeleitet
49 Vgl. dazu z. B. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 193–285 – Kindermann, Teutscher Wolredner, S. 38ff. – Chr. Weise, Politischer Redner, S. 888–925. Ein bedeutender Ansatz zur Auswertung von Affektenlehre und Rhetorik für das Verständnis barocker Lyrik liegt jetzt vor in E. Rotermunds Hofmannswaldau-Buch (vgl. oben Anm. 9). 50 Vgl. dazu bes. die in Anm. 21 genannten Untersuchungen von Johann und Kassel. 51 Esteve-Forriol hat, wenn er wiederholt von einer gedanklichen Spannung von Trauer und Trost (a.a.O., u. a. S. 46, 72, 111, 121) spricht, das Gesetz berührt, aber nicht genau genug bezeichnet und nicht hinreichend für das Verständnis der Texte genutzt. Kassel, a.a.O., S. 43 („Wie verträgt sich aber mit dem bewußten Erregen und Steigern des Jammers die ... vorgesehene Tröstung der Leidtragenden? ... in der Tat liegt bei Menander die Bruchstelle klar zutage ... Die Durchführung des rhetorischen Schematismus läßt ihn, unbekümmert um die Möglichkeit einer sinnvollen und natürlichen Verbindung, starr abgegrenzte Teile mit jeweils zugehöriger Topik aneinandersetzen“), verkennt das Gesetz, ebenso S.F. Witstein (s. oben Anm. 20), die zwar die drei Teile des Epicediums beachtet, aber ihre Reihenfolge für beliebig hält. 52 Vgl. z. B. Ovid, am. 3, 9 – Properz, eleg. 3, 18 – Statius, silv. 5, 3 (weitere antike Belege bei Esteve-Forriol, a.a.O., S. 124f.) – Eobanus Hessus, Epicedia, BI. D1v – Plavius, Trauer- und Treugedichte, S. 113, 115 – Martin Opitz, Deutsche Poëmata, Danzig 1641, S. 134 (Herrn David Rhenisches ... Grabelied) – Kaldenbach, Deutsche Grab-Getichte, Teil 1, Buch 1, S. 67, 119; Teil 2, Buch 3, S. 23, 30, 60 – Justus Georg Schottel, Fruchtbringender Lustgarte, hsrg. v. Marianne Burkhard, München 1967, S. 157 – Daniel Georg Morhof, Deutsche Gedichte (gedruckt als Anhang zu: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, Lübeck/Frankfurt 1700), S. 185 – J.Chr. Günther, Sämtl. Werke, Bd. 3, S. 179; Bd. 4, S. 11, 24; Bd. 5, S. 111; Bd. 6, S. 220 – ferner das oben zitierte Beispiel von Hadewig sowie die unten zitierten Texte von Dach, bei dem es zahlreiche weitere Belege gibt, und von Gryphius, bei dem übrigens auch in der Schlußszene des „Papinianus“ zweimal (v. 502, 531) ein entsprechendes, eine consolatio einleitendes „doch“ vorkommt.
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wird.⁵³ Vielmehr dürfte zur Rezeption der Gattung im Humanismus und besonders im Barock die über den Zweck der bloßen Verherrlichung hinausführende scharfe Entgegensetzung von Klage und Trost erheblich beigetragen haben, die sich, wie viele Beispiele lehren, vortrefflich auf den für jene Zeit sehr lebendigen christlichen Antagonismus von Zeitlichem und Ewigem beziehen läßt, so daß der Trostteil der am vergänglichen Irdischen haftenden Trauer die einzig rechte, auf das Ewige gerichtete Betrachtungsweise eindrücklich entgegenhält und das Formgesetz des Epicediums damit auf neu belebte Weise erfüllt wird. In dem das Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung fordernden Formgesetz des Epicediums ist einmal etwas von verborgenen Strukturprinzipien einer dem heutigen Leser nur schwer zu erschließenden Literatur zu ahnen, ja etwas vom ästhetischen Empfinden einer vergangenen Zeit, des 16. und 17. Jahrhunderts und vielleicht gar der ausgehenden Antike. Es geht wohl, obgleich dem historischen Verstehen hier gewiß enge Grenzen gezogen sind, die Vermutung nicht zu weit, daß die ästhetische Befriedigung der zeitgenössischen Leser oder Hörer eines Epicediums auf der von ihnen wahrscheinlich sehr viel stärker empfundenen Spannung von Affekterregung und Affektstillung beruht haben muß und daß im Grade dieser Spannung für sie ein Kriterium der Wertung bestanden haben mag. Jedenfalls aber macht das aus verstreuten Hinweisen erschlossene Formgesetz des Epicediums – und damit wird die aus dem Zusammenhang mit dem genus ἐpideiktikὸn gewonnene Rechtfertigung der ganzen Gelegenheitsdichtung ergänzt – bewußt, wie sehr auch noch im 17. Jahrhundert Lyrik nicht nur noch nicht darauf aus ist, eigenes Gefühlserleben des Dichters unmittelbar auszudrücken, sondern wie sehr sie solche Möglichkeit noch gar nicht sieht. Wo Lyrik noch so gar nicht monologisch ist, wo sie vielmehr, im Zusammenhang mit ihrer Bindung an die Rhetorik, mit einem Leser oder Hörer rechnet, auf den sie wirken will, da ist selbst solche Gelegenheitsdichtung grundsätzlich möglich und gerechtfertigt, die, wie es mannigfach geschieht, im Auftrag anderer entsteht.⁵⁴ Man könnte so geradezu vom Epicedium und der übrigen, zumeist
53 Solche Auffassungen begegnen etwa in den Arbeiten von Hertel, Chr. Ruckensteiner und E. Springer (vgl. oben Anm. 5 bzw. 20), andeutungsweise auch bei Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s, S. 286. 54 Dem könnte höchstens der alte Grundsatz der Rhetorik entgegenstehen, daß der Redner das selbst empfinden müsse, was er im Hörer hervorrufen will (vgl. dazu Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, S. 275f. – s. auch Horaz, de arte poetica, v. 102–103 – für das 17. Jh. z. B. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 285: „in ciendis affectibus caput [est], ut orator priùs eo affectu commoveatur, ad quem alium vult adducere“). Das würde aber im 17. Jh. nur bedeuten, ob der Verfasser eines Gelegenheitsgedichts hinreichend imstande gewesen ist, durch entsprechende Vorstellungen den geforderten Affekt in sich her-
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in falschen Alternativen allzu leicht mißachteten Gelegenheitsdichtung aus den Unterschied zwischen der im 18. Jahrhundert entstehenden, bis heute vielfach allein als lyrisch geltenden Lyrik und dem, was im Barock und zuvor Lyrik ist, entwickeln als den Unterschied zwischen einer auf Ausdruck von individuellem Gefühl bedachten und einer auf Weckung von allgemein gültigen Affekten durch beschreibende Nachahmung von Affekten zielenden Dichtung.⁵⁵ Was bis hierher an Einsicht in die Eigenart des barocken Epicediums aus seinem Zusammenhang mit dem humanistischen Vorbild und dessen antiken Ursprüngen gewonnen ist, das gibt freilich nur die Übereinstimmung mit einer langen Tradition, die enge Bindung an sie, die lange Zeit unveränderte Gültigkeit der aus der Antike sich herleitenden Gesetze einer ganz und gar traditionellen Gattung zu erkennen. Dazu wäre dann höchstens noch festzustellen, daß, wenn nicht die lückenhaftere Überlieferung der antiken Literatur täuscht, das Epicedium in Humanismus und Barock sehr viel verbreiteter, damit alltäglicher und nachahmender wird, während demgegenüber den antiken Beispielen, die eine sich erst mit ihnen vollziehende Entwicklung bis zu dem für spätere dann maßgeblich gewordenen Typus bei Statius erkennen lassen, eher das Signum des Ursprünglichen zukäme – mit den Augen des 16. und 17. Jahrhunderts betrachtet kein Kriterium höheren Wertes. Über solche Differenz hinaus drängt sich aber angesichts des bisher erhobenen Befundes doch die Frage auf, ob denn sonst keinerlei historische und individuelle Unterschiede innerhalb der offenkundig so stark traditionsgebundenen Gattung des Epicediums festzustellen seien. Solche Unterschiede lassen sich in der Tat beobachten, und sie lassen sich mit Hilfe eben jener Aspekte beschreiben, an denen auch die Traditionsgebundenheit der Gattung in Erscheinung tritt.
vorzubringen. Im 18. Jh. entzündet sich dann allerdings u. a. gerade an diesem Grundsatz die Frage nach Wahrheit oder bloßer Nachahmung der Gefühle und damit die Abwendung von der rhetorisch begründeten Lyrik (vgl. z. B. Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgew. Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 993, Gedanken über die Natur der Poesie; S. 1009, Von der heiligen Poesie; S. 1035, Von der Darstellung). 55 Damit ließe sich die vorsichtig auf den Begriff einer nicht-lyrischen Lyrik sich zurückziehende Verteidigung der vor dem 18. Jh. entstandenen Lyrik durch Conrady (Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jh.s) gegen Staigers Einengung sehr viel positiver führen. Auch die Hinweise, die Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, Hamburg 1949, in den Kapiteln über das 17. u. 18. Jh. zur Entwicklung der Lyrik gibt, ließen sich von hier aus und überhaupt von einer entschiedener über die elocutio hinaus auf die Bereiche der inventio und dispositio ausgedehnten Beachtung der Rhetorik aus noch genauer fassen und ergänzen.
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Das Epicedium, so hat sich gezeigt, ist, wie andere in der Rhetorik begründete Gattungen auch, als Gattung durch zwei Aspekte bestimmt: durch die ihm zugehörige dispositio und inventio, durch sein Bauschema also, seine Teile und deren Abfolge, die sich als durch das Formgesetz des Gegenspiels von Affekterregung und Affektstillung bestimmt erweisen, und durch den jenen Teilen zugeordneten Bestand an Topoi. Aus ihnen aber, zumal aus den Trostgründen, kann eine sehr verschiedenartige Auswahl getroffen werden, sie können sehr verschiedenartig ausgestaltet und miteinander verknüpft werden; jenes Bauschema läßt sich mit ihnen sehr unterschiedlich verwirklichen, seine Teile lassen sich in ein sehr verschiedenartiges Verhältnis zueinander bringen und können unterschiedliches Gewicht im Ganzen gewinnen, jene Spannung von Affekterregung und Affektstillung läßt sich verschieden stark ausprägen und unterschiedlich auslegen. Solche Möglichkeiten der Differenzierung können sich verstärkt dort auswirken, wo die Erneuerung der antiken Gattung in einer durch das Christentum veränderten Umwelt geschieht und damit teilhaben muß an der auch sonst die europäische literarische Entwicklung immer wieder befruchtenden Auseinandersetzung zwischen antiker und christlicher Überlieferung. Die Zahl der möglichen Trostgründe etwa wird erweitert, die Art ihrer Anwendung verändert durch die christliche Überlieferung, die schon in der Spätantike zur Erneuerung und Verwandlung der Prosaconsolatio durch die Kirchenväter führt.⁵⁶ Andererseits fallen mit veränderten Begräbnissitten die Beschreibung der Bestattungsfeierlichkeiten und dazu gehörige Verheißungen der künftigen Pflege des Grabmals, die im römischen Epicedium breiteren Raum einnehmen, fort oder werden höchstens in rudimentären Floskeln mitgeschleppt.⁵⁷ Auch das Publikum, auf das das Epicedium mit seiner Spannung von Affekterregung und Affektstillung bezogen ist, ist für das neulateinische Epicedium ein anderes als für das antike und für das barocke Epicedium ein anderes als für das neulateinische und muß mit solchen Unterschieden die Anwendung der Möglichkeiten von inventio und dispositio beeinflussen. So werden im Bereich von inventio und dispositio, so sehr darin gerade stets die überlieferten festen Gesetze des Epicediums erfüllt werden, doch durch die unterschiedliche Art dieser Erfüllung historische und individuelle Unterschiede
56 Vgl. die schon mehrfach angeführte Untersuchung von Ch. Favez. 57 Vgl. z. B. Dach, Gedichte, Bd. 4 , S. 278 – Opitz, Deutsche Poëmata, S. 132 – Paul Fleming, Deutsche Gedichte, hrsg. v. J.M. Lappenberg, Darmstadt 1965 (Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1865), Bd. 1, S. 250, 252 (zu den antiken Belegen vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 144ff., 153).
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in der Handhabung der Gattung möglich und feststellbar, und sie lassen sich angemessen beschreiben, wenn man die Texte eben von den beiden von der zeitgenössischen Poetik an die Hand gegebenen Aspekten der inventio und dispositio aus betrachtet, in denen die starke Traditionsbindung der Gattung beruht. In der Erfüllung der traditionellen Forderungen von inventio und dispositio, durch die nach der Auffassung der zeitgenössischen Poetik die einzelne Gattung konstituiert wird, lassen sich so gattungsspezifische Kriterien finden, die es erlauben, über die Fragen des Sprachstils und vor allem der Bildlichkeit hinaus, die zu dem die einzelnen Gattungen stärker übergreifenden Bereich der elocutio gehören, die individuelle Art und Leistung neulateinischer und barocker Dichter zu beurteilen und damit auch die schon von Zeitgenossen gefällten Urteile in sachgerechter Weise zu überprüfen. Vom antiken Epicedium ist schon das neulateinische,⁵⁸ so sehr es zwangsläufig jenem im Medium derselben Sprache nahesteht, unterschieden unter anderem in Hinsicht auf Publikum und Anlaß. Da das Publikum des neulateinischen Epicediums weder so privat ist wie die Empfänger antiker Epicedien, noch, bei aller Öffentlichkeit, so unmittelbar angesprochen wird wie meistens das aus den Angehörigen und Mitbürgern bestehende Publikum des späteren deutschen Epicediums, sondern sich in dem begrenzteren, aber weit verstreuten Kreis der vielfach untereinander in literarischer Verbindung stehenden Humanisten findet, und da das neulateinische Epicedium vor allem durch den Tod von Männern, die in diesem Kreis oder in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, und durch die Absicht ihrer Würdigung vor Mit- und Nachwelt veranlaßt wird,⁵⁹ herrscht hier der Typus vor, der von der öffentlichen Grabrede herkommt, wie sie unter anderem Ps. Dionysios von der privaten unterscheidet,⁶⁰ und bei dem die laudatio sehr breiten, die consolatio hingegen sehr viel knapperen Raum ein-
58 Einen guten Überblick über neulateinische Epicedien und sonstige Trauergedichte geben die Sammlungen „Delitiae Poetarum Germanorum Huius Superiorisque Aevi illustrium« (6 Bde., Frankfurt 1612) und „Triumphus Poeticus Mortis, Hoc est, Selectißima Carmina In Obitum (1.) Omnium Ferme Imperatorum, (2.) Quam plurimorum Regum Sacrorum ... (3.) nec non Electorum, Ducum & Principum ... (4.) ut & Comitum ... (5.) Et denique Baronum ... Ex Optimis Totius Europae Poetis conquisita ... studio Matthaei Turnemainni“ (Frankfurt 1624). 59 Bezeichnend dafür die Sammlung „Triumphus Poeticus Mortis“ (s. Anm. 58), die Trauergedichte allein auf hohe Standespersonen enthält, oder die Epicediensammlung von Eobanus Hessus, die u. a. Gedichte auf Friedrich von Sachsen, Albrecht Dürer, Mutianus Rufus, Ulrich von Hutten, Johannes Reuchlin, Willibald Pirkheimer umfaßt. 60 Dionysius Halicarnaseus, S. 25f.; dazu Kassel, a.a.O., S. 40f.
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nimmt.⁶¹ Es hängt damit auch zusammen, daß im neulateinischen Epicedium wie die antike Mythologie so auch die ursprünglich antiken Trostgründe⁶² – darunter besonders oft der Gedanke des Fortlebens durch dauernden Ruhm – stark hervortreten und gegenüber den eigentlich christlichen überwiegen; die barocke deutsche Epicediendichtung hingegen, in jedermanns Sprache, nicht in der einer stilisierten Bildungswelt geschrieben, weiß sich selbstverständlich gehalten, in einer christlichen Umwelt kräftig christlichen Trost zu spenden. Freilich läßt sich zugleich beim neulateinischen Epicedium ebenso wie auch sonst bei der neulateinischen Literatur beobachten, daß sie zwar einerseits dank dem ihr möglichen unmittelbaren Anschluß an die Antike mindestens der frühen barocken Dichtung an stilistischer und geistiger Kraft und Eleganz überlegen ist, daß sie andererseits aber, da sie in jenem gleichbleibenden Medium der lateinischen Sprache keinem Zwang zu produktiver Auseinandersetzung und Entfaltung ausgesetzt ist, sehr viel stärker beim Nachsprechen der Muster verharrt und viel weniger zu individueller Differenzierung kommt. Demgegenüber wirken sich die in der Gattung selbst beschlossenen Möglichkeiten der Differenzierung in der deutschen Barockdichtung, zumal hier die Frage nach dem angemessenen Versmaß gegenüber den antiken Distichen und Hexametern hinzukommt, sehr viel stärker aus. Das soll etwas eingehender an drei Beispielen und zuletzt an einem Ausblick auf das Ende der Gattung in der deutschen Literatur gezeigt werden. Die drei Beispiele, die zugleich die Auswirkung verschiedener Vers- und Strophenformen auf das Epicedium zeigen, stammen von Autoren, deren Anfänge gleichermaßen in der Frühzeit der deutschen Barockdichtung liegen, die aber gleichwohl die Möglichkeiten des Epicediums sehr verschieden sich angeeignet und ihm in ihrem Werk recht unterschiedlich viel Raum gegeben haben.
61 Das ist gewiß der Grund für die u. a. wiederholt bei E. Springer, a.a.O., S. 36, 261, 325, 525 (vgl. auch oben Anm. 53) anzutreffende irrige Meinung, daß Ruhm allein der eigentliche Sinn des Epicediums sei. – Es wäre übrigens im Blick auf die gesamte neulateinische Trauerdichtung zu fragen, wieweit sich in ihr nicht aus einer humanistischen Betonung des Ruhmgedankens im Vergleich mit der deutschen Barockdichtung eine anscheinend vorhandene stärkere Pflege des inschriftartigen Epitaphiums und eine gewisse Bevorzugung vor dem Epicedium begreifen läßt. 62 Deren Vorwalten hat mit Erstaunen schon E. Springer, a.a.O., S. 77, bemerkt, ohne es sich jedoch erklären zu können.
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Das erste Beispiel ist ein Lied von Simon Dach: „Trost-Schrifft. 1
HOchEdler Herr, wie haben Doch Ewres glückes Gaben So bald sich umbgewandt! Wahrt Ihr der Liebsten wegen, Die jetzund schon erlegen, Für selig nicht erkant?
2
Was Ihm wünscht ein Gemüte, Ein Adelich Geblüte, Vnd die mehr edle zier Der hochbegabten Tugend, Zucht, Schönheit, Pracht der Jugend, Das alles war bey Ihr.
3
Wer weis gnug zu erheben Die Gottesfurcht, jhr Leben? Wer des Verstandes Licht, Das Glück in gutten Tagen Vnd bösen gleich zu tragen, Das Männern offt gebricht?
4
Wie aber auserlesen Sie immer Euch gewesen, So ist Sie doch davon, Sie must’ Euch nur erkalten, Die jederman gehalten Für Ewrer Tugend Lohn.
5
Es pflegen Glückes-Sachen Was anders nie zu machen, Wir legen Bräut’ vns zu, Vnd wollen Kinder ziehen, Bald heist der Todt vns fliehen, Vnd raubt vns alle Rhue.
6
Thut weh, Herr, ewrem Hertzen, Recht, daß jhr so auff Schmertzen Vnd klagen Euch befleist, Der ist von Bley und Steinen, Der ewer Leid vnd Weinen In dem fall Vnrecht heist.
Das barocke Epicedium
7
Kann ich doch Liesken sehen Bey Ihrem Tode flehen, Betrübet Domnaw stehn, Ja man kann Püsch vnd Awen Im Trawer-Kleide schawen, Die Heerden ängstig gehn.
8
Last aber Euch das grämen Nicht allen Trost benehmen, Kein Kummer, kein beschwer, Den jemand möcht’ erzwingen, Taug Ewer Lieb zu bringen In dieses Elend her.
9
Was Erd ist wird begraben, Die Seele steht erhaben Hoch vber Welt vnd Todt, Hört von den edlen Ahnen Zur Frewde sich anmahnen, Vnd weis von keiner Noht.
10
Ihr sencket Ihre Glieder Gantz Adelich ja nieder, Was kann nach Ewer Pein Wol mehr Ihr wiederfahren? Es wird nach wenig Jahren Vmb vns nicht besser seyn.“⁶³
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Dieses Lied ist ein nach den Regeln gebautes typisches Epicedium, wie es deren zahllose im Werk Dachs gibt, das fast zur Hälfte aus Begräbnisliedern besteht. Die erste Strophe ist ein Proömion, das den Trauernden anredet und einleitend den erlittenen Verlust bezeichnet, Strophe 2 und 3 bieten in knapper, allgemeingehaltener Form eine laudatio der Toten, Strophe 4 und 5 leiten, die laudatio zunächst noch aufnehmend, als eine Art von iacturae demonstratio zum Klageteil über, wobei die zweite dieser Strophen das in der ersten vom konkreten Anlaß Gesagte als Exempel allgemeiner Bedingungen und Erfahrungen des menschlichen Daseins ausdeutet. Die nächsten beiden Strophen stellen den eigentlichen Klageteil dar, bestehend zunächst aus der Billigung der Trauer des Witwers und der Begründung solcher Billigung durch Kennzeichnung jeglicher Mißbilligung der Trauer als unmenschlich und, in der zweiten der beiden Stro-
63 Dach, Gedichte, Bd. 3, S. 99–100; in den Anmerkungen wird (S. 473) der Titel vollständiger zitiert: Trost-Schrifft an Hn. Johann Albrecht von Lesgewangs, den Herrn Witwer.
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
phen, aus der Benennung von mittrauernden Zeugen in der Natur. Danach setzt, in gattungstypischer Weise in der ersten Zeile durch ein „aber“ eingeleitet, der Trostteil ein, der die letzten drei Strophen umfaßt. Auch er ist deutlich in sich gegliedert. Strophe 8 argumentiert mit der Vergeblichkeit der Trauer, die die Tote nicht zum Leben zu erwecken vermag. Strophe 9 setzt dem Los des verweslichen Körpers das der unvergänglichen Seele entgegen und, in chiastischer Stellung angeschlossen, der himmlischen Freude die von der Toten verlassene irdische Not. Strophe 10 endlich, an die vorige anknüpfend, konfrontiert das Glück der Toten mit der Trauer der Hinterbliebenen als dem letzten Leid, das der Toten angetan wird, und diese letzte Strophe endet damit, daß sie, in gewisser Entsprechung zur fünften Strophe, den einzelnen Todesfall auf die allgemeine Sterblichkeit bezieht und diese als abschließendes letztes Trostargument verwendet. Der Überblick über die im Epicedium erforderlichen Teile, die alle in Dachs Lied vorhanden sind, führt zugleich bereits darauf hin, wie diese Teile im einzelnen gänzlich mit durchaus typischen, aus alter Überlieferung stammenden Lobgründen, Klagemotiven und Trostargumenten gefüllt werden, die in ihrer genauen Bedeutung und ihrem Zusammenhang dem heutigen Leser zuweilen erst aus der Kenntnis der Tradition begreifbar werden, da der Dichter, der jene Tradition selbstverständlich voraussetzen kann, sie gelegentlich in sehr knapper Form bietet. So steckt in der letzten Strophe von Dachs Lied zunächst ganz verkürzt das, was in römischen Epicedien viel breiteren Raum einnimmt: die Schilderung der Bestattung, mit der dem Toten alle erforderliche Ehre angetan worden ist. Sie dient dann in v. 3 und 4 als Voraussetzung für das nächste Argument zur Abmahnung von der Trauer, das, bei Dach etwas verwirrend umschrieben, in der Tradition dahin lautet, daß die Klage der Hinterbliebenen dem Toten, der selig ist, nur Schmerz bereiten wird. Bei Statius beispielsweise heißt es in der Consolatio ad Flavium Ursum (silv. 2, 6, v. 96): „quid caram crucias tam saevis luctibus umbram“ (Was peinigst du den lieben Schatten mit so wilder Trauer?). Schließlich folgt bei Dach als letztes Argument der Hinweis auf die allgemeine Sterblichkeit, der bei Statius im Epicedium auf Glaucias (silv. 2, 1, v. 218–219) lautet: „ibimus omnes, ibimus“ (alle gehen wir dahin, alle), bei Properz (3, 18, v. 22): „Est mala, sed cunctis ista terenda via est“ (schlimm ist der Weg, und doch muß ihn ein jeder begehn)⁶⁴ oder in der anonymen Consolatio ad Liviam (v. 357–360):
64 Übersetzung nach: Properz, Elegien, hrsg. u. übers. v. Wilhelm Willige, 2 München 1960, S. 185.
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„Fata manent omnis, omnis expectat auarus Portitor et turbae uix satis una ratis. Tendimus huc omnes, metam properamus ad unam, Omnia sub leges mors uocat atra suas.”⁶⁵
(Das Geschick eines jeden ist bestimmt, der auf jeden begierige Fährmann wartet, und kaum ist eine Fähre genug für solche Menge. Wir gehen alle dahin, wir eilen alle zu einem Ziel, alles ruft der schreckliche Tod unter seine Gesetze.) Wie diese eine, so sind auch alle anderen Strophen in Dachs Lied erfüllt von der überlieferten Topik der Laudatio, der Consolatio, des Epicediums, lassen sich darauf zurückführen; zu allen Einzelheiten lassen sich die Parallelen aus der antiken und ebenso aus der humanistischen Literatur beibringen.⁶⁶ Obgleich Dachs Lied so das Formgesetz des Epicediums bis in alle Einzelheiten hinein sehr getreu erfüllt, ist es von einem Beispiel wie dem früher zitierten Lied Hadewigs, dem es in der der Liedform angemessenen Einfachheit des Stils verwandt ist, doch deutlich unterschieden. Es gewinnt dadurch ausgeprägtere literarische Qualität, daß es die Gesetze des Epicediums auf überlegtere, wirksamere, die Einzelheiten enger zusammenschließende Weise erfüllt und damit eine durchgehende thematische Linie ausbildet. Hadewig reiht lediglich die einzelnen erforderlichen Teile und Topoi locker aneinander. Bei Dach hingegen stellt sich ein engerer Zusammenhang am auffälligsten dadurch her, daß Strophe 5 und 10 gleichermaßen den einzelnen Todesfall als Exempel der allgemeinen Sterblichkeit erläutern und dies in sehr persönlicher Weise tun, indem sie aus der Anrede an den trauernden Witwer heraustreten, von einem „wir“ her sprechen und so die allgemeine Erfahrung auf die Gesamtheit der Mittrauernden beziehen. Die Korrespondenz, die damit zwischen zwei Strophen des Liedes besteht, besitzt ihre Bedeutung für das Ganze dadurch, daß diese beiden Strophen an besonderer Stelle des Gedichts stehen: sie schließen die erste und die zweite Hälfte des Liedes ab. Sie stehen aber zugleich auch im Blick auf das Bauschema des Epicediums und auf dessen Teile nicht an beliebigen Stellen.
65 Poetae Latini Minores, hrsg. v. Aemilius Baehrens, Bd. 1, Leipzig 1879, S. 117. 66 So enthalten z. B. die Strophen 2 u. 3 übliche Topoi des Enkomions, wie sie in den Schriften zur Rhetorik bei Behandlung des genus demonstrativum angeführt werden: Herkunft, Tugenden, Schönheit, jugendliches Alter, Sitten (vgl. dazu Belege aus der römischen Dichtung bei Esteve-Forriol, a.a.O., S. 131ff.). Vgl. ferner u. a. zu Str. 4 (die Vortrefflichkeit der Toten konnte ihren Tod nicht hindern): Esteve-Forriol, S. 137 – Str. 5 (Allgemeinheit des Todes): Esteve-Forriol, S. 150 – Str. 6 (Billigung der Trauer, Grausamkeit einer Verwerfung der Trauer): EsteveForriol, S. 127f. – Str. 7 (trauernde Ortschaften, mittrauernde Zeugen in der Natur): Esteve-Forriol, S. 147, 160 – Str. 8 (Trauer kann die Tote nicht zurückbringen): Esteve-Forriol, S. 150 – Str. 9 (die Tote im Jenseits, von Verwandten begrüßt, frei von aller Not): Esteve-Forriol, S. 147f., 152.
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
Strophe 5 steht am Ende der an die laudatio anschließenden, sie zunächst noch teilweise aufnehmenden und zum eigentlichen Klageteil überleitenden iacturae demonstratio; diese Strophe setzt, indem die laudatio und die aus ihr spürbare Größe des Verlusts so ausdrücklich in die Erkenntnis der Beispielhaftigkeit des Falles hinübergeleitet wird, das Vorzeichen, unter dem die folgende Klage sich entfaltet. In Strophe 10 steht der Hinweis auf die allgemeine Vergänglichkeit am Ende der consolatio, er steigert und schließt damit die Reihe der durch drei Strophen hindurchgeführten Trostargumente. Zweimal, in der Mitte und am Ende des Lieds, an Stellen, die vom Ganzen des Gedichts her wie von seinen Teilen aus betrachtet besonders hervorstechen, mündet der Lauf der Strophen in die aus der Haltung der persönlichen Teilnahme heraus gesprochene Feststellung der Allgemeingültigkeit dessen, was das Gedicht veranlaßt, und der exemplarischen Bedeutung des Einzelfalls. Zweimal wird die Affekterregung, die das Gedicht zunächst mit der laudatio, dann mit der lamentatio hervorruft, so aufgefangen. Diese das Gedicht in zwei Hälften teilende Gliederung überlagert jene, die sich aus den üblichen Teilen des Epicediums ergibt. Diese Teile bestehen hier aus nicht allzu großen, wirksam gegeneinander abgestuften Strophengruppen. Nach der als Proömion fungierenden ersten Strophe folgen zwei Strophen laudatio, vier Strophen lamentatio unter Einschluß der iacturae demonstratio und drei Strophen consolatio. Danach steht umfangmäßig die lamentatio im Mittelpunkt, während die consolatio knapper zwar als die lamentatio, aber breiter als die laudatio ist. Da sich andererseits innerhalb der lamentatio ein erster Teil, eine iacturae demonstratio (in Strophe 4 und 5), die auch noch Züge der laudatio fortführt, abhebt und um so mehr abhebt, als an ihrem Ende jener das Lied zugleich in zwei Hälften teilende Einschnitt durch die verallgemeinernde Strophe 5 liegt, läßt sich die Gliederung durch die Teile des Epicediums auch so verstehen, daß nach der einleitenden Strophe drei Gruppen von je zwei Strophen mit laudatio, iacturae demonstratio und lamentatio folgen und damit ein besonderes Schwergewicht bei der abschließenden consolatio mit ihren drei Strophen liegt. So wird das Verhältnis der Teile des Epicediums zueinander, wird ihre Abgrenzung gegeneinander von der gleichzeitigen Teilung des Liedes in zwei Hälften aus mehrdeutig. Die Klage wird, noch ehe sie in Strophe 6 richtig einsetzt, schon besänftigt durch die vorangehende Verallgemeinerung des betrauerten Falls, und auch der an sich durch das gattungstypische „aber“ am Beginn von Strophe 8 markierte Einschnitt, der Umschwung von lamentatio zu consolatio ist dadurch schon vorweg gemildert. Indem das dem Epicedium eigene Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung so überlagert und gedämpft wird von der zweimaligen, eine andere Gliederung markierenden Hinführung zur Mäßigung in der Erfahrung der Allgemeingültigkeit des Todes, wird die Haltung einfacher Ergebung, die hier nicht einmal ausdrücklich christlich begründet, aber aus
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christlicher Überlieferung gewonnen ist, zum bestimmenden Merkmal dieses Epicediums, das daraus seinen Zusammenhalt gewinnt. Dieses Lied, das das Formgesetz des Epicediums auf selbstständige Weise erfüllt, indem es dieses Formgesetz variiert und seine Spannung damit dämpft, ist für Dach in dem besonderen Sinne bezeichnend, daß es eine mittlere Ebene seiner Möglichkeiten vertritt. Es gibt, wenngleich seltener, Stücke, die noch schärfer ausgeprägt sind, so das früheste Epicedium Dachs,⁶⁷ das an Krankheit und Tod des Gestorbenen die Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns, das im Tod endet, darstellt und dann die Grundspannung des Epicediums in großangelegter Gegenbewegung so auslegt, daß alles unter dem verwandelnden Blickpunkt der Ewigkeit gänzlich anders erscheint. Aber es gibt daneben auch sehr viel einfachere, durchschnittlichere Stücke bei Dach, in denen sich nur schwer etwas anderes als eine zwar korrekte, aber doch nur recht mechanische Erfüllung der Gesetze des Epicediums feststellen läßt. Eine der Ursachen dafür ist die von Dach bevorzugte Liedform. In ihr kann sich, da Dach im Sinne der zeitgenössischen Poetik jede der im Umfang begrenzten Strophen als eine abgeschlossene Einheit behandelt und jedes Strophenenjambement streng vermeidet,⁶⁸ nicht leicht ein übergreifender Zusammenhang der Strophen und damit eine bestimmende thematische Linie entwickeln, zumal wenn die Verse, wie es überwiegend der Fall ist, ähnlich kurz sind wie in dem vorher analysierten Beispiel und damit kurzatmiger als die Distichen oder Hexameter der römischen und neulateinischen Epicedien oder die ihnen am nächsten stehenden Alexandriner anderer deutscher Epicedien, eine Versform, die sich bei Dach nur selten findet. Der Seltenheit des sonst für die barocke Dichtung so charakteristischen Alexandriners aber bei Dach entspricht die Zurückhaltung des Autors in der Anwendung rhetorischer Stilmittel, die gerade einer so sehr auf den Zusammenhang von Dichtkunst und Rhetorik und deren Wirkung auf die Affekte gegründeten Gattung wie dem Epi-
67 Dach, Gedichte, Bd. 3, S. 3–5: Auff Herrn Hans-Ernst Adersbachen kläglichen vnd früezeittigen zwar jedoch seeligen Abschied. 68 Zu dieser für die Liedform sich ohnehin aufdrängenden, aber von der Barockpoetik, nicht zuletzt im Gedanken an eine mögliche Komposition der Texte, immer wieder besonders nachdrücklich erhobenen Forderung vgl. u. a. Augustus Buchner, Anleitung zur deutschen Poeterey / Poet, hrsg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1966 (Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1665. Dt. Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 5), S. 165. – Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, S. 171f. – Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter, Darmstadt 1969 (Nachdr. d. Ausg. Nürnberg 1648ff. ), Teil 1, S. 119 – Männling, Der Europaeische Helicon, S. 148 – Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Leipzig 1688, Teil 1, Bl. C 2rf., D7v – Titz, Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Bl. N3v – Philipp von Zesen, Sämtl. Werke, Bd. 9, Deutscher Helicon (1641), hrsg. v. Ulrich Maché, Berlin/New York 1971 (Ausgaben dt. Literatur des XV. bis XVIII. Jh.s), S. 59.
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cedium wohl anstehen. Beides, das Vorherrschen der Liedform wie das Zurücktreten rhetorischer Stilmittel zeigt, daß Dach, so sehr er sich rühmte, in seiner Heimat die neuen, besonders von Opitz eingeleiteten literarischen Bestrebungen eingeführt zu haben, doch viel weniger vom humanistischen neulateinischen Vorbild geprägt ist als andere Dichter der Zeit und viel stärker in einer anderen Tradition, nämlich in der des geistlichen Liedes des 16. Jahrhunderts, wurzelt. Von dieser Grundlage aus versucht er die Eindeutschung des Epicediums. Man kann eine fast rührende Bemühung feststellen, die Gesetze der Gattung genau zu befolgen, und so findet man bei Dach die ganze Vielfalt ihrer möglichen Spielarten, abgestimmt je auf die Besonderheiten des einzelnen Falles.⁶⁹ Das spiegelt sich in den Titeln, die zumeist von dem Teil des Epicediums – Lob, Klage, Trost –, der gemäß jenen Besonderheiten das Hauptgewicht hat, abgeleitet sind.⁷⁰ Das macht begreiflich, daß Kaldenbach in seiner Poetik vor allem bei Dach seine Beispiele finden konnte. Doch Dachs Epicediendichtung zeigt bei aller Vielfalt zugleich, welche Grenzen die Liedform, die auch bei einem sonst oft andersartigen Autor wie Fleming das Epicedium stilistisch in die Nähe Dachs rücken läßt, der Aneignung der Gattung setzt, die denn auch im Lauf des 17. Jahrhunderts sehr viel mehr in stärker rhetorisch gearteten Formen wie der pindarischen Ode und dem Alexandrinergedicht sich entfaltet. Dachs eigentliche Bedeutung aber, die ihm die Schätzung seiner Zeitgenossen, darunter Andreas Gryphius,⁷¹ eintrug, liegt, soweit es um den Bereich der Begräbnisdichtung geht, um jener
69 Zu den aus der rhetorischen Lehre vom aptum sich ergebenden und dementsprechend z.T. auch schon bei Menander und Ps. Dionysios ausdrücklich genannten Abstufungen im Gebrauch der einzelnen Topoi und im Gewicht der einzelnen Teile der Leichenrede und des Epicediums nach Alter, Geschlecht, Verwandtschaftsverhältnis, Stand vgl. im 16., 17. u. 18. Jh. u. a. Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 229 – Donatus, Ars Poetica, S. 302 – J.A. Fabricius, Vernünftige Grundregeln Zum Parentiren, Bl. a8v (mit besonders deutlicher Abstufung im Gewicht der einzelnen Teile: „Bei Kindern komt es mehr auf den trost, bei alten mehr auf das lob, bei Ieuten in ihren besten jahren, mehr auf die bedaurung an“) – Kindermann, Teutscher Wolredner, S. 688f. – Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, S. 214ff. – Scaliger, Poetices libri septem, S. 168 – Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 412. 70 Titel wie Trost-Schrift, Trost-Liedchen, Trost-Reime, Trost-Gedicht, Trost-Spruch stehen vor allem über Gedichten auf Kinder und junge Menschen, daneben auch über solchen auf Frauen, Titel wie Klag-Schrift, Klag-Gedicht, Trauer-Reime, Bittere Klage und Einfältiges Denkmal, Letztes Ehren-Gedächtnis, Christliches Denkmal, Christliches Gedächtnis, Letzte Ehre dienen als Überschriften vor allem für Gedichte auf Männer verschiedenen Alters und Standes, daneben auch für solche auf Frauen angesehener Bürger (vgl. dazu unter den in Anm. 69 angeführten Belegen besonders das Zitat aus J.A. Fabricius). 71 Vgl. die Zitate aus Gedichten des „berühmten Poeten“ bei Gryphius, Dissertationes funebres, Leipzig 1667, S. 269, 298, 353, 664, 690.
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Grenzen der Liedform willen viel mehr in jenen Gedichten, die nicht als Epicedien gestaltet sind, sondern, ohne engere Bindung an den einzelnen Todesfall, von Tod und Ewigkeit als geistliche Lieder sprechen, welche eine Tradition der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts fast unverändert fortsetzen. Von Paul Fleming stammt das nächste Beispiel: „Auf des Edlen und Hochgelahrten Herrn Philipp Krusens, der Rechten Licent. und der Zeit Fürstl. Holstein. Abgesandten nach Moskow und Persien u.s.w. geliebten Hausfrauen Ableben.
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Wenn, Edler, unser Geist auch mit dem Leibe stürbe, und, wenn er sich verschleißt, die Seele mit verdürbe, so wär’ es zweimal recht, daß ihr und wer euch ehrt, als den auch billich kränkt was Leid euch wiederfährt, von dieser bösen Post euch zweimal mehr betrübtet. Sie, ach! sie ist vorbei, die ihr so innig liebtet, das treue fromme Weib! Sie, ach! sie ist vorbei! Was ist es, das man hat, das mehr zu klagen sei? Sie, euer halb Ihr, liegt. Wer hier nicht wolte weinen, des Adern müsten sein aus harten Kieselsteinen, sein Herze von Demant. So groß ist keine Not, als wenn das Ehband reißt durch einen frühen Tod. Gott weiß, wie laß ich bin, daß ich die Feder netzen und ihr ein Grabe-Lied und Denkschrift auf soll setzen, der ich gesonnen war ein Lied zu stimmen an, da ihres Herren Preis ihr würde kund getan. Sie war wie schon bedacht, auf was vor Art und Weisen sie wollte heben an, wenn er das lange Reisen, das Reisen, das die Ehr’ auf ihren Flügeln trägt und aller Welt sagt an, würd’ haben abgelegt mit Ruhm, als wie geschicht, wie sie ihn wolt’ empfangen, umarmen, Ehre tun. Diß war ihr bloß Verlangen. Ihr Sinn war stets auf ihn, wenn itzt der Morgen kaum, wenn itzt die Nacht brach an. Ihr Wachen, Schlaf und Traum war er, der liebe Man. Penelope vor Zeiten war eben so gesinnt, gieng wenig zu den Leuten, war zweimal fünf Jahr’ arm, wie Leden Tochter auch, des Atreus Sohnes Weib. Die Liebe hält den Brauch, teilt Herz und Sinn mit dem, an den sie ist verbunden, will nie alleine sein. Nun aber ist verschwunden ihr Hoffen und sie auch. Was lieb war und nun kränkt, das hat das letzte Recht in eine Gruft versenkt. Wer weiß nicht, wie sie war geschickt zu allem Handel im Lassen und im Tun, im Leben ohne Wandel,
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vor ihrem Himmel rein und redlich vor der Welt, in allem Glücke gleich? Wer sich also verhält, der fällt nicht, wenn er fällt. Wie Veilgen unter Nelken, Pol unter Rosen reucht, auch wenn sie schon verwelken, wie süßer Benzoe und feister Weirauch drein 40 mit Mastix untermischt, indem sie glühend sein, die schöne Luft von sich in nah’ und weit verhauchen, so ist ihr edles Lob. Ihr Preis kan nicht verrauchen, ihr Ruhm, der stirbet nicht. Was aus der Tugend kömmt, das überlebt den Tod, bleibt, wenn ein Ende nimmt 45 was ist und noch nicht ist. Lucretie verbliche, ihr keusch Lob ist noch frisch, fragt nichts nach ihrem Stiche, den nur der Leib gefühlt. Polyxene lebt tot. Mausolus treues Weib ist noch gesund und rot: hat Karien ihr Grab, so hat die Welt die Treue, 50 die vielmal größer ist. Wer wol lebt, lebt aufs Neue, auch wenn er längst verwest. Preis ist der Seelen Teil, dem, wie dem Ganzen auch, mit keiner List und Pfeil’, ihr Parcen, könnet zu. Ein Iedes greift nach Seinen. Der große Himmel nimt sein Stücke von dem Keinen. 55 Was von der Erden ist, das heißt und bleibt doch sie, wird wieder, was es war. Was gilt mir Spat und Früh’? Ich muß doch einmal fort, Machaon kan uns fristen, nicht freien vor dem Tod’. Als wenn wir einst nicht müsten, wolln wir schon itzund nicht. Und ist uns diß noch frei, 60 daß wir itzt sind wolauf, so fürchten wir dabei: wer weiß, wie lang’ es steht? Das Auge dieser Erden schläft nun bei Gades ein, vergönnt den müden Pferden des Atlas kühles Bad; die ungestalte Nacht hüllt in ihr schwarzes Tuch, was noch auf Erden wacht. 65 Wie vielmal können wir indessen schlafen gehen, eh’ Titan wieder komt? Zehn Todesarten stehen und zehnmal zehne noch. Die Bogen sind gespannt, der Pfeil zielt auf uns zu aus der gewissen Hand, die fehlen nicht gelernt. Es ist bloß deine Gnade, 70 Jehova, Elohim, daß stündlich uns kein Schade, kein Unfall reißet hin. Kein Blick, der geht vorbei, kein Atem wird geholt, der Tod der hat uns frei; nicht aber mehr als Gott: wenn der gebeut zu würgen, da mag sich Keiner los von seinem Tode bürgen. 75 Kein Gold, kein Fußfall hilft. Man muß nur stille stehn, zu Vielen mitte hin ins schwarze Beinhaus gehn. Kein Mensch, sei wer er sei, der kan ihm das verheißen, daß er auf seinen Tod sich so viel woll’ entreißen. Mein Leben, meinen Tod hat der in seiner Hand, 80 der selbst das Leben ist, bei dem kein Tod bekant. Gott stirbt nicht, wie ein Mensch. Weil sie denn ihm beliebte,
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So tät’ er, was sie wolt’, hingegen uns betrübte; wo das betrüben soll, daß ein Gefangner frei, ein Toter lebend wird. Mein! sag’ mir, was es sei, 85 diß Leben, wie mans nennt! Ein Rauch ists, der verschwindet, ein Nebel, der nicht steht, ein Strick, der Seelen bindet, ein Kerker der Vernunft, ein Zuchthaus voller Not, ein Süßes auf den Schein, ein halb belebter Tod. Wie mahlen wir uns denn den Tod so scheußlich abe, 90 sind Unmuts und betrübt, wenn man uns sagt vom Grabe, das man zwar hassen wol, doch nicht vermeiden kan! Der Tod ist nicht so arg, als wir ihn sehen an. Tod ist das Leben selbst: er führt uns zu dem Leben, schleußt unsern Himmel auf, nimt, was uns ward gegeben, 95 giebt, was uns recht kömt zu. Der Tausch ist wol vergnügt: wenn man für Menschen Gott, für Tod das Leben kriegt, was ist hier eingebüßt? Gott tut wie Gärtner pflegen, pfropft, reutet aus, versetzt. Es heißt doch alles Segen, hat er uns schon betrübt. Es ist ihr wol geschehn: 100 sie sieht, was kein Mensch kan mit irdnen Augen sehn, geht über dem Gestirn’ in reinem Gold’ und Seiden, darein die Engel sich und Auserwählten kleiden, schaut den dreieinen Gott, nimmt ganz den Himmel ein, und wundert sich, daß wir so weit ab von ihr sein. 105 Gönnt ihr, was ihr euch wündscht, nehmt den betrübten Tittel Des Witwers willig an! Gott selbst steht hier im Mittel. Er tut es, was geschicht, nimmt, das er geben kan, giebt, daß es heiße doch: der Herr hat wol getan. Wir hoffen, was sie hat, und schicken uns beineben, 110 sind täglich tot mit ihr, auf daß wir mit ihr leben in langer Seligkeit. Wol dem, der so verdirbt! Wer eh’ stirbt, als er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.“⁷²
In Flemings Werk, das in der posthumen Gesamtausgabe innerhalb der einzelnen, an den Formen orientierten Teile vor allem nach verschiedenen Gattungen der Gelegenheitspoesie geordnet ist, hat die Begräbnisdichtung einen festen, aber im Vergleich mit Dach doch begrenzteren Platz. Das mag bereits als Hinweis darauf gelten, daß Fleming sich auch freier gegenüber der Gattung des Epicediums verhält als Dach, der ebenso getreu wie mit begrenztem Erfolg um die Eindeutschung der Gattung bemüht ist. Das zitierte umfangreiche Alexandrinergedicht von Fleming, gerichtet auf den Tod der Gemahlin des Philipp Kruse, des Leiters jener Gesandtschaft nach Rußland und Persien, an der auch Fleming
72 Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 53–56 (Poet. Wälder II, 14, datiert 1634).
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teilgenommen hat, – dieses Gedicht ist freilich in allen seinen Einzelheiten ganz ebenso an die Tradition gebunden, es lebt ganz ebenso aus ihr wie die zahllosen Epicedien Dachs. Auch hier läßt sich zum Beispiel die Fülle der Argumente im umfangreichen, mehr als die Hälfte des Gedichts ausmachenden Trostteil Stück für Stück auf die antiken und christlichen Quellen zurückführen.⁷³ Auch alle Teile des Epicediums sind offenkundig vorhanden, wenngleich, was gewiß auch mit dem hier benutzten Vers, dem Alexandriner, zusammenhängt, weniger deutlich voneinander getrennt als beispielsweise bei Dach. Die laudatio findet man, gelegentlich zugleich schon als Trostargument ausgeformt,⁷⁴ ungefähr in den Versen 17–54. Lamentatio bieten die ersten Verse des Gedichts, dabei unter anderem auch die traditionelle, in Dachs früher analysiertem Lied in Strophe 6 stehende Billigung der Trauer nicht auslassend, die nur ein steinernes Herz nicht teilen würde. Von Vers 55 jedenfalls bis zum Ende reicht die consolatio. Aber dennoch ist in diesem Gedicht nicht nur, was sofort auffallen mag, die Darlegung der Trostgründe, durch ihre Breite wie durch die Art ihrer Verknüpfung, anders als bei Dach. Sondern wenn man, wie eben geschehen, nach den einzelnen Teilen des Epicediums fragt und ihr Vorhandensein feststellen kann, dann zeigt sich zugleich auch, daß eine bemerkenswerte und nicht folgenlose Vertauschung dieser Teile hier statthat. Die lamentatio geht der laudatio voraus. Damit entfällt zwangsläufig der sonst oft so deutliche und vielfach durch adversative Partikeln betonte Einschnitt vor dem Beginn der consolatio, die hier fast unvermerkt aus der laudatio hervorgeht und sich im Anschluß an sie sehr breit entfaltet. Diese Vertauschung der Teile hebt zwar das Formgesetz des Epicediums nicht völllig auf. Denn auch hier ist die consolatio als Gegenbewegung bezogen auf den Trauer auslösenden Todesfall, ist auch auf die Affektstillung gerichtet. Aber jenes Formgesetz wird hier doch spürbar abgewandelt. Indem die Klage am Beginn steht und noch vor der consolatio von der laudatio abgelöst wird, wird schon hier der Affekt der Trauer aufgefangen, und es wird so der vernünftigen, gelassenen Darlegung aller möglichen Trostgründe Raum geschaffen. Diese Darlegung gibt dem Gedicht das eigentliche Gepräge, und zwar nicht nur durch ihre Breite, sondern auch durch ihre Art. In der Haltung des Überredens, die ständig auf den am Ende auch noch einmal (in v. 105–106) ausdrück-
73 Vgl. u. a.: ständige Bedrohung durch den Tod, allgemeine Sterblichkeit (Fleming, v. 55ff.): Esteve-Forriol, S. 150f.; Kassel, S. 73ff.; v. Moos, Testimonienband, S. 113ff. – Tod von Gott bestimmt (v. 73ff.): v. Moos, Testimonienband, S. 137ff. – Tod als Befreiung, Leben als Kerker, Rauch, Nebel, Schein usw. (v. 82ff.): Esteve-Forriol, S. 152; Kassel, S. 82; v. Moos, Testimonienband, S. 151ff. – Tod als Weg in ein besseres Leben, die Tote in der Herrlichkeit des Jenseits (v. 95ff.): Esteve-Forriol, S. 149; Favez, S. 163ff. – Vorherbetrachtung des Todes (v. 109ff.): Kassel, S. 66ff., 87. 74 So in v. 36f., 42ff., 50ff.
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lich angesprochenen trauernden Witwer als Gegenüber bezogen ist, werden hier, vom Fluß der Alexandriner getragen, Zug um Zug die verschiedenartigen Trostargumente aneinandergereiht, um so den Grundgedanken in zahlreichen Variationen wirksam darzulegen: daß angesichts des irdischen Elends und der ständigen Todesbedrohtheit des Menschen der Tod ins wahre Leben führe und, so vorweg betrachtet, schon im Leben seinen Schrecken verlieren könne. Das zielt darauf, Gelassenheit durch Einsicht in das Unvermeidliche zu wecken. Der einzelne Todesfall ist damit nicht so sehr Anlaß von Trauer und Klage, die es zu besänftigen gilt, als vielmehr Gelegenheit, um zur praemeditatio mortis hinzuleiten, die zur Bändigung und Überwindung der durch die Erfahrung des Todes geweckten Affekte führen kann. In christlicher Ausprägung wird hier das Streben nach Apathia, nach Freiheit von den Affekten, wirksam, das die im 16. und 17. Jahrhundert so eindringlich erneuerte Stoa kennzeichnet. Mit seinem abweichenden Bauschema und der ihm entsprechenden Breite und Eigenart des Trostteils ist dieses Gedicht Flemings eine Randerscheinung im Bereich des Epicediums, die an der Grenze zu einer dem Epicedium verwandten, aber in ihrem Bauschema nicht ganz so genau bestimmten Gattung, der Consolatio nämlich, steht. Scaliger behandelt diese Gattung, die sich nicht nur auf Todesfälle, sondern auch auf anderes Unglück bezieht, im nächsten Kapitel nach dem Epicedium. An seinen Ausführungen⁷⁵ zeigt sich, wie auch die Con-
75 Zur Theorie der Consolatio im 16. u. 17. Jh. – für die Consolatio als poetische wie als prosaische Gattung gelten offenkundig dieselben Grundsätze – vgl. u. a. auch Vossius, Commentariorum Rhetoricorum ... Libri Sex, Teil 1, S. 394–401, wo (S. 394) vom „cum doloris affectu depugnare“ gesprochen wird und wo (S. 395) für die Consolatio zu einem Todesfall – teilweise in bezeichnender Nähe zum Trostteil in Flemings Gedicht – u. a. geraten wird: „Primùm testabimur dolorem nostrum: quae res benevolentiam gignit, fidemque conciliat: imò & per se dolorem levat ... Hinc dicemus, moderandum esse dolorem, sive is oriatur inde, quia aliquis mortem esse malam putet, sive quia malè esse mortuo credat, sive quia existimet, sibi nunc malè futurum. Nam in morte nihil esse mali, imò finem esse malorum, & transitum ad vitam meliorem. Ac proinde non perire aliquem, sed praeire ad loca laetiora. Imò vitam, quam degimus, mortem potiùs esse: ac tum demum nos vivere, cùm desinimus vivere. Nec mortuum ipsum lugeri oportere, quandoquidem cursum ille suum in stadio cucurrit, & jam brabeῖon exspectet: suam etiam personam in hoc orbis theatro optimè sustinuit, ac abunde sibi gloriae paravit. Eoque instar eorum, qui in scena partes suas peregere, vestē suam exuere debuisse, ac domum commeare; idque eo lubentiùs, quia non vilia, ut illi, sed coelestia habitacula peteret. Nec esse, quòd quis majorem honoris, vel plurium commodorum spem obtendat. Multos enim diutius vivendo ex felicibus reddi miseros; dum vel suorum, vel patriae etiam calamitates, intueri coràm coguntur, vel in caecitatem, egestatem, aliáve incidunt mala. Defunctum ab his periculis liberum apud beatos beatam degere vitam, atque ex sereno puroque videre jam, imò ridere, turbida haec nostra: turpe fore, si hanc ei sortem invideamus: stultum, si ob eam doleamus: nec enim tam mortui conditionem esse lugendam, quàm nostram ...” – D. Richter,
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solatio, die eingangs erläutert wird als eine „oratio reducens moerentis animum ad tranquillitatem“ (S. 168), als eine Rede, welche das Gemüt des Betrübten zur Ruhe zurückführt, es mit den Affekten zu tun hat. Durch verschiedenartige Gründe und nicht zuletzt durch Exempla, denen besondere überredende Kraft zugetraut wird, soll sie Affekte wie Trauer und Furcht überwinden und zu diesem Zweck andere Affekte wie die Hoffnung wecken. Um aber wirken zu können, ist es gut, wenn die Consolatio – auch dies ist wiederum ein aus antiken Quellen stammender Gedanke⁷⁶ – mit der Bekundung der Mittrauer einsetzt, die den Trauernden für den Zuspruch empfänglicher macht. Daher kann in der Consolatio als Einleitung eine lamentatio stehen. Eine laudatio hingegen ist offenkundig nicht vorgesehen.⁷⁷ So gibt es in der Consolatio nicht jene Spannung von Affekterregung und Affektstillung, die das besondere Formgesetz des Epicediums ausmacht. Sondern das Formgesetz der Consolatio ist es, auf den vorausgesetzten Affekt, dessen Begreiflichkeit allenfalls, um der Tröstung den Boden zu bereiten, in der einleitenden Bekundung der Mittrauer zugegeben wird, in breit angelegter, ununterbrochener Argumentationskette bis zu seiner völligen Überwindung einzuwirken. Von solcher Art ist der breite Konsolationsteil in Flemings Gedicht. Daran aber, daß es zugleich eine ausgeführte laudatio enthält, erweist sich, daß es dennoch nicht als Consolatio zu verstehen, sondern zu begreifen ist als eine von der Gattung der Consolatio beeinflußte Abwandlung des regelrechten Epicediums. Dadurch aber ist dieses Gedicht bezeichnend für die Rolle des Epicediums innerhalb von Flemings Begräbnisdichtung, für das Verhältnis Flemings zu den verschiedenen Formen solcher Dichtung. Bei Fleming gibt es, in Alexandrinern wie in Liedform, einerseits Stücke, die strenger als das hier behandelte die Gesetze des Epicediums befolgen, andererseits aber auch solche, die reine Consolationes mit einem einleitenden Klageteil ohne jede laudatio sind⁷⁸ und teilweise auch, den Anweisungen Scaligers entsprechend, mehr als im Epicedium sonst meist üblich Exempla verwenden.⁷⁹ Einzelne unter ihnen enthalten aber doch zugleich gewisse Züge des Epicediums, einen durch
Thesaurus oratorius novus, S. 128. – Zur Consolatio in Antike und Mittelalter vgl. die schon früher genannten Arbeiten von Favez, Johann, Kassel und v. Moos. 76 Vgl. Kassel, a.a.O., S. 51f.; s. auch die in Anm. 75 zitierte Stelle bei Vossius. 77 Vgl. auch die in Anm. 75 genannten und z.T. zitierten Stellen bei Vossius und D. Richter und die bei Johann, a.a.O., S. 135f., 139, 147, 153 gegebenen Aufbauschemata einiger antiker Trostschriften. 78 Vgl. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 39, 40f. (diese beiden Stücke sogar ohne Klageteil), 50f., 255ff., 257ff., 262f., 263ff., 272ff., 274f., 276ff., 278f., 279ff., 282ff. 79 Vgl. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 264, 276f., 279, 281; zur Rolle der Exempla in der antiken Consolatio s. Kassel, a.a.O., S. 70f.
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adversative Partikeln markierten stärkeren Einschnitt zwischen einem – teilweise breiter ausgeführten – Klageteil und der eigentlichen consolatio etwa und damit doch eine gewisse Spannung von Affekterregung und Affektstillung oder in der Schlußstrophe die aus der antiken Topik des Epicediums stammende Verheißung der Schmückung des Grabes durch Blumen.⁸⁰ Das Nebeneinander von Epicedium und Consolatio und der gelegentliche Austausch zwischen ihnen geben der Begräbnisdichtung Flemings das eigene Gepräge, das sie zum Beispiel von der durch das Nebeneinander von Epicedium und geistlichem Lied gekennzeichneten Begräbnisdichtung Dachs unterscheidet. Jenes besondere Gepräge von Flemings Begräbnisdichtung aber steht auf erhellende Weise im Zusammenhang mit einem anderen charakteristischen Zug in Flemings Dichtung. Die Consolatio, die anders als das Epicedium die lamentatio nur zum Zweck der Vorbereitung auf den Trost, nicht in einer Spannung zu ihm kennt und von vornherein auf die Heilung vom Affekt zielt, ist sehr viel mehr als das Epicedium prädestiniert für das Einfließen stoischer Gedanken. Die Entwicklung der Gattung in der Antike geschieht in enger Berührung mit der Stoa.⁸¹ Dementsprechend begegnen in Flemings Gedichten vom Typus der Consolatio mancherlei stoisch gefärbte Argumente.⁸² Stoische Gedanken und Motive finden sich aber auch sonst vielfach bei Fleming.⁸³ Seine Offenheit für den Neostoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts scheint die Voraussetzung dafür zu sein, daß bei ihm die Consolatio neben dem Epicedium so breiten Raum einnimmt und dieses beeinflußt. Dieser Befund des Nebeneinanders von Epicedium und Consolatio bestätigt wiederum, daß Flemings Stoizismus mehr ist als eine nur beiläufige Frucht einer allenthalben wirksamen geistigen Strömung der Zeit, die sich als ein selbstverständliches Element auch bei anderen Dichtern des 17. Jahrhunderts findet, daß dieser Stoizismus Flemings vielmehr ein durchaus individueller Zug, das Ergebnis einer bestimmten geistigen Entscheidung ist, das auch auf die Wahl und Ausgestaltung literarischer Formmöglichkeiten sich auswirkt und auch so etwas von der geistigen Haltung des Autors ahnen läßt. Andreas Gryphius, von dem das dritte Beispiel, eine pindarische Ode, stammt, hat im Gegensatz zu vielen anderen barocken Dichtern nur verhältnismäßig wenige Begräbnisgedichte geschrieben, und er hat davon nur einige
80 Adversative Partikel: Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 40, 255, 263, 274, 278, 281, 283; Schmückung des Grabes (vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 153): ebd., Bd. 1, S. 275, 278. 81 Vgl. dazu bes. Kassel, a.a.O., S. 17ff. 82 Vgl. z. B. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 255ff., 257ff., 272ff., 274f., 279ff. 83 Besonders kennzeichnend z. B.: Fleming, Deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 128ff. (In GroßNeugart der Reußen, M. DC. XXXIV), S. 460 (Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrift, so er ihm selbst gemacht ... drei Tage vor seinem seligen Absterben), S. 472 (An sich).
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Sonette und Epigramme in die Sammlungen seiner Gedichte aufgenommen.⁸⁴ Unter dieser nicht sehr großen Zahl von Begräbnisgedichten gibt es keinen vorherrschenden Typus; neben einer Reihe von Epicedien stehen inschriftartige Epitaphien und einige freier gestaltete Stücke. Es bezeugt sich darin eine Distanz gegenüber mancherlei Formen und literarischen Konventionen der Zeit, die sich auch in anderer Hinsicht bei Andreas Gryphius feststellen läßt.⁸⁵ So kann auch das eine ausgewählte Beispiel für die Begräbnisdichtung und insbesondere für das Epicedium bei Gryphius nur in dem Sinne repräsentativ sein, daß es auf seine Weise jene Distanz, die Freiheit im Umgang mit den literarischen Möglichkeiten bezeugt und zugleich als ein weiterer Beleg dafür dient, welchen Spielraum die Gattung des Epicediums bei aller Traditionsbestimmtheit bietet:⁸⁶ „Begräbnis-Ode eines Kindes an die Eltern.
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1. Satz. Ach hat des Himmels Zorn noch nicht genung gewüttet Auf eur bestürtztes Hauß? Läst er mehr Flammen aus Auf den / den er so offt mit Weh gantz überschüttet? Ists nicht genung daß ihr den trüben Fall erlebt Der euer Vaterland durch Brand und Schwerdt In Dunst und Grauß und Staub und nichts verkehrt / In dem Europa sich in eigen Asch eingräbt? Ists nicht genung nach vielen Hertzen-Rissen Freund und Verwandte missen? Es vergingen auch die Wände Eh ihr recht gezogen ein / In kaum eine Handvoll Brände Und von Glut zusprengte Stein;
84 Sie finden sich im ersten und zweiten Sonettbuch sowie in den deutschen und lateinischen Epigrammbüchern. Ein längeres deutsches Gedicht in Alexandrinern und ein längeres lateinisches Gedicht in Hexametern stehen am Ende der Lissaer „Sonnete“; beide sind von Gryphius später nicht mehr neu gedruckt worden. Eine Reihe weiterer Sonette und fünf große Begräbnisgedichte verschiedener Form hat erst Christian Gryphius in die posthume Gesamtausgabe von 1698 (in das Buch der verstreuten und nachgelassenen Sonette bzw. in die Gruppe „Begräbnis-Gedichte“) aufgenommen. 85 Man denke in der Lyrik des Gryphius etwa an die Beschränkung auf wenige Formen wie Sonett, Ode, Epigramm und auf wenige Themenbereiche, unter denen die geistliche Thematik überwiegt, andererseits aber auch an die Selbständigkeit in der Ausgestaltung von Formen wie Sonett und Ode oder an die Eigenständigkeit des Gryphius innerhalb der Perikopen- und der Passionsdichtung (hierzu Hans-Henrik Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1974). 86 Einige ergänzende Hinweise zu den Epicedien in Sonettform s. unten im Exkurs.
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Als die bewegte Stadt in einer Nacht auffflog Und aller Schweiß in Rauch u schwartze Wolcken zog. Graute den gepresten Hertzen Wehrter Freund vor grösser Schmertzen? 1. Gegensatz. Doch nein / ihr habt kaum recht die Wohnung aufgeführet; So geht sie wieder ein Durch den (ô herbe Pein!) Der eures Hauses Grund / und euer Hauß gezieret / Der Sohn / der liebe Sohn / eur ein und höchste Lust Wird / eh ihn kaum die schnelle Seuch erblickt / Aus dieser Zeit und euer Schoß gerückt / Und läst die kalte Leich an seiner Mutter Brust. Und ihr / nach dem ihr alles müssen wagen / Must eur Fleisch zu Grabe tragen. Dieß ist wohl die tieffste Wunde / Die die rauhe Noth euch schlägt; Euch den eine schwere Stunde Jammer über Weh erregt. Ists frembd das eur Gesicht in lauter Thränen schwimt / Wenn die entdeckte Grufft eur kaltes Blut auffnit? Daß ihr über dem euch kräncket Das kein Tag nicht wieder schencket.
1. Abgesang. Doch hebt die Augen auf und seht nach dieser Hand Die euch so rauh angreifft / Man urtheilt ob verderb’ ein hart erschüttert Land 40 Wenn Süd und Norden pfeifft Und alle Donner Lüffte blitzen Und die zerspaltnen Wolcken schwitzen. Doch wenn der scharffe Sturm vergangen / Sieht man mit Blüt und Früchten prangen 45 Was man für verlohren schätzte / was man als verdorben hielt Wen hat GOtt so offt bewehret? der bey ihm das meiste gilt / Der dem des Himmels Schatz heimfällt Schlägt den Verlust der Erden aus. Der der den höchsten Freund behält 50 Klagt nicht sein hoch verwäiset Hauß.
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2. Satz. Wahr ists / diß schöne Kind / war eur höchste Wonne Und Wollust dieser Stadt. Den nicht beweget hat Das liebliche Gesicht der keuschen Augen Sonne / Der trefliche Verstand der über seine Jahr /
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Der grosse Muth der in der Tage Blum Schon vor sich drang nach ewig hohem Ruhm Und was mehr mit ihm fält auf die geschwärtzte Baar / Muß Menschlich nichts in Menschen Gliedern haben: Sind die Himmel wehrten Gaben Ihm nur darum einverleibet Daß weil er gantz hilisch wär Von uns da nichts hilisch bleibet Eilte zu der Sternen Heer. Mein Friedrich hast du denn / (weil alles hier verflucht) Zu grimmen Krieg so bald den Frieden dort gesucht? Muste dieser Raum der Erden Dir so bald zu enge werden.
2. Gegensatz. Ja wol / du bist denn hin! kein Todt hat dich verletzet / 70 Der Höchste ruffte dich Aus dieser Angst zu sich. Eh du die Pein gefühlt die uns ins Sterben setzet. Nun steckt die falsche Lust mit keiner Pest dich an; Dein reiner Geist steht unbefleckt für GOtt 75 Und lacht uns aus die wir um Spott und Koth Hingehn / wo blosses Schwerdt und Rasen führen kann / Dir wird kein Gifft der Natter-Zungen schaden / Du wirst nicht in Thränen baden / Nicht im Untergang der Reiche 80 Suchen wie und wo du liegst / Ob du unbetraurte Leiche Irgend eine Grube kriegst. Jetzt bleibst du unbewegt und siehst die Eitelkeit Der Erden sicher an / das Jammer-Spiel der Zeit. 85 Weißheit selbst hat dich gelehret Was kein Ohr je hat gehöret.
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2. Abgesang. O wol dem der so wol und bald von hier entgeht! Und bald die Kron erwirbt / Die mancher kaum erhält der Ach und Angst aussteht Und nach Viel Jammer stirbt. Wol dem / den dieser Fried umfangen! Der zu dem Vater heimgegangen / Der dieses Wohnhauß eingenommen Darein noch Brand noch Seuch je kommen Muß der Cörper gleich was warten / wird er gleich ins Grab versteckt Er blüht doch auf Gottes Acker / wenn sein Lentz ihn auferweckt. Was man beträhnt aussät allhier Und mit viel Winseln scharret ein /
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Diß Fleisch wird stracks voll neuer Zier 100 Geschmückt / und unverweßlich seyn.“⁸⁷
Das Besondere dieses Beispiels erwächst daraus, wie die Form der für Begräbnisgedichte oft verwendeten pindarischen Ode sich mit den Gesetzen des Epicediums verbindet. Wiederum hilft hier die Kenntnis des Bauschemas des Epicediums zunächst einmal dazu, das ganze Gedicht, seine Gliederung, seinen Ablauf zu überblicken. Dabei zeigt sich, daß alle erforderlichen Teile in der üblichen Reihenfolge und doch in einer ungewöhnlichen Anordnung vorhanden sind. Das Gedicht setzt ein mit einem längeren Proömion, das vom vorangegangenen sonstigen Unglück der Trauernden spricht. Auf dieses in einer Frage (v. 18) endende Proömion folgt ab v. 19 als steigernde Antwort eine Partie, die zunächst in knapper Form eine laudatio (v. 22–23 eigentlich nur) enthält, dann mit einer iacturae demonstratio (v. 24 ff.) in die lamentatio übergeht und dabei mit einer probatio der Trauer endet (v. 33–36). Darauf folgt in v. 37–50 eine consolatio. In v. 51–68 schließt sich eine weitere laudatio an, verbunden mit dem ähnlich auch in den Beispielen von Dach und Fleming vorhandenen traditionellen, die Trauer billigenden Hinweis, daß nur ein Unmensch hier nicht mitempfinden könne; daran fügen sich einige Verse der lamentatio. Dann führt eine breite consolatio von v. 69 bis zum Ende. Das Ungewöhnliche an diesem Gedicht ist also, daß, nach dem für die ganze Ode geltenden Proömion, die Hauptteile des Epicediums zweimal auftauchen. Das ist verknüpft mit der Gliederung der pindarischen Ode und gewinnt in ihr und durch sie Bedeutung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen der Ode fallen mit den Einschnitten zwischen einzelnen Epicedienteilen zusammen; die Teile der Ode werden jeweils von einem oder mehreren Teilen des Epicediums gefüllt. Der erste Satz der Ode enthält das Proömion, der erste Gegensatz die erste laudatio und lamentatio, der erste Abgesang die erste consolatio. Mit dem Anfang des zweiten Teils der Ode beginnt die Wiederholung der Epicedienteile. Im zweiten Satz stehen die zweite laudatio und lamentatio, im zweiten Gegensatz und im zweiten Abgesang die zweite consolatio. Die ganze Ode durchläuft also zweimal den zum Epicedium gehörigen Spannungsbogen von Affekterregung und Affektstillung, und sie tut dies so, daß nicht nur die einzelnen Odenteile für sich in Übereinstimmung mit Teilen des Epicediums stehen, sondern auch der
87 Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hrsg. v. Marian Szyrocki, Hugh Powell, Tübingen 1963ff. (Neudr. dt. Literaturwerke, N.F. 9ff.), Bd. 3, S. 130–132, Begräbnis-Gedichte, V (die Verse 79–82, die in den Ausgaben fälschlich zu zwei Versen zusammengefaßt erscheinen, sind im obigen Abdruck des Textes entsprechend dem metrischen Schema der ganzen Ode als vier einzelne Verse wiedergegeben worden).
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doppelte Ablauf von Affekterregung und Affektstillung genau auf die beiden Hälften der Ode verteilt ist. Dabei wird jener Spannungsbogen innerhalb der beiden Teile der Ode jeweils in Übereinstimmung mit dem Gesetz der pindarischen Ode durchlaufen, deren Teile von der Poetik der Zeit so verstanden werden, daß Satz und Gegensatz in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen sollen, das dann im Nachsatz aufgehoben wird.⁸⁸ Der erste Gegensatz in der Ode des Gryphius stellt dem im ersten Satz bezeichneten Unglück, das die Trauernden bisher schon erfahren haben, das größere Unglück des gegenwärtigen Todesfalls gegenüber, der erste Abgesang hebt das in der consolatio auf. Der zweite Gegensatz stellt der laudatio und lamentatio, die den zweiten Satz ausmachen, eine consolatio entgegen, die der zweite Abgesang durch eine Preisung des seligen Toten überhöht. Mit dieser Art der Verbindung von Epicedien- und Odenteilen, die die innere Spannung der Odenform auf verschiedene Weise verwirklicht, wird zugleich der in beiden Hälften der Ode vorhandene Ablauf von Affekterregung und Affektstillung kunstvoll variiert. Denn in der ersten Odenhälfte stehen das im Proömion geschilderte übrige Unglück und der gegenwärtige Todesfall in dem zur pindarischen Ode gehörenden Spannungsverhältnis und nehmen dabei zusammen mehr Raum ein als die die Spannung ausgleichende consolatio im ersten Abgesang. In der zweiten Odenhälfte hingegen nehmen laudatio und lamentatio nur den Satz ein, und die den größeren Teil dieser Odenhälfte füllende consolatio gibt sowohl den Gegenpol zum Satz als auch die Auflösung der Spannung von Satz und Gegensatz ab. In einem gewissen Kontrast zu dieser verschiedenartigen Füllung der einander entsprechenden Odenteile steht, daß sich in beiden Odenhälften eine auffallend ähnliche Verknüpfung des jeweiligen Gegensatzes und Abgesangs beobachten läßt. Erster Gegensatz und erster Abgesang sind dadurch miteinander verbunden, daß sie beide mit einem anaphorischen „Doch“ einsetzen, das beim Abgesang das gattungstypische, die consolatio einleitende „doch“ ist. Zweiter Gegensatz und zweiter Abgesang sind durch die leicht voneinander abweichenden, ebenfalls anaphorischen Wortgruppen „Ja wol“ und „O wol“ miteinander verknüpft. Dabei besteht jedoch das Paradox, daß diese leicht voneinander abweichenden Wortgruppen, in denen
88 Vgl. dazu u. a. Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 133 – Daniel Georg Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, hrsg. v. Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. 1969 (Ars poetica, Texte, Bd. 1), S. 308 – Omeis, Gründliche Anleitung, S. 105ff. – Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 1, Bl. D4rff. – s. auch Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, Darmstadt 1961 (Nachdr. d. Ausg. München 1923), S. 74f., wo jene Auffassung der zeitgenössischen Poetik jedoch allzu rasch als „schulmäßig-banale Vorschrift“ abgetan wird.
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das gleichlautende „wol“ jeweils eine andere Bedeutung hat, doch zueinander gehörende, nämlich konsolatorische Odenteile einleiten, während das „doch“ in der ersten Odenhälfte einen Gegensatz und einen Abgesang einleitet, die als laudatio und lamentatio auf der einen und consolatio auf der anderen Seite einander entgegengesetzt sind. Das nicht nur dem Klang, sondern auch dem Sinn nach übereinstimmende „Doch“ am Beginn von erstem Gegensatz und Abgesang bezeichnet einen zweimaligen Umschwung, vom bisherigen Unglück zum größeren des jetzigen Todesfalls und von diesem zur Tröstung; das nur dem Klang, doch nicht dem Sinne nach übereinstimmende „wol“ hingegen verbindet zwei Stücke, von denen das zweite das erste fortsetzt und überhöht. Dieser Unterschied der scheinbar verwandten anaphorischen Einsätze signalisiert, daß in der ersten Hälfte der Ode ein schrofferer Affektwechsel als in der zweiten vorgeht, in der bezeichnenderweise auch zwischen lamentatio und consolatio die sonst in der Gattung so häufige adversative Partikel fehlt; sie ist, im Unterschied zur ersten Hälfte der Ode, ersetzt durch jenes eine ergebene Feststellung einleitende „Ja wol“. Dieser Unterschied in der Art des Affektwechsels korrespondiert der schon festgestellten unterschiedlichen Verteilung der Epicedienteile innerhalb der Odenhälften. Damit ist die erste Hälfte der Ode in mehrfacher Hinsicht beherrscht von laudatio (die im Falle eines Kindes traditionell knapp ist)⁸⁹ und vor allem lamentatio, die zweite hingegen von der consolatio. Das aber besagt, daß diese Ode den Spannungsbogen von Affekterregung und Affektstillung, den ihre beiden Hälften in jeweils anderer Weise für sich durchlaufen, zugleich auch als Ganzes nachvollzieht. Ganz allerdings hat man die Eigenart dieser Ode erst erfaßt, wenn man beachtet, daß dieses durch Korrespondenz und Variation so kunstvoll, ja raffiniert gebaute Epicedium sich auch in seiner Auslegung des Formgesetzes von Affekterregung und Affektstillung von den Beispielen von Dach und Fleming unterscheidet. Durch seinen sehr überlegten Bau hebt es die Spannung zwischen Affekterregung und Affektstillung sehr viel stärker hervor, und es bezieht sie durch die Art der consolatio auf einen sehr entschieden aufgefaßten Gegensatz von Irdischem und Ewigem. Diese consolatio argumentiert nicht wie bei Dach mit der allgemeinen Sterblichkeit, sie appelliert nicht wie bei Fleming mit einer unendlichen Kette von vernünftigen Argumenten an die Einsicht der Trauernden, sondern sie setzt, dabei natürlich wie die anderen ständig mit der sich anbietenden Topik arbeitend, der Klage die Gottverhängtheit des Todesfalls und die Herrlichkeit des ewi-
89 Vgl. die in Anm. 69 zitierte Stelle bei J.A. Fabricius oder die Ausführungen von Pontanus (Poeticarum Institutionum libri tres, S. 240ff.) über Trauergedichte auf Kinder und Heranwachsende.
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gen Lebens, die von allem irdischen Elend freimacht, als etwas auch im Schmerz unbedingt Gültiges entgegen, das über die Topik der consolatio hinaus durch mehrere biblische Anspielungen beglaubigt wird.⁹⁰ Die Verbindung von äußerster Kunstbewußtheit mit selbstverständlicher christlicher Gläubigkeit aber – das ist eine Verbindung, die man auch sonst bei Gryphius finden kann,⁹¹ und so mag denn diese entschieden christliche Ausprägung des Epicediums für ihn ebenso als charakteristisch gelten, wie die christlich-stoizistische Abwandlung des Epicediums bei Fleming für dessen geistige Haltung sich als Bestätigung erweist. Die drei näher erläuterten Epicedien von Dach, Fleming und Gryphius zeigen, wie aus den bis in die antiken Quellen in Rhetorik, Poetik und Literatur zurückverfolgten und dadurch erläuterten Gesetzmäßigkeiten auch in einer so traditionsgebundenen barocken Gattung das einzelne Gedicht als ein einzelnes gesehen, in seiner Besonderheit verstanden, gegen andere vergleichend und wertend abgegrenzt werden kann. Es hat hier allerdings keinen Sinn, direkt nach individuellem Gehalt, persönlichem Bekenntnis zu fragen, – zu glauben, man werde wahrer Dichtung am ehesten dort begegnen, wo der Gelegenheitscharakter am wenigsten zu spüren sei,⁹² – zu meinen, man müsse vom Zeitbedingten absehen, um Zeitloses zu finden.⁹³ Das sind unangemessene Kriterien.
90 Vgl. u. a. zu v. 37f.: Jes. 49, 18 („HEb deine augen auff vmbher / vnd sihe“), Hiob 19, 21 („Denn die hand Gottes hat mich gerürt“), Ps. 32, 4 („Denn deine Hand war tag vnd nacht schweer auff mir“), Ps. 38, 3 („deine Hand drücket mich“) – v. 86: 1. Kor. 2, 9 („Das kein Auge gesehen hat / vnd kein Ohre gehöret hat / vnd in keines Menschen hertz komen ist / das Gott bereitet hat / denen / die jn lieben“) – v. 87f.: Jak. 1, 12 („SElig ist der Man / der die anfechtung erduldet / Denn nach dem er beweret ist / wird er die Krone des Lebens empfahen / welche Gott verheissen hat denen / die jn liebhaben“) – v. 92f.: Joh. 14, 2 („In meines Vaters hause sind viel Wonungen. Wens nicht so were / so wolt ich zu euch sagen / Ich gehe hin / euch die Stete zu bereiten“) – v. 97ff.: Ps. 126, 5. 6 („Die mit Threnen seen / Werden mit freuden erndten. Sie gehen hin vnd weinen / vnd tragen edlen Samen / Vnd komen mit Freuden / vnd bringen jre Garben“), 1. Kor. 15, 42 („ES wird geseet verweslich / Vnd wird aufferstehen vnuerweslich“). (Bibelzitate nach: Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Mart. Luth., Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1545, Stuttgart 1967). 91 Vgl. dazu bes. Böckmann, Formgeschichte, S. 416ff., und Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition. 92 So etwa v. Waldberg, Die Deutsche Renaissance-Lyrik, S. 6 – Ziesemer, Simon Dach, S. 51 („Dach erhebt sich zuweilen, indem er den Anlaß nur kurz andeutet oder ganz beiseite läßt, zu einer Dichtung, der der Gelegenheitsursprung kaum oder gar nicht mehr anzumerken ist. Da ist es, wenigstens im Kern, erlebte Dichtung, nicht leeres Wortgerede, und was uns fremdartig berührt, ist vor allem die vom Zeitlichen abhängige Form: das Entlehnte, Handwerksmäßige, Mechanische in Wortwahl, Bildern, superlativischen Wendungen“). 93 Vgl. Ziesemer, Simon Dach, S. 51: „man muß zunächst das Zeitliche, durch Geschmack und Mode Bedingte, was uns beim ersten Anblick befremden mag, ausschalten, dann gelangt man
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Denn auch die Werke der namhaften Dichter des 17. Jahrhunderts sind nach den Vorschriften der Poetik und Rhetorik gearbeitet, die den Autoren schon von der Schule her ganz selbstverständlich vertraut waren. Das 17. Jahrhundert als eine bestimmte, in Fortsetzung und Opposition dann von andersartigen Versuchen abgelöste Phase der Aneignung der Antike ist das Jahrhundert der in besonderem Maße in der Rhetorik – und das sind eben nicht nur die rhetorischen Figuren – begründeten Dichtung, und es führt in die Irre, wollte man darüber hinwegsehen. Worauf es in solcher Dichtung ankommt, das ist nicht die vermeintliche Loslösung vom Schema, seine Überwindung, sondern seine Erfüllung. Nur in der Art und Qualität der Erfüllung, in der selbständigen Aneignung und Abwandlung des Schemas liegen die Kriterien, nach denen sich ein einzelnes Beispiel einer Gattung wie des Epicediums beurteilen läßt. Nur indem man sie konsequent in ihren eigenen Voraussetzungen aufsucht und an ihnen mißt, läßt sich die Literatur dieser Epoche überhaupt verstehen. Nur von diesen Voraussetzungen aus ist aber auch noch das Ende des Epicediums und der übrigen Gelegenheitsdichtung im 18. Jahrhundert zu begreifen. Man sieht es, wie die einleitenden Zitate zeigten, gerne bei Johann Christian Günther gekommen und erklärt sich das dann mit der griffigen Formel, daß hier die Gelegenheitsdichtung durch die Erlebnisdichtung abgelöst werde. Aber Günther, der noch zahlreiche Epicedien, vor allem in sehr beweglichen Alexandrinern, geschrieben hat und darin seine völlige Vertrautheit mit den traditionellen Anforderungen der Gattung erweist, steht mit der Art seiner Epicedien gar nicht allein,⁹⁴ sondern bezeichnet nur zusammen mit älteren Autoren wie Christian Gryphius oder Mühlpfort⁹⁵ eine zum Ende hinführende Phase der Epicediendichtung. Diese stirbt hier noch keineswegs ab, sondern ihre Auflösung bereitet sich nur insofern vor, als die durchaus noch vorhandene Gliederung des Epicediums und die den einzelnen Teilen zugehörige Topik immer mehr überdeckt werden von einer immer stärker wuchernden, immer selbstgenügsamer werdenden Metaphorik, die die besonderen Züge des Epicediums zurücktreten
leicht zur Erfassung des Wesentlichen und findet von allem Zufälligen befreite zeitlose Werte“. 94 Es erscheint deshalb fragwürdig, Günthers Gelegenheitsdichtung so, wie das etwa W. Krämer in der Einleitung zu Band 5 seiner Günther-Ausg. tut, der übrigen Lyrik Günthers gegenüberzustellen und an dem Kriterium der „Echtheit“ zu messen. Vielmehr wäre Günther insgesamt zunächst viel stärker von seinem Zusammenhang mit barocker Überlieferung her zu sehen, um das Andersartige an ihm, das von jener Überlieferung her sich eher als Wildwuchs, als nur allzu privater Ausbruch darstellt, mit Vorsicht genauer zu kennzeichnen. 95 Vgl. Christian Gryphius, Poetische Wälder, 3Breslau/Leipzig 1718, S. 255–558: Anderes Buch / Leichen-Gedichte – Heinrich Mühlpfort, Teutsche Gedichte, Breslau 1686, [Teil 3], S. 3–463: Leichen-Gedichte.
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läßt und dämpft. Die reiche Bildlichkeit wird wichtiger als die deutliche oder gar scharfe Ausprägung der Spannung des Epicediums, die traditionellen Topoi werden überlagert und nahezu verhüllt von den sie amplifizierenden metaphorischen Inventionen.⁹⁶ Das aber spiegelt auch Veränderungen des Verständnisses
96 Drei Beispiele wenigstens aus Günthers Gedichten mögen das an den drei Teilen des Epicediums belegen. Ein Begräbnisgedicht auf eine „als ein Muster des preiswürdigen Frauenzimmers verehrte“ Frau (Sämtl. Werke, Bd. 5, S. 10ff.) häuft in den ersten sechs, aus je acht Alexandrinern bestehenden Strophen zunächst eine Fülle von Exempeln, ehe es mit ihrer Anwendung zur eigentlichen laudatio kommt, aus der dann der übrige Teil des Gedichts weitgehend besteht. Im Gedicht auf einen Wittenberger Schulrektor (Bd. 5, S. 125ff.) wird die Darstellung und Billigung der Trauer der Witwe mit mehreren, verschiedenartigen Bildern verknüpft: „Sie seufzt, sie ächzt, sie stöhnt, sie schluchzt, verstummt und schreyt; Der herbe Wechsel ist ein Sinnbild ächter Liebe; Ja, wir bestraften sie, wenn die Gerechtigkeit Vor ihre Traur und Leid nicht einen Freybrief schriebe. So aber wanckt ein Haupt, wenn ihm die Cron entfällt, Es muß der Balsambaum auf Schnidt und Meßer weinen, Sinckt doch die stärckste Last, wenn sie kein Grund erhält Und Wind und Boden es mit ihr verräthrisch meinen, Geschweige denn ein Mensch, der Fleisch und Adern trägt, Geschweige denn ein Weib, das Werckzeug schwacher Sinnen, Zumahl wenn ihr das Meer den besten Mast zerschlägt Und Schaden und Verlust ihr höchstes Gut gewinnen.“ Oder in einem an den Vater, einen Theologen und Schulinspektor, gerichteten Gedicht auf ein Kind (Bd. 4, S. 10ff.) werden altüberlieferte Trostargumente (der Tote in der ewigen Herrlichkeit; deren Gegensatz zum irdischen Elend), die hier, da es sich um ein Kind handelt, der Tradition gemäß breiten Raum einnehmen, u. a. mit folgenden Bildern dargeboten: „Doch er erfreut sich jezt in Salems sichern Mauren, Wo er des Höchsten Lob mit tausend Psalmen preist. Nun kan der Himmel ihm zu einer Schule werden, Es ist der Weißheit Glanz sein wahres Eigenthum, Ja er verlacht den Tand der Klügsten auf der Erden Und achtet nur wie Glas den allergrösten Ruhm. Hier speist ihn Engelbrodt an statt Egyptens Bohnen, Kein tödtlich Seelengift versalzet seine Kost. Ihn ziert ein großer Schmuck von vielen Kaysercronen, Sein Seelenmalvasier ist mehr als Nectarmost. Er darf nicht wie zuvor in Kedars schwarzen Hütten, Wo man Zeboims Mord und Drachenhöhlen sieht, Um ein erwüntschtes Heil und die Erlösung bitten, Weil ewig Wohlergehn auf seiner Scheitel blüht. ... Beglückt, wer so wie du Gomorrhens Blutgerichte Und Sodoms Zauberwein, so bald er kan, verläst;
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für die Funktion der Teile und die Wirkung des Ganzen, muß selbst solche Veränderungen befördern und dieses Verständnis schließlich mit aufheben. Es läßt sich hier wie auch sonst seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts eine zunehmende Verselbständigung, eine immer größere Künstlichkeit der Bildlichkeit, eine immer stärkere Ausweitung der von der Poetik gelehrten ausschmükkenden inventio beobachten. Das unter anderem bringt schließlich, als Reaktion gegen eine aus der Antike-Rezeption der Renaissance hervorgegangene immer fiktiver werdende Literaturwelt, in bestimmten, hier nicht näher zu erörternden Phasen die allmähliche Auflösung der tradierten Rhetorik und die Abwendung von der Gleichsetzung der Dichtkunst mit der Redekunst und das heißt vom Barock.⁹⁷Nicht einfach der Durchbruch der Erlebnisdichtung macht dem Epi-
Ein Gosen reicht uns dort weit beßre Zuckerfrüchte, Woraus man Göttertranck und Muscateller preßt. Entseelter Jonathan, schlaf in dem kühlen Sande, Bis einst der große Bau der festen Erden bricht; Dein nunmehr freyer Geist schwebt im gelobten Lande, Wo er von Jesu viel und deßen Warheit spricht. Aus Nain führt dich Gott auf Thabors Freudenhügel, Wo deiner Seelen Schaz kein Höllengeyer raubt.“ 97 Mancherlei Hinweise dazu u. a. bei Böckmann, Formgeschichte (in den Kapiteln zum 18. Jh.) und vor allem bei Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Der Vorgang müßte allerdings noch stärker im Zusammenhang mit der Geschichte der Rhetorik selbst und innerhalb der Poetikliteratur verfolgt werden. Kennzeichnend ist etwa die Kritik, die man im 18. Jh. innerhalb der Rhetorik an der Topik übt (vgl. u. a. Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 107ff.). Oder man kann z. B. bei Morhof, bei dem auch bereits Kritik am barocken Stil verschiedentlich vorgebracht wird, beiläufig eine Bemerkung wie die finden, daß bei „kleinen Carmina ... die Dispositiones Rhetoricas so genau ... zu suchen / ... zu Haarkläuberisch zu seyn“ scheine (Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie, S. 325). Im engeren Bereich der Leichabdankung und des Epicediums fällt auf, daß man im 18. Jh. in einer Weise, die über die aus der Lehre vom aptum sich ergebenden üblichen Abstufungen (vgl. oben Anm. 69) hinausgeht, besorgt vor einem unangemessenen Gebrauch warnt, so bei Gottsched, Ausführliche Redekunst, S. 456f. („Man kan weder die Klage, noch den Trost brauchen, wenn an dem Verstorbenen nicht viel zu bedauren ist, oder wenn niemand da ist, der sich um ihn grämen wird. Solche Leichen aber kommen nicht selten vor, und da thut ein kluger Redner wohl, wenn er kein groß Aufhebens machet. Denn denjenigen sehr zu bedauren, den die Welt sehr wohl hat entbehren können, das wird für eine satirische Verspottung aufgenommen. Und die hinterbliebenen weitläuftig zu trösten, wenn sie Gott danken, daß der Verstorbene sie einer Last überhoben; das heißt sie verspotten, und bey jedermann zum Gelächter machen“); Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, S. 730; Hunold-Menantes, Einleitung Zur Teutschen Oratorie, S. 386ff.; Wahll, Gründliche Einleitung zu der ... Teutschen Poesie, S. 77. Das gewiß noch aus der Lehre vom aptum sich herleitende Mißtrauen gegen eine bedingungslose Anwendung der Regeln beginnt sich hier, noch unvermerkt, gegen die unbedingte Gel-
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cedium wie der ganzen barocken Gelegenheitsdichtung ein Ende, sondern die zunehmende Abkehr von jener Gleichsetzung von Redekunst und Dichtkunst, die die Gelegenheitsdichtung seit der Renaissance hervorgebracht und getragen hatte.⁹⁸ Mit der Rolle der Rhetorik fallen auch die zum genus ἐpideiktikὸn gehörenden Gattungen dahin.
tung der Regeln selbst zu kehren. Gleichzeitig begegnen jetzt – ein weiteres Symptom sich vollziehender Wandlungen – Hinweise darauf, daß die Reihenfolge der herkömmlichen Teile (laudatio, lamentatio, consolatio) geändert werden könne, ja mehr oder weniger ins Belieben des Autors gestellt sei (so Bohse-Talander, Wegweiser zur Teutschen Rede-Kunst, S. 446 – Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, S. 730 – Wahll, Gründliche Einleitung zu der ... Teutschen Poesie, S. 76). Auch das bezeugt ein Verständnis, das sich von der Überlieferung der Gattung und ihren Voraussetzungen entfernt. Denn bis dahin war, trotz gelegentlichen Abweichungen in den antiken Mustern (vgl. Esteve-Forriol, a.a.O., S. 113f.), die Folge der Teile als so verbindlich aufgefaßt worden, daß andersartige Gestaltungen, sofern sie nicht überhaupt anderen, verwandten Gattungen zugehören, nur als begründete Abweichungen von der Norm zu verstehen, aber nicht als beliebiges Ergebnis der Willkür des Autors möglich waren. 98 Bezeichnend dafür die Art der Kritik, die im 18. Jh. an der Gelegenheitsdichtung laut wird. Bei Johann Bernhard Basedow, Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit, Kopenhagen 1756, S. 621, beispielsweise heißt es: „Beynahe hätte ich die Gelegenheitsgedichte vergessen, und sie verdienen es beynahe. Was kann man an Neujahrs- Geburts- Namens- und Gedächtnißtagen, bey gewissen Hochzeiten, Sterbefällen, Beförderungen und Jubiläen für Gutes sagen, wenn die Personen, die es angeht, nicht von hohem Werthe sind, oder ein dankbares und zärtliches Herz nicht etwas erfindet, das es auch sonst hätte sagen können? Man muß alsdenn entweder der Versuchung, Verse zu machen, widerstehen, oder seinen poetischen ehrlichen Namen verlieren, oder von ganz etwas anders als seinen Helden reden ... In den Bremischen Beyträgen und verm. Schriften sind sehr schöne Gelegenheitsgedichte anzutreffen. Aber die Gelegenheiten waren es auch werth“. Oder bei Johann Christoph Dommerich, Entwurf einer Deutschen Dichtkunst, Braunschweig 1758, S. 51f.: „Da nicht alle, besonders Privatbegebenheiten, die gehörige poetische Grösse besizen: ... so entsteht daher die ungeheure Menge schlechter Gelegenheitsgedichte, welche so vielen Anteil an dem Verderben des guten Geschmacks haben. Man hat zwar dadurch den Gelegenheitsgedichten aufzuhelfen gesucht, daß man zu Anfang derselben einen algemeinen Saz abhandelt, und beim Beschluß eine Art der Anwendung auf die vorhandene Begebenheit anbringt. Allein dis streitet wider die Einheit eines Gedichts, nach welcher kein Teil desselben, ohne Nachtheil der Schönheit des ganzen, von den übrigen muß können getrennet werden ... Doch giebt es Begebenheiten, die von der Art sind, daß sie poetisch können vorgestellet werden. Je wiziger und sinreicher der Poet ist, je mehr Betrachtungen er bei denselben anzustellen weiß, desto schöner wird sein Gedicht werden.“ Hier werden nicht etwa persönliches Erlebnis und individuelles Gefühl als kritischer Maßstab gegen die Gelegenheitsdichtung gekehrt, sondern, in Anknüpfung an ältere Mahnungen (vgl. Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, S. 11; Hadewig, Wolgegründete teutsche Versekunst, S. 307, 310f., 313ff.), eine Diskrepanz zwischen Gegenstand und poetischem Aufwand und die daraus folgende Gefahr der Unwahrhaftigkeit. Die Kritik ist nicht total, man führt die Gelegenheitsdichtung noch, wenngleich an untergeordneter Stelle und ohne nähere Anleitung und Differenzierung, auf; aber in einem aus der Verbindung mit der Rhetorik sich allmählich
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Das Epicedium ist wie die anderen Gattungen der barocken Gelegenheitsdichtung das Ergebnis einer vielleicht in ihrem Rang begrenzten, gegenüber den Anfängen in der Renaissance verengten Aneignung der Antike, die in der deutschen Literatur von Klopstock an anders und vielleicht großartiger, selbständiger und folgenreicher fortgeführt wird. Aber das über die barocke Gelegenheitsdichtung allzu gern gefällte Verdikt mag doch weniger leicht fallen, wenn man sieht, welche eigene Gesetzmäßigkeit sie besitzt und wie hier Literatur, so sehr sie auch stilisierend verfährt, noch einen engen, ungebrochenen Zusammenhang mit dem Alltag, mit der allgemeinen Lebenswirklichkeit hat. Das ist kein Anlaß zur Verklärung der Vergangenheit, aber es erinnert daran, wie sehr andererseits die Literatur, seit sie vom 18. Jahrhundert an aus jenem Zusammenhang heraustritt, weil sie immer mehr nur noch an das Individuum, seine persönliche Empfindungsweise, an die sich selbst genügende Kraft der Phantasie gebunden ist und damit eine zuvor undenkbare ästhetische Autonomie erhält, zugleich zur Realität in ein Verhältnis zunehmender Spannung gerät und damit einer Gefährdung ausgesetzt ist, die immer wieder dazu führt, daß Literatur selbst in Frage gestellt wird, weil die Spannung zwischen ihr und der Realität, so sehr sie doch produktiv sein kann, nicht ausgehalten wird. Diese Problematik bricht im Jungen Deutschland ebenso auf wie in der Sprachskepsis der Dichtung um 1900 oder dem politischen Engagement vieler Expressionisten wie auch gerade in den letzten Jahren in einem nur zu begreiflichen und doch fast erschreckenden Mißtrauen jüngerer deutscher Autoren gegen Kraft und Recht der Literatur angesichts einer oft allzu argen Wirklichkeit. Steht in dieser Hinsicht das barocke Epicedium wie die ganze Dichtung des 17. Jahrhunderts der Gegenwart fern, so besitzt diese doch andererseits zu ihr über Goethezeit und 19. Jahrhundert hinweg eine Beziehung der Nähe, sofern diese Gegenwart sich wieder von Genieästhetik und Erlebnisdichtung zu entfernen scheint, die einst das Barock abgelöst und unsere literarischen Begriffe lange geprägt haben. Durch beides, durch die Erfahrung der Ferne wie durch die der Nähe, mag die Beschäftigung mit einer Erscheinung wie dem barocken Epicedium den Blick für den dauernden Formenwie Funktionswandel der Literatur und damit einen historischen Sinn schärfen, der auch der Begegnung mit der immer neuen Literatur der Gegenwart zugute kommen kann. Diese Erfahrung von Ferne und Nähe scheint mir ein Grund der seit einer Reihe von Jahren neuerwachten Barockforschung zu sein, das scheint sie mir zu rechtfertigen als eine mehr als nur antiquarische Neigung.
lösenden Lehrgebäude der Literatur findet die Gelegenheitsdichtung, der hier zunehmend der Boden entzogen wird, kaum noch Verständnis und Interesse.
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Exkurs (zu S. 256) Als ergänzender Hinweis auf die Möglichkeiten der differenzierenden Ausgestaltung des Epicediums wie der verstehenden Analyse solcher Texte sei hier an einigen Beispielen angedeutet, wie Andreas Gryphius im Sonett, soweit es nicht Trauergedichte als inschriftartiges Epitaphium oder in freieren Bauformen gestaltet, die Gattung des Epicediums verwirklicht. Bereits in den Lissaer Sonneten hat Gryphius Gedichte auf seine Eltern veröffentlicht. Der Text lautet nach der überarbeiteten Fassung der Ausgabe von 1643 (Gesamtausgabe, Bd. 1, S. 36–37, Sonette I, 12 u. 13): „Tumulus admodum Reverend. Excellentis. Viri, PAVLI GRYPHII THEOLOGI. Vt suspicienda docendi assiduitate, sic imitanda vivendi sanctimonia pollentissimi, parentis desideratiss. A. AEtat. LX. hebdom. X. functionis XL. CHRISTI CIƆ IƆ CXXI. Glogov. major; extincti. Der Christum frey bekand / vnd seine stim erhoben Gleich einer feldposaun / den rufft er aus der welt / Eh als die blutt trompett aus seines grimmes zelt Erschall’ eh’ als sein grim so scharff fing an zu toben. Hier ruht sein müder leib gantz sicher / bis von oben Der printz wird brechen ein / dem jeder vorgestelt Sol werden / den der todt in seinen armen hält / Die seel ist schon bey dehn die Gott dort ewig loben. Sie wartet auff die kron / darmitt ihr trewer fleis / Ihr lehren / jhre müh’ ihr kämpfen / angst vnd schweis / Ihr eyver welcher nie der frechen laster schonet: Ihr wissen / das sie nur zu Gottes ehr anwandt. Ihr leiden / vndt geduldt von der gerechten handt Wen jener tag nun kombt sol werden abgelohnet.“ „ANNAE ERHARDINAE Optimae Matris, A. AEtat. XXXVI. Christi CIƆ IƆ CXXVIII. XXI. Martii extinctae tumulus Ach Edle tugendt blum / an der man konte schawen Was Got recht fürchten hies! was trew vnd heilig sein! O spiegel der gedult / O schawplatz höchster pein O andachts-volle roos / O richtschnur keuscher frawen! Ach hatt des todes seens! hatt die euch weggehawen! Im mittag ewrer zeitt! deckt dieser marmorstein Den leib / den feber / angst vnd schwindtsucht brachen ein! Ach! wollte Gott der welt euch länger nicht vertrawen? Gott rieß euch von vns weg gleich als sein grim entbrandt. Als seelen noth vnd krig verheerten kirch vnd landt. Itz seht ihr Christum selbst mitt süsser frewd vmbfangen
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Vndt seine herlikeit / wir schawen glutt vnd schwerdt / O Mutter / ihr seid euch gar eben von der erdt! Mir aber gar zu früh! Ach gar zu früh entgangen.“ Die beiden aufeinanderfolgenden Gedichte gehören sichtlich eng zusammen, unterscheiden sich aber doch auch auf sehr charakteristische Weise. Das Sonett auf die Mutter enthält im ersten Quartett eine laudatio. Das zweite Quartett besteht in einer lamentatio. Mit ihr ist die laudatio durch das anaphorische klagende „Ach“ verknüpft. Vers 8, der letzte Vers der lamentatio, leitet zugleich in Form der Frage zur consolatio über. Diese consolatio, die die beiden Terzette füllt, arbeitet zum einen mit dem schon in der Frage von v. 8 angelegten Argument des rechtzeitigen Todes, andererseits mit dem Gegensatz der himmlischen Herrlichkeit und des irdischen Unglücks. Das Sonett ist insoweit ein sehr regelmäßig gebautes Epicedium, dessen einzelne Teile sich mit den Teilen des Sonetts decken, und zwar genau so, daß die Terzette mit der consolatio die Gegenbewegung zur laudatio und lamentatio in den Quartetten geben. Eine Abweichung von solcher Regelmäßigkeit ist allerdings zu konstatieren: der letzte Vers bietet noch einmal eine lamentatio, entwickelt freilich aus den zuvor dargelegten konsolatorischen Argumenten. Dieser letzte Vers – nicht ohne Recht durch das anaphorisch in der Versmitte noch einmal aufgenommene „Ach“ nicht nur mit den Versen der lamentatio, sondern auch mit dem Beginn der laudatio verbunden – entspricht damit dem ersten Vers, der ebenfalls Klage einem andersartigen Dispositionsteil hinzufügt (und erfüllt durch solche Entsprechung von Anfang und Ende des Sonetts auch eine in der Zeit beliebte Bauform des Sonetts). So ist das Sonett ein regelmäßiges Epicedium, in dem doch die Klage, die anderen Teile durchdringend, das Ganze umgreifend, das stärkste Gewicht hat. Anders das Sonett auf den Vater. Einsetzend mit einer laudatio des Toten als eines Bekenners Christi, bieten die beiden Quartette knappe Andeutungen des Todes und Begräbnisses, verbunden mit dem konsolatorischen Argument des rechtzeitigen Todes als einer Wohltat Gottes. Die Terzette, den letzten Vers der Quartette aufnehmend und zugleich sich damit den Quartetten im Sinne der Sonettform entgegensetzend, sprechen vom himmlischen Geschick der in der Ewigkeit weilenden Seele, während die Quartette vor allem dem Los des vergänglichen Leibes galten. Die Terzette gebrauchen damit ein altes konsolatorisches Argument. Sie füllen es aber mit Einzelheiten, die zugleich eine laudatio bedeuten. Auch dies ist noch ein die Sonettform wiederum sinnvoll nutzendes Epicedium, wenn auch sehr freier Art. Dem Spannungsbogen des Epicediums tut es Genüge, indem es, in Übereinstimmung mit der Sonettgliederung, das Los des Leibes und das Geschick der Seele einander entgegenstellt. Doch anstelle einer Klage beschränkt es sich auf Andeutungen des Todes und Begräbnisses und gestaltet sie und die einleitende laudatio schon konsolatorisch, während die consolatio weitgehend den Charakter einer laudatio annimmt. Die laudatio wird damit hier zum beherrschenden Element. Das Sonett gewinnt dabei einen, übrigens zugleich auch in der Sprachform durchgeführten, inschriftartigen Charakter, und in der Tat knüpft es, was bisher nicht bemerkt worden ist, an die bei Johann Theodor Leubscher (De Claris Gryphiis, Brieg 1702, S. 47f.) überlieferte Grabschrift des Vaters an; aus ihr stammen die in der Überschrift des Sonetts angeführten preisenden Wendungen „Vt suspicienda docendi assiduitate, sic imitanda vivendi sanctimonia pollentissimi“, die das Sonett entfaltet. Der somit deutlich gewordene Unterschied der beiden Sonette auf die Eltern, die das Gesetz des Epicediums auf jeweils sehr eigene Weise erfüllen, dürfte zu einem Teil durch ein biographisches Moment erklärt werden können, das die Eigenart der Texte noch etwas greifbarer macht. Dazu ist daran zu erinnern, daß Scaliger (Poetices libri septem, S. 168) zwei Arten
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von Trauergedichten unterscheidet: eines (recens), das einem gerade eingetretenen Trauerfall gilt, ein anderes (anniversarium), das dem Gedenken an einen schon länger zurückliegenden Todesfall gewidmet ist; für letzteres schreibt Scaliger, in Übereinstimmung mit ähnlichen Hinweisen bei Menander (perὶ ἐpideiktikῶn, S. 418, Z. 25 ff.), vor, daß darin der luctus, die lamentatio fehlen solle, begründet mit der Bemerkung: „Nemo enim iam annum bienniùmue defunctum deflet.“ Zwar hat Gryphius die 1637 zuerst veröffentlichten Sonette sicherlich beide erst mehrere Jahre nach dem Tod der Eltern geschrieben. Denn auch beim Tod seiner Mutter war er noch nicht zwölf Jahre alt. Aber er konnte an sie und ihren Tod noch eine lebendigere Erinnerung haben und stärker von ihm betroffen sein als von dem des Vaters, den er als gerade Vierjähriger erlebte. So mag es erklärlich sein, daß Gryphius – womit er aber auch noch wieder eine gattungsgemäße Abstufung nach dem Geschlecht der Toten vornimmt – sich an das vorhandene Grabmal anschließt und, nach der Vorschrift Scaligers auf einen Klageteil verzichtend, im Sinne einer Inschrift den kaum noch gekannten Vater preist, im anderen Falle aber die Klage in den Vordergrund rückt und sich dabei sogar, in der Betroffenheit der Identität von Consolator und Consolandus, die Lizenz einer Abweichung von der Norm gestattet, die sonst der consolatio das letzte Wort gibt. Für einige andre Epicedien in Sonettform mögen ein paar knappere Andeutungen genügen. Das Sonett II, 35 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 84), dem Andenken der Großmutter des Dichters gewidmet, schildert in den beiden Quartetten vor allem das Unglück, das die Tote durch die Zeitumstände und durch Todesfälle in der eigenen Familie hat miterleben müssen. Das läßt den Todesfall, dem das Sonett gilt, als Erlösung erscheinen, als Weg in die wahre Ruhe der Ewigkeit. So lautet der Trost, den die Terzette den Quartetten entgegensetzen, endend in den Versen: „Ach / klag ich euch noch jtzt? da fiel ewr leben hin: Alß Freund vnd Lust verging / alß ich geschieden bin. Ihr seidt dem Land auch nicht / das Land ist euch gestorben.“ Das Alter der Verstorbenen und die Zeitumstände bringen es mit sich, daß die daraus sich herleitende Tröstung – schon in den Quartetten angebahnt, im Sinne der Sonettform aber in den Terzetten erst ausgesprochen und vom Blickpunkt der Ewigkeit dem in den Zeitumständen sich besonders deutlich erweisenden irdischen Elend entgegengestellt – dem Sonett das Gepräge gibt, während, dem Geschlecht bzw. dem Alter der Gestorbenen entsprechend, die laudatio, die nur mittelbar durch die Schilderung des von der Toten erlebten und ertragenen Unheils anklingt, und vor allem die Klage zurücktreten, auf die im vorvorletzten Vers im Sinne einer Selbsttröstung des Sprechenden geradezu ausdrücklich verzichtet wird. Die Sonette I, 32 und II, 36 und die beiden Nachlaßsonette Nr. 40 und 43 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 51, 84f., 114, 116) sind Epicedien auf Kinder. Dementsprechend herrschen darin, mit unterschiedlicher Verteilung auf die Gliederung des Sonetts, Klage und Trost, wobei die consolatio als besonders eindringlicher, unmittelbarer Zuspruch entwickelt ist in den beiden Epicedien (Sonett I, 32 und Nachlaßsonett Nr. 43), die sich an die Mutter eines gestorbenen Kindes wenden. Eine laudatio fehlt in diesen Epicedien auf Kinder im Sinne der Gattung fast völlig, mit Ausnahme des Nachlaßsonetts Nr. 40, worin die ersten drei Verse eine laudatio bieten, denen sich in v. 4 eine knappe, aber nachdrückliche lamentatio anschließt:
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„SO reist holdselges Kind der unverhoffte Tod Dich von uns hin / und macht kaum inner einem Lichte / Das liebreichst Ebenbild der Anmuth gantz zu nichte. Ach kaum erhörter Fall! durch rauher schmertzen Noth.“ Darauf folgt allerdings im zweiten Quartett und in den beiden Terzetten, mit einem gattungstypischen „Doch“ (v. 5) entschieden einsetzend, eine breite consolatio. Der Grund für die von den anderen Epicedien abweichende breitere laudatio dürfte in dem Stand dieses Kindes, den die Überschrift Auf das Absterben eines Fürstlichen Kindes nennt, und in dem offizielleren Charakter liegen, den dieses Gedicht damit gewinnt. Das Nachlaßsonett Nr. 44 (Gesamtausg., Bd. 1, S. 116 f.) enthält im ersten Quartett laudatio und iacturae demonstratio. Mit Beginn des zweiten Quartetts setzt die consolatio mit einem „Doch nun“ ein. Aber sie wird wiederholt von Klagen durchbrochen und erscheint am Ende nur als Frage („Wie? oder hast du dort wornach wir hier uns sehnen“), weil das ganze Gedicht, das den Titel Auf eine Wöchnerin / unter eines andern Nahmen hat, gestaltet ist als Anrede des Witwers an die Tote, worin sich noch die trauernde Liebe bezeugt und zugleich zu fassen sucht. Alle diese Epicedien des Gryphius sind, wie sich zeigt, in Übereinstimmung mit den traditionellen Anforderungen der Gattung gekennzeichnet durch das abgestufte Gewicht, das sie je nach dem Anlaß den einzelnen Teilen geben. Sie sind überall mit den überlieferten Argumenten gefüllt, und sie enthalten etwa auch zumeist den gattungstypischen Einschnitt durch eine adversative Partikel am Beginn der consolatio. Sie sind insofern beredte Zeugen für die Selbstverständlichkeit der Gattung und die Verbindlichkeit ihrer Gesetze innerhalb der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Durch die große Variationsbreite in der Abstufung der Teile freilich, durch die einleuchtende Prägnanz der Anpassung an den einzelnen Anlaß, durch die je unterschiedliche, bedachte Verknüpfung der Teile mit den Gliederungsmöglichkeiten des Sonetts, durch die sich so überall bekundende Beweglichkeit und Überlegtheit des gestaltenden Zugriffs, durch das Gewicht, das sie bei der begrenzten Verszahl des Sonetts vielfach der consolatio geben, durch die Spannung zwischen irdischem Elend und ewiger Herrlichkeit, die sie wiederholt nachdrücklich entfalten (so beispielsweise auch in dem noch nicht erwähnten Sonett I, 40, Gesamtausg., Bd. 1, S. 55 f.) – durch all solche Züge sind diese Epicedien zugleich Belege für den Spielraum, den die Gattung bei aller Bestimmtheit ihrer Anforderungen dem Autor, der davon Gebrauch machen will, läßt, und sie bestätigen, wenn auch im engeren Raum des Sonetts auf begrenztere Weise, Merkmale der Dichtung des Gryphius, die oben an einer besonders kunstreich gestalteten pindarischen Ode abgelesen worden sind.
2 „Ich öffne meines Herzens Wunden“* Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert Eine Skizze „... Levamen etiam quoddam mihi est amicorum compellatio in sic luctu domestico conjugali grauissimo, quem exponet programma inclusum … Si dolori saevi levando epicedio aliquo subvenies … mihi tam gratum accidet quam quod gratissimum vtinam in rebus laboratis parilia officia praestare possim“¹ (Auch ist mir die Rede zu Freunden ein gewisses Linderungsmittel in der so gewaltigen, meine Ehe betreffenden häuslichen Trauer, welche die eingeschlossene Mitteilung erklären wird ... Falls Du zu seiner Erleichterung dem heftigen Schmerz mit irgendeinem Epicedium zu Hilfe kommen willst ... wird mir das ebenso wohltuend sein wie dies für mich höchst erwünscht, daß ich [Dir] in mühseligen Umständen ebensolche Dienste möge leisten können) – so schreibt am 11. Juli 1658 nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau der Wittenberger Theologieprofessor Abraham Calov (1612–1686),² einer der führenden Köpfe der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts, an den als Hauptpastor an St. Petri und Senior ministerii in Hamburg wirkenden Theologen Johann Müller (1598–1672).³ Der Brief Calovs, der im Lauf seines weiteren Lebens noch mehrfach den Tod einer Ehefrau und das frühe Sterben zahlreicher Kinder zu beklagen hatte, ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß das auf die antike Rhetorik zurückgehende und insbeson-
* Albrecht von Haller, Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Mariane, v.7. 1 Zitiert – unter stillschweigender Auflösung der Abkürzungen – nach einer Kopie des Originals (Hamburg, SUB, Sup.Ep.6,293), für die ich der Bibliothek meinen verbindlichen Dank sage. Den ersten Hinweis auf diesen Brief verdanke ich der Darstellung von A. Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts, theilweise nach handschriftlichen Quellen, Hamburg, Gotha 1852, S. 208f. Ob die gegenüber dem nicht mitgeteilten Original z.T. recht freie Übersetzung Tholucks auf einem abweichenden Text in der von ihm angegebenen Quelle: „Epp. Ad J. Müllerum, ep. 188“ beruht, ist nicht zu klären, da kein Nachweis eines Exemplars dieses Drucks zu finden war, der auch nicht aufgeführt ist in: Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. Teil 2, bearb. v. Thomas Bürger, Teilbd. A-F, Wiesbaden 2002, S. 194. 2 Zu ihm u. a. NDB 3, 1971, S. 99f. – 4RGG 2, 1999, Sp. 15f. – am ausführlichsten TRE 7, 1981, S. 563–568 (J. Wallmann). 3 Zu ihm Jöcher, T.3, 1751 (ND 1961), Sp. 731 – Jöcher-Adelung, Bd. 5, 1816 (ND 1961), Sp. 67–70 – 4RGG 5, 2002, Sp. 1571.
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dere im 17. Jahrhundert in reicher Blüte stehende Epicedium⁴ nicht nur sozialem Repräsentationsbedürfnis gedient, sondern sehr konkrete lebensweltliche Bedeutung besessen hat, sofern es den Zeitgenossen mittels der aus seinen drei Teilen laudatio, lamentatio und consolatio erwachsenden Spannung von Affekterregung und Affektstillung ein hilfreiches Therapeutikum für die so oft sich häufenden Erfahrungen des Sterbens nahestehender Menschen sein konnte. Der Schreiber jenes Briefes wäre aber wohl verwundert gewesen, hätte er erfahren, daß seit seinen letzten Lebensjahren Beispiele solcher Gedichte aufkamen, welche deren Verfasser selbst zum Tode des ihnen am nächsten stehenden Menschen, der eigenen Ehefrau, schrieben,⁵ und daß einige von diesen Texten außergewöhnlich bekannt und für mehrere Jahrzehnte Anlaß literaturkritischer Erörterungen werden konnten, die sich als aufschlußreiche Symptome für Veränderungen von Dichtungsverständnis und lyrischer Poesie im 18. Jahrhundert erweisen. Es sind dies die Gedichte, die Johann von Besser, F.R.L. von Canitz und Albrecht von Haller auf den Tod ihrer Ehefrauen geschrieben haben. Johann von Besser (1654–1729) widmete seiner Ehefrau Catharina Elisabeth, geb. Kühlwein, die sechsundzwanzigjährig im Dezember 1688 „in ihrem dritten Wochenbette, sechs Tage nach der Geburth einer gleich des folgenden Tages wieder verschiedenen Tochter“⁶ gestorben war, dieses Gedicht, das
4 Siehe dazu im einzelnen die in diesem Band vorausgehende Abhandlung „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert“. 5 Das hat seinen Niederschlag gefunden in der von Anton Paul Ludwig Carstens herausgegebenen Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen in gebundener deutscher Rede abgestattet von Ihren Ehemännern“ (Hannover 1743; Expl. StuUB Göttingen; eine Kopie hat mir vor vielen Jahren für die hier nunmehr nur skizzierte Abhandlung Jürgen Stenzel überlassen, dem ich hier noch einmal danke). Das früheste Beispiel darin ist Christian Weises Gedicht „auf das Absterben seiner Eheliebsten, Reginen Arnoldinn“ vom Jahr 1678. Die weiteren (chronologisch angeordneten) Texte (von einem zweifachen Anhang abgesehen) stammen von Johann von Besser, Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Christoph Fürer von Haymendorf, C.H. Amthor, Sam. Theodor Gericke, Georg Bayer, Sebast. Kortholt, Georg Philipp Telemann, Christoph Christian Händel, Michael Richey, Christoph Fürer von Haymendorf (auf seine zweite Gemahlin), Carl Otto Rechenberg, Johann Valentin Pietsch, Just Diedrich Heidmann, Georg Friedrich Deinlein, Albrecht von Haller (auf seine erste und seine zweite Gemahlin), Barthold Hinrich Brockes, Paul Gottlieb Werlhof (dem die Sammlung gewidmet ist) und reichen bis ins Jahr 1742. – Einige der biographischen Hinweise zu den Ehefrauen von Besser, Canitz und Haller, die der Herausgeber der Sammlung in seinen Fußnoten gegeben hat, sind in den hier folgenden einführenden Hinweisen zu den Trauergedichten der drei Autoren benutzt worden. 6 Zeugnisse treuer Liebe, S. 6.
Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller
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zuerst 1711 in seinen „Schrifften in gebundener und ungebundener Rede“ erschienen ist:⁷ Verhängniß getreuer Liebe, Von dem Autore vorgestellet, als dessen Ehgattin, seine geliebteste Kühleweinin, den 14. Decembr. 1688. im Kind=Bette verstorben. Ovid. – – – Ego sum tibi funeris auctor, Qua mea culpa tamen? nisi si lusisse, vocari Culpa potest, nisi culpa potest & amasse vocari. Als dieses Leich=Gedicht erstlich ans Licht gekommen, meineten viele: daß der Autor zu sehr geklaget. Aber als etwan 7. Jahr hernach, dem nunmehr sel. Herrn Baron von Canitz seine Gemahlin gestorben; sagte er zu dem Autore, den er umb eine Trost=Schrifft angesprochen: daß er durch seinen so langen Witwer=Stand den Character seines vorigen Leich=Gedichtes mehr als genug bewähret hätte. Welches wenigstens anitzo anzunehmen seyn wird; da es allbereits in das 21ste Jahr gehet, daß der Autor Witwer verblieben.
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DJe GOtt und ihrem Mann getreueste Calliste, Der Tugenden Begriff, der Schönheit Schau=Gerüste, Die edle Kühlweinin, von Leipzig dargestellt: Bracht ihre dritte Frucht, ein Töchterlein zur Welt. Welch schmertzliche Geburt, und dennoch zum Verderben! Das Kindlein mußte gleich nach seiner Tauffe sterben: Ach aber nicht genug! die Mutter folgte nach, Die erst zu ihrem Mann die Abschieds=Worte sprach: Mein Besser, der allein mir iemahls lieb gewesen, Jch werde wie es scheint, nicht wiederum genesen. Die Hand, die uns verknüpfft, zerreist auch unser Band: Und wie ich fühlen kan, selbst durch diß Liebes=Pfand. O angenehmes Band, das mich bißher umgeben! Jch wünschte wohl mit dir noch eine Zeit zu leben,
7 In dieser Fassung – unter Ergänzung der in der neuen Besser-Edition leider fehlenden Verszählung – abgedruckt nach: Johann von Besser, Schriften, Bd. 1, Schrifften in gebundener und ungebundener Rede, hrsg. v. Knut Kiesant, bearb. v. Andreas Keller, Heidelberg 2009, S. 515– 523; S. 523–549 weitere Texte zum Tod der Frau von Besser. In der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ ist das Gedicht (S. 5–19) nach der von Johann Ulrich König besorgten dritten Ausgabe von Bessers „Schrifften“ (1732) abgedruckt in einer spät vom Autor veränderten Fassung.
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Und wolte gantz vergnügt im blossen Kittel seyn; Allein, es ist umbsonst: des Himmels Schluß spricht nein! Was hab ich deiner Treu zum Denckmahl zu vermachen? Du warst den ersten Tag Herr meiner Haab’ und Sachen. Doch nimm den letzten Kuß, als ein Vermächtniß an; Weil ich ihn unbefleckt dir hinterlassen kan. Versiegele damit den Kindern unsre Hertzen. Du weinst! Ach, weine nicht! mich jammern deine Schmertzen! Jch weiß, du legest gern allhier an meiner Statt. Doch weil des Höchsten Wahl mich ausersehen hat; So hab dich ewig wohl, und denck an deine Riebe: Jch sterbe, doch verstirbt nicht meine treue Liebe.
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Den Leib befiel sofort ein kalter Todes=Schweiß. Der rothe Mund ward bleich, die Wangen wurden Eys. Der blauen Augen Glantz begunte schon zu brechen, 30 Und in der Marmer=Brust der Othem sich zu schwächen. Jhr Ehmann der indes, als der nie von ihr ging, Um ihren welcken Hals mit seinen Armen hing: Die Seele wenigstens durch Bitten aufzuhalten; Rief seiner Gattin nach, in wehrendem Erkalten: 35 Ach meine Kühlweinin! Geliebte Kühlweinin! Sie reichte noch einmahl die starren Lippen hin, Eröffnet’ ihr Gesicht, obgleich es schon verzucket; Und als sie ihn gesehn, und fest an sich gedrucket; Druckt sie mit seiner Hand zu der verlangten Ruh, 40 Als wenn noch diß gefehlt, ihr selbst die Augen zu. Das Haupt sanck unter sich, der Geist GOtt anbefohlen, Wandt’ sich allmählich loß, im tieffen Othem=hohlen; Biß sie, so schwer er auch den schönen Sitz verließ, Jhn ruhig, sanfft und still, entschlaffend von sich bließ. 45 O Elend, für den Mann! O unglückselger Besser! Wie weit ist dein Verlust und Hertzeleid itzt grösser, Als ehmahls dein Gelück und dein Vergnügen war? Die Todte lag vor ihm. Er warf sich gantz und gar Bald auf der Todten Mund, und bald zu ihren Füssen: 50 Daß man ihn mit Gewalt von ihr hat reissen müssen. Man bracht ihn im Geheul von Kindern und Gesind, Verstumt in ein Gemach, wo er ihr und dem Kind, So bald er reden kont, an dem Begräbniß=Tage; Mit Thränen ohne Zahl, hielt diese Jammer=Klage: 55
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SO ist es nun mit dir, zu sehr verwayßtes Hauß, Du Pilgrim dieser Stadt, du Wander=Hüttlein aus? Gerecht und gütiger, nunmehr erzürnter Himmel! Was trägt diß gräßliche vermumte Leich=Getümmel? Jst es nicht mein Gemahl, das du mir beygelegt, Und womit man zugleich mein Hertz zu Grabe trägt?
Wandlungen des Epicediums: Besser, Canitz, Haller
Du kennst die Einigkeit von unser beyder Seelen. Du hast sie wunderbar, du hast sie wollen wehlen. Jhr Ursprung war dein Zug, ihr Reitz der Tugend Trieb, Und durch dich hatten wir uns unzertrennlich lieb. 65 Uns band zwar unser Eh, doch mehr die Neigungs=Kette. Jch liebte, wenn ich gleich sie nicht erhalten hätte. Jch liebte sie üm sie, und mich, weil sie mir hold; Jch lebte, weil ich ihr dadurch gefallen solt. Zween Leiber waren wir, doch in ein Fleisch gedrungen. 70 Kein Weinstock hält so fest den Ulmenbaum ümschlungen; Als meine Kühlweinin, O Reben guter Jahr! Mit ihrer süssen Huld in mich verwachsen war. Zwo Seelen, durch ein Feur, wie Wachs zuhauf geronnen; Zwey Hertzen die vermischt ein Wesen nur gewonnen. 75 Zween Menschen, die vereint ein Leben nur gefühlt, Und deren ider sich für eine Helffte hielt. Was abr reissest du, ie fester wir verbunden, Je mehr wir uns geliebt, für ungeheure Wunden? Du spaltest meinen Leib, du spaltest auch mein Hertz, 80 Und was mir gantz verbleibt, ist nur der herbe Schmertz! Du Quell der Liebe weist, was bey dergleichen Scheiden, Für Marter und für Quaal getreue Seelen leiden. Ach, so verdencke mir zum wenigsten Du nicht; Wofern es Menschen thun, mein thränendes Gesicht! 85 Wir hatten auf dein Wort das Vaterland verlassen. Wir waren beyde fremd, Berlin, in deinen Gassen. Geschwister, Eltern, Freund, war sie mir gantz allein; Und ich im Gegentheil must ihre Freundschafft seyn. So trösteten wir uns, wie zwo verscheuchte Tauben. 90 Jsts müglich, hast du mir den Gatten können rauben? Dis Schäflein hatt’ ich nur, das meine Seite schloß; Und auch diß eintzige rafst du aus meiner Schoß! Nur die Gehülffin half mir allen Kummer tragen. Mich trifft das gröste Creutz; wem soll ichs itzund klagen? 95 Nichts schwerers hat die Welt für mich, als diesen Tod; Und meine Trösterin verläßt mich in der Noth! Mein Wunsch und Muth ist hin, mein Leitstern zu der Tugend, Das Kleinod meines Lauffs, das Weib von meiner Jugend, Mein’ erste Liebe selbst, und deren erste Krafft: 100 O wie zermartert mich so manche Leidenschafft! Verhängniß reimst du dann auf lieben nur betrüben? Trennt dein Geschick zuerst, die sich am meisten lieben? Sie selbst, die du mir raubst, befahrte diesen Schluß; Ach! daß sie solchen auch nun selbst erfüllen muß! 105 Wir brennen, sprach sie stets, zu licht in unsern Flammen; Mein Besser, gib nur acht, wir bleiben nicht beysammen. Ach leider, allzuwahr: daß Purpur leicht verdirbt, Und eine Rahel ehr als eine Lea stirbt!
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Ein treuverknüpfftes Paar, das sich von Hertzen meinet: 110 Jst zwar des Himmels Bild, da Mond und Sonne scheinet, Deß Stand der Schöpffer schon im Paradieß gestifft; Doch welchen auch das Creutz am allermeisten trifft. Mit Mühe paart man sich, mit Furcht wird man besessen; Bald und zu schwer getrennt, und nimmermehr vergessen. 115 Diß wäre schnöder Brunst ein wohlverdientes Weh; Und diß ist insgemein das Looß der besten Eh! Mit was für Ungemach hab ich sie mir erworben? Doch reich belohnter Schweiß, wenn sie nur nicht gestorben! Hab ich nicht sieben Jahr, (wen hätt’ es nicht versühnt?) 120 Auch dir, Bekümmerniß, umb ihre Gunst gedient. Jhr süssester Besitz hielt selbst viel Angst verborgen. Mein Glücke war zu groß, was solt’ ich nicht besorgen? Jhr Tod, Jhr Tod allein, blieb mir ein solcher Feind, Deß blosse Müglichkeit ich offt in mir beweint. 125 Bald lag sie sterbe=kranck, bald mußt’ ich von ihr reisen. Vergälltes Thränen=Brodt, hier soltest du uns speisen! Voraus als* Engeland mich von ihr scheiden hieß, Und ich sie hinter mir allein zurücke ließ! Drey Monat schon vorher war lauter Abschied nehmen. 130 Wie haben wir darauf, entfernt uns müssen grämen? Die Briefe klagten es, und rieffen allezeit: Voll heisser Ungedult, nach Gegenwärtigkeit. Sie gab mir das Geleit’, und blieb im Felde stehen, Sah mir beweglich nach, so weit ich abzusehen. 135 Das Hertze blutet mir, wenn es daran gedenckt; Doch ist was grösseres, was mich anitzo kränckt, Der Abschied, den anitzt wir unter uns genommen; Ist nicht auf wiedersehn, und nicht auf wiederkommen. Der angenehme Mund, der ehmals mich empfing, 140 Ist nicht mehr in der Welt, wie sehr ich an ihm hing. Es hieß, als wie ich kam: nun sol uns nichtes trennen. Was aber hat der Tod nicht unterbrechen können? Der Tod, der allzuleicht es müglich hat gemacht, Was weder Neid noch Glück an unser Ruh vollbracht. 145 Das Glück, der Affter=Gott der niedrigen Gemüther, Gedacht uns weh zu thun, durch Hemmung seiner Güter; Allein da unser Hertz an seinem Theil vergnügt, Durch seines Fürsten Huld das Glücke schon besiegt, Ja im Begriffe stund der Mißgunst Hohn zu sprechen: 150 Kam, gleichsam zum Entsatz, der Würger es zu rächen; Und traf, uns weh zu thun, den unfehlbahrsten Weg.
* Als Se. Churfl. Durchl. Fridrich Wilhelm der Grosse ihn dahin schickte, und er fast zween Jahre daselbst verbleiben muste.
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O grausames Geschick! o grimmer Todes=Steg! Du warst allein die Bahn uns unvergnügt zu machen; Ein allzufetter Raub erfüllt itzt deinen Rachen! Sind dir dann sieben Jahr an solcher Eh genug? Du hättest nichts versäumt durch längeren Verzug. O wenn noch stets bey ihr ich dieser Zeit genossen, Die schneller als ein Traum, und wie ein Strom verflossen! Wie nichts Vollkommenes hat unser Lebens=Ziel! Ein besser Glück und sie, war es für mich zu viel? Ja freylich dieses solt uns nicht zugleich gelingen: Erhielt ich sie dann nur, umb sie ins Grab zu bringen? Jhr armen Sterblichen, wie sehr betriegt ihr euch! Erlangen, was man wünscht, ist unser Himmelreich; Doch glaubt man nimmermehr, indem wir es begehren: Daß künfftig unser Wunsch uns solte Leid gebähren. Jch sprach, als sie mir ward, du hast die gantze Welt. O theur erkauffter Schatz, hast du mich selbst gefällt? Die Zeit ist leyder da, die Klag üm dich zu führen: Viel leichter nie gehabt, als lieb gehabt verliehren! Wer dachte wohl daran den ersten Hochzeit=Tag? Daß auch der beste Wein zu Eßig werden mag! Mein eigener Gewinst ist mir zur Folter worden, Und was ich so geliebt, will mich anitzt ermorden! Wo find ich in der Angst noch einen Aufenhalt? Jch klage nicht an ihr die prächtige Gestalt: Die Anmuth des Gesichts; des Mundes Morgen=Rosen; Der Augen holden Ernst gebietend liebzukosen; Jhr lang=gekrolltes Haar, das meine Sinnen band; Die Schwanen=weisse Brust; die Atlaß=weiche Hand; Nicht die Geschicklichkeit der schlanck=polirten Glieder: Verhängniß gib sie mir nur ungestalter wieder! Jch klage bloß an ihr, was keine Mißgunst sieht: Jhr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemüth; Den Englischen Verstand, die Sorgfalt mir in allen, Vergnügt in Lieb und Leid, beständig zu gefallen. Exempel aller Treu! ich rede jetzt zu dir, Die diß für mich gethan: was thatst du nicht an mir? Wie liebreich hat dein Thun mich iderzeit ümfangen? Jch war dein gantzer Ruhm, dein Ehrgeitz und Verlangen. Wer hat bey einer Lust dich sonder mich gesehn? Mein Nahme muste dir in allen Zügen stehn. Dein Arm fand keine Rast, als wenn er mich umgeben; Wie? daß ich, sonder dich, dann itzt vermag zu leben! Was meinst du, wie mir sey bey meiner Einsamkeit? Wenn noch darzu die Nacht mit ihrem Schrecken dreut. Wenn die gewöhnte Hand dich sucht, im Traum entzündet, Und deine Stelle zwar, doch dich nicht selbsten findet.
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Kein Wunder, daß dein Mann sich dann verlassen schätzt, 200 Und ein wehklagend Ach! das wüste Lager netzt. Laß, weil es zu gerecht, es deine Ruh nicht stören; Wofern uns ja dein Ohr alldort vermag zu hören! Jch thue was du thätst, und was die Liebe heist; Vielleicht sehnt sich auch noch nach mir dein treuer Geist. 205 Hab ich so mancher Noth hierzu entrinnen sollen? Ja da des Himmels Schluß dich mir entwenden wollen; Warum verliehr ich dich auf so betrübter Art? Daß Unsre Liebe selbst dich gleichsam aufgebart. Dich tödtet die Geburt, die kleine Schmertz=Luise; 210 Kommt leyder Fall und Tod aus unserm Paradiese! Das Ehbett ist dein Grab, o wie verwerff’ ichs nicht, Als wie den Richter=Platz, da ich dich hingericht! So recht, so muß es seyn, sein Unglück recht zu fühlen! Verzeihe, weil du liebst, dem unbedachten Spielen! 215 Die Blumen, die der Glantz der Sonnen erst erquickt; Verwelcken, wenn ihr Strahl sie allzubrünstig drückt. Jch bin der Wunden Schuld, die dir der Tod gerissen; Ach hätt ich doch mit dir, zur Rache sterben müssen! Ein böses Stündlein wär die Endschafft aller Quaal; 220 Jtzt sterb ich, sonder Tod, des Tages tausend mahl. Jch bin gleich einem Reh, das seinen Pfeil noch heget, Und sich iemehr verletzt, ie weiter es ihn träget. Ein Palmen=Baum verdorrt von seines Gattens Pein; Und der gerühmte Mensch kann nicht so glücklich seyn! 225 Ja, daß die Traurigkeit mich desto mehr bestreiche, Seh ich zugleich das Kind auf seiner Mutter Leiche. Ein Sarg, zwiefaches Weh, erscheint vor meiner Thür: O Angst=Gebehrerin, was Schmertzen machst du mir! Allein was soll ich thun? Wenn meine Noth am grösten; 230 Muß ich, so gut ich kan, mich dennoch endlich trösten. Ertrag ich nicht mein Creutz; so schlepp ich es doch nach, Wer weiß, wie lang’ ichs noch in dieser Hütten mach. Glückseelig dann den Schatz voran geschickt zu haben! Begehrt ich wohl von ihr, daß sie mich solt begraben? 235 Ach nein! Diß ist ein Werck, das lebendig verzehrt! Ach nein, du armes Kind! wie hätt ich das begehrt? Du wärst vor Hertzeleyd zu mir herab gefahren; Du warst mir auch zu lieb dich andern vorzusparen: Hingegen sterb ich nun der Welt noch eins so leicht. 240 Was hielte mich doch hier, da dich das Grab erreicht? Nun mögen immer hin die Todes=Stunden eilen; Du zeuchst mich, wo du bist, mit deinen Liebes=Seilen. Du hast es wohl verdient was meine Trauer thut. Mein Arm, der dich beschloß, als sein vertrautes Gut, 245 Jn welchem du erfreut die Kinder mir gebohren;
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Jn welchem leyder! auch dein Leben sich verlohren; Gräbt billig dir nunmehr die letzte Lagerstätt! Du sorgtest jener Zeit für unser Hochzeit=Bett; Jch aber baue jetzt ein Grabmahl für uns beyden! Weil man ja leyden muß, solt ich üm dich nicht leyden? Es ist ein Jammerthal; was seh ich viel zurück? Jch büsse mit Gedult mein vorgehabtes Glück: Und denck, als wenn aufs neu, ich um dich müste werben. Gnug: daß ich dich gehabt, und künfftig auch soll sterben. Du hast bey vieler Wahl vor allen mich erwehlt: So weise dir mein Leid, daß du auch nicht gefehlt: Daß du zum wenigsten mir itzund seyst zu gönnen, Und keiner, wer er sey, dich mehr betrauren können. Dein Werth bewehrt den Ernst von meiner Kümmerniß, Man halte sie für falsch; du machst sie zu gewiß. Wer deine Tugend kennt, gläubt meinen Traur=Geberden; Jch klage nur üm dich, und nicht gerühmt zu werden. Was that ich dir zu gut, so sehr ich es gesucht? Du stirbst, indem uns wächst die längst gezeugte Frucht; Warüm? umb kund zu thun: daß als du mich erlesen, Kein Nutz, nur deine Gunst, dein Absehn sey gewesen. O Jammer! gönnt der Tod mir die Vergeltung nicht; So sterbe doch mit dir nicht meine treue Pflicht! Kont meine Danckbarkeit nicht lebend sich erweisen; Soll sie dennoch der Neid nach deinem Tode preisen. Zwey Kinder läst du mir, von beyderley Geschlecht: Mit denen theil ich nun dein dir gehörig Recht. Jch wil sie auch zum Trost, nach deinem Nahmen heissen; Der Tod, so starck er ist, sol dich nicht gantz entreissen. Dein Ehgelöbniß lebt in dieser Kinder=Paar. Das Dritte starb mit dir, als Zeugin der Gefahr. Das sol, in jenem Licht, von unser Liebe zeugen; Und hier sol auch davon dein Trauer=Hauß nicht schweigen: Was üm und an mir ist, entspringt aus deiner Hand; An allen Wänden wird dein Liebes=Mahl erkant. Jhr Kleider, Zeug und Schmuck, des nun verlohrnen Weibes, Du süsser Uberrest des noch geliebten Leibes! Jhr stellt mir mein Gemahl an allen Orten vor. Mich daucht, es hört dich noch mein offt ergötztes Ohr; Und hat mein Abschied=Kuß, entzückt an dich gezogen, Nicht mit dem letzten Hauch den Geist mir ausgesogen? Dein letzter Liebes=Blick gab zwar mir gute Nacht; Doch hat, dem ersten gleich, er mich verliebt gemacht. Dein Sterbe=Kittel selbst vergrössert deine Schöne; Jch brante nie so sehr, als ich mich itzund sehne. Die Buhlschafft ist verkehrt, der Trauungs=Saal ein Grab; Doch nimmt sie auch daselbst durch kein Verhängniß ab.
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Laß seyn: daß dessen Spruch mich wozu möchte zwingen; Soll doch kein Zufall dich aus meinem Hertzen dringen. Du nimmst die Liebe mit in deine kalte Grufft; Behalte sie darin, sie bleibt in deiner Klufft. Jch wil, wie ich gewohnt, noch deine Tage feyren; Ob dein Gedächtniß gleich den Kummer wird erneuren. Mein* Lied, das du gelehrt, zwar nicht zu solchem Brauch, Sol klagen deinen Fall an jenem Linden=Strauch, Und wenn es dich beweint, zum ewgen Angedencken; Wil ich, verkehrt ans Grab, die stumme Leyer hencken. Nun, todte Kühlweinin, die Bahre wird gesetzt, Ach meine Kühlweinin, seh ich dich nun zu letzt! Gehab dich ewig wohl, mein’ allererste Liebe, Gehab dich ewig wohl, mein’ auserwehlte Riebe, Gehab dich ewig wohl, geliebte Kühlweinin! Kan es nicht anders seyn, so zeuch mit Frieden hin; Zeuch hin: wir scheiden zwar, mit Thränen und mit Grauen; Allein wir werden uns mit Jauchzen wieder schauen. So klagte bitterlich der sehr betrübte Mann, Der sonst nicht weichlich ist und selten klagen kan. Diß war ihm allzuschwer; wer darf die Liebe höhnen? Wer kan dann auch getheilt zu leben sich gewöhnen? Der Sarg ward zugemacht; man hatte, wie man pflegt, Der Mutter in den Arm das Töchterlein gelegt: Sie lagen weiß gekleidt, wie zween entschlafnen Engel: Als wie zwo Lilien an einem Liljen=Stengel, Die zwar ein Norden=Wind zur Erden hat gebeugt; Jedoch an welchem sich der volle Glantz noch zeigt. Die Fackeln führten uns die Leichen zu bestatten. Er zog sich kläglich nach, als ein verwebter Schatten. Das Volck bejammert ihn, das häuffig auf uns drang; Und der Höchst=seeligen Glückwünschungs=Lieder sang. Was fehlt ihr, sprachen sie, mit diesen Zurufs=Worten: Sie hat beglückt gelebt, in zween berühmten Orten: In Leipzig werth geschätzt; hier zu Berlin geehrt; Vergnügt in ihrer Eh; und was ihr Glücke mehrt: Von Fridrich Wilhelm selbst, als eine Braut geworben; Sie stirbt nun auch mit Ruhm, ist im Beruf gestorben; Sie stirbt jung und verlangt, von groß und klein bedaurt; Von ihrem Mann geliebt, begraben und betraurt; Ja in der Todes=Art den Schönsten zwo verglichen; Der Both= und Natzmerin, die auch wie sie verblichen. Die Perlen unsers Hofs, zerronnen auch also! Sie hat nun überstrebt, und ist des Wechsels froh: Wer wil aus Eigennutz dann um sie Leide tragen?
* die Poesie
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Wer ja mitleidig ist, mag ihren Mann beklagen; Der solch vollkommenes und treues Weib verliehrt, 340 Und weil er leben muß, ein Jammer=Leben führt.
Das Gedicht von Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz (1654–1699) auf den Tod seiner ersten Ehefrau, Dorothea Emerentia, geb. von Arnim (1656–1695) – gestorben, „nachdem sie einer unzeitigen Leibesfrucht entbürdet war“⁸ – erschien zuerst 1700 in der postumen ersten Gesamtausgabe seiner Gedichte, der in der Folgezeit oft wiederaufgelegten Sammlung „Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte“. Es lautet: Klag=Ode über den Tod seiner ersten Gemahlin.
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SOll ich meine Doris missen?* Hat sie mir der Tod entrissen? Oder bringt die Phantasey Mir vielleicht ein Schrecken bey? Lebt sie? Nein, sie ist verschwunden; Meine Doris deckt ein Grab. Schneid, Verhängniß, meinen Stunden Ungesäumt den Faden ab! Solt ich dich noch überleben! Der ich mehr, als mir, ergeben, Die ich in mein Hertz gedrückt; Dich, die du mich so beglückt, Daß die Welt mit Kron und Reichen Mich zu keinem Neid gebracht, Weil ich sie, dir zu vergleichen, Niemahls groß genug geacht? Doris, kanst du mich betrüben! Wo ist deine Treu geblieben, Die an meiner Lust und Gram Immer gleichen Antheil nahm? Du eilst zur bestirnten Strassen, Und hast nun zum ersten mahl Mich und unsern Bund verlassen; Deine Wonne schafft mir Qvaal!
8 Zeugnisse treuer Liebe, S. 29. * Die erste Gemahlin des Herrn von Canitz hieß Dorothea Emerentia, und war eine gebohrne von Arnimb.
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Was für Wellen und für Flammen Schlagen über mich zusammen Unaussprechlicher Verlust, Wie beklemmst du meine Brust! Und wie kömmts? da ich mich kräncke, Werd ich gleichsam wie ergötzt, Wenn ich nur an die gedencke, Die mich in diß Leid gesetzt.
Möchte mir ein Lied gelingen, Sie nach Würden zu besingen: 35 Doch ein untermengtes Ach Macht mir Hand und Stimme schwach; Worte werden mir zu Thränen, Und so muß ich mir allein, In dem allergrösten Sehnen, 40 Der betrübte Zeuge seyn.
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Ihr, die ihr mit Schrifft und Tichten Könnt die Sterblichkeit vernichten, Singt die Angst, die mich verzehrt, Und der Doris ihren Werth; Daß man sie, nach langen Jahren, Mag bedauren, und auch mich. Doch ihr könnt die Arbeit spahren; Wer kennt beydes so, wie ich? Ihrer edlen Seelen Gaben Hielt sie zwar nicht als vergraben; Nein, sie waren Stadt und Land Meistens, mir doch mehr, bekannt. Manches Weib wird hoch gepriesen, Das kaum so viel Tugend zehlt, Als die Seligste von diesen Aus Bescheidenheit verhöhlt. Daß sie wohl mit GOtt gestanden, Sieht man, da sie von den Banden Dieses Lebens wird befreyt; Seht, wie sie der Tod bedräut, Aber selbst beginnt zu zittern! Denn sie zeigt ihm lächlend an, Daß, der die Natur erschüttern, Ihren Schlaff kaum hindern kan. In dem eiteln Welt=Gedränge, Ward von der verführten Menge,
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Die man allenthalben spührt, Doris dennoch nie verführt, Niemahls hatte sie erkohren Einen Gifft, der Zucker hieß; Weil ihr etwas angebohren, Das so fort die Probe wieß.
Doch, in Worten und in Wercken, Ließ sie einen Umgang mercken, 75 Der nicht fremdes Thun verhönt, Und das Seinige beschönt. Was für kluge Tugend=Sätze Macht indessen nicht ihr Mund, Und für ungemeinte Schätze 80 Noch vielmehr ihr Wandel kund!
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Gütig jederman begegnen, Lieb und Wohlthat lassen regnen, Das war ihre beste Kunst. Auch der höchsten Häupter Gunst,* Und ihr innerstes Vertrauen, Hat sie nie zum Stoltz bewegt. Wir und das, worauf wir bauen, Sprach sie, wird in Staub gelegt. Durch verstelletes Beginnen Fremden Beyfall zu gewinnen, Wär ein zu verächtlich Spiel, Das ihr niemahls wohlgefiel. Und was war es ihr vonnöthen? Ihre Stirn, die nie betrog, Machte so den Neid erröthen, Als sie Hertzen an sich zog.
Von der Anmuth ihrer Sitten Fand ich mich schon längst bestritten; Doch in unserm Ehestand 100 Ward ich hefftiger entbrannt: Weil ich so ein Hertz erlesen, Das, wenn Unglück auf uns stieß, Eben ein so sanfftes Wesen, Als im Glücke spüren ließ.
* Churfürst Friedrich erwehlte sie einsmahls, aus eigener Bewegniß, um mit Sr. Durchl. Gemahlin nach Hanover auf den Carneval, als Ober=Hofmeisterin, zu reisen. Von beyden aber ward sie jederzeit eines gantz besondern Vertrauens gewürdiget.
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105 Bey der liebsten Kinder Leichen* Gab sie kein verzagtes Zeichen. Hof und Hauß vergieng in Glut,** Aber nicht ihr Helden=Muth. Regung, Sinn und Wunsch zu brechen 110 Nach des weisen Schöpffers Rath, Und mir tröstlich zuzusprechen, Das war alles, was sie that. Mit was lieblichem Bezeigen Gab sie sich mir gantz zu eigen! 115 Und wie sehr war sie bemüht, Biß sie meine Neigung rieth. Alles das hab ich verlohren! Ach! wie werd ich Traurens=voll! Hat mein Unstern sich verschworen, 120 Daß ich sterbend leben soll? Selbst das Pfand von unserm Lieben, Das von allen übrig blieben, Wenn ichs in der Unschuld seh, Machet mir ein neues Weh; 125 Weil sein aufgeweckt Geblüte, Seiner Mutter frohen Geist, Und sein unverfälscht Gemüthe, Ihren wahren Abdruck weist. Was mir ehmals wohlgefallen, 130 Schmeckt itzund nach lauter Gallen, Und mich beugt der kleinste Wind, Weil er mich verlassen findt; Mir erweckt das Schau=Gerüste Grosser Höfe nur Verdruß, 135 Und mein Hauß scheint eine Wüste, Weil ich Doris suchen muß. Ich durchirre Land und Seen, In den Thälern, auf den Höhen, Wünsch ich, wider die Gewalt 140 Meines Schmertzens, Auffenthalt. Berg und Thal, samt See und Ländern, Können auch zwar mein Gesicht, Aber nicht mein Leid verändern; Denn ich finde Doris nicht. * Von sieben in ihrer Ehe erzeugten Kindern blieb ihr nicht mehr als ein einiger Sohn im Leben. ** Sein schönes Land=Gut Blumberg, welches 1695. fast gantz in die Asche gelegt ward.
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145 Euch, ihr Zeiten, die verlauffen, Könt ich euch mit Blut erkauffen, Die ich offt, aus Unbedacht Ohne Doris zugebracht! Sonne, schenck mir diese Blicke! 150 Komm, verdopple deinen Schritt! Eilt ihr Zeiten, eilt zurücke, Bringt mir aber Doris mit! Aber nein: Eilt nicht zurücke! Sonst entfernen eure Blicke 155 Mir den längst begehrten Tod, Und benehmen nicht die Noth. Doch, könt ihr mir Doris weisen? Eilet fort! Nein, haltet still! Ihr mögt warten. Ihr mögt reisen. 160 Ich weiß selbst nicht, was ich will. Helffte meines matten Lebens, Doris! ists denn gantz vergebens, Daß ich kläglich um dich thu? Kanst du noch in deiner Ruh, 165 Die getreuen Seuffzer hören? Rührt dich meiner Schickung Grimm? Ach so laß dein Schlummern stöhren! Sieh dich einmahl nach mir üm! Zeige dich mit den Geberden, 170 Die so manches mahl auf Erden Mich von Sorgen loß gemacht. Gib mir noch, zu guter Nacht, Nur mit Wincken zu verstehen, Daß du meinen Jammer kennst, 175 Wenns der Himmel so versehen, Daß du dich auf ewig trennst. Laß in der Gestalt dich schauen, Wie dich in den sel’gen Auen Eine Klarheit nun erleucht, 180 Der die Sonne selbst nicht gleicht. Oder scheint der Engel Freude Nicht durch grober Sinnen Flohr; Wohl! so stell, in meinem Leyde, Dich auf andre Weise vor. 185 Dürfft ich küssend dich umfassen, So, wie ich dich sah erblassen,
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Wie der werthen Augen Paar Dir zuletzt gebrochen war, Und der Angst=Schweiß deine Wangen 190 Als mit Perlen angefüllt! Denn so wäre mein Verlangen, Sollt ich meynen, schon gestillt. Ja, ob gleich die Träume trügen, So will ich mich doch vergnügen, 195 Wenn du in der stillen Rast Meinen Wahn befriedigt hast. Ist denn dieses auch verboten, Ey! so steht die Hoffnung fest, Daß der finstre Weg der Todten 200 Mich zu dir gelangen läßt. Denn will ich, nach langem Schmachten, Dich in Sions Burg betrachten. Brich, erwünschter Tag, herein! Und mein sterbliches Gebein 205 Soll, biß künfftig unsre Seelen Wieder in die Cörper gehn, Nechst bey dir, in einer Höhlen, Die Verwesung überstehn. Wie geschicht mir? Darff ich trauen? 210 O du angenehmes Grauen! Hör ich meine Doris nicht? Die mit holder Stimme spricht: Nur drey Worte darff ich sagen: Ich weiß, daß du traurig bist; 215 Folge mir! Vergiß dein Klagen, Weil dich Doris nicht vergißt.⁹
9 Abgedruckt nach: Friedrich Rudolph Ludwig Freiherr von Canitz, Gedichte, hrsg. v. Jürgen Stenzel, Tübingen 1982 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. NF Bd. 30), S. 327–334 (hier S. 335 ferner ein „Sinn-Gedicht. Nach eben derselben Absterben“). Am Ende des Abdrucks in den „Zeugnissen treuer Liebe“ (S. 39–38) wird in einer Fußnote berichtet: „Es hat der Herr von Canitz diese schöne Klagode, erst einige Zeit nach dem Absterben seiner so geliebten Doris verfertiget. Denn die Heftigkeit seines Schmerzens war anfangs zu gewaltig, als daß er sich getrauet, so gleich etwas seiner Gemahlinn würdiges zu schreiben. Er ersuchte also seinen werthen Freund, den Herrn von Besser, die Feder zu seinem Troste anzusetzen, welches auch von ihm in der schon angeführten Trostode geschehen. Zugleich suchte der Herr von Besser, den Herrn von Canitz zu bewegen, daß er selbst etwas auf seine Gemahlinn schreiben möchte“. Die Trostode Bessers an Canitz ist 1697 aufgenommen worden in den 2. Teil der Sammlung
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Albrecht (seit 1749 von) Haller (1708–1777) schrieb wenige Wochen nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Mariane, geb. Wyß (1711–1736), die kurz nach der Übersiedlung des Ehepaares nach Göttingen gestorben war, ein Trauergedicht, das ähnlich wie die Gedichte von Besser und von Canitz lange bekannt blieb. Es erschien zuerst in einem undatierten Einzeldruck (wohl noch vom Jahr 1736), wurde 1738 in den 3. Teil der von Gottsched eingeleiteten Sammlung „Oden und Cantaten“ der Deutschen Gesellschaft in Leipzig aufgenommen¹⁰ und stand seit der dritten Auflage (1743) von Hallers Sammlung „Versuch Schweizerischer Gedichte“ in den zahlreichen weiteren Auflagen, die zu seinen Lebzeiten erschienen:¹¹ Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Mariane.* Nov. 1736.
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Soll ich von deinem Tode singen? O Mariane! welch ein Lied, Wann Seufzer mit den Worten ringen Und ein Begriff den andern flieht! Die Lust, die ich an dir empfunden, Vergrößert jetzund meine Noth;
„Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte“ (hrsg. v. Angelo George de Capua u. Ernest Alfred Philippson, Tübingen 1965, S. 175– 183); sie findet sich zusammen mit anderen Texten im „Ehren-Mal Zum Angedenken Der Frau von Canitz Auffgerichtet“ am Ende des Einleitungsteils der von Johann Ulrich König besorgten Canitz-Ausgabe von 1727 (hrsg. v. Stenzel, S. 165–184) und seit 1711 in den „Schrifften“ Bessers (hrsg. v. Kiesant/Keller, S. 494–502). Vgl. zu dieser Trostode die Studie von Ulrich Breuer: Poetische Reisefiktion als Melancholietherapie. Johann von Bessers „Trost aus anderer Unglück“, in: Daphnis 24, H. 2–3, 1995, S. 427–453. 10 Näheres dazu in Anm. 25. 11 Abgedruckt nach: Albrecht von Haller, Gedichte, hrsg. u. eingeleitet v. Ludwig Hirzel, Frauenfeld 1882, S. 158–162; hier auch S. 163–166 das Gedicht „Ueber eben Dieselbe“ vom Februar 1737, S. 335–340 Bodmers Gedicht an Haller „Auf das Absterben der Mariane“ von 1738, das Haller in die Sammlung seiner eigenen Gedichte aufgenommen hat, S. 176–183 Hallers „Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer“ vom selben Jahr und schließlich S. 184–187 das Gedicht „Ueber den Tod seiner zweiten Gemahlin, Elisabeth Bucher“ vom Februar 1741. – In der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ sind die beiden Gedichte Hallers auf seine erste Ehefrau (S. 165– 171, 172–175), sein Dankgedicht an Bodmer (S. 176–184, mit Zitaten aus Bodmers Gedicht an Haller in den Fußnoten des Herausgebers) und Hallers Gedicht zum Tod seiner zweiten Ehefrau (S. 203–207) wiedergegeben. * Aelteste Tochter des Herrn Samuel Wyß, Herrn zu Mathod und la Mothe, und Marien von Dießbach, die der Verfasser den 19. Febr. 1731 geheirathet und den 30. Octob. 1736 durch den Tod verloren hat, da er eben einen Monat vorher in Göttingen angekommen war.
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Ich öffne meines Herzens Wunden Und fühle nochmals deinen Tod.
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Doch meine Liebe war zu heftig, Und du verdienst sie allzuwohl, Dein Bild bleibt in mir viel zu kräftig, Als daß ich von dir schweigen soll. Es wird, im Ausdruck meiner Liebe, Mir etwas meines Glückes neu, Als wann von dir mir etwas bliebe, Ein zärtlich Abbild unsrer Treu! Nicht Reden, die der Witz gebieret, Nicht Dichter-Klagen fang ich an; Nur Seufzer, die ein Herz verlieret, Wann es sein Leid nicht fassen kann. Ja, meine Seele will ich schildern, Von Lieb und Traurigkeit verwirrt, Wie sie, ergötzt an Trauer-Bildern, In Kummer-Labyrinthen irrt! Ich seh dich noch, wie du erblasstest, Wie ich verzweifelnd zu dir trat, Wie du die letzten Kräfte fasstest, Um noch ein Wort, das ich erbat. O Seele, voll der reinsten Triebe, Wie ängstig warst du für mein Leid! Dein letztes Wort war Huld und Liebe, Dein letztes thun Gelassenheit.
Wo flieh ich hin? in diesen Thoren Hat jeder Ort, was mich erschreckt! 35 Das Haus hier, wo ich dich verloren; Der Tempel dort, der dich bedeckt; Hier Kinder – ach! mein Blut muß lodern Beim zarten Abdruck deiner Zier, Wann sie dich stammelnd von mir fodern; 40 Wo flieh ich hin? ach! gern zu dir!
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O soll mein Herz nicht um dich weinen? Hier ist kein Freund dir nah als ich. Wer riß dich aus dem Schooß der deinen? Du ließest sie und wähltest mich. Dein Vaterland, dein Recht zum Glücke, Das dein Verdienst und Blut dir gab, Die sinds, wovon ich dich entrücke, Wohin zu eilen? in dein Grab!
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Dort in den bittern Abschieds-Stunden, Wie deine Schwester an dir hieng, Wie, mit dem Land gemach verschwunden,* Sie unserm letzten Blick entgieng; Sprachst du zu mir mit holder Güte, Die mit gelassner Wehmuth stritt: ‚Ich geh mit ruhigem Gemüthe, Was fehlt mir? Haller kömmt ja mit!‘ Wie kann ich ohne Thränen denken An jenen Tag, der dich mir gab! Noch jetzt mischt Lust sich mit dem kränken, Entzückung löst mit Wehmuth ab. Wie zärtlich war dein Herz im lieben, Das Schönheit, Stand und Gut vergaß, Und mich allein nach meinen Trieben Und nicht nach meinem Glücke maß. Wie bald verließest du die Jugend Und flohst die Welt, um mein zu sein; Du miedst den Weg gemeiner Tugend Und warest schön für mich allein. Dein Herz hieng ganz an meinem Herzen Und sorgte nicht für dein Geschick; Voll Angst bei meinem kleinsten Schmerzen, Entzückt auf einen frohen Blick.
Ein nie am eiteln fester Wille, Der sich nach Gottes Fügung bog; 75 Vergnüglichkeit und sanfte Stille, Die weder Glück noch Leid bewog; Ein Vorbild kluger Zucht an Kindern, Ein ohne Blindheit zartes Herz; Ein Herz, gemacht mein Leid zu mindern, 80 War meine Lust und ist mein Schmerz.
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Ach! herzlich hab ich dich geliebet, Weit mehr als ich dir kund gemacht, Mehr als die Welt mir Glauben giebet, Mehr als ich selbst vorhin gedacht. Wie oft, wann ich dich innigst küsste, Erzitterte mein Herz und sprach: ‚Wie? wann ich sie verlassen müsste!‘ Und heimlich folgten Thränen nach.
* Die Reise nach Göttingen fieng zu Schiff an.
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Ja, mein Betrübniß soll noch währen, Wann schon die Zeit die Thränen hemmt; Das Herz kennt andre Arten Zähren, Als die die Wangen überschwemmt. Die erste Liebe meiner Jugend, Ein innig Denkmal deiner Huld, Und die Verehrung deiner Tugend Sind meines Herzens stäte Schuld.
Im dicksten Wald, bei finstern Buchen, Wo niemand meine Klagen hört, Will ich dein holdes Bildniß suchen, 100 Wo niemand mein Gedächtniß stört. Ich will dich sehen, wie du giengest, Wie traurig, wann ich Abschied nahm! Wie zärtlich, wann du mich umfiengest, Wie freudig, wann ich wiederkam! 105 Auch in des Himmels tiefer Ferne Will ich im dunkeln nach dir sehn Und forschen, weiter als die Sterne, Die unter deinen Füßen drehn. Dort wird an dir die Unschuld glänzen 110 Vom Licht verklärter Wissenschaft; Dort schwingt sich aus den alten Gränzen Der Seele neu entbundne Kraft! Dort lernst du Gottes Licht gewöhnen, Sein Rath wird Seligkeit für dich; 115 Du mischest mit der Engel Tönen Dein Lied und ein Gebet für mich. Du lernst den Nutzen meines leidens, Gott schlägt des Schicksals Buch dir auf; Dort steht die Absicht unsers scheidens 120 Und mein bestimmter Lebenslauf. Vollkommenste! die ich auf Erden So stark und doch nicht gnug geliebt! Wie liebens-würdig wirst du werden, Nun dich ein himmlisch Licht umgiebt. 125 Mich überfällt ein brünstigs hoffen, O! sprich zu meinem Wunsch nicht nein! O! halt die Arme für mich offen! Ich eile, ewig dein zu sein!
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Die Gedichte von Besser, Canitz und Haller – die hier, um hinreichende Anschauung zu vermitteln, in voller Länge mitgeteilt werden mußten – sind, wie schon ein rascher Blick auf diese Texte lehren kann, regelgerechte Epicedien. Verwundern kann das nicht, denn neben anderen Formen der Kasualpoesie behält – trotz aller im späten 17. und im 18. Jahrhundert zunehmenden Kritik an der Gelegenheitsdichtung¹² – nicht zum wenigsten das Epicedium noch lange seinen Platz in der literarischen Produktion vieler Autoren wie in den Lehrbüchern der Poetik und Rhetorik und sonstigen Kompendien¹³ und war gelehrten Autoren wie Besser, Canitz und ebenso noch dem jüngeren Haller selbstverständlich wohlvertraut. So setzen alle drei Gedichte – mit einer über die schon immer gegebene Freiheit der Ausgestaltung der Teile des Epicediums und ihres Verhältnisses zueinander hinausgehenden auffälligen, wenngleich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auch in der Theorie ausdrücklich als zulässig geltenden¹⁴ Abweichung vom her-
12 Nähere Belege für diese aus einer massenhaften Produktion von oft zweifelhafter Qualität wie aus einer nach und nach zunehmenden Distanz gegenüber der rhetorischen Tradition erwachsende Kritik, die sich in literaturkritischen Texten, in Briefen, aber auch in kritischen Bemerkungen in mancherlei Gedichten vielfältig niederschlägt, erübrigen sich hier; doch sei wenigstens aus der Vielzahl jüngerer Arbeiten zur Gelegenheitsdichtung die umfassende Untersuchung von Wulf Segebrecht hervorgehoben: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977 (darin bes. S. 225–286: Dritter Teil. Das Casualcarmen als Gegenstand vorgoethescher Kontroversen). 13 Hierzu wie zur denselben Regeln folgenden oratio funebris s. als beliebige Beispiele aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wenigstens diese Werke: Gottsched, Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, Zum Gebrauche der Schulen entworfen, 1Leipzig 1756, S. 158 (s. das Zitat in der unten folgenden Quellensammlung) – Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, herausgegeben von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1760 (ND Hildesheim, New York 1970), Sp. 617 (Epicedium), mit knapper Definition; Sp. 1575 (Trauerreden), mit näherer Erläuterung der dispositio: Lob des Verstorbenen, Klage über den Verlust, Bemühen, die Betrübten aufzurichten – Johann August Ernesti, Initia Rhetorica, Leipzig 1783 (Expl. StuUB Frankfurt a.M.; 11750), S. 132f.: „Restat vnum genus [orationis], de quo separatim praecipiendum videtur, epitaphium, siue funebre. Possunt autem in oratione tali esse haec: doloris atque luctus demonstratio, laudatio mortui, ex qua luctus causa intelligatur, consolatio eorum, ad quos dolor maxime pertinet, veluti parentum, coniugum, liberorum, etc … maxime in hoc genere dominantur laudes mortui … Doloris autem significatio non modo ponetur ab initio, quamquam id non est perpetuum, sed etiam, atque vel maxime, post laudes; quibus explicatis, breuiter repetendo laudum … capita, argumentationes efficientur, e quibus veritas et magnitudo doloris intelligatur“. 14 S. die in Anm. 97 der Abhandlung „Das barocke Epicedum“ in diesem Band angeführten Stellen in den Werken von Bohse-Talander (1692), Hallbauer (31736) und Wahll (1723) – ferner z. B. auch: Erdmann Uhse, Wohl-informirter Redner, 5Leipzig 1712 (ND Kronberg 1974), S. 415: „Die Stücke folgen zwar am natürlichsten also auff einander / daß 1. Das Lob. 2. Die Klage. 3. Der Trost ... gesetzet wird: Allein es kommet bißweilen gar pathetisch heraus / wenn man
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gebrachten Dispositionsschema laudatio, lamentatio, consolatio – ein mit eindringlichen und zum Teil umfangreichen Klageteilen (bei Besser nach einer einleitenden iacturae demonstratio, wie sie Scaliger als zusätzlichen Teil genannt hatte), aus denen dann das Lob der Toten, die Klage um sie begründend, hervorgeht (so Besser, v.61ff.; bei Canitz anklingend schon v.12ff., entschiedener dann v.49ff.; Haller, v.49ff.), um zum Teil wiederholt in Klage zurückzufallen, die doch immer auch laudatio bedeutet und in unterschiedlicher Mischung mit dieser auftritt. Jedes der drei Gedichte endet in einem deutlich ausgeprägten consolatio-Teil (Besser, v.229, mit einem den Einschnitt betonenden „Allein“; Canitz, v.161ff.; Haller, v.105ff.) mit mancherlei lange schon tradierten Trostargumenten, bei Besser etwa der vom Todesfall ausgehenden Aufforderung zur Abwendung von der Welt als einem Jammertal (v.232f., 239f., 251f.) oder der Erwartung des Wiedersehens „mit Jauchzen“ in der Ewigkeit (v.310), bei Canitz mit mehrfach variiertem Hinweis auf den glückseligen Zustand der Vorangegangenen in der Ewigkeit und auf die Erwartung einer neuen Vereinigung der Seelen in der künftigen Welt. Freilich handhaben die drei Autoren die Form des Epicediums – die man immer schon mit einfacher Regeltreue wie mit selbständiger Kunst gestalten konnte – über die bei jedem von ihnen in gleicher Weise zu beobachtende Stellung der lamentatio vor der laudatio hinaus in eigenwilliger Weise. Das zeigt sich schon an der bis dahin unbekannten Tatsache, daß hier die Trauernden selbst, die den Tod eines ihnen ganz nahe stehenden Menschen, der eigenen Ehefrau, beklagen, Trauer- und Trostgedichte schreiben.¹⁵ Diese Abweichung
mit der Klage anfänget ...“ oder oben in Anm. 13 das Zitat aus den „Initia Rhetorica“ von J.A. Ernesti. 15 Wieweit es dafür noch vor Bessers Gedicht von 1688 und dem zehn Jahre älteren von Christian Weise (s. Anm. 5) Beispiele aus dem späteren 17. Jahrhundert gibt, muß hier offen bleiben. In der für die zweite Hälfte des 17. und die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts repräsentativen Sammlung „Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte“ erster [-siebender] theil (1695–1727), hrsg. v. Angelo George de Capua, Ernest Alfred Philippson, Erika A. Metzger, Michael M. Metzger, Tübingen 1961–1991 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 1, 16, 22, 24, 29, 38 und 43) findet sich (T.7, S. 378–385) ein einziges, viel späteres Beispiel von Carl Otto Rechberg aus dem Jahr 1720, das 1743 in die Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ aufgenommen wurde. Zwei Gedichte in der sogen. Hoffmannswaldau’schen Sammlung, die dem Tod naher Verwandter (aber nicht der Ehefrau) gelten, gehören auch erst dem späteren 17. oder frühen 18. Jahrhundert an (T.3, S. 239–241: Wehmüthiges leid bey dem grabe seiner schwester / Frau Maria Magdalena Schultzin / gebohrnen Peuckerin; undatiert, Verfasser Johann Wolfgang Peucker, 1652–nach 1701 – T.7, S. 406–409: Thränen eines höchstbetrübten Vaters über den frühzeitigen Tod seiner eintzigen an den Blattern schmertzhafft doch seelig verblichenen Tochter; datiert 1718, Ver-
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von einer lange gültigen Norm hat allerdings die Leser und Kritiker des frühen 18. Jahrhunderts – wohl im Rahmen einer sich anbahnenden Distanz gegenüber der Kasualdichtung und ihren rhetorisch fundierten praecepta – offenkundig, falls sie überhaupt noch als Normabweichung wahrgenommen worden ist, nicht gestört, sie hat nur Anlaß zu Erwägungen gegeben, in welchem Affektzustand ein Dichter sich befinden muß, um ein derartiges Gedicht zu schreiben. Gleichwohl ist die von Besser und entschiedener noch von Canitz und Haller mit Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau vollzogene Abweichung von einer lange Zeit selbstverständlichen Norm des Epicediums Voraussetzung für das Echo, das diese Gedichte dann über mehrere Jahrzehnte gefunden haben. Denn diese Normabweichung, die offenkundig zugleich auf ein verändertes Selbstverständnis, auf veränderte Absichten verweist,¹⁶ bedeutet, sofern der Verfasser sich nun nicht den von einem Todesfall am nächsten Betroffenen als teilnehmend Klagender und Tröstender zuwendet oder im Namen eines unmittelbar Betroffenen dessen Leid ausspricht, sondern den eigenen Schmerz, das eigene Trostbedürfnis bekundet und zu stillen sucht, eine Sprechhaltung, durch welche die hergebrachte dispositio und inventio des Epicediums, so sehr diese ersichtlich noch das Fundament jener Gedichte sind, doch folgenreich verändert werden müssen. Das ließe sich durchgehend an vielen Einzelheiten an jedem der drei Texte zeigen, doch mögen hier einige begrenzte Andeutungen genügen.
fasser Johann Christian Stieff). Zwei andere Epicedien (T.1, S. 166–168: Die an dem begräbnißtage / ihres grossen Friedrich Wilhelms / wehklagende Durchlauchtigste Dorothee; zum Tod des Großen Kurfürsten verfaßt von Johann von Besser; T.6, S. 207–209: Trauer-klag eines fürnehmen witwers über den Tod seiner gemahlin; von Benjamin Neukirch) sind nur scheinbar Parallelfälle zu den Gedichten von Besser, Canitz und Haller, denn sie gehören zum Typus des Gelegenheitsgedichts „in eines andern Namen“ (deshalb auch, wie die Vorrede Bl. c5rf. ausdrücklich begründet, in der Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ „mit Fleiß übergangen“), der im 17. Jahrhundert, in welchem Gelegenheitsgedichte vielfach unverächtliche Auftragsarbeit waren, verbreitet und unumstritten war und erst in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts aus Gründen, von denen weiter unten zu sprechen sein wird, zum Gegenstand der Kritik wurde. Auch die Gedichte von Andreas Gryphius auf den Tod seiner Eltern und seiner Großmutter (s. den Anhang zu der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band) können, auch wenn hier consolator und consolandus ebenfalls identisch sind, mit den späteren Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau nicht verglichen werden, da sie, offenkundig aus mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand entstanden und eben so sehr Zeitklage wie persönliche lamentatio, nur sehr zurückhaltend von der Betroffenheit des sprechenden Ich und seinem Trostbedürfnis zeugen. 16 In welchem genauen Wechselverhältnis das, was hier nur angedeutet werden kann, als Symptom oder auch mitwirkendes Medium zu jenen geistes- und literaturgeschichtlichen Wandlungen des Denkens und Empfindens steht, die dann das 18. Jahrhundert entscheidend prägen, kann im hier gegebenen Rahmen nicht einmal ansatzweise näher erörtert werden.
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Besser, als Hofdichter in brandenburgischen, später sächsischen Diensten Verfasser zahlreicher Gelegenheitsgedichte, macht mit seinem umfangreichen Alexandriner-Gedicht auf den Tod seiner Ehefrau noch zurückhaltender als bald darauf Canitz und Jahrzehnte später Haller von der mit jener Normabweichung gegebenen Sprechhaltung Gebrauch, wie am Aufbau seines Textes sogleich ins Auge fällt: der in der 1. Person sprechende umfangreichste Teil ist von einem einleitenden (v.1–54) und einem abschließenden Teil (v.311–340) eingefaßt, die in der 3. Person Singular gehalten sind und den Todesfall und den Jammer des verlassenen Ehemanns schildern, um im langen Mittelteil der eindringlichen Bekundung seiner Klage und seiner Suche nach Trost ausführlich Raum zu geben. In diesem Rahmen kann sich nun in vielfältigen Zügen des privaten Lebens das Band sehr persönlicher ehelicher Liebe (s. z. B. v.65) bezeugen und die Klage über seine Auflösung durch den Tod laut werden in einer Sprache, die von den ausschmückenden Mitteln der amplificatio nur sparsam Gebrauch macht, einzelne Bilder aber (so in v.70ff. das von Weinstock und Ulme, in v.73 das von in Feuer geschmolzenem Wachs zur Bekräftigung der liebenden Zuwendung in der Ehe) umso wirksamer einsetzen kann oder beispielsweise in Versen einer laudatio innerhalb der lamentatio typische Züge des barocken Schönheitspreises aufruft (v.176ff.), um sie hinter dem zurücktreten zu lassen, was wesentlicher Grund von Lob und Klage ist: „... was keine Mißgunst sieht: Ihr groß und edles Hertz, ihr redliches Gemüth“ (v.183f.), und das keineswegs neue Motiv einer Entgegensetzung von Schönheit und Tugend mit einzelnen Zügen ehelicher Verbundenheit zu bekräftigen. Auch der konsolatorische Teil wandelt traditionelle Trostargumente ab, wenn der Trauernde (v.233ff.) nicht die Tote, sondern sich glückselig nennt, weil der Tod sie davor bewahrt hat, ihn begraben, um ihn trauern zu müssen, – wenn er den Tod der Ehefrau nicht als allgemeine Erinnerung an die Unentrinnbarkeit des Todes und als Mahnung zur Abkehr von der Welt erfährt, sondern eine Abkehr von der Welt nur deshalb leicht nennen kann, weil ihn darin angesichts des Grabes der Vorangegangenen nichts mehr zu halten vermag (v.239ff.), – wenn das irdische Jammertal, das sonst kontrastierender Anlaß einer tröstlichen Preisung des in die ewige Herrlichkeit entrückten Toten ist, als mit Geduld zu tragende Buße für das zuvor erlebte Glück der Ehe verstanden wird (v.251ff.). Durch derlei Abwandlungen traditioneller Trostargumente bleibt der consolatio-Teil, durch welchen der Trauernde nur mühsam Fassung bis zum eigenen Tod findet, durchzogen von Klage, wie es schon seine an der Kraft des Trostes zweifelnde Einleitung (v.230: Muß ich, so gut ich kan, mich dennoch endlich trösten) andeutet und der in den Schlußteil des Rahmens überleitende Vers (v.311: So klagte bitterlich der sehr betrübte Mann) abschließend ausspricht. So trägt hier auch der Trostteil dazu bei, daß Bessers Gedicht in einem Maß von Klage durchzogen ist, das durch die besondere Sprechsituation des trauernden
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Ehemanns möglich und legitimiert wird und damit die Bekundung persönlichprivater Betroffenheit sich entfalten lässt, wie sie in einem sich strenger an die hergebrachten praecepta haltenden Epicedium kaum denkbar ist. Auf andere, aber doch vergleichbare Weise lebt auch das Epicedium von Canitz auf die eigene Ehefrau aus den Möglichkeiten der damit gegebenen besonderen Sprechsituation und einer damit verbundenen Umprägung traditioneller Argumente und Topoi, die den hergebrachten Teilen des Epicediums einen stärker privaten, persönlichen Charakter geben. Daß es eine zwiespältige Rolle ist, in welcher der um die eigene Ehefrau trauernde Dichter sich befindet und die erinnernde laudatio immer wieder von der Klage verdrängt zu werden droht, bekundet schon die fünfte Strophe, die einen alten Topos, die Frage nach der Fähigkeit des Poeten zur angemessenen Verfertigung eines Epicediums und zur Erfüllung der damit verbundenen Erwartungen der Trauernden abwandelt für die Situation des um die geliebte Ehefrau Trauernden, der auch mit seinen zum Lob der Toten bestimmten Versen Zeuge der eigenen Trauer sein muß und immer wieder in Klage ausbrechen wird. So folgen zwar von v.49 an Strophen einer laudatio, die vielfach traditionelle Motive der bewährten Tugend, der Standhaftigkeit im Unglück, der Liebe aufgreifen, dabei jedoch als Zeugnisse sehr persönlicher Eigenschaften ausprägen, die zum Anlaß immer erneuter und wachsender Liebe des nun Trauernden wurden (v.97ff.). Diese Strophen liebender, dankbarer laudatio aber werden (v.117ff.) alle zusammen zur ausdrücklichen Begründung für einen die Anfangsstrophen fortsetzenden Klageteil, der mit dem summierenden Vers „Alles das hab ich verlohren“ (v.117) einsetzt und sich darauf konzentriert, die widersprüchlichen Affekte des Trauernden – unter Benutzung tradierter Motive und Sprachgesten (v.137ff.: das Umherirren in der Natur; v.158ff.: in Form einer dubitatio wechselnde Wünsche, gipfelnd im Vers „Ich weiß selbst nicht, was ich will“) – in einer beweglichen Abfolge von Versen und Strophen zu vergegenwärtigen. Von dauernder Klage und Sehnsucht bleibt auch der abschließende Trostteil geprägt, der mit v.161 einsetzt. Wenn er vom Schlummer der Toten (v.167), von einem erhofften Winken „zu guter Nacht“ (v.172), als Abschiedsgruß also, von der Klarheit seliger Auen (v.178f.), in welchen die Tote weilt, oder von der künftigen Auferstehung und Wiederbegegnung (v.199ff.) spricht, so sind auch dies überlieferte Trosttopoi. Doch dienen sie hier nicht als wirksame Trostargumente, sondern dem von Strophe zu Strophe immer wieder laut werdenden Wunsch, der Toten noch einmal zu begegnen, der sich doch – nach vorausgegangener Ergebung in das der Toten und dem noch Lebenden gemeinsame Los der Verwesung in einander nahen Gräbern (v.203ff.) – nur in einer Vision zu erfüllen vermag, welche mit unsicherem Fragen aufgenommen wird. Dieser Trostteil führt nicht, wie es seine ursprüngliche Funktion ist, zur Affektstillung, aber er trägt auf seine
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Weise dazu bei, daß dieses Epicedium zum Mittel der Vergegenwärtigung sehr persönlich erfahrener Trauer wird. Daß Albrecht von Hallers Gedicht auf den Tod seiner Frau Mariane, mehrere Jahrzehnte nach den Gedichten von Besser und Canitz entstanden, von weiter voranschreitenden Wandlungen des lyrischen Sprechens geprägt ist, welche es von jenen unterscheiden, bezeugt nachdrücklich die programmatische dritte Strophe, in welcher der Autor rhetorischen und poetischen Texten, „die der Witz gebieret“ (v.17f.),¹⁷ die Absicht entgegensetzt, die Seufzer eines fassungslosen Herzens, ja die Seele zu schildern,¹⁸ die verwirrt ist von widersprüchlichen, von vermischten – bei Canitz sich erst andeutenden – Empfindungen, wie sie im Denken und Dichten des 18. Jahrhunderts eine zunehmende Rolle spielen. In Übereinstimmung mit dieser Strophe durchzieht das Wort „Herz“, mit dessen Gebrauch Haller an einer anderen Stelle in dessen Bedeutungs- und Verwendungsgeschichte schon steht als Besser und Canitz, das ganze Gedicht und spielt nicht nur der Zahl, sondern seinem Sinn nach eine im Vergleich mit den beiden poetischen Vorgängern ungleich größere und andersartige Rolle als Organ einer zunehmend ihrer selbst bewußt werdenden Innerlichkeit. In solchem Sinne verändert auch Haller das Epicedium, an dessen dispositio und inventio er gleichwohl noch festhält. So wird in der ersten und der dritten Strophe aus dem tradierten Einleitungstopos des Zweifels an der Befähigung des mittrauernden Poeten zur angemessenen Gestaltung des Trauer- und Trostgedichts die Not des möglichen Verstummens (besonders v.3f. und 19f.) vor der Größe des erlittenen und immer neu und gerade auch mit dem Versuch eines Gedichts erneut vergegenwärtigten eigenen Leids. Die achte Strophe nennt mit „Schönheit, Stand und Gut“ (v.62) Eigenschaften, die als Topoi einer laudatio entfaltet werden könnten, doch nur, um ihnen als wahres Lob das zärtlich liebende Herz der Toten entgegenzustellen, das einst sich für den nun um sie Trauernden nicht nach dessen Glücksumständen, sondern nur um seiner Liebe willen entschieden hatte,
17 Zu Begriff und Bedeutung des Witzes in der frühen Aufklärung ist noch immer zu verweisen auf Paul Böckmanns grundlegende Studie „Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung“, zuerst gedruckt 1932/33 im „Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts“ und später aufgenommen in die „Formgeschichte der deutschen Dichtung“ (Bd. 1, Hamburg 1949, S. 471–552). 18 Haller hat diesen Gegensatz noch einmal hervorgehoben in einer Vorbemerkung, die er der „Trauer-Ode“ in der 4. und 5. Auflage (1748, 1749) beigegeben hat: „Diese Ode ist wenige Wochen nach der traurigen Begebenheit, die sie veranlaßt, aufgesetzt worden. Sie redet mehr die Sprache des Herzens als des Witzes. Es ist mir immer vorgekommen, als wann einige der beliebtesten Gedichte von der gleichen Art zu sehr die letztere redeten“ (Gedichte, hrsg. v. Hirzel, S. 332).
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– Anlaß für die widersprüchlichen Empfindungen von „Lust“ und „Kränken“, „Entzückung“ und „Wehmuth“ (v.59f.), in welchen sich laudatio und lamentatio kaum unterscheidbar mischen. Auch in den Schlußstrophen, dem Ort der consolatio, greift Haller tradierte, geistliche Topoi des Epicediums auf: den Glanz der jenseitigen Welt, die verklärte Erscheinung der Toten, ihre Teilhabe an den Lobgesängen der Engel, die Teilnahme der Gestorbenen, die nun das den Lebenden verschlossene Buch des Schicksals kennen lernt, an dem noch auf Erden Weilenden. Doch verbinden sie sich nicht zu einer theologisch begründeten Tröstung, sondern Trost gewährt hier nur die darin sich bekundende sehnsuchtsvolle Vergegenwärtigung der verklärten Toten, aus welcher zuletzt Hoffnung auf die künftige Wiedervereinigung der durch den Tod getrennten Liebenden in der Ewigkeit erwächst. Durch die Art, wie Besser, Canitz und Haller sich zwar an die lange Tradition des Epicediums anschließen, die in ihm angelegten Möglichkeiten einer aus den Verfahrensweisen der Rhetorik gespeisten Affektdarstellung aber – zumal in der von der ursprünglichen Sprechhaltung der Gattung abweichenden Form des Trauergedichts auf die eigene Ehefrau – zu einer zunehmend persönlicher werdenden affektbewegten Bekundung von Trauer und dauernder ehelicher Liebe entwickeln, werden diese Epicedien trotz der sich ausbreitenden Kritik an der gesamten Kasualdichtung und wohl gerade mit dem hier entstandenen Spannungsverhältnis von Traditionsbeziehung und Normabweichung zu auffälligen und die Zeitgenossen beschäftigenden Beispielen, an denen Wandlungen der Gestaltung von Affekten oder (zunehmend so genannten) Empfindungen und der sie tragenden Sprechweise des carmen lyricum sichtbar werden und die daher über mehrere Jahrzehnte hin in der literarischen Diskussion des 18. Jahrhunderts immer wieder eine aufschlußreiche Rolle spielen.¹⁹ Wichtige Stimmen sind – in chronologischer Folge – diese:²⁰
19 Die Trauergedichte von Besser, Canitz und Haller (weniger allerdings die Tradition, in welcher sie stehen, und deren produktive Bedeutung) haben – von manchen gelegentlichen, oft nur knappen Bemerkungen in anderen Arbeiten abgesehen – ausführlicher Beachtung gefunden in dem (in Ergebnissen und Perspektiven freilich begrenzten) Aufsatz von Christoph Siegrist, Frühaufklärerische Trauergedichte zwischen Konvention und Expression, in: Text & Kontext 6, 1978, S. 9–20, und in der viel ergiebigeren, vor allem auf die frühaufklärerische Liebes- und Eheauffassung gerichteten Studie von Ernst Osterkamp, Liebe und Tod in der deutschen Lyrik der Frühaufklärung, in: Critica Poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur, hrsg. v. Andreas Gößling u. Stefan Nienhaus, Würzburg 1992, S. 75–100. 20 Diese Belege, zusammengetragen im Lauf mancher Jahre und bei Lektüre für unterschiedliche Zwecke, können keinen Anspruch auf eine gewisse Vollständigkeit erheben, dürften aber repräsentativ genug für die Wirkungsgeschichte der Epicedien von Besser, Canitz und Haller im 18. Jahrhundert und für die darin sich ergebenden Fragen sein.
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J.J. Bodmer (1721) Der Herr Besser ... schreibet Gedichte / worinnen er die reichste Imagination hervorblicken läßt. Er ist insonderheit lebhafft in den Beschreibungen der Bewegungen einer Armee / der Schlachten und der Bestürmungen ... Aber ich werde niemals so empfindlich getroffen / als wenn ich die Klag-Gedichte lese / welche dieser Herr und sein vortrefflicher Freund der Hr. Canitz über das Absterben ihrer Gemahlinnen geschrieben haben. Dies sind vielleicht die zwey passionniertste Stücke / welche wir in der Deutschen Poesie haben. Es ist unmöglich / daß ein Leser nicht einen Theil der Grösse des Affectes / welcher sie beyde erhitzet hat / in seinem Hertzen empfinde. In des Herrn Bessers haben mich die folgenden Stellen mit einer Traurigkeit angefüllet / die sich erneuert / so offt ich sie wieder lese. Bl.219. Erhielt ich sie denn nur / um sie ins Grab zubringen? Und Bl.220. Was meinst du / wie mir sey bey meiner Einsamkeit? Wenn noch darzu die Nacht mit ihrem Schrecken dreut. Wenn die gewohnte Hand dich sucht im Traum entzündet / Und deine Stelle zwar / doch dich nicht selbsten findet. Kein Wunder / daß dein Mann sich dann verlassen schätzt / Und ein Wehklagend Ach! das wüste Lager netzt. Und Bl.221. Begehrt ich dann von ihr / daß sie mich solt begraben? Ach nein! diß ist ein Werck / das lebendig verzehrt! Ach nein! du armes Kind / wie hätt ich das begehrt? Du wärst vor Hertzeleid zu mir herabgefahren. *** Dein letzter Liebes-Blick gab zwar mir gute Nacht / Doch hat dem ersten gleich er mich verliebt gemacht. Dein Sterbe-Kittel selbst vergrössert deine Schöne / Ich brannte nie so sehr / als ich mich jetzund sehne. *** Ich liebte / wenn ich gleich sie nicht erhalten hätte; Ich liebte sie um sie / und mich / weil sie mir hold / Ich lebte / weil ich ihr dadurch gefallen solt. Welche Stärcke der Passion bemercken diese letztern Verse? Des Herrn Canitz seine ist nicht schwächer gewesen / und seine Expressionen sind eben so natürlich. – – Wie kömmts / da ich mich kräncke / Werd ich gleichsam wie ergetzt / Wenn ich nur an die gedencke / Die mich in das Leid gesetzt? *** Euch ihr Zeiten die verlauffen / Könnt ich euch mit Blut erkauffen / Die ich offt aus Unbedacht / Ohne Doris zugebracht! Sonne schenck mir diese Blicke! Komm verdopple deinen Schritt /
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Eilt ihr Zeiten / eilt zurücke! Bringt mir aber Doris mit! Der Zweiffelmuth eines betrübten Amanten kann nicht natürlicher gesetzt werden / als wie in der Strophen so auf diese folget / geschicht. Aber nein; eilt nicht zurücke / Sonst entfehrnen eure Blicke Mir den längst begehrten Tod / Und benehmen nicht die Noth; Doch könnt ihr mir Doris weisen; Eilet fort! Nein haltet still! Ihr mögt warten / ihr mögt reisen; Ich weiß selbst nicht / was ich will. Diese vornehme Poeten / die ich niemals müde werde zuloben / lassen das Hertze reden / man kann sagen / daß Amor ihnen ihre Verse in die Feder geflösset hat / wenn sie von der Liebe / und Mars wenn sie von dem Kriege singen. Sie zwingen uns die Affecte anzunehmen / welche sie wollen / wir lachen / wir werden stoltz / wir förchten uns / wir erschrecken / wir betrüben uns / wir weinen wenn es ihnen gefällt; aber auch die traurigen Affecte die sie in uns rege machen / werden von einem gewissen Ergetzen begleitet / das damit vermenget ist. Ich belache diese fantastische Schüler der Reim-Kunst / welche sich eine Chimerische Maitresse bey einem frostigen Herzen / und einer noch kältern Imagination machen / welche von Brand und Feuer mit den kältesten Expressionen reden / in der Metaphora sterben / sich hencken / sich zu tode stürtzen / derer passioniertste Complimente / die sie ihrer Liebsten machen / Spiele der Wörtern / und der truckenen Imagination sind / Phebus / Galimathias / etc. Es bleibt mir übrig / euch mit wenigen Worten zuerklären / was es eigentlich seye / daß die Poeten figürlich ihren Enthousiasmum / ihre Inspiration / oder auch nur Poetische Raserey nennen. Diese Worte bedeuten nichts anders / als die hefftige Passion / mit welcher ein Poet für die Materie seines Gedichtes eingenommen ist / oder die gute Imagination / durch welche er sich selbst ermuntern / und sich eine Sache wieder vorstellen / oder einen Affect annehmen kan / welchen er will. Wenn er also erhitzet ist / so wachsen ihm / so zusagen / die Worte auf der Zungen / er beschreibet nichts als was er siehet / er redet nichts / als was er empfindet / er wird von der Passion fortgetrieben / nicht anderst als ein Rasender / der ausser sich selbst ist / und folgen muß / wohin ihn seine Raserey führet. (zit. aus: Die Discourse der Mahlern, hrsg. v. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger, T.1, Zürich 1721, ND Hildesheim 1969, Bl. T 3r-T4v, XIX. Discours, unterzeichnet mit dem in den „Discoursen“ von Bodmer benutzten Pseudonym Rubeen)
Anon., Anleitung zur Poesie (1725) Unter denenjenigen, welche sich von andern unterschieden, sind die Gedichte des Frey-Herrn von Abschatz, und des Herrn von Canitz ... Der andere [Canitz] hat es den meisten von unsern Poeten zuvorgethan, und es ist zu beklagen, daß uns von seiner Arbeit so wenig zu Gesichte kommen. Die Ode, welche er auf den Tod seiner ersten Gemahlin verfertiget, ist insonderheit werth zu lesen, denn sie hat alles, was zur Vollkommenheit einer Ode erfodert wird. –– –
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Opitz hat einige sehr schöne Oden geschrieben. Flemming hat es ihm nachgethan. Hoffmannswaldau und Menantes haben einige Lieder die unverbesserlich, wie auch Logau. Die schönste Ode aber, die wir haben, ist die Ode des Herrn von Canitz, welche er auf den Tod seiner Gemahlin gemacht. (zit. aus: Anon., Anleitung zur Poesie / Darinnen ihr Ursprung / Wachsthum / Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird, Breslau 1725, Expl. Slg. Jantz, Film Nr. 573, S. 84, IX. Cap. Von dem Zustande der Poesie in Deutschland, § 11; S. 111, XI. Cap. Von geistlichen und weltlichen Oden, § 6)
G.F.W. Juncker (1727) Es ist iede Gemüths-Neigung, wenn sie in Schranken gehalten wird, edel. Es kann eine verliebte Ode in ihrer Art so schön seyn, als eine heroische, die ihre Reitzungen von der aufgebrachten Ehrbegierde herleitet. Ohngeachtet die Raserey vieler Dichter bey verständigen Leuten fast einen Eckel vor den verliebten Versen erweckt, so glauben wir doch, daß sich niemand solche Stücke zu lesen schämen wird, in welchen die Natur einer Leidenschafft, nach ihren Kennzeichen, abgeschildert ist, und die an und für sich nichts lächerliches hat. [es folgen zwei Beispiele von J.Chr. Günther] Der Herr von Besser hat so vernünfftig und zärtlich den Tod seiner Kühleweinin besungen, als erhaben er die Belagerung von Stettin beschrieben, und der Freyherr von Canitz ist so beweglich in der Ode auf seine verblichene Doris, als scharfsinnig er die Laster in seinen Satyren entlarvet. Kurtz ein verliebtes Gedicht ist seiner Hochachtung werth, wenn es eine vernünfftige Zärtlichkeit hat, und nicht ins lächerliche fällt, oder zum Phöbus und Galimathias wird. (zit. aus: Gottlob Friedrich Wilhelm Juncker, Untersuchung Herrn Gottfried Benjamin Hankkens Weltlicher Gedichte, S. 41f., in: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte Siebender Theil. Nach dem Druck vom Jahre 1727 hrsg. v. Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger, Tübingen 1991, Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 43, S. 11–60)
J.Chr. Gottsched (1730) Die andre Art der Nachahmung geschicht, wenn der Poet selbst die Person eines andern spielet, oder einem der sie spielen soll, solche Worte, Geberden und Handlungen vorschreibt und an die Hand giebt, die sich in solchen und solchen Umständen vor ihn schicken. Man macht z.E. ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Nahmen eines andern, ob man gleich selbst weder verliebt noch traurig, noch lustig ist. Aber man ahmet überall die Art eines in solchen Leidenschafften stehenden Gemüthes so genau nach, und drückt sich mit so natürlichen Redens-Arten aus, als wenn man wircklich den Affect bey sich empfände. Zu dieser Gattung gehört schon weit mehr Geschicklichkeit als zu der ersten. Man muß hier die innersten Schlupfwinckel des Hertzens ausstudirt, und durch eine genaue Beobachtung der Natur den Unterscheid des gekünstelten, von dem ungezwungenen angemercket haben. Dieses aber ist sehr schwer zu beobachten, wie die Fehler sattsam zeigen, so von den grösten Meistern in diesem Stücke begangen worden ... Die Klag-Gedichte, die Canitz und Besser auf ihre Gemahlinnen gemacht, werden sonst als beson-
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dere Muster schön ausgedruckter Affecten angesehen; die ich gar wohl unter diese Art der Nachahmung rechnen kan, ob sie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorstellen wollen. Denn so viel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten denn, wenn er die Verße macht, die volle Stärcke der Leidenschafft nicht empfinden kan. Diese würde ihm nicht Zeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nöthigen, alle seine Gedancken auf die Größe seines Verlusts und Unglücks zu richten. Der Affect muß schon ziemlich gestillet seyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und seine Klagen in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will. Und es ist auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen verfertiget worden: da gewiß die Poeten sich nur bemühet haben ihren vorigen betrübten Zustand aufs natürlichste auszudrücken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß diese treffliche Stücke des berühmten Amthors Klagen in gleichem Falle weit weit vorzuziehen sind: So könnte doch ein scharfes Auge auch in diesen zwey Meisterstücken noch manchen gar zu gekünstelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entdecken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr würde hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verstanden werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, sollen verliebt geschrieben seyn: haben aber den Affect, den der Poet nachahmen wollen, sehr schlecht getroffen, und tausend bunte Einfälle und Zierrathen angebracht, die sich vor keinen warhafftig verliebten schicken. Man darf nur dargegen halten, was Günther I.Th. sein. Ged. an seine Geliebte geschrieben, wo alles der Natur gemäß ist: so wird man leicht selbst wahrnehmen, was eine geschickte Nachahmung der Natur ist, und was ein kaltes und frostiges Gewäsche in der Poesie heist. – – – So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u.s.w. Das Wunderbare muß noch allezeit in den Schrancken der Natur bleiben und nicht zu hoch steigen. Was ist gemeiner als daß man in Romanen, in Schauspielen und andern verliebten Gedichten die Buhler so rasend abbildet, daß sie sich alle Augenblick hengen, erstechen und ersäufen wollen? Was ist aber auch ausschweifender als dieses? Daher es denn gekommen, daß diese Art des eingebildeten Wunderbaren schon längst lächerlich geworden und nur der Poesie zum Schimpf gediehen. Das Seltsame in allen Arten muß noch natürlich und glaublich bleiben, wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Gelächter erwecken soll. Die Traurigkeit wird ebenfalls auf eine solche Art ausschweifend, wenn der Poet nicht stets die Natur vor Augen hat. Es ist so schwer, einen hohen Grad derselben poetisch vorzustellen, als abzumahlen ... Des Herrn von Bessers Schmertz über seine Kühlweinin ist mir allezeit gar zu geschwätzig vorgekommen, und es scheint mir nicht glaublich, daß ein ausserordentliches Leid so viel auserlesene Redner-Künste leiden könne. Er erschöpfet seine gantze Einbildungs-Krafft seinen Jammer auszudrücken; und das Unglaublichste ist dabey, daß er diese seine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben die Leichen-Procession auf der Gasse gesehen, wie ausdrücklich darinne steht. Gieng er denn irgend nicht mit zu Grabe? Oder hatte er auf der Gasse Zeit sie so sinnreich zu beklagen? Der Affect hat bey dem Verluste einer ungemeinen Ehgattin, ungemein und wunderbar seyn sollen: Er ist aber unglaublich geworden. Besser hat als ein künstlicher Poet, nicht als ein trostloser Wittwer geweinet. Ich will hiermit diesen gantzen Ausdruck der Traurigkeit nicht verwerfen; Es ist so viel schönes darinn als in irgend einem Klaggedichte, so wir haben. – – – ... ich will also nur aus einem wiedrigen Affecte etwas hersetzen. Es ist solches die Traurigkeit, und davon will ich das Exempel aus Canitzens Ode auf seine Doris nehmen. Diese ist gleichfalls gantz affectuös gesetzt, und drücket den zärtlichsten Schmertz sehr natürlich und beweglich aus. Er fängt unter andern einmahl gantz unvermuthet an:
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Helfte meines matten Lebens! Doris! ist es gantz vergebens, Daß ich kläglich um dich thu? Andre schöne Stellen sind schon in den vorhergehenden Capiteln daraus angemercket: ich will hier nur noch eine hersetzen, die mir einen Tadel zu verdienen scheint. Es ist folgende: Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich Traurens-voll! Hat mein Unstern sich verschworen, Daß ich sterbend leben soll? Die letzte Zeile ist es, was mir nicht gefällt. Sterbend leben, ist viel zu künstlich, vor einen wahrhaftig Betrübten. Es ist eine gesuchte Antithesis, ein verwerffliches Spiel der Gedancken, so sich zum wenigsten in keinen Affect schicket. (zit. aus: Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730, Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 618, S. 120–122, 1.T., IV. Cap. Von den drey Gattungen der Poetischen Nachahmung, und insonderheit von der Fabel; S. 157f., V. Cap. Von dem Wunderbahren in der Poesie; S. 300, XI. Cap. Von der poetischen Schreibart).
J.D. Heidmann (1730/1743) Der Herr Verfasser dieses Zeugnisses der Liebe schreibt an uns. „Er habe diese Arbeit angefangen, da die Leiche seiner seligen Frauen noch bey ihm im Hause gewesen, und in den nächsten 8 Tagen nach ihrer Beerdigung geendiget: sein Lied sey also bey den lebhaftesten Empfindungen eines durch und durch gerührten Herzens verfertiget, und in der Sprache der Natur geschrieben, doch eben diese Stärke der Gemüthsbewegung (so fähret er fort) ist der Aufmerksamkeit auf die Wortfügung sehr hinderlich, und man ist nicht ruhig genug, bey derselben, so lange als nöthig, zu verweilen. Mir ist es wenigstens so gegangen. Daher habe ich mir zuweilen Freyheiten wider die Reinigkeit der Wortfügung, imgleichen wider die Cäsur in den so genannten versibus communibus erlaubet, die ich mir nimmermehr bey einem, mit ruhigerm Gemüthe zu schreibenden Gedichte, gönnen würde“. (zit. aus: Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen, Hannover 1743, S. 148f., Fußnote, in welcher der Herausgeber der Sammlung aus einem Brief von Justus Diederich Heidmann über die Entstehung des Trauergedichts auf seine 1730 verstorbene Ehefrau berichtet und zitiert)
J.J. Bodmer (1737) Er [Canitz] legete nichts fremdes in dieselben [seine Gedichte], was nicht zuvor in seinem Sinn und Hertzen gewesen wäre ... Das Hertz kan sich nicht entbrechen, an denen Empfindungen des Verfassers, welche er nach ihren wahren Symptomatibus, wie er sie an sich selbst gefühlet hatte, so getreulich ausgedrücket, Theil zu nehmen; da es menschliche Empfindungen sind, welche wir ebenfalls empfunden haben, werden wir davon aufs neue angestecket. Auf diese Weise finden wir unsere eigene Angelegenheit von ihm vorgestellet; und dieses verbindet uns mit dem Poeten. Kein Wunder, wann tausend andere Gedichte weggeworffen werden, weil sie uns nichts angehen, weil die Meinungen darinn keine Verbindung mit unsern haben, weil sie
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ohne Empfindung geschrieben sind. Die Verfasser derselben reden nicht nach ihrem eigenen Befindniß, ex alieno jecore sapiunt; sie haben ihre Gedancken nur gelehrnet und nicht erkennet. Die Empfindungen, von welchen sie schreiben, sind nicht in ihrer Brust gewesen, sie haben sie in Büchern gefunden, und mit einer ihnen nicht zustehenden Belesenheit verderbet. (zit. aus Bodmers Vorrede „Von den Eigenschaften dieser Gedichte und den Quellen des Vergnügens, womit sie gelesen werden“ zur Ausgabe C der Gedichte von Canitz, Zürich 1737, in: Canitz, Gedichte, hrsg. v. J. Stenzel, 1982, S. 433f.)
J.J. Bodmer (1741) Die natürlichen Empfindungen sind gemeiniglich auf einem ziemlichen Grade vorhanden, und man hätte keine grosse Mühe, sie einfältig auszudrücken, wenn man nicht mit einer unzeitigen Sorge zu gefallen, und Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen, eingenommen wäre, womit aber die pathetische Schreibart häßlich verderbt ... wird ... Ohne Zweifel hat dergleichen Begierde nach einem so elenden Ruhme Schuld an etlichen verdorbenen Ausdrücken, welche sich in das Affectreiche Gedichte von Besser auf den Tod seiner Gemahlin eingeschlichen, und die Leidenschaft, so darinnen herrschet, nur vermindert haben. Wir lesen in der ersten Ausgabe desselben: Zween Leiber waren wir, doch in ein Fleisch gedrungen, Kein Wein-Stock hält so fest den Ulmenbaum umschlungen, Als meine Kühlweinin, o Reben guter Jahr! Mit ihrer süssen Huld in mich verwachsen war. So nachdrücklich hier die enge Vereinigung dieses Pars ausgedrücket ist, so frostig und müssig ist der eingestreute Ausruf, o Reben guter Jahr! Du spaltest meinen Leib, du spaltest auch mein Hertz, Und was mir gantz verbleibt, ist nur der herbe Schmertz. Der traurige Ehmann mag wohl nichts anders in den Gedancken gehabt haben, als daß ihm von seiner Geliebten jetzo nichts mehr übrig bleibe, als sein Trauren um sie. Das war geistreich genug, und doch dem Affecte gemäß: Alleine da der Poet jetzo dieses in einen solchen gezwungenen Gegensatz, der auf harten Metaphern beruhet, verkleidet hat, wird es wider die Natur dieser Leidenschaft spitzfündig. Die Gegensätze müssen aus der Sache hervorfliessen und mit den eigensten Worten vorgetragen werden, wenn sie den Affect vorstellen sollen ... Von einer andern Art ist dasjenige, was Herr Gottsched an diesem Trauergedichte ausgestellt hat; daß der Herr von Besser seine Klage zu der Zeit gehalten habe, da er eben das Leichengefolge auf der Gasse gesehen, welches nach der Meinung dieses Kunstrichters das Ungläublichste dabey ist. Gieng er denn irgend, sagt er, nicht mit zu Grabe, oder hatte er auf der Gasse Zeit, sie so sinnreich zu beklagen? Dieser Vorwurff ist ohne Zweifel Ursache, daß in der letztern Herausgabe der Besserischen Schriften hierinnen eine Aenderung vorgenommen worden. Alleine ich hätte den Poeten lieber entschuldiget. Diese Anklage ist in der That zu weit hergeholet, man hätte ihm aus demselben Grunde vorwerffen können, warum er seine Klage in Versen und Reimen verfasset hätte. Schickte es sich vor seinen Affect, auf der Gasse, oder in seinem Zimmer selbst, die Worte in Verse und Reimen zu binden? Denn gesetzt, der Ehmann wäre mit zu Grabe gegangen, war nicht dieses der rechte Umstand, seine Leidenschaft, die ihr Geliebtestes jetzo in Staub und Erde versincken sah, in die höchste Wuth zu setzen? Und
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braucht es eben viel Zeit zu dem verwirrtesten Gefechte der Regungen in einem aufgebrachten Hertzen? Wenn er nun diese Gemüthes-Verfassung nach der Zeit wieder in die Gedancken geholet, und als ein Poet, nicht als ein Geschichtschreiber, mit der Absicht vorgestellet hat, daß er die Phantasie der Lesenden in Entzückung setzete, und diejenige Lust dadurch hervorbrächte, so das Hertz mitten in der Bewegung und dem Streit der Leidenschaften findet; wenn er zu diesem Ende sich der Vorrechte der Poesie bedienet hat, so seh ich nicht, was ihm mit Recht vorzuwerffen sey. Was der erstgedachte Kunstrichter über dieses ausgestellet hat, daß Besser seine gantze Einbildungskraft erschöpfe, seinen Jammer auszudrücken, enthält vielmehr ein Lob in sich; es wäre denn daß sie über die Gräntzen des Glaubwürdigen hinausgeschritten wäre, und die Kunst allzu hoch gespannet hätte; wie in der That einigemahl geschehen ist. Nicht gründlicher ist das Urtheil desselben über eine Stelle in Canizens Ode auf seine Doris, wo es heißt: Alles das hab ich verlohren! Ach wie werd ich traurensvoll! Hat mein Unstern sich verschworen, Daß ich sterbend leben soll? Die letzte Zeile gefällt ihm nicht. „Sterbend leben, sagt er, ist viel zu künstlich, für einen wahrhaftig betrübten. Es ist eine gesuchte Antithesis, ein verwerffliches Spiel der Gedancken, so sich zum wenigsten in keinen Affect schicket.“ Wenn ich etwas in dieser Stelle tadeln sollte, so wäre es, daß ich hier einen ziemlichen Sprung finde, ich sehe in dem vorhergehenden zwar einen grossen Verlust des Poeten, der billig eine tiefe Traurigkeit bey ihm verursachen mußte; aber man hat mich nicht vorbereitet, daß ich sie plötzlich bis zu dem Tod oder doch bis zu dem Leben eines Sterbenden sollte hinansteigen sehen. Sonst ist der Ausdruck sterbend leben ebenso natürlich als die Sache selbst. Sterbende sind noch nicht gestorben, sie leben noch, aber so nahe bey dem Tode, daß ihr Leben gleichsam an denselben gräntzet ... Diese beyden Stücke, Bessers Trauergedichte über die Kühlweinin, und Canizens Ode auf die Doris, werden mit Recht für zwey der Affectreichsten Wercke gehalten. Beyde sind von vornehmen Staatsmännern geschrieben worden, beyde beklagen den Verlust geliebter Gemahlinnen mit so vieler Betrübniß, daß der Leser in einen gleichen Affect geräth. Doch sind sie von ungleicher Art. Die Leidenschaft des Hrn. von Caniz war sehr heftig und ungestüm; Liebe, Furcht, Trost, Schrecken, Ungedult, Sehnsucht und äusserste Empfindlichkeit äussern sich in denen verwirrten Klagen, die sonder Kunst so natürlich fliessen: Die Leidenschaft des Hrn. von Bessers war gesetzter, ohne sonderliche Vermischung und Zusatz; daher ist seine KlagRede auch kunstreicher und voller Gegensätze. Beyde haben nach ihrem Character geschrieben ... [hier folgen nähere Vergleiche der Affektdarstellung bei Canitz und Besser] Zwischen diesen beyden Stücken regiert noch der Unterschied, daß die Leidenschaft in dem Canizischen selber durchaus redet; da hingegen der Verfasser in dem Besserischen das meiste saget, und die Empfindungen seines Gemüthes nicht selber auf die Bühne führt, sondern beschreibt. Ich könnte mich jetzo schwerlich überwinden, nach diesen Affectreichen Stücken das aufgebrachte Hertz mit frostigen und schülerischen Exempeln wieder zu erkälten, wenn es nicht meine redliche Absicht dem guten Geschmack zum besten erfoderte. Also muß ich erstlich dem Hofmannswaldau alle die ungereimten Ausdrücke, die zusammengeketteten Metaphern, und die spielenden Zierrathen verweisen, womit er die pathetische Sprache der Leidenschaft und vornehmlich der Liebe verderbt hat. (zit. aus: Johann Jakob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter, Zürich 1741, ND Frankfurt a.M. 1971, S. 345–357, 11. Abschnitt. Von dem Ausdruck des Gemüthes mittelst der Figuren der Rede)
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A.P.L. Carstens (1742) Wir haben es ... selbst schon bestimmet, daß wir nur an solche Trauergedichte gedenken, welche nicht untergeschoben, nicht aus fremden Federn geflossen sind. Es gereichet niemals zum großen Ruhme, wenn man bey einem Gedichte nichts weiter, als den Namen hergiebt. Am wenigsten rührend aber wäre es, bey dem Grabe einer geliebten Gemahlinn einen andern für sich weinen zu lassen, oder ihm aufzutragen, er solle unsre Leidenschaft nach seiner eigenen Vorstellung ausdrücken ... Wir reden endlich nur von solchen Dichtern, welche mit Wahrheit ein Zeugniß der Liebe bey dem Absterben ihrer Ehefrauen ablegen können ... Wenn auch gleich die Kunst ihren gehörigen Antheil daran hätte, so würde doch die Natur ihrer Arbeit nicht das Leben geben. Eine jede Verstellung hat etwas todtes an sich. Man entdecket den Betrug gar zu leicht ... Der geschickteste Maler kann mit aller Kunst nichts mehr, als die äußern Schalen der Menschen abreißen ... Wir wissen noch nichts von der Beschaffenheit des Gemüths. Und dessen Schönheit soll doch insonderheit geliebet und bewundert werden. In Schriften kann mehr geschehen ... Kommt die Annehmlichkeit, die Kraft der Dichtkunst hinzu, so wird das Bild der Seele gleichsam noch mehr belebet ... Wer kann aber besser ein Zeugniß von der Beschaffenheit einer tugendhaften Seele ablegen; als der, welcher mit ihr ehelich verbunden gelebet, der die beste Gelegenheit gehabt, sie zu erkennen? ... Leidet es gleich die Größe der Traurigkeit nicht, daß sie [die Verfasser] gleich den Augenblick, nachdem ihre werthen Freundinnen erkaltet, zu Dichten anfangen; so haben wir doch billig eine desto vortheilhaftere Meynung von der Arbeit, welche erst einige Zeit nachher verfertiget worden. Die meisten Stücke, welche wir liefern, sind mehrere Tage nach dem Abschiede der besungenen Personen ausgearbeitet. Man sehe des Herrn Gottscheds critische Dichtkunst Blatt 139. Alsdann ist die erste Heftigkeit der Leidenschaften überstanden. Aber es ist noch so viel davon übrig, als erfordert wird, beweglich und stark zu singen. Die Ausübung der Dichtkunst erfordert eine nicht gemeine Gemüthsbewegung. Man muß selbst gerühret seyn, wenn sich Kraft und Leben in unsern Liedern äußern soll. Ein Dichter, der eine liebenswürdige verlohrne Ehefrau besingen will, ist in diesen Umständen. Sein ganzes Herz reget sich. Alle Kräfte seines Geistes werden angestrenget. Wir thun nicht Unrecht, wenn wir das, was alsdann verfertiget wird, mit unter die besten Arbeiten eines Dichters rechnen ... Man kann ferner die menschliche Seele daraus genauer kennen lernen ... Sie drücken alle ihren Affect aus. Man trifft bey ihnen etwas gleiches, und doch bey einem jeden etwas besonderes an ... Einige Stücke aber sind mit Fleiß übergangen ... weil wir gesehen, daß sie von denen nicht wirklich herrühren, welche ihren Namen dazu geliehen. Dahin gehöret z.E. die Trauerklage eines vornehmen Witwers über den Tod seiner Gemahlin, in den Hofmannswaldauischen Gedichten, Th.6, Bl.143, welches Lied der Hofrath Benjamin Neukirch in fremdem Namen verfertiget ... Wir wollten aber keine andere als ausnehmende, gewisse und wahrhaftige Zeugnisse der Liebe liefern ... (zit. aus: Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tode Tugendhafter Frauen in gebundener deutscher Rede abgestattet von Ihren Ehemännern, Hannover 1743, Expl. StuUB Göttingen, Bl.a7v–c5v, Vorrede des Herausgebers Anton Paul Lud. Carstens, dat. Sept. 1742)
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J.W.L. Gleim (1745) Die Witwer, an die Frau von S. Ach, seht doch die Männer! Sie schwimmen in Tränen. Seht, Canitz geht, seufzend, Durch Blumbergs Gefilde! Er hört nicht die Lerche, Er sieht nicht die Blumen, Er fühlt nicht die Weste, Er wünscht sich zu sterben. Seht, Haller, der Weise Kan klagen und weinen! Wie ringt er die Hände, Am Ufer der Leine! Seht Bessern in Tränen! Was weinen die Männer? Sie seufzen, sie weinen, Um würdige Damen, Um trefliche Schönen. Ach lebt doch nur ewig, Ihr trefliche Schönen! Ach laßt euch, ihr Damen, Vom Tode nicht holen; Sonst weinen die Männer. (zit. aus: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder, hrsg. v. Alfred Anger, Tübingen 1964, Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF Bd. 13, S. 95, Versuch in Scherzhaften Liedern, 2.T., Berlin 1745).
Chr. G. Krause (1752) Heute zu Tage haben wir hauptsächlich viererley Gattungen der Oden. Es giebt Loblieder auf die Gottheit ... auf die Helden ... Hernach giebt es moralische, oder philosophische Oden ... Ferner haben wir eine Art Lieder, die man in besonderm Verstand affectreiche Oden nennen kann. Dergleichen sind alle Lieder über verliebte Materien, die Oden des Herrn von Caniz und Herr Hallers auf ihre Gemahlinnen, u.s.f. Endlich kommen die Oden, die bloß zum Scherz, zu Beförderung der Frölichkeit und des Vergnügens gemacht werden ... Betrachtet man nun diese vier Gattungen der Oden nach ihrem Stof und Inhalt, so ist die dritte derselben in der musikalischen Poesie am gewöhnlichsten ... (zit. aus: [Christian Gottfried Krause], Von der Musikalischen Poesie, Berlin 1752, Expl. StB München, S. 63f., 3. Hauptstück. Von den Gedanken musikalischer Gedichte überhaupt)
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J. Chr. Gottsched (1756) Ein Epicedion ist ein Leichengedicht, auf den Tod eines berühmten Mannes, Freundes oder Blutsverwandten ... So besang Besser seine Kühlweininn, Canitz einen Grafen von Dohna ... und seine Doris, Pietsch des Grafen Truchses von Waldburg Tod; und meine Oden auf den König August, und den Prinzen Eugen sind von eben der Art. Man hat auch eine ganze Sammlung von Gedichten, welche die Poeten auf ihrer Gattinnen und Geliebten Tod gemachet. (zit. aus: Johann Christoph Gottsched, Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, Zum Gebrauche der Schulen entworfen, Leipzig 1756, Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 627, S. 158, IX. Hauptstück. Von dem Unterschiede der Gedichte in Ansehung des Inhalts, § 8)
J.A. Schlegel (1759) Oder sollte etwan der Nachahmer der Psalmen in den Empfindungen, die er ausdrückt, demjenigen Dichter ähnlich seyn, welcher die Empfindungen eines Helden vorgiebt, itzt als Brutus, itzt als Cato, itzt als Cäsar redet? Sollte er dem Schauspieler ähnlich seyn, welcher durch Hülfe seiner Kunst sich in Feuer setzt, und diese Empfindungen an sich nimmt, bloß um sie glücklicher ausdrücken zu können, nicht um sie ernstlich, als seine eigne, fühlen zu wollen; welcher diese Empfindungen in den Zuschauern erregt, daß sie ihre Herzen auf einige Zeit zu ihrer Ergetzung täuschen, nicht daß sie darinnen haften sollen? Dann wird er zwar noch immer ein Dichter seyn; aber ein Dichter, der seinem Herzen desto weniger Ehre macht, ie mehr er von der Seite des poetischen Ruhmes gewinnt ... Sollte die Ehre des Gedichts und die Ehre des Dichters sich nicht vereinigen lassen? Wer sieht nicht hieraus, daß diejenigen Oden, welche aus der Religion ihre Materie schöpfen, von dem Gesetze der Nachahmung ausgenommen sind? Und sie sind nicht etwan die einzigen. Wollte man wohl den Thränen, welche Haller über den Gräbern seiner Mariane und seiner Elise geweinet, den Namen der Oden streitig machen, weil sie aus dem Herzen geflossen sind? Sie sind es nicht minder, ja sie könnens noch mehr seyn, als die Klagen, mit welchen der Zorn oder der Tod einer erdichteten Phyllis beseufzet wird. (zit. aus: Charles Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen, 2 Leipzig 1759, Expl. StB Berlin, S. 197, T.3/1, 10. Cap. Von der lyrischen Poesie, Anm. des Übersetzers Johann Adolf Schlegel gegen den umfassenden Geltungsanspruch des Nachahmungsbegriffs von Batteux)
J. Chr. Gottsched (1760) Sieht man auf die Beyspiele der Alten, so haben sowohl die Griechen als Römer Gelegenheitsgedichte gemachet ... Alle heutige europäische Völker sind seit 300 Jahren in eben dem Geschmacke gewesen; und sind es noch. Was sollte denn immer mehr die Deutschen bewegen, dergleichen kleine Stücke nicht zu machen? Opitz und Flemming, Tscherning und Neukirch,
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
Besser und Canitz haben eben das gethan; und zwar mit dem besten Erfolge. Und sind in den Hofmannswaldauischen Gedichten viel schlechte Stücke dieser Art mit untergelaufen: so hindert das nicht, daß nicht ein guter Poet, auch was bessers bey solchen Gelegenheiten sagen könnte. (zit. aus: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Zum Gebrauche der Liebhaber derselben hrsg. v. Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1760, ND Hildesheim, New York 1970, Sp. 751: Gelegenheitsgedichte)
A. von Haller (1765) In den Satyren nähert sich Horaz in etwas der ungebundenen Rede, und mit derselben dem leichten, einfachen und fliessenden Vortrage des Hrn. v. Canitz, bey dem die Liebe zur Tugend, und die Gottesfurcht noch immer ein unschätzbarer Vorzug ist: da hingegen an vielen Stellen die allzufliessende Schreibart fast unter der poetischen Wärme bleibt: obwol an andern allerdings seine Muse sich erhebt. Wir haben das „Doris kanst du mich betrüben“ [v.17] niemals poetisch noch rührend finden können. Da hingegen gleich darauf „Was für Wellen und für Flammen“ [v.25] von einer besondern Schönheit ist. (zit. aus: Albrecht von Hallers Rezension der Canitz-Ausgabe von 1764 in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“, 38. Stück, 30. März 1765, S. 312, wiedergegeben im Anhang von: Canitz, Gedichte, hrsg. v. J. Stenzel, 1982, S. 440)
J.G. Herder (1767) Eine Ode, die würklich Empfindungen singt und in mir erregen will, muß sich in das Labyrinth der Mythologie gar nicht, oder nur selten verlieren. In einem Empfindungsvollen Klopstockischen Gedicht, oder in Hallers Ode auf die Mariane würde es ohne Zweifel fremde und gesucht seyn, Bilder, die bei uns nicht so nahe an den Kammern des Herzens liegen, zu brauchen, um an das Herz des andern zu klopfen. Aber eine Ode, wenn ich sie als eine Poetische Ausbildung eines lebhaften Gedanken ansehe, die die Einbildungskraft des andern bis zur sinnlichen Anschauung erregen, und bis zur Illusion beschäftigen soll: so erlaubt sie die Mythologie als eine Quelle sehr lebhafter Bilder anzusehen, aus der ich welche herausheben kann, um meinen Gedanken gleichsam in sie zu kleiden, daß er sinnlich anschauend erscheine, die Aufmerksamkeit bis zur Täuscherei beschäftige, und durch die Illusion reize. (zit. aus: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, ND Hildesheim 1994, S. 436, Ueber die neuere Deutsche Litteratur, 3. Sammlung, 1767)
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Chr. H. Schmid (1767) Haller. Ein so empfindliches Unglück, als das Absterben seiner Mariane und Elise warf ihn in die tiefste Traurigkeit. Die öden Ufer der Leine waren eine Wüste; wo nichts als Jammer, als Angst und blasse Schrecken ihn erinnerten, daß er lebte ... Alle Abende strömeten ganze Monate lang Thränen ihm aus den Augen, und diese Stunde war die angenehmste seiner Tage. Aber in der einsamen Dunkelheit der Nacht, die oft der Traurige sucht ... rührte der Dichter sein klagendes Saitenspiel. Die Gedichte auf das Absterben seiner Gemahlinnen drücken Schönheiten aus, die das andächtige Gemüth Menschenliebender Leser in Entzükkung an die Gräber führen. (zit. aus: Christian Heinrich Schmid, Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen, T.1, Leipzig 1767, Expl. StuUB Göttingen, S. 299f., Von der Elegie, II. Litteratur; Haller darin als erster deutscher Musterautor behandelt vor Klopstock, Kästner und Anna Louisa Karsch).
J.G. Herder (1769) Nun ersticke man aber dasselbe [das Familiengefühl, das „die besten Dichtungen ... aller Völker durchströmt“]: man gehe über die natürlichen Bedürfnisse der unverdorbnen Menschlichen Seele und der einfachern Lebensart hinaus: man mache die Ehe zu einem Wirthschaftsvergleich, zu einem Stande der Mode, die Eheleute zu nichts als einander lästigen oder Zeitkürzenden Personen ... freilich so wird eine Nerve des Gefühls getödtet: es erlischt der Ehrenname: „Achilles war ein Sohn Peleus“ allmählich: die Sehnsucht des Ulysses zu seiner alten Penelope, und seinem steinigten Ithaka dünkt uns abentheuerlich: der Gefühlvolle Stolz der Morgenländer auf ihre Geschlechtswürde wird lächerlich in unsern Augen, und die Klagen eines Hallers, Klopstocks, Canitz, Oeders, dünken vielen artigen Ehemännern so Poetisch, als eine Anruffung an die Muse. (zit. aus: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 3, Berlin 1878, ND Hildesheim 1994, S. 32f., Kritische Wälder, 1769. Erstes Wäldchen, 4. Eine philosophische Geschichte der Elegischen Dichtkunst über Völker und Zeiten)
J.G. Lindner (1772) Es giebt auch überhaupt in andern Gedichten elegische Stellen. Todtenklagen gehören hieher, wie der Alten Gebrauch der Klageweiber. Bey den Römern sind eigentliche Elegienschreiber Tibull, Properz, Ovid ... Bey den Deutschen Canitz, Haller, Oeder auf ihre Gemahlinnen, v. Kreutz Gräber zum Theil, Klopstocks Rothschilds Gräber, Gleims Klagen, die Klopstockin, Karschin ... (zit. aus: [Johann Gotthelf Lindner], Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, T.2, Königsberg, Leipzig 1772, Expl. StuUB Göttingen, S. 379, § 13. Von der Elegie)
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J.F. Marmontel (1777) La poésie allemande a cependant eu ses succès dans le genre de l’ode. Celle du célebre Haller sur la mort de sa femme, a le mérite rare d’exprimer un sentiment réel & profond, émané du coeur du poëte. (zit. aus: Jean François Marmontel, Poésie, S. 436, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Supplément, T.IV, Amsterdam 1777, Expl. UB Mainz, S. 426– 440)
F. Schiller (1795) Unter Deutschlands Dichtern in dieser Gattung [der elegischen] will ich hier nur Hallers, Kleists und Klopstocks erwähnen. Der Charakter ihrer Dichtung ist sentimentalisch; durch Ideen rühren sie uns, nicht durch sinnliche Wahrheit, nicht sowohl weil sie selbst Natur sind, als weil sie uns für Natur zu begeistern wissen ... Nur ihr eigentlicher und herrschender Charakter ist es nicht, mit ruhigem, einfältigem und leichtem Sinn zu empfangen und das Empfangene eben so wieder darzustellen. Unwillkührlich drängt sich die Phantasie der Anschauung, die Denkkraft der Empfindung zuvor ... Wir erhalten auf diese Art nie den Gegenstand, nur was der reflektirende Verstand des Dichters aus dem Gegenstand machte, und selbst dann, wenn der Dichter selbst dieser Gegenstand ist, wenn er uns seine Empfindungen darstellen will, erfahren wir nicht seinen Zustand unmittelbar und aus der ersten Hand, sondern wie sich derselbe in seinem Gemüth reflektiert, was er als Zuschauer seiner selbst darüber gedacht hat. Wenn Haller den Tod seiner Gattin betrauert (man kennt das schöne Lied) und folgendermaßen anfängt: Soll ich von deinem Tode singen O Mariane welch ein Lied! Wenn Seufzer mit den Worten ringen Und ein Begriff den andern flieht u.s.f. so finden wir diese Beschreibung genau wahr, aber wir fühlen auch, daß uns der Dichter nicht eigentlich seine Empfindungen, sondern seine Gedanken darüber mittheilt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer, weil er selbst schon sehr viel erkältet seyn mußte, um ein Zuschauer seiner Rührung zu seyn. (zit. aus: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 452f. Ueber naive und sentimentalische Dichtung, zuerst in: Die Horen, 4. Bd., 12. St., 1795)
A.W. Schlegel (1809) Das lyrische Gedicht ist der musikalische Ausdruck von Gemütsbewegungen durch die Sprache. Das Wesen der musikalischen Stimmung besteht darin, daß wir irgendeine Regung, sei sie nun an sich erfreulich oder schmerzlich, mit Wohlgefallen festzuhalten, ja innerlich zu verewigen suchen. Die Empfindung muß also schon in dem Grade gemildert sein, daß sie uns nicht durch Streben nach der Lust oder Flucht vor dem Schmerz über sich selbst hinausreiße, sondern daß wir, unbekümmert um den Wechsel, welchen die Zeit herbeiführt, in einem einzelnen Augenblick unsers Daseins einheimisch werden wollen.
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(zit. aus: August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. Edgar Lohner, Bd. 5, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil, 1809, Stuttgart u. a. 1966, S. 40)
Die Epicedien von Besser, Canitz und Haller, von denen die ersten beiden noch aus dem späten 17. Jahrhundert stammen, besitzen in der literarischen Diskussion des 18. Jahrhunderts, wie die hier zusammengestellten Texte zeigen, über viele Jahrzehnte hin eine bemerkenswerte Präsenz.²¹ Daß dabei zuerst Besser und Canitz immer wieder und zumeist zusammen genannt werden, dann Canitz und Haller und schließlich nur noch Haller allein,²² ergibt sich natürlich zum einen aus dem unterschiedlichen Alter der drei Autoren und der unterschiedlichen Entstehungszeit der Gedichte (die freilich 1743 alle in die Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ Eingang gefunden haben), zum anderen aber und vor allem aus den Wandlungen von Literatur und Literaturverständnis in diesen Jahrzehnten und aus den damit zusammenhängenden Wandlungen des Interesses, das diese Gedichte immer erneut – aber eben doch ihren Unterschieden gemäß in sich ändernder Perspektive – finden und das ihnen vielfach die Rolle geradezu ausschließlicher Muster für bestimmte Erwartungen von den Möglichkeiten und Leistungen lyrischer Poesie ²³ – und dies wiederholt auch in polemischer Abgrenzung gegen hoch- und spätbarocke Erscheinungen wie Hoffmannswaldau und die mit seinem Namen verbundene vielbändige Sammlung²⁴ – zuwachsen läßt.
21 Ein sehr frühes Zeugnis der Rezeption von Bessers erstmals 1711 gedrucktem Gedicht, das dabei bereits als bekannt vorausgesetzt wird, findet sich bei Johann Christian Günther, bei welchem in einem Epicedium aus dem Jahre 1716 (Sämtliche Werke, hrsg. v. Wilhelm Krämer, Bd. 3, Leipzig 1934, ND Darmstadt 1964, S. 25–29: Trostschreiben an einen sehr guten Freund wegen Absterben seiner geliebten Margaris in Leipzig) zu lesen ist (v.33–36): Dein zärtlicher Verdruß, dein traurendes Beginnen Kommt mir, ich weis nicht wie, in den Gedancken vor; Du übernimmest dich mit so verrückten Sinnen Als Beßer, da sein Herz den halben Theil verlor. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind die drei Gedichte von Besser, Canitz und Haller so bekannt, daß Gleim mit Reminiszenzen daraus ein ganzes seiner „Scherzhaften Lieder“ (1745) füllen kann (s. die Wiedergabe in der Quellensammlung). 22 In den hier zusammengestellten Texten wird Besser zuletzt 1760 (bei Gottsched) genannt, Canitz 1772 (bei Lindner), Haller noch 1795 (bei Schiller). 23 Vgl. dazu als frühe Belege die beiden oben wiedergegebenen Stellen aus der anonymen „Anleitung zur Poesie“ von 1725, sowie Juncker (1727) zu Besser und Canitz, aus späterer Zeit Krause (1752) zu Canitz und Haller und Marmontel (1777) zu Haller. 24 Vgl. hierzu die Texte von Gottsched (1730), Bodmer (1741), Gottsched (1760).
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Der erste der Texte, der von dem damals nur wenig mehr als zwanzig Jahre alten Bodmer stammt, bezeugt eindringlich, welche starke Wirkung die Gedichte von Besser und Canitz auf zeitgenössische Leser haben konnten. Daß diese Wirkung auf einer Gestaltung des Epicediums beruht, die den affektreichsten Teil, die lamentatio, am intensivsten ausformt und durch die Ausstrahlungen dieses Teils nachhaltig prägt, wird schon daran deutlich, daß Bodmer diese Texte zusammen „Klag-Gedichte“ nennt und als solche die „passioniertste Stücke / welche wir in der Deutschen Poesie haben“. Wenn er deren Wirkungsweise näher beschreibt mit Wendungen wie „Sie [die beiden Dichter] zwingen uns die Affecte anzunehmen / welche sie wollen / wir lachen / wir werden stoltz / wir förchten uns / wir erschrecken / wir betrüben uns / wir weinen wann es ihnen gefällt“ und im letzten Teil des Textes den poetischen Enthusiasmus erläutert als „die gute Imagination / durch welche er [der Poet] sich selbst ermuntern / und sich eine Sache wieder vorstellen / oder einen Affect annehmen kan / welchen er will“, dann hat seine Erklärung der Produktion und Rezeption solcher Gedichte zum Fundament noch die lang tradierten, bis weit ins 18. Jahrhundert gegenwärtig bleibenden und unter anderem die vorausgegangene Barockliteratur tragenden Anleitungen der Rhetorik und ihr Affektverständnis. Doch um die so stark und offenkundig als neuartig empfundene Affekterfülltheit jener „Klag-Gedichte“ hinreichend zu begreifen, bieten sich ihm mit dem „Hertzen“, in welchem der Leser „einen Theil der Grösse des Affectes / welcher sie beyde [Besser und Canitz] erhitzet hat“, empfindet, – mit der Feststellung „Diese vornehme Poeten ... lassen das Hertze reden“, – mit dem Hinweis, die von ihnen rege gemachten „traurigen Affecte“ seien „von einem gewissen Ergetzen begleitet / das damit vermenget ist“, – mit der Besser zugeschriebenen reichsten „Imagination“, die unter Vergleichung von Opitz und Hunold-Menantes das Thema des ersten Teils des XIX. Diskurses ist, oder mit der Beobachtung, bei Canitz seien die „Expressionen ... eben so natürlich“ wie bei Besser, – damit bieten sich ihm zugleich Begriffe und Vorstellungen an, wie sie sich nach und nach vor allem im Rahmen der sich entfaltenden frühaufklärerischen Lehre von den verschiedenen Seelenvermögen ausbilden und zunehmend geläufig werden. Das Betroffensein von einer sich verändernden und verstärkenden Affektsprache läßt einen kritischen Text entstehen, in welchem sich Wandlungen des poetischen Verfahrens und seiner theoretischen Beschreibung spiegeln, die sich vorerst eher unauffällig vollziehen, doch nach und nach sich von der alten Prägung durch die produktiven Möglichkeiten der Rhetorik entfernen und diese schließlich ganz aufgeben werden.
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Auch Gottsched hat an den Gedichten von Besser und Canitz,²⁵ die er wie Bodmer als „Klag-Gedichte“ aufnahm,²⁶ offenkundig – weniger stark freilich davon überwältigt als knapp ein Jahrzehnt zuvor der junge Bodmer – eine neuartige Affektdarstellung wahrgenommen²⁷ und – wenn auch nicht ohne gelegentliche kritische
25 Die Gedichte von Besser und Canitz werden wiederholt in den vier Auflagen von Gottscheds „Versuch einer Critischen Dichtkunst“ (1730, 1737, 1742, 1751) behandelt, Hallers Trauergedicht hingegen, entstanden 1736 und in einem Einzeldruck wohl noch im selben Jahr publiziert, konnte in der fast gleichzeitigen 2. Auflage von Gottscheds Poetik schwerlich noch Beachtung finden. Es wurde jedoch zwei Jahre nach seiner Entstehung in die von Gottsched mit einer Vorrede „über die Frage: Ob man auch in ungebundener Rede Oden machen könne“ eingeleitete Sammlung „Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Oden und Cantaten“ (Leipzig 1738; Expl. UB Marburg) aufgenommen (S. 348–352, 3. Buch, XVII. Ode), worin als XXIX. Ode auch Hallers zweites Gedicht vom Februar 1737 auf den Tod seiner ersten Ehefrau erschien (S. 394–396). Auch gab es in diesen Jahren einige direkte oder indirekte Korrespondenzkontakte zwischen beiden, an denen auch Bodmer beteiligt war (s. jetzt die einschlägigen Stellen in den Bänden 3–5 der von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf betreuten Ausgabe von Gottscheds Briefwechsel, Berlin, New York 2009–2011), auch wurde Haller 1737 in die Deutsche Gesellschaft in Leipzig aufgenommen. Doch als 1742 die 3. Auflage von Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ erschien, da war bereits der jahrelange literarische Streit zwischen Zürich und Leipzig in Gang, der sich auch auf Hallers Gedichte bezog. So sah sich Gottsched nicht mehr veranlaßt, in seiner Poetik auch von Hallers Trauergedicht Notiz zu nehmen, dessen „Versuch Schweizerischer Gedichte“ (1. Auflage) er 1732 noch einer Rezension gewürdigt hatte (s. Hallers Dankbrief vom 15.1.1735 in Bd. 3 des GottschedBriefwechsels und die ergänzenden Nachweise in den zugehörigen Fußnoten). 26 S. dazu auch die Erwähnung von Bessers Gedicht an anderer Stelle der „Critischen Dichtkunst“ (erst in der 4. Auflage, S. 538): „... das Verhängniß getreuer Liebe, womit er seine Kalliste beehret hat; wiewohl in dem letzten die Traurigkeit durchgehends herrschet“. – Auch wenn für die Wiedergabe des aus der Antike stammenden und durch die humanistische Poetik überlieferten Wortes „Epicedium“, das Gottsched in Lehr- und Handbüchern benutzt (Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst, 1756, S. 158, zit. in der hier vorausgehenden Quellensammlung; Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1760, Sp. 617), eine vielfältige, aus der Bezeichnung des Teile des Epicediums abgeleitete deutsche Terminologie zu beliebiger Verwendung bereit lag, wie sie gut in der Fülle entsprechender Gedichte von Simon Dach zu beobachten ist (s. Dach, Gedichte, hrsg. v. Walther Ziesemer, Bd. 3–4, Halle 1937–1938, u. a.: Trost-Schrift, Trost-Liedchen, Klag-Schrift, Begräbnis-Reime, Klag- und Trost-Reimchen, Klag-Gedicht, Grab-Gedicht, Ehren-Gedächtnis, Christliches Denkmal, Trauer-Reime), erscheint doch die – mit der Überschrift des Gedichts von Canitz sich berührende – Wortwahl bei Gottsched wie bei Bodmer als symptomatisch für die Rezeption der Epicedien von Besser und Canitz. 27 S. dazu einzelne weitere Erwähnungen der Trauergedichte von Besser und Canitz an diesen Stellen der „Critischen Dichtkunst“ (11730; Expl. Slg. Faber du Faur, Film Nr. 618): zu Besser: S. 267 (1.T., 10. Cap. Von den Figuren in der Poesie), S. 334 (2.T., 1. Cap. Von Oden, oder Liedern) – zu Canitz: S. 261, 275 (1.T., 10. Cap. Von den Figuren in der Poesie), S. 331, 334 (2.T., 1. Cap. Von Oden, oder Liedern).
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Bemerkungen²⁸ – zum Gegenstand prinzipieller Reflexionen gemacht. Das gilt vor allem von der ersten der oben ausgehobenen Passagen. In diesen wenigen Sätzen, die in dem für Gottscheds Dichtungsauffassung grundlegenden Kapitel von den poetischen Nachahmungen stehen, verknüpfen sich mehrere zentrale Aspekte der zeitgenössischen Poetik. Gottsched hat schon geraume Zeit vor dem Erscheinen der dann für einige Zeit in der literarischen Diskussion in Deutschland so einflußreichen Schrift „Les Beaux Arts réduits à un même Principe“ (1746) von Charles Batteux und ihren bald folgenden deutschen Übersetzungen (seit 1751),²⁹ zu denen Gottsched einen „Auszug“ (1754) beigesteuert hat,³⁰ seine Poetik – die allem Spott der nächsten Generation und vieler folgender zum Trotz eine bedeutende Leistung gewesen ist – ausdrücklich auf das Fundament der Nachahmung der Natur gestellt, wie schon das Titelblatt der 1. Auflage von 1730 ankündigt: „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe“. Er steht damit in der Tradition der Aristoteles-Rezeption in der humanistischen Poetik der Frühen Neuzeit und der dabei sich aufdrängenden Frage nach der Geltung der aristotelischen Mimesis für die poesis lyrica.³¹ Nachahmung der Natur ist danach für die poesis lyrica, da sie hier nicht in der Darstellung von Figuren oder Handlungen bestehen kann, Darstellung von Affekten, die mit Mitteln und nach Regeln geschieht, die noch immer die Rhetorik zur Verfügung stellt.
28 Kritisch zu Canitz z. B. in der 1. Auflage der „Critischen Dichtkunst“ S. 121, 300 (beide Stellen zit. oben in der Quellensammlung) – zu Besser u. a. S. 121, 158 (beide Stellen zit. oben in der Quellensammlung), 320 (1.T., 12. Cap. Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart, dem verschiedenen Sylbenmaaße und den Reimen). – Die Gesamtheit der positiven oder kritischen Erwähnungen von Besser und Canitz und der Zitate aus ihren Gedichten in Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ (vgl. dazu das Register von Hans Otto Horch, Darmstadt 1978, zum ND der 4. Auflage von 1751) läßt erkennen, daß Gottsched Besser, wiewohl er ihn im Kapitel „Von heroischen Lob-Gedichten“ (so erst in der 4. Auflage, S. 537) als den ersten der großen Dichter des frühen 18. Jahrhunderts ansieht, distanzierter gegenüberstand als dem Werk von Canitz, offenkundig aufgrund von Unterschieden zwischen beiden Dichtern, die sich auch an ihren Trauergedichten ablesen lassen und eine Entsprechung in der unterschiedlichen Dauer der Wirkungsgeschichte dieser Gedichte im 18. Jahrhundert finden. 29 Nähere bibliographische Angaben dazu in den Anm. 29 und 58 zur Abhandlung „Pindar – Horaz – Ossian“ in diesem Band. 30 S. Anm. 62 zur Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 31 S. dazu die Belege in Anm. 16 der Abhandlung „Principes Lyricorum“ und die dort in Anm. 17 gegebenen Hinweise auf einschlägige Partien in anderen Studien dieses Bandes.
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Das gilt noch sehr deutlich von den Sätzen, die in Gottscheds Text denen über Besser und Canitz vorausgehen. In ihnen ist das Horazische „si vis me flere ...“ (ars poetica, v.102f.) noch im Sinne eines Kunstgriffs wirksam, der bald darauf durch eine Auslegung verdrängt werden wird, wonach es für die Wirkung eines poetischen Textes auf den tatsächlich vorhandenen und nicht erst künstlich erzeugten Affekt des Poeten ankommt,³² und in engster Verbindung mit der
32 Vgl. dazu entsprechende Bemerkungen in dem Auszug aus Bodmer (1737) oder in Bodmers „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter“ (1741): „Das andere Kunstmittel der pathetischen Schreibart ... gehört vornehmlich für aufgewecktere Köpfe; und dieses bestehet darinnen, daß man niemahls schreibe, als wenn man einen Affect empfindet, und wenn man nichts mehr empfindet, die Feder niederlege ... denn man wird mit frostigem Hertzen niemand in einen Affect jagen“ (S. 340; Der eilfte Abschnitt. Von dem Ausdruck des Gemüthes mittelst der Figuren der Rede). Ausdrücklich gegen die hier in Frage stehende Gottsched-Stelle polemisiert – unter Berufung auf die Horaz-Stelle – Georg Friedrich Meier in seiner „Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst“ (Halle 1747, Expl. StB München): „Der Herr Professor sagt ... man macht z.E. ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Namen eines andern; ob man gleich selbst weder verliebt, noch traurig, noch lustig ist. Dieses ist ohne Zweifel unmöglich. Wer eine Leidenschaft nicht selbst empfindet, der kan sie nicht nachahmen, und ein Dichter, der mitten im Dichten nicht erhitzt ist, der denckt ohnfehlbar frostig und matt. Ohne dieses hier weitläuftig zu beweisen, so soll Horatz mein Gewährsmann seyn. Dieser sagt: Si vis me flere, dolendum est Primum ipsi tibi“ (S. 98). – Wie selbstverständlich hingegen Autoren des 17. Jahrhunderts die noch von Gottsched vertretene Meinung war, mögen wenigstens zwei Belege zeigen: „Alle GemühtsBewegungen muß der Poet erst durch starke Einbildungen empfinden / wann er selbe Naturgemäß beschreiben / und anderer Sinne beybringen wil“ (Georg Philipp Harsdörffer, Gesprächspiele, 5.T., Nürnberg 1645, ND Tübingen 1969, S. 30) – „Wann ich vordessen dergleichen poëtisirte, bildete ich mir ein, ich wäre dieselbe Person, in deren Namen ich redte, und so kame es recht: ist ein arcanum, das mir auch in Schauspielen gedienet“ (Sigmund von Birken an Joh. Gabriel Majer, 6.2.1670, im Zusammenhang mit einem von ihm geforderten Gelegenheitsgedicht; mitgeteilt in: Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Findlinge. Zur Geschichte deutscher Sprache und Dichtung, Bd. 1, Leipzig 1860, ND Amsterdam 1968, S. 164). In abgeschwächter Form wirkt diese Vorstellung aber z. B. noch 1759 bei Moses Mendelssohn nach, wenn er in den „Briefen die Neueste Litteratur betreffend“ (60. Brief, 11.10.1759) schreibt: „Gesetzt ein Dichter hat Empfindungen auszudrücken, die ihm fremde sind, die er niemals gefühlt hat, wenn es ihm nur nicht an Genie mangelt; so wird er wenigstens denken, statt zu empfinden. Seine Empfindungen werden das entzündete Feuer der Begeisterung nicht haben, die bey dem Leser ein sympathisches Gefühl erregen; er wird aber doch allezeit Gedanken hervorbringen, die gelesen zu werden, verdienen“ (Gesammelte Schriften, Bd. 5,1, hrsg. v. Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 89). – Zum sich wandelnden Verständnis des Horazischen „si vis me flere ...“ im 17. und 18. Jahrhundert vgl. im übrigen: Jürgen Stenzel, „Si vis me flere ...“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: DVjs 48, 1974, S. 650–671.
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älteren Auslegung der Horaz-Stelle ist es auch für Gottsched noch wie für die ganze ältere Kasualdichtung ganz unproblematisch, daß man „ein verliebtes, trauriges, lustiges Gedichte im Nahmen eines andern“ mache, „ob man gleich selbst weder verliebt noch traurig, noch lustig ist“, – auch dies eine Position, die bald kritisch betrachtet und zunehmend abgelehnt werden wird.³³ Da Gottsched, beeindruckt von der aus der Ausgestaltung des Epicediums bei Besser und Canitz erwachsenden Affektsprache, in diesen Gedichten „besondere Muster schön ausgedruckter [d. h. dargestellter] Affecten“, willkommene Beispiele für eine zwar den Regeln der Kunst entsprechende, doch ungekünstelte, ungezwungene „Nachahmung der Natur“ sieht, sucht er sie dafür in Anspruch zu nehmen, „ob sie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorstellen wollen“. Dieses Spannungsverhältnis, das bald darauf in den Debatten über Batteux eine entscheidende Rolle spielen wird, aber auch schon in der humanistischen
33 Ein Beleg für die lange Zeit selbstverständliche Abfassung von Gelegenheitsgedichten im Namen eines anderen – s. dazu auch Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht, S. 181–185 – ist die in Anm. 32 zitierte Stelle aus einem Brief von S. von Birken. Eine – freilich schon nicht mehr unangefochtene – Rechtfertigung solcher noch geübten Praxis findet sich in einem Brief von Anna Louisa Karsch an Gleim vom 13.3.1767: „... es ist wahr ich mache zuweillen Gelegenheitsgedichtte, Eine sehr erniedrigende Arbeit, wenn man so Stolz wäre als der Verbeßrer der Hagedornischen Lieder [Ramler] ist, der Sie jüngsthin mit dem Anstreichen der Stubenthüren verglich, ich nehme mir die freyheit Ihnen eins von diesen Liedern beyzulegen, ich hab es auff bitte des Arztes gemacht den Ramler durch Einem Gesang zu verEwigen geglaubt hat, und Er sagt mir daß ich alles daß außgedrükt hätte was die junge dreyzenjährige Pflegetochter des Verstorbnen gern sagen wollen, wenn ich die Zufriedenheit derienigen Betrachtte, in deren Nahmen ich Eine solche Arbeit übernehme, so fällt alles Verächtliche davon weg, wir sind ja nicht um unßerer selbst willen, oder um daß bißgen ungewißen Nachruhm zu erhaschen in der Wellt, wir sind da unßern Nebenmenschen nüzlich zu sein, und ich erfülle diese Pflicht So offt ich den Wünschen desjenigen Genüge Thue der mich bittet an Seiner Stat Klagen oder Freudenaußruffungen zu Thun“ („Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, hrsg. v. Regina Nörtemann, Bd. 1, Göttingen 1996, S. 280f.). Wie fragwürdig aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Abfassung von Gelegenheitsgedichten in eines andern Namen schon geworden ist, zeigen entsprechende Bemerkungen in dem oben in der Quellensammlung mitgeteilten Auszug aus der – in anderer Hinsicht sich an Gottsched anschließenden – Vorrede des Herausgebers A.P.L. Carstens (1742) zur Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“, wonach darin nur solche Gedichte aufgenommen worden sind, „welche nicht untergeschoben, nicht aus fremden Federn geflossen sind“ (Bl. a7v), da der Herausgeber „keine andere als ausnehmende, gewisse und wahrhaftige Zeugnisse der Liebe liefern“ wollte (Bl. c5v). Oder 1747 fügt G.F. Meier der in Anm. 32 schon zitierten Kritik an Gottsched noch den Vorwurf hinzu: „Ueberdies können in diesen Worten des Herrn Professors alle Miethpoeten eine Schutzschrift finden“.
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Poetik wahrgenommen wird,³⁴ ist Gottsched bemüht mit der Annahme aufzulösen, das Gefühl bedürfe, ehe der Poet es kunstgemäß nachahmend gestalten könne, der Abkühlung, eines zeitlichen Abstands von seinem Anlaß. Auch wenn jenes Spannungsverhältnis schon bald dadurch aufgehoben wird, daß es geradezu in sein Gegenteil verkehrt wird, indem die verbürgte Authentizität des Gefühls und seine unmittelbare Kundgabe zum neuen Maßstab wahrer Dichtkunst werden, wirkt die Vorstellung von der nötigen Abkühlung doch nach bis zu Schillers Erörterung über Hallers Trauergedicht auf seine Ehefrau Mariane in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795³⁵ und, gelöst nun ganz von den einst so bekannten Trauergedichten von Besser, Canitz und Haller, noch in einer Beschreibung des lyrischen Gedichts bei August Wilhelm Schlegel (1809).³⁶ Daß aber das von Gottsched im Rahmen der so lange maßgeblichen Nachahmung der Natur wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen der Präsenz eines womöglich allzu frischen Affekts und seiner geforderten nachahmenden, kunstgerechten Darstellung nicht nur einer Marotte Gottscheds entspringt, sondern eine auch anderen Zeitgenossen in diesen Jahren sich anbahnender Veränderungen gegenwärtige Problematik war, zeigt in den „Zeugnissen wahrer Liebe“ nicht nur die Vorrede des Herausgebers Carstens (1742), der die Gottsched’sche Vorstellung von der erforderlichen Abkühlung des Affekts unter ausdrücklicher Berufung auf die „Critische Dichtkunst“ referiert,³⁷ sondern auch sehr anschaulich der von ihm zitierte Bericht von J.D. Heidmann über die Entstehung des in der Sammlung mitgeteilten Trauergedichts auf seine 1730 gestorbene Ehefrau. Der Verfasser erklärt und rechtfertigt darin enthaltene Verstöße gegen Regeln der Kunst mit den „lebhaftesten Empfindungen eines durch und durch gerührten Herzens“, mit der „Sprache der Natur“, der „Stärke der Gemüthsbewegung“, die „der Aufmerksamkeit auf die Wortfügung sehr hinderlich“ sei.³⁸ Daß für Gottsched selbst aber mit der Vorstellung von der nötigen Abkühlung des Affekts als Bedingung seiner nachahmenden Gestaltung jener
34 S. dazu weiter unten zu dem in der Quellensammlung enthaltenen Auszug aus J.A. Schlegels Anmerkungen zu seiner Batteux-Übersetzung (1759). 35 Vgl. bei Schiller auch eine – auf die zeitgenössische Diskussion der Epicedien auf die eigene Ehefrau nicht Bezug nehmende – Stelle in der Bürger-Rezension, an welcher jener Gedanke als kritischer Maßstab gegen Bürger gewendet wird: „... ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“ (Nationalausgabe, Bd. 22, Vermischte Schriften, hrsg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 256). 36 S. dazu die entsprechenden Auszüge am Ende der oben gebotenen Quellensammlung. 37 S. den Auszug aus der Vorrede oben in der Quellensammlung. 38 S. das vollständige Zitat oben in der Quellensammlung.
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Widerspruch gleichwohl nicht ohne Rest gelöst war, zeigen Bemerkungen wie die, man könne auch in den Meisterstücken von Besser und Canitz „noch manchen gar zu gekünstelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entdecken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr würde hervorgebracht oder gelitten haben“, oder in der zweiten oben wiedergegebenen Passage aus der „Critischen Dichtkunst“ das Resümee einer Kritik an der Situation (dem Augenblick des Leichencondukts), in welche Besser den Hauptteil seines Klagegedichts gestellt und die eben noch nicht jene nach Gottscheds Auffassung erforderliche Abkühlung des Affekts glaubhaft machen kann: „Besser hat als ein künstlicher Poet, nicht als ein trostloser Wittwer geweinet“. Auch in solchen Wendungen, die im Kontrast zu Gottscheds sonst ersichtlicher Konzeption die wahre Empfindung zum kritischen Maßstab der doch eigentlich auf die Nachahmung der Natur gegründeten Leistung der Kunst machen, wo diese zu künstlich zu werden droht, – selbst mit Sätzen wie diesen erweisen sich am komplizierten Zusammentreffen verschiedener, zum Teil einander auch widersprechender Aspekte überkommener und zeitgenössischer Poetik in Gottscheds Auseinandersetzung mit den Trauergedichten von Besser und Canitz diese als folgenreicher Ausgangspunkt weitreichender Veränderungen, zeigt sich, wie aus den Ansätzen einer veränderten poetischen Gestaltungsweise und dem Bemühen, sie in bisher gültige Vorstellungen einzufügen, weitere Wandlungen sich ergeben. Die Äußerungen Bodmers in der Vorrede zur Züricher Canitz-Ausgabe von 1737 und in seinen „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter“ (1741), um mehr als anderthalb Jahrzehnte entfernt von seinem enthusiastisch-bewegten Bekenntnis zu Besser und Canitz in den „Discoursen der Mahlern“ von 1721, sprechen unverkennbar gedämpfter von beiden Dichtern. Das ist nicht nur in der individuellen geistigen Entwicklung des Kritikers begründet, sondern es spiegeln sich darin auch Wandlungen des Dichtungsverständnisses, die seither eingetreten und weiterhin im Gange sind. In der Vorrede von 1737 ist für die auch hier bekundete Schätzung der Gedichte von Canitz nicht mehr die nach rhetorischen Regeln verfahrende Einwirkung auf die Affekte der Maßstab, sondern die Kundgabe dessen, was „zuvor in ... Sinn und Hertzen“ des Poeten gewesen ist, der dafür auf das „si vis me flere ...“ im Sinne eines fremde Affekte vergegenwärtigenden Kunstgriffs nicht angewiesen ist. Wo der Poet seine „Empfindungen ... nach ihren wahren Symptomatibus, wie er sie an sich selbst gefühlet hatte, ... getreulich ausgedrücket“ hat, können entsprechende „menschliche Empfindungen“ auch im Leser geweckt werden.³⁹ Auf der
39 Vgl. als wenige Jahre jüngere Parallele dazu den Anfang des in der Quellensammlung mitgeteilten Auszugs aus der Vorrede des Herausgebers Carstens zu den „Zeugnissen treuer Liebe“.
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Wahrheit der Empfindung und ihrer Mitteilung auf der Seite des Dichters und der teilnehmenden Mitempfindung auf der Seite des Lesers beruht hier für Bodmer die Leistung des Gedichts. Das steht als Voraussetzung offenkundig auch hinter der Kritik an Besser, zu welcher Bodmer 1741 in seinen „Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde“ Anlaß sieht. Das immer noch als affektreich von Bodmer geschätzte Trauergedicht wird für den Kritiker dort „frostig“ und damit fragwürdig, wo es sich nicht mit dem einfachen Ausdruck der vorhandenen „natürlichen Empfindungen“ zufrieden gibt, sondern einem unnötigen Ehrgeiz nachgibt, „Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen“, die offenkundig anfangen, als hinzutretender Schmuck des Gedichts obsolet zu werden. Das läßt Metaphern – eines der Hauptmittel eines hohen, affektreichen Stils im Barock – als spitzfindig und der „Natur“ der „Leidenschaft“ nicht gemäß erscheinen, deren innere Spannungen „aus der Sache hervorfliessen und mit den eigensten Worten vorgetragen werden“ müssen, „wenn sie den Affect vorstellen sollen“. Zwar verteidigt Bodmer – es sind die Jahre des beginnenden Streites zwischen Zürich und Leipzig – auf den folgenden Seiten die Trauergedichte von Besser und Canitz gegen die Vorwürfe, die Gottsched schon in der 1. Auflage seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) gegen diese erhoben⁴⁰ und bis hin zur 4. Auflage (1751) stets beibehalten hatte. Doch in dem dann folgenden Vergleich, den Bodmer mit den Worten einleitet: „Diese beyden Stücke, Bessers Trauergedichte über die Kühlweinin, und Canizens Ode auf die Doris, werden mit Recht für zwey der Affectreichsten Wercke gehalten“, kommt er zu bemerkenswerten Beobachtungen wie der: „Die Leidenschaft des Hrn. von Caniz war sehr heftig und ungestüm; Liebe, Furcht, Trost, Schrecken, Ungedult, Sehnsucht und äusserste Empfindlichkeit äussern sich in denen verwirrten Klagen, die sonder Kunst so natürlich fliessen“, während er zu Besser festhält: „Die Leidenschaft des Hrn. von Bessers war gesetzter, ohne sonderliche Vermischung und Zusatz; daher ist seine Klag-Rede auch kunstreicher und voller Gegensätze“. Und er endet die Vergleichung mit dem Resümee: „Zwischen diesen beyden Stücken regiert noch der Unterschied, daß die Leidenschaft in dem Canizischen selber durchaus redet; da hingegen der Verfasser in dem Besserischen das meiste saget, und die Empfindungen seines Gemüthes nicht selber auf die Bühne führt, sondern beschreibt“. Die veränderten Erwartungen von der Art, in welcher die Empfindungen des Poeten als solche zur Sprache kommen sollen, ohne eines gesteigerten Kunstaufwands zu bedürfen, sind es, die Bodmer hier die Augen dafür öffnen, daß
40 S. oben in der Quellensammlung die Auszüge aus Gottscheds Kapiteln „Von dem Wunderbahren in der Poesie“ und „Von der poetischen Schreibart“.
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von den berühmten Trauergedichten der beiden fast gleichaltrigen Autoren das jüngere von Canitz, das übrigens auch Gottsched mehr als das Bessers geschätzt und häufiger zitiert und als Muster erwähnt hat,⁴¹ diesen Erwartungen doch mehr entspricht, wohingegen Bessers Text – wie man an ihm auch im einzelnen zeigen könnte – als der allmählich aus der Mode kommende zu erscheinen beginnt, auch wenn in Bodmers Abhandlung gleich darauf Hoffmannswaldau ungemein viel kritischer abgehandelt wird. Die von Bodmer wahrgenommenen Unterschiede machen es verständlich, daß im Lauf des 18. Jahrhunderts Canitz länger als Besser unter den Musterautoren genannt wird,⁴² nun zum Teil zusammen mit Haller,⁴³ der seinerseits mit kritischen Bemerkungen zum Trauergedicht von Canitz⁴⁴ den fortschreitenden Geschmackswandel bezeugt, welcher ihn, den jüngeren, vorerst noch auf einige Zeit verschont. So kann Hallers Trauergedicht auf seine erste Ehefrau Mariane (zum Teil auch zusammen mit dem auf seine spätere Ehefrau Elise) in der zweiten Jahrhunderthälfte – wie Besser und Canitz in den Jahrzehnten zuvor – als Exemplum in der Diskussion bedeutsamer Aspekte der zeitgenössischen Poetik dienen. Johann Adolf Schlegel, einer der beiden ersten deutschen Übersetzer (1751) der zuerst 1746 erschienenen Schrift „Les Beaux Arts réduits à un même principe“ von Charles Batteux, war einer der Hauptakteure der in Deutschland besonders in den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts geführten Diskussion um den von Batteux mit umfassendem Geltungsanspruch vertretenen Grundsatz der Nachahmung der Natur als Fundament aller Künste.⁴⁵ Schlegel hat dazu durch die seiner Übersetzung beigegebenen eigenen Abhandlungen und durch umfangreiche Anmerkungen in der 2. Auflage seiner Übersetzung (1759) und deren auf Erwiderungen von Batteux polemisch eingehende Erweiterung in der 3. Auflage von 1770 beigetragen. Zu den Schwerpunkten der im deutschen Sprachraum geführten Debatte und insbesondere der polemischen Beiträge in den Fußnoten Schlegels gehörte die Frage nach der Geltung des Prinzips der Nachahmung der Natur für die lyrische Poesie (was nach dem Stand der Theorie hieß: für die Ode), die Batteux mit Entschiedenheit verfocht. Er wie seine Gegner standen dabei in einer auf die humanistische Poetik des 16. und
41 Vgl. dazu schon die Belege in Anm. 27 und 28 und darüber hinaus das in Anm. 28 erwähnte Register von Horch zum Nachdruck der 4. Auflage der „Critischen Dichtkunst“. 42 S. dazu Anm. 22. 43 S. oben in der Quellensammlung die Auszüge aus Herder (1769) und Lindner (1772). 44 S. oben in der Quellensammlung den Auszug aus Hallers Rezension (1765) der Canitz-Ausgabe von 1764. 45 S. dazu die schon in Anm. 29 und 30 gegebenen Verweisungen auf einschlägige Stellen in anderen Untersuchungen in diesem Band.
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17. Jahrhunderts zurückgehenden Traditionslinie.⁴⁶ Denn schon diese hatte sich im Zuge der Rezeption der aristotelischen Poetik vor dieselbe Frage gestellt gesehen, weil die bei Aristoteles gar nicht behandelte poesis lyrica Nachahmung von Handlungen und Figuren wie Epos und Drama jedenfalls nicht leistet. So mochte als nachahmende – und das bedeutete: fingierend darstellende – Leistung der lyrischen Poesie die Darstellung von Affekten verstanden werden. Doch mußte es dann zum Problem werden, ob denn die als göttlich inspirierte Dichtung verstandenen Psalmen, aber auch andere geistliche Dichtung, die man schlechterdings nicht als bloße Nachahmung verstehen konnte, gleichwohl auch dem Prinzip der Mimesis unterstellt sein könnten. Dagegen hat sich schon in der humanistischen Poetik da und dort Widerspruch erhoben, so bei G.J. Vossius, der feststellte: „... si poësis citra figmenta foret nulla; David, caeterique, qui sacra carmina posteris reliquerunt, poëtarum numero debeant excludi“.⁴⁷ Um dieselbe Frage geht es auch noch in dem oben in der Quellensammlung mitgeteilten Auszug aus einer langen polemischen Anmerkung Schlegels, in welcher er die Trauergedichte Hallers auf seine erste und auf seine zweite Ehefrau als exempla heranzieht.⁴⁸ Daß Batteux das hergebrachte Problem kannte und die Schwierigkeiten – auch im Hinblick auf die antiken Muster der Ode, Pindar und Horaz – für sein System sah, zeigt der Anfang des Kapitels „Sur la Poësie lyrique“ schon in der 1. Auflage seines Werks: „Quand on examine superficiellement la Poësie ly rique, elle paroît se prêter moins que les autres espèces au principe général qui raméne tout à l’imitation. Quoi! s’écrie-t’on d’abord; les Cantiques des Prophètes, les Pseaumes de David, les Odes de Pindare & d’Horace ne seront point de vrais Poëmes? Ce sont les plus parfaits … Je n’y vois point de tableau, de peinture. Tout y est feu, sentiments, yvresse. Ainsi deux choses sont vrais: la premiere, que les Poësies lyriques sont de vrais Poëmes: la seconde, que ces Poësies n’ont point le caractère de l’Imitation. Voilà l’objection proposée dans toute sa force“.⁴⁹ Der Widerlegung dieser „objection“ ist das gesamte Kapitel gewidmet, das sich dabei mehrfach auf David und die Psalmen als das Hauptexemplum der Einwände zurückzukommen gezwungen sieht. Es gipfelt in Sätzen wie diesen: „... dans le lyrique, qui est livré tout entier au sentiment, il [le Poëte] doit échauffer
46 S. dazu die schon in Anm. 31 notierten Verweisungen auf einschlägige Stellen in anderen Abhandlungen in diesem Band. 47 De Artis Poeticae Natura, ac Constitutione, Amsterdam 1647 (Expl. UB Köln), S. 20. 48 Diese Passage nahezu wörtlich übereinstimmend auch in der 3. Auflage von Schlegels Übersetzung (1770, ND Hildesheim, New York 1976), S. 365. 49 Les Beaux Arts Réduits à un même Principe, Paris 1746 (Expl. StB Berlin), S. 235f. (das ganze Kapitel S. 235–246).
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son coeur, & prendre aussitôt la lyre. S’il veut composer un Lyrique élevé, qu’il allume un grand feu. Ce feu sera plus doux, s’il ne veut que des sons modérés. Si les sentimens sont vrais & réels, comme quand David composoit ses Cantiques, c’est un avantage pour le Poëte … Alors l’imitation Poëtique se réduit aux pensées, aux expressions, à l’harmonie, qui doivent être conformes au fonds des choses. Si les sentimens ne sont pas vrais & réels, c’est-à-dire, si le Poëte n’est pas réellement dans la situation qui produit les sentimens dont il a besoin; il doit en exciter en lui, qui soient semblables aux vrais, en feindre qui répondent à la qualité de l’objet. Et quand il sera arrivé au juste dégré de chaleur qui lui convient; qu’il chante: il est inspiré“ (S. 244f.). Gegen den Versuch von Batteux, die Nachahmung der Natur auch als umfassendes Prinzip der lyrischen Dichtung zu rechtfertigen, polemisiert Schlegel in der Folge von – teilweise sehr ausführlichen und den Text von Batteux an Umfang übertreffenden – Fußnoten. Die zweite dieser Fußnoten richtet sich gegen den Anfang der Batteux’schen Verteidigung, worin der Autor die lyrische Poesie in Parallele zur Nachahmung von Leidenschaften in Musik, Oper, Drama stellt, um daraus die Geltung der Nachahmung auch für jene abzuleiten. Wenn in der daraus oben mitgeteilten Passage Schlegel nicht nur David und die Psalmen als Exempla anführt, sondern auch Haller, so schließt er sich zwar an das alte Argument eines Vossius an, geht aber über dessen religiöse Begründung hinaus. Ablehnung einer längst überholten Auslegung des Horazischen „si vis me flere ...“ als eines „arcanums“ der Kunst, wie es bei Batteux noch anklingt, und die Berufung auf das Herz als Quelle wahrer Empfindungen in der Ode als dem Inbegriff lyrischer Poesie statt nur nachgeahmter, fingierter Leidenschaften – dies sind in Übereinstimmung mit den sich vollziehenden Wandlungen des zeitgenössischen Dichtungsverständnisses die entscheidenden Argumente, mit welchen Schlegel an dieser Stelle dem Rechtfertigungsversuch von Batteux nachdrücklich widerspricht. Es ist die nach Besser und Canitz auch von Haller vollzogene Um- und Ausgestaltung des Epicediums zu einem Klagelied auf den Tod der eigenen Ehefrau, es ist die damit gegebene persönliche Sprechsituation, die weit vom Sprechen im Namen eines anderen und einem dafür nötigen fingierenden „si vis me flere ...“ sich entfernt, was die Trauergedichte Hallers – unerachtet aller noch vorhandenen Traditionsbezüge – als Zeugnisse wahrer und nicht nur erdichteter, sondern erwarteter und gewünschter Empfindungen gelesen werden läßt⁵⁰ und Haller neben David für Schlegel zum willkommenen Eideshelfer in einer zentralen Frage der Poetikdebatte dieser Jahre macht.
50 Vgl. als ein etwas jüngeres Zeugnis z. B. auch in der Quellensammlung den Auszug aus Herder (1767).
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Daß in den späten, aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts stammenden Zeugnissen in der oben gebotenen Quellensammlung, bei Chr. H. Schmid (1767), Herder (1769), J.G. Lindner (1772) und schließlich bei Schiller (1795) insbesondere Hallers Gedicht auf den Tod seiner ersten Ehefrau Mariane⁵¹ als Exempel der Elegie in Erscheinung tritt,⁵² mag zunächst überraschen, hatten doch Haller wie Canitz ihre Gedichte Trauer- oder Klag-Ode genannt und die Zeitgenossen bis über die Jahrhundertmitte diese Epicedien als beispielhafte Oden gelesen. Und jener Befund mag geradezu als befremdlich erscheinen, wenn man bedenkt, daß Ode und Elegie, wie immer sie im einzelnen nach Inhalt und Form verstanden worden sind, nahezu das ganze 18. Jahrhundert hindurch so deutlich von einander unterschieden worden sind, daß die Elegie in einen lange an der strophisch gegliederten Ode orientierten und nur nach und nach erweiterten Begriff von lyrischer Dichtung erst spät einbezogen worden ist.⁵³ Für jenen Befund liegt allerdings ein erster Ansatzpunkt,⁵⁴ dessen Wahrnehmung noch
51 Bei Schmid wird außerdem Hallers Gedicht auf den Tod seiner zweiten Ehefrau, bei Herder und Lindner auch das von Canitz erwähnt. 52 S. u. a. auch Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Neue vermehrte zweyte Auflage, T.2, Leipzig 1792 (ND Hildesheim u. a. 1994), S. 52, wo es im Artikel „Elegie“ nach einigen Hinweisen auf entsprechende Texte bei deutschen Dichtern des 17. Jahrhunderts heißt: „... wenn wir die, in diesen, und andern, zum Theil frühern, Dichtern befindlichen Leichen- und Trauergedichte zu den Elegien zählen wollen: so sind wir sehr reich daran. Die ersten, indessen, welche bemerkt zu werden verdienen, sind Albr. Hallers Klaggedichte über den Tod seiner Gattinnen. Nächst ihm haben deren noch geschrieben ...“ (die dann folgenden Hinweise auf Autoren und Werke betreffen offenkundig nicht etwa weitere Epicedien auf die eigene Ehefrau, sondern Elegien anderen Inhalts). 53 S. dazu die Anm. 71 in der Abhandlung „Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert“ in diesem Band. 54 Eine in der Auffassung des Trauergedichts als Elegie zwar nicht eigens zur Sprache kommende, aber verborgen wohl daran mitwirkende, in ihren Wurzeln weiter zurückreichende Voraussetzung ist die zum Teil einseitig auf die Thematik der Klage konzentrierte Rezeption der bekanntlich auch anderes umfassenden antiken elegischen Dichtung in der Frühen Neuzeit und auch die Rolle der Elegie und der elegischen Distichen in der antiken Trauerdichtung (s. dazu in der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band die Hinweise im Text bei Anm. 23–25). So stellt Opitz im 5. Kapitel des „Buchs von der Deutschen Poeterey“ (1624) – mit anschließendem Hinweis auf die römischen Musterautoren der Elegie und ihre frühneuzeitlichen Nachfolger – fest: „In den Elegien hatt man erstlich nur trawrige sachen / nachmals auch buhlergeschäffte / klagen der verliebten / wündschung des todes / ... verlangen nach den abwesenden ...“ (Gesammelte Werke, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. 2, T.1, Stuttgart 1978, S. 366f., im Anschluß an Scaliger), – so behandelt Sigmund von Birken die antiken elegischen Distichen und deutschen Alexandriner als eine der möglichen Formen für Leich- und Klaggedichte: „Bei den Latinern ist eine Redgebänd-Art / Elegia genannt: die wir WechselReimgedichte nennen können / weil darinn der Ein- und Zweifache Reim immer abgewechselt
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einmal die Veränderung des Epicediums bei Besser, Canitz und Haller und deren Wirkungsgeschichte in der Poetik des Jahrhunderts in eigener Weise beleuchtet, offenkundig schon in den frühen Äußerungen von Bodmer zu den Trauergedichten von Besser und Canitz zutage. Wenn Bodmer von Besser und Canitz 1721 in den „Discoursen der Mahlern“ schreibt: „Sie zwingen uns die Affecte anzunehmen / welche sie wollen / wir lachen / wir werden stoltz / wir förchten uns ... aber auch die traurigen Affecte die sie in uns rege machen / werden von einem gewissen Ergetzen begleitet / das damit vermenget ist“ oder 1741 in der Verteidigung Bessers gegen Gottsched: „Wenn er nun diese Gemüthes-Verfassung nach der Zeit wieder in die Gedancken geholet, und als ein Poet ... mit der Absicht vorgestellet hat, daß er die Phantasie der Lesenden in Entzückung setzete, und diejenige Lust dadurch hervorbrächte, so das Hertz mitten in der Bewegung und dem Streit der Leidenschaften findet“, so sind dies offenkundig frühe Beispiele dessen, was in den 50er und 60er Jahren dann in der philosophischen Ästhetik und in der Poetik besondere Beachtung findet. Anlaß sah Bodmer zu seinen Feststellungen in der lebhaften Bekundung wechselnder Affektzustände, die aus der Ausgestaltung des Epicediums bei Besser, Canitz und dann auch und stärker noch bei Haller⁵⁵ hervorging. Man wird annehmen dürfen, daß andere
wird. Sie bestehen aber in langen Versen / und werden in Latein zu den Leich- und andern Klag- und TraurGedichten gebrauchet / davon sie auch den Namen haben ... In unserer Sprache / kan folgender LeichTrost zu einem Beispiel dieser Verse-art dienen ...“ (Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, Nürnberg 1679, ND Hildesheim, New York 1973, S. 235f.), – so gilt für Gottsched noch in der letzten Auflage seiner Poetik vom antiken Ursprung der Elegie her: „Sie soll ... einen traurigen Inhalt haben, und fast aus lauter Klagen bestehen“, doch bemerkt er am Ende des Kapitels: „Man kann sie bey uns hauptsächlich zu Trauergedichten und zu verliebten Sachen; sodann aber bey Hochzeiten, wo gemeiniglich was verliebtes und zärtliches mit unterläuft, brauchen“ (Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4Leipzig 1751, ND Darmstadt 1962, S. 657 u. 667; fast wörtlich so schon 1730 in der 1. Auflage, S. 417f.). Belegen wie diesen aus dem 17. und der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten Trauer und Klage zwar als ein – z.T. bevorzugter – Themenbereich der vor allem von ihrer metrischen Form her definierten Elegie, sie bleiben aber weit davon entfernt, Trauergedichte – unabhängig von ihrer metrischen Form (vgl. dagegen Anm. 56) – zu bevorzugten Mustern der Elegie zu machen. 55 Zu seinem Trauergedicht vgl. auch (Nachweise in Anm. 11) Bodmers darauf eingehendes Trostgedicht, das zugleich ausführlich von der eigenen Trauer um einen früh verstorbenen Sohn spricht, und Hallers „Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer“, in welchem sich die widersprüchlichen Empfindungen des Trauernden u. a. in diesen Versen (73–76) eindringlich bekunden: Mein Sinn, verwirrt vor Angst, vor Schmerzen und Begier, Wünscht bald sie wieder mein, bald aber mich zu ihr; Bis Thränen endlich frei, nicht ohne Wollust, quillen Und mein empörtes Herz mit sanfter Wehmuth stillen.
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Zeitgenossen diese Gedichte ähnlich gelesen haben. Damit war offenkundig die Voraussetzung gegeben, die Gedichte von Canitz und Haller – Bessers Gedicht ist um diese Zeit in der literarischen Debatte bereits in den Hintergrund getreten – einem unabhängig von ihrer äußeren Form⁵⁶ sich genauer herausbildenden neuen Begriff der Elegie zuzuordnen, seit Moses Mendelssohn – vor allem in der Schrift „Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen“ (1761) – seine Theorie der vermischten Empfindungen entwickelt und Thomas Abbt 1762 in den „Briefen, die Neueste Litteratur betreffend“ (T.13) auf die Lehre von den vermischten Empfindungen eine Theorie der Elegie gegründet hatte.⁵⁷ Auf Abbts Schrift als maßgeblichen Entwurf einer Theorie der Elegie beruft sich 1767 denn auch Christian Heinrich Schmid (S. 290f.), der Hallers Trauergedichte als erste deutsche Muster behandelt, ebenso wie wenige Jahre später Johann Gotthelf Lindner, und Herder, der 1769 in seinen „Kritischen Wäldern“ im Rahmen einer „philosophischen Geschichte der Elegischen Dichtkunst über Völker und Zeiten“ unter anderen Beispielen Canitz und Haller erwähnt hat, hat zuvor in den „Fragmenten“ (Dritte Sammlung, 1767; III,3: Von Nachahmung der Lateinischen Elegien) Abbts Schrift abgedruckt und kommentiert.⁵⁸ Zeugnisse wie diese lassen eine Rezeptionslinie sichtbar werden, die es verständlich macht, daß zuletzt noch in einer der großen Abhandlungen Schillers, der sich übrigens in seiner
56 So meint Schmid (Theorie der Poesie, T.1, S. 293f.), er müsse als Exempel der zuvor von ihm dargelegten Theorie der Elegie eigentlich Texte aus unterschiedlichen Gattungen, darunter auch „Oden und Lieder“, anführen und „selbst einige Leichengedichte der Vergessenheit entreißen“, um sich dann allerdings mit der Charakterisierung von Musterautoren zu begnügen, oder Lindner (Kurzer Inbegrif, S. 379) dekretiert geradezu: „Oden können auch Elegien seyn“. Und Herder notiert in einer seiner Fußnoten zu Abbts Schrift über die Elegie: „Uebrigens gefällt es mir, daß der Kunstrichter die Elegie in kein eigensinniges Sylbenmaaß einkerkert: es kann Elegische Oden in vielerlei Sylbenmaaß, Elegische Eklogen u.s.w. geben“ (Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 491). – Man wird übrigens annehmen müssen, daß der junge Schiller – sei es durch einen seiner Lehrer an der Lateinschule in Ludwigsburg, sei es durch den Unterricht an der Herzoglichen Militär-Akademie (ein vielleicht aus Schillers letztem Jahr an der Akademie stammendes Schulheft zählt als „Elegien Dichter“ auf: „Haller, Klopstock, Karschin, Bürger, Hölty, Voß“: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 41, T.IIA, Lebenszeugnisse, S. 209) – Kenntnis von solchen Veränderungen gehabt hat, wenn er 1780/81 eines seiner frühen Trauergedichte (s. zu ihnen die in diesem Band folgende Skizze) zwar „Trauer-Ode“ nannte, dem längsten und eigenwilligsten dieser Epicedien aber, wiewohl strophisch gegliedert, die Überschrift „Elegie auf den frühzeitigen Tod Johann Christian Weckerlins“ gab (in der überarbeiteten Fassung der „Anthologie auf das Jahr 1782“: „Elegie auf den Tod eines Jünglings“). 57 S. dazu auch die Hinweise bei Friedrich Beißner, Geschichte der deutschen Elegie, Berlin 1941, S. 103ff. und Theodore Ziolkowski, The Classical German Elegy 1795–1950, Princeton 1980, S. 78ff. 58 Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 477–491.
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Schrift „Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen“ (1792) als selbstverständlich mit der Theorie der „gemischten Empfindungen“ vertraut erwiesen hatte,⁵⁹ fast sechs Jahrzehnte nach seiner Entstehung das „schöne Lied“ Hallers, gelesen als ein Muster der „elegischen Gattung“, zur Entfaltung des Begriffs der „Sentimentalischen Dichtung“ beitragen kann. Verwunderlich ist es nicht, daß es gerade Epicedien sind, die – wie die hier versammelten und, wenn auch keineswegs erschöpfend, erläuterten Zeugnisse zeigen – über einen längeren Zeitraum hinweg der Erörterung zentraler Fragen von Poetik und Ästhetik im 18. Jahrhundert immer wieder als Beispiele haben dienen können. Denn es gibt kaum eine Gedichtart, die so wie diese geeignet wäre, Wandlungen von Affektverständnis und Affektdarstellung zu befördern und sichtbar werden zu lassen. Es ist die für das Epicedium fundamentale Spannung von Affekterregung und Affektstillung, die es in besonders eindringlicher Weise Medium und Symptom solcher Wandlungen werden lassen kann. Wenn das bei Besser, Canitz und Haller und einigen ähnlichen Gedichten anderer Autoren, indem sie die lang tradierte, auf die Tröstung von Trauernden durch ihnen nahestehende Mittrauernde zielende Gedichtart für die Klage über den Tod der eigenen Ehefrau und den Versuch einer Selbsttröstung in Anspruch nehmen, durch eine Normabweichung, ja einen Normbruch geschieht, so kündigt sich damit ein nach und nach wachsendes Bedürfnis an, von eigenen Affekten in veränderter Weise zu sprechen, die schließlich von der Affektbeschreibung zum Gefühlsausdruck führt. Da diese allmähliche Wandlung sich auf dem Boden einer rhetorisch fundierten Poetik, der die lyrische Poesie des vorangegangenen Jahrhunderts ihre Wirkungskraft verdankte, zu entwickeln beginnt, können ihre frühen Ergebnisse, wie die Äußerungen von Bodmer zu Besser und Canitz zeigen, zunächst noch mit Begriffen erläutert werden, die in der rhetorischen Überlieferung ihren Ursprung haben. Doch je mehr die von einer lang tradierten Norm abweichenden Trauergedichte von Besser, Canitz und Haller auf die eigene Ehefrau als etwas Neuartiges begriffen werden und Hallers Trauergedichte gar zum Eideshelfer in der kritischen Auseinandersetzung mit Batteux werden können, in welcher es nicht nur um die alte Frage der imitatio in der poesis lyrica, sondern mit der Ablehnung der alten Vorstellung vom „si vis me flere ...“ als einem Kunstgriff des Poeten oder mit der Abweisung eines Dichtens in anderer Namen um eine sich verändernde und schließlich ganz veränderte Dichtungsauffassung geht, desto mehr lassen sie sichtbar werden, daß
59 Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 138, 140.
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mit Erscheinungen wie diesen die Grundlage nicht nur des Epicediums, sondern der gesamten Kasualdichtung zu schwinden beginnt. Zwar erlischt die Produktion solcher Gedichte noch geraume Zeit nicht,⁶⁰ sondern setzt sich noch ins 19. Jahrhundert hinein fort, nicht zuletzt gewiß aufgrund langlebiger gesellschaftlicher Gewohnheiten und Erwartungen. Ein beliebiges, aber aufschlußreiches Beispiel dafür sind die vom jungen Schiller mit ambivalentem Urteil rezensierten⁶¹ „Kasualgedichte eines Wirtembergers“⁶² des schwäbischen Theologen und Schulmannes Johann Ulrich Schwindrazheim⁶³ mit ihren vielfach sehr genauen Angaben über Anlässe und Auftraggeber. Unter sechsundsiebzig zum Teil sehr umfangreichen Kasualgedichten zu unterschiedlichen Anlässen enthält der Band neunundzwanzig regelgerechte Epicedien. Darunter lebt mit drei Beispielen auch der Typus des Epicediums auf eine Ehefrau – doch altem Herkommen gemäß im Namen nur des Ehemanns, nicht von ihm selbst verfaßt – weiter, aller Ablehnung jeglicher Dichtung im Namen eines anderen, die im Lauf des 18. Jahrhunderts für die Poetik selbstverständlich geworden ist, zum Trotz. Die davon abweichende, mit ihren Wirkungen über die so lange tradierte Kasualdichtung hinausweisende Form eines vom trauernden Ehemann selbst verfaßten Trauergedichts auf die eigene Ehefrau, das doch noch immer auf den alten praecepta für dispositio und inventio des Epicediums beruht, dürfte freilich über die Sammlung „Zeugnisse treuer Liebe“ von 1743 hinaus, in die auch noch Hallers Gedicht (1741) auf den Tod seiner zweiten Ehefrau Aufnahme gefunden hat, kaum lange überdauert haben. Ein Schlußwort aber zu allen herkömmlichen Erwartungen von einem – wie immer auch modifizierten, vom Witwer selbst oder in seinem Namen geschriebenen – Gedicht auf den Tod einer Ehefrau hat bereits früh ein Autor gesprochen, der schon eine nächste Phase der Wandlungen der Lyrik im 18. Jahrhundert vor anderen repräsentiert: Klopstock. Er hat 1759 am Beginn der Einleitung zu den „Hinterlassnen Schriften“ seiner im Jahr zuvor jung verstorbenen Ehefrau Meta, der er mit dieser Sammlung ein Denkmal gesetzt hat, in seiner charakteristisch lakonischen Art und unter stillschweigender Verknüpfung mit der zeitgenössischen literarischen Debatte erklärt: „Ich habe diejenige durch den Tod verloren, die mich durch ihre Liebe so glücklich machte, als sie durch die meinige war. Unsre Freunde wissen, was das für eine Liebe war, mit der wir uns liebten. Man
60 S. dazu auch die hier folgenden Beiträge zu Trauergedichten des jungen Schiller und des jungen Mörike. 61 Nationalausgabe, Bd. 22, Vermischte Schriften, S. 191f. 62 Anonym Stuttgart 1782 (Expl. StB Mannheim). 63 Zu ihm s. Anm. 13 in der hier folgenden Skizze über die Trauergedichte des jungen Schiller.
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wird aus dem folgenden sehn, warum ich mir jede Klage verbieten muss, und gern verbiete. Diese ist eine von den Ursachen, dass ich kein Gedicht, welches so viele von mir erwartet haben, auch alsdann nicht auf sie machen werde, wenn ich mehr, als ich es itzt bin, dazu fähig seyn werde. Meine andern Ursachen sind diese. Ich halte dafür, dass man vor dem Publico mit eben der Bescheidenheit von seiner Frau, als von sich selbst, sprechen muss. Aber wie nachtheilig würde die Ausübung dieses Grundsatzes dem Schwunge seyn, den man von Gedichten fodert. Dazu kommt, dass sich die Leser nicht ohne Ursache für berechtigt halten, dem Lobredner seiner Geliebten nicht völlig zu glauben. Und ich liebe diejenige, die mich so sehr glücklich machte, viel zu sehr, als dass ich meinen Lesern auch nur den geringsten Anlass hierzu geben möchte. Es ist noch ein Umstand, der Gedichte von dieser Art uninteressant macht. Wir haben ihrer zu viel“.⁶⁴
64 Zit. nach: Klopstocks Werke, Bd. 11, Hinterlassne Schriften von Margareta Klopstock. Vermehrte und verbesserte Ausgabe, Leipzig 1816 (Expl. Deutsches Institut der Universität Mainz), S. 7f.
3 „Sterben ist der langen Narrheit Ende“* Die Trauergedichte des jungen Schiller Eine Skizze Aus gelegentlichen Äußerungen wie der abschätzigen Bemerkung über Poeten, welche ihren „bezahlten Schmerz in Leichenalexandriner auszutropfen“ verstehen, in der Vorrede zur „Anthologie auf das Jahr 1782“¹ oder der bedauernden Feststellung „Schade, daß er sein herrliches Dichtertalent an dem unfruchtbaren Stoff der Hochzeiten und Alltagsleichen verschwendet“ über Johann Ulrich Schwindrazheim in der Rezension von dessen „Kasualgedichten eines Wirtembergers“ (1782)² weiß man, daß der junge Schiller – wie längst auch viele der Zeitgenossen – kritisch, ja geradezu verachtungsvoll von der immer noch verbreiteten Gelegenheitsdichtung dachte. Gleichwohl macht man es sich entschieden zu leicht, wenn man die in derselben Zeit entstandenen Trauergedichte des jungen Schiller,³ sofern man sie nicht überhaupt mit Stillschweigen übergeht, als „Auftragsarbeit“ abtut, in welcher daher „die persönliche Betroffenheit des Dichters“ fehle,⁴ und solche „Auftragsarbeit“ einfach mit „zeitgenössischem Brauch“ erklärt⁵ oder wenn man sie, wie es umgekehrt in älteren Kommenta-
* Schiller, Elegie auf den frühzeitigen Tod Johann Christian Weckerlins, v. 97. 1 Schillers Werke. Nationalausgabe (= NA), Bd. 22, Vermischte Schriften, hrsg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 85. 2 NA, Bd. 22, S. 191. 3 NA, Bd. 1, Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799, hrsg. v. Julius Petersen† und Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 31–32: Trauer-Ode auf den Todt des Hauptmanns Wiltmaister (gest. 27.12.1780) – S. 33–37: Elegie auf den frühzeitigen Tod Johann Christian Weckerlins (gest. 15.1.1781) – S. 37–39: Todenfeyer am Grabe Philipp Friderich von Riegers (gest. 15.5.1782). Alle drei Gedichte (s. die Nachweise zur Überlieferung in: NA, Bd. 2, T.IIA, Gedichte. Anmerkungen zu Bd. 1, hrsg. v. Georg Kurscheidt u. Norbert Oellers, Weimar 1991, S. 38, 40 und 43) zuerst in Einzeldrucken publiziert (für das erste nicht erhalten, Erwähnung des Gedichts aber als eines gedruckten im Brief Schillers an seinen Vater vom 4.2.1790, NA, Bd. 25, Briefe 1788–1790, hrsg. v. Eberhard Haufe, Weimar 1979, S. 408). Zum Gedicht auf J. Chr. Weckerlin vgl. auch die in den Lesarten nach dem Textzeugen h1H mitgeteilten Einwände des Zensors und Schillers darauf reagierenden Änderungen sowie die überarbeitete und gekürzte Fassung „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ in der „Anthologie auf das Jahr 1782“ (NA, Bd. 1, S. 57–60). 4 NA, Bd. 2, T.IIA, S. 39 (zum Gedicht auf J.A. von Wiltmaister), S. 44 (ähnlich zum Gedicht auf Ph. F. von Rieger) – s. auch: Schiller, Sämtliche Werke. Gedichte, hrsg. v. Jochen Golz, Berlin 2005 (11980), S. 620. 5 So: Schiller, Sämtliche Werke. Gedichte, hrsg. v. Golz, 2005 (11980), S. 597 (zum Gedicht auf J. Chr. Weckerlin: „Im Namen der Freunde hatte Schiller, einer Sitte der Zeit folgend, ein Lei-
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ren geschieht, „trotz ... schwülstigen Aufputzes“ als „aus wahrer Empfindung geboren“ rechtfertigen zu müssen meint,⁶ aber auch, wenn in einem Abschnitt über „Schillers Jugendlyrik“ die drei „als Einzeldrucke in die Welt geschickten Klagelieder aus Anlass von Todeserfahrungen“ zwar erwähnt, doch nur mit der Bemerkung charakterisiert werden: „kräftig, aber konventionell, nach anerkannten Vorbildern gedrechselte Preislieder auf die Verstorbenen mit dem Versprechen ewigen Lebens“.⁷ Solche Auskünfte sind, weil sie vag und oberflächlich bleiben, auch den „zeitgenössischen Brauch“, die „anerkannten Vorbilder“, denen nach ihrer Ansicht der junge Schiller folgt, nicht näher benennen und – von deren Voraussetzungen ganz zu schweigen – wohl auch gar nicht kennen,⁸ milde gesagt: irreführend. Sie leisten nichts für das Verständnis dieser Texte, die sich erst erschließen und für die Anfänge von Schillers Dichtung und für die Geisteshaltung seiner frühen Jahre sich als wichtige Dokumente erst erweisen, wenn man die literarische Tradition wahrnimmt und benennt, in welcher sie stehen.⁹ Es ist
chengedicht verfaßt“) – Schiller, Werke und Briefe, Bd. 1, Gedichte, hrsg. v. Georg Kurscheidt, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 1160 (zum Gedicht auf Wiltmaister: „Das Gedicht wurde vermutlich vom Offizierskorps, nach zeitgenössischem Brauch, als Leichencarmen in Auftrag gegeben. Es fehlt ihm daher die persönliche Betroffenheit ...“). 6 So: Schillers Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe, Bd. 2, Gedichte II. Erzählungen, hrsg. v. Eduard von der Hellen u. Richard Weißenfels, Stuttgart, Berlin (1905), S. 371 – ähnlich rechtfertigende Annäherung an seit Klassik und Romantik geläufig gewordene Dichtungserwartungen auch: Schillers Werke. Auswahl in zehn Teilen, hrsg. v. Arthur Kutscher, T.10, Berlin u. a. (1908), S. 5 (zur Anthologie-Fassung des Gedichts auf Weckerlin: „Wir haben hier in allem rhetorischen Pathos den ergreifend wahren Ausdruck jugendlicher Weltanschauungskämpfe ...“). 7 Norbert Oellers, Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart 2005, S. 332f. Als ein weiteres Beispiel aus der jüngeren Schiller-Forschung vgl. auch Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 1, München 2000, S. 223–225, der zwar etwas eingehender über die drei Trauergedichte spricht, aber in Unkenntnis ihrer Voraussetzungen unangemessene Begriffe bemüht und „Spuren literarischer Originalität“, „Authentizität“, „jegliche Freiheit der Kunst“ an diesen Texten vermißt. 8 Einen Hinweis auf solche Vorbilder oder Voraussetzungen bietet auch Fritz Jonas in seinen „Erläuterungen der Jugendgedichte Schillers“ (Berlin 1900, S. 53–60 und 139f.) nicht, die im übrigen durch einzelne Bibelstellennachweise und vor allem durch zahlreiche, für den Wortschatz der Trauergedichte aufschlußreiche Parallelen aus anderen frühen Texten Schillers hilfreicher und anregender sind als die vielfach mageren Kommentare aller folgenden Schiller-Ausgaben. 9 Einzelne aufmerksame Interpreten haben hie und da Merkmale, die auf diese Tradition zurückgehen, bemerkt, ohne diese Tradition selbst doch wahrzunehmen, so Benno von Wiese (Friedrich Schiller, Stuttgart 1963, 11959), der zu dem Gedicht auf Weckerlin u. a. schreibt: „Ein früher Tod bedeutet geradezu die Rettung vor den Greueln der Welt ... Das ganze Dasein wird hier aus einem barocken Weltbewußtsein heraus zum blinden Spiel der Fortuna ...“ (S. 46), – Werner Keller (Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, Berlin 1964), der an demselben Gedicht
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– der Verachtung des jungen Autors für „bezahlten Schmerz in Leichenalexandrinern“ zum Trotz – die des auf die antike Rhetorik zurückgehenden, in Humanismus und Barock zur Blüte und zu großer Verbreitung gelangten¹⁰ und nicht zum wenigsten in Schwaben noch bis ins 19. Jahrhundert¹¹ hinein gepflegten Epicediums.¹² Vertraut geworden sein muß der junge Schiller mit dieser beson-
den „adversativen Charakter“ unter Hinweis auf v. 71ff. hervorhebt (S. 88), – Leif Ludwig Albertsen (Ist Schillers Nadowessische Totenklage ernst gemeint?, in: Augias 3, 1982, S. 5–19), der zu den „barocken Leichencarmina des Schülers Schiller“ bemerkt: „Diese Werke der frühen 1780-er Jahre sind nicht nur in ihren Stilblüten traditionell, sondern natürlich auch in ihrer Struktur. Zum Beispiel findet sich regelmäßig die Umkehr mitten im Text, wo nach der einleitenden Trauer ein ‚Aber wohl dir!‘ oder ‚Aber Heil Dir!‘ ausgerufen wird, indem sich der Blick in glücklichere Gefilde richtet. Dies ist eine allgemeine christliche Tradition ...“ (S. 10) oder Ehrhard Bahr (Schillers Ästhetik der Trauer. Der Dichter als ‚elegischer‘ Lyriker und Dramatiker, in: Who Is This Schiller Now?, hrsg. v. Jeffrey L. High, Nicholas Martin, Norbert Oellers, Rochester 2011, S. 55–68), bei dem zu lesen ist: „Immer wieder malte der junge Schiller in aller Breite die Schrecken des Todes aus, so dass für den Trost des Christentums oft nur wenige Zeilen übrig blieben ... Diese Auftragsgedichte stehen in der Tradition der Leichenpredigten oder Totencarmen, die als Einzeldrucke an die Trauergemeinde verteilt wurden. Es handelte sich um eine Gattung, die um 1800 zu Ende kam“ (S. 57f.). Auch Wulf Segebrecht (Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977) streift (S. 394, Anm. 125) die Tradition nur, aus welcher Schillers Trauergedichte hervorgehen. S. im übrigen auch unten die Anm. 12 sowie 51 und die zugehörigen Bemerkungen im Text. 10 S. dazu in diesem Band die Abhandlung über „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert“ (zuerst gedruckt 1974). 11 Anschaulich greifbar wurde das früher in der umfangreichen, inzwischen aufgelösten Sammlung Keller in der Stuttgarter Landesbibliothek, die in 21 Bänden Gelegenheitsgedichte (alphabetisch nach den Namen der den Anlaß bietenden Personen geordnet) aus mehreren Jahrhunderten und vorzugsweise schwäbischer Provenienz enthielt. Ein bezeichnendes einzelnes Beispiel aus dem frühen 19. Jahrhundert ist das in der Zeitschrift „Der Armen-Freund“ gedruckte Epicedium des jungen Mörike auf den Tod der württembergischen Königin Katharina (1819); s. dazu den in diesem Band folgenden Beitrag „Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums“ (mit einem näheren Hinweis auf die Bedeutung der einstigen Sammlung Keller). – Für genauere Angaben zu regionalen Unterschieden in der Lebensdauer der Kasualdichtung ist es trotz vielfältigen Bemühungen um deren Erschließung wohl immer noch zu früh. 12 Die Herkunft der Trauergedichte des jungen Schiller aus dieser Tradition nimmt überraschender Weise auch der Beitrag „Schiller und die lyrische Tradition“ von Andrea Bartl (Schiller-Handbuch, hrsg. v. Helmut Koopmann, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, Stuttgart 2011, S. 123–142) nicht wahr, obgleich die Verfasserin in einem Abschnitt über „Schiller und die Lyrik des Barock“ mancherlei (nicht sehr überzeugende) Erwägungen über mögliche barocke Einflüsse in Schillers Lyrik anstellt und an einer Stelle (S. 133) auf Ernst Osterkamps Beobachtung hinweist, wonach Schillers „Nänie“ (entstanden wohl 1799/1800) die Struktur des Epicediums zugrunde liegt (Osterkamp, Das Schöne in Mnemosynes Schoß, S. 295f., in: Gedichte von Friedrich Schiller. Interpretationen, hrsg. v. Norbert Oellers, Stuttgart 1996, S. 282–297).
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ders ausgeprägten Form der Kasualdichtung schon in der Ludwigsburger Lateinschule, die er von 1767 bis 1772 besucht hat und deren Rektor von 1768 bis 1775 Johann Ulrich Schwindrazheim war,¹³ der Verfasser jener „Kasualgedichte eines Wirtembergers“, die Schiller wenige Jahre später rezensiert hat. Die Lateinschulen waren als Teil des bis ins 19. Jahrhundert hinein ungemein stark noch vom Geist des Humanismus geprägten württembergischen Schulwesens¹⁴ gehalten, einen intensiven Lateinunterricht und eine gründliche Vermittlung von Rhetorik und Dialektik zu betreiben, nicht zuletzt deshalb, weil sie die künftigen Theologen – von denen viele später auch das Lehrpersonal der Lateinschulen und Gymnasien stellten – unter ihren Schülern auf das sogenannte Landexamen, den Zugang zu den Niederen Seminaren und dem daran sich anschließenden Studium im Tübinger Stift, vorzubereiten hatten, an welchem auch der Schüler Schiller dreimal mit gutem, ein letztes Mal mit mäßigerem Erfolg teilgenommen hat,¹⁵ ehe seine Eltern ihn, dem Drängen des Herzogs nachgebend, in die Herzogliche Militär-Akademie eintreten ließen, der er bis Ende des Jahres 1780 angehörte. Hier wurde die
13 Zu ihm s. ADB 33, 1891, S. 470f. sowie unten Anm. 18. – Daß Schwindrazheim auch Lehrer Schillers gewesen wäre, kann trotz Richard Weltrichs gründlichen Forschungen zur Ludwigsburger Lateinschule zur Zeit des jungen Schiller (Friedrich Schiller. Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke, Bd. 1, Stuttgart 1899, S. XI, 73–82, 592f., 766–777) keineswegs als erwiesen gelten. Die Angaben in der in Anm. 14 genannten Darstellung von Fehleisen (S. 327) über die sehr kleine oberste Klasse, für die Schwindrazheim als Rektor zuständig war, scheinen nicht dafür zu sprechen. Zu dieser Frage, zu welcher schon der kenntnisreiche und quellenkundige Aufsatz von Rudolf Krauß (Friedrich Schiller in der Ludwigsburger Lateinschule, in: Marbacher Schillerbuch, Stuttgart, Berlin 1905, S. 189–200) gewichtige Einwände gegen Weltrich vorgetragen hat, und zu Schillers Schwindrazheim-Rezeption s. auch Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht, S. 283ff. und 395, Anm. 129. 14 S. dazu die Hinweise in den Anmerkungen 22–30 und die Darlegungen im zugehörigen Text in dem hier folgenden Aufsatz „Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums“ (dort in Anm. 28 Nachweise von Lehrbüchern der Rhetorik, die im späten 18. Jahrhundert in württembergischen Schulen benutzt wurden, darunter die „Initia Rhetorica“ von J.A. Ernesti, worin – s. das Zitat oben in Anm. 13 zur Skizze über Besser, Canitz und Haller – auch die oratio funebris behandelt wird). Zu den Lateinschulen bes. die Zitate in Anm. 26 des Mörike-Beitrags aus der „Verordnung wegen des lateinischen Schulwesens im Herzogthum Württemberg“ von 1793; zu Ludwigsburg: Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg, Bd. 3, Geschichte des altwürttembergischen Schulwesens, 1. Halbbd., Geschichte der Lateinschulen, Stuttgart 1927, S. 289–365: Georg Fehleisen, Geschichte der Lateinschulen unter der Steig, S. 325–332: Lateinschule Ludwigsburg. – Ganz unzureichend und – z.T. aus mangelhafter Kenntnis des württembergischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert – fehlerhaft ist der Beitrag von Jürgen Oelkers, Schillers Schulen, in: Schiller und Ludwigsburg. Eine kulturgeschichtliche Annäherung, hrsg. v. der Stadt Ludwigsburg, Ludwigsburg 2010, S. 48–71. 15 Siehe NA, Bd. 41, T.IIA, Lebenszeugnisse II. Dokumente zu Schillers Leben, hrsg. v. Martin Schalhorn, Weimar 2006, S. 14–16.
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Ausbildung in den klassischen Sprachen und in der Beredsamkeit – auch mit praktischen Übungen – fortgesetzt,¹⁶ die die Zöglinge schon vor ihrer Aufnahme in die Akademie genossen hatten. Zu dem schon in den Lateinschulen praktizierten intensiven Lateinunterricht samt Rhetorik und Dialektik aber gehörte ganz selbstverständlich auch die Übung in lateinischen und nach und nach auch in deutschen Reden und Gedichten¹⁷ und für deren Anfertigung auch die Einführung in die praecepta der epideiktischen Beredsamkeit und mit ihr auch in die Kasualdichtung. Wie ungebrochen deren Tradition im Rahmen dieses Bildungswesen noch war, ist auch daran abzulesen, daß der junge Schiller – wie das ebenso für zahlreiche Kasualgedichte von Schwindrazheim gilt¹⁸ – seine drei Trauergedichte auch oder sogar ausschließlich im Namen anderer verfaßt hat, in einer einst ganz unanstößigen Spielart solcher Dichtung also, die seit der dazu in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführten Diskussion eigentlich längst als verpönt galt.¹⁹ Hat der angehende Poet also mit seinen drei Trauergedichten lediglich das, was er in der Schule gelernt hatte, regelgerecht in Verse umgesetzt und gar zu
16 Vgl. hierzu Robert Uhland, Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart, Stuttgart 1953, u. a. S. 70f., 79ff., 110f., 157–160 sowie die Dokumente zum Unterricht an der Militär-Akademie und zu Schillers Leistungen in den klassischen Sprachen in Bd. 41, T.IIA der NA. – Die nicht sehr zahlreichen neueren Arbeiten zur Bedeutung der Rhetorik bei Schiller widmen dem dafür maßgeblichen bildungsgeschichtlichen Fundament erstaunlich wenig Aufmerksamkeit und, sofern überhaupt, dann fast nur dem Unterricht in der Militär-Akademie. Das gilt insbesondere für die einschlägigen Arbeiten von Gert Ueding (Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971 – Schiller und die Rhetorik, in: SchillerHandbuch, hrsg. v. Helmut Koopmann, 2 Stuttgart 2011, S. 202–209). Sehr viel konkreter und quellennäher hingegen, wenngleich ebenfalls ohne Beachtung der Lateinschulzeit, schon Hermann Meyer, Schillers philosophische Rhetorik, in: Euph. 53, 1959, S. 313–350. Analysen von Karlsschul-Reden bieten Martina Eicheldinger (Rhetorische Elemente in den Reden der Karlsschüler auf Franziska von Hohenheim (1779), in: Schiller und die höfische Welt, hrsg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack, Tübingen 1990, S. 94–110) und – mit geringerem Verständnis für die immer noch lebendige Präsenz der Rhetorik – Friedrich Strack (Schillers Festreden, ebenda S. 111–126). 17 Die wenigen erhaltenen Proben des Schülers Schiller in: NA, Bd. 2, T.1, hrsg. v. Norbert Oellers, Weimar 1983, S. 66–69 – s. auch (NA, Bd. 41, T.IIA, S. 18) das Zeugnis der schulischen Aufnahmeprüfung in der Militär-Akademie, das Schiller „einen guten Anfang in der lateinischen Poesie“ attestierte. 18 S. dazu die Bemerkungen gegen Ende der hier vorausgehenden Skizze „Ich öffne meines Herzens Wunden“ und den Exemplarnachweis zu Schwindrazheims Gedichten in Anm. 62. 19 S. in derselben Skizze die Anm. 32 und 33.
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materiellem Gewinn genutzt?²⁰ Hat er gesellschaftlichen Konventionen vorbehaltlos nachgegeben und ihnen zuliebe seine kritische Haltung zur Kasualdichtung verleugnet? Das zu bejahen, wäre eine zu einfache Antwort, wie ein genauerer Blick auf die Texte lehren kann. Dafür erscheint das Gedicht auf den frühen Tod von Johann Christian Weckerlin (1759–1781), das umfangreichste jener drei Gedichte und, wie sich zeigen wird, eigenwilligste, das Schiller bald in veränderter, abgemilderter Gestalt in die „Anthologie auf das Jahr 1782“ aufgenommen hat, besonders geeignet: ELEGIE auf den frühzeitigen Tod J o h a n n C h r i s t i a n We c k e r l i n s „Ihn aber hält am ernsten Orte „Der nichts zurüke läßt „Die Ewigkeit mit starken Armen fest“ –
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Banges Stöhnen, wie vorm nahen Sturme Hallet her vom öden Trauerhauß, Todtentöne fallen von des Stiftes Thurme – Einen Jüngling trägt man hier heraus. Einen Jüngling – noch nicht reif zur Bahre – Einen Jüngling – in dem May der Jahre – Weggepflükt in früher Morgenblüth ! Einen Sohn – das Pralen seiner Mutter, Unsern theuren, vielgeliebten Bruder – Auf ! was Mensch heißt folge mit ! Pralt ihr Fichten, die ihr hochveraltet Stürmen stehet und den Donner nekt ? Und ihr Berge die ihr Himmel haltet, Und ihr Himmel die ihr Sonnen hegt ? Pralt der Greiß noch der auf stolzen Werken Wie auf Woogen zur Vollendung steigt ? Pralt der Held noch, der auf aufgewälzten Thatenbergen In des Nachruhms Sonnentempel fleugt ?
20 Im Falle des Gedichts auf Weckerlin allerdings hat Schiller – nach seinem Brief vom 4.2.1781 an F.W. von Hoven (NA, Bd. 23, Schillers Briefe 1772–1785, hrsg. v. Walter Müller-Seidel, Weimar 1956, S. 17) zu urteilen – sich offenkundig z.T. selbst darum bemühen müssen, das Geld für Drucker und Buchbinder bei den an der Trauerbekundung Beteiligten einzutreiben, und dürfte ein Honorar nicht erhalten haben. Für die Gedichte auf Wiltmaister und auf Rieger fehlen Nachrichten über die materiellen Umstände der Verfertigung und des Drucks offenkundig gänzlich.
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Wenn der Wurm schon naget in den Blüthen Wer ist Thor zu wähnen, daß er nie verdirbt ? Wer dort oben hoft noch und hienieden Auszudauren – wenn der Jüngling stirbt ? War Er nicht so muthig, kraftgerüstet War er nicht wie Lebens Konterfey ? Frisch wie Roß im Eisenklang sich brüstet Wie der Vogel in den Lüften frey ? Da Er noch in unsern Reyhen hüpfte, Da Er noch in unsern Armen sprung, Und sein Herz an unsre Herzen knüpfte, – O der schneidenden Erinnerung ! – Da Er uns – (o ahndende Gefühle Hier auf eben dieser Leichenflur) Nur zu sicher vor dem nahen Ziele Das Gelübd der ewgen Treue schwur –
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O ein Mißklang auf der grossen Laute ! Weltregierer, ich begreif es nicht ! Hier – auf den Er seinen Himmel baute – Hier im Sarg – barbarisches Gericht ! So viel Sehnen die im Grab erschlaffen 40 So viel Keime die der Tod verweht, Kräfte, für die Ewigkeit erschaffen, Gaben, für die Menschheit ausgesät, – O in dieses Meeres wildem Wetter, Wo Verzweiflung Steur und Ruder ist, 45 Bitte nur, geschlagenster der Vätter, Daß dir alles, alles, nur nicht GOtt entwischt !
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Lieblich hüpften, voll der Jugendfreude, Seine Tage hin im Rosenkleide Und die Welt, die Welt war Ihm so süß – Und so freundlich, so bezaubernd winkte Ihm die Zukunft, und so golden blinckte Ihm des Lebens Paradiß; Noch, als schon das Mutterauge tränte, Unter Ihm das Todtenreich schon gähnte Ueber Ihm der Parzen Faden riß, Erd und Himmel Seinem Blick entsanken, Floh Er ängstlich vor dem Grabgedanken – Ach die Welt ist Sterbenden so süß. Stumm und taub ists in dem engen Hause Tief der Schlummer der Begrabenen; Bruder ! Ach in ewig tiefer Pause
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Feyern alle deine Hoffnungen; Oft erwärmt die Sonne Deinen Hügel, Ihre Glut empfindest Du nicht mehr; Seine Blumen wiegt des Westwinds Flügel, Sein Gelispel hörest Du nicht mehr; Liebe wird Dein Auge nie vergolden, Nie umhalsen Deine Braut wirst du, Nie, wenn unsre Tränen Stromweis rollten, – Ewig, ewig, ewig sinkt Dein Auge zu.
Aber wohl Dir ! – köstlich ist Dein Schlummer, Ruhig schläft sichs in dem engen Hauß Mit der Freude stirbt hier auch der Kummer, Röcheln auch der Menschen Qualen aus. 75 Ueber Dir mag die Verläumdung geifern, Die Verführung ihre Gifte speyn, Ueber dich der Pharisäer eifern Pfaffen brüllend dich der Hölle weyhn, Gauner durch Apostel Masken schielen 80 Und die Meze die Gerechtigkeit Wie mit Würfeln, so mit Menschen spielen, Und so fort bis hin zur Ewigkeit.
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Ueber Dir mag auch Fortuna gaukeln Blind herum nach ihren Buhlen spähn, Menschen bald auf schwanken Tronen schaukeln, Bald herum in wüsten Pfüzen drehn; Wohl Dir, wohl in Deiner schmalen Zelle ; Diesem komischtragischem Gewühl, Dieser ungestümmen Glückeswelle, Diesem possenhaften Lottospiel, Diesem faulen fleißigen Gewimmel Dieser arbeitsvollen Ruh, Bruder ! – diesem Teufelvollen Himmel Schloß Dein Auge sich auf ewig zu.
O so klatschet ! klatscht doch in die Hände, Rufet doch ein frohes Plaudite ! – Sterben ist der langen Narrheit Ende, In dem Grab verscharrt man manches Weh; Was sind denn die Bürger unterm Monde ? 100 Gaukler, theatralisch ausstaffirt Mit dem Tod in ungewissem Bunde, Bis der Falsche sie vom Schauplatz führt : Wohl dem, der nach kurzgespielter Rolle Seine Larve tauschet mit Natur,
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105 Und der Sprung vom König bis zur Erdenscholle Ist ein leichter Kleiderwechsel nur. Fahr dann wohl Du Trauter unsrer Seele, Eingewiegt von unsern Segnungen, Schlummre ruhig in der Grabeshöle 110 Schlummre ruhig bis auf Wiedersehn ! Bis auf diesen Leichenvollen Hügeln Die Allmächtige Posaune klingt Und nach aufgerißnen Todesriegeln Gottes Sturmwind diese Leichen in Bewegung schwingt – 115 Bis befruchtet von Jehovahs Hauche Gräber kreisen – auf sein mächtig Dräun In zerschmelzender Planeten Rauche Ihren Staub die Grüfte wiederkäun – Nicht in Welten, wie die Weisen träumen, Auch nicht in des Pöbels Paradiß, Nicht in Himmeln, wie die Dichter reimen, – Aber wir ereilen dich gewiß. Ob es wahr sey, was den Pilger freute ? Ob noch jenseits ein Gedanke sey ? 125 Ob die Tugend übers Grab geleite ? Ob es alles eitle Phantasey ? – – Schon enthüllt sind Dir die Räthsel alle ! Wahrheit schlirft Dein hochentzückter Geist, Wahrheit, die in tausendfachem Strale 130 Von des großen Vaters Kelche fleußt – 120
Zieht dann hin ihr schwarzen stummen Träger ! Tischt auch Den dem großen Würger auf ! Höret auf Geheul ergoßne Kläger ! Thürmet auf ihm Staub auf Staub zu Hauf. 135 Wo der Mensch der Gottes Rathschluß prüfte ? Wo das Aug den Abgrund durchzuschaun ? Heilig ! Heilig ! bist du Gott der Grüfte, Wir verehren dich mit Graun ! Erde mag zurück in Erde stäuben, 140 Fliegt der Geist doch aus dem morschen Hauß ! Seine Asche mag der Sturmwind treiben, Seine Liebe dauert ewig aus !
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
Daß dieser Text in seinem Aufbau den Regeln des Epicediums – die insbesondere seit dem späteren 17. Jahrhundert auch eine Umkehrung der ursprünglich maßgeblichen Reihenfolge von laudatio und lamentatio ausdrücklich erlaubten²¹ – folgt, ist leicht zu erkennen. Er setzt ein mit der lamentatio, als deren besonders schmerzlichen Anlaß die erste Strophe die Jugendlichkeit des Toten hervorhebt, in der auch die zweite Strophe ihren Zielpunkt hat. Es folgen drei Strophen, die der laudatio, dem Lob des Toten gelten, in das sich (v.35ff.) Züge erneuter lamentatio mischen und das in der sechsten Strophe durch eine iacturae demonstratio, eine Vergegenwärtigung des durch den Tod eingetretenen Verlusts, ergänzt wird. Danach setzt am Beginn der siebenten Strophe – mit einem für das Epicedium typischen tiefen Einschnitt, der hier durch die Wendung „Aber wohl Dir!“ (v.71) hervorgehoben wird – der Trostteil ein, der in ungewöhnlicher Breite die ganze zweite Hälfte des langen Gedichts füllt. Mit der Feststellung der Bauform dieses Gedichts, der den über lange Zeiten tradierten Anweisungen von Rhetorik und Poetik für das Epicedium entspricht, ist freilich noch nicht viel gesagt. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Frage, in welcher Weise Schiller die einzelnen Teile füllt, wie er von tradierten Argumenten und Topoi Gebrauch macht, wie er sie ausformt.²² In den ersten sechs Strophen ist – noch vor allen Einzelheiten – zu beobachten, daß der Autor einer vor allem für die epideiktische Beredsamkeit geltenden Grundregel der Rhetorik und der von ihr bestimmten Poetik²³ folgt, welche
21 S. die in Anm. 97 der Abhandlung über „Das barocke Epicedium“ in diesem Band angeführten Belege aus Werken von Bohse-Talander, Hallbauer und Wahll sowie die ergänzenden Hinweise in Anm. 14 zur hier vorangehenden Skizze über die Trauergedichte von Besser, Canitz und Haller. 22 Manche der dabei sich aufdrängenden Beobachtungen können an Schärfe noch gewinnen durch einen gelegentlichen vergleichenden Blick auf ein anonymes Epicedium (aus der früheren Sammlung Keller; s. Anm. 11) zu demselben Todesfall, das deshalb im Anhang zu dieser Skizze mitgeteilt wird. Daß es nicht nur viel konventioneller als Schillers Text, sondern auch von bescheidener Erfindungskraft und von sprachlicher Unsicherheit gekennzeichnet ist, bedarf kaum der Erwähnung. 23 Als beispielhafte Quellen aus dem 16.–18. Jahrhundert für die über viele Jahrhunderte tradierten praecepta von Rhetorik und Poetik werden im folgenden (mit bloßer Nennung des jeweiligen Autornamens und gegebenenfalls auch des Erscheinungsjahres) zitiert: Conrad Bachmann/Christoph Helvicus, Poetica Praeceptis, Commentariis, Observationibus, Exemplis … conscripta, Per Academiae Gissenae nonnullos Professores, 3Gießen 1623 (Expl. HAB Wolfenbüttel) Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy, Nürnberg 1679 (ND Hildesheim, New York 1973) Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 1725 (ND Kronberg 1974)
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fordert, daß die inventio, die sich dann im einzelnen mit Hilfe der loci der Dialektik entfaltet, auszugehen hat von der jeweiligen Eigenart des Anlasses oder Gegenstandes eines Gedichts,²⁴ und für Arten der Kasualdichtung wie etwa das Epicedium konkretisiert wird durch Hinweise auf die für die inventio bedeutsamen Unterschiede der Todesfälle.²⁵ Demgemäß macht Schiller, worauf schon die Überschrift des Gedichts hinweist, den viel zu frühen Tod eines Jünglings – von welchem es zum Beispiel bei Pontanus heißt: „Nullorum abitus è vita tristior accidit, quam puerorum, & adolescentum ...“²⁶ – zum umfassenden Thema der
Balthasar Kindermann, Der Deutsche Redner / In welchem unterschiedene Arten der Reden auff allerley Begebenheiten ... enthalten sind, Frankfurt a.O. 1660 (ND Kronberg 1974) Johann Christoph Männling, Expediter Redner Oder Deutliche Anweisung zur galanten Deutschen Wohlredenheit, Frankfurt, Leipzig 1718 (ND Kronberg 1974) Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1704 (Expl. UB Münster) Jacob Pontanus S.J., Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594 (Expl. StB München). (Aus welchen der zahlreichen Werke zur Poetik und Rhetorik – neben mündlicher Lehrtradition – die entsprechenden Kenntnisse des jungen Schiller stammen, ist angesichts der ungünstigen Quellenlage zu seiner Bildungs- und zur Ludwigsburger Schulgeschichte schwerlich zu klären, im Blick auf die Allgegenwärtigkeit der rhetorischen Tradition hier aber auch nicht klärungsbedürftig). 24 So z. B. Birken (1679), S. 187 (im Kapitel „Von den Gedichten und ihrer Erfindung. De Poëmatibus eorumque Inventione“): „Wer nun poetisiren will / der betrachte erstlich das / wovon er zu schreiben hat: das dann entweder eine Person / oder eine Sache / ein Ding / oder eine Handlung ist / und entweder gelobt / oder gescholten wird. Die Ausführung / (Amplificatio) ... geschihet durch die Umstände / (â Causa, Effectu & Fine) von dessen Ursprung / Wirkungen / und Nutzen oder Schaden; von deme / was ihm gleich / entgegen und verwand ist; (à Simili, contrario & adjunctis:) von dem Ort und der Zeit / darinn es ist; von dessen Maße und Beschaffenheit“. 25 So z. B. Pontanus (1594), S. 214 (Lib.III, Cap.XV: Materia funebrium): „… non sunt tamen omnia vnius eiusdemque rationis: sicuti nec ipsae personae, de quibus scribuntur. Alia quippe est persona Caesarum, Regum, Principum, alia mediocriter nobilium, alia sapientum, alia stultorum, alia magistratuum, alia priuatorum. Rursum alia puerorum, alia adulscentum, alia mulierum nuptarum, innuptarum, alia opificum. Reliqua discrimina, ne longus sim, praeteribo“ – Bachmann/Helvicus (31623), S. 301 (Lib.II, Cap.V: XV. XVI. Epicedion et Epitaphium): „… una ratio praescribi nec debet, nec potest, cum inventiones sunt variae. Et materia quoque diversa, pro Imperatore, Principe, Nobili, Milite, Literato, Consanguineo, Patre familias, Infante, Adolscente, Amico …“. 26 Pontanus (1594), S. 240 (Cap.XXI: De Epitaphio infantum, puerorum, adolscentum). Die Stelle fährt fort: „... eam ob rem nimirum, quod parentes per eos sese etiam post mortem victuros existimauerant ... Et nihil dulcius hominum generi à natura datum est, quam sui cuique liberi, praesertim dum adhuc parui sunt. Est deinde aetas illa seminarium mundi, orbis ornamentum, senectutis voluptas, ludus & solatium“. – Solche näheren Hinweise zum besonders schmerzlichen Tod der ihren Eltern entrissenen Kinder und jungen Menschen, die Schiller nur
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ersten Gedichthälfte, das die sechs Strophen eng miteinander verknüpft, die Aufnahme hergebrachter Topoi der laudatio und lamentatio prägt²⁷ und auch die der laudatio geltenden Verse von Klage grundiert sein läßt. Mit einer Eindringlichkeit, die nicht zuletzt aus der Verwendung der affekthaltigen rhetorischen Figur der Anapher in v.4–6 und 8 erwächst, hebt schon die erste Strophe die blühende Jugend des Toten als den Anlaß heftig bewegter Klage hervor. Mit einer Reihung von exempla aus Natur und Menschenwelt, deren vermeintliche Dauer dadurch als Illusion entlarvt wird, daß gerade der am Ende der Strophe ihnen gegenübergestellte Jüngling, der alle Zukunft vor sich zu haben scheint, dem Tode anheimfällt, entfaltet die zweite Strophe in eigenwilliger Weise den Topos der Klage „über das strenge Gesetz der Sterblichkeit und irrdische Vergänglichkeit“.²⁸ Die ersten Verse der folgenden Strophe erfüllen mit Bildern frischer Lebenskraft und herzlicher Zuwendung zum Kreis der Freunde die Aufgabe der zum Epicedium gehörenden laudatio, doch sie enthüllen mit der die ganze Strophe umfassenden Frageform, daß alles, wovon die laudatio spricht, nicht etwa als Anlaß bleibenden Gedenkens, von dauerndem Ruhm etwa ganz zu schweigen, genannt wird,
andeutend streift in v. 8 und v. 45f., nehmen mehr Raum ein in dem im Anhang wiedergegebenen anonymen Gedicht auf Weckerlins Tod, das – kaum verwunderlich – den allzu frühen Tod ebenfalls zum Hauptthema macht, dies aber doch mit ungleich geringerer Intensität und im einzelnen mit viel einfacherer, sparsamer inventio behandelt. 27 Eine reiche Zusammenstellung von Topoi der laudatio und lamentatio findet man bei Omeis (1704) im Abschnitt über das „Leich-Gedicht“ (im 2.T., Kap.III: Von unterschiedlicher im gemeinen Leben öffters fürkommender Gedichten Erfindung und Ausarbeitung insonderheit): „Die Erfindungen zu den Leich-Gedichten werden genommen (1) von dem Lob der verstorbenen Person; da man Gelegenheit nimmt zu reden von ihrem Vor- und Zunamen / StammWappen / Vor-Eltern / und des Verstorbenen eigenen Gemütes- Leibes- und Glückes-Gaben: absonderlich von ihren Tugenden / herrlichen Thaten und Verdiensten / Wißenschaften / Amt und Profeßion: wie sie sich zum Tod bereitet / was für Anzeigungen vorhergegangen; was der Sterbende für sonderbare Wort bei dem Abschied gebrauchet u.s.w. Hierauf folget (2) die Klage und Erweckung zur Traurigkeit. Da klaget der Poët über das strenge Gesetz der Sterblichkeit und irrdische Vergänglichkeit / über die Unbarmherzigkeit der Parcen; und heißet alles / was seinen Augen begegnet / mit sich trauren. Er beneidet das Grab / daß es forthin diß Gefäse so herrlicher Gaben soll beherbergen: er bejammert / daß dieser treffliche Leib verfaulen solle; und redet ex Loco Enum.[erationis] Partium die gebrochene Augen / die tauben Ohren / die erblaßete Wangen / den verschloßenen Mund / die erstarrte Händ- und Füße an etc. ... Es kan auch der affect vermehret werden / wann man siehet auf die Zeit und Art des Todes / ob die Person noch in blühender Jugend / in dem besten Alter / und der Helfte ihrer Tage / zu Friedens- oder Krieges-Zeit / ob sie zu Haus oder in der Fremde / durch einen plötzlichen Hintritt oder langwierige Krankheit weggenommen worden ...“ (S. 173f.). 28 Omeis in dem Zitat zur Topik der laudatio und lamentatio in der vorangehenden Anmerkung.
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sondern allein als Gegenstand nur noch schmerzlich „schneidender Erinnerung“ (v.30) und damit auch nur als Beispiel der allgemeinen Vergänglichkeit. Die vierte Strophe setzt das fort, indem sie – unter Rückgriff auf die Topik der lamentatio²⁹ – die Klage über das Vergehen der geistigen Kräfte und den Verfall des im Sarg beschlossenen Leibes (v.38–42) am Anfang und am Ende steigert zur Anklage gegen den „Weltregierer“, dessen „barbarisches Gericht“ den Vater des Toten sogar seinen Glauben an Gott verlieren lassen könnte. Was in der fünften Strophe zunächst als eine bloße Wiederaufnahme der laudatio erscheint, erweist sich vom Strophenende her als eine letzte Illusion auch des Sterbenden, der sich nicht auf das Sterben vorbereitet, nicht das sonst erwartete Bild eines bereitwilligen, sanften Sterbens³⁰ bietet, sondern sich an das Leben klammert und so mit indirektem Nachdruck die Schrecklichkeit des frühzeitigen Sterbens dessen hervorhebt, der das Leben noch nicht ausgekostet hat. In harter Wendung stellt der Illusion des vorangehenden Strophenendes (v.58: „Ach die Welt ist Sterbenden so süß“) die folgende Strophe mit dem Vers „Stumm und taub ists in dem engen Hause“ die unerbittliche Endgültigkeit des Todes entgegen, in Anknüpfung an den Topos des Verfalls aller Gliedmaßen wie aller Sinne,³¹ der umso radikaler sich darstellt, als er nicht unmittelbar geschildert, sondern in all dem vergegenwärtigt wird, was der Tote nicht mehr vermag, was ihm für immer verwehrt ist. Es könnte auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, daß die consolatio, die in der siebenten Strophe mit dem gattungstypischen, hier durch ein „Aber“
29 Vgl. als Beispiel dafür den in Anm. 31 hervorgehobenen Teil des ausführlichen OmeisZitats in Anm. 27. 30 So berichtet etwa Kindermann (1660) aus einer Leichenpredigt, „daß auch die verstorbene desselben [des irdischen Lebens] überdrüssig worden / und gewünschet habe / das rechte / beständige Leben zu besitzen“ (S. 274). Wo hingegen der Sterbende (v.58) der vermeintlich süßen Welt zugewandt bleibt, erübrigen sich (s. das Omeis-Zitat in Anm. 27) als mögliche Topoi der laudatio Fragen, wie der Mensch „sich zum Tod bereitet / was für Anzeigungen vorhergegangen; was der Sterbende für sonderbare Wort bei dem Abschied gebrauchet“. – Das im Anhang mitgeteilte anonyme Gedicht hingegen, das ebenfalls dem Tod Weckerlins gilt und in mehreren Strophen von der Vorzeitigkeit des Todes und vom Verlust, den Eltern und Geschwister dadurch erlitten haben, ausführlich spricht, bietet am Ende ein ganz anderes Bild von dem Sterbenden, der „himmlische Gelassenheit“ zeigte, der schon einem Engel glich und den um ihn Trauernden „ins Herz ... Tröstung goß“. 31 Für diesen Topos bietet das Omeis-Zitat in Anm. 27 einen anschaulichen Beleg: „Da klaget der Poët über das strenge Gesetz der Sterblichkeit und irrdische Vergänglichkeit ... er bejammert / daß dieser treffliche Leib verfaulen solle; und redet ex Loco Enum. Partium die gebrochene Augen / die tauben Ohren / die erblaßete Wangen / den verschloßenen Mund / die erstarrte Händ- und Füße an“.
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als erstes Wort markierten Einschnitt beginnt, dabei einsetzt mit einer Preisung des Schlafs des Toten,³² welche dem Anfang der vorangegangenen Strophe und dem, was sie von dem an beiden Stellen ein „enges Haus“ genannten Grab sagt, zu widersprechen scheint. Doch abgesehen davon, daß es die Funktion der consolatio ist, zu einem ganz anderen Verständnis des Todes hinzuführen, als es sich zuvor in der lamentatio bekundet, läßt schon der dritte Vers der siebenten Strophe erkennen, welchen Sinn die in ihrer Deutlichkeit gewiß sehr auffällige Entgegensetzung der beiden Strophen hat. Denn was am Beginn der siebenten Strophe, deren dritter Vers in seiner ersten Hälfte noch anknüpft an die Fülle des in der vorigen Strophe beklagten Verlusts, als Anfang eines freundlichen Bildes des Todes erscheinen könnte, erweist sich von der zweiten Häfte dieses dritten Verses an als der Ausgangspunkt einer sehr ungewöhnlichen Entfaltung eines zentralen Topos der Tröstung. Dieser Topos, der in der Fülle der im Lauf der Jahrhunderte entstandenen Epicedien immer wieder, in vielerlei Abwandlungen und zumeist entschieden christlich aufgefaßt, zu finden ist, besagt, daß der Tod, weil er aus der Vergänglichkeit des Irdischen, aus allem Leid, allen Gefährdungen des Lebens heraus und in ein jenseitiges, ewiges, seliges Leben, in die himmlische Herrlichkeit führt, nicht als ein Unglück zu beklagen, sondern als eine tröstliche Wohltat Gottes zu betrachten und anzunehmen ist.³³ Diesen
32 Zu diesem Topos und seiner erneuten Verwendung in v. 109f. s. weiter unten sowie Anm. 33. 33 Die folgenden Quellenauszüge mögen die besondere Bedeutung dieses einen Topos, aber auch die Vielzahl anderer Trostargumente, die z.T. ebenfalls bei Schiller begegnen, veranschaulichen: Pontanus (1594), S. 216 (Cap.XV. Materia funebrium): „Est quando consolamur propinquos & familiares defunctorum, dicentes, cum illis bene actum, & multis malis ereptos ... Defunctis placidam quietem, & gaudia sempiterna precamur.“ – Birken (1679), S. 228: „Zu kräftigem Trost wird gedeyen / wann man ihm selber / oder andern Leich-betrübten / vorstellet: wie GOtt diß Kleinod zu sich genommen / bei dem es nun aufs allerbäste verwahrt sei; wie es nach Gottes Willen ergangen / deme man nicht widerstreben müße; wie dieser Göttlicher Wille allzeit gut sei / und auf unser bästes denke / ob schon die Umstände böse scheinen; wie man / mit Hiob / GOtt auch im Creutz loben und sagen müße / der HErr hats gegeben / der HErr hats genommen; wie GOtt / was er gegeben und genommen hat / dort im Himmel wiedergeben werde / und es billig heiße / Wiedersehen macht / daß man Scheidens nicht acht. Man muß anführen / daß diß Leben ein täglicher Tod sei / da man nur immer sündigen / leiden und streiten muß; und wie man im Tode / der alles Ubel endet / und die Thür zur Seeligkeit ist / erst ewig zu leben anfahe ...“ – Omeis (1704), S. 174: „(3) Folget der Trost ab Honesto, Vtili, Necessario, Jucundo, Tuto &c. Da wird gesagt: Von GOTT komme Leben und Tod; GOttes Wille sey der beste ... Unser Glaube werde durch solche Betrübniße / wie das Gold im Feuer / probiret; und müßen denen / die GOtt lieben / alle Dinge zum besten dienen. Wir seyen Menschen / und müßen alle sterben: es wäre ja beßer den Port bald erreichen / als lang auf dem Meere wallen; beßer die Crone bald erhalten / als lange streiten u.s.w. Die Seele ruhe in Abrahams Schos / und der Leib in seiner Kammer / biß auf den jüngsten Tage ... Man kan des Verstorbenen Seele / oder einen
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Topos variiert der Autor in einer breiten amplificatio, die sich über drei Strophen und damit über die Hälfte des Konsolationsteils erstreckt, mit einer Vielzahl greller Bilder.³⁴ Als Konkretisierung des Trosttopos von der Befreiung aus der eitlen, vergänglichen Welt durch den Tod entwirft die siebente Strophe von v.74 an vom irdischen Leben und Treiben der Menschen das Bild einer Hölle auf Erden, beherrscht von Lastern und Verbrechen aller Art, von Scheinheiligkeit, Betrug, Rechtlosigkeit. Die nächste Strophe setzt das – auch dabei anknüpfend an die verbreitete Topik der consolatio³⁵ – fort mit dem Bild der blinden Fortuna, die alles vom Zufall und von ständigem Wechsel bestimmt sein und Menschen heute
Engel erzehlend einführen / in was Freuden sie ietzt lebe ...“ – Männling (1718), S. 148f.: „Trost an die Lebenden ... welcher hierinn bestehet, 1) daß man des Todten Abgang aus der argen und nichtigen Welt, (per descriptionem mali) was darinnen vor Kranckheiten und aller Jammer die Menschen, als eine Aegyptische Pressane, bewirthe, zeiget, 2) seinen glücksel. Eingang in den Himmel (per repraesentationem der herrlichen Wohlfarth) zu der Gesellschafft der ewig Glückseeligen vorstellet, daß man ihm also mehr Ursache habe, Glück zu wünschen, als zu betrauren, 3) sein unverstorbenes Wohlverhalten allhier, und 4) die Christliche Bescheidenheit mit GOttes heiligem Willen, wie 5) davon sonderbahre Exempel es bestätigen. Wobey 6) die süsse Hoffnung der herrlichen Auferstehung die beste Freuden-Quelle bleibet“ – Hallbauer (1725), S. 757f. (T.III, Cap.V. Von den teutschen Reden, § 3. von Parentationen): „Wir mercken a) daß allgemeine Qvellen seyn, vom Elende des menschlichen Lebens, von der Unvermeidlichkeit zu sterben, von der Kürtze des Lebens, von der Unbeständigkeit und Eitelkeit der Dinge, von der Kunst selig zu sterben, von der Seligkeit der Frommen, der Sterblichkeit und Unsterblichkeit u.d.g. zu reden.“ – Zur Vielfalt der auf antike wie christliche Quellen zurückgehenden Trostargumente vgl. auch in der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band z. B. die Nachweise zu einem Gedicht von Paul Fleming in Anm. 73 und 75 und darüber hinaus viele der Literaturangaben in Anm. 21. 34 Art und Funktion dieser Bilder machen es begreiflich, daß Schiller dabei auf den sonst bei Epicedien auf Jungverstorbene verbreiteten und daher für das Trauergedicht auf Weckerlin sich anbietenden Topos, wonach die frühe Entrückung aus dem Irdischen als eine besondere Gnade Gottes tröstlich verstanden werden kann, auf keinen Fall zurückgreifen konnte. – Zu diesem Topos vgl. z. B. Pontanus (1594), S. 242f. (Cap.XXI. De Epitaphio infantum, puerorum, adolescentum): „Interdum tamen gratulamur potius obitum infirmiori aetati, quod non à bonis, verum à multis malis, quibus hominum vita referta est, discesserint“. 35 S. dazu in der in Anm. 33 zitierten Passage aus Hallbauers „Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie“ (1725) die Wendung von der „Unbeständigkeit und Eitelkeit der Dinge“ oder in der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band die Wendung von den „Glückes-Sachen“ in der fünften Strophe des dort zitierten Gedichts von Simon Dach. – Die Verse über das Wirken der Fortuna, das in der Emblematik in vielerlei Variationen verbreitet ist, zieht Wilhelm Voßkamp (Emblematisches Zitat und Emblematische Struktur in Schillers Gedichten, S. 394, in: Jahrb. d. Dt. Schillerges. 18, 1974, S. 388–406) für seine Überlegungen zu Einflüssen der Emblematik bei Schiller heran.
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auf einem Thron sitzen und morgen in der Gosse landen läßt, und die Strophe spitzt all die Bilder des irdischen Treibens noch zu, indem sie mit vier Paradoxa (v.88 und 91–93) vom „komischtragischen Gewühl“, vom „faulen fleißigen Gewimmel“, von einer „arbeitsvollen Ruh“ und einem „Teufelvollen Himmel“ die Sinnlosigkeit und Widersprüchlichkeit, die Vergeblichkeit und Verruchtheit dieses irdischen Treibens, wie es sich dem Autor darstellt, scharf geißelt. An das Stichwort vom „komischtragischen Gewühl“ in der achten Strophe (v.88) anknüpfend, steigert die neunte das empörende Bild der Welt und des menschlichen Treibens zu dem eines flüchtigen, zu Ende gehenden Bühnenspiels – auch dies der Topik der consolatio nicht fremd³⁶ –, doch nicht etwa zu dem einer Tragödie, sondern zu dem einer Komödie, einer Posse, indem der Autor im Kontrast zu dem Ernst, der dem Epicedium angemessen wäre, mit der Schlußformel römischer Komödien „Plaudite“ zum Beifall für die vom Tod herbeigeführte Beendigung des Lebens als des „possenhaften Lottospiels“ aufruft, das irdische Leben dem Gelächter preisgibt und den Trost, den das Epicedium anbieten soll, zusammenfaßt in dem Vers „Sterben ist der langen Narrheit Ende“ (v.97). Das ist ersichtlich eine Wendung, die den zentralen Topos vom Tod als der Befreiung von der Vanitas der Welt aufgreift. Doch indem das Gedicht als Begründung für den vermeintlichen Trost nur anzugeben weiß, daß das, was der Tod beendet hat, nur eine Narrheit war, radikalisiert es das zentrale Trostargument so sehr, daß es sich in sein Gegenteil verkehrt, nicht mehr beruhigender Trost ist, sondern aufwühlende Anklage, Ausdruck nur noch der Verzweiflung über eine Welt ist, die nur, wenn sie als irgendwann endendes Possenspiel gesehen wird, noch erträglich zu sein scheint. Auch wenn in diesen Strophen durch die Ausgestaltung der Trosttopik die Verzweiflung, die Skepsis über Leben und Welt ganz in den Vordergrund rückt, wird doch die Verknüpfung mit der Preisung des Toten, der all dem entrückt ist, nicht aufgegeben. Aber indem die Verse 71f., 75ff., 87, 94 den Toten nicht etwa als einen in die himmlische Herrlichkeit Entrückten preisen, sondern nur als den, der als Leichnam im Sarg nichts mehr hören oder sehen kann, tragen auch sie zur Radikalität des so eigenwillig konkretisierten Trostarguments bei, das eine letzte Steigerung am Ende der neunten Strophe erfährt, wenn hier – unter Anspielung auch auf die Bilder eines Totentanzes – in einer
36 So findet sich z. B. bei Kindermann (1660) in einer Leichabdankung, die er als Muster abdruckt, die folgende Passage: „Vnser Leben wird füglich mit einem Schauspiel vergliechen ... Die Welt ist der Platz / wir sind die Spieler / da ieder seine Person zuvertreten hat / einer doch länger / als der ander. Alle aber müssen weichen und abtreten / wann der Todt kömmt / die Teppiche zuziehet / und unserem Aufzuge sein Ende giebt / und bleibet nichts übrig / als der Nachklang unsers Verhaltens / und wie ein jeder gespielet oder gelebet hat“ (S. 275).
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Preisung eines jeden, der durch den Tod seine „kurzgespielte Rolle“ verliert, das Sterben sich als Tausch der Person als einer bloßen Larve, einer verstellenden Maske gegen die Natur, die reine Physis erweist, die nur noch „Erdenscholle“ ist und zerfallen wird. So radikal auch skeptisches Aufbegehren die erste Hälfte der gesamten consolatio beherrscht und das Trostargument der Erlösung von der Nichtigkeit der Welt auf deren Preisgabe an ein verachtungsvolles Gelächter reduziert und darin sich zu erschöpfen scheint, so wenig vernachlässigt der junge Autor in diesem Epicedium doch die andere Seite jenes hergebrachten Trostarguments, das sich nun auf die Erwartungen einer jenseitigen, dauernden Welt richtet, in welche der Tote aufgenommen werden wird. Auch dieser Teil der consolatio, der – mit der erneuten Anrede an den im Grab schlafenden Toten an die vorangehenden Strophen zwar anknüpfend, aber diese erweiternd – jetzt mit einer Gewißheit von einem künftigen Wiedersehen zu sprechen scheint (v.110), die jenen Strophen ersichtlich ganz fern lag, speist sich aus der überkommenen Topik und ergänzt sie zudem durch eine Reihe von Bibelstellen,³⁷ ist dabei jedoch ebenfalls so sehr durchtränkt von Skepsis und kritischen Fragen, daß aller überkommene Trost sich aufzulösen droht. Die erste dieser drei letzten Strophen beruht auf der Verknüpfung des Schlafes des Toten im Grab mit der Erwartung eines Wiedersehens am Tage des Jüngsten Gerichts und der Auferstehung aller Toten, wie sie Omeis innerhalb einer Aufzählung von Trostargumenten³⁸ mit den Worten formuliert: „Die Seele ruhe in Abrahams Schos / und der Leib in seiner Kammer / biß auf den jüngsten Tage / da es heißen wird: Wiedersehen macht / daß man das Scheiden nicht acht“. Unter Anspielungen auf Bibelstellen³⁹ wie Math. 27,52 (Und die erde erbebete, und die felsen zerrissen, und die gräber thäten sich auf, und stunden auf
37 Auf das Anklingen einzelner Bibelstellen oder biblischer Vorstellungen in diesem wie in den anderen Trauergedichten weisen zwei einschlägige ältere Arbeiten da und dort zwar hin, doch ohne näher nach dem jeweiligen thematischen Zusammenhang und der Funktion solcher Anklänge zu fragen, die vielmehr gelegentlich sogar gänzlich mißverstanden wird: L.A. Rosenthal, Schiller und die Bibel, Straßburg 1905, S. 4ff. – Ingeborg Bergen, Biblische Thematik und Sprache im Werk des jungen Schiller. Einflüsse des Pietismus, Diss. Mainz 1967, S. 86f., 89, 128, 133f. – Der Kommentar der Schiller-Nationalausgabe (Bd. 2, T.IIA, 1991) übrigens bleibt dem Leser – bis auf eine vage Vermutung zum Gedicht auf Rieger, NA, Bd. 1, S. 37, v. 5f. – jeden derartigen Hinweis schuldig. 38 S. das größere Zitat in Anm. 33. 39 Bibelzitate nach der folgenden Ausgabe: Die Bibel oder ganze heilige Schrift alten und neuen Testaments nach der Uebersezung D. Martin Luthers, hrsg. v. Johann Christian Storr (Stadtpfarrer an St. Leonhard in Stuttgart), Stuttgart: J.B. Mezler 1758 (Expl. DLA Marbach a.N.). – Ob es sich bei den Stellen in Schillers Text jeweils um ausdrückliche Anspielungen
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viele leiber der heiligen, die da schliefen), Math. 24,31 (Und er wird senden seine engel mit hellen posaunen: und sie werden sammlen seine auserwehlten von den vier winden, von einem ende des himmels zu dem andern), 1. Thess.4,16 (Dann er selbst, der HErr, wird mit einem feldgeschrei und stimme des erzengels, und mit der posaune GOttes hernider kommen vom himmel: und die todten in Christo werden auferstehen zuerst) oder Hes. 37, 9 (So spricht der HErr HERR; Wind, komme herzu aus den vier winden und blase die getödteten an, daß sie wieder lebendig werden) entwickelt die Strophe aus jenem Trosttopos die Vision eines Jüngsten Gerichts voller Stürme und Schrecken, voller Leichen, die sich wie Gehenkte am Galgen im Winde bewegen, und voller schmelzender Sterne, in deren Rauch die gefräßigen Gräber die Asche der Toten, welche auferstehen sollen, wiederkäuen und sie offenkundig nicht für eine leibliche Auferstehung wieder hergeben. Vor diesem Hintergrund vermag die folgende Strophe die zur Trosttopik gehörende Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dem Toten in einem anderen Leben nur mit Mühe festzuhalten. Zwar knüpfen die letzten vier Verse der Strophe an hergebrachte Vorstellungen vom glückseligen Zustand des Toten,⁴⁰ dem im Jenseits auch alle Rätsel durch Gott enthüllt sein werden, an. Aber die ersten drei Verse der Strophe weisen alle hergebrachten religiösen, alle poetischen, alle vom neuzeitlichen wissenschaftlichen Bild eines unendlichen Weltraums bestimmten Vorstellungen von irgendeinem faßlichen Ort einer Wiederbegegnung als Illusionen zurück, und die folgenden (v.123–126) vermögen die trotzige Behauptung „Aber wir ereilen dich gewiß“ (v.122) nur fortzusetzen in lauter skeptischen, durch eine Anapher verbundenen und herausgehobenen Fragen nach dem, was überhaupt nach dem Tode von menschlichem Denken und Fühlen erhalten bleiben und damit ein jenseitiges Leben in irgendeiner Erscheinungsform verbürgen könnte. So schließt das Epicedium mit seiner letzten Strophe, die sich dem Leichenkondukt und dem Begräbnis zuwendet, dem Ausgang der vorigen Strophe (v.127–130) zum Trotz in kritischer Skepsis angesichts der Grenzen menschlicher Einsicht und in resignierender Ergebung in den kreatürlichen Verfall, mit welchem alles Dasein zu enden scheint. Dreimal – in v.134 (Staub auf Staub), v.139 (Erde ... zurück in Erde stäuben), v.141 (Seine Asche mag der Sturmwind treiben) – spricht die Strophe von dem, was der vom Tod, dem „großen Würger“, bewirkte Verfall der kreatürlichen Existenz hinterläßt, und sie greift noch ein-
oder aus der Vertrautheit mit dem Bibeltext herrührende, dem Autor als solche sicher bewußte Anklänge handelt, muß offen bleiben. 40 S. entsprechende Formulierungen in den Quellenauszügen in Anm. 33.
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mal auf biblische Wendungen und Anklänge an einzelne Bibelstellen zurück, um von diesem Verfall anklagend-eindringlich zu sprechen.⁴¹ Das bestimmt besonders den ersten und den letzten Vers der zweiten Hälfte dieser letzten Strophe, die in einer für die Empfänger des Gedichts vermutlich geradezu blasphemisch anmutenden Weise Bibelstellen in Anspruch nehmen und entschlossen scheinen, die ursprüngliche Aufgabe einer consolatio endgültig zu verlassen: der eine – „Heilig! Heilig! bist du Gott der Grüfte“ (v.137) – verkehrt die Stelle Jes. 6,3 (Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle lande sind seiner ehren voll)⁴² in eine ironisch-anklagende Preisung Gottes nicht als des Herrn der Schöpfung, sondern ihrer Zerstörung, der andere – „Seine Liebe dauert ewig aus!“ (v.142) – spricht in offenkundiger Anlehnung an 1. Kor. 13,8 (Die liebe höret nimmer auf) nicht von geistlicher, in Gott gegründeter Liebe, sondern von einer letzten, allen Verfall überdauernden Verbindung der wenigstens darin sich als unsterblich erweisenden Geister – früher Vorklang der Bedeutung der Liebe für die weitere Entwicklung des jungen Schiller und sein Bemühen, die Liebe „als ein wirkliches, allgemeines und moralisch wie metaphysisch notwendiges Prinzip zu erweisen, durch welches allein in der unendlichen Schöpfung Einheit und Zusammenhang gewährleistet werden kann“.⁴³ Die Analyse des Gedichts auf den Tod Johann Christian Weckerlins läßt, auch wenn sie keineswegs erschöpfend sein kann und will, erkennen, daß der junge Schiller in den Anweisungen der Rhetorik gründlich geschult und mit den Regeln der Kasualdichtung und insbesondere des Epicediums, seiner dispositio und inventio wohlvertraut gewesen ist. Der Text ist dementsprechend klar gegliedert und im Anschluß an das Argumentationsarsenal des Epicediums ebenso klar auch in den Einzelheiten ausgeführt. Die Beachtung der Gliederung des Epicediums und seiner Topik vermag auch den Blick für die – in ihrer pathe-
41 S. dafür zu v.132: 1. Sam. 5,11 (Denn die hand GOttes machte ein sehr gros rumor mit würgen in der ganzen stadt); Jes. 34,6 (denn der HERR hält ein schlachten zu Borra und ein grosses würgen im lande Edom) – zu v.134 und 139: Pred. 3,20 (Es fähret alles an Einen ort: es ist alles von staub gemacht, und wird wieder zu staub) – zu v.140: 2. Kor. 5,1 (Wir wissen aber, so unser irdisch haus dieser hütten zerbrochen wird, daß wir einen bau haben von GOtt erbauet, ein haus nicht mit händen gemacht, das ewig ist, im Himmel) – zu v.141: Hiob 34,15 (Alles fleisch würde miteinander vergehen, und der mensch würde wieder zu asche werden). 42 Die Formel „Heilig, heilig, heilig“ s. auch in Off. 4,8, allerdings in anderem Kontext: „Und ein iegliches der vier thiere hatte sechs flügel umher, und waren inwendig voll augen, und hatten keine ruhe tag und nacht, und sprachen: Heilig, heilig, heilig ist GOtt, der HERR, der allmächtige, der da war, und der da ist, und der da kommt“. 43 Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985, S. 176 (mit Hinweisen auf die vorangegangene einschlägige Forschung in Anm. 119).
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tischen Steigerung zuweilen vielleicht verwirrend erscheinende – Sprache des Gedichts zu schärfen, die – auch durch die Benutzung mancher wirkungsreichen rhetorischen Figuren⁴⁴ – schon eine beträchtliche Sprachkraft und Gestaltungsfähigkeit des jungen Autors bezeugt. Auch die beiden Trauergedichte auf den Hauptmann Wiltmaister und auf den Generalmajor Rieger sind, wie bereits ein erster Blick auf sie lehren kann, regelgerechte Epicedien, als solche erkennbar schon an dem jedesmal mit einem „Aber“ markierten Einschnitt am Beginn des Konsolationsteils, aber natürlich ebenso durch die Gliederung im einzelnen und die darin verwendeten Topoi. Wenn es dabei im einzelnen Unterschiede zwischen diesen beiden und dem Gedicht auf den Tod Weckerlins gibt, dann wäre es vorschnell, wollte man sie, wie gelegentlich geschehen,⁴⁵ mit dem Fehlen oder dem Vorhandensein „persönlicher Betroffenheit“ erklären. Es gilt vielmehr, die Gattungsbedingtheit tatsächlich vorhandener Unterschiede wahrzunehmen. Es gehört zu den Grundregeln insbesondere der epideiktischen Beredsamkeit, Einzelheiten der inventio nach den Unterschieden des Anlasses, der Person, des Vorgangs zu regulieren. Das jugendliche Alter Weckerlins gebot ein stärkeres Maß an Klage als das höhere Alter der beiden Offiziere. Ihr Beruf legte an verschiedenen Stellen auch militärische Bilder nahe, aber auch – zumal bei dem Gedicht auf Wiltmaister – eher heroisch-stoische Trostgründe. Der höhere Rang Riegers und die im selben Rang stehenden Auftraggeber, die „sämmtliche Herzoglich-Wirtembergische Generalität“, erforderten offenkundig ein umfangreicheres Gedicht als für den Hauptmann Wiltmaister. Die Frömmigkeit der späten Lebensjahre Riegers bedingte seine ausdrückliche Würdigung auch als Christ und die mehrfach herangezogenen geistlichen Aspekte der laudatio und der consolatio. Auch der wohl auffälligste Unterschied, den es neben der Ähnlichkeit mancher Motive und Bilder zwischen diesen beiden Gedichten
44 Das gilt, wie kaum verwunderlich, vor andern für die oben schon mehrfach hervorgehobene besonders affekthaltige Anapher: von den 142 Versen des Gedichts auf Weckerlins Tod sind annähernd fünf Dutzend durch anaphorische Anfänge – zumeist innerhalb der einzelnen Strophen, mehrfach aber auch über deren Grenzen hinweg – miteinander verknüpft. Die einzige Strophe, in der sich keine Anapher findet, ist – offenkundig nicht ohne Grund – die neunte, in welcher die erste Hälfte der consolatio mit ihrer ins Extreme gesteigerten Darstellung der Hölle auf Erden den Höhepunkt erreicht in dem anschaulich ausgemalten Bild des irdischen Lebens als eines possenhaften Spiels, aus welchem erst der Tod befreit. Eine der Funktion der vielen Anaphern vergleichbare Verknüpfung gibt es allerdings auch hier, sofern das „Wohl“ am Anfang von v.103 (9. Strophe) im ersten Vers der folgenden Strophe aufgegriffen wird: „Fahr dann wohl ...“ (v.107). 45 Siehe die entsprechenden Hinweise in Anm. 4 und 5.
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und dem auf Weckerlin gibt: daß in jenen viel selbstverständlicher von einem Jenseits und vom Wiedersehen darin die Rede ist, leitet sich vor allem aus den Unterschieden von Anlaß, Auftraggebern und Öffentlichkeit der Situation ab: sie erlaubte es dem Autor schwerlich, jene aufrührerischen Zweifel an Gott, an der Einrichtung der irdischen und an einer jenseitigen Welt zu äußern, die das Gedicht auf Weckerlin so auffällig durchziehen. Dieses Gedicht gehörte eher in einen privateren Raum, es wurde, wie in Schillers Brief vom 4. Februar 1781 an Friedrich Wilhelm von Hoven⁴⁶ zu lesen ist, ins Trauerhaus geschickt und im Namen eines Kreises von Medizinern verfaßt und gedruckt, unter welchen vielen die den Verfasser umtreibenden Zweifel nicht fremd sein konnten. So konnte Schiller es in diesem Fall wohl eher als in jenen beiden anderen Trauergedichten wagen, das althergebrachte und immer noch im privaten Raum wie in der Öffentlichkeit eine wichtige Funktion erfüllende Epicedium zum Instrument des Aufbegehrens gegen eine ihm fragwürdig gewordene Weltordnung zu machen, auch wenn man sich in Anbetracht des wohl von der Familie in Auftrag gegebenen sehr andersartigen, bei aller Klage zuletzt doch ganz gottergebenen anonymen Gedichts⁴⁷ fragen kann, wie die Familie das Schillersche Gedicht tatsächlich aufgenommen haben mag, für das der Autor selbst in dem Brief an den Freund Hoven wegen dessen Beteiligung zwar „tausendfältigen Dank“ der Eltern übermittelt, von dem er dann aber schreibt: „Die Fata meines Carmens verdienen eine mündliche Erzählung, denn sie sind zum Todlachen ... ich fange an in Activitaet zu kommen, und das kleine hundsvöttische Ding hat mich in der Gegend herum berüchtigter gemacht als 20 Jahre Praxis“. In den knapp angedeuteten verschiedenartigen Entstehungsbedingungen und Funktionen und in dem, was sie forderten und was sie zuließen, kaum hingegen in möglichen Abstufungen der persönlichen Betroffenheit, von der wir kaum wissen können und um welche es bei solcher Dichtung auch nicht geht, sind die eigentlichen Gründe für die offenkundigen Unterschiede zwischen jenen drei Gedichten zu sehen. Aber sie werden erst zureichend sichtbar und verständlich, wenn man den Gattungscharakter dieser Texte wahrnimmt und im einzelnen erläutert. Das gilt im übrigen auch für einen anderen, einen Prosatext des jungen Schiller. Es ist der umfangreiche Brief vom 15. Juni 1780 an den Hauptmann Christian Daniel von Hoven,⁴⁸ den Vater von Schillers Freund Friedrich Wilhelm von Hoven, dessen jüngerer Bruder Christoph August am 13. Juni 1780 gestorben war. Walter Müller-Seidel, mit dessen Edition der Briefe des jungen
46 NA, Bd. 23, S. 17. 47 S. den Abdruck des Textes im Anhang zu dieser Skizze. 48 NA, Bd. 23, S. 10–13.
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Schiller einst die Reihe der Briefbände der Nationalausgabe eröffnet worden ist, hat in seinem Kommentar und zuvor schon in seiner eindringlichen und immer noch wichtigen Studie „Georg Friedrich Gaus. Zur religiösen Situation des jungen Schiller“⁴⁹ gemeint, für Teile jenes Briefs eine aufschlußreiche Quelle in der Leichenpredigt des Stuttgarter Pfarrers Georg Friedrich Griesinger vom 12. Februar 1777 für den drei Tage zuvor verstorbenen Stuttgarter Garnisonsprediger Georg Friedrich Gaus (geb. 1746) gefunden zu haben, die den Titel „Die Vortheile eines frühzeitigen und schnellen Todes des Gerechten“ trägt.⁵⁰ Als Belege führt er in seinem Kommentar zu Schillers Satz „Ist er zu bedauern, oder nicht vielmehr zu beneiden“ (NA, Bd. 23, S.11, 10f.) aus Griesingers Predigt (S.27) die Wendung „Wie glücklich seyd ihr Todten ...“ an, zu Schillers Aussage „... daß ... ein ewig weiser Rathschluß über uns waltet“ (11,14ff.) aus Griesinger (S.7): alles geschehe „nach den Regeln der vollkommensten Weisheit und Güte“, alles sei „Führung [recte: Fügung] einer unendlich weisen und gütigen Vorsehung“, ferner im Aufsatz über Gaus (S.94) zu Schillers Satz „... wohin wir später aber auch schwerer beladen mit Vergehungen gelangen“ (11,29f.) aus Griesinger (S.15): „Seliger Augenblick, wo die Sünde mit allen ihren Lasten und auf ewig von uns genommen wird“ und zu Schillers Wendung „Er verlor nichts, und gewann alles“ (11,30f.) aus Griesingers Text (S.18): „Der Gerechte verliert auch nichts“.⁵¹ Doch ganz abgesehen davon, daß die vermeintlichen Entsprechungen in diesen
49 DVjs 26, 1952, S. 76–99. 50 Expl. LB Stuttgart. – Der Bibliothek gilt mein Dank für Kopien dieses Textes und des im Anhang abgedruckten anonymen Gedichts auf den Tod J. Chr. Weckerlins, die sie mir vor vielen Jahren zur Verfügung gestellt hat. 51 An beiden Stellen weist Müller-Seidel darauf hin, daß Schiller (S. 11, 23–27) wie Griesinger (S. 12) aus Weish. 4 zitiere, erwähnt aber nicht, daß dabei Übereinstimmung nur in einem Vers besteht, da Griesinger v.7 (in Müller-Seidels Kommentar irrtümlich: 2) und 14 anführt, Schiller hingegen v.7 nur anklingen läßt, nahezu wörtlich aber zitiert (in dieser Reihenfolge): v.14, 13 und 11. Schließlich sieht der Kommentar offenkundig als Indiz einer Abhängigkeit auch an, daß „Satzform und Satzfolge ... auffallend ähnlich“ seien, wenn es an einer Stelle bei Griesinger (S. 3, ungenau zitiert im Kommentar) heißt: „Den einigen Sohn eines trostlosen Vaters, den zärtlichsten Gatten, einen Günstling vieler Grossen, einen Freund von dem edelsten Herzen, einen Mann von seltnen Gaben ... einen Lehrer von allgemeinem Beyfall ...“ und in Schillers Brief: „Sie verloren ... einen Jüngling, aus deßen lebhafter GeistesKrafft künfftige Größe und Bewunderung geahndet wurde, einen Jüngling, deß empfindungsvolles, zärtliches Hertz Ihm die Liebe aller Menschen erwarb ... einen Jüngling voll der schönsten Hoffnungen ...“ (S. 10, 21–27). Der Kommentator verkennt jedoch, daß der Eindruck der Ähnlichkeit sich nur deshalb ergibt, weil es sich an beiden Stellen um rhetorisch geformte Aufzählungen (mit unterschiedlicher Funktion und unterschiedlicher Ausgestaltung) handelt, wofür der rhetorisch geschulte junge Schiller eine Anregung durch einen Text wie die selbstverständlich eindrucksvoll rhetorisch formulierte Predigt Griesingers keineswegs benötigte.
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wenigen Zitaten, die zudem aus unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen stammen, zu vag sind, um als Indizien einer Quellenabhängigkeit zu taugen, können sie zu solcher Vermutung nur deshalb allenfalls verführen, weil beide Texte aus derselben Tradition stammen, sich desselben Argumentationsarsenals bedienen. Es ist die Tradition der dem Epicedium wie der Leichenrede, dem ἐpitάφioϛ lόgoϛ gemeinsamen dispositio und inventio, die in den antiken Schriften des Ps.Dionysios von Halikarnaß und des Rhetors Menander zur epideiktischen Beredsamkeit ihren Ursprung haben.⁵² Schillers Brief an den um seinen jüngeren Sohn trauernden Christian Daniel von Hoven ist in beträchtlichen Teilen eine nach allen Regeln der epideiktischen Beredsamkeit abgefaßte oratio funebris im kleinen. Er setzt ein mit einer Bekundung der eigenen, nur langsam gemilderten „heftigen Bestürzung“ (10,11f.) als Zeugnis teilnehmender Mittrauer und als indirekter Rechtfertigung des Versuchs einer Tröstung durch diesen Brief, der zunächst jedoch fortgeführt wird mit einer – auf einen Hinweis Quintilians zurückgehenden⁵³ – Abwendung von „kahlen, frostigen Tröstungen ... die nur allzusehr ein kaltes fühlloses Herz verrathen“ (10,16f.), die den später gleichwohl vorgebrachten „Trostgründen“ (10,19) umso größere Glaubwürdigkeit sichern soll. An diesen auf hergebrachten rhetorischen Ratschlägen beruhenden Exordialteil schließen sich Sätze an (10,19–11,8), die lamentatio und laudatio verbinden und darin auch die ebenfalls zu den möglichen Gesichtspunkten einer oratio funebris gehörende Billigung der gerechtfertigten Trauer⁵⁴ des Vaters um seinen so früh hinweggerafften Sohn bekunden: „ich weis daß die Klagen eines untröstlichen Vaters gerecht sind“ (11,2f.). Darauf folgt – beginnend mit einem gattungstypischen „Aber“ – eine ausgedehnte consolatio (11,9–31), die das Herzstück dieses Briefs ist und sehr wohl eine Reihe von dem Anlaß und den Absichten des Briefschreibers entspre-
52 Näher dazu die entsprechenden Passagen samt Anm. 19–35 in der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band. 53 Quintilian spricht im 4. Buch seiner „Institutio oratoria“ (zit. nach der lateinisch-deutschen Ausgabe von Helmut Rahn, T.1, Darmstadt 1972) bei der ausführlichen Behandlung des Prooemiums (insbesondere hier für die Gerichtsrede) wiederholt von der – in seiner eigenen Zeit freilich nach seinem Bekunden nicht mehr ausreichend beachteten – „veterum circa occultandam eloquentiam simulatio“ (IV,1,9), vom Vermeiden des Anscheins der Kunst als höchster Kunst (IV,1,57), vom scheinbaren Verzicht auf besondere Kunst also und auf deren Mittel – ein ähnlicher Hinweis schon bei Aristoteles (rhet. III 2.4. 1404b). 54 Vgl. dazu in der Abhandlung „Das barocke Epicedium“ in diesem Band entsprechende – z.T. mit dem am Anfang von Schillers Brief anklingenden Topos der teilnehmenden Mittrauer verbundene – Belege aus den dort behandelten Texten von Dach, Fleming und Gryphius sowie die Hinweise in Anm. 24 und 66 zum Vorkommen des Topos in der römischen Dichtung und in Anm. 96 bei J. Chr. Günther.
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chenden Trostgründen verwendet, welche die rhetorische Überlieferung zur Verfügung stellt. Das mögen einige Beispiele belegen:⁵⁵ „War Er glücklich, und ist es izt nicht mehr? – Ist er zu bedauren, oder nicht vielmehr zu beneiden?“ (Schiller, 11,9–11): „daß man... 2.seinen glücksel. Eingang in den Himmel ... zu der Gesellschaft der ewig Glückseeligen vorstellet, daß man ihm also mehr Ursache habe, Glück zu wünschen, als zu betrauren“ (Männling, S.148). „Ich mache zwar diese Fragen einem geschlagenen Vater ... aber ich mache sie auch einem Weisen, einem Christen, der es weiß, daß ein Gott Leben und Tod verhängt, und ein ewig weiser Ratschluß über uns waltet“ (Schiller, 11,12–16): „Zu kräftigem Trost wird gedeyen / wann man ... vorstellet ... wie es nach Gottes Willen ergangen / deme man nicht widerstreben müße; wie dieser Göttlicher Wille allzeit gut sei / und auf unser bästes denke / ob schon die Umstände böse scheinen“ (Birken, S.228); „Da wird gesagt: Von GOTT komme Leben und Tod; GOttes Wille sey der beste“ (Omeis, S.174). „Was verlor Er das Ihm nicht dort unendlich ersezt wird? Was verließ Er, das Er nicht dort freudig wieder finden, ewig wieder behalten wird“ (Schiller, 11,16–18): „... wie GOtt / was er gegeben und genommen / dort im Himmel wiedergeben werde / und es billig heiße / Wiedersehen macht / daß man Scheidens nicht acht“ (Birken, S. 228). „Und starb Er nicht in der reinsten Unschuld des Herzens, mit voller Fülle jugendlicher Krafft zur Ewigkeit ausgerüstet, eh Er noch den Wechsel der Dinge, den bestandlosen Tand der Welt beweinen durfte, wo so viele Plane scheitern, so schöne Freuden verwelken, so viele so viele Hoffnungen vereitelt werden?“ (Schiller, 11,18–22): „Interdum tamen gratulamur potius obitum infirmiori aetati, quod non à bonis, verum à multis malis, quibus hominum vita referta est discesserint“ (Pontanus, S.242); „ ... es wäre ja beßer den Port bald erreichen / als lang auf dem Meere wallen; beßer die Crone bald erhalten / als lange streiten“ (Omeis, S.174). „So ging Ihr Sohn zu dem zurück, von dem Er gekommen ist, so kam er früher und reinbehalten dahin, wohin wir später aber auch schwerer beladen mit Vergehungen gelangen. Er verlor nichts, und gewann alles“ (Schiller, 11,27–31): „Man muß anführen / daß diß Leben ein täglicher Tod sei / da man nur immer sündigen / leiden und streiten muß; und wie man im Tode / der alles Ubel endet / und die Thür zur Seeligkeit ist / erst ewig zu leben anfahe ... nun ins ewige Vatterland / heimgeführet ...“ (Birken, S.228f.).
55 Sie sind den in Anm. 33 und 34 zusammengestellten Quellenauszügen entnommen und sollen so wenig wie diese insgesamt suggerieren, daß es sich dabei um von Schiller benutzte Vorlagen handeln könnte, sondern lediglich als fast beliebige – und keineswegs wörtlich, sondern dem Sinne nach entsprechende – Beispiele für die Tradition dienen, aus welcher er schöpft.
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So wenig man diesem Brief gerecht wird, wenn man in Passagen wie den zitierten aus mangelnder Kenntnis ihrer Voraussetzungen nur leichthin „konventionelle Tröstungen“ sehen will,⁵⁶ so sehr würde man ihre Eigenart auch verfehlen, wollte man solche Passagen angesichts ihrer hier offengelegten Traditionsbezüge nun als bloß rhetorisch in einem negativen Sinne, der wissenschaftlich längst als überholt gelten sollte, abtun und dazu Schillers eigene Abwehr „kahler frostiger Tröstungen“ im Briefeingang und seine der consolatio folgende Beteurung „das sind nicht auswendig gelernte Gemeinsprüche ... es ist eigenes wahres Gefühl meines Herzens“ (11,32–34) – gewiß rhetorische Kunstgriffe, um der Wahrheit des Gesagten in scheinbarer Abkehr von der doch benutzten Form des Gesagten Nachdruck zu verleihen – gegen den Briefschreiber wenden und solche Berufung auf das eigene wahre Gefühl damit ins Zwielicht gerückt sehen. Was der junge Schiller mit seinem Brief an den Vater von Hoven geschrieben hat, ist ein aus dem – trotz sich ausbreitender Kritik – immer noch präsenten und produktiven Fundus rhetorischer praecepta zur dispositio und inventio schöpfender Text, der in seiner Verbindung einer klaren, rhetorisch durchgeformten Sprache, die eine eigene Analyse verdiente, mit klug ausgewählten einschlägigen Topoi einfühlsam und mit Zartgefühl seine konsolatorische Absicht, die den Verfasser gemäß dem Anlaß und dem Adressaten hier anders als in den Trauergedichten und weniger schroff als vor allem im Gedicht auf Johann Christian Weckerlins Tod von den eigenen Anfechtungen sprechen läßt, verfolgt und seine angestrebte Wirkung offenkundig auch erreicht hat.⁵⁷
56 Im Anschluß an diese Einschätzung des Kommentators (NA, Bd. 23, S. 246), die schließlich aus einer um mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Phase der Wissenschaftsgeschichte stammt, meint auch noch der Kommentar der Schiller-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (Werke und Briefe, Bd. 11, Briefe I, hrsg. v. Georg Kurscheidt, 2002): „Schiller folgt in seinem Brief dem Muster konventioneller Totenreden“ (S. 854) und sieht ohne weiteres als solches Muster die einst von Müller-Seidel genannte Predigt Griesingers an. 57 S. dazu den vier Tage später geschriebenen Brief an die Schwester Christophine, in welchem es heißt: „Ich habe dem Vater des Verlorenen Edeln selbst geschrieben, und die Antwort darauf war mir sehr schmeichelhafft; er wolle mich für seinen zweyten Sohn halten, mein Freund, mein Vater seyn. Schwester, Du begreifsts, diß hat mich sehr gerührt“ (NA, Bd. 23, S. 14), und die Mitteilung in Friedrich Wilhelm von Hovens Autobiographie (Biographie des Doctor Friedrich Wilhelm von Hoven ... Von ihm selbst geschrieben und wenige Tage vor seinem Tode noch beendiget, herausgegeben von einem seiner Freunde und Verehrer, Nürnberg 1840, S. 53f.): „Diese Theilnahme des Herzogs, und ein Brief von Schiller an meinen Vater, worin er ihn bat, die Pflichten eines Sohnes gegen ihn übernehmen zu dürfen, und das schöne Gedicht, welches er bei dieser Veranlassung dichtete, trugen das meiste zur Beruhigung meiner Aeltern bei“. – Das von F.W. von Hoven erwähnte Gedicht ist das mit der Überschrift „Eine Leichenfantasie“ in die „Anthologie auf das Jahr 1782“ aufgenommene (NA, Bd. 1, S. 88–90).
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Diesen Trostbrief und die drei frühen Trauergedichte – in ihren Gemeinsamkeiten und in ihren Unterschieden – wird die Forschung als Zeugnisse der literarischen Voraussetzungen des jungen Schiller und – neben den Karlsschulschriften, der „Anthologie auf das Jahr 1782“, den „Räubern“ und den bald darauf schon entstehenden „Philosophischen Briefen“ – als Dokumente seiner krisenhaften religiös-philosophischen Situation und seiner weiteren geistigen Entwicklung angemessen nur würdigen können, wenn sie sich bei der Lektüre solcher Texte von den Anweisungen leiten läßt, nach welchen sie entstanden sind.
Auch wenn der Kommentar (NA, Bd. 2, T.IIA, S. 84) es kurzweg zusammen mit den Trauergedichten auf Wiltmaister, Weckerlin und Rieger zur „Gattung der obligatorischen Leichencarmina“ zählt, unterscheidet es sich doch deutlich von jenen, sofern es nicht den Regeln des Epicediums folgt. Es bleibt deshalb in dieser Skizze außer Betracht.
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Anhang Bey dem frühen Grabe weiland Herrn Johann Christian Weckherlins, der Arzney-Wissenschaft Beflissenen, Welcher den 15. Januarii 1781 im 21. Jahr Seines Alters nach einer auszehrenden Krankheit seelig verschied, von des Verstorbenen tiefstgebeugten Eltern und Geschwistrigten.
„HERR! in der Hälfte meiner Tage „Gieb mich dem Tode nicht zum Raub!“ Vernehmt ihr des Propheten Klage, So werft [sic] auch dieser in den Staub! So weint die bange Klage wieder: Gieb uns dem Tode nicht zum Raub! Dann seine Pfeile fielen nieder, Und euer Bruder – ist nun Staub! Wann zitternde Propheten beben Du Tod der Jünglinge! vor dir, Zu schwach sich höher zu erheben, Was fühltest Du? was fühlen wir? Erst flammte noch die Gluth des Lebens Kaum angefacht in Deinem Blik: Dein Geist entriß sich ihm vergebens, Dann jedes Band hielt ihn zurük! Ach! ihr seyd eisern, sanfte Bande! In unsre Herzen eingewebt, Wann selbst der Heilige zur Schande Des Glaubens vor dem Tode bebt! Wann Greise selbst mit bleichen Wangen Und zitternd ihm entgegen gehn, Wie soll der Jüngling ihn empfangen, Den er zur Beue sich ersehn? Der Jüngling, den er ohn Erbarmen Zum frühen Opfer sich bestimmt, Aus den um ihn gewundnen Armen
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Des Vatters und der Mutter nimmt? Ach! so von unsrem Arm umwunden, Von unsrer Liebe so umstrikt, Hat doch sein Pfeil Dein Herz gefunden, Hast Du ihn schröklicher erblikt! Wars diß, was uns im Augenblike, Der Dich zuerst uns lieben ließ, Ein falscher Traum von fernem Glüke Von Deinem Alter einst verhieß? Was uns die Liebe wünschen lehrte, So oft ein neuer Tag verschwand, Der unsre Hoffnungen vermehrte, Und uns noch fester an Dich band? Wie fieng Dein Frühling an zu blühen? Wie war uns schon die Hoffnung süß, Der schönen Früchte viel zu ziehen, Die Deine Blüthe schon uns wieß? In Träumen elterlicher Liebe Sahn wir die Jahre schneller fliehn, Sahn wir, wann Er uns übrig bliebe Schon unser Alter schön durch Ihn! Wars so, daß wir im Geist Dich wieder Nach einer kurzen Trennung sahn? Wir sahn Dich – ja wir sahn Dich wieder, Den Tod im Blike zu uns nah’n! Mit bleichen abgezehrten Wangen Beraubt von ihres Frühlings Schmuck, Erlagst Du unserem Umfangen, Und selbst der Freundschaft Händedruck! Kann unser Herz des Wiedersehens Sich, schon getäuscht, noch jezt erfreu’n? Wie wird am Tag des Auferstehens Wie, Bruder! wird Dein Antliz seyn? Wie eines Engels! – O, Ihn schmükte Die himmlische Gelassenheit, Die stets aus Seinem Auge blikte Schon jezt mit Engels Herrlichkeit. Ein Engel war’s, der mit uns redte, Wann Er ins Herz uns Tröstung goß, Und dann im feurigsten Gebette Für Sich und uns noch überfloß! Nun ist Er’s ganz! – Hemmt eure Klage!
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Nur, HERR! laß Eltern, vor dir knien: Nimm in der Helfte ihrer Tage, Nicht unsre übrige dahin! (1 Doppelbl. 20; S. 1: Titelblatt, mit dem Druckvermerk: Stuttgard gedruckt mit Erhardischen Schriften, S. 2–4: Text des Gedichts; Expl. LB Stuttgart, ehemals Teil der aufgelösten Sammlung Keller, auf deren Bedeutung für die Geschichte der Kasualdichtung oben in Anm. 11 hingewiesen worden ist). Wie sehr die Trauergedichte des jungen Schiller eingebettet sind in die vielfältige Produktion von Kasualgedichten im Schwaben des späteren 18. Jahrhunderts, dokumentiert die ehemalige Sammlung Keller nicht nur durch das hier mitgeteilte Gedicht auf den Tod J. Chr. Weckerlins, sondern auch durch Parallelen zu zwei anderen seiner Gedichte: ein in Tübingen gedrucktes anonymes Gedicht eines Neffen auf den Tod des Generalmajors von Rieger (zu Schillers Epicedium s. oben Anm. 3) und die anonyme Abschrift eines zuerst 1782 in Stuttgart zum selben Anlaß gedruckten Gedichts („geweiht von den sämtlichen Offiziers seines Batallions“), dessen Verfasser Christian Friedrich Daniel Schubart war (s. C.F.D. Schubart’s, des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale, Bd. 4, Stuttgart 1839, ND Hildesheim, New York 1972, S. 201–204), sowie zum Tod von Christoph August von Hoven, dem Schillers Gedicht „Eine Leichenfantasie“ gilt (s. oben Anm. 57), ein in Stuttgart gedrucktes anonymes Epicedium, gerichtet an die Eltern „von denen Lehrern und Aufsehern des ... Waisenhauses“ in Ludwigsburg, dessen Intendant der Vater damals war.
4 Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina „Die Königin Katharina lernt’ ich hier erst kennen; sie war durch Schönheit und Geist höchst ausgezeichnet, und man wußte, daß die Schwester des Kaisers Alexander alles nach großartigem Maßstabe beurteilte. Sie hatte nichts Phantastisches, für Poesie und Kunst wenig Sinn, aber einen scharfen klaren Verstand, der alles Gemeinnützige, alles auf Menschen und Verhältnisse Wirksame lebhaft ergriff und so leicht als richtig behandelte; wenn sie in den Darbietungen ihrer Zeit die tüchtigen Tätigkeiten und Anstalten des Gewerbefleißes den schwächlichen und nebelnden ästhetischen Zierereien vorzog, so traf sie damit ein richtiges Ziel, das den nächsten Ort- und Zeitbedürfnissen entsprach, und ihr Wirken als Landesmutter, das ihr leider nur zu kurz vergönnt war, hat in Würtemberg ihren Namen unvergeßlich gemacht“ – mit diesen Sätzen würdigt Varnhagen von Ense in seinen Denkwürdigkeiten des eignen Lebens,¹ rückblickend auf das Jahr 1817, eine Fürstin, die durch ihre Gaben und ihr Wirken eine ungewöhnliche Erscheinung gewesen sein muß. Geboren am 10./21.5.1788 als sechstes Kind des späteren Zaren Paul I., der 1801 ermordet wurde, und der württembergischen Prinzessin Sophie Dorothea, war Katharina seit 1809 verheiratet mit dem im russischen Twer als Gouverneur wirkenden Prinzen Georg von Oldenburg, der bereits 1812 starb, und heiratete 1816 den württembergischen Kronprinzen, der noch im selben Jahr nach dem Tod seines Vaters Friedrich I. als Wilhelm I. König von Württemberg wurde. In Jahren, die von langwierigen, erst im Herbst 1819 beendeten Auseinandersetzungen zwischen dem König und den Ständen um eine neue Verfassung und von großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten bestimmt waren, kümmerte sich die Königin in vielfältiger Weise um pädagogische, soziale und wirtschaftliche Belange. Das Stuttgarter Katharinenstift als Bildungseinrichtung für Mädchen, eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt in Hohenheim, eine Zentralleitung der Wohltätigkeitsvereine, eine Württembergische Sparkasse zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten – Einrichtungen, die in gewandelter Form bis heute fortbe-
1 Karl August Varnhagen von Ense: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1987, S. 135f. (37. Abschnitt, erstmals gedruckt 1842). Vgl. auch u. a. S. 229, 234ff., 390f. sowie Bd. 2, S. 600f.
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stehen – wurden von ihr angeregt, begründet, tatkräftig gefördert oder auch von ihr persönlich geleitet. Erst dreißig Jahre alt, starb Königin Katharina nach kurzer Krankheit am 9. Januar 1819.² Die Plötzlichkeit dieses Ereignisses und die damit jäh beendete unermüdliche Tätigkeit der Königin für das Wohl des Landes und seiner Bevölkerung bewirkten, daß ihr früher Tod ein ungemein starkes und anhaltendes Echo im Lande fand, das an Vielfalt und Gehalt – auch wo es der Verpflichtung zu offizieller Trauerbekundung entstammte – weit über das Maß des durch Herkommen und Schicklichkeit Gebotenen hinausging. Namhafte Dichter des Landes wie Karl Philipp Conz,³ Friedrich Haug ⁴ oder Christian Ludwig Neuffer,⁵ Justinus Kerner ⁶ und Gustav Schwab,⁷ aber auch Uhland,⁸ der unerbittliche Widersacher der Verfassungspolitik des Königs, bezeugten ihre Trauer ebenso wie viele Namenlose in Gedichten oder Gedenkreden,⁹
2 Vgl. u. a. Hansmartin Decker-Hauff: Katharina. In: Königin Katharina-Stift Stuttgart. Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Schule. Stuttgart 1968, S. 7–14. – Max Rehm: Königin Katharina von Württemberg. Ihr Leben und Wirken nach Selbstzeugnissen und im Spiegel der Zeitgenossen. Stuttgart 1968. – Catharina Pawlowna. Königin von Württemberg 1816–1819. Einflüsse – Leben – Leistungen. Eine Ausstellung der Universität Hohenheim. Ausstellungskatalog 1993. – Karl-Johannes Grauer: Wilhelm I. König von Württemberg. Ein Bild seines Lebens und seiner Zeit. Stuttgart 1960, bes. S. 108ff. – 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk. Hrsg. v. Robert Uhland. Stuttgart u. a. 1984, u. a. S. 310ff., 500ff., 614, 657f. 3 Kleinere Prosaische Schriften vermischten Inhalts. Bd. 1. Tübingen 1821, S. 107–126: Gedächtnißrede auf den Tod der Königin Katharina von Württemberg (Gehalten den 7. März 1819). 4 Vgl. Anm. 9. 5 Vgl. Anm. 9 und 12. 6 Sämtliche poetische Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Josef Gaismaier. Bd. 1. Leipzig o.J., S. 161ff.: Nach Katharinas Tod 1–4 – Über das in Metall geprägte Bild Katharinas. 7 Vgl. die Hinweise in Anm. 9, 11 und 12. 8 Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. v. Walter Reinöhl. Bd. 1. Leipzig o.J., S. 105–107: Katharina. Vgl. Dazu auch: Uhlands Briefwechsel. Hrsg. v. Julius Hartmann. Bd. 2. Stuttgart, Berlin 1912, S. 94, 96f., 98 (Uhlands Vater an den Sohn, 10.2.1819: Dank für das Gedicht, „wegen dessen du nicht zum Hofdichter ernannt werden wirst“), 100f., 104, 138 sowie Varnhagen von Ense: Werke. Bd. 3, S. 390: „das rührendste Totenopfer aber brachte Ludwig Uhland der Abgeschiedenen durch ein herrliches Gedicht, das ihr ein Lob spendete, wie es noch nie einer Königin geworden; es war nicht der Dichter, es war der Volksmann, der Vertreter des strengen Rechtes, der unbeugsame Gegner des Hofes, der es ihr erteilte, und der Gewissen und Kunst genug besaß, auch im rührendsten Ausdruck des Schmerzes und der höchsten Anerkennung nie zur kleinsten Schmeichelei hinabzusinken“. 9 Vgl. als Beispiel die Sammlung Blumenkranz auf den Sarg unserer allgeliebten unvergesslichen Koenigin von Würtemberg. Sammlung aller Trauerreden und Gedichten [sic]auf die verewigte Königin Majestaet. Stuttgart [1819], worin unter vielen anderen auch die Gedichte von Neuffer, Haug und Schwab. Vgl. auch verschiedene handschriftliche und gedruckte Texte im
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zahlreiche Schulen¹⁰ und andere Institutionen¹¹ hielten Trauerfeiern ab, bei denen Reden und Gedichte vorgetragen wurden. Das Cotta’sche Morgenblatt für gebildete Stände brachte bis in den März des Jahres hinein immer wieder Beiträge in Vers und Prosa zum Gedächtnis der Verstorbenen.¹² In noch größerer Zahl bot derartige Texte bis in den Mai hinein und noch einmal im September ein anderes, kaum bekanntes Stuttgarter Periodikum, der von Ludwig Schuhkrafft¹³ herausgegebene Armen-Freund.¹⁴ Hier stand am Dienstag, 9. März 1819, in der Nummer 29, die unmittelbar nach den in den protestantischen Kirchen¹⁵ am 7. März abgehaltenen offiziellen Trauergottesdiensten erschien, das folgende Gedicht:
Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand E 11, B.76 und B.184; Bestand G 275, B.8. – Diesem und den an anderer Stelle genannten weiteren Archiven und Bibliotheken danke ich für freundliche Beratung sowie für die Erlaubnis zur Benutzung und Zitierung einschlägiger Archivalien. 10 Vgl. dazu die Berichte verschiedener Schulen an den Königlichen Studienrat in Stuttgart als zuständige Behörde im Bestand E 202, B.85 im Staatsarchiv Ludwigsburg. 11 Vgl. z. B. Todten-Feyer. Dem Andenken der erhabensten Frau Katharina Königin von Würtemberg Maj. geweihet von dem Museum zu Stuttgart den 24sten Januar 1819. Stuttgart [1819] (darin u. a. Schwabs Gedicht). – Denkmal der Todesfeyer, welche der verewigten Königin von Würtemberg, Catharina Pawlowna etc.etc. von den Hochschülern in Tübingen den 13.Jan.1819 gehalten wurde. Tübingen 1819. 12 Darunter die Gedichte von Neuffer (Nr. 23, 27.1.1819) und Uhland (Nr. 31, 5.2.1819) und ein von Schwab zur Vorlesung in den offiziellen Trauerfeiern und Trauergottesdiensten im Lande am 5. und 7.3.1819 verfaßter Lebenslauf der Königin (Nr. 58 und 59, 9. und 10.3.1819), der auch einzeln gedruckt worden ist. 13 Gest. 1843 im Alter von 68 Jahren, bis zu einem Bankrott tätig als Kaufmann, Verfasser ökonomischer und erbaulicher Schriften (vgl. Hamberger/Meusel: Das gelehrte Teutschland. 5. Aufl. Bd. 20, 1825. – Neuer Nekrolog der Deutschen. Jg. 21, 1843 – ferner auch J.M. Müller: Zusammenstellung der bisherigen wichtigsten Lebens-Verhältnisse Ludwig Schuhkraffts, und mehrere Fragen über dessen Charakter. Cannstatt 1825). 14 Der volle Titel des Jahrgangs 5, 1819, lautet: Der Armen-Freund, ein Unterhaltungs-Blatt, zur angenehmen und nützlich belehrenden Unterhaltung sowohl als auch eine zu Nährung eines reinen vaterländischen Sinnes bestimmte, jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag erscheinende Wochen-Schrift für alle Stände; welche zum Vortheil der, seit mehreren Jahren errichteten, und täglich mehr gedeihenden Privat-Anstalt zur unentgeldlichen Vertheilung brauchbarer Schul- und Erbauungs-Bücher an arme Schul-Kinder aller christlichen Konfessionen [...] verfaßt und herausgegeben wird. Die Zeitschrift erschien als Armen-Freund von 1819 bis 1822, zuvor seit 1815 unter anderen Titeln (vgl. Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1815–1850. Bibliographien, Programme, Autoren. Bd. 2. Nendeln 1977, S. 47–50). Ein lückenhaftes Exemplar aller Jahrgänge befindet sich in der LB Stuttgart, ein unvollständiges Exemplar des Jahrgangs 1819 jetzt auch im Mörike-Archiv im Schiller-Nationalmuseum in Marbach a.N. 15 Vgl. das Dekret des Ministeriums des Innern und des Kirchen- und Schul-Wesens an den K.Studienrat vom 20.1.1819 (Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand E 202, B.85, Nr. 11).
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Wü r t tembergs Trauer seit dem 9ten Januar 1819 ---------------Horch, was tönen dort für Klag-Gesänge, Die mit Grauen rings die Luft erfüllen? Hörst du nicht die Glocke schaurig schallen? Wie die Menschen dort zur Kirche wallen, Betend zu des Vaters Thron! Sieh, wie jene Armen knieend beten, Jene Kinder, arm und klein, zu Gott, Freunde! hört, wie alles traurig hallet, Höret, wie aus jedem Munde schallet: „Uns’re Königin ist todt!“ Ach! die Königin, die Gute ist gestorben, Die so treu für’s Vaterland gesorgt! Weinet Bürger, weinet auch ihr Waisen! Wer wird künftig euch, ihr Kleinen speisen? Gott, der Güt’ge geb’ euch Trost! Unsern König wird uns Gott erhalten, Nicht uns nehmen dieses letzte Haupt, Leiten wird er ihn mit Vaterhänden, Muth und Trost wird ihm der Vater senden, Kraft, zu tragen seinen Schmerz. Seht, da liegt sie bleich und ohne Leben, Die des Landes treue Stütze war; Doch, dort oben wird sie neu erblühen, Und das Gute wird hier herrlich blühen, Das sie hier so reich gesäet. Heise Thränen, frommer Wünsche Flehen, Folgen seegnend K a t h a r i n e n nach, Kommt, ihr Freunde, weinet stille Zähren, Ihres Daseyns hohes Glück entbehren Lehre Gottes Tröstung Euch! Eduard Möricke.
Dieser Text¹⁶ ist eines der frühesten Gedichte Mörikes und unter den gedruckten, die bis jetzt bekannt und ihm eindeutig zuzuschreiben sind, das erste. Doch
16 Die Entdeckung des Gedichts, auf das Hans-Ulrich Simon (Mörike-Chronik. Stuttgart 1981,
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nicht deshalb allein, auch nicht nur darum, weil es seinen noch nicht fünfzehnjährigen Verfasser wie so viele ältere Dichter, denen er zum Teil später persönlich begegnen sollte, an der Trauer des Landes beteiligt zeigt, verdient es nähere Betrachtung, sondern – so bedeutsam schon der Anlaß als solcher für seine Entstehung und seinen Inhalt ist – vor allem wegen der weit zurückreichenden literarischen Tradition, auf der es beruht. Denn dieses Gedicht ist – wie auch einzelne Gedichte anderer Verfasser, die zum Tode der Königin Katharina gedruckt wurden – ein spätes Beispiel des Epicediums, jenes festen Formtypus eines Trauergedichts,¹⁷ der auf die spätantike Rhetorik und Muster in römischer Dichtung zurückgeht und – vom Humanismus vermittelt – eine Haupterscheinungsform der barocken Gelegenheitsdichtung gewesen ist. Bauform und Inhalt des Epicediums sind dadurch bestimmt, daß es – ebenso wie die ihm entsprechende Leichenrede – aus drei Teilen besteht, die schon in der spätantiken Rhetorik, bei Ps.Dionysios von Halikarnaß und Menander, wie dann überall in der Poetik und Rhetorik vom Humanismus bis in das 18. Jahrhundert hinein genannt werden: ἔπαινος, qρῆνος, παραμυqία, laudatio, lamentatio, consolatio, Lob, Klage und Trost. Diese Teile – ausgestaltet im einzelnen mit vielerlei Topoi, die ihrerseits oft eine lange rhetorische und poetische Geschichte haben – werden zumeist in dieser Reihenfolge angeordnet, können aber auch – je nach Anlaß und nach Absicht des Autors – in ihrer Stellung variieren, können auch miteinander verknüpft werden und unterschiedliches Gewicht im Ganzen erhalten. Ein für die Bauform und für die Intentionen des Epicediums besonders charakteristisches Merkmal ist, daß der Trostteil, der den im Lob- und im Klageteil erregten Affekt der Trauer aufzufangen und zu stillen hat, vielfach mit einer adversativen Partikel wie at, tamen, sed, doch, dennoch, aber einsetzt.
Sp. 22) bereits hingewiesen hat, ist die Frucht der Durchsicht des Armen-Freundes (ausgehend von summarischen Angaben bei Estermann, vgl. Anm. 14) und anderer zeitgenössischer Zeitschriften durch Mitarbeiter des Mörike-Archivs. Ihnen, insbesondere Albrecht Bergold und Hans-Ulrich Simon, danke ich auch für mancherlei Hilfe bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes. – Der Armen-Freund enthält von 1816 an mehrere Beiträge, die „Carl Mörike“ oder „C. Möricke“, sowie andere, die nur „Mörike“ unterzeichnet sind. Es erscheint denkbar, daß Eduard Mörikes älterer, literarisch ambitionierter Bruder Carl (1797–1848), der zunächst Lehrling in der Stadt- und Amtsschreiberei in Nürtingen war und von 1818 bis 1821 Staatswissenschaften in Tübingen studierte, in regelmäßigem Kontakt zum Herausgeber des Armen-Freund stand und die Veröffentlichung des hier mitgeteilten Gedichts seines Bruders vermittelt hat. Ob sich unter den nur mit dem Namen „Mörike“ gezeichneten Beiträgen weitere von Eduard Mörike befinden, konnte noch nicht geklärt werden. 17 Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147.
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Das Trauergedicht des jungen Mörike auf den Tod der Königin Katharina, das gemäß dem Zeitpunkt seiner Publikation und wohl auch seiner Entstehung mit einem Hinweis auf die im ganzen Lande stattfindenden Trauergottesdienste einsetzt, gestaltet damit und mit seinem weiteren Verlauf die Form des Epicediums in der Art variierend aus, daß es – in Übereinstimmung mit der allenthalben herrschenden und so vielfältig auch von anderen bezeugten Bestürzung und Trauer – von Beginn an die Klage in düsteren Tönen laut werden und große Teile bestimmen läßt. Mit der Nennung der Armen, der Kinder in der zweiten Strophe, die in besonderem Sinne Leidtragende sind, wird das Lob der Verstorbenen vorbereitet. Ihm ist vor allem die dritte Strophe gewidmet, die auf mehrfache Weise die fürsorgende Tätigkeit der Königin preisend hervorhebt. Sie tut dies – mit dem einleitenden „Ach“, mit der einem traditionellen Topos der Billigung der Trauer folgenden Aufforderung zum Weinen und mit der Frage im vierten Vers – unter dem Vorzeichen der schon in den beiden ersten Strophen sich äußernden Klage, und sie deutet andererseits mit dem Trostwunsch im fünften Vers an, wohin das Gedicht – dabei dann zweimal noch das Stichwort „Trost“ beziehungsweise „Tröstung“ ausdrücklich gebrauchend – schließlich führen soll. Die folgende, vierte Strophe spricht als einen ersten Trostgrund die Hoffnung aus, daß dem Lande der König, selbst ein des Trostes Bedürftiger, als „dieses letzte Haupt“ erhalten bleibe und deshalb von Gott getröstet werde. Die fünfte Strophe greift in den beiden ersten Versen, indem diese auf die bleiche Tote hinweisen, die zuvor – hier wird das Stichwort „treu“ aus der dritten Strophe erneut aufgenommen – „des Landes treue Stütze war“, noch einmal Klage und Lob auf, um dann mit einem gattungstypischen „Doch“ im dritten Vers in den eigentlichen, das Ganze abschließenden Trostteil hinüberzuleiten. Mit dem Hinweis auf die Teilhabe der Toten am ewigen Leben,¹⁸ der sich freilich nicht mehr wie im Barock der kontrastierenden Bekräftigung durch die Vanitas des Irdischen bedient, und auf die dauernde Wirkung ihrer guten Taten auf Erden verwendet er zwei traditionsreiche Trostargumente, um in der sechsten Strophe, Klage und Lob ein letztes Mal andeutend, abschließend alle Trauernden auf Gott als den Urheber aller wahren Tröstung, von welchem schon die vierte Strophe gesprochen hatte, hinzuweisen. Wenn man, wie hier skizziert, Mörikes Gedicht, angeleitet von den älteren Mustern und der Theorie des Epicediums, aufmerksam liest, so zeigt sich, daß der Autor – unter Nutzung traditioneller und doch abgewandelter Topoi und
18 Der rührende Reim erblühen/blühen in v.3 und 4 dieser Strophe könnte zu der Überlegung Anlaß geben, ob beim ersten Reimwort nicht ein Druckfehler vorliegt, der in Entsprechung zum „bleich“ im ersten Vers in „erglühen“ zu bessern wäre.
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unter Verwendung bestimmter prägender Stichwörter wie durch Sonderung und Verknüpfung der geforderten Teile – seinem Text eine klare Disposition gegeben hat, die von der Spannung zwischen dem düsteren Beginn und der zunehmenden Wendung zu Hoffnung und Trost bestimmt ist und das Lob zwar kaum selbständig hervortreten läßt, gleichwohl aber indirekt, im Maß der Trauer und in dem der Tröstung nachdrücklich bekundet. Es ist ein Text, der – auch wenn er das gewählte Strophenschema nicht ganz fehlerfrei einhält – auf kundige und angemessene Weise die an ein Epicedium gestellten Anforderungen erfüllt. Daß aber der halbwüchsige Mörike gerade mit einem derartigen Gedicht debütiert, das kann, mag es auch auf den ersten Blick überraschend oder gar befremdlich erscheinen, doch keineswegs verwundern. Denn das Auftreten dieses traditionsreichen Gedichttypus, für welches unter den frühen Gedichten Mörikes dasjenige auf den Tod der Königin Katharina auch nicht das einzige Beispiel darstellt, ist durchaus kein Zufall. Es verweist vielmehr auf eine Bildungswelt, die am früh gelegten Fundament von Mörikes poetischem Werk wesentlichen Anteil hat. Auf öffentliche oder private Ereignisse mit Gedichten teilnehmend zu reagieren und dabei den aus der Antike und ihrer humanistischen Neurezeption stammenden praecepta und exempla zu folgen, das ist – bei aller Kritik, die die Kasualdichtung im Lauf des 18. Jahrhunderts zunehmend erfahren hat¹⁹ – jedenfalls in Württemberg das ganze 18. Jahrhundert hindurch und bis ins 19. Jahrhundert hinein eine weit verbreitete Übung geblieben. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür ist die große, von Immanuel Leopold Keller (1755–1819) begonnene Sammlung von Gelegenheitsgedichten vornehmlich des 18., aber auch noch des frühen 19. Jahrhunderts und vorzugsweise württembergischer Provenienz, die die Landesbibliothek in Stuttgart besitzt.²⁰ Die auffällige, bis ins 19. Jahrhundert rei-
19 Vgl. dazu u. a. Uwe K. Ketelsen: Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion. In: Lessing Yearbook 8 (1976), S. 89–107. – Joseph Leighton: Occasional poetry in the Eighteenth Century in Germany. In: Modern Language Review 78 (1983), S. 340–358. – Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, bes. S. 225–286. 20 Hinweise auf diese Sammlung (früher: Wirt. Gesch. fol. 54, 15 in 21 Bänden), die leider vor einigen Jahren im Zuge einer an sich begrüßenswerten Einzelkatalogisierung aufgelöst worden ist, insbesondere in verschiedenen Arbeiten von Reinhard Breymayer (jetzt zusammengestellt bei Reinhard Breymayer: Hölderlin und das „Morgenopfer an den Erlöser“. Eine Antwort an Sang-kun Chung, S. 201f. In: Suevica 7 (1993), S. 195–205), die u. a. den Beziehungen Hölderlins zur Tradition der Gelegenheitsdichtung gelten; s. auch Hans-Henrik Krummacher: Laurea Doctoralis Julii Guilielmi Zincgrefii (1620). Ein Heidelberger Gelegenheitsdruck für Julius
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chende Kontinuität der Kasualdichtung in Württemberg²¹ wird verständlich aus der Geschichte des Bildungswesens in diesem Lande.²² Hier ist die im 16. Jahrhundert entstandene enge Verbindung von Reformation und Humanismus, von humanistisch-philologischer und theologischer Bildung mit besonderer Entschiedenheit über Jahrhunderte hin festgehalten worden. Grundlage dafür war insbesondere die Große Kirchenordnung des Herzogs Christoph von 1559 und die in ihr enthaltene Schulordnung, die bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts fast unverändert in Geltung blieb. Aber auch noch die Dokumente der Schulgeschichte im späteren 18. Jahrhundert atmen den Geist des frühen reformatorischen Schulhumanismus.²³ Das ist offenkundig aufs engste verknüpft mit, ja bedingt von der für Württemberg so charakteristischen Institution der Klosterschulen oder niedern Seminarien, in welche begabte Schüler der Lateinschulen und Gymnasien nach Bestehen des sogenannten Landexamens
Wilhelm Zincgref mit einem unbekannten Gedicht von Martin Opitz, S. 290. In: Opitz und seine Welt. Festschrift für George Schulz-Behrend. Amsterdam 1990 (= Chloe, Bd. 10), S. 287–349. 21 Der Mangel an speziellen Vorarbeiten läßt bisher genauere Aussagen über regionale Unterschiede in der späten Geschichte der Kasualdichtung kaum zu. Doch scheinen die – zwangsläufig provisorischen und summarischen – Ergebnisse einer Bibliotheksumfrage von Segebrecht (Das Gelegenheitsgedicht, S. 448–480) ebenso wie die Literatur zum württembergischen Schulwesen (s. Anm. 22) für eine Sonderrolle Württembergs zu sprechen. 22 Zur württembergischen Schulgeschichte insgesamt: Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg. Hrsg. v. d. Württembergischen Kommission für Landesgeschichte. Bd. 1–3. Stuttgart 1912–1928. – Otto Dürr: Die Einführung des Neuhumanismus in Württemberg. Diss. Tübingen 1928. – Heinrich Grotz: Das höhere Schulwesen. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. Bd. 2. Esslingen 1909, S. 153–190. – Karl Pfaff: Versuch einer Geschichte des gelehrten Unterrichtswesens in Württemberg in ältern Zeiten. Ulm 1842 – zu den Klosterschulen und insbesondere zum Uracher Seminar: [Jak. Fr. Abel]: Beschreibung der Einrichtung der niedern Seminarien in Württemberg. Nebst Vorschlägen zu ihrer Verbesserung. Oehringen 1818. – Bäumlein: Die niedern evangelischen Seminarien Württembergs. In: Schwaben, wie es war und ist. Hrsg. v. Ludwig Bauer. Karlsruhe 1842, S. 107–134. – Johannes Eitle: Der Unterricht in den einstigen württembergischen Klosterschulen von 1556–1806. Berlin 1913 (= Beihefte zu der Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. 3. Beiträge zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in Württemberg). – Johannes Eitle: Das Evangelisch-theologische Seminar in Urach von 1818 bis 1920. Tübingen 1920. – Karl Friedrich August Widmann: Zur Geschichte des Seminars Urach. Progr. Urach 1870. – C.G. Wunderlich: Die ehemaligen Klosterschulen und die jetzigen niedern evangelischen Seminarien in Würtemberg. Stuttgart 1833. 23 Vgl. A.L. Reyscher (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 11, 2. Abteilung. Enthaltend die Gesetze für die Mittel- und Fachschulen. Hrsg. v. Carl Hirzel. Tübingen 1847. – Die Schulordnung von 1559 auch bei Reinhold Vormbaum (Hrsg.): Evangelische Schulordnungen. Bd. 1. Die evangelischen Schulordnungen des sechszehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1860, S. 68–165.
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aufgenommen wurden, um in einem vierjährigen, den oberen Gymnasialklassen entsprechenden Kursus auf das Theologiestudium im Tübinger Stift vorbereitet zu werden. Diese in ihrer Eigenart und Wirkung allenfalls mit den sächsischen Fürstenschulen vergleichbare, aber ausschließlicher noch auf die Schulbildung der künftigen Theologen zugeschnittene Einrichtung mußte auch das bestimmen, was man als Vorbildung der angehenden Seminaristen von den Lateinschulen und den unteren Klassen der Gymnasien erwartete. Die damit gegebene Einheitlichkeit eines Schulwesens, das vor allem auf die Vermittlung einer gründlichen philologischen Ausbildung in den drei klassischen Sprachen als Fundament des Theologiestudiums²⁴ bedacht war, bot den institutionellen Rahmen dafür, daß die natürlich auch sonst das geistige Leben des 18. Jahrhunderts noch mitprägende humanistische Tradition in Württemberg, auch wenn sich selbst hier nach und nach Veränderungen – unter anderem zugunsten einer langsam wachsenden Bedeutung des Deutschen oder mit der wiederholten Warnung vor einem bloß mechanischen Auswendiglernen logischer und rhetorischer Definitionen²⁵ – anbahnen, wohl mit besonderer Intensität bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein wirksam blieb und mit ihr die Rolle vor allem der lateinischen Sprache, die Lehren der Rhetorik und Poetik, die auf ihnen beruhenden praktischen Übungen in lateinischer und deutscher Sprache.²⁶ Ein besonders charakteristisches Symptom der bemerkenswerten Kontinuität humanistischer Überlieferung im württembergischen Schulwesen ist
24 Das seinerzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein in seinem ersten Teil noch wieder stark philosophisch und philologisch bestimmt war, damit allerdings die Theologen jahrhundertelangem Brauch gemäß zugleich zum Schuldienst befähigte; vgl. Martin Leube: Das Tübinger Stift 1770–1950. Stuttgart 1954, S. 390ff. 25 Vgl. Reyscher/Hirzel (s. oben Anm. 23), u. a. S. 266ff. (General-Rescript, 1788) – S. 280, 285f., 287 (Verordnung wegen des lateinischen Schulwesens im Herzogthum Württemberg, 1793). 26 Vgl. Reyscher/Hirzel, u. a. S. 247 (Statuten für die Alumni der niedern Clöster, 1757): Forderung des Lateinisch-Sprechens der Schüler untereinander und in den Disziplinen, „so lateinisch verfaßt sind“ – „So soll auch von der Poёsi Latina, als einer angenehmen Cultivirung Latinitatis et ingenii, niemand sich zu entziehen vergönnet seyn“ – S. 282 (Verordnung wegen des lateinischen Schulwesens im Herzogthum Württemberg, 1793): „so ist [...] dem Unterrichte in der lateinischen Sprache der größte Theil der öffentlichen Lehrstunden [...] zu widmen“ – S. 285 (ebenda): „Mit der Komposition sind die Exceptionen und die Versübungen zu verbinden“. Vgl. hingegen z. B. die Frankfurter Gymnasialordnung von 1765 (Vormbaum: Evangelische Schulordnungen. Bd. 3. Die evangelischen Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1864, S. 554–569) oder auch die „Erneuerte Schulordnung für die Chursächsischen drey Fürsten- und Landschulen“ von 1773 (ebenda S. 613–648), worin bei gestiegener Bedeutung der Übung in der deutschen Sprache Umfang und Anspruch des Unterrichts im Lateinischen, in Rhetorik und im Versemachen bereits sichtlich begrenzter sind.
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die lange Wirkungsgeschichte der erstmals 1682 erschienenen Rhetorik²⁷ von Christoph Kaldenbach (1613–1698), welcher in jungen Jahren dem frühbarocken Königsberger Dichterkreis um Simon Dach angehört hatte und seit 1656 Professor Eloquentiae, Poeseos et Historiarum in Tübingen war. In einer vom Konsistorium veranlaßten Überarbeitung durch Kaldenbachs Nachfolger Johann Eberhard Rösler ist das Werk bis ins späte 18. Jahrhundert als Lehrbuch benutzt worden und hat auch noch dem Rhetorikunterricht zugrunde gelegen, den Hölderlin im Kloster Denkendorf erhalten hat.²⁸ In der letzten bekannten Auflage von 1765,²⁹ um die es sich dabei gehandelt haben dürfte, wird, obgleich das Werk auch hier auf die Kernlehren der Rhetorik konzentriert ist und im Unterricht sicherlich durch ein entsprechendes Lehrbuch der Poetik ergänzt wurde, mehr als in der ursprünglichen Fassung von 1682 auch von Gelegenheitsreden und hie und da auch von der – aus langer Tradition sich herleitenden – Anwendung rhetorischer Verfahrensweisen in Gedichten gesprochen.³⁰ So werden als zum genus demonstrativum gehörig „Orationes & Epistolae, non modo Panegyricae,
27 Compendium Rhetorices [...] Pro Scholis in Ducatu Würtembergico adornatum (Exemplar in der LB Stuttgart). 28 Vgl. den bei Wunderlich (Die ehemaligen Klosterschulen) neben S. 36 mitgeteilten Denkendorfer Lehrplan für den Sommer 1785, jetzt auch in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Bd. 7. Dokumente. Hrsg. v. Adolf Beck. 1. Teil. Stuttgart 1968, S. 324f. Freilich wurde um diese Zeit auch Kritik am weiteren Gebrauch von Kaldenbachs Werk laut (vgl. die bei Eitle: Der Unterricht in den einstigen württembergischen Klosterschulen, S. 63 zitierte Äußerung von Karl Friedrich Reinhard). – Am Stuttgarter Gymnasium wurde mindestens bis 1774 Kaldenbachs Rhetorik ebenfalls noch benutzt, Mitte der achtziger Jahre dann an ihrer Stelle die zeitgenössische von Johann August Ernesti (vgl. Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg. Bd. 3, 2. Halbbd. T. 1. Gustav Lang: Geschichte der Stuttgarter Gelehrtenschule von ihren ersten Anfängen bis zum Jahr 1806. Stuttgart 1928, S. 251, 270), die jedoch gleichfalls immer noch und sogar eingehender als Kaldenbachs Lehrbuch insbesondere von den vielen Spielarten der „panegyricae orationes“ und unter ihnen in hergebrachtem Sinne übrigens auch vom „epitaphium, siue funebre“ handelt (vgl. Initia Rhetorica. Leipzig 1793, S. 132f.: „[...] Possunt autem in oratione tali esse haec: doloris atque luctus demonstratio, laudatio mortui, ex qua luctus causa intelligatur, consolatio eorum, ad quos dolor maxime pertinet […]”). 29 Exemplar in der LB Stuttgart. Zu den übrigen Auflagen vgl. die von Reinhard Aulich erarbeitete Bibliographie in: Christoph Kaldenbach: Auswahl aus dem Werk. Hrsg. v. Wilfried Barner. Tübingen 1977 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke. Sonderreihe 2), S. 183f. 30 Die Vorrede des Konsistoriums, die sich auch schon in einer vor 1752 erschienenen undatierten Ausgabe (Aulich Nr. 50; Exemplar in der LB Stuttgart) findet, nennt als Ziele der Bearbeitung: „In ipsa nempe Rhetorica Argumentorum quaedam genera, prima editione tantum enumerata, exponere fusius; quaedam ad Rhetoricam Ecclesiasticam pertinentia proprius, attingere, nec ad Orationes modo Scholasticas seu Cathedrales, sed etiam ad Epistolas, Orationes civiles, Dissertationes, Carmina, atque id genus alia oculum intendere“ (Bl. A 3a).
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sed & Gratulatoriae, Nuptiales, Natalitiae, Funebres, item Gratiarum Actiones, Oblationes munerum, Valedictiones, Propemptica“ (S. 54f.) genannt, für eine dispositio a thesi ad hypothesin werden neben Oden des Horaz als Beispiele zeitgenössische Gelegenheitsgedichte und darunter auch Epicedien angeführt: „& hodie pleraque longiora Epithalamia, Epicedia, & id Genus alia eundem ordinem servant“ (S. 77), und an anderer Stelle wird der Aufbau konsolatorischer Texte, deren Argumente ja auch für das Epicedium von Belang sind, näher erläutert (S. 88). Die hier mit wenigen Strichen angedeutete, von einer noch sehr bewußt festgehaltenen humanistischen Tradition geprägte Bildungswelt ist es, der der junge Mörike schon in der Lateinschule in Ludwigsburg und in der kurzen Zeit auf dem Stuttgarter Gymnasium begegnet sein muß, die ihn dann aber vor allem vier Jahre lang umgab, nachdem er im November 1818, gerade vierzehn Jahre alt, in das neu eröffnete niedere Seminar in Urach eingetreten war. Die am 2. November 1818 vom Königlichen Studienrat erlassenen Statuten³¹ stellen – in Übereinstimmung mit den aus derselben Zeit stammenden Statuten der anderen Seminarien³² – in § II an die Spitze aller näheren Aussagen zu den Zielen und Inhalten des Unterrichts die programmatische Feststellung: Das Princip des Humanismus, das bisher in den Seminarien dem Unterricht zum Grunde gelegt wurde, soll es auch ferner werden. Studium der Meisterwerke der alten Claßiker sey daher die Hauptbeschäftigung. Nur die vorzüglichsten dieser Claßiker werden s o behandelt, daß Sprach- und Sachkunde in möglichster Vereinigung getrieben, die Lehrlinge zu gründlichen Philologen gebildet, aber auch zugleich an diesen Meisterwerken der Geschichte, der Poesie, der Redekunst und der Philosophie ihre Geisteskräfte allseitig entwickelt, geübt, geschärft und diese als praktische Belehrungsmittel über Geschichte, Poesie, Rhetorik, Aesthetik und Philosophie, und als Hauptmittel einer umfaßenden Bildung des Geistes und des Gemüths benüzt werden. Nicht trockenes Buchstabenwesen und todte Gramatik werde auf Kosten der ächten Geistesbildung getrieben; aber eben so sehr werden die Lehrer von selbst den Abweg vermeiden, der in der Meynung besteht, als könte ohne gründliche Philologie, ohne genugsames Verweilen bey den gramatischen Elementen, ohne vertraute Bekanntschaft mit dem Buchstaben und Geist der alten Sprachen, gründliche Sachkunde erlangt, der Geist, der unter der Hülle des Buchstaben verborgen ist, aufgefaßt, und der Zweck einer gründlichen Bildung künftiger Lehrer einer positiven, auf Urkunden in alten Sprachen beruhenden Religion erreicht werden.
31 Handschrift im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, Bestand C 10 (Seminar Urach). 32 Vgl. Bäumlein (Die niedern evangelischen Seminarien), S. 120ff. und Wunderlich (Die ehemaligen Klosterschulen und die jetzigen niedern evangelischen Seminarien in Württemberg), S. 57ff.
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Dementsprechend soll der Unterricht im Lateinischen neun bis zehn, der im Griechischen (unter Einschluß einer Stunde für das griechische Neue Testament) acht Stunden umfassen. Der § III fordert für das sogenannte Hebdomadarium, eine wöchentliche schriftliche Übung, neben einer lateinischen Komposition über ein gegebenes Thema auch die Anfertigung lateinischer Verse. Nach § IV kommen als weitere Übungen – und ähnliches gilt abgestuft jeweils auch für das Griechische und das Hebräische – das sogenannte Extemporaneum sowie in den letzten beiden Jahren vierzehntägliche lateinische Aufsätze hinzu. In § V, der den viel knapper gehaltenen Unterricht im Deutschen regelt und dabei die Lektüre „vorzüglicher deutscher klaßischer Schriften“, darunter Klopstocks Messias und die „HauptProdukte von Schiller und Göthe“, vorsieht, wird den Lehrern nahegelegt, beim Übersetzen griechischer und lateinischer Poesie „die Zöglinge hie und da einzelne Stellen in gleich-metrische deutsche Verse schriftlich nachübersetzen zu laßen“, ferner auch „diejenigen, welche Fähigkeit dazu haben“, zu „ermuntern, zum Hebdomadar öfters neben den lateinischen Versen deutsche zu machen“. Der § VI endlich, an welchen sich dann die Regelungen für alle übrigen Fächer – auf insgesamt nicht mehr Seiten als für die sprachlichliterarische Ausbildung – anschließen, ordnet für die halbjährlichen Examina und für das Jahresende als praktische Übungen lateinische und deutsche Reden von Seminaristen an und empfiehlt zudem, daß „die alte, neuerdings wieder in den Seminarien eingeführte Sitte der NeujahrsGratulationen und Anreden auch in Urach beobachtet wird, und die Seminaristen in mehreren Abtheilungen dem Ephorus, den Profeßoren und Repetenten eine Gratulation in Prosa oder gebundener Rede, deutsch oder lateinisch übergeben, und von jeder Abtheilung Einer sie mündlich vor dem betreffenden Lehrer deklamirt“. Dies alles sind Regelungen, die im Geist des frühneuzeitlichen Humanismus der Lektüre klassischer Autoren und der vielfältigen Übung vor allem in den klassischen Sprachen so breiten Raum geben, weil beides ihnen als das entscheidende Medium der Entwicklung der Sprachfähigkeit und mit ihr zugleich des Denkens gilt, und die dafür auch das Verfertigen von Versen, sei es als Ergänzung der Ausarbeitung bestimmter Themen, sei es als Form der Übersetzung,³³ nutzen.³⁴ Daß damit, daß mit den in den Statuten faßlichen Zielen und Formen
33 Vgl. dazu auch Hans-Henrik Krummacher: Sannazaro und Venantius Fortunatus in Nachdichtungen Mörikes. Materialien und Hinweise. In: Freundesgabe für Herbert Meyer (= Mannheimer Hefte 1978/2), S. 73–83. 34 Welcher Art derlei Übungen im einzelnen waren, wie mühevoll aber auch ihre Erfüllung begreiflicherweise für manchen Schüler gewesen sein muß, bezeugt ein auch sonst als Quelle für den Uracher Schulalltag aufschlußreicher Kalender aus dem Jahre 1821 (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand C 10/431/3) mit Tagebuchaufzeichnungen von Mörikes Mitschüler
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des Unterrichts im Uracher Seminar, die etwas von dem bildungsgeschichtlichen Fundament für das offenkundig besonders lange Fortleben der Gelegenheitsdichtung in Württemberg deutlich werden lassen, auch Mörikes Gedicht auf den Tod der Königin Katharina aufs engste zusammenhängt, daß seine Vertrautheit mit einer auf die Antike zurückgehenden Form der Gelegenheitsdichtung – auch wenn die in Urach verwendeten Lehrbücher nicht näher bekannt sind³⁵ – sich aus der Praxis des Unterrichts herleitet, ist zwar durch kein Dokument unmittelbar zu belegen. Aber die Wahrscheinlichkeit dieser ohnehin naheliegenden Vermutung wird bekräftigt durch die erhaltenen Unterlagen über eine Feier, die das Seminar in Urach ebenso wie andere Schulen zum selben Anlaß, dem Tod der Königin, veranstaltet hat und die ein konkretes Beispiel der in den Statuten begründeten Unterrichtspraxis ist.
Christoph Friedrich Wetzel (1805–1835, gest. als Pfarrverweser in Hohenstaufen; vgl. Christian Sigel: Das evangelische Württemberg. II. Hauptteil: Generalmagisterbuch. Mitteilungen aus dem Leben der evangelischen Geistlichen von der Reformation bis auf die Gegenwart. Typoskript in der LB Stuttgart. Bd. 17,2), worin u. a. zu lesen ist: „Das hebdomadar war heute bey Finckh, wir hatten das nämliche Thema zum lateinischen und griechischen sowie zu Versen; es ist aus Johannes v. Müller genommen d. Gründung von Marseille, ich ward erst sehr spät fertig“ (13.6). – „Wir bekamen von Finckh e kleines Argument für ds lat. u. griechische, statt der Verse müssen wir aus Horat: Sat: L.2. vs 80 sqq e. metrische Uebersezung liefern, womit es bei mir nicht schnell vorwärts geht“ (8.8.) – „Hebdomadar war heute bei Finckh. Ich ward dießmal zieml. bald fertig, es war nicht so schwer. D Thema zu Versen war: Wünsche für Griechenland, das wir poetisch behandeln sollen; ich habe übrigens nur 6 Verse gemacht“ (22.8.) – „Hebdomadar bey Koestlin. Den ganzen Tag ward ich mit dem lateinischen und griechischen gerade fertig, aber keine Verse, deßw. entschloß ich mich, heut Nacht aufzustehen, ich legte mich mit d Kleidern ins Bett u. stand um 1 Uhr auf, denn machte ich 6 Disticha bis 3 Uhr u. gieng wieder ins Bett“ (29.8.) – „Heute mußten wir noch einige Perioden griechisch machen u. den ersten Vers aus Schillers Lied: Zu Achen in sr Kaiserpracht p. in lat Verse übersezen“ (21.12.). – Ein jederzeit leichthändiger oder williger Verfertiger von Übungsversen scheint übrigens auch der Schüler Mörike nicht gewesen zu sein, der im letzten Schuljahr jedenfalls einmal „wegen betrüglich gelieferter Versification“ bestraft wurde (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand C 10/337, Strafverzeichnis 1822, Eintrag vom 12.5.). 35 Immerhin geht aus einem Brief von Christoph Friedrich Ludwig Neuffer vom 11.1.1819 an Mörike hervor, daß dieser seinen Onkel am 18. Dezember 1818, also kurz nach dem Eintritt in das Uracher Seminar, um einen „Gradus ad Parnassum“, d. h. wohl eines der herkömmlichen Hilfsbücher zum Verfertigen vor allem lateinischer Verse, gebeten hatte (vgl. Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller. Bd. 10. Briefe 1811–1828. Hrsg. v. Bernhard Zeller u. Anneliese Hofmann. Stuttgart 1982, S. 266, EB 4), den er dann aus dem Besitz des Onkels erhielt.
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Die Anweisung zu dieser Feier erging mit einem Reskript des K.Studienrats vom 25. Januar 1819, das am 6. Februar in Urach eintraf:³⁶ Dem Ephorus Hutten in Urach wird eröffnet, daß auf Sontag den 7ten März d.J. der allgemeine TrauerGottesdienst wegen des Ablebens der verewigten Königin Majestät /: mit Ausnahme der katholischen Kirchen, wo derselbe an einem Wochentag kurz zuvor gehalten wird:/ bestimmt ist. An dem Tage des TrauerGottesdienstes ist nun auch in dem Seminar Urach entweder von dem Vorsteher oder einem der Profeßoren eine Trauerrede, wozu die Honoratioren des Orts einzuladen sind, in lateinischer oder teutscher Sprache zu halten. Es ist nun hienach das Geeignete zu veranstalten und nachher anzuzeigen, von wem die Trauerrede und über welches Thema sie gehalten worden sey.
Am 10. Februar berieten der Ephorus und die beiden Uracher Professoren über die Gestaltung der Feier:³⁷ Ephorus macht den Vorschlag in Betreff der abzuhaltenden Trauerfeierlichkeit f.I.M.d.Königin daß eine Rede von Ephorus u n d einem der Professoren gehalten werden sollte – Zweitens wünscht Ephorus daß die Seminaristen dabei mit Vokal-Musik beschäftigt werden sollten nach näherer Bestimmung durch den Musiklehrer drittens scheint ihm die Zeit dazu die Stunde nach dem MittagGottesdienst geeignet sodann die Einladung der Honoratioren nach dem es der Raum erlaubt, erwünscht. Prof. Koestlin und Finckh sind mit Beziehung auf den Befehl der OberStud. Direction der Meinung, daß es am besten wäre, der Rede des Ephorus einige, allenfalls 2.Seminaristen mit ihren dichterischen Arbeiten folgen zu laßen – auch Ephorus ist damit einverstanden.
Am 8. März berichtete der Uracher Ephorus dem K.Studienrat über die tags zuvor abgehaltene Feier:³⁸ [...] haben vermöge AllerGnädigsten Befehls dat. 25.Jan. zu verordnen geruht, daß am 7ten März, als dem zu einem allgemeinen TrauerGottesdienst wegen des Ablebens der verewigten Königin Majestät bestimmten Tage, im hiesigen Seminar eine TrauerRede gehal-
36 Gerichtet an den Ephorus Johann Georg Hutten (1755–1834); Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand C 10/87. – Entwürfe für dieses und für entsprechende Schreiben an die anderen niedern Seminarien, an das Tübinger Stift und an die Gymnasien des Landes sowie die vorausgegangene diesbezügliche Anweisung des Ministeriums des Innern und des Kirchen- und Schul-Wesens an den K.Studienrat im Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand E 202, B. 85, Nr. 10–13. 37 Konventsprotokolle, Bd. 1, S. 14; Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand C 10/12. 38 Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand E 202, B.85, Nr. 23; neben den Berichten anderer Schulen hier auch die der niedern Seminarien in Blaubeuren, Schöntal und Maulbronn sowie des Tübinger Stifts (Nr. 17 und 20–22).
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ten, und sodann angezeigt werden soll, von wem und über welches Thema diese Rede gehalten worden sei. Indem ich diesem Befehl Allerunterthänigste Folge leiste, mache ich die Anzeige, daß die Rede von mir gehalten worden sei, und zwar über W o h l t h ä t i g k e i t , a l s F ü r s t e n - T u g e n d , i n g e s c h i c h t l i c h e r B e z i e h u n g , oder insofern diese Tugend von Volksherrschern auf eine ihren Geist, ihre Regierung und ihr Leben charakterisirende Weise nach dem Zeugniß der Geschichte ausgeübt worden, in Vergleichung mit dem, was Würtembergs Geschichte von der Wohlthätigkeit der verewigten Königin anzuerkennen und zu rühmen hat. Da unsre Zöglinge uns bißher manche, aller Beachtung würdige Beweise gegeben hatten, wie sehr sie den Verlust des Vaterlands mitfühlen, glaubten wir berechtigt zu sein, sie an der veranstalteten Trauerfeier besondern Antheil nehmen zu lassen, und gestatteten zweien derselben, Schneckenburger und Haldenwang, diese Gefühle öffentlich auszusprechen. Jener that es in teutscher Sprache, dieser in einem lateinischen Gedicht. Das Ganze war zu Anfang, zwischen den einzelnen Reden und zu Ende mit musikalischen anpassenden Gesängen begleitet, wozu die Seminaristen von dem Musiklehrer wohl und fleißig vorbereitet waren. Auch nahmen mehrere Honoratioren der Stadt, an welche dem Befehl gemäß, so weit es das beengte Lokal des Lehrzimmers gestattete, die Einladung geschehen, an dieser Feierlichkeit Antheil.
Das in diesem Bericht erwähnte lateinische Gedicht des Seminaristen Haldenwang³⁹ scheint nicht erhalten zu sein. Erhalten aber ist die Rede Schneckenburgers.⁴⁰ Sie lautet:
39 Karl Georg Haldenwang (1803–1862), Pfarrer, zeitweilig Redakteur des Schwäbischen Merkur und der Württembergischen Zeitung (vgl. Sigle: Das evangelische Württemberg. II. Hauptteil, Bd. 12,2), war mehrfach Primus der Uracher Promotion und ging als solcher im Herbst 1822 an das Tübinger Stift; vgl. den Abdruck der entsprechenden Liste der Uracher Seminaristen in: Eduard Mörike. 1804. 1875. 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. (= Kataloge zu den Sonderausstellungen im Schiller-Nationalmuseum. Katalog Nr. 25), S. 60f. 40 Rede gehalten bey der Todesfeyer der verewigten Koeniginn Catharina v.W. den 7. Maerz 1819 von Math.Schneckenburger: Handschriftenabteilung der UB Tübingen, Md 930/16, im Teilnachlaß von Karl Wilhelm Gottlieb Köstlin (1785–1854), seit 1818 Professor und von 1846 an Ephorus in Urach (vgl. ADB 16, 757f.). Unter dieser und der Signatur Md 930/15 enthält der Bestand zu anderen Anlässen auch eine weitere deutsche Rede und je ein deutsches und lateinisches Gedicht von Schneckenburger sowie deutsche und lateinische Gedichte und eine lateinische Rede anderer Schüler aus etwas späteren Jahren. – Mathias Schneckenburger (1804–1848), 1822 als Dritter der Uracher Promotion (s. Anm. 39) ins Tübinger Stift eingetreten, seit 1834 Professor der Theologie in Bern (vgl. u. a. ADB 32, 86–88), wird wiederholt in Mörikes Uracher Briefen an Waiblinger (Eduard Mörike: Werke und Briefe. Bd. 10. Briefe 1811–1828, S. 23, 28, 34) und in Waiblingers Tagebüchern aus den Jahren 1821 bis 1823 erwähnt (Wilhelm Waiblinger: Tagebücher 1821–1826. Textkritische und kommentierte Ausgabe in zwei Bänden. Hrsg. v. Hans Königer. Stuttgart 1993; vgl. auch zwei Briefe an Schneckenburger in: Wilhelm Waiblinger:
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Verehrteste Anwesende Liebe Freunde. Unaussprechlich sind die Gefühle, mit denen ich rede, heute, am Tage der Todesfeyer unsrer allverehrten Königinn, die Gottes Lenkung in ihrer besten Lebenskraft so unerwartet abrief. Hart, sehr hart ist die Wunde, die uns geschlagen wurde, unersezlich unser Verlust. Eine Königinn beweinen wir, welche die grösten Vorzüge des Herzens und Geistes in sich vereinigend die Zierde ihres Thrones, eine wahre Landesmutter, die Beglükerinn ihres Volkes war. Ach warum, möchten wir fragen, warum liegt Gottes Hand so schwer auf uns, warum entzog sie unserm Vaterlande eine so preiswürdige Fürstin, der Menschheit ein so wohlthätiges Wesen; warum den Waisen ihre Mutter, den Armen ihre Stüze, den Bedrängten ihre Zuflucht? Unsre Wege sind nicht des Herrn Wege, und unsre Gedanken sind nicht seine Gedanken! Das fühlen wir wohl, fühlen es besonders bey diesem erschütternden Schlage. Sie ist von hinnen geschieden, unsre gute Königinn, sie weilet schon im beßern Lande, und ist in den Gefilden der Unsterblichkeit mit der Siegeskrone geschmükt, während hier unsre Thränen um sie fließen, während wir trauern über unsern Verlust, und Gottes Fügung nicht begreifen. Sie waltet nicht mehr unter uns die hohe Seele, mit allen ihren Tugenden und Vorzügen, die Unvergeßliche mit dem Herzen, das so warm für Menschenglük schlug, das mit so viel Selbstverläugnung sich hingab dem Rufe deßen, was sie als Pflicht erkannte, das zur Zeit der Noth unser Trost und unsre Zuflucht war; entschwunden ist sie ihrem Gatten die würdigste Gattin, ihren Kindern die zärtlichste Mutter und Pflegerinn – entflohen, gehemmt ist sie, die Mutter des Vaterlandes, mitten in ihrer segensreichen Laufbahn, auf der sie nur zum Wohl der Menschheit werkte – hingeschwunden wie ein strahlender Stern, der eine Zeitlang glänzendes Licht verbreitet, aber plötzlich von trüben Wolken überdekt wird; sie ist ihrem Volke entrükt, doch Zeugen hat sie zurückgelaßen, daß sie unter uns war, und nicht vergeblich da war, ein Denkmal hat sie sich gegründet in der Seele jedes Rechtschaffenen, das wie diese selbst unvergänglich ist. Das Gedächtniß des Gerechten bleibt im Segen, sagt die Bibel, möge auch ihr Gedächtniß segensreich unter uns wirken, und uns anspornen, dem Vorbilde, das sie uns zurückließ nachzueifern, das Gute, das sie stiftete, fest zu bewahren, und soviel in unsern Kräften steht, zu vervollkommnen. Uns besonders, liebe Freunde, die wir berufen sind, einst Lehrer der Religion zu werden, möge ihr Vorbild zu einem regen Eifer entflammen, uns die Tugenden zu erwerben, welche sie, die Verewigte zierten, und welche die holdesten Früchte des Christenthums sind, um dieses einst, wie durch Worte so durch die That zu verkündigen. So wollen wir unsre Trauer um die Dahingeschiedne veredeln – sie hat frühe vollendet, aber um so herrlicher. Laßt uns den Willen Gottes ehren, den wir nicht zu ergründen vermögen, der Vollendeten aber auf der Bahn des Edeln und Guten nachstreben zu dem Ziele, das auch uns herrlich entgegenleuchtet. So wird in der That ihr Gedächtniß gesegnet bleiben, und ihr Werk fortleben noch in die spätesten Geschlechter, der gute Same, den sie ausstreute, wird reichliche Früchte treiben, noch die Enkel werden ihr Andenken ehren, und unser Vaterland den Tag segnen, an dem sie die seinige ward.
Werke und Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. v. Hans Königer. Bd. 5,1. Sämtliche Briefe. Text. Stuttgart 1982, S. 61, 146f.).
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Dieser Text – geschrieben in einer dem Anlaß gemäßen und auf die mitfühlende Teilnahme der Zuhörer zielenden Sprache nach den Anleitungen der Rhetorik – ist eine regelgerechte oratio funebris, die denselben aus der spätantiken Theorie des genus demonstrativum stammenden Dispositionsregeln wie das Epicedium folgt. Sie bietet, nach einer ersten knappen Bekundung der allgemeinen Trauer und der eigenen Betroffenheit, vom dritten Satz an eine ausführliche, die Gaben und Tugenden wie die Taten der Verstorbenen würdigende laudatio, die von wiederholter Klage und der Feststellung des eingetretenen Verlusts durchzogen ist und von ersten Andeutungen des Trostes. Er wird – beginnend mit einem gattungstypischen „doch“ („doch Zeugen hat sie zurückgelaßen“) am Ende des Hauptteils – abschließend entfaltet in den beiden letzten, vom übrigen Text abgehobenen Abschnitten, bestimmt vom Hinweis auf die Dauer der Taten der Verstorbenen und ihres Gedächtnisses und von der Aufforderung an die Lebenden, ihrem Tun nachzustreben. Zu dieser Rede Schneckenburgers stellt das Gedicht Mörikes zum Tod der Königin Katharina nach Inhalt und traditionsreicher Form ein poetisches Seitenstück dar. Auch wenn der Bericht des Ephorus Hutten belegt, daß es nicht etwa bei der Feier des Uracher Seminars vorgetragen worden ist,⁴¹ so ist doch nicht zuletzt angesichts der Dokumente zur Uracher Trauerfeier für die Königin unverkennbar, daß es jedenfalls von der Unterrichtspraxis des Seminars angeregt, wenn nicht aus ihr hervorgegangen sein muß. Als Zeugnis aber für die Eigenart der frühesten Anfänge Mörikes, die hier greifbar werden, und für die Bildungswelt, aus welcher sie erwachsen, besitzt es dadurch besondere Bedeutung, daß es keineswegs allein steht. Es gibt ein schon lange bekanntes anderes Trauergedicht: Auf Erlenmayers Tod, 2. Juni 1820 (Bei einer Trauerfeier der Uracher Promotion),⁴² das dem Tod
41 Daß es gleichwohl zunächst im Blick auf diese Feier entstanden sein könnte, dafür könnten nicht nur das Datum seines Erscheinens im Armen-Freund, der diesem Datum entsprechende Hinweis auf den Trauer-Gottesdienst, der am 7.3. überall abgehalten wurde, und die zweimalige Anrede an die „Freunde“ (v.8 und 28) sprechen, die sich auch in Schneckenburgers Rede findet, sondern auch der Hinweis im Bericht des Ephorus auf die von den Schülern gegebenen „Beweise [...], wie sehr sie den Verlust des Vaterlands mitfühlen“, und die Tatsache, daß im Protokoll der Beratung des Lehrerkollegiums über die Feier die zur Mitwirkung heranzuziehenden Schüler noch nicht namentlich genannt werden. Man könnte sich vorstellen, daß die Auswahl ihrer Beiträge – auch wenn sie schließlich von zwei der besten Schüler der Promotion stammten, zu deren Zahl Mörike nie gehörte – das Ergebnis eines Wettbewerbs, an welchem Mörike sich mit seinem Gedicht beteiligt hat, oder eines allen Schülern aufgegebenen Exercitiums war. 42 Zuerst 1909 – nach einer in Weimar liegenden Abschrift, dem einzigen (bei der Angabe des Datums – s. Anm. 43 – fehlerhaften) Textzeugen – veröffentlicht von Maync (Eduard Mörike:
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eines Uracher Mitschülers⁴³ gilt. Auch dies ist ein Epicedium, das die traditionellen Anweisungen der Poetik variierend befolgt und in seiner Anlage und seinen Einzelzügen von ihnen aus sich erschließt.⁴⁴ Wie dieses so geht auch das Gedicht Die Liebe zum Vaterlande auf den 31. Decbr. 1819. Seminar. Urac:⁴⁵ auf die Uracher Schulübungen zurück. Es feiert die Annahme der neuen Verfassung Württembergs, auf welche sich der König und die Stände im Herbst 1819 nach jahrelangen Auseinandersetzungen verständigt hatten, und dürfte mit der „Rede“⁴⁶ identisch sein, die Mörike im Rahmen des in § VI der Uracher Statuten für den Jahreswechsel vorgesehenen Redeactus zu halten hatte. Ein weiteres Gelegenheitsgedicht, das ebenfalls auf die lange Tradition der Kasualdichtung zurückweist, ist durch einen Brief an Waiblinger (um den 25.2.1822) bezeugt: „Sieh, was die Reimerey bescheert! Da bekomm ich von einem hießigen Philister (Kammerrath Bilfinger) dem ich im Namen der Promotion zum Geburtstag gratulieren mußte (im December) zum Dank ein Buch
Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Hrsg. v. Harry Maync. Bd. 1, Leipzig, Wien o.J., S. 273f.). 43 Johann Carl August Erlenmaier, geb. am 19.4.1803, starb nach dem Uracher Inskriptionsbuch (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Bestand C 10/11, S. 5) am „2. Jul. 1820 im elterlichen Hauß zu Mönsheim“. Wie tief sein Tod die Mitschüler getroffen haben muß, zeigt auch ein erinnernder Tagebucheintrag C.F. Wetzels (vgl. Anm. 34) unter dem 2.7.1821: „Heute ist es ein Jahr seit Erlenmaiers Tod in Möhnsheim“. 44 Offen bleiben muß vorläufig, ob das im Armen-Freund vom 20. Mai 1819 gedruckte, nur mit dem Namen „Mörike“ gezeichnete Epicedium „Nachruf an Catharina Paulowna“ ebenfalls von Eduard Mörike oder von seinem älteren Bruder Carl (vgl. Anm. 16) stammt. 45 So der Titel in der korrekt erstmals von Werner Richter (Mörikes Jugendgedicht „Die Liebe zum Vaterlande“. In: Schwäbischer Schillerverein. Sechzehnter Rechenschaftsbericht über das Jahr 1911/12, S. 46–53) wiedergegebenen Handschrift. – Auch zum Anlaß dieses Gedichts übrigens veröffentlichte z. B. der Armen-Freund im Herbst 1819 eine Reihe von Gedichten und von Berichten über Verfassungs-Feiern. 46 Mörike: Werke und Briefe. Bd. 10. Briefe 1811–1828, S. 18: „Soeben bekomm ich die Nachricht, daß ich am Neuen Jahre eine Rede halten muß. – – (!!)“ (an die Mutter, 4.12.1819). In Mörikes Nachlaß (Goethe und Schiller Archiv Weimar II,19 und IV,1,3) liegen zwei offenkundig von der Hand K.W.G. Köstlins stammende Blätter mit der Aufforderung zur Einübung der Deklamation und Änderungsvorschlägen zu dem Gedicht, die den begreiflichen helfenden Anteil der Lehrer an derartigen Übungen erkennen lassen, mit ihrer verständigen Gründlichkeit aber auch die solchen Übungen beigemessene Bedeutung belegen. Vgl. im übrigen auch einen Brief des Onkels Neuffer an Mörike vom 21.1.1820, z.T. abgedruckt im Marbacher Ausstellungskatalog von 1975 (s. oben Anm. 39), S. 63 (davor hier ein Auszug aus Köstlins Ratschlägen, irrtümlich Johannes Mährlen zugeschrieben aufgrund der Aufbewahrung des einen Blattes bei dessen Briefen an Mörike).
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zum Geschenk. Wirklich [i.e. jetzt] ist der Vicar of Wackefield in einer deutsch. Übersezung unter uns“.⁴⁷ Diese in Handschriften oder im Druck überlieferten oder in Briefen erwähnten Gedichte – bis in das Jahr 1822 hinein die gewichtigsten der Uracher Jahre⁴⁸ und sicherlich nicht die einzigen ihrer Art, die damals entstanden – führen anschaulich vor Augen, wie sehr die frühen poetischen Hervorbringungen Mörikes mit dem Unterricht im Uracher Seminar zusammenhängen und wie sehr dieser ihn mit der weit zurückreichenden Gepflogenheit der Kasualdichtung vertraut gemacht und ihm deren in Rhetorik und Poetik überlieferten Voraussetzungen und Verfahrensweisen vermittelt haben muß. Aber waren das gleichwohl nur längst obsolete Exercitien, so ernst die Schulordnungen und die Lehrer sie noch nahmen? Gewiß, die Gedichte schon der allernächsten Jahre, vom Ausgang der Uracher Zeit bis zum Ende des Studiums im Herbst 1826,⁴⁹ sind in eindrucksvoller Weise andersartig, von großer poetischer Selbständigkeit und ungemeiner sprachlicher Sicherheit. Das hat man oft genug und mit allem Recht festgestellt und bewundert.⁵⁰ Sind damit aber die traditionsbedingten Erstlinge des Uracher Seminaristen für immer abgetan? Sind sie damit als alte Zöpfe erwiesen, die mit gutem Grund schon der Student rasch, entschieden und für immer abgelegt hätte? Oder sind aus diesen frühesten Hervorbringungen nicht doch Einsichten für die Eigenart von Mörikes Werk und seiner Entwicklung zu gewinnen?
47 Mörike: Werke und Briefe. Bd. 10. Briefe 1811–1828, S. 30. Der Uracher Rentkammer-Rat und Stadtrechnungskommissär Christoph Friedrich Bilfinger (1753–1837) war von 1818 bis 1823 auch Ökonomieverwalter des Seminars. 48 Sie unterscheiden sich übrigens in Wortwahl und Ausgestaltung der Motive schon deutlich von dem frühesten bekannten Gedicht: Ein Wort der Liebe den besten Ältern von Eduard Möricke an seinem eilften Geburts Tage (zuerst in: Werke. Hrsg. v. Harry Maync. Bd. 1, S. 480ff.), das – bei allen Schwächen – zugleich die helfende Hand eines Erwachsenen vermuten läßt. 49 Darunter bereits Stücke wie An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang (1825), Erinnerung (1822), Gesang zu Zweien in der Nacht (1825) oder Der Feuerreiter (1824). 50 Vgl. z. B. Gerhard Storz: Eduard Mörike – der Dichter zwischen den Zeiten. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 492–503 (u. a. S. 496: „Denn zum Erleben und Erleiden fügten sich [...] Gestaltungskraft von eigener Art und hohem Rang, eine frühe, erstaunliche Sprachmächtigkeit“. – Ulrich Hötzer: Eduard Mörike. In: Literatur im deutschen Südwesten. Hrsg. v. Bernhard Zeller u. Walter Scheffler. Stuttgart 1987, S. 204–217 (S. 207: „ Es ist nicht zu erklären: Während Goethe im Stil der Anakreontiker beginnt [...] tritt Mörike von Anfang an, einige bedeutungslose Gedichte der Seminarjahre nicht mitgerechnet, ganz als er selber auf, reif und vollendet“). – Bernhard Zeller: Eduard Mörike. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hrsg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 5. Romantik, Biedermeier und Vormärz. Stuttgart 1989, S. 480–499 (S. 494: „bewundernswert aber auch die Souveränität und Sicherheit, mit der Mörike schon in jungen Jahren gleichsam mühelos die verschiedenen Möglichkeiten der literarischen Maße und Normen meistert“).
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Schon ein Blick in die 1838 erschienene Ausgabe seiner Gedichte mit ihrer großen Vielfalt, mit ihren mancherlei Gedichten an Personen und zu Gelegenheiten, mögen sie sich auch kaum noch bestimmten herkömmlichen genera der Kasualdichtung zuordnen lassen, gibt – ganz zu schweigen von der Vielzahl späterer häuslicher oder freundschaftlicher Gelegenheitsgedichte – hinreichenden Anlaß, derartige Fragen zu bedenken. Die Forschung, die natürlich den hohen und in späteren Jahren so offenkundig noch zunehmenden Anteil des Gelegentlichen in Mörikes Werk nie übersehen konnte,⁵¹ hat in jüngerer Zeit – im selben Maße, in welchem auch sonst unter dem Vorzeichen insbesondere eines erweiterten Literaturbegriffs und sozialgeschichtlicher Interessen nicht nur die Kasualdichtung des Barock zunehmend zum Gegenstand der Untersuchung gemacht, sondern da und dort auch die nachbarocke Gelegenheitsdichtung beachtet worden ist⁵² – das Phänomen der Gelegenheitsdichtung bei Mörike als eines wesentlichen Teils des Werks verstärkt in dessen Deutung einbezogen.⁵³
51 Vgl. schon früh Rudolf Krauß: Eduard Mörike als Gelegenheitsdichter. Stuttgart u. a. 1895 und Rudolf Krauß: Schwäbische Litteraturgeschichte. Bd. 2. Die württembergische Litteratur im neunzehnten Jahrhundert. Freiburg i.Br., Leipzig, Tübingen 1899, S. 103f. oder einige Jahrzehnte später, am Beginn der neueren Mörike-Forschung Benno von Wiese: Eduard Mörike. Tübingen, Stuttgart 1950, S. 238: „Zwischen Gelegenheitsdichtung und Kunstdichtung im engeren Sinne darf man bei Mörike nicht scheiden. Im Grunde entspringt ihm alles jeweilig, bei Gelegenheit“. 52 Vgl. dazu neben den in Anm. 20 genannten Arbeiten von R. Breymayer und dem Buch über Das Gelegenheitsgedicht von W. Segebrecht auch dessen Aufsatz: Goethes Erneuerung des Gelegenheitsgedichts. In: Goethe Jahrbuch 108 (1991), S. 129–136 sowie u. a. Ernst M. Oppenheimer: Goethe’s Poetry for Occasions. Toronto, Buffalo 1974. – Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 2. Die Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 527ff. (mit einer freilich durch den Blick auf die Biedermeierzeit beschränkten historischen Perspektive). – Elisabeth Stopp: Arnim’s Luisen-Kantate as Romantic Occasional Verse. In: Aurora 46 (1986), S. 87–98. 53 Am nachdrücklichsten in dem ergebnisreichen Buch von Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972; ferner von derselben Verfasserin: Kunst im Hausgebrauch. Überlegungen zu Mörikes Epistel „An Moriz von Schwind“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15 (1971), S. 280–296 (bes. S. 281ff.) und: Zur Anordnung der Gedichtsammlung Mörikes. Welchen Anteil daran hatte Hermann Kurz wirklich? In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 384–394 (bes. S. 393f.); vgl. auch die insbesondere an R. v. Heydebrand anknüpfenden Hinweise bei Victor G. Doerksen: Die Mörike-Literatur seit 1950. Literaturbericht und Bibliographie. In: DVjs 47 (1973), Sonderh., S. 343*–397* (bes. S. 363*, 366*f.) und Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3. Die Dichter. Stuttgart 1980, u. a. S. 719, 733 sowie schon die von Sengle betreute, um angemessenes Verständnis bemühte Untersuchung von Anne Ruth Strauß: Mörikes Gelegenheitslyrik. Zum Verhältnis von Kern und Peripherie in seinem dichterischen Werk. Diss. Marburg 1960 (Masch.). Enttäuschend hingegen die Arbeit von Susanne Fliegner: Der
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Aber sie hat gleichwohl, statt hier einen Ursprungsbereich für spätere Gepflogenheiten dieses Autors zu vermuten, Uracher Gedichte wie Auf Erlenmayers Tod oder Die Liebe zum Vaterlande doch ebenso wie schon die ältere Forschung⁵⁴ als „Gelegenheitsgedichte im herkömmlichen Sinn“⁵⁵ kurzweg abgetan. Und sie hat die hier sich stellende Frage nach bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen des weiteren Werks auch da, wo sie sich in besonderer Weise aufdrängt, bei der auffälligen Bedeutung, die antike Überlieferung, die Beschäftigung mit antiker Dichtung für Mörike seit seinen mittleren Jahren gehabt hat, kaum gestreift,⁵⁶ geschweige denn näher verfolgt. Hier aber, in der jedenfalls in Württemberg und seinem Schulwesen immer noch starken Präsenz einer langen humanistischen Überlieferung, in den ihr tief verpflichteten Zielen, Gegenständen und Übungsformen, die – faßlich in den Statuten des Uracher Seminars wie in den poetischen Hervorbringungen dieser Jahre – Mörikes Schulzeit bestimmten und ihm eine intensive, traditionsgesättigte sprachlich-literarische Ausbildung vermittelten, liegen die Grundlagen nicht nur seiner Vertrautheit mit antiker Dichtung, wie sie sich dann in den eigenen Gedichten – nicht nur denen in antiken Formen – und den Übersetzungswerken niederschlägt, sondern auch der prägnanten literarischen Begriffe, welche lebenslang seinen kritischen Umgang mit Texten geleitet haben, wie der Entfaltung seiner eigenen poetischen Fähigkeiten und Verfahrensweisen. Sie begnügen sich zwar sehr bald schon nicht mehr mit den genera, zu welchen der Schüler zunächst angeleitet wurde. Aber man müßte schon sehr gering von den produktiven Möglichkeiten der vom Humanismus begründeten frühneuzeitlichen Literatur denken, wollte man in ihren Fundamenten, in Rhetorik und Poetik, und deren
Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, die, skizzenhaft und auf eigene Quellenforschung verzichtend, historisch unzureichend fundiert ist und sich die vorhandenen Zeugnisse zur realen geselligen Funktion von Mörikes späterer Gelegenheitsdichtung entgehen läßt. 54 Vgl. Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart 51944 (11902), S. 26, 50f. – Karl Fischer: Eduard Mörikes Leben und Werke. Berlin 1901, S. 27 („Trauergedicht [...] dessen Abdruck hier ohne besonderes Interesse wäre“). 55 R. v. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, S. 156: „Mörike begann als Knabe und Schüler mit einigen Gelegenheitsgedichten im herkömmlichen Sinn [...] Den konventionellen Anlässen entsprechen die konventionellen Themen“; vgl. auch die in Anm. 50 zitierte Bemerkung von Hötzer. 56 Einige Hinweise, die aber doch sehr allgemein bleiben, insbesondere bei R. v. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, u. a. S. 254, 274, 321 und F. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3, u. a. S. 747f. („es ist bei allen Schülern alter theologischer Bildungsanstalten anzunehmen, daß sie der Rhetorikunterricht seit der frühesten Jugend zum bewußten und aufmerksamen Umgang mit der Sprache veranlaßt hat“).
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Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte
Anweisungen zur literarischen Produktion gerade auch von Gelegenheitsgedichten nur simple Rezepte sehen. Sprachlich-literarische Ausbildung im Bereich des genus demonstrativum, dessen Frucht die Fülle und Vielfalt frühneuzeitlicher Kasualdichtung ist, bedeutet nicht nur Anweisung zu einem mechanischen Versemachen, ist vielmehr – in den Vorschriften für einzelne genera und über sie hinaus – vor allem Anleitung zu genauem Bedenken eines konkreten Gedichtanlasses, Übung in der Entfaltung eines poetischen Textes aus solchem Anlaß, vermittelt Sicherheit in der Herleitung eines angemessen disponierten Gedichtablaufs, wie er an den Uracher Gelegenheitsgedichten bereits wahrzunehmen ist, und ist Schulung eines kritischen Kunstverstandes, wie ihn Mörike später in der Beratung anderer Autoren mannigfach erwiesen hat.⁵⁷ Gewiß hat auch Mörike Anteil an der im Lauf des 19. Jahrhunderts immer endgültiger vollzogenen Auflösung einer langen rhetorisch-poetischen Tradition, und natürlich setzt seine spätere Gelegenheitsdichtung nicht einfach nur die Formen der aus einer rhetorisch fundierten Poetik sich herleitenden älteren Kasualdichtung, in der er sich in seiner Schulzeit noch geübt hatte, fort. Aber in ihr, in solcher frühen Vertrautheit mit ihr liegen ohne Zweifel nicht nur die Voraussetzungen dafür, daß Gelegenheitsdichtung auch später für Mörike in besonderem Maße eine ständig genutzte, gänzlich unverächtliche Möglichkeit poetischer Artikulation bleibt, sondern vor allem auch für die Ausbildung der eigentümlich gegenstandsgesättigten Anschaulichkeit seiner gesamten Lyrik, die man immer wieder als ein besonderes Merkmal dieses Autors hervorgehoben hat.⁵⁸ Nimmt man die Uracher Anfänge und die darin noch so nachdrücklich vermittelte Tradition der intensiven Lektüre klassischer exempla und der daran geschulten sprachlich-literarischen exercitatio ernst, so könnte sich wohl die komplizierte Eigenart von Mörikes Werk gerade aus der Verbindung von humanistischer Überlieferung und persönlichster poetischer Begabung mit den Impulsen klassischer und romantischer Literatur – der Literatur der eigenen Gegenwart, mit welcher der junge Autor neben der antiken Dichtung allmählich schon in Urach und zunehmend dann in der Tübinger Studienzeit bekannt wird – und mit den Erfahrungen der Zeit und der eigenen Biographie besser verstehen lassen.
57 Vgl. dazu innerhalb der historisch-kritischen Mörike-Ausgabe den Band 9 (Bearbeitung fremder Werke. Kritische Beratungen), den Hans-Ulrich Simon in mehreren Teilbänden herausgibt. 58 Vgl. dazu u. a. Dagmar Barnouw: Entzückte Anschauung. Sprache und Realität in der Lyrik Eduard Mörikes. München 1971. – Marcella Burger: Die Gegenständlichkeit in Mörikes lyrischem Verhalten. Diss. Heidelberg 1948 (Masch.). S. auch R. v. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, u. a. S. 270.
Teil III: Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik
1 Lehr- und Trostreiche Lieder Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts Mit bedenklichem, ja mißbilligendem Ton von der ausgedehnten geistlichen Dichtung Johann Rists zu sprechen, die weit mehr als sechshundert Lieder in zehn Sammlungen¹ umfaßt, und nicht zuletzt aus solcher Fülle Urteile über diese in ihrer Eigenart nicht mehr verstandene Produktion abzuleiten – das ist ein kaum irgendwo ausgelassenes Klischee nicht nur in der an Quellenkenntnis immerhin noch reichen hymnologischen und literarhistorischen Forschung des 19. Jahrhunderts.² Selbst in Darstellungen der letzten Jahrzehnte spricht man vom geistlichen Werk dieses zu seiner Zeit hochangesehenen Dichters, dessen Lieder einst in beträchtlicher Zahl in Gesang- und Erbauungsbücher Eingang gefunden haben³ und mit fünf Beispielen noch im überlieferungsfeindlichen neuesten Evangelischen Gesangbuch präsent geblieben sind, als von der „Nicht-Dichtung eines Nicht-Dichters“ und von seiner offenkundig als befremdlich empfundenen „Absicht, ‚die ganze Theologie‘ in erbauliche Verse zu bringen“, – meint man mit sichtlichem Vorbehalt, daß Rist kein „einschlägiges Thema [...] ausgelassen“, „jede geistliche Seelenregung [...] ins Wort gefaßt“ habe, – glaubt man feststellen zu können: „Bei ihm ‚tritt der Dichter, der inneres Erleben aussprechen möchte, bald zurück zugunsten des Pfarrers, der Erbauung und später ausschließlich Belehrung seiner Gemeinde erstrebt‘. So kommt es, daß im Laufe der Jahre eine wachsende Zahl seiner Lieder nur versifizierte Paraphrasen biblischer Texte mit moralischer Anwendung sind,
1 Vgl. dazu das Quellenverzeichnis am Ende dieses Beitrags und die Angaben über weitere Auflagen in der Rist-Bibliographie bei Dünnhaupt 1991, S. 3374–3432. Weitere Lieder geistlichen Inhalts finden sich im Anhang von Rists früher Gedichtsammlung Poetischer Lust-Garte (Dünnhaupt Nr. 10) und als Ergänzung der Prosatexte in Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit (Dünnhaupt Nr. 79). 2 Vgl. dazu u. a. Cunz 1855, S. 550f.; E. E. Koch 1867, S. 222; von Winterfeld 1845, S. 370, 435ff.; Gervinus 1853, S. 258f. S. auch das entsprechende Urteil in den späteren knappen Darstellungen zur Geschichte des Kirchenlieds von Nelle 1904, S. 106 und Gabriel 1935, S. 82. Vielfältige kritische Hinweise zur Geschichte der Rezeption und Beurteilung von Rists geistlicher Dichtung gibt die umfangreiche Dissertation von Madill 1984 über Johann Rist as a hymnwriter, doch bleibt sie, wo sie sich mit dem Werk selbst befaßt, ihrerseits vielfach in konventionellen Kriterien befangen. 3 Vgl. dazu die keineswegs vollständigen Hinweise bei Fischer 1878/79 (Register); Hansen 1872; E. E. Koch 1867, S. 216ff.; von Winterfeld 1845, S. 364ff.
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Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik
was bei der immensen Produktivität Rists nicht überrascht“.⁴ So kann über Rist nur urteilen, wer – allen Wandlungen der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zum Trotz – geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts aus ihrem Funktionszusammenhang gelöst betrachtet und am erst später entstandenen Begriff autonomer Literatur mißt, wer die Traditionsvoraussetzungen gerade solcher Dichtung ignoriert und wer offenkundig nicht einmal die vielfältigen und prägnanten Hinweise, die Rist selbst zu seinen Gegenständen, seinen Absichten und Verfahrensweisen auf den Titelblättern und in den umfangreichen Vorreden seiner Sammlungen gegeben hat, einer näheren Beachtung für wert hält. „Lehr- und Trostreiche Lieder“ – so hat Rist seine Texte auf den Titelblättern von vier Sammlungen genannt: Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle (1659), Seelenparadis [...] Alten Testaments (1660), Seelenparadis [...] Neuen Testaments (1662) und Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten (1664). Und mit einer ähnlichen, doch umfangreicheren Kennzeichnung werden „Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder“ auf den Titelblättern von drei anderen Sammlungen in den Jahren zuvor angekündigt: Sabbahtische Seelenlust (1651), Fest-Andachten (1655) und Katechismus Andachten (1656). Daß diese wiederkehrenden Wendungen keine bloßen Formeln sind, sondern programmatischen Charakter haben, zeigen Stellen in Rists Vorreden, an welchen sie wieder begegnen und der näheren Erläuterung der Sammlungen und ihrer Absichten dienen. Doch stammen sie nicht von Rist, sondern verweisen auf eine Tradition
4 Diese Zitate aus: Browning/Teuscher 1980, S. 40; Rößler 1990, S. 52; Frank 1995, S. 361. Frank zitiert im ersten Satz der angeführten Stelle die Dissertation von Fries 1964, S. 77, wo es weiterhin (S. 78) heißt: „Seine Produktivität ist nicht zu überbieten [...]. Leider erweist sich der Verdacht einer übertriebenen Produktionsfreudigkeit des Verfassers bei der Durchsicht der 658 Kirchenlieder als gerechtfertigt“. Vgl. ferner u. a. Kohlschmidt 1965, S. 47f. oder – in einem immerhin umfangreichen Rist-Kapitel – Scheitler 1982, S. 253: „Die im Laufe der Jahre zunehmende Sorge um das Seelenheil seiner Mitmenschen hatte selbstverständlich Auswirkungen auf Rists Dichten. Er glaubte sich offensichtlich verpflichtet, seine Ziele durch eine möglichst große Produktion erreichen zu sollen [...]. Rists dichterische Kraft war dieser riesenhaften Produktion nicht gewachsen [...]. Seine Lieder wurden [...] lehrhafter; die ‚Poesiehaftigkeit‘ wich der Routine des Predigers.“ Zurückhaltender Gaede 1971, S. 164 oder Meid 1983, S. 86, verständiger, wenngleich die Voraussetzungen von Rists geistlicher Dichtung nicht näher bedenkend, Lohmeier/Reichelt 1984, S. 352ff. Manche jüngeren Darstellungen zur Literatur des 17. Jahrhunderts oder zur Lyrikgeschichte begnügen sich mit einer nur beiläufigen Erwähnung von Rists geistlicher Dichtung oder übergehen sie ganz.
Lehr- und trostreiche Lieder: Johann Rist
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von Aufgaben und Zwecken geistlicher Literatur, in welche Rist sich mit ihnen stellt.⁵ Trost zu vermitteln, den geistlich Angefochtenen, aber auch durch mancherlei weltliche Ängste Geplagten – das ist eine zentrale, vielfach schon in den Titeln genannte Aufgabe der im späteren Mittelalter zunehmenden und nach der Reformation verstärkt wachsenden Erbauungsliteratur, die zu den am meisten verbreiteten Erscheinungen der Literatur im 16. und 17. Jahrhundert gehört.⁶ Am Vorabend der Reformation und als eine ihrer Voraussetzungen wirksam wie dann in deren Gefolge und als deren Frucht verschärft sich die geistliche Trostbedürftigkeit zur brennenden Sorge um das Seelenheil und die Gnade Gottes. Solche Sorge findet im Wirkungsfeld der Reformation ihre Antwort in Luthers neuem Verständnis des Evangeliums als Verkündigung der Sündenvergebung allein aus dem Glauben an die erlösende Kraft des Opfertodes Christi. Diese Einsicht mit ihren Konsequenzen wird zur Voraussetzung wirksamen geistlichen Trostes; beides: das rechte Verständnis des Evangeliums, die reine Lehre und den darin begründeten Trost zu vermitteln, ist damit Aufgabe nicht nur der Erbauungsliteratur, sondern auch der Predigt und anderer Formen geistlicher Literatur. Wie bei Luther die Tröstung der angefochtenen Gewissen aus seinem eindringlichen Bemühen um den rechten Sinn des Evangeliums erwächst, läßt sich an den frühen Sermonen der Jahre 1518 bis 1520 beobachten,⁷ die als Flugschriften verbreitet und vielfach geradezu als konsolatorische Texte rezipiert worden sind.⁸ Und überall in seinen Predigten hebt Luther eigens hervor, was aus dem behandelten Bibeltext an Lehren und was aus ihm als Trost zu entnehmen ist.⁹ Bei allen Wandlungen von Theologie und Frömmigkeit, die auch das
5 Einige Hinweise dazu schon bei Krummacher 1976, S. 83f., 130f. und Krummacher 1987b, S. 278f., 290 (kritisch zu Scheitler 1982, S. 232f., 262ff.). Wie I. Scheitler verkennt auch Madill 1984, S. 335, 337 jene Tradition in entsprechenden Bemerkungen Rists. 6 Zu den an dieser Stelle notgedrungen knappen Hinweisen vgl. – neben den Artikeln „Erbauungsliteratur“ und „Gebetbücher“ in der TRE (Bd. 10, 1982; Bd. 12, 1984) – u. a. für das Mittelalter und Luther: Appel 1938; Auer 1928; Mennecke-Haustein 1989; Treu 1986; Winkler 1983; für das 16. und 17. Jahrhundert: Beck 1891; Erdei 1990; Franz 1973; E. Koch 1987; Niekus Moore 1991; Steiger 1993; Steiger 1996; Vogler 1992. 7 Vgl. z. B. Eyn Sermon von der bereytung zum sterben (WA 2, S. 692, 695) – Eyn Sermon von dem Sacrament der Puß (WA 2, S. 715, 720f.). 8 Vgl. Treu 1986, S. 7ff. 9 Vgl. als Beispiele aus frühen Predigten: WA 7, S. 250 (Epiph., 1521); WA 10/III, S. 340 (13. n. Trin., 1522): „Nun kumpt das ander stuck, das ist das Euangelium. Das sagt den trost und lernet das hayl“; WA 10/I, S. 366 (Sommerpostille, 1526: 13. n. Trin.); WA 17/II, S. 376 und 379f. (Festpostille, 1527: Epiph.): „Hyerbey sollen wir lernen, das wir von tage zu tage mit dem Herren Christo unsern alten Adam dempffen und seyne begirde sterben mit kreutz und anfechtung“,
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Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik
Verständnis der Begriffe Lehre und Trost berühren, findet man ihre Verbindung, bis sie im Lauf des 17. Jahrhunderts ergänzt und schließlich abgelöst werden durch den Begriff der Erbauung,¹⁰ als Programm auf den Titelblättern zahlloser Predigtsammlungen, Gebet- und Erbauungsbücher und geistlicher Dichtungen.¹¹
„Christus ‚ist umb unser sünde willen dahin gegeben und umb unser gerechtigkait willen aufferweckt.‘ Der sprüche sind das gantze Newe Testament vol, mit welchen sprüchen sollen wir unser betrübtes, verzagtes gewyssen trösten, wenn es in angst und not stecket der sünde halben oder des tods“ – aus der späten Hauspostille von 1544/45: WA 52, S. 91ff. (Epiph.): „Das ist die Historia, in welcher wir erstlich sehen, wie das Gott auch die Heyden zum reich Christi foddert und zum volck annimbt [...] solchs ist ein grosser trost, da wir Gott billich für loben und dancken sollen [...]. Das ist der frölich Text, der uns lehret, wafür wir den Herrn Christum ansehen unnd halten sollen, das, ob er wol für der welt ein bettler, ein ellender und verachter mensch ist [...] so ist er dennoch ein Herr und Hertzog uber Israhel“; 231f. (Passion Predigt): „das leyden Christi ist inn zweyerley weg ein gesund unnd köstliche Ertzney. Erstlich damit, das man an solchem leyden besser denn sonst inn aller ander straff lehrnen kan, wie ein greulich ding es umb die sünde ist [...]. Zum andern ists auch ein Ertzney wider den todt. Denn wer da glaubt, das der Sone Gottes für seine sünd gestorben und mit dem todt dafür bezalet hab, Der kan ein fridliches hertz auff Gottes güte fassen und sich wider sünde unnd den ewigen tod trösten“; S. 455f., 462 (13. n. Trin.); S. 734ff. (Passio, Erste Predig). – Die Rolle des Trostes tritt in Arbeiten zur Predigt Luthers wie der von Nembach 1972, z. T. aber auch bei Winkler 1983, S. 233ff. in unangemessener Weise hinter Lehre und Warnung zurück. 10 Vgl. Krummacher 1972, Sp. 602. Das Wort Erbauung erscheint dementsprechend bei Rist vielfach als einer der Leitbegriffe neben Lehre, Trost u. a. 11 Als Beispiele seien genannt (Exemplarnachweise bei Krummacher 1976, S. 508ff.): J. Arndt, ParadißGärtlein / Voller Christlicher Tugenden [...] in die Seele zu pflantzen / Durch Andächtige / lehrhaffte vnd tröstliche Gebet, 1615; S. Artomedes, Zwölff Predigten [...] Von dem Leiden [...] Jesu Christi [...] allen / frommen Christen [...] zu sonderbarem vnterricht vnd Trost, 1614; Nürnbergisches Gesang-Buch / Darinnen 1160 [...] Lehr- und Trostreiche Lieder, 1676; J. Heermann, Crux Christi [...] in Eilff Lehr- vnd Trostreichen Predigten; 1618; J. Heermann, Exercitium Pietatis [...] Das ist [...] andächtige Lehr- vnd Trostsprüchlein [...] Aus den Sontags- vnd Fest-Evangelien, 1636; J. Heermann, Heptalogus Christi [...] in sieben Lehr- vnd Trostreichen Predigten, 1619; J. Heermann, New vmgegossenes [...] Schließ-Glöcklein. / Das ist / Andächtige Lehr- vnd trostreiche Gebete auß dem [...] Kern aller [...] Sontags- vnd [...] Fest Evangelien in Reimen verfasset, 1632; M. Moller, Soliloquia de Passione Jesu Christi. Wie ein jeder Christen Mensch [...] schöne Lehren vnd heylsamen Trost darauß schöpffen [...] sol, 1605; M. Moller, Thesaurus Precationum [...] aus den [...] Sontages vnd Fest Evangelien / darinnen die vornehmesten Lehren vnd Trost, 1612; N. Selnecker, Passio [...] Iesv Christi [...] Frommen Christen zur Lehre vnd zum Trost, 1572; N. Selnecker, Christliche Psalmen / Lieder / vnd Kirchengesenge / In welchen die Christliche Lehre zusam gefasset [...] allen frommen Christen [...] nütz vnd tröstlich, 1587; Chr. Vischer, KinderPostill. Darinnen [...] die fürnembsten Lehren vnd Haupttrost eines jeden Euangelij, 1573; V. Wudrian, Schola Crucis [...] Allen frommen Christlichen Hertzen [...] zu Trost vnd Vnterweisung, 1639. Vgl. ferner den Titel der handschriftlichen Fassung von J. Gerhards Meditationes (1603/4): Meditationes Theologicae ad Doctrinam & veram consolationem (Gerhard 1998, S. 87). (Bei Zita-
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Steht Rist mit seinen Sammlungen „Lehr- und Trostreicher Lieder“ in dem großen Strom verschiedenartiger Werke, die im Sinne der Reformation Lehre und Trost als ihre wesentliche Aufgabe verstehen, so verweist er mit denjenigen Titeln, die „Lehr- Trost- Vermahnung- und Warnungsreiche Lieder“ ankündigen, auf eine verwandte, aber speziellere Tradition geistlicher Zwecke, die zunächst und vorzugsweise mit der Predigt und ihrer Theorie verknüpft ist. Sie hat eine Vorform in der Dreiheit von Lehre, Trost, Warnung (vor Mißachtung der Gnade Gottes, vor sündhaftem Leben) oder Mahnung (zu rechtem Leben), von doctrina, consolatio, adhortatio oder exhortatio. Diese Dreiheit begegnet ebenso in der Predigtpraxis Luthers als Quelle wechselnder Gesichtspunkte für einzelne Predigtteile¹² wie etwa in der Predigttheorie Melanchthons,¹³ beruht offenkundig auf einer Kombination von 1. Tim. 4,13 („Halt an mit lesen / mit ermanen / mit leren“) und 1. Kor. 14,3 („Wer aber weissaget / der redet den Menschen zur besserung / vnd zur ermanung / vnd zur tröstung“),¹⁴ ist zumindest mit einzelnen Bestandteilen schon in der mittelalterlichen Predigttheorie angelegt¹⁵ und wird auch späterhin da und dort zur Benennung geistlicher Zwecke benutzt.¹⁶ In ihrer
ten aus alten Drucken wird die Wiedergabe von Titeln typographisch vereinfacht, Kürzel werden aufgelöst, einzelne Fehler stillschweigend berichtigt). 12 Vgl. z. B. WA 52 (Hauspostille, 1544/45), S. 228f. (Passion Predigt): „Wenn man von dem leyden unsers Herren Jesu Christi will predigen, so muß man nicht allein die Historien von wort zu wort den leuten fürlesen, Sonder sie auch vermanen und lehren, das sie gedenken, warumb Christus also gelitten hab, und wie sie solches leydens geniessen sollen [...] auff das, wenn du erkennest, das du ein sünder seyst, und habst Gott erzürnet, du dennoch nit verzagest, Sonder dich solches lydens und gnügthuung unsers Herrn Christi tröstest“; S. 746f. (Passio. Die Ander Predig): „Gottes wort lehrt uns einen andern Gotteßdienst, der heist [...] seinen geliebten Sun hören und an jn glauben [...] Das ist geret von Judas Exempel. Es dienet uns aber auch in einem andern weg zum trost und zur warnung“. 13 Vgl. dazu Schnell 1965, u. a. S. 92 (im einzelnen wird, wie in der Arbeit von Schnell – die übrigens, wiewohl quellennah, aus dem Gesamtzusammenhang der Rhetorik- und Homiletikgeschichte heraus mancher kritischen Modifikation bedürfte – deutlich wird, in den homiletischen Schriften Melanchthons das Verständnis von doctrina, consolatio, adhortatio als fines oder genera der Predigt unterschiedlich bestimmt). 14 Vgl. hierzu Schnell 1965, S. 110ff. über die homiletischen Ausführungen Melanchthons in seinen Kommentaren zum 1. Korinther- und zum 1. Timotheusbrief. 15 Vgl. dazu einzelne Hinweise bei Roth 1956, u. a. S. 139, 143, 151, 158, 183. 16 Vgl. z. B. (Exemplarnachweise bei Krummacher 1976, S. 531, 549f.): V. Herberger, HertzPostilla [...] in welcher alle ordentliche SontagsEvangelia [...] zu heilsamer lehr / nothwendiger warnung / nützlichem trost [...] abgerichtet, 1613; D. Rumpius, Liedbüchlein / Darinn begriffen Lehre / Trost / Vermanung [...] Auff die Sontage durchs gantze Jar, 1587. Bei Rist begegnet die Dreiheit wiederholt in den Vorreden, so: Der zu seinem [...] Leiden [...] hingeführter [...] Christus Jesus, Bl. )(6v f. („Hinführungen Christi [...] mit Ihren reichen Lehren / Trost und Ermahnungen / welche dabei zubehertzigen“); Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(3v f. („Ich
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vollen Form als Lehre, Widerlegung (falscher Lehre), Mahnung (zu rechtem christlichen Leben), Warnung (vor Sünde und ewiger Verdammnis) und Trost ist sie aus einer Verbindung von 2. Tim. 3,16 („Denn alle Schrifft von Gott eingegeben / ist nütz zur lere / zur straffe / zur besserung / zur züchtigung in der gerechtigkeit“) und Röm. 15,4 („Was aber vorhin geschrieben ist / das ist vns zur Lere geschrieben / Auff das wir durch gedult vnd trost der Schrifft hoffnung haben“) abgeleitet,¹⁷ hat – neben jener Dreizahl mit ihren einzelnen Bestandteilen – Wurzeln unter anderem in der noch im 16. und 17. Jahrhundert als Quelle der Homiletik immer wieder zitierten Schrift Augustinus De doctrina christiana,¹⁸ findet sich dann mit ihren Elementen im verbreiteten Ecclesiastes des Erasmus,¹⁹ wird offenkundig allerdings als umfassende Beschreibung der Aufgaben rechter Predigt endgültig erst von Andreas Hyperius systematisch ausgebildet, dessen Werk De formandis Concionibus sacris, seu de interpretatione scripturarum populari (1553) den Anfang der nachreformatorischen Homiletik darstellt.²⁰ Schon in
wil hier nicht sagen vom Moses / Jeremias / Assaph [...] welche so herliche Lehr- Trost- und Vermahnungsreiche Lieder der Kirchen Gottes haben hinterlassen“); Bl. A 5v; Alltägliche Haußmusik, Bl. )( )(5v. Vgl. auch unten Anm. 27. 17 Zur Berufung auf 2. Tim. 3, 16 und Röm. 15, 4 vgl. u. a. Hyperius, De formandis Concionibus, 1553, Bl. 35v, 76v f.; Pangratius, Methodus Concionandi, 1574, S. 18 (hier nur zit. 2. Tim. 3, 16); Osiander, De ratione Concionandi, 1584, S. 36 (hier nur zit. 2. Tim. 3, 16); Schleupner, Tractatus de quadruplici methodo Concionandi, 1617, S. 65; Zeidler, Rhetorica Ecclesiastica, 1672, S. 182, 188. 18 Augustinus 1963, S. 121 (De doctrina christiana IV, 14): „Debet igitur divinarum scripturarum tractator et doctor, defensor rectae fidei ac debellator erroris, et bona docere et mala dedocere, atque in hoc opere sermonis conciliare aversos, remissos erigere, nescientibus quod agitur quid expectare debeant intimare.“ 19 Erasmus, Opera omnia, T. V, u. a. Sp. 858: „Ecclesiastes potissimum versatur in docendo, in suadendo, in exhortando, consolando, consulendo & admonendo“; Sp. 889 zit. 2. Tim. 3, 16. 20 Deren Geschichte ist, soweit ich sehe, für das 16. bis 18. Jahrhundert nicht zureichend erforscht und dargestellt worden. Noch die neuesten Beiträge von Hans Martin Müller (Müller 1986, S. 531ff.; Müller 1996a, S. 45ff.; Müller 1996b, Sp. 1502ff.) leiden darunter, daß sie ohne genügende Quellenkenntnis abhängig bleiben von den alten Arbeiten von Achelis, Christlieb und Schian (vgl. unten das Literaturverzeichnis) aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und damit – und dies auch im Beitrag für das Historische Wörterbuch der Rhetorik – von einem negativen Bild der Rhetorik, das durch die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte längst überholt ist. So wird das Verhältnis des Hyperius zur Rhetorik als angeblich distanziert ebenso verzeichnet wie die – genau besehen: produktive – Bedeutung der Rhetorik für die weitere Entwicklung der Homiletik, wird die von und seit Hyperius entwickelte Lehre vom fünffachen usus als vermeintlich unfruchtbarer Schematismus verkannt und die ganz auf die Glaubenspraxis der Predigthörer zielende Funktion der im Sinne eines fünffachen usus vollzogenen applicatio nicht wahrgenommen (vgl. dazu u. a. auch Niebergall 1955, S. 278f., 291f.; Schütz 1972, S. 115ff.). Eine befriedigende Geschichte der frühneuzeitlichen Homiletik, welche die Ansprüche erfüllen könnte, die Theologie wie Literatur- und Geistes-
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einem der ersten Kapitel (Cap. III: Finis Concionatoris quis sit) nennt er als Aufgaben des Predigers: „uera ac salutifera dogmata tradit & confirmat, falsa uero ac noxia reprehendit, grauiterque confutat [...] sedulo inculcat quae ad vitam pie iusteque instituendam sunt necessaria, deinde eos qui peccarint seueriter corrigit, in uiam reducere cupiens: postremo […] segnes hortatur, obsecrat, increpat, afflictos uero consolatur“ (Bl. 12 vf.). Im Kapitel XI (Qua ratione unamquanque concionem in locos certos apte poßimus distribuere) gewinnt Hyperius (Bl. 35rf.) – unter ausdrücklicher Berufung auf 2. Tim. 3,16 und Röm. 15,4 – aus jenen fines concionatoris das Ordnungsprinzip für die Vielfalt der loci, von denen mit Rücksicht auf die Hörer jeweils nur zwei oder drei (Bl. 36v), andere, die der Bibeltext mit enthält, allenfalls „quasi in transcursu“ (Bl. 37v) behandelt werden sollen. Und am Beginn des zweiten Buches leitet er unter erneuter Berufung auf die Paulus-Stellen aus jenen fines fünf Predigtarten her,²¹ die je von einem der Zwecke bestimmt sind, und fügt dem ein mixtum genus hinzu (Bl. 127rff.), in welchem mehrere der Zwecke verbunden sein können.²² Wie bei Hyperius bereits angelegt, der seine Homiletik ad instituendos homines ad pietatem in abwandelnder Erschließung der Rhetorik für die Predigt entwickelt, konzentriert sich in der weiteren Entfaltung der Homiletik nach ihm die Erörterung der jetzt zumeist als usus bezeichneten fines concionatoris vornehmlich auf ihre Funktion als leitende Gesichtspunkte für die applicatio der ausgelegten Texte, durch welche die Predigt ihre seelsorgerliche Aufgabe erst erfüllt. So bezieht Andreas Pangratius in seiner Methodus Concionandi (Vorrede dat. 1571) 2. Tim. 3,16 auf die zweite und dritte der von ihm unterschiedenen
geschichte stellen müßten, ließe sich nur schreiben, wenn die Rhetorik als das bildungsgeschichtlich gegebene Fundament aller literarischen Artikulation in der frühen Neuzeit anerkannt und nach dem Gewinn gefragt wird, den die Homiletik ebenso wie die Predigt daraus gezogen hat. 21 „Cum igitur orationem omnem quae ex scripturis ad instituendos homines ad pietatem paratur sine inuolucris significet Apost. ad haec quinque dirigi debere capita (quod & supra demonstrauimus satis dilucide, de unaquaque concione in locos certos distribuenda agentes) recte sequentes excelentissimi concionatoris Diui Pauli iudicium, quinque constituemus concionum genera: quorum primum appelabitur Doctrinale seu διδασĸαλιĸὸν: secundum, redargutiuum siue ἐλεγχιĸὸν: tertium, Institutiuum, alias παιδευτιĸὸν [...] quartum Correctorium uel ἐπανορθιĸὸν: quintum, Consolatorium, παραĸλητιĸὸν uel παραμυθιĸὸν“ (Bl. 77r). 22 Die wenigen Hinweise zeigen, daß es schon bei Hyperius keineswegs nur, wie in der homiletik- und predigtgeschichtlichen Literatur (vgl. Anm. 20) immer wieder behauptet, um eine Abgrenzung von Predigtarten geht, sondern die von Paulus hergeleiteten fines concionatoris von umfassenderer Bedeutung sind.
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partes concionum (Exordium, Doctrina, Applicatio, Peroratio)²³ und behandelt demgemäß bei den Predigten de quaestionibus simplicibus wie bei denen de quaestionibus coniunctis im Abschnitt über die applicatio (S. 49ff., 71ff.) eingehend die gelegentlich auch (S. 52ff.) mit den deutschen Begriffen „Ein warnung“, „Ein Erinnerung“, „Ein Trost“, „Ein vermanung“ benannten usus, die „inculcandi sunt auditoribus“ (S. 55). Die Anleitung zur Anwendung der fünf usus als zu einem unentbehrlichen Teil der Predigt²⁴ ist dann überall im 17. Jahrhundert ein zentrales Lehrstück der Homiletik und bleibt bis in das frühe 18. Jahrhundert – auch bei pietistischen Theologen – trotz beginnender Kritik wirksam,²⁵ ehe sie vor allem in der aufklärerischen Rhetorikdiskussion zunehmend skeptisch betrachtet²⁶ und nicht zuletzt dadurch allmählich verdrängt wird. Wie wenig es mit der Lehre von den usus aber in der Homiletik des 16. und 17. Jahrhunderts um die Befolgung eines starren Schemas geht, das wird – ganz abgesehen vom gelegentlichen Austausch der fünf usus gegen die ältere Dreiheit von „Lehre / Trost vnd Vermahnung“²⁷ als Zusammenfassung der Aufgaben der applicatio – sichtbar an Stellen, wo die durch die Rhetorik zur Beachtung des aptum erzogenen Autoren darauf hinweisen, es müsse der Einsatz der usus nicht jeweils alle umfassen, sondern sich nach dem jeweiligen Text richten, es müsse auf das Auffassungsvermögen der Hörer und auf die zur Verfügung stehende Zeit Rücksicht genommen werden.²⁸
23 „Et potest ad has partes rectissime accomodari dictum Pauli 2. Timoth. 3 […] Vt enim in secunda parte vera docemus, & falsa arguimus vel confutamus, ita in tertia, corripimus, erudimus & hortamur“ (S. 18). 24 Vgl. Schleupner, Tractatus de quadruplici methodo Concionandi, S. 76: „Commemoratio Usus sive Applicatio Doctrinae ad usum, non relinquitur in Concionatoris arbitrio: sed est concionis membrum non minus necessarium, ac ipsa Doctrina; imo ex Usu valor Doctrinae aestimandus est, ita ut si nullus Loci communis usus suppetit, ipse locus supervacaneus, & Doctrinae cognitio inutilis censeatur.“ 25 Vgl. dazu z. B. E. Uhse, Wohl-informirter Redner, 51712, S. 357f., 368ff., 376f., 379ff. (Sectio III. Von denen Orationibus Ecclesiasticis); Ph. J. Spener, Die evangelische Glaubenslehre, 1688, Bl. )( )(2v (Vorrede); A. H. Francke, Send-Schreiben vom erbaulichen Predigen (1725), S. 5 (in: Francke 1989). Zu J. J. Rambach: Lischka 1975, S. 203ff., 222ff. 26 Vgl. z. B. J. A. Fabricius, Philosophische Oratorie, 1724, S. 497f.; F. A. Hallbauer, Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie, 1725, S. 373ff., 768; J. Chr. Gottsched, Ausführliche Redekunst, 1736, S. 531f. 27 So als „tres principales usus“ bei Rebhan, Concionator, S. 431. Vgl. auch z. B. Hyperius, De formandis Concionibus, Bl. 35v, 81r – Schleupner, Tractatus de quadruplici methodo Concionandi, S. 161. 28 Vgl. z. B. Schleupner, Tractatus de quadruplici methodo Concionandi, S. 77: „Non semper autem omnes & singulae accomodationis species in unica Doctrina concurrent: sed interdum aliquas commemorare pro qualitate materiae sufficit“; S. 157: „Rebus theorice expeditis, hoc
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Es ist diese für die Homiletik der lutherischen Orthodoxie charakteristische Anleitung zum mehrfachen usus, auf welche sich Rist, als Theologe mit ihr von früh an vertraut und nach eigenem Zeugnis²⁹ in seiner jahrzehntelangen Predigttätigkeit auf das selbstverständlichste an ihr orientiert, mit den Titelblättern einiger seiner Sammlungen bezieht.³⁰ Daß es sich dabei nicht um beliebige For-
caput ad tractationem practicam nos deducit, & agit, quomodo Auditores audita ad usum proprium accomodare possint & debeant“; S. 161f.: „Delectus varietas, respicit aut usus multos, aut paucos, aut praecipuos. 1.Multi usus inferendi sunt, quando prostat 1.Materiae & articulorum brevitas, 2. horae superfluitas. 2. Pauci tractandi sunt, quando evidens est, 1. Articulorum declaratorum prolixitas, 2. Temporis brevitas.“ Rebhan, Concionator, S. 437; hier S. 197 ein aufschlußreicher allgemeiner Hinweis zur Orientierung der Predigt an den Hörern: „Et quanquam pro rudioribus ac simplicioribus sufficit, unam saltem atque alteram, in unica concione, proponere & explorare doctrinam; tamen ubi auditores provectiores sunt, & plurimi numero, in diversis item vitae generibus constituti, quales in urbibus populosioribus & aulis Principum habentur; consultius est plures & diversas in una concione doctrinas proponere.“ – Daß auch in der Praxis der Predigt des 16. und 17. Jahrhunderts, die in der Forschung vielfach voreilig als formalistisch verschrien ist, der Einsatz der usus keineswegs mit starrer Regelhaftigkeit geschehen ist, zeigen einzelne Hinweise in jüngeren predigtgeschichtlichen Arbeiten, so bei Beutel 1996, S. 433; Holtz 1993, S. 5, 45ff. 29 Vgl. Alltägliche Haußmusik, 1654, Bl. )(3r; Seelenparadis [...] Neuen Testaments, 1662, Bl. a 5rf.: „Ich habe aber nach der Gnade / die mir von oben her ist gegeben und mitgetheilet / mein hohes Amt nicht allein mündlich / mit Lehren / Ermahnen / Warnen / Dräuen / Trösten und Erinneren; Sondern [...] auch Schriftlich / und mit der Feder bishero verrichtet / auf das ich nicht allein [...] meinen [...] Zuhöreren / sondern auch allen Christgläubigen Hertzen / an was Ohrte und Enden dieselben auch zu finden [...] nützliche Dienste möchte erweisen“ – allgemeiner zur Orientierung der Predigt an den usus: Seelenparadis [...] Alten Testaments, 1660, Bl. c4r – zum Zusammenhang einer nach Anleitung der usus vorgenommenen Auslegung der Perikopen mit der eigenen Lieddichtung (unter gleichzeitiger Ablehnung einer bloßen poetischen Paraphrase): Sabbahtische Seelenlust, 1651, S. 18f.: „[...] der gäntzlichen meinung worden / daß es zu Heiligung des Sabbaths / und fernerer Erbauung deß wahren Christenthumbs viel ersprießlicher sein würde / wenn man auß Einem jetweden Evangelio die fürnehmsten Haubtlehren / Ermahnung / Warnung und Trost nehmen / selbige in gewisse Lider verfassen / auff gebräuchliche Melodeien setzen / und also den Christlichen Gemeinen mit der Zeit würde bekant machen“ (s. auch das unten angeführte Zitat von S. 20 dieser Vorrede). 30 Dem widerspricht nicht, daß er auf diesen Titelblättern und auch sonst stets nur vier anstatt der üblichen fünf usus nennt und damit den usus elenchticus, die Widerlegung falscher Lehre, ausläßt. Dieser Verzicht ist offenkundig in seiner mehrfach bekundeten Abneigung gegen „Streitsachen“, gegen kontroverstheologische Auseinandersetzungen, von der als Indiz für Rists frömmigkeitsgeschichtliche Stellung noch zu sprechen sein wird (vgl. unten bei Anm. 71), begründet und steht auch nicht ohne Parallelen in der Praxis, aber auch Theorie geistlicher Literatur da: vgl. u. a. (Exemplarnachweise bei Krummacher 1976, S. 513ff.) M. Bohemus, Spectaculum Passionis [...] Jedermann zu rechter Lehr / krefftigen Trost / ernster Vermahnung vnd trewhertziger Warnung fürgestellet, 1616; S. Gediccus, Passionalbüchlein [...] darinnen [...] angezeiget [...] was auß einer jeden Lection fürnemlich für Lehren / Trost / Erinnerung
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meln handelt, daß vielmehr Rist darin – und mit ihm seine Leser – eine entscheidende Begründung für seine geistliche Dichtung gesehen hat, das zeigen mancherlei Stellen in seinen Vorreden und bezeugen ergänzend entsprechende Hinweise in den ihnen beigegebenen Ehrengedichten und Zuschriften.³¹ Am ausführlichsten erörtert Rist den Zusammenhang geistlicher Dichtung mit den usus der Homiletik in der Widmungsvorrede zur Sabbahtischen Seelenlust, der ersten Sammlung, als deren Inhalt auf dem Titelblatt „Lehr- Trost- Vermahnungund Warnungsreiche Lieder“ angekündigt werden. Er geht hier (S. 3f.) – unter ausdrücklicher Nennung des Horaz – aus von der im 17. Jahrhundert allenthalben präsenten Bestimmung aller Dichtung durch das prodesse und delectare. Die höchste Erfüllung dieser Bestimmung liegt für Rist in der Förderung der Gottseligkeit,³² und als Muster solcher Erfüllung gilt ihm David, der auch sonst im 16. und 17. Jahrhundert das wichtigste Exempel zur Begründung geistlicher Dichtung ist. Sein vorbildliches Werk aber wird von Rist beschrieben durch eine Verknüpfung des prodesse/docere und des delectare mit dem mehrfachen usus der applizierenden Schriftauslegung: Ich stelle aber zur Vermeidung aller Weitläufftigkeit dem Christlichen Leser nur den eintzigen Königlichen Dichter und Mann Gottes David für die Augen: Daß desselben hochheilige Psalmen anders nichtes als in Reimen gesetzete Lider und Gesänge sind / solches ist auch den schlechtgelehrten gahr wohl wissend / man spüret aber in denselben mit höhester Verwunderung / wie dieser heiliger und Geistreicher Dichter beides daß Docere & Delectare, lehren und belustigen / so fleissig und klüglich habe in acht genommen: Denn / bald unterrichtet und lehret Er die Einfältigen / bald warnet Er die Gottlosen / und
vnd Warnungen zu mercken, 1594; L. Helmbold, Schöne geistliche Lieder Vber alle Evangelia [...] durchs gantze Jahr / zur Christlichen Lehre / Trost / Vermahnung vnd Warnung gerichtet, 1615; A. Lüders, Psalmodia Evangelica Oder Einfeltige Kurtze Erklärungen aller Fest: vnd Sontags Evangelien [...] mit ihren fürnembsten Lehren / Trost / Erinnerungen vnd Warnungen, 1627; D. Richter, Thesaurus oratorius novus, 1660, S. 193ff. (im Abschnitt: Von Predigten); s. auch ein entsprechendes Zitat aus der Vorrede zur Postille J. Gerhards bei Axmacher 1989, S. 243. 31 Vgl. Sabbahtische Seelenlust, S. 35 (Zuschrift des Lüneburger Superintendenten Petrus Rehbinder); Katechismus Andachten, S. 68 (Ehrengedicht des Zittauer Gymnasialrektors Christian Keimann); Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle, S. 23 (Ehrengedicht von Andreas Heinrich Bucholtz); in der dreigliedrigen Form von Lehre, Trost, Warnung: Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. B6v (Ehrengedicht von Chr. Keimann); Sabbahtische Seelenlust, S. 40 (Zuschrift des Pinneberger Propstes Albertus Kirchhoff), S. 51 (Ehrengedicht des Pfarrers Quirin Moscherosch); Katechismus Andachten, S. 54 (Zuschrift des Hamburger Predigers Gerhard Grave); ferner Rists Hinweis (Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(4v), er sei von vielen gebeten worden, „noch andere neüe Geistliche Lieder / wodurch die Betrübte könten getröstet / die Schwache gestärket / die Irrende gelehret / die Ruchlose gewarnet / und sonst jedermänniglich erbauet werden / zu Papier zu setzen.“ 32 Vgl. auch Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(2v.
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Unbußfertigen / bald ermahnet Er die faulen und schläffrigen / bald tröstet und erquikket Er die niedergeschlagene / und die / so betrübten Hertzens sind / bald ermuntert Er Sich und andere mit Einem so reichen und freudigen Geiste / daß ein andächtiger Christ dieselbe ohne hertzliche Belustigung und Ergetzligkeit seiner Seelen nicht kan lesen / singen oder behten. Dises üm so viel besser zu erfahren / versuche es nur Ein Gottlibendes Hertz / nehme Einen Psalm nach dem anderen für Sich / prüffe Eines jetweden Inhalt und Meinung mit Ernst und Fleisse / so wird Er endlich frei heraus müssen bekennen: Diser Sohn Isai / diser Königlicher Weissager / könne mit höhestem Rechte Ein Außbund aller Geistreichen Dichter / welche daß Lehren und Belüstigen / nicht zwahr deß äusserlichen / sondern vielmehr deß innerlichen Menschen zum allerfleissigsten beachtet und ins Werk gerichtet / benennet und von aller Welt diser seiner Lider wegen gepriesen werden. (S. 5)
Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Ausführungen zur lehrenden und seelsorgerlichen Leistung geistlicher Dichtung bringt Rist an späterer Stelle, in der Leservorrede desselben Werks, die in dieser Sammlung enthaltenen Lieder in Zusammenhang mit den vom mehrfachen usus bestimmten Inhalten der sonntäglichen Predigt und verbindet dies mit Hinweisen zum praktichen Gebrauch solcher Lieder als wirksamer Ergänzung der Predigt: So habe ich es hochdienlich zu sein erachtet / daß man die fürnehmsten Lehr- TrostErmahnungs und Warnungs Stükke / welche aus einem jetweden Evangelio können genommen / und zur nützlichen Erbauung auf den Cantzeln oder in den Predigten angeführet werden / fein zusammen bringe / in gewisse Lider versetze / unnd hernach seine Zuhörer ernstlich und fleissig ermahne / daß Sie nach angehöretem Göttlichem Worte / desselben Sontages Evangeliumslied für Sich nehmen / unnd nebenst Ihren sämtlichen Haußgenossen / Kindern und Gesinde fein andächtig / Einen Satz nach dem andern singen / die Wohrte und derselben eigentlich Verstand und Meinung mit fleissigem Nachdencken erwegen / Sich dabey deß jenigen / waß Sie deß Morgens zuvor von Ihrem Seelenhirten gehöret / bedachtsahm erinnern / und denn schließlich wol lernen / wie Sie alles / was sie gehöret / gesungen und gelesen / zu stärckung ihres Glaubens / Besserung ihres Lebens / Befriedigung ihres Gewissens / und Erlangung Ihrer Seelen ewigen Heils und Seligkeit nützlich sollen / können und mügen anwenden. (S. 20)
Wenn Rist an derartigen Stellen³³ so ausführlich und eindringlich seine Lieder mit den homiletischen usus Lehre, Trost, Vermahnung und Warnung begrün-
33 Vgl. auch Sabbahtische Seelenlust, S. 23 (Rechtfertigung der großen Strophenzahl vieler Lieder mit der Berücksichtigung der verschiedenen usus); Fest-Andachten, Bl. A6v ff. (einzelne usus als Kriterien bei der Musterung vorhandener Festtagslieder); Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(4v (zit. unten bei Anm. 77); Katechismus Andachten, S. 6 (Kennzeichnung dieser Sammlung als Umsetzung des Katechismus in „Erbauliche Lieder / oder / besser zu sagen / in Lehr / Trost- Ermahnung- und Warnungsreiche Andachten“); Seelenparadis [...]
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dend verknüpft,³⁴ so könnte es befremdlich erscheinen, daß nur drei seiner zehn geistlichen Liedsammlungen entsprechende Hinweise in ihren Titeln geben. Doch die Unterschiede zwischen den ankündigenden Begriffen auf den Titelblättern dieser Sammlungen und auf denen einiger anderer sind nicht zufällig, sondern deuten auf die unterschiedlichen geistlichen Gegenstände hin, die Rist in seinen Liedsammlungen behandelt hat, auf die Unterschiede ihrer Traditionen, ihrer Verfahrensweisen und Funktionen. Die Sammlungen Sabbahtische Seelenlust [...] über alle Sontägliche Evangelien deß gantzen Jahres und Fest-Andachten [...] über Alle Evangelien [...] welche Jährlich / an hohen und gemeinen Fest- Apostel- und anderen Feirtagen / in den Evangelischen Kirchen werden erklähret und ausgeleget haben zum Gegenstand die seit alters zur Liturgie gehörenden Evangelienperikopen, die jahrhundertelang im Luthertum Predigtgegenstand des sonntäglichen Hauptgottesdienstes waren, damit zugleich eine zentrale Rolle auch in der Schule und in der Hausandacht spielten und dementsprechend eine breite geistliche Literatur mit verschiedenen Formen, Zwecken und Wirkungsbereichen hervorgebracht haben.³⁵ Die beiden Sammlungen von Rist gehören zur umfangreichen Gruppe der Perikopenlieder, zu welcher unter anderen auch Autoren wie Nikolaus Herman, Johann Heermann, Martin Opitz oder Bartholomäus Ringwaldt beigetragen haben. Wenn Rist dabei – unter ausdrücklicher Abgrenzung gegen die paraphrasierenden Epistellieder des Opitz (Sabbahtische Seelenlust, S. 18f.), zu welchen man von Rist ein ergänzendes Werk über die Evangelien gewünscht hatte – nicht den Text nacherzählende Lieder, sondern um der Erbauung willen solche bietet, die die Texte nach Anleitung der von ihm genannten vier homiletischen usus auslegen, so steht er damit keineswegs allein, sondern repräsentiert eine im 17. Jahrhundert sich vollziehende, vor allem frömmigkeitsgeschichtlich bedingte Wandlung der Perikopenlieder von der Paraphrase der biblischen Texte zum Vorwiegen der Auslegung und andächtigen Aneignung.³⁶
Neuen Testaments, Bl. d 2r (Erläuterung der Absichten dieses Werks in Anlehnung an die verschiedenen homiletischen usus). 34 Eine bemerkenswerte, aber – soweit ich sehe – vereinzelte Parallele dazu bietet die Poetik von Albrecht Christian Rotth (Vollständige Deutsche Poesie, 1688), deren Abschnitt „Von geistlichen Liedern“ (T. II, S. 532ff.) mit dem Satz beginnt: „Geistliche Lieder gehören entweder zur Lehre oder Wiederlegung / oder zur an- und Abmahnung / oder auch zum Troste“ und demgemäß zahlreiche Beispiele von den einzelnen usus aus erläutert. 35 Dazu eingehender Krummacher 1976, S. 46–164. 36 Vgl. Krummacher 1976, S. 123ff. – Den Zusammenhang Rists mit dieser Entwicklung ignoriert Scheitler 1982, S. 261ff. in unzureichenden Bemerkungen zu Rists Umgang mit dem Bibeltext.
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Auch mit den Katechismus Andachten, der dritten Sammlung, auf deren Titelblatt Rist „Lehr- Trost- Vermanung- und Warnungsreiche Lieder“ ankündigt, gehört er in eine genau beschreibbare Tradition kirchlicher Praxis und ihr zugeordneter geistlicher Literatur.³⁷ Über den Katechismus als Kernstück der Glaubenslehre ist in den lutherischen Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts je nach Anweisung der Kirchenordnungen oder örtlichen Gewohnheiten in sonntäglichen Nebengottesdiensten, in Wochengottesdiensten oder zu bestimmten Zeiten des Kirchenjahres gepredigt worden. Zugleich ist er neben den Perikopen einer der wichtigsten Gegenstände der Unterweisung in der Schule und dient der Hausandacht wie der individuellen Erbauung. So gibt es eine Fülle von Predigtsammlungen und von paraphrasierenden oder auslegenden Liedern und anderen Gedichten in deutscher, aber auch in lateinischer Sprache³⁸ zum Katechismus und vielfach in den Gesangbüchern entsprechende Rubriken. Aus dieser Tradition gehen Rists Katechismuslieder hervor, und sie weichen auch dort nicht von ihr ab, wo sie anders als in Luthers Neuordnung der Katechismusstücke das Credo nicht in drei, sondern in zwölf Artikel gegliedert behandeln nach älterer Gewohnheit, an welcher auch lutherische Predigtzyklen lange festhalten.³⁹ Die besondere Nähe von Rists Liedsammlungen über die Perikopen und den Katechismus zu Gottesdienst, Predigt, Schriftauslegung und kirchlicher Unterweisung begründet, daß Rist hier – und nur hier – schon auf den Titelblättern die Orientierung an den homiletischen usus ankündigt, und diese Orientierung wird in den Sammlungen selbst vielfach schon faßlich an den Überschriften der Lieder. In der Sabbahtischen Seelenlust – etwas seltener in den Fest-Andachten gemäß dem Charakter der darin behandelten Feste und Texte – wird in den Überschriften immer wieder auf die einzeln oder in Verbindung miteinander im jeweiligen Lied berücksichtigten usus hingewiesen, in einer Weise, wie es dies in keiner sonstigen Sammlung Rists gibt. In den Katechismus Andachten ist das, weil sie am stärksten vom usus der Lehre bestimmt sind, so kaum einmal der Fall, doch stehen sie dafür in ihrem Umgang mit den Vorlagen, den Lehrstükken des Katechismus, der Tradition paraphrasierender geistlicher Dichtung, die im 16. und 17. Jahrhundert insbesondere der Unterweisung der Jugend und des gemeinen Mannes dient, von allen Sammlungen Rists am nächsten.
37 Vgl. dazu u. a. Hahn 1997; Holtz 1993, S. 171ff. (S. 174 ein Zitat über Lehre, Trost, Warnung und Vermahnung im Katechismus); Jenny 1989, S. 614f.; Jetter 1988; Niekus Moore 1991, S. 293, 300; Steiger 1993, S. 79; Sträter 1995, S. 119ff.; Veit 1986, S. 68ff.; Völker 1984, S. 551. 38 Beispiele paraphrasierender Katechismusdichtung bei Krummacher 1976, S. 97, Anm. 66 (G. Fabricius, P. Melissus Schede) sowie S. 516 im Quellenverzeichnis (A. Corvinus, F. Dedekind). 39 Vgl. Jetter 1988, S. 752.
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Den Bibeltexte andächtig auslegenden Perikopenliedern Rists sind – außer seinen Passionsliedern – zwei andere Sammlungen verwandt, das Seelenparadis [...] Alten Testaments und das Seelenparadis [...] Neuen Testaments, die mit theologischer Umsicht ausgewählte Bibelstellen zum Gegenstand „Lehr- und Trostreicher Lieder“ machen. Sie sind zwar, auch wenn es vergleichbare Beispiele der Verwendung einzelner Stellen des Alten und Neuen Testaments gibt,⁴⁰ nicht Teil einer so ausgeprägten Tradition wie die Perikopenlieder, sind mit ihnen aber vergleichbar durch die auf erbauliche Unterweisung gerichtete Bindung an einen Bibeltext. Demgemäß erläutert die Vorrede der ersten der beiden Sammlungen (Bl. b2r) die Lieder, aus welchen man lernen könne „Recht glauben / Christlich leben / gedültig leiden [...] selig sterben“ (Bl. d1rf.), als einen geeigneten Ersatz für weitläufige Postillen und andere auslegende Schriften, die zu lesen, zu verstehen und zu behalten dem gemeinen Mann schwer falle, und die Vorrede zur zweiten (Bl. d2r) erklärt ihre Absichten unter Hinweis auf die homiletischen usus. Diese werden denn auch in den Überschriften der Lieder beider Sammlungen zwar nicht so wie bei Rists Perikopienliedern zur Bezeichnung der jeweils vermittelten Unterweisung, aber doch vielfach zur Charakterisierung der zugrundegelegten Bibelstellen herangezogen, und das Seelenparadis [...] Neuen Testaments ist zudem Rists einzige Liedersammlung, die – wie im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche andere Werke geistlicher Literatur in Prosa oder Versen – ein Register aufweist, „Darinnen gezeiget wird / wie gegenwärtige Lieder durchs gantze Jahr an den Sonn- und Festtagen zu gebrauchen“. Rists frühe Sammlung Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben hingeführter und an das Kreütz gehefteter Christus Jesus, die zwölf Lieder über die „Hinführungen Christi zuer Zeit seines leidens“ (Bl. )(6vf.) und eine Nachdichtung der sieben Ps.Bernhardinischen Passions-Salves enthält, und die spät erweiterte Fassung Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten, worin drei einleitende Lieder über Jes. 53, 4.5 und „Ein und zwantzig Musikalische Andachten oder Gottselige Gedanken“ über die sieben Worte Christi am Kreuz sowie drei „Hei-
40 Vgl. z. B. (Exemplarnachweise bei Krummacher 1976, S. 519ff.) R. Edingius, Der gantz Psalter Dauids [...] Reimweiß [...] Mit angehenckten Lobgesengen des Alten vnnd Newen Testaments, 1574; J. Gerhard, Postilla, 1613, mit Appendix [...] schöner vnnd auserlesener Sprüche aus altem vnnd newem Testament / so sonsten / vnd in gewöhnlichen WochenPredigten abgehandelt vnd erkleret worden; J. Hailbrunner, Centuria Florifera Pietatis [...] theils aus dem geistreichen Garten Heiliger Schrift / theils aus eigener Erfindung, 1658; C. Spangenberg, Der gantze Psalter Dauids / Darneben alle andere Psalmen vnd Geistliche Lieder im alten vnd newen Testament [...] Gesangsweis gefasset, 1582; N. Tilesius, PassionsPredigten / In welchen aus dem Alten vnd Newen Testament / Lehrhafftige vnd Trostreiche Sprüche auff die Fastenzeit vnd Charwoche [...] gehandelt werden, 1615.
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lige Beschluß-Andachten“ hinzugekommen sind, stellen zwar keine geschlossene Auslegung der Passion dar, sind aber in mehreren Teilen ebenfalls, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf biblischen Text bezogen und stehen in diesen wie in anderen Teilen im Zusammenhang mit bestimmten Formen der außerordentlich umfangreichen und vielfältigen Überlieferung geistlicher Literatur in Vers und Prosa zur Passion Christi.⁴¹ Die Ps.Bernhardinischen Passions-Salves sind nicht nur von Rist und Paul Gerhardt, sondern auch von manchen anderen Autoren nachgedichtet worden.⁴² Jes. 53, verstanden als Vorausdeutung auf die Passion Christi, ist vielfältig in Zyklen und Passionspredigten und in Gedichten behandelt worden.⁴³ Das gilt ebenso für die sieben Worte Christi am Kreuz,⁴⁴ und mit den zwölf Liedern auf die „Hinführungen“ Christi folgt Rist einem Gliederungsschema für die Behandlung der Passion, das auch sonst belegt ist.⁴⁵ Dabei ist Rist hier, während die sieben Worte Christi in den betreffenden Liedern nur den Ausgangspunkt für weit ausgreifende andächtige Betrachtungen sind, dem Passionsbericht der Evangelien am nächsten, dessen Vergegenwärtigung mit zahlreichen traditionellen exegetischen Motiven verbunden wird, und er steht dabei – ähnlich wie in einem Teil seiner Katechismuslieder – der älteren Tradition paraphrasierender Nachdichtung biblischer Texte näher als in seinen übrigen Liedsammlungen. Die teils auslegende und applizierende, teils aber auch paraphrasierende Bindung an bestimmte Bibeltexte, die in je unterschiedlicher Weise Rists Liedsammlungen zu den Perikopen, der Passion, zu Sprüchen des Alten und des Neuen Testaments und zum Katechismus eignet, findet sich in seinen übrigen geistlichen Liedsammlungen, auch wenn sie natürlich ganz von biblischer Sprache getränkt sind und Rist gelegentlich ihre Schriftgemäßheit betont hat,⁴⁶ nicht, mit Ausnahme der ersten Sammlung, Himlische Lieder, die noch weniger einheitlich ist als alle späteren. Hier stehen im zweiten Teil „himlische Triumph-Lieder“ biblischer Gestalten des Alten und Neuen Testaments, deren Bindung an Luthers Bibeltext die Vorrede eigens hervorhebt,⁴⁷ und im ersten Teil einige Lieder auf die Ereignisse der Heilsgeschichte von Weihnachten bis zur
41 Dazu Krummacher 1976, S. 332ff. und 366ff.; vgl. auch Hahn 1993; Axmacher 1984. 42 Eine Reihe von Nachweisen bei Krummacher 1976, S. 367f., Anm. 7. 43 Vgl. Krummacher 1976, S. 336, 367. 44 Vgl. Krummacher 1976, S. 334, 367, Anm. 6. 45 Vgl. Krummacher 1976, S. 334f. 46 So in der Vorrede zur Alltäglichen Haußmusik, Bl. )( )(6r: „Alle diese Lieder / welche in gegenwärtiger Haußmusik begriffen / sind Schriftmässig.“ 47 Bl. A6r: „daß ich des Herrn Luthers Verdolmetschung für alle andere zu behalten / mich sonderlich beflissen.“
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Himmelfahrt Christi. Die anderen Teile dieser Sammlung aber enthalten Lob-, Bitt-, Klage- und Danklieder zu vielerlei Themen und Anlässen eines christlichen Lebens vom Beginn und Ende des Tages bis hin zur Besinnung auf die letzten Dinge und stimmen darin mit den drei übrigen Sammlungen überein. Die Sammlung Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch ist, wie schon das Titelblatt ankündigt, gegliedert in die Gruppen „Klaag- und BuhssLieder“, „Lobund DankLieder“, „Sonderbahre Lieder“ (d. h. Lieder für bestimmte Stände und Anlässe), „Sterbens- und GerichtsLieder“ und „Höllen- und HimmelsLieder“, die jeweils zehn Lieder umfassen. Die Alltägliche Haußmusik besteht nach dem Hinweis des Titelblatts „In mancherlei und unterschiedlichen / gantz neüen / Geistlichen Liederen und Gesängen / Welche von Allen / und Eines jedweden Standes Personen / in allen und ieglichen / Leibes und der Seelen Angelegenheiten erbaulich können gebrauchet [...] werden“ und liefert nach einigen Liedern zu Themen wie Sündenbewußtsein, Buße, Abendmahl, Hören der Predigt, Taufe eine große Zahl von Liedern für verschiedene Stände und Berufe und für vielerlei Lebenslagen. Die Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle / Worinn befindlich Unterschiedliche Lehr- und Trostreiche Lieder / in mancherlei Kreutz / Trübsahl und Widerwärtigkeit hochnützlich zu gebrauchen umfaßt jeweils ein Klage-, ein Trost- und ein Danklied zu geistlichen Anfechtungen und irdischen Nöten, die von Sündenbewußtsein, Angst vor göttlicher Strafe, geistlicher Traurigkeit bis zu Kriegsnöten, Armut, Verfolgung oder gefährlicher Seefahrt reichen und mit Tod und Jüngstem Gericht enden. Von jenen anderen Sammlungen unterscheiden sich diese in auffälliger Weise auch durch die Überschriften vieler Lieder. Hier werden nicht jeweils berücksichtigte homiletische usus benannt, sondern hier findet man immer wieder und ungemein häufiger als in jenen anderen Sammlungen Bezeichnungen wie Klaglied, Bußlied, Trostlied, Bittlied, Danklied, Loblied, Andacht, Betrachtung, Herzensseufzer, und sie sind vielfach näher charakterisiert durch Adjektive wie erbärmlich, kläglich, jämmerlich, schmerzlich, schrecklich, ernstlich, flehentlich, sehnlich, herzlich, lieblich, fröhlich, womit vielfältige geistliche Affekte als Gegenstand oder Ziel der Lieder benannt werden. Damit wie mit ihren Themen verweisen diese Sammlungen auf einen ganz anderen Bereich geistlicher Literatur als den der textauslegenden und applizierenden,⁴⁸ sind sie nahe verwandt mit der umfangreichen Gebets- und
48 Es sind Unterschiede wie diese, die I. Scheitler (Das Geistliche Lied im deutschen Barock) – wenngleich leider unscharf und ohne gründliche Quellen- und Traditionsforschung – bei Rist und anderen Dichtern des 17. Jahrhunderts wahrgenommen hat, die aber mit dem Maßstab ihrer schematischen und von ihr auch in neueren Lexikonartikeln (vgl. Scheitler 1992 und
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Erbauungsliteratur in Prosa,⁴⁹ die eine der kennzeichnendsten Erscheinungen geistlicher Literatur im 17. Jahrhundert ist. Um dies festzustellen, bedürfte es kaum des ergänzenden Hinweises darauf, daß Rist – wie nicht wenige andere geistliche Dichter der Zeit auch⁵⁰ – in manchen Liedern Texte der Gebets- und Erbauungsliteratur nachgedichtet hat,⁵¹ oder der sonstigen Belege für Rists nahezu selbstverständliche Vertrautheit mit dieser geistlichen Literatur.⁵² Fast zu jedem Lied in diesen Sammlungen Rists ließen sich Entsprechungen aus der Gebets- und Erbauungsliteratur beibringen. Erst wenn man diese Verwandtschaft aber ernstlich beachtet und in ihrem vollen Umfang erfaßt, wird die
Scheitler 1997) hartnäckig festgehaltenen Unterscheidung von Geistlichem Lied und Kirchenlied nicht zureichend zu erfassen und zu beschreiben sind. 49 Zu ihr u. a. Althaus 1927; Axmacher 1989; Beck 1891; Brecht 1993; Krummacher 1986; Mohr 1982; Niekus Moore 1991; Schulz 1984; Vogler 1992; Wallmann 1990, S. 12ff.; Zeller 1971; Zeller 1978. 50 Zur – noch immer nicht ausreichend erforschten – Bedeutung der Gebets- und Erbauungsliteratur für die geistliche Dichtung vgl. u. a. Althaus 1927, S. 4ff., 134ff., 152f.; Krummacher 1976, S. 230f., 441ff. Wie ergiebig – auch über die Frage nach einzelnen Quellen hinaus – die Berücksichtigung der Gebets- und Erbauungsliteratur, der Predigt, der orthodoxen Dogmatik für eine historisch-theologische Analyse geistlicher Gedichte des Barock sein kann, hat in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten von Elke Axmacher (u. a. zu P. Gerhardt und zu J. Heermann) und Johann Anselm Steiger (zu S. Dach und A. Gryphius) gezeigt. 51 Das gilt vor allem für Texte von drei einflußreichen Autoren, die Rist in der Vorrede des ersten Teils seiner Himlischen Lieder (Bl. A 5r; vgl. auch T. IV, Bl. A8r) nennt: Josua Stegmann, der in Rinteln Rists akademischer Lehrer gewesen ist, Johann Arndt, der wohl wirkungsreichste Erbauungsschriftsteller des 17. Jahrhunderts, und Johann Gerhard, als lutherischer Dogmatiker so bedeutend wie als Erbauungsschriftsteller. Ohne Nennung einzelner Namen beruft sich Rist in der Vorrede seiner Fest-Andachten (Bl. A8r) neben der Bibel auf die „Geistreichsten Schriften und herrlichen Betrachtungen der alten und neüen Kirchen-Lehrer“ als Quelle. – Eine Reihe von Quellennachweisen aus der Gebets- und Erbauungsliteratur hat – freilich weder erschöpfend noch in den Folgerungen befriedigend – Kipphan 1924 gegeben. Gelegentliche Hinweise in späterer Forschung (u. a. bei Madill 1984, Scheitler 1982) bleiben unergiebig. 52 Zur wiederholten Erwähnung Arndts an anderen Stellen vgl. unten bei Anm. 68. In der Widmungsvorrede seiner Katechismus Andachten (S. 14) preist Rist die Verdienste des Lüneburger Verlages Stern, in welchem auch die Mehrzahl seiner eigenen Liedsammlungen erschienen ist, um die Verbreitung der Bibel und der Schriften namhafter deutscher und englischer Erbauungsschriftsteller wie Arndt, Sonthom, Bayly, Moller, Scherertz oder Wudrian. In der Vorrede seiner Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle (S. 99f.) erwähnt Rist Wudrians nicht nur im Titel verwandte Schola Crucis [...] Das ist [...] Christlicher Vnterricht von dem lieben Creutze (zuerst 1627), von welcher er Jahrzehnte zuvor eine niederdeutsche Version angefertigt habe; zur 1651 erschienenen Neuauflage von Wudrians Werk hat Rist ein langes Ehrengedicht beigesteuert (S. 27–32).
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Eigenart dieser Sammlungen wirklich sichtbar, werden auch dafür symptomatische Themen begreiflich, die oft auf Unverständnis gestoßen sind. So finden sich in Rists Sammlungen Himlische Lieder, Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch und Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle zahlreiche Lieder auf Tod, Gericht, Hölle und Ewiges Leben, deren Schilderung der Hölle und der Qualen der Verdammten darin vielfach als greulich, ekelhaft, peinlich bezeichnet worden ist.⁵³ So kann man nur urteilen, wenn man nicht wahrnimmt, daß es sich beim Gegenstand dieser Lieder um die theologische Lehre von den Vier letzten Dingen handelt, daß diese Lehre eines der zentralen, unendlich oft behandelten Themen von Predigt, Erbauungsliteratur und geistlicher Dichtung ist,⁵⁴ daß es sein Fundament in den entsprechenden Loci der Dogmatik hat, daß alle einzelnen Motive bei Rist – auch die der Höllendarstellung – sich aus jener Tradition speisen und daß Rist die Bedeutung des Themas und die Absichten seiner eigenen eschatologischen Lieder ganz im Sinne jener Überlieferung wiederholt erläutert hat, so in der Vorrede zur Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle (S. 94):⁵⁵ Betreffend nun erstlich diejenige / welche sich für dem göttlichen Gerichte und dem jüngsten Tage so sehr fürchten; Werden dieselbe mit einer zwahr harten / aber sehr nützlichen Anfechtung geplaget und heimgesuchet: Denn einmahl gewisse ist / daß der jenige / der oft an das Ende / sonderlich aber an daß jüngste Gericht (alß woselbst einen jetweden sol vergolten werden / nach deme er gehandelt bei leibes Leben / es sei guht oder böse) gedenket und wol erweget / waß für ein Proceß daselbst sol gehalten werden / der wird auß allen Kräfften für muhtwilligen Sünden sich hühten unnd fürsehen / nach der lehre des weisen Mannes: Memorare novissima et non peccabis [i.e. Jesus Sirach 7,40]. Und dises hat mir auch anlaß und Uhrsache gegeben / daß ich in meinen Büchern so manches Lied unnd andächtige Betrachtung des Todes / des jüngsten Gerichtes / der Pein der Verdamten / und der Freüde der Außerwehlten im anderen unnd ewigen Leben / zu Papir gebracht / die rohe / sichere Weltkinder zu anderen / gahr guhten und Christlichen Gedanken dadurch zu führen.
53 So nicht nur Cunz 1855, S. 551; E. E. Koch 1867, S. 218; von Winterfeld 1845, S. 385, 435, sondern auch Browning/Teuscher 1980, S. 41 (mit der Behauptung, die dritte Strophe von „O Ewigkeit, du Donnerwort“ erinnere „in ihrer ungewollten Komik in unwiderstehlicher Weise an eine Parodie von Wilhelm Busch“) und selbst ein theologisch und hymnologisch geschulter Autor wie Rößler 1990, S. 55 („Peinlich berühren uns seine grellen Schilderungen der Höllenqualen; sie sind überhaupt nicht mehr zu verkraften“). Zurückhaltender im Urteil, aber ohne Beachtung der Tradition: Madill 1984, S. 179ff., 316 und Scheitler 1982, S. 257f. 54 Dazu Krummacher 1987a. 55 S. auch Himlische Lieder, T. IV, Bl. A6rff.; Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. A7rf.; Alltägliche Haußmusik, Bl. )( )(5v.
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Ähnliches Befremden wie die eschatologischen Lieder haben auch die Lieder für verschiedene Stände, Lebenslagen und Anlässe geweckt, die es in Rists Sammlungen gibt. Einen „(ans Merkwürdige grenzenden) Hang zur Vollständigkeit“ hat man ihnen nachgesagt und in ihrer Erläuterung in einer der Vorreden eine „merkantile Absicht“ wirksam gesehen.⁵⁶ Doch kann schon ein Blick auf die Titelblätter einiger besonders charakteristischer Beispiele⁵⁷ der Gebets- und Erbauungsliteratur lehren, daß Rist mit seinen Liedern in poetischer Form das bietet, was Inhalt solcher Gebetbücher ist: „In fünff Büchlein abgetheilet: Dero I.Diurnal oder tägliche Gebet. II.Geistreichs KirchenBüchlein. III. Tröstlichs CreutzBüchlein. IV. Biblisches allgemein Noth- vnd Bußbüchlein. V.Gebet sonderlicher Stände vnd Personen“ (G. Zeämann, Biblische Betquel vnd EhrenKron, 1632) – „Gebet und Dancksagungen / auff jede Tage in der Wochen / Item auff die fürnemste Fest- und Zeiten im Jahre: Deßgleichen auff alle begebende Fälle in den Menschlichen Leben: beydes für Junge und Alte / Gesunde und Krancke / ausser und inner dem Creutz / daheim zu Hauß / und in der Kirchen / nützlich und heilsamlich zu gebrauchen“ (B. Albrecht, Hauß und Kirchenschatz, 51652) – „Im ersten Sind Morgen- Vesper- und AbendGebet [...] Im andern Sind auff alle Festtage nützliche Fragstücke [...] Reim-Gebetlein [...] Im dritten Ist ein schönes Beicht- und Communion-Büchlein. Im vierdten Theil Sind auff allerhand Noht und Anliegen [...] trostreiche nützliche Gebet“ (J. Eichorn, Geistliche Rüst- und SchatzKammer / In vier Theil abgesetzet, 1654) – „1.Tag- und Wochen-Buch. 2.Lehr- Wehr- und Nehr-Stand-Buch. 3.Beicht / und Communion-Buch. 4.FestBuch. 5.Sonderbares Buch. 6.Creutz-Buch. 7.Theurungs- und Pest-Buch. 8.Jahrund Wetter-Buch. 9.Reise-Buch. 10.Krancken- und Sterbens-Buch“ (M. Cubach, Einer gläubigen und andächtigen Seelen vermehretes tägliches Bet- Buß- Lob- und Danckopffer, 1662) – „I.Wochen-Gebete / II.Sonntags-Gebete / III.Fest-Gebete / IV. Beicht- und Communion-Gebete / V.Tugend-Gebete / VI.Catechismus-Gebete / VII.Standes-Gebete / VIII.Creutz-Gebete und IX.Dancksagungen / Nebenst allerhand Liedern“ (J. Quirsfeld, Neu-vermehrter Sing- und Bet-Altar, 1682). Auch mit den in Sammlungen wie diesen überall begegnenden Gruppen der Gebete „sonderlicher Stände vnd Personen“ und „Auff alle begebende Fälle in den Menschlichen Leben“⁵⁸ erfüllt die Gebets- und Erbauungsliteratur eine seelsorgerliche
56 So Scheitler 1982, S. 264. Vgl. auch die sehr viel älteren Darstellungen von Cunz 1855, S. 550f.; E. E. Koch 1867, S. 219; von Winterfeld 1845, S. 435; ferner Madill 1984, S. 347. 57 Zit. nach Exemplaren der HAB Wolfenbüttel. 58 Vgl. hierzu und zu entsprechenden Erscheinungen in den Gesangbüchern von neuerdings wachsendem Verständnis geprägte Hinweise u. a. bei Schulz 1984, S. 113ff.; Veit 1992, S. 440ff.; Völker 1984, S. 553; Vogler 1992; Zeller 1978, S. 27f.
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Aufgabe,⁵⁹ die ihr seit dem späten 16. Jahrhundert aus einem frömmigkeits- und zeitgeschichtlich bedingten zunehmenden Bedürfnis nach geistlichem Trost und andächtiger Erbauung für den Einzelnen und in allen Nöten und geistlichen Anfechtungen erwächst und vor allem im 17. Jahrhundert eine kaum überschaubare Fülle dazu dienlicher Texte hervorgebracht hat. Die enge Verwandtschaft zwischen der thematischen Vielfalt der Gebets- und Erbauungsliteratur und der diese thematische Vielfalt nicht einmal erschöpfenden Reihe der Liedersammlungen Rists⁶⁰ ist nicht zu verkennen. Solche Übereinstimmung, die die große Zahl der Lieder und Liedsammlungen wie deren Themen begreiflich machen kann und Rists Werk als Teil einer breiten Überlieferung geistlicher Literatur im 17. Jahrhundert erweist, wird bekräftigt durch die Ziele, die Rist für sein Bemühen, „die gantze Theologiam, oder die Lehre von Gott / in lauter erbaulichen Liedern zu begreiffen / und der Kirchen Gottes wolmeinentlich mitzutheilen“ (Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. a8v),⁶¹ allenthalben in seinen Vorreden näher benannt hat. Daß er Weckung von Andacht, Vermittlung von Erbauung als Wirkung seiner Lieder anstrebt, versteht sich dabei nahezu von selbst. Aber neben diesen beiden zentralen Vokabeln der geistlichen Literatur der Epoche gibt es zwei weitere Stichwörter, die – sei es auf dem Titelblatt, sei es in den Vorreden – in kaum einer der Sammlungen fehlen und Rists Absichten und seine Stellung innerhalb der geistlichen Literatur seiner Zeit mit besonderer Prägnanz beschreiben. Sie lauten: Aufmunterung, Erneuerung, Erbauung des inneren Menschen⁶² und Erbauung, Fortpflanzung des Wahren Christentums,⁶³ verknüpft mit der Klage über
59 Ausführliche Erläuterungen dazu hat Rist selbst in den Vorreden seiner Sammlungen Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch (Bl. A7rf.) und Alltägliche Haußmusik (Bl. )( )(2v ff.) gegeben. 60 Zeitweilig geplant hat Rist auch ein „Gottseliges / Musikalisches Zeit- und JahrBuch“ (vgl. Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle, S. 100; Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. a8r) und eine „Musikalische Sterbekunst“ (vgl. Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. d1v; Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. d 2v). 61 Vgl. auch Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. a 5v f.: „habe ich mich bemühet / das ich alles das jenige / was einem Christen Menschen / zu Erlangung seiner Seelen ewigen Heils und Seligkeit zu wissen nöhtig / in erbauliche Lieder möchte versetzen.“ 62 Vgl. u. a. Himlische Lieder, T. I, Bl. A 5r; T. III, Bl. A 3v; T. IV, Bl. 88v; Sabbahtische Seelenlust, S. 5; Alltägliche Haußmusik, Titelbl.; Fest-Andachten, Bl. A 5v; Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b1r. 63 Vgl. u. a. Sabbahtische Seelenlust, S. 18; Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(2v (auch Bl. B6r in einem Ehrengedicht); Fest-Andachten, Bl. A 5v; Katechismus Andachten, S. 20 (auch S. 46 und 54 in Zuschriften von Theologen); Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b2v; Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. a 5v, b8v, d1v; Paßions-Andachten, Bl. g1v.
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den Zustand des erkalteten, verfallenen Christentums.⁶⁴ Die Wendung von der Erneuerung und Förderung des inneren Menschen ist Ausdruck einer auf vertiefte Aneignung der Glaubenslehren dringenden Frömmigkeit. Man findet diese Wendung wiederholt beispielsweise auch auf den Titelblättern der Werke von Männern wie Johann Gerhard⁶⁵ und Johann Arndt,⁶⁶ die wirkungsreiche Exponenten solcher Frömmigkeit in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts sind und deren Gebete und Meditationen Vorlage für manche Lieder Rists gewesen sind. Und es ist Arndts Hauptwerk Vier Bücher vom Wahren Christentum, welches die Wendung vom Wahren Christentum und die Forderung nach seiner Erneuerung geprägt und verbreitet hat. Wie umstritten Arndt insbesondere mit diesem Werk bei einem Teil der lutherischen Orthodoxie gewesen ist,⁶⁷ das ist Rist, in dessen Sabbahtischer Seelenlust (S. 49) eines der Ehrengedichte daran ausdrücklich erinnert, ohne Zweifel gegenwärtig gewesen, wenn er sich in der Vorrede zum Seelenparadis [...] Alten Testaments (Bl. b4v) gegenüber theologischen Zänkereien auf das Zeugnis wahrer christlicher Liebe in den „güldnen Büchern“ des „theuren Lehrers [...] Johann Arnd“ beruft und diese Vorrede in derjenigen zum Seelenparadis [...] Neuen Testaments gegen mancherlei theologische Vorwürfe mit erneuter Berufung auf Arndt verteidigt.⁶⁸ Mit dem häufi-
64 Vgl. dazu eingehend insbesondere Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. a8rff. (Nützlicher und nohtwendiger Vorbericht / Worinn / die eigentliche Uhrsachen des heutigen falschen Christenthumes / und des gottlosen Lebens und Wandels der also genannten Christen / gründlich [...] für die Augen werden gestellet), mit Berufung auf J. Stegmann (Bl. b3r); Paßions-Andachten, Bl. b6v ff. (Nützlicher und Nohtwendiger Vorbericht [...] woher es doch eigentlich komme /das heut zu Tage ein so gahr elendes / falsches und heuchlerisches Christenthum [...] werde gefunden / und / durch was für Mittel dasselbe in etwas widerum verbessert [...] könne [...] werden). 65 Vgl. u. a. (Exemplarnachweise bei Krummacher 1976, S. 523f.): Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu [...] Also angestellet / daß wir [...] am innerlichen Menschen seliglich zunehmen mögen, 1611; Quinquaginta Meditationes Sacrae ad [...] interioris hominis profectum promovendum accomodatae, 1607 (Exemplar jetzt Besitz H.-H. Krummacher); Postilla [...] vornehmlich dahin gerichtet / daß wir [...] am innerlichen Menschen seliglich zunehmen mögen, 1613. 66 Vgl. u. a. Postilla [...] zu [...] Ernewerung des inwendigen Menschens [...] vnd Erbawung des wahren Christenthumbs, 1616 (Exemplar Universitätsbibliothek Tübingen); Außlegung des gantzen Psalters Davids [...] zu Ernewrung des inwendigen Menschens, 1624 (Exemplar Evangelische Gemeinde Düsseldorf). 67 Zu den kritischen Stimmen zu Arndt, aber auch zur zustimmenden Rezeption seiner Schriften in anderen Teilen der Orthodoxie vgl. vielerlei Hinweise u. a. bei Brecht 1993, S. 142ff., 168; Leube 1924; Sommer 1988, S. 141ff., 165f.; Sträter 1995; Wallmann 1990, S. 19ff.; Wallmann 1995, S. 32ff. 68 Vgl. Bl. c8r, d1v: „es mag mir einer nachreden was er wil / Er mag mich diser Lehre halben schelten und schmähen [...] so schliesse ich doch mit dem weiland hocherleuchteten Herrn
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gen Gebrauch der Wendungen vom inneren Menschen und vom Wahren Christentum wie mit der wiederholten Berufung auf Johann Arndt bekennt sich Rist dezidiert zu jener seit der Wende zum 17. Jahrhundert entstandenen, nach innerlicher Aneignung der Glaubenslehren und kirchlicher Reform verlangenden Frömmigkeitsbewegung,⁶⁹ die eine wesentliche Strömung innerhalb der lutherischen Orthodoxie des Barockzeitalters ist und weite Bereiche der Erbauungsliteratur und der geistlichen Dichtung geprägt, ja geradezu erst hervorgebracht hat. Auch die Kritik am Zustand des kirchlichen Lebens, am Mangel an rechtem christlichen Tun, die mit dem Verlangen nach Wahrem Christentum eng verbunden ist, gehört mit allen Einzelheiten, die Rist dazu wiederholt vorbringt,⁷⁰ ebenso zu den Indizien seiner Übereinstimmung mit jener neuen Frömmigkeit wie seine mehrfach bekundete Abneigung gegen kontroverstheologische Auseinandersetzungen,⁷¹ die ihn in seinen Liedsammlungen zu den Perikopen und zum Katechismus konsequent auf den homiletischen usus elenchticus verzichten läßt. Die Wahrnehmung aller dieser Züge ergibt ein sich in die Frömmigkeitsgeschichte seiner Zeit genau einfügendes Bild von Rists geistlicher Haltung, die dazu Anlaß gibt, die leitenden Begriffe der Titelblätter und die ausführlichen Darlegungen seiner Vorreden genau zu beachten und für das Verständnis seiner Lieder fruchtbar zu machen. Warum aber hat Rist für seine seelsorgerlich-erbaulichen Absichten sich der Liedform in hunderten von Texten bedient und sich – mit der einen Ausnahme der beiden Prosa und Lieder mischenden Bände über Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit – nicht mit der Prosa der Predigt und der Gebetsund Erbauungsliteratur, der er so nahesteht, begnügt? Daß ihm eine poetische
Johann Arends: Daß das wahre Christenthum nicht bestehe in Wohrten / oder im äuserlichen Schein / sondern im lebendigen Glauben / aus welchem rechtschaffene Früchte / und allerlei Christliche Tugenden entspriessen.“ Zu weiteren Erwähnungen Arndts bei Rist vgl. oben Anm. 51 und 52. 69 Zu dieser Bewegung, von der kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung lange Zeit als Reformorthodoxie, neuerdings aber zur Vermeidung einer Verzeichnung des Verhältnisses zwischen dieser Bewegung und der Orthodoxie eher als neue Frömmigkeit, neue Frömmigkeitsbewegung bezeichnet, die wesentliche Teile der lutherischen Orthodoxie und nicht nur einzelne ihrer Vertreter geprägt hat, vgl. u. a. Brecht 1993; Leube 1924; Leube 1975; Schleiff 1937; Sträter 1995, u. a. S. 9ff; Wallmann 1990, S. 12ff.; Zeller 1971, S. 87ff. 70 Vgl. die Belege in Anm. 64. Zur entsprechenden Kritik innerhalb der lutherischen Orthodoxie vgl. u. a. Leube 1924, S. 36ff.; Leube 1975, S. 68ff.; Schleiff 1937; Sträter 1995, S. 34ff. 71 Vgl. Sabbahtische Seelenlust, S. 21ff.; Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b2v ff.; Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. c8v ff. Zu Belegen für den Verzicht auf kontroverstheologische Auseinandersetzungen bei Autoren wie J. Arndt, J. Gerhard, J. M. Meyfart, M. Moller, J. Stegmann u. a. vgl. Krummacher 1976, S. 481f.
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Gestaltung der geistlichen Inhalte als besonders lehrreich, tröstlich, erbaulich und daß ihm solche Wirkung als am eindringlichsten durch das gesungene Lied erreichbar gilt, dafür liefern die allen Drucken beigegebenen Noten und die Titelblätter, die fast ausnahmslos auf die beigefügten Kompositionen eigens hinweisen und die Titel wiederholt mit dem Zusatz „musikalisch“ versehen, ebenso beredte Zeugnisse wie mancherlei Hinweise in den Vorreden, die die Absichten und Wirkungsmöglichkeiten der eigenen Liedsammlungen erläutern⁷² und auch von der Aufnahme sprechen, die sie – „von vilen Gottlibenden [...] gelesen / gebehtet / gesungen und gespielet“⁷³ – gefunden haben. Titelblätter und Vorreden geben darüberhinaus aber auch Aufschluß darüber, auf welchen Voraussetzungen solche Überzeugung beruht. Auf fast allen Titelblättern hat Rist mit ähnlichen Wendungen angegeben, die Lieder könnten „so wol auf bekante / und in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche / alß auch gantz Neue [...] wolgesetzete Melodeien [...] gesungen und gespielet werden“ (Sabbahtische Seelenlust). Mit der Verwendung bekannter Melodien und dem Hinweis darauf folgt Rist einer verbreiteten Gepflogenheit in der geistlichen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts,⁷⁴ und er teilt mit ihr die Begründung dafür. Denn er will keineswegs nur, wie man gemeint hat, „seinen Veröffentlichungen einen noch breiteren Rezipientenkreis eröffnen“, von welchem er „eine Kenntnis der Noten“ und „die Beherrschung eines Instruments“ nicht habe erwarten können.⁷⁵ Wenn er überlieferte Melodien und mit ihnen vielfach ältere und oft einfachere Strophenformen benutzt, die nach seinem Bekunden⁷⁶ weniger kunstreiche Möglichkeiten bieten und trotzdem angesichts der in Geltung gekommenen Kunstansprüche Mühe erfordern, so geht es ihm mehrfachen Hinweisen zufolge vielmehr darum, „Geistliche Lieder / wodurch die Betrübte könten getröstet / die Schwache gestärket / die Irrende gelehret / die Ruchlose gewarnet / und sonst jedermänniglich erbauet werden [...] auf eine sol-
72 Besonders aufschlußreich: Sabbahtische Seelenlust, S. 20 (zit. oben bei den Hinweisen zum mehrfachen usus bei Rist); Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle, u. a. S. 60, 88, 94f., 97f.; Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. a8v ff. 73 Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b1r; vgl. auch Himlische Lieder, T. V, Bl. a6v; Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(4v („von vielen Gottseligen Christen [...] mit feüriger Andacht / bußfertigem Hertzen und freüdigem Gemühte gesungen“); Fest-Andachten, Bl. A8r; Katechismus Andachten, S. 20 (ähnliche Zeugnisse der Wirkung der Lieder liefern auch manche der den Sammlungen beigegebenen Ehrengedichte und Zuschriften). 74 Vgl. dazu u. a. im Quellenverzeichnis bei Krummacher 1976, S. 511ff. die Werke von C. Bekker, J. Heermann (Devoti Musica Cordis; Sontags- vnd Fest-Evangelia), N. Herman/G. Sunderreiter, A. Hoppius, A. Klesel, J. Mauckisch, J. Sartorius, W. Striccius, J. Vogel. 75 So Scheitler 1982, S. 240, ähnlich Zell 1971, S. 85. 76 Vgl. Sabbahtische Seelenlust, S. 25f.
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che Ahrt“ zu „verfertigen / daß dieselbe so wol von einfältigen und ungelehrten Layen / auf die in unseren Evangelischen Kirchen gebräuchliche Weisen / alß hochverständigen / und in der SingeKunst erfahrnen Leüten auf fremde wolgesetzte Melodeien täglich könten gesungen / und zum nützlichen Gebrauche wohl und fleissig angewendet werden“ (Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. )(4v).⁷⁷ Daran aber, auf solche Weise seine geistlichen Texte für die Ungelehrten zugänglich zu halten, ist Rist gelegen, weil, wie er in der Widmungsrede zum Seelenparadis [...] Neuen Testaments (Bl. a5vf.) festhält, man das jenige / was in wolklingende Reime wird verfasset / viel leichter und besser in die Gedächtnisse kan bringen / oder behalten / als das / was in ungebundener Rede wird beschriben; So habe ich mich bemühet / das ich alles das jenige / was einem Christen Menschen / zu Erlangung seiner Seelen ewigen Heils und Seligkeit zu wissen nöhtig / in erbauliche Lieder möchte versetzen / damit es so viel liber und williger gelesen / gesungen und angehöret / folgends auch so viel besser könte ergriffen und behalten werden.⁷⁸
Was Rist hier wiedergibt, das ist die in der Reformationszeit vor allem von Melanchthon in Anknüpfung an ältere Wurzeln formulierte und durch seine Autorität weit und lange verbreitete Vorstellung, wonach Vers und Musik die Kraft haben, besonders tief ins Herz zu dringen und im Gedächtnis zu haften, und daher zur traditio der vera doctrina de Deo besonders geeignet sind. Diese Anschauung dient im 16. und 17. Jahrhundert allenthalben zur Begründung von geistlicher Dichtung und Musik, ist aber vor allem die Voraussetzung der vielfältigen paraphrasierenden Bibel- und Katechismusdichtung, die besonders zur Unterrichtung der Jugend und der Ungelehrten bestimmt ist.⁷⁹ So geht es auch da, wo Rist sich auf diese Anschauung von der Kraft von Vers und Musik beruft, um die Lehre als eine der erklärten Aufgaben seiner Dichtung, die auch die Ungelehrten und gerade sie erreichen soll und in den Formen der Vermittlung
77 Vgl. u. a. auch Sabbahtische Seelenlust, S. 25. Im selben Sinne auch Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. B2r die Zuschrift des Hamburger Hauptpastors J. Müller. Übrigens hat Rist schon in den Vorreden zu den beiden frühen Sammlungen, deren Lieder noch nicht auf „gebräuchliche Melodeien“ abgefaßt sind, eigens auf die von ihm zur Erbauung des inneren Menschen und mit Rücksicht auf die Benutzung durch jedermann gewünschte Schlichtheit der beigegebenen Kompositionen hingewiesen (Himlische Lieder, T. IV, Bl. a8rf.; Der zu seinem […] Leiden [...] hingeführter [...] Christus Jesus, Bl. )( )(1r). 78 Vgl. ferner u. a. Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b1v ff. – s. auch im selben Sinne Katechismus Andachten, S. 43 (Vorrede des Cellischen Gerneralsuperintendenten M. Walter), S. 68 (Ehrengedicht des Zittauer Gymnasialrektors Chr. Keimann). 79 Vgl. dazu mit zahlreichen Belegen Krummacher 1976, S. 114–123 sowie S. 421 zur Verknüpfung mit dem sermo humilis.
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auf diese Rücksicht nehmen muß. Demgemäß sind es vor allem die der Predigt und Schriftauslegung nahestehenden und noch auf die Tradition der paraphrasierenden Bibel- und Katechismusdichtung zurückweisenden Sammlungen, in deren Vorreden – zum Teil auch verbunden mit den homiletischen usus – jene Anschauung ausdrücklich präsent ist, auch wenn die Aufgabe der Lehre und mit ihr die Bindung an überlieferte Strophenformen nicht auf diese Sammlungen beschränkt ist. Wie mit seinen Texten – abgestuft nach Gegenständen und faßlich vielfach schon in den unterschiedlichen Überschriften der Lieder – so verfolgt Rist auch mit der Musik neben der lehrhaften Absicht zugleich eine andere geistliche Intention.⁸⁰ Ihr dienen die von ihm für alle Sammlungen veranlaßten neuen Kompositionen in zeitgemäßer Form. Sie werden auf manchen der Titelblätter und an zahlreichen Stellen in den Vorreden süß, lieblich, anmutig, kläglich, beweglich, zur Andacht bewegend genannt. Das zielt auf die Wirkung der Musik auf die Affekte, die im 17. Jahrhundert in Anknüpfung an antike Überlieferung und in enger Verbindung mit der Rhetorik Theorie und Praxis der Musik besonders stark beschäftigt hat.⁸¹ In seinen Vorreden hat Rist mehrfach die geistliche Affektwirkung „beweglicher“ Melodien eindringlich beschrieben. In der Vorrede zu den Fest-Andachten (Bl. B4rf.) erläutert er im Blick auf die Kompositionen von Thomas Selle die unterschiedlichen Wirkungen der Texte und Melodien zu unterschiedlichen Festen:
80 Entsprechendes läßt sich bei Heinrich Müller in den für die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts aufschlußreichen Zehen Betrachtungen von den Geistlichen Liedern (Geistliche Seelen-Musik, 21668, S. 1–128) beobachten, wo einerseits die überlieferte Vorstellung von der einprägenden Kraft von Vers und Musik begegnet (S. 6f., 59) und wiederholt von den lehrenden Aufgaben geistlicher Lieder die Rede ist (u. a. S. 6f., 58, 91, 94), andererseits aber auch davon, daß solche Lieder eine „übernatürliche Süssigkeit auß Gott ins Hertz“ bringen können (S. 55), daß „ein frommes Hertz im singen oft eine solche Andacht“ empfinde, „daß ihm gantze Thränenflüsse auß den Augen rinnen“ (S. 57f.), oder daß die Worte der Lieder, „so sie voll Geistes und Lebens sind“, fähig seien, „das Hertz [...] zu rühren“ (S. 68), wobei die Anschauungen von der Affektwirkung auch die Vorstellung von der lehrenden Fähigkeit von Vers und Musik da und dort mitzuprägen beginnen (zu H. Müllers Schrift vgl. Bunners 1966, S. 113ff.). Beigegeben hat Müller seiner Schrift, die in der 3. Betrachtung „von Der Abtheilung geistlicher Lieder“ viele der bei Rist behandelten Themen anführt, eine umfangreiche, für ihre frühe Verbreitung wichtige Auswahl aus Liedern u. a. von J. Heermann, Rist, Birken, Dach, P. Gerhardt, von welchen er in seiner Vorrede (Bl. A7r) bemerkt, er „zweiffle nicht / sie werden durch ihre geistreiche und hertzbrechende Worte die andächtige Seele kräfftig rühren und anzünden.“ 81 Statt der vielfältigen Quellen und der Spezialliteratur sei hierzu nur verwiesen auf die einschlägigen Artikel zur Affektenlehre in der 1. und 2. Auflage der MGG (Serauky 1949; Braun 1994) und im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Krämer 1992).
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Man nehme Ein Kahr-Freitages-Andacht / lasse diselbe auf Einem Instrumente / Es sei eine Orgel / Laute / Theorbe / Pandor oder dergleichen Einem spielen / und den Text fein beweglich dazu singen / was gilts / ob Sie nicht manchem viele Seuftzer aus dem Hertzen / ja wol gahr bittere Trähnen aus den Augen sollen treiben und lokken? Disem zugegen laß Dir Ein Osterliedlein mit Seiner neüen / frölichen Melodie singen und spielen: Was gilt es / ob du nicht gleichsahm im Geiste entzükket / wirst jauchtzen / hüpfen / springen und von gantzer Seele dich erfreüen? Welche verwunderliche Wirkung der alleredelsten / ja recht Göttlichen Musik fürwahr allein genug sein solte / diese ausbündige Wissenschafft biß an den Himmel zu erheben / und deroselben vernünftige Liebhaber und ausgeübete Meister höchlich zu ehren und zu liben [...].
In der Vorrede zur Kreutz- Trost- Lob- und DankSchuhle charakterisiert Rist das Werk seines Komponisten Michael Jacobi im Zusammenhang mit den verschiedenen Teilen der Sammlung (S. 102):⁸² Er hat es aber mit diser Arbeit [...] gahr recht und wol getroffen / in deme er / die traurige Klaglieder mit einem langsahmen / die kräfftige Trostlieder mit einem etwas geschwinderem / und die freüdige Danklieder mit einem frischen Tact hat gesetzet / daß sie solchem nach / in allen Ahrten sehr beweglich kommen / also / daß die Klaglieder die Trähnen außtreiben / die Trostlieder daß bekümmerte Hertz wunderbahrlich stärken / und die Lob- und Danklieder die erquikte Seele mit einer sonderbahren / ja recht himlischen unnd göttlichen Freude erfüllen! O du güldene Musik! O du unvergleichliche Singekunst! Wie lässest du unß solche übertreffliche Würkung in Glük und Unglük / in Libe und Leid / in Friede und Unfriede empfinden!
Die geistliche Affektwirkung, um welche es Rist mit den neugeschaffenen Kompositionen seiner Lieder geht, korrespondiert den an den Texten ablesbaren erbaulichen Absichten der Lieder, und sie bestätigt die Nähe dieser Lieder zur zeitgenössischen Gebets- und Erbauungsliteratur, welche ihrerseits im Zuge der seit der Wende zum 17. Jahrhundert sich entwickelnden neuen Frömmigkeit
82 Vgl. auch Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. d 2v („ihr fürtrefliche Musici [...] verschaffet durch eure süs klingende Melodien / das die Gottlibende Seelen / gleichsahm aus sich selbst entzükket / und durch eine Hertzrührende Andacht / hinauf / in das himlische Paradis werden gerükket“); Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. c2rf.; ferner Rists Bericht über die tröstliche Wirkung eines eigenen gesungenen Liedes im Monatsgespräch „Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt“ (Rist 1972, S. 232ff.). In diesen Zusammenhang gehört auch die Begründung, die Rist (Himlische Lieder, T. III, Bl. A6rff.) für seine Ablehnung von Daktylen in geistlichen Gedichten als für „andächtige Weisen“ ungeeignet gibt (zu der entsprechenden zeitgenössischen Diskussion, an der Rist damit teilhat, vgl. McMullen 1997; Thomas 1963, S. 69ff.). Als Zeugnisse für die Affektwirkung der Lieder vgl. die Ehrengedichte und Zuschriften in: Himlische Lieder, T. II, Bl. B1r; Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. B5r, B6v; Katechismus Andachten, S. 54, 59f. (D. Wülffer); Seelenparadis [...] Neuen Testaments, Bl. f 7r.
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zunehmend von den Möglichkeiten einer gesteigerten persuasorischen Affektrhetorik Gebrauch macht⁸³ und um solcher Nähe willen vielfach auch Beispiele geistlicher Dichtung aufnimmt und mit Gebeten und Meditationen in Prosa vereint.⁸⁴ Überlieferte Melodien und Strophenformen um der belehrenden Aufgabe willen und affektbezogene neue Kompositionen um der erbaulichen Absichten willen, – Anknüpfung an die paraphrasierende Bibel- und Katechismusdichtung und Anlehnung an die Gebets- und Erbauungsliteratur, – Übereinstimmung mit der Homiletik bei der applizierenden Behandlung bevorzugter Predigtgegenstände und poetische Gestaltung vielfältiger Themen der Gebets- und Erbauungsliteratur, – fraglose und ausdrücklich bezeugte Zugehörigkeit zur lutherischen Orthodoxie⁸⁵ und Offenheit für eine erneuerte Frömmigkeit, die ein entschiedenes Bekenntnis zu Arndt einschließt und die sich auch in der Ablehnung theologischer Kontroversen bekundet: das alles sind die Elemente, aus deren von Sammlung zu Sammlung unterschiedlicher Vereinigung Rists Werk erwächst.⁸⁶ Nimmt man all jene wiederkehrenden Stichwörter und Hinweise,
83 Vgl. Krummacher 1986, S. 109ff. 84 So z. B. in den weiter oben genannten Werken von Eichorn und Quirsfeld oder in der Sammlung Ernewerte Hertzen-Seufftzer von Rists Lehrer J. Stegmann, die Andreas Gryphius in seinen letzten Lebensjahren überarbeitet hat, und in Rists eigenem Werk Die verschmähete Eitelkeit Und Die verlangete Ewigkeit. 85 So preist Rist in der an Rat und Bürgerschaft von Lübeck gerichteten Widmungsvorrede zur Sammlung Alltägliche Haußmusik (Bl. )(5v f.) die Stadt, weil in ihr „die alleine seligmachende Lehre oder Religion / wie diselbe in den Schrifften der Propheten und Apostelen / alsden auch in unserer reinen / ungeänderten / Augßburgischen Bekäntnisse und Anderen / nach dem Grundschnure der Wahrheit abgemessenen Büchern ist verfasset / eifrigst wird getrieben / gelehret.“ In Übereinstimmung damit bezeichnet Rist auf den Titelblättern von zwei Sammlungen (Sabbahtische Seelenlust; Alltägliche Haußmusik) die benutzten Melodien ausdrücklich als „in reinen Evangelischen Kirchen gebräuchliche.“ Seinen Fest-Andachten hat er am Ende je ein Lied zum Gedächtnis Luthers, zur Erinnerung an die Übergabe der Confessio Augustana und zum Dank für Luthers Bibelübersetzung angefügt. Die Übereinstimmung seiner Lieder mit der Confessio Augustana und den anderen lutherischen Bekenntnisschriften unter Einschluß der Formula Concordiae ist Rist mehrfach in Zuschriften von Theologen attestiert worden (Sabbahtische Seelenlust, S. 31f., 40; Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Bl. B2v). Das sind angesichts der konfessionellen Fronten und der Abneigung Rists gegen kontroverstheologische Auseinandersetzungen Zeugnisse von Gewicht. 86 Im Hinblick darauf sollten auch die Hinweise zur Eignung der Lieder für Kirche und Haus, für Kirche, Schule und Haus, die sich wiederholt in Rists Vorreden und in ihm zugegangenen Zuschriften und Ehrengedichten finden (Sabbahtische Seelenlust, S. 16, 20, 31, 38, 40, 50, 62; Fest-Andachten, Bl. A8rf., B 4v; Katechismus Andachten, S. 20, 52; Seelenparadis [...] Alten Testaments, Bl. b1r), Anlaß geben, Lieder wie die von Rist und ihre Funktion nicht (wie Scheitler 1982, S. 231ff.) nahezu ausschließlich dem Wirkungsbereich Hausandacht zuzuordnen und
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die überall in Rists Vorreden begegnen und diese Vorreden zu einer ergiebigen Quelle für das Verständnis geistlicher Dichtung im 17. Jahrhundert machen, ernst und fragt man genau genug nach ihren geschichtlichen Voraussetzungen, so zeigt sich ein aufschlußreiches und für Möglichkeiten geistlicher Dichtung der Epoche beispielhaftes Geflecht von Bezügen zu maßgeblichen Formtraditionen, Themen, Aufgaben, Verfahrensweisen der geistlichen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Damit läßt sich ein Fundament gewinnen, auf welchem mit der gehörigen Präzision und Differenzierung nach Themen und Motiven im einzelnen und ihrer Ausgestaltung, nach dem theologischen Gehalt von Rists Liedern, nach exegetischem Traditionsgut, nach Art und Umfang der Benutzung von Quellen und Vorlagen, nach dem Grad der Nähe zur Predigt, zu Formen der Schriftauslegung, zu Meditation und Gebet, nach den Unterschieden der Sammlungen, ihrer Absichten, ihrer Bauformen und Verfahrensweisen, ihrer rhetorischen Mittel, ihrer Stillagen und Strophenformen gefragt und so das Werk Rists in seiner geistlich begründeten Vielfalt und Fülle näher beschrieben und erschlossen werden könnte.
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zudem zu bedenken, daß dieser nicht nur die individuelle Andacht des Einzelnen meint, sondern auch und vielfach vor allem die Andacht des Hausvaters mit Familie und Gesinde, die insbesondere am Sonntag nach dem Hauptgottesdienst stattfinden und die dort gehörte Predigt ergänzen, ihre Lehre vertiefen soll (vgl. dazu besonders Sabbahtische Seelenlust, S. 20, zit. oben im Text vor Anm. 33; s. auch J. Heermann, Sechserley Sontags-Andachten, 1642, S. 337f.).
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2 Andreas Gryphius und Johann Arndt Zum Verständnis der „Sonn- und Feiertags-Sonette“ Der mit dieser Festschrift Geehrte möge dem, der ihm als seinem Lehrer hier den Dank für mannigfache menschliche und wissenschaftliche Anteilnahme und Förderung bezeugen will, gestatten, dies zu tun, indem er auf einem von seinem Lehrer bearbeiteten Feld eine Furche ein wenig verlängert und vertieft. Paul Böckmann hat in seiner Formgeschichte der deutschen Dichtung (Bd. 1, 1949, S. 329–334) am Beispiel der Werke von Johann Arndt und Johann Gerhard die Gebets- und Erbauungsliteratur als eine der Voraussetzungen der barocken Dichtung erörtert; er bemerkt dazu „Wir stehen hier schon unmittelbar auf dem Boden, von dem aus die Lyrik des Gryphius aufwächst“ (S. 332), und er weist dann dort, wo es im besonderen um Voraussetzungen und Leistung der Dichtung des Gryphius geht, unter anderem mit Zitaten aus Gryphius’ Ode Scire tuum nihil est und aus Arndts Gebet um Verschmähung der Welt auf die Nähe von Gryphius zur Gebets- und Erbauungsliteratur, die er weiterhin besonders an den Sonn- und Feiertags-Sonetten hervorhebt, erneut ausdrücklich hin (S. 420). Der Zusammenhang von Gryphius mit diesem Bereich aber ist gerade durch Arndt noch enger und unmittelbarer. Gryphius hat Arndts Gebetbuch ParadißGärtlein / Voller Christlicher Tugenden ...¹ gekannt und eine Reihe von Gebeten daraus, darunter mehrfach jenes Gebet um Verschmähung der Welt, für seine Sonn- und Feiertags-Sonette ² benutzt. Das ist an sich in Anbetracht der großen Verbrei-
1 Zuerst 1612; hier zitiert nach der zweiten Ausgabe, Magdeburg 1615. Bei den Stellenangaben bezeichnen römische Ziffern die Klasse, arabische die Nummer der Gebete. Die Auswertung des Registers (vgl. S. 420f.) beruht, da dieses in den älteren Ausgaben gelegentlich, wo im Textteil mehrere verwandte Gebete einander folgen, bei der Angabe der oft gekürzten Gebetstitel und der Seitenzahlen nicht vollkommen sorgfältig und eindeutig ist, auf einem Vergleich der genannten Ausgabe mit folgenden weiteren Ausgaben des 17. Jahrhunderts: Goslar 1621, Straßburg 1623, Lüneburg 1653, Amsterdam 1676. Es ist unter den Abendmahlsgebeten das unten S. 426ff. behandelte Gebet II,10 für Gründonnerstag eindeutig bezeichnet nur in den Ausgaben von 1621, 1653, 1676, unter einigen einander ähnlichen Gebeten das unten in Anm. 20 genannte Gebet II,18 für den Thomastag nur in den Ausgaben von 1623 und 1676. 2 Zitiert nach dem Neudruck der ersten Ausgabe von 1639 in: Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 1: Sonette, hrsg. von M. SZYROCKI. Tübingen 1963 (Neudrucke, N.F. 9), S. 133–162 (Sonntagssonette), S. 163–184 (Feiertagssonette). Römische Ziffern in den Stellenangaben bezeichnen die beiden Teile des Werks, arabische die Nummern der Sonette innerhalb der beiden Teile.
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tung und Wirkung von Arndts Buch³ nicht erstaunlich. Es ist jedoch geeignet, unsere Kenntnis der Voraussetzungen von Gryphius’ Dichtung zu erweitern und besonders das Verständnis der Sonn- und Feiertags-Sonette zu fördern. Denn die charakteristische Art, in der Gryphius in diesem Werk eine auf die persönliche Glaubenssituation gerichtete Auslegung der Perikopen vornimmt, die besondere Thematik, die er jeweils von den Perikopen aus entfaltet, beruht nicht nur auf der Tradition der Perikopendichtung und –auslegung, wie sie Gryphius in den Werken von Johann Heermann und Valerius Herberger begegnete,⁴ sondern geht in nicht wenigen Sonetten in bemerkenswerter Weise auf eine Beschäftigung mit Arndts Gebetbuch zurück, die den Gebrauch bestimmter Wendungen und Motive erklärt und an das dichterische Verfahren des Gryphius heranführt. Diese Beziehung, die, soweit ich sehe, bisher nicht bemerkt worden ist, erst einmal nachzuweisen, soll daher die vorwaltende Aufgabe dieses Beitrags sein, wobei die Belege zugleich schon Eigenart und Bedeutung der Benutzung Arndts durch Gryphius sichtbar machen werden. Bereits der Weg, auf dem sich feststellen und belegen läßt, daß Gryphius Arndts Gebete benutzt hat, ist aufschlußreich. Er zeigt, wie Gryphius zur Verwendung von Arndts Gebeten gekommen ist, er spiegelt seine Arbeitsweise und ergänzt die Beweiskraft der folgenden Belege. Die Gebete in Arndts Paradiesgärtlein sind in fünf Klassen, die in der Vorrede als Stufen des Gebets erläutert werden, geordnet: Tugendgebete nach den Zehn Geboten, Dankgebete für die Wohltaten Gottes des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes, Kreuz- und Trostgebete, Amtsgebete (diese nur im Register, nicht im Text als eigene Gruppe), Lob- und Freudengebete zur Ehre und zum Preis des Namens Gottes. Von dieser Ordnung aus wäre eine Beziehung von Gryphius zu Arndt nicht leicht zu entdekken. Das zweite der beigegebenen drei Register aber „ist gerichtet auff den Gottesdienst in der Kirchen / Nach den Sontags vnd Fest Evangelien“. Hier werden für die einzelnen Sonn- und Festtage eines oder mehrere Gebete, deren Thema zu den jeweiligen Perikopen in Beziehung gesetzt werden kann, zur Benutzung vorgeschlagen. Bei einer Durchsicht dieses Registers fällt die Nähe mancher
3 Gebete daraus sind von Joh. Heermann, Paul Gerhardt, Joh. Rist u. a. nachgedichtet worden; vgl. P. ALTHAUS D.Ä., Forschungen zur Evangelischen Gebetsliteratur. Gütersloh 1927, bes. S. 4f. u. 152f. – C. HITZEROTH, Johann Heermann. Marburg 1907, bes. S. 70f. – Paul Gerhardt, Geistliche Lieder. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von J.F. BACHMANN. Berlin 1866, S. 181, 200f., 214, 217, 238f., 242. – R. KIPPHAN, Johannes Rist als geistlicher Lyriker. Diss. Heidelberg 1924 (Masch.), S. 22, 36ff., 108. 4 Zur Auslegung der Perikopen bei Herberger vgl. BÖCKMANN, S. 426ff. – Zu den verschiedenen Perikopendichtungen von Heermann vgl. bes. einige allgemeine Hinweise bei V. MANHEIMER, Die Lyrik des Andreas Gryphius. Berlin 1904, S. 112ff.
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Gebetstitel zur Thematik der Sonette von Gryphius zu den entsprechenden Sonntagen auf. Genaueres Nachschlagen führt dann zu der Feststellung, daß Gryphius in einer ganzen Reihe von Fällen einzelne Motive von Arndt, eine Folge bestimmender Stichworte oder das Thema ganzer Gebete übernommen hat. Gryphius hat sich also das zusätzliche Sonn- und Festtagsregister in Arndts Gebetbuch zunutze gemacht, er hat mit Hilfe dieses Registers Arndts Gebete zu Rate gezogen und für die Ausgestaltung seiner Perikopendichtung verwendet. Will man nun den Anteil von Arndts Gebeten an den Sonetten des Gryphius im einzelnen feststellen, so ist freilich stets zu bedenken, daß manche bloß thematische Übereinstimmung schon in der Perikope des betreffenden Sonntags, auf die hin ja auch Arndt seine Gebetsvorschläge macht, oder in der Tradition ihrer Auslegung⁵ begründet ist, daß manche einzelne Wendung zu dem auf der Bibelsprache beruhenden Gemeingut der Gebets- und Predigtsprache gehört, daß Arndts Gebete selbst auch nicht völlig neugeschaffen sind, sondern zum Teil Schriftworte meditierend zusammenstellen oder älteres Gut des geistlichen Schrifttums übernehmen.⁶ Doch haben Arndts Gebete im ganzen durchaus eigenes Gepräge, und es bleiben bei Berücksichtigung dieser in der Eigenart der Gebets- und Erbauungsliteratur begründeten Erschwernisse genug charakteristische Folgen zusammenhängender Motive und Kernworte, die – auch wenn sie bei Gryphius zum Teil sprachlich transponiert, verkürzt, umgestellt werden, weil sie aus der Prosa in die Versform übertragen, unmittelbar zur Auslegung eines Textes verwendet und mit Elementen anderer Herkunft gemischt werden
5 Daher werden die folgenden weiteren Perikopendichtungen und –auslegungen, mit denen die „Sonn- und Feiertags-Sonette“ des Gryphius ebenfalls zusammenhängen (die Werke von Moller wirkten auf Heermann), vergleichend herangezogen: Johann Heermann, Andechtige KirchSeufftzer / Oder Evangelische Schließ-Glöcklin ... Leipzig 1616 – New vmbgegossenes vnd verbessertes Schließ-Glöcklein ... Breslau 1632 (erweiterte Neubearbeitung des vorigen Werks) – Exercitium Pietatis. Vbung in der Gottseligkeit ... Leipzig 1636 (zuerst 1630) – Sontagsvnd Fest-Evangelia / durchs gantze Jahr ... Leipzig 1636 – Valerius Herberger, HertzPostilla ... zum sechsten mal gedruckt ... Leipzig 1625 (zuerst 1613) – Martin Moller, Praxis Evangeliorum, Das ist: Einfältige Erklärung und nützliche Betrachtung der Evangelien ... Lüneburg 1651 (zuerst 1601) – Thesaurus Precationum. Andechtige Gebet / vnd tröstliche Seufftzen / aus den ordentlichen Sontages vnd Fest Evangelien ... Görlitz 1612 (zuerst 1603; Neufassung der Gebete aus Praxis Evangeliorum). 6 Einige allgemeine Hinweise auf Quellen Arndts bei P. ALTHAUS D.Ä., S. 153 (mittelalterliche Mystik, zeitgenössische jesuitische Erbauungsbücher) und W. KOEPP, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Berlin 1912, S. 74f. (bes. Bernhard; ferner u. a. Moller, vielleicht Herberger); eine genauere Quellenuntersuchung scheint leider zu fehlen. Die in einzelnen Bildern und längeren Zitaten benutzten Bibelstellen sind, wenn auch nicht vollständig, in einigen der alten Arndt-Drucke in Marginalien nachgewiesen.
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– in ihrer Gesamtheit die Benutzung Arndts durch Gryphius mit hinreichender Sicherheit belegen. Das soll an einigen besonders prägnanten Beispielen vorgeführt werden, die sich zu drei Gruppen ordnen. In einigen Sonetten beschränkt sich die Benutzung Arndts auf die Einbeziehung einzelner charakteristischer Wendungen oder die Übernahme einer bei Arndt begegnenden Zusammenstellung von Bibelstellen. Das Sonett II,30 Am tage Simonis Iudae. Iohan. 15 hält sich weitgehend nur an den Text Joh. 15,17ff., wobei Gryphius freilich nicht einfach bei der Abfolge der biblischen Aussagen bleibt, sondern aus ihnen auswählt und Umstellungen vornimmt, durch die die Forderung der Bereitschaft zum Leiden im Blick auf Christi Vorbild eine besondere Entschiedenheit gewinnt. Dem dient auch die Ausweitung und Steigerung einzelner Aussagen der Perikope durch andere Schriftworte: so beruhen die Verse 10–11 „Und niemals kan verstehn, das IESVS selig nent, Die hier ein jammerspiel, ein fluch undt schew-sall scheinen“ auf den Seligpreisungen Matth. 5,10.11 und auf den Worten 1. Kor. 4,9.13 „wir sind ein schawspiel worden der Welt ... Wir sind stets als ein Fluch der welt, vnd ein Fegopffer aller Leute⁷“. Wenn aber in entsprechender Weise die Stelle Joh. 15,19 „Weret jr von der welt, So hette die welt das jre lieb“ durch die Verse 6–7 „Wen fleisch, wen augenlust, wen hoffart dich ergetzet, So würde freilich woll dein ansehn hoch geschätzet“ wiedergegeben wird, so ist das offensichtlich durch Arndt angeregt. Sein Register nennt für diesen Festtag die Gebete Vmb hertzliche Brünstige Liebe (I,4) und Für die Lehrer der Kirchen (I,18). In beiden begegnete Gryphius der Formel „des Fleisches lust, vnd der Augen lust, vnd hoffertiges leben“ aus I. Joh. 2,16, die Arndt auch sonst gern gebraucht (u. a. I,47; III,9; III,10). In dem Sonett I,63 Am XXV Sontag nach der H. Dreyeinigkeit. Matth. 24 beruhen die Verse 1–11 auf ausgewählten Stellen aus der Verkündung der Greuel der Endzeit im zugehörigen Text Matth. 24,15–28 und in einigen früheren Versen von Matth. 24 und zeigen in der Verknüpfung dieser Verkündung mit der gegenwärtigen Situation der Gläubigen in der Welt manche Nähe zu Heermann (Exercitium, S. 42f.; KirchSeufftzer, S. 163ff.; Schließ-Glöcklein, T. 1, S. 267ff.), so in der Umwendung von Matth. 24,22 „wo diese tage nicht würden verkürtzt, So würde kein Mensch selig“ in die Bitte „Verkürtze doch die Zeit, und sey nunmehr nicht lang!“ (V. 10). Anders steht es mit den Versen 12–14: „Gib das ich unter des, o wahre Seelenspeis, Mich von der faulen welt, undt ihrer lust abreiß, Vndt ohn verzug zu dier, mitt adlerflügeln schwinge“, für die nur Matth. 24,28 „Wo aber ein Ass ist, da samlen sich die Adler“ eine gewisse Verbindung mit der Perikope herstellt. Vorgebildet ist dieses Ende des Sonetts zwar bei Heermann (Kirch-
7 Bibelzitate nach Luthers Text von 1545/46 in der WA.
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Seufftzer, S. 165: „Vnd reiß mich in eim Augenblick / Zu dir auß allem Vnglück“) und bei Moller (Praxis, T. 3, S. 225ff.; Thesaurus, S. 459ff.), und bei diesem und bei Herberger (T. 1, S. 854f.) begegnet bereits eine etwas verwandte Ausdeutung der Worte „Aas“ als Seelenspeise und „Adler“ aus Matth. 24,28. Nahezu wörtlich aber finden sich die Aussagen von Gryphius, die nur in Einzelteilen, nicht aber als Ganzes auf biblische Prägungen zurückweisen,⁸ bei Arndt: „laß vns dir / O HErr Jesu ... entgegen gehen ... nüchtern seyn ... bereit diese arge vnreine Welt zuverlassen ... O laß vns gerne außgehen aus dieser vnsaubern Sodoma ... O laß vns fliehen als Adeler / zu dir HErr Christe / der du vnser rechte Speise bist ... “ (S. 563; III,28 Gebet wider die furcht des Jüngsten Tages). Dieses Gebet wird von Arndt zwar nicht für den 25. Sonntag nach Trinitatis vorgeschlagen, aber er nennt es für den folgenden Sonntag, und es steht unmittelbar vor einem für den 25. nach Trinitatis angegebenen Gebet. Hier also hat Gryphius im nächsten Umkreis eines Gebets, auf das ihn Arndts Register zunächst führte, eine Wendung gefunden, die sich von dem zu behandelnden Evangelium und dessen Deutung in der Tradition her anbot, um seinem Sonett einen höchst bezeichnenden Zielpunkt zu geben. Ebenfalls an den Schlußversen zeigt sich die Beziehung zu Arndt im Sonett I,3 Am dritten Sontag der zukunft Christi. Matth. 11, das sich auf Matth. 11,2–10 bezieht. Es übernimmt zunächst den für Johannes den Täufer bestimmten Hinweis Christi auf die durch ihn geschehenen Taten (Matth. 11,5), ergänzt durch einige andere Schriftworte (u. a. Jes. 35,6; 61,2). Dann verknüpft es die an jenen Hinweis sich anschließenden Worte Christi „selig ist, der sich nicht an Mir ergert“ (Matth. 11,6) und die folgenden Äußerungen über Johannes „Woltet jr ein Rhor sehen, das der wind hin vnd her webd? ... Woltet jr einen Menschen in weichen Kleidern sehen?“ (Matth. 11,7.8) zu den Versen 9–14: „O selig den von hier kein ärgernus abtregt Den keiner wolust windt gleich leichtem schilf bewegt, Den keiner Feinde trutz, kein grauses keten klingen, Kein Herlikeit noch pracht, kein weiches purperkleidt, Kein angesetztes schwerdt; kein gutt noch grimmes leidt, Kein reichtumb, kein geschenck, kein armutt ab-mag-dringen.“ Von all diesen Stichworten, mit denen die Seligpreisung von Matth. 11,6 ausgestaltet wird, stehen nur wenige in Matth. 11,7.8 und der Parallelstelle Luk. 7,24.25. Für alle anderen aber wie auch für die von Gryphius gebrauchten Verben begegnen wörtliche oder doch sachliche Entsprechungen in ähnlicher Häufung in dem einzigen von Arndts Register für diesen Tag angeführten Gebet I,15 Vmb Christliche Bestendigkeit / im Glauben, das seinerseits zum Teil auf Bibelstellen beruht: „Ich klage dir meines Hertzens vnbestendigkeit / wie leichte werde ich bewogen wie das
8 Vgl. Joh. 6,55; Hiob 9,26; Gal. 1,4; 2. Petr. 1,4.
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Wasser / bald durch furcht bald durch Menschen gunst / bald durch Ehre vnnd Reichthumb / bald durch Armut vnnd Verfolgung / bald durch Wollust vnnd der Welt ergernis / daß ich von deinem Wort vnd Gebete abweiche ... gib mir einen starcken Muth / daß ich deine liebe vnd Ehre / allem Reichthumb vnnd Ehre dieser Welt ... vorziehe / daß ich mich vom Glauben vnnd gedult vnd allen Christlichen Tugenden nicht lasse abwendig machen ... Gib mir deine Gnade / daß ich die Welt mit jhrer lust vberwinde ... daß ich mich auch nicht bewegen lasse alle vndanckbarkeit der Welt / vnd alle verachtung so ich leiden muß wegen der Gottseligkeit vnd Christlichen Tugendt ... Gib mir ein tapffers Himlisches Gemüt / daß ich das zeitliche verachte / vnnd dem ewigen nicht fürziehe / daß ich mich auch für keiner gewalt fürchte / so sich wieder dich auffleget / gib mir daß ich mich in Glück nicht vberhebe / vnnd in vnglück nicht verzage ... Daß ich das gute vornehmen möge ... vnd mich nicht leicht davon abwenden lasse ... daß ich ... getrost vnd vnverzagt leiden müge ... Daß ich vmb Christi ... willen / keine gefahr fliehe / fürchte oder schewe ... laß mich des Teuffels list vnd trug von dir vnnd deiner Göttlichen Wahrheit nicht abwenden ... “ (S. 70–73). Was Gryphius hier findet, nimmt er allerdings weitgehend nur als Stichworte, die er aus dem bei Arndt bestehenden Zusammenhang von Sündengeständnis und Bitte um göttlichen Beistand herauslöst und, verbunden jedoch mit ähnlichen Verben wie bei Arndt, in einem einzigen, großen Satz der in Matth. 11 gegebenen Sprachgeste der Seligpreisung unterstellt.⁹ Aber erst durch diesen Rückgriff auf Arndts Gebet rundet sich das Sonett thematisch ab, das einen Ausschnitt der Perikope so entfaltet, daß Christi Taten als Erfüllung der Verheißungen Gottes verstanden werden, die den Menschen zwingt, sich zu Christus zu halten, und dafür Seligkeit verspricht. Aus der Kombination des Schriftworts mit bestimmenden Elementen von Arndts Gebet schafft Gryphius ein Bekenntnis zur Standhaftigkeit des Glaubens als seine eigene Aussage im Blick auf das Evangelium des Sonntags. Das Gleichnis vom Schalksknecht verwendet Gryphius im Sonett I,60 Am XXI Sontag nach der H. Dreyeinigkeit. Matth. 18 zu einem Gebet um Bewahrung vor dem Gericht Gottes um des Verdienstes Christi willen. Wenn dabei, neben einzelnen sonstigen Bibelanklängen, in den Versen 1–6, 9–10 und 12–13 „O
9 Ein Vorbild für solche Ausgestaltung von Matth. 11,6 konnte Gryphius in den Versen „Sterck vns durch deinen Geist / daß keine schmach vnd schande / Kein Trübsaal / Armuth / Noth / Verfolgung / Schwerd vnd bande Vns von dir wenden ab: gieb vns in frewd’ vnd leid / Was niemand geben kan / als du / Beständigkeit ... Glückselig ist der Mensch / der sein lob hat bey dir. Dort wirstu rühmen den / der dir itzt trew verbleibet: Den von dir keine Noth vnd kein gefängnus treibet“ bei Heermann (Schließ-Glöcklein, T. 1, S. 13f., 18) finden. Doch fehlt hier die für Gryphius’ Verse und den Anfang von Arndts Gebet charakteristische Verbindung der betrübenden mit den verführenden Erscheinungen der Welt.
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aller Herren Herr! o geh nicht ins gerichte Mitt deiner Hände werck! das nicht bestehen kan, Im fall du rechten wilt! o blicke doch nicht an Die menge meiner sundt mitt grimmigem gesichte. Was wiltu weiter noch mitt deiner augen lichte Durchsuchen hertz und geist ... Im fall ich gleich auch wolt Verkauffen was ich hab, reicht doch kein gutt noch goldt ... O schaw den weisen knecht! der diese schrift caßirt Undt uns mitt seinem blutt aus solcher angst gefuhrt ...“ mehrere Schriftworte aufgegriffen und in Zusammenhang gebracht werden,¹⁰ die einzeln zum größeren Teil auch bei Heermann (KirchSeufftzer, S. 156f.; Schließ-Glöcklein, T. 1, S. 256ff.), auf den auch Reimanklänge bei Gryphius verweisen, Moller (Praxis, T. 3, S. 195ff.; Thesaurus, S. 433f.) oder Herberger (T. 1, S. 807f.) innerhalb einer verwandten Behandlung des Gleichnisses anklingen, dann entspricht das offensichtlich allgemeinerer Tradition der Auslegung dieses Gleichnisses, die über dessen ursprüngliche Aufgabe, die Mahnung zur Vergebungsbereitschaft gegenüber dem Nächsten, hinausgreift. Bei Arndt aber stehen in dem zu diesem Tag genannten Gebet vmb vergebung der Sünden (III,6) alle diese Schriftworte zugleich, und zwar in zwei Gruppen (S. 374f., 381) wie bei Gryphius in den Versen 1–6 und 9–13, zwischen denen bei diesem ein unmittelbarer Rückgriff auf die Perikope sich einschiebt. Auf Arndt also geht die gleichzeitige Verwendung dieser fünf Bibelstellen zurück.¹¹ Die eigene Leistung des Gryphius besteht dabei unter anderem darin, wie er, besonders im Einsatz des Sonetts, diese Stellen, die bei Arndt in einem weiträumigen Gebet locker gereiht sind, aufs engste miteinander verknüpft, einzelne Wendungen durch ergänzende Rückgriffe auf die Bibelsprache variiert und das alles mit bestimmten Teilen der Perikope verbindet. Entscheidende Züge des Sonetts ergeben sich so aus der Beschäftigung mit Arndt. Aber das zeigt zugleich, wie es Gryphius gelingt, in einer verschiedene Bestandteile kombinierenden und konzentrierenden Weise die eigene Ausdeutung und Anwendung der Perikope durchzusetzen und damit die Schuld des Menschen und die Erlösung durch Christus eindringlich hervorzuheben. Eine zweite Gruppe auffälliger Beispiele für die Beziehung zwischen Gryphius und Arndt bilden vier Sonette zu einigen der hohen Festtage des Kirchen-
10 Ps. 143, 1.2: HERR ... gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, Denn für dir ist kein Lebendiger gerecht. – Ps. 130,3: So du wilt HErr sünde zu rechen? HErr, Wer wird bestehen? – Ps. 51,11: Verbirge dein Andlitz von meinen Sünden, Vnd tilge alle meine Missethat. – 1. Petr. 1,18.19: Vnd wisset, das jr nicht mit vergenglichem silber oder gold, erlöset seid ... Sondern mit dem thewren blut Christi ... – Kol. 2,14: ... ausgetilget die Handschrifft so wider vns war. 11 Ähnlich verhält es sich im Sonett I,35 „Am Sontag Exaudi. Iohan. 15“, wo in Anlehnung an Arndts „Gebet vnd Trost der Vertriebenen vnd Verfolgeten vmb das Bekentnis willen der Warheit“ (III,37; in der Ausgabe von 1615 falsch als Nr. 38 gezählt) Teile der Perikope Joh. 15,26– 16,4 verbunden werden mit Joh. 15,18, 2. Tim. 3,12 und Matth. 10,22.
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jahres. In den Sonetten I,26 Am grunen Donnerstage. 1. Corinth. 11, I,27 Am gutten Freitage, I,34 Am tage der Himmelfahrt des Herren. Marc. 16 und I,37 An Gott den Heiligen Geist¹² ist der Zusammenhang mit den Perikopen sehr viel lockerer als in vielen anderen Stücken der Sonn- und Feiertags-Sonette oder fehlt ganz (I,27 – für diesen Tag sehen allerdings auch die Perikopenordnungen zumeist nicht einen bestimmten Evangelienabschnitt vor – und I,37). Diese Sonette sind weithin allgemeine Meditationen oder Preisgedichte auf die mit diesen Festtagen verknüpften Heilstatsachen. Schon dieser besondere Charakter erscheint mitbestimmt durch die Art der Gebete, die Gryphius von den von Arndt genannten Stücken für diese Sonette benutzt hat: II,10 Dancksagung für die Einsetzung vnnd stifftung des heiligen Abendmals / neben Anruffung vmb würdige Bereitung vnnd heilsamen gebrauch, II,13 Betrachtung der Person die da leidet / vnnd der vrsachen des Leydens Jesu Christi, II,23 Dancksagung für die fröliche Himmelfahrt Jesu Christi, II,24 Dancksagung für die Sendung des H. Geistes. Entsprechend dieser grundsätzlichen Übereinstimmung haben in diesen vier Sonetten besonders viele Wendungen und Motive ihre Wurzel in Arndts Gebeten. Bei dem Sonett I,26 scheint auch die Wahl des Textes, an den Gryphius sein Gedicht anschließt, mit Arndt zusammenzuhängen. Denn er greift hier nicht das Evangelium Joh. 13,1ff., den Bericht von der Fußwaschung auf, sondern die Epistel des Tages, die er sonst nur an wenigen anderen Stellen, hier aber stets in Verbindung mit dem Evangelium heranzieht (I,38; II,4; II,8; II,29; Kombination zweier Texte ferner II,27). Die Epistel dieses Tages aber, 1. Kor. 11,20–32, aus der eine zentrale Stelle (V. 29 „Denn welcher vnwirdig isset vnd trincket, der isset vnd trincket jm selber das Gerichte“) auch in dem von Arndt für diesen Tag genannten Gebet abgewandelt begegnet, bot Gryphius, da sie die Einsetzung des Abendmahls wiedergibt, die Möglichkeit, im Anschluß an Arndt ein Sonett auf das Abendmahl zu schreiben, das von Heermann und Herberger am Palmsonntag behandelt wird anstatt der Perikope dieses Tages, die mit der des 1. Advent identisch ist. Auffällig ist aber nun, daß Gryphius auf die in der Überschrift angeführte Epistel, die er überraschenderweise hier zum Ausgangspunkt gewählt hat, im einzelnen recht wenig Bezug nimmt. Weithin bestimmend werden für ihn vielmehr einige bei Arndt entscheidende Stichworte, die Gryphius aufgreift,
12 Dieses Sonett, das dem eigentlichen, die Perikope behandelnden Pfingstsonett folgt, steht zuerst, mit ähnlichem Wortlaut, in den Lissaer Sonetten von 1637 (Werke, Bd. 1, S. 5; später in nochmals veränderter Fassung im ersten Sonettbuch der Sammelausgaben, Werke, Bd. 1, S. 29). Diese Stellung des wie andere Perikopensonette mit Arndt zusammenhängenden Stücks legt die Vermutung nahe, daß die Entstehungszeiten der beiden ersten Sonettsammlungen von Gryphius, die zumeist als kurz hintereinander entstanden angesehen werden, sich überschneiden.
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um die Gabe des Abendmahls preisend zu umschreiben. Zu den Versen 1–5 bei Gryphius: „O Höchster liebe pfandt! o brunquell gutter gaben! O beste sußikeit! o wahres engelbrodt! O edle Seelen speis, darmitt der grosse Gott, Will mein verwundes hertz und kranck Gewissen laben! O Schatz, in dem ich mag recht reiche schätze haben!“ finden sich bei Arndt folgende Entsprechungen: „du legest so einen edlen Schatz in mich / daran erkenne ich deine grosse liebe / weil du mir so ein grosses Pfand der Liebe gibst ... im Abendmal gibstu mir das Pfand deines Leibes vnd Blutes ... Darumb / O mein Hertz / was trawrestu / was zagstu / was fürchtestu Todt vnd Verdamnis / ist doch dein HERR vnnd Erlöser für dich gestorben / vnnd gibt dir zum Pfand deiner Erlösung / seinen heiligen Leib vnnd Blut / auch zum Pfand seiner hertzlichen Liebe ... lehre mich bedencken mit was demütigem Hertzen / ich diesen edlen Schatz empfahen solle / ach ich vnreiner komme zu dem Brunnen aller Reinigkeit / ich elender vnnd dürfftiger komme zu dem Reichen / Ich Sünder zu dem Gnadenbrünlein ... ich hungeriger vnnd dürstiger zum rechten Himmelbrodt / vnd Brunnen des Lebens ... wo hat man je so eine wunderliebe gehöret ... daß ein ... elender Mensch / den HERRN Himmels vnnd der Erden ... haben soll / zur Himlischen Speise vnnd Tranck ... laß mich deines Leydens ... eingedenck sein / auff daß meine Seele dadurch gespeiset vnd getrencket werde / Geistlicher Himlischer weise ins ewige Leben / Denn in deinem Leyden vnd Todt ist alles was meine Seele erquicken / vnd wornach jhr Hungern vnd Dürsten kan. Ach bereite mein Hertz wirdiglich durch wahren Glauben / durch wahre Busse / Liebe vnd Demut zu empfahen diesen grossen Schatz ... wie kanstu mir ... meine Hoffnung besser stercken / vnd bekrefftigen / denn daß du mich mit einer vnsterblichen Speise / ins ewige Leben speisest ...“ (S. 249–253). Dieselben bei Gryphius bestimmenden Worte Pfand, Brunnen, Brot, Speise, Schatz, die natürlich für sich alle ihre biblische Grundlage haben und daher auch anderswo begegnen,¹³ deren Zusammenstellung aber das Bezeichnende ist, finden sich also in auffallender Häufung auch bei Arndt als tragende Elemente seines Gebets, die Gryphius auf die preisende Nennung konzentriert.
13 So ist die Formel „brunnquell gutter gaben“ (ähnlich I,37), die in dieser sprachlichen Prägung nicht bei Arndt steht, wohl eine Reminiszenz an Heermanns Liedanfang „O GOtt / du frommer GOtt / du Brunnquell guter Gaben“ (Devoti Musica Cordis ... Leipzig 1636 – zuerst 1630 –, S. 134). Oder bei Moller (Praxis, T. 2, S. 45) heißt es in der Betrachtung zum Gründonnerstag: „... Auff daß ... ich ... bey dir das ewige Freuden-Brod essen / und vom Brunnen des Lebens trincken möge ...“ Bei Arndt finden sich auch an anderen Stellen, z.T. wörtliche, Entsprechungen zu den von Gryphius gebrauchten Formeln, so I,16 zu Gryphius V. 2a, I,13 zu Gryphius V. 3a. Ebenso gibt es bei Gryphius selbst für die Verwendung solcher und ähnlicher Formeln, die u. a. auch im Kirchenlied geläufig sind, weitere Belege und Parallelstellen.
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Etwas lockerer oder mittelbarer, aber doch noch deutlich genug ist der Zusammenhang mit Arndt in den meisten folgenden Versen. V. 6–8a „O ewig lebendt fleisch, das mein schwach fleisch vom todt, O gar unschätzlich blutt, das mich von blutschuldt noht Franck, frey und ledig macht!“ haben Entsprechungen bei Arndt in dem Satz „mein Fleisch vnd Blut / ist dein Fleisch vnd Blut / vnd dein Fleisch vnd Blut / ist mein Fleisch vnd Blut“ (S. 253) und in Teilen des obigen Zitats, wobei verschiedene Schriftworte anklingen, darunter natürlich die Einsetzungsworte des Abendmahls, die nicht nur Matth. 26, Mark. 14 und Luk. 22 stehen, sondern auch 1. Kor. 11,24.25 und insofern Gryphius’ Verse mitbegründen. Die folgenden V. 8b–9 „Fliht, fliht ihr Hellen Raben! Dis wehrte Himmels aas, reitzt nur die Adler an“ sind ein von Arndt unabhängiger Rückgriff auf Matth. 24,28 bzw. Luk. 17,37 „Wo aber ein Ass ist, da samlen sich die Adler“. V. 10–11 „Hilff IESV hilff das ich dis würdig brauchen kan, Was fromen stette frewdt, undt bösen straff wird bringen!“ enthalten die einzige ausdrückliche Beziehung auf die Epistel. Diese Wiedergabe der oben angeführten Stelle 1. Kor. 11,29, die auch Heermann (KirchSeufftzer, S. 76; Schließ-Glöcklein, T. 1, S. 123, 125) anklingen läßt, besitzt ihre Parallele bei Arndt im schon zitierten Satz „bereite mein Hertz wirdiglich durch wahren Glauben ... zu empfahen diesen grossen Schatz“ und in den Worten „darumb laß michs nicht zur Sünden mißbrauchen ...“ (S. 252f.). Die Bitte der letzten Verse von Gryphius schließlich: „Gib das die zehrung mir in dieser wusteney Im threnenthal der Welt, ein süß’ erquickung sey, Bis ich im Vaterlandt dir ewig lob mag singen“, zu der man nur einen allgemeinen Anknüpfungspunkt in der Epistel 1. Kor. 11,26 („... solt jr des Herrn tod verkündigen, bis das er kompt“) findet, weist auf Wendungen am Ende von Arndts Gebet: „Laß mich auch hinfüro durch krafft deines Fleisches vnd Bluts williger vnd stercker werden / mein Creutz zu tragen / Gedültig sein in Trübsal / Demütig in verachtung / Sanfftmütig in beleidigung ...“ (S. 253) und im oben gegebenen Zitat („... daß meine Seele dadurch gespeiset vnd getrencket werde ... ins ewige Leben“ u. a.). So beruht dieser Preis des Abendmahls in seinen Einzelzügen wie seinem Aufbau in beträchtlichem Grade auf dem entsprechenden Text Arndts, den Gryphius auswählend, variierend und erweiternd aufnimmt, durch eigene Rückgriffe auf Schriftworte ergänzt und in der Form des Sonetts konzentriert. Ähnlich eng ist die Beziehung des Sonetts I,27 zu Arndts Gebet II,13. Eine Gegenüberstellung der Texte wird das am besten und kürzesten verdeutlichen: Am gutten Freitage. O schmertz! das leben stirbt! o wunder! Gott mus leiden! Der alles trägt, felt hin! die ehre wirdt veracht! Der alles deckt ist nackt! der alles tröst verschmacht! Der luft undt bäume schuff, mus luft undt Wälder meiden! Vndt hatt die luft zur pein! undt mus am holtz verscheiden!
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Der glantz der herlikeit verschwindt in herber nacht! Der segen wirdt zum fluch! die unerschöpfte macht Hatt keine kräfte mehr! den König aller Heiden Erwurgt der Knechte Schar! was bosheit hatt verschuldt Zahlt unschuldt willig aus! wie embsig ist gedult, Was wiederwill verschertzt, aufs’ new hervorzue bringen! O härtter weitt als stein, den nicht die trew bewegt! Wen Sonn undt luft verschwartzt! wen sich der Erdtkreis regt! Wen todten auferstehn undt hartte fels zue’-springen.
Bei Arndt heißt es: „Ist er nicht der HERR der Herrligkeit? Wie tregt er denn jtzo solche schmach? Ist er nicht der aller sterckeste / Wie ist er denn so schwach worden / daß er sich creutzigen lassen? Ist er nicht ein ewiger Allmechtiger GOt / wie leidet er denn solche vnaußsprechliche noth? ... Ach seine freundliche Augen die klerer seynd denn die Sonne / wie sind sie so vertunckelt ... ist doch alles kleglich vnd jemmerlich was man an jhm siehet / Ach er ist so gar zuschlagen / daß nichts gesundes ist an seinem Leibe ... O des grossen Geheimnis? ... der Heilige tregt meine vnheiligkeit / der Gerechte meine Vngerechtigkeit / der fromme tregt meine Boßheit / der Vnschüldige tregt meine Schuldt / der HERR gibt sich hin für seinen Knechten ... der König der Ehren legt auff sich vnser schmach / GOtt gibt sich hin für sein Geschöpff ... der gesegnete / Ja der Segen selbst gibt sich hin für die Verfluchte / der Selige für die Verdampten / das Leben für die Todten ... Ach HERR du bist vmb meiner Hoffart willen gedemütiget / vmb meines Vngehorsams willen gegeisselt / vmb meiner Wollust willen / voll schmertzen vnd Wunden geschlagen ... Ich war verkaufft durch die Sünde / vnnd du bist mein Lösegelt worden / vnd hast geleistet die allerhöchste bezahlung für meine Sünde ... wie könte eine Sünde so groß sein / die nicht mit diesen aller thewresten Schatz solte bezahlet sein? ... Wie könte der Sünden so viel sein / die nicht durch so einen grossen Gehorsam / hohe Gedult / grosse Sanfftmut vnd tieffe Demut ... solte hinweg genommen seyn? ...“ (S. 263–266). Zum Vers 3a bei Gryphius wäre ferner aus einem der folgenden Passionsgebete bei Arndt (II,15) anzuführen: „du hast mit blossem Blutigem Leib sterben müssen / auff daß du vns mit dem Kleid des Heils / vnd mit dem Rock der Gerechtigkeit bekleidest“ (S. 279). Die Zitate zeigen, daß sich fast jedes Stück der ersten elf Verse von Gryphius auf Arndts Gebet zurückführen läßt, das seinerseits nicht nur mancherlei Schriftworte verwendet, sondern vor allem einer weiter zurückreichenden Tradition der Passionsbetrachtung zugehört,¹⁴ die unter anderem an Jes. 53,
14 So stehen offensichtlich Teile dieses Gebets II,13 in freiem Zusammenhang mit einem Stück aus den Pseudoaugustinischen Meditationes (Cap. VII; MIGNE, P. L., T. 40, Sp. 906f.), das von
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eine Schriftlesung der Karwoche, anknüpft. Gryphius übernimmt von Arndt die entscheidenden Stichworte und den Sinn der Passionsbetrachtung, die sich in mehrfachen Variationen auf zwei paradoxe Aspekte der Passion richtet: den Gegensatz zwischen den Leiden Christi und seiner Göttlichkeit und den daran sichtbar werdenden Gegensatz zwischen der Gerechtigkeit des leidenden Christus und der sie verschuldenden Ungerechtigkeit des Menschen. Diese beiden Aspekte bestimmen nacheinander den Aufbau von Arndts Gebet und entsprechend den des Sonetts von Gryphius bis V. 11. Den Abschluß aber gewinnt Gryphius dann dadurch, daß er das bis dahin von Arndt Übernommene in V. 12–14 mit den in Matth. 27,45.52 dargestellten Geschehnisse in der Todesstunde Christi verknüpft, dabei sich in V. 12 noch einmal von ferne mit Arndts Einsatz „laß mich erkennen vnd bedencken die Person so vmb meinet willen gelitten“ (S. 263) und seiner auf bewegte Teilnahme gerichteten Betonung der menschlichen Schuld berührend. Indem Gryphius so aus dem ihn anregenden Gebet Arndts Entscheidendes auswählt, während er andere charakteristische Züge, wie Betrachtungen über die einzelnen Wunden Christi, übergeht, und seinerseits das Übernommene mit einer unmittelbar aus der Passionsdarstellung der Evangelien stammenden Stelle vereinigt, entsteht sein Passionsgedicht, das aus den von Arndt übernommenen paradoxen Aspekten den nachdrücklichen Aufruf zur Anteilnahme an Christi Leiden, das sogar die Natur erschüttert, ableitet und in ihm gipfelt.¹⁵ Ähnlich wie mit I,26 und 27 steht es mit den Sonetten I,34 und 37, in denen allerdings noch etwas mehr als in den vorigen neben die Beziehung zu Arndt zugleich die Benutzung ergänzender Schriftworte tritt. Knappe Hinweise mögen hier genügen. Im Sonett I,34, das sich mit der Perikope Mark. 16,14–20 nur an wenigen Stellen berührt, geht vor allem, wie in I,35 und I,60 (vgl. S. 424f. u. Anm. 11), die kombinierende Verwendung mehrerer Schriftworte, die in ihrem
Moller (Meditationes sanctorum Patrum, T. 1, Görlitz 1584, Bl. 37v–39r; einige Züge daraus auch Praxis, T. 2, S. 51ff.) übersetzt und durch ihn Vorlage für Heermanns Passionslied „Hertzliebster Jesu / was hastu verbrochen ...“ (Devoti Musica Cordis, S. 60ff.) geworden ist; in dieser Betrachtung werden u. a. die Unschuld des leidenden Christus und die Schuld des Menschen in zahlreichen Variationen gegeneinandergestellt. Ein Vergleich lehrt, daß jedoch Arndt hier schwerlich aus Moller, sondern eher unmittelbar aus der lateinischen Quelle schöpft, auf die aber nicht alle von Gryphius übernommenen Stellen in Arndts Gebet zurückgehen. 15 Einige mit Arndt zusammenhängende Verse und einzelne Wendungen dieses Sonetts begegnen wörtlich oder abgewandelt in der ebenfalls früh entstandenen Passionsdichtung „Thränen über das Leiden Jesu Christi“ von Gryphius (4. Buch der Oden) und führen darauf, daß an diesen und einigen anderen Stellen Arndt mit seinem oben zitierten und einigen anderen Passionsgebeten auch auf dieses Werk von Gryphius gewirkt hat.
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Kontext zumeist durch die Formel „zur Rechten Gottes“ mit dem Himmelfahrtsereignis verknüpft sind, auf Arndt zurück¹⁶ (Gryphius V. 1a, 2a, 10: Ps. 110,1 – V. 2b–3: Kol. 2,15; Ps. 68,19 bzw. Eph. 4,8 – V. 8: Ps. 68,18 – V. 11: Eph. 1,21; 1. Petr. 3,22). Mehr mittelbare Berührungen bestehen in V. 4–7. Unabhängig von Arndt sind die letzten drei Verse, in denen Gryphius die letzten, an Stelle eines Himmelfahrtsberichts stehenden Worte des Matthäus-Evangeliums (28,20) „Vnd sihe, Ich bin bey euch alle tage, bis an der Welt ende“ heranzieht, um das als Vollendung des Ostergeschehens gepriesene Ereignis der Himmelfahrt mit dem Blick auf das Leben der Gläubigen in der Welt zu verknüpfen. Das Sonett I,37 ist mit Motiven Arndts zunächst durch einige der Namen verbunden, mit denen der Heilige Geist gepriesen wird. Vor allem aber sind es hier gerade wieder die letzten Verse (12–14), die besonders auf Arndt zurückweisen. Die Bitten um Erquickung durch das Wasser und Erleuchtung durch das Feuer des Heiligen Geistes, die ebenso wie jene Namen zwar Traditionsgut sind, von denen aber bei Herberger, Heermann und Moller nur die zweite begegnet, sind auch, mehrfach wiederholt, bestimmend für die ersten Teile von Arndts Gebet, in denen zugleich jene Namen vorwiegend stehen. Die letzte Gruppe der Beispiele bezieht sich auf Arndts Gebet vmb der verschmehung der Welt (III,1), in das wie stets mancherlei Bibelstellen einbezogen sind. Arndt nennt für drei Tage neben anderen Stücken dieses Gebet. Gryphius hat in allen drei Fällen unter Arndts Vorschlägen gerade dieses Gebet aufgegriffen und in jeweils verschiedenem, aber stets engem Zusammenhang mit ihm das Thema der Absage an die Welt der Vanitas, das in den betreffenden Perikopen angelegt ist und daher flüchtiger auch bei Heermann, Herberger oder Moller innerhalb meist doch recht andersartiger Auslegungen angeschlagen wird, nachdrücklich entfaltet. Und innerhalb des ganzen Zyklus der Sonn- und Feiertags-Sonette sind es gerade diese drei Sonette – I,39 Am I Sontag nach d. Fest der H. Dreyeinigkeit. Luc. 16, I,53 Am XV Sontag nach der H. Dreyeinigkeit. Matth. 6 und II,1 Am tage des Apostels Andreae. Matth. 4 -, die das für Gryphius so kennzeichnende Thema am stärksten betonen. Es wird tunlich sein, eine kürzende Wiedergabe von Arndts Gebet vorangehen zu lassen, um ihr dann die drei Sonette zu konfrontieren:
16 Anders als die übrigen Sonn- und Feiertage ist der Himmelfahrtstag mit dem zugehörigen Gebet II,23 in den in Anm. 1 genannten Ausgaben nicht im Sonn- und Feiertagsregister, sondern nur im dritten Register, einem alphabetisch geordneten Stichwortregister, angeführt. Doch bedurfte es hierbei wohl für Gryphius dieses versteckteren Hinweises nicht einmal, da das sich so eindeutig für diesen Tag anbietende Gebet unmittelbar vor dem von Gryphius benutzten Pfingstgebet steht.
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„... wie hab ich diese elende vergengliche Welt so lieb gehabt? Ach was hab ich so sehr geliebet ... einen Schatten der da hinfleuget / ach wie habe ich meine liebe vnd mein Hertz / an so ein nichtiges vnd flüchtiges gehenckt / wie hab ich doch einen leblosen Schatten / der nichts ist so sehr geliebet? Wie hab ich mir darumb so viel vergeblicher vnruhe gemacht / so viel schmertzen / so viel sorgen vnnd gremen / was kan doch meiner vnsterblichen Seelen ein sterblich ding helffen? Wo ist alle Herrligkeit Salomonis? ... Wo ist seine Ehre / wenn jhn Gott nicht Ehren wird? ... Die Ehre dieser Welt fehret niemand nach / aber wer Gott Ehret / des Ehre wird ewig bleiben. In Menschen Augen groß seyn ist nichts / vnd wehret eine kleine zeit / aber für GOtt groß sein ... das wehret Ewiglich / was hilfft nun grosse Ehre auff Erden / wenn man für Gott nicht geehret ist? ... Was schadets für der Welt / verachtet vnnd verschmehet werden / wenn man von Gott geehret wird? Laß mich O HERR Christe mit dir / hie deine schmach tragen / auff daß ich dort deiner Herrligkeit theilhafftig werde. Gib mir daß ich deine Schmach ... grösser achte denn alle Schätze ... der gantzen Welt. Ach was kan mir auch aller Reichthumb helffen / wenn ich sterben soll? ... Bleibet doch sonst alles in der Welt / vnd vergehet mit der Welt / was wird michs denn helffen / wenn ich gleich aller Welt Gut hette? ... Im Himmel ist mir auffgehoben das ewige / vnvergengliche / vnverweßliche ... Erbe. Ach was ist auch alle lust dieser Welt / vnnd des Tödtlichen Fleisches? ... bringts nicht gremen / schmertzen / rewe / böse Gewissen ... weinen vnnd heulen? Wie sagen die Verdampten Sap. 5. Was hilfft vns nu der Pracht / Reichthumb vnnd Hohmut? Ists doch alles dahin geflohen wie ein schatte ... Ach mein HERR JEsu Christe / laß mich meine lust an dir haben / so wird meine Frewde ewig sein ... Laß mich meinen Reichthumb an dir haben / so ist mein Reichthumb ewig / laß mich meine Herrligkeit an dir haben / so ist meine Herrligkeit ewig ... in dir hab ich Tausentmahl mehr Güter / denn ich in der Welt lassen muß ... viel grössere Ehre ob ich gleich von allen Menschen verachtet werde ... viel grössere liebe / ob mich gleich die gantze Welt hasset / an dir hab ich den allerliebsten vnd besten Freund vnd die höchste Freundschafft / ob ich gleich keinen Freund in der Welt habe / in dir hab ich viel mehr Segen / ob mich gleich die gantze Welt verflucht ... viel grössere Frewde / ob mich gleich die gantze Welt betrübt ... vnd wenns müglich were daß mein Leib tausentmahl erwürget würde / so bleibstu doch HERR Christe mein Leben / ja mein ewiges Leben / vnnd mein ewiges Heyl“ (S. 348 bis 352). Im Sonett II,1 – es bezieht sich auf Matth. 4,18–22, die Berufung der ersten Jünger, der im selben Kapitel die Versuchung Christi durch den Teufel vorangeht, der ihm „alle Reich der Welt, vnd jre Herrligkeit“ zeigt – kreuzt sich der Zusammenhang mit Arndts Gebet am Gedichtanfang mit einer auffälligen Berührung mit Heermann. Die Reime der ersten vier Verse von Gryphius: „Es fahre was mich helt! es fahre schiff undt netze! Es fahre gunst undt ruhmb! es
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fahre pracht und geldt! Es fahre schein undt ehr! es fahre was die welt Hoch gros undt herlich nent! was acht ich ihrer schätze?“ stehen auch bei Heermann: „Andreas folget bald / lest fahren Schiff vnd Netze: Liebt Christum vnd sein Wort weit mehr denn alle Schätze. Wer Christum vnd sein Wort liebt mehr als Gut vnd Geldt: Der wird dort reicher seyn / als hier die gantze Welt“ (Exercitium, S. 44).¹⁷ Wenn aber Gryphius dann unter anderem fortfährt: „Mein schatz, auf den ich hab, gutt, hertz, undt geister setze, Ist einig meine lust! ... was acht ich ob das zelt Der Erden mir zu eng, undt ob man schwerdter wetze Auf dis mein irdisch fleisch? ihr feinde schnaubt undt thutt Was grim undt has euch lehrt! ... O seelig, wen ich frey von dieser glieder bandt ... dir IESV in die handt, Zum pfandt verlibter trew, werdt meine seele geben“, dann begegnen auch in diesem Sonett von Anfang an nicht nur neben Anlehnungen an Sprache und einzelne Stellen der Bibel wörtlich oder in sprachlicher Variation Kernstellen aus Arndts Gebet, in V. 12–14 erweitert durch ein Motiv, das sich in Matthäus Meyfarts Lied „JErusalem, du hochgebawte Stadt ...“ (1626) findet.¹⁸ Sondern Gryphius hat aus Arndts Gebet die drei thematischen Hauptzüge, Nichtigkeit der Welt und Absage an sie und ihre Güter, Bereitschaft zum Leiden und dessen Geringachtung, Aussicht auf ewige Herrlichkeit und Seligkeit, die die Abwendung von der Welt begründet, aufgegriffen und zur Grundlage seines Sonetts gemacht, das aus der zugehörigen kurzen Perikope besonders wenig entnimmt. Dabei gibt Gryphius dem, was bei Arndt in breiter Klage und Meditation begegnet, im Zusammenspiel rhetorischer Figuren mit der Form des Sonetts die Haltung der entschiedenen Absage und Zuversicht. Sehr viel mehr Rücksicht auf den zugehörigen Perikopentext von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde, Matth. 6,24–34, nimmt das Sonett I,53. Vor allem V. 3–11 sind weitgehend darin begründet, ergänzt durch Beziehungen zu Heermann.¹⁹ Das Thema des Sonetts ist also im Text und in
17 Diese und andere Übereinstimmungen mit Heermann sind zu auffällig, als daß man mit MANHEIMER (S. 121), der auf diesen und ähnliche Fälle, allerdings nicht vollständig, hingewiesen hat, aber sichtlich glaubte, Gryphius’ ‚Originalität‘ retten zu müssen, annehmen könnte, es liege „bewußte Nachahmung ... offenbar nicht vor“. 18 Str. 2: „O schöner Tag v. noch viel schönste Stund ... Da ich mit Lust, mit Freudenfreyen Mund Die Seele geb von mir In Gottes trewe Hände Zum Außerwehlten Pfand ...“ (A. FISCHER, W. TÜMPEL, Das deutsche evangelische Kirchenlied des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. 2, Gütersloh 1905, S. 64). 19 Sie gehen z.T. natürlich auf den gemeinsamen Bibeltext zurück. Das gilt jedoch nicht für die Worte „[Gott] mus ja mehr kummer tragen Vor mich sein ebenbildt, der mir dis leben schenkt, Schenckt was zum leben dient“ bei Gryphius (V. 5–7), mit denen Matth. 6,26 „Seid jr denn nicht viel mehr denn sie“ wiedergegeben wird. Mit dieser ausdeutenden Umschreibung schließt sich Gryphius offenkundig an Heermann (KirchSeufftzer, S. 138: „Du hast mir ja das zeitlich
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der Tradition seiner Auslegung gegeben. Aber zugleich ist doch die besondere Art, in der Gryphius dieses Thema in den beiden ersten Versen „Weg welt! weg trawrig sein! weg teufel, fleisch undt zagen! Weg eitelkeit undt furcht! weg was mich oft so krenckt!“ und den drei letzten „Ob schon die welt geht hin, wen mir der Himmel bleibt, Das schlos der ewikeit, das mir Gott selbst verschreibt, So bin ich ewig reich, und ewig gros zu schetzen“ gestaltet, nur aus der Beschäftigung mit Arndts Gebet zu begreifen. V. 1–2 legen das mehrmals in Matth. 6 (25.27.28.31.34) stehende Wort „sorgen“, auf das sie sich beziehen, in Anlehnung an Arndt aus als Traurigkeit, Zagen, Furcht und dergleichen. V. 12–14 nehmen, unter Einbeziehung anderer Schriftworte (bes. Ps. 46,3; Ps. 73,25; Ps. 93,1; 2. Kor. 5,1), mit einem weiteren Anklang auch an Heermann (KirchSeufftzer, S. 140, Schließ-Glöcklein, T. 1, S. 232: „Vnd laß mich bey dir seyn allzeit / So bin ich reich in Ewigkeit“), das so eindringlich bei Arndt begegnende Motiv des Gegensatzes von Vergänglichkeit des Irdischen und ewigem Reichtum und ewiger Größe bei Gott auf. Erst durch diesen im Zusammenhang mit Arndts Gebet gewonnenen Rahmen, der den Gehalt von Arndts Gebet konzentriert und schon mit dem den Einsatz bestimmenden anaphorisch wiederholten „Weg“ zuspitzt, kommt auch die so weitgehende Nachdichtung der Perikope in V. 3–11 zur Geltung, gewinnt, vom Ich als Ausdruck des Vertrauens zum sorgenden himmlischen Vater gesprochen, Gewicht und Sinn als Begründung für die Abwendung von der eitlen Sorge der Welt. Nachdichtung der Perikope, Rückgriffe auf andere Schriftworte und auf verschiedene Werke der Gebetsliteratur verbinden sich hier. Aus dem Einschmelzen und Verschmelzen dieser Elemente entsteht das Gedicht, daran wird Gryphius’ Leistung exemplarisch sichtbar. Das gilt zuletzt in besonderem Maße auch für das Sonett I,39. Der ganze Text selbst zeigt das am besten: Am I Sontag nach d. Fest der H. Dreyeinigkeit. Luc. 16. O eytel! nichts! o traum! worauf wir menschen bawen! Was hilft der Taffel lust, undt stoltzer kleider tracht, Wen nun die arme Seel, im schwartzen fewre kracht? Undt nimmermehr nicht mag die minste rettung schawen? Wie mag uns doch so sehr fur noht undt armutt grawen, Wenn dehr so hier in angst, ohn allen trost verschmacht, Auf Gottes ehrenthron wird ewig gros gemacht? Mag jemandt in dehr zeit, auf lange jahre trawen?
Leben / In Mütterlichem Leib gegebn / ... Wie köntest du denn mich / O Gott / Verderben lahn in Hungers-Not / Der ich bin nach deim Bild formirt / Mit vnsterblicher Seel geziert“) an, der seinerseits Moller (Praxis, T. 3, S. 116) folgt.
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Wenn uns der blasse todt im augenblick abnimbt? Uns ist das wehrte schlos der ewigkeit bestimbt. Wehm mag das trübe thall der erden denn belieben? Gott ist’s der unser freund undt höchste lust will sein! Was acht ich denn nach dehn, so in der Hellen pein Mitt ihrer gegenwahrt die freunde mehr betrüben?
Auf den ersten Blick könnte dieses Sonett als allein im Evangelium des Sonntags, Luk. 16,19–31, der Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus, begründet erscheinen. Es bleibt immer wieder in den einzelnen Teilen mehr oder weniger stark darauf bezogen, sein Thema ist darin angelegt. Doch lehrt Arndts oben zitierter Text, daß erst die Rückgriffe auf dieses Gebet, deren sprachliche Wiedergabe ihrerseits mehrfach andere biblische Wendungen einbezieht, im Verein mit der Bindung an die Perikope das Gedicht hervorbringen. Auf Arndt weisen vor allem V. 1, die in V. 2 mit dem auch bei Arndt (nach Weish. 5,8) stehenden „Was hilft“ beginnende und das ganze Sonett tragende Form der wiederholten Fragen, der fast alle Rückgriffe auf die Perikope unterstellt werden, V. 7 (ewig gros) und V. 12 (freund, lust). Aber auch alle anderen Verse zeigen ebenso viele Berührungen mit Arndts Text, die die Wiedergabe und Verwendung der einzelnen Züge des Evangelientextes prägen. Das Sonett ließe sich ebenso als bloße Nach- und Umdichtung des Evangeliums wie als Zusammenfassung von Arndts Gebet lesen. Durch die Beschäftigung mit dem Arndtschen Text, der ja nur seinem Thema nach dem Evangelium zugeordnet ist, wird Gryphius die Auslegung der Perikope und deren Durchführung nahegelegt und ermöglicht. Wie dies durch ein ständiges Ineinanderweben beider Texte, durch eine Durchdringung und Umwendung des Evangeliums von Arndts Gebet her geschieht, das ist das Besondere an diesem Sonett. Die angeführten Beispiele²⁰ dürften ausreichend gezeigt haben, daß Gryphius Arndts Paradiesgärtlein gekannt und benutzt hat. Das vermehrt unsere
20 Die weiteren Stellen, an denen es Beziehungen zu Arndt gibt, können hier nur noch ohne begründende Erläuterung zur Ergänzung verzeichnet werden: I,1 „Am ersten Sontag der zukunft Christi“: Arndt III,15 „Gebet vmb das Reich Christi“ – I,43 „Den V Sontag nach dem Fest der H. Dreyeinikeit“: Arndt I,13 „Vmb die Liebe des Göttlichen Worts“ – I,49 „Am XI Sontag nach der H. Dreyeinigkeit“: Arndt III,6 „Gebet vmb vergebung der Sünden“ – I,58 „Am XX Sontag nach der H. Dreyeinigkeit“: Arndt I,39 „Gebet vnnd Dancksagung für die Geistliche vermehlung Christi mit vnser Seelen“ – II,3 „Am tage Thomae“: Arndt II,18 „Trostgebetlein von den Wunden vnsers HERRN Jesu Christi“ – II,12 „Am andern Ostertag“: Arndt I,1 „Das Erste / vmb wahre Erkentnis Gottes“. Damit bestehen, da Arndt nicht für alle von Gryphius behandelten Sonn- und Feiertage Gebetsvorschläge macht, insgesamt bei rund einem Viertel der in Frage kommenden Gedichte Berührungen mit Arndt. Unabhängig vom Sonntags-
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Kenntnis der noch wenig erforschten Bildungswelt des Dichters und bestätigt die von Böckmann betonte Auffassung, die die Lyrik des Gryphius ausdrücklich mit der Gebets- und Erbauungsliteratur der Zeit in Verbindung bringt. Diese Beziehung erweist sich an den Sonn- und Feiertags-Sonetten und damit gerade an den Anfängen von Gryphius’ Dichtung, in denen diese Sonette einen besonders wichtigen Platz haben, als noch konkreter und greifbarer, als bisher anzunehmen und zu belegen war. Neben die Tradition der eigentlichen Perikopendichtung und –auslegung tritt die an nicht wenigen Stellen besonders enge Beziehung zu Arndt, die durch die Zuordnung der Gebete zu den Perikopen angeregt ist, und sie zeigt, wie voraussetzungsreich diese Dichtung des Gryphius ist. Er hat die Werke von Arndt, Heermann, Herberger nicht nur als Anregungen gekannt, sondern er muß sie, wie an der vom Sonntagsregister her nachzuweisenden Beziehung zu Arndt besonders greifbar wird, bei der Gestaltung seiner Dichtung ständig zu Rate gezogen haben. Dieser bis in einzelne Wendungen sich erstreckende Zusammenhang mit einer literarischen Tradition, der als solcher nicht einmal überraschend ist, dessen Breite und Intensität aber durch die Benutzung Arndts sehr viel stärker noch bewußt wird, läßt auch die Eigenart der einzelnen Sonette deutlicher hervortreten, und er erlaubt abschließend einige Feststellungen²¹ über das Verfahren des Gryphius in seinen Sonn- und Feiertags-Sonetten. Was Gryphius aus Arndt entnimmt, sind sehr verschiedenartige Dinge, einzelne Bilder und Wendungen, Zusammenstellungen von Schriftworten, einzelne
register hingegen scheint Gryphius Arndts Gebete, abgesehen von der in Anm. 16 genannten Ausnahme, kaum für seine „Sonn- und Feiertags-Sonette“ benutzt zu haben; gelegentliche sonstige Berührungen erscheinen zu allgemein oder zu begrenzt, als daß sich daraus eine nennenswerte weitere Benutzung ergäbe. 21 Nur diese können im begrenzten Rahmen dieses Beitrags noch angedeutet werden. Sie und andere Probleme, die sich aus dem in diesem Beitrag Dargelegten für die „Sonn- und FeiertagsSonette“ als Ganzes wie für den weiteren Kreis von Gryphius’ Dichtung ergeben, gedenke ich innerhalb einer größeren Arbeit über die Lyrik des Gryphius weiter zu verfolgen. Dazu gehört u. a. auch die Frage, wieweit Arndt über die „Sonn- und Feiertags-Sonette“ hinaus auf Gryphius eingewirkt hat (vgl. den Hinweis in Anm. 15) und was sich aus der Beziehung zu Arndt für das Verständnis der geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Stellung von Gryphius gewinnen läßt. Dabei wird auch die von K. VIЁTOR (Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, S. 20ff.) vertretene These einer Nähe von Gryphius zur Mystik, der mit mancherlei Gründen widersprochen worden ist, erneut zu prüfen sein, da Arndt seinerseits, vor allem durch seine „Vier Bücher vom wahren Christentum“, mit denen das „Pardiesgärtlein“ mannigfach verknüpft ist, dem Luthertum mystisches Gut vermittelt hat (vgl. das in Anm. 6 genannte Buch von KOEPP). Zunächst allerdings erscheint es mir fraglich, ob Arndt in diesem Sinne entscheidend auf Gryphius gewirkt hat. Doch kann dies nur in größerem Zusammenhang geklärt werden.
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Motive, Folgen thematischer Stichworte, Anregungen für die thematische Ausrichtung und den Aufbau von Sonetten. Das besagt einerseits, daß Gryphius nicht, wie das vielfach im Bereich des Kirchenlieds, bei P. Gerhardt, J. Heermann u. a., geschieht, ganze Gebete Arndts nachdichtet, selbst wenn er wesentliche Teile daraus konzentrierend wiederzugeben scheint, und andererseits, daß die betreffenden Gedichte nie ausschließlich auf Arndt beruhen. Das liegt zunächst natürlich daran, daß die Sonette ständig unmittelbar auf die Perikopen bezogen sind. Aber nicht dies allein erklärt das auswählende Verhältnis zu den Gebeten Arndts. Der Nachweis ihrer Benutzung zeigt zugleich, wie sehr sich mit den daraus entnommenen Elementen, oft in demselben Gedicht, die Rückgriffe auf andere Werke, besonders von Heermann,²² und auf vom Perikopentext unabhängige Schriftworte verbinden. All das zusammen erst ergänzt und erläutert die Bindung an die Perikopen; die Aufgabe ihrer Auslegung begründet die auswählende Verwendung all dieser Elemente und bedingt, daß dabei nicht nur ein einzelnes Werk einwirkt. Damit aber steht Gryphius in intensiver und vielfältiger Beziehung zu einer all jenen Werken gemeinsamen exegetischen Tradition, die in Predigt, Meditation oder Gebet die Perikopen und das Schriftwort überhaupt so auslegt, daß sie für das Leben der Gläubigen Bedeutung gewinnen und in ihm wirksam werden können. Solche Auslegung entspricht dem, was in Gryphius’ Sonetten geschieht. Wie sehr in dieser Tradition mit den einzelnen Perikopen ganz bestimmte Themen, die aus ihnen entwickelt werden können, verbunden sind, das zeigt sich an der nachträglichen Zuordnung von Arndts Gebeten zu den Perikopen, die im Blick auf solche Themen erfolgt. Gryphius stimmt jedoch, in den hier behandelten wie in anderen Sonetten, mit Arndt und anderen Werken nicht nur in solchen allenthalben zu belegenden Themen überein. Sondern die konkret faßbaren Berührungen bestehen vor allem in bestimmten Wendungen und Motiven, mit denen derartige Themen aus den Perikopen entwickelt werden, in der besonderen Ausdeutung, die einzelne Stellen der Perikopen erfahren. Auch der Gebrauch ergänzender Schriftworte gehört zum Auslegungsverfahren jener Werke und geht daher bei Gryphius nicht selten unmittelbar auf sie zurück. So erwachsen die Sonn- und Feiertags-Sonette weder aus einer bloßen Wiedergabe der Perikopen noch allein aus der persönlichen Glaubens- und Gefühlswelt, sondern Gryphius begründet und rechtfertigt seine Auslegung der Perikopen, gerade auch dort, wo sie über diese hinausgreift, ständig durch
22 Daß vor allem Heermanns „KirchSeufftzer“ (bzw. „Schließ-Glöcklein“) und „Exercitium“ als Vorbilder einer poetischen Gestaltung der Perikopen für Gryphius sehr wichtig gewesen sein müssen, hat MANHEIMER (S. 121) zutreffend, wenn auch zu allgemein angedeutet. Auch das bedarf weiterer Erläuterung.
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Anlehnungen an andere Schriftworte und an die Behandlung und Deutung der Perikopen in den Werken von Arndt, Heermann, Herberger. In welchem Grade das geschieht, das ist in den einzelnen Sonetten, von denen manche sich auch sehr stark nur an den Perikopentext halten, recht verschieden und hängt unter anderem davon ab, wieviel die Texte schon von sich aus hergeben. Insgesamt aber beruht die Eigenart der Sonn- und Feiertags-Sonette zu einem beträchtlichen Teil auf diesem Zusammenspiel der Bindung an die Perikopen, aus denen im Zusammenhang mit der Tradition ein bestimmtes Thema entwickelt wird, mit der Verwendung von anderen Schriftworten und Elementen der ebenfalls auf beides bezogenen Gebets- und Erbauungsliteratur. Auch mit diesem kombinatorischen Verfahren selbst, mit dem es Gryphius nicht um das Übernehmen schmückender Bilder, sondern um eine die persönliche Glaubenshaltung bezeugende Auslegung der Perikopen geht, entspricht er dem Verhalten der aus unmittelbarem Gebrauch von Schriftworten wie aus tradierten Umprägungen gespeisten Gebets- und Erbauungsliteratur, die um solchen Verfahrens willen einen eigenartigen, vielfach verschränkten Traditionszusammenhang bildet,²³ in dem das jeweils Eigene und Besondere nicht leicht abzugrenzen ist. So erweist sich auch bei Gryphius nicht weniges, was, mit den behandelten Perikopen verglichen, seine eigenste Aussage zu sein scheint, als Traditionsgut. Stellt man es aber fest, so wird um so mehr auch eine genaue Bezeichnung der eigenen Leistung und Aussage des Gryphius möglich, die nicht schon in bestimmten Motiven und Themen liegen, sondern erst in deren Abhebung von der Tradition, in der Gryphius’ Perikopendichtung als ein Glied steht, zu erfassen sind und sich dann unter anderem in Auswahl und Verschmelzung, rhetorischer Steigerung²⁴ und Intensivierung der Themen und Motive zeigen. Die Sonn- und Feiertags-Sonette rücken durch ihre vielfältigen Beziehungen zum Schriftwort wie zu Arndt, Heermann, Herberger in Absicht, Verfahren und Gehalt sehr nahe an die Gebets- und Erbauungsliteratur und besonders die Tradition der Perikopendichtung und –auslegung als einen Ausgangspunkt von Gryphius’ Dichten heran, aber die genauere Erforschung der Verwendung jener Elemente kann an den Gedichten des Gryphius zugleich eine Kunstbewußtheit erweisen, die über die Art jener Literatur hinausführt und die Beziehung zu ihr erst dichterische Frucht tragen läßt.
23 Vgl. die in Anm. 3 genannte Untersuchung von P. ALTHAUS D.Ä. 24 Vgl. bes. K. O. CONRADY, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962, S. 222–242.
3 „De quatuor novissimis“ Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius I. Wenige Gedichte von Andreas Gryphius sind so häufig in der Forschung angeführt, kaum eines ist zugleich so beiläufig zumeist nur und so wenig angemessen behandelt worden wie das Sonett Die Hölle, das mit den Versen¹ Ach! vnd weh! MOrd! Zetter! Jammer! Angst! Creutz! Marter! Würme! Plagen. Pech! Folter! Hencker! Fla! stanck! Geister! kälte! Zagen! Ach vergeh!
beginnt und mit dem Vers „O Mensch! Verdirb / vmb hier nicht zuverderben“ endet (GA I,91, Son.II,48). Man hat dieses „kühne“ Sonett einen Beweis für „das erstaunliche Können und die große Meisterschaft“² des Dichters genannt, „kunstvoll gebaut“ und einen „dramatischen Rhythmuswechsel“ erreichend.³ Man hat gemeint, daß es mit seiner metrisch wechselnden Form, durch welche hindurch „die Erregung ... in den rhythmisch beruhigten Sinnspruch“ auslaufe,⁴ kaum noch als Sonett zu erkennen sei,⁵ daß Gryphius darin die Sonettform gesprengt habe, weil sie „der Emphase seines dichterischen Ausdrucks nicht mehr gewachsen“ sei,⁶ daß er mit Gedichten wie diesem das „Äußerste an barocker Gestaltung des Sonetts erreicht“ und „das vorgeschriebene Metrum“ zerstört habe, weil „er die anstürmenden Wellen seiner dichterischen Erregung nicht mehr im klassischen Sonett zu bändigen vermochte.“⁷ Man hat das Sonett, „das in Aus-
1 Zitiert nach: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hrsg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Tübingen 1963ff. (= GA). Vgl. den vollständigen Abdruck weiter unten. 2 Ferdinand van Ingen: Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966. S. 108f. 3 Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Reinbek 1968. S. 119. 4 Hans-Jürgen Schlütter: Sonett. Stuttgart 1979 (= Sammlung Metzler. 177). S. 88. 5 Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 1981. S. 178. 6 Edelgard E. Conradt: Barocke Thematik in der Lyrik des Andreas Gryphius. S. 106. In: Neophilologus 40 (1956) S. 99–117. 7 Walter Mönch: Das Sonett. Gestalt und Geschichte. Heidelberg 1955. S. 159, 157, 114; z.T. ähnlich Walter Mönch: Góngora und Gryphius. Zur Ästhetik und Geschichte des Sonetts. In: Romanische Forschungen 65 (1954) S. 300–316. Vgl. auch Erich Trunz: Die Entwicklung des
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rufe und Häufungen einzelner Wörter aufgelöst“ erscheine,⁸ als Beispiel einer „Freude an der Bewegung“ verstanden, die „sich mitunter zu eigentlichem Sprudeln der Sprache“ steigere, wobei die „stammelnde Ekstase ... jedes Empfinden des Versmaßes“ aufhebe.⁹ Man sah hier, in „einseitigster Ausprägung des Prinzips“ der Reihung, „eine Impression zur ekstatischen Vision gesteigert“,¹⁰ verbuchte die Worthäufungen des Sonetts als „Gefühls- und Willensausdrücke“,¹¹ hielt „die drohende Hölle in kühnster Aufzählung von Greueln“ für „nicht ausgedacht“, sondern erlebt als „rings herum in den Folterkammern und Hexentürmen“ vorhandene „tägliche Bedrohung, die jeden treffen konnte“.¹² Man begriff die ersten Verse als „Häufung aus innerer Notwendigkeit“, als „Suche nach dem richtigen Wort“.¹³ Man fand bei Gryphius „die Ausdrucksfunktion des Asyndetons am reinsten“ ausgeprägt, für „die tiefste Angst vor der Vision furchtbarer Schrecken“ eingesetzt, „die sich in dieser leidenschaftlich-gehetzten Substantivhäufung ausdrücken will“.¹⁴ Aber man stellte auch fest, das Sonett arbeite bis „zum gesuchten Extrem“ mit der enumeratio,¹⁵ und man hat gefragt, „ob hier nicht doch schon ein selbstherrliches Spiel der Worte inszeniert“ sei.¹⁶ So hat das durch Sprache und metrische Form auffallende Sonett weithin nur als Zeichen ungemeiner Kunstfertigkeit seines Autors oder als Beleg für einen nicht unproblematischen Begriff des Barock und seine stilistischen Merkmale, aber auch dem Versuch gedient, gerade in seinen befremdlichen Bezügen Momente persönlicher Erfahrung und individuellen Ausdrucksverlangens aufzufinden und so jedenfalls diesen Dichter jenen später entstandenen Erwartungen anzunähern, denen die Literatur des 17. Jahrhunderts sich nur
barocken Langverses. S. 466. In: Euphorion 39 (1938) S. 427–468 („So wird hier der Alexandriner verlassen, anfangs durch die Wehschreie der Kurzverse, dann durch die überlangen Zeilen der Höllenschilderung ..., wo dieser ihn einengte“). 8 Ernst C. Wittlinger: Die Satzführung im deutschen Sonett vom Barock bis zu Rilke. Untersuchungen zur Sonettstruktur. Diss. Tübingen 1956 (Masch.). S. 48. 9 Georg Thürer: Vom Wortkunstwerk im deutschen Barock. S. 358. In: Die Kunstformen des Barockzeitalters. Hrsg. v. Rudolf Stamm. Bern 1956. S. 354–382. 10 Hans-Wolf Becker: Studien zum geistlichen Lied des Barock (Einordnung und Überwindung). Diss. Erlangen 1953 (Masch.). S. 59. 11 Hans Pliester: Die Worthäufung im Barock. Bonn 1930. S. 46. 12 Curt von Faber du Faur: Andreas Gryphius, der Rebell. S. 27. In: PMLA 74 (1959) S. 14–27. 13 Erich Trunz: Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. S. 32. In: Aus der Welt des Barock. Stuttgart 1957. S. 1–35. 14 Karl Viëtor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928. S. 4. 15 Willi Flemming: Andreas Gryphius. Eine Monographie. Stuttgart u. a. 1965. S. 141. 16 Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik ds 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. S. 229.
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schwer erschließt. Daß das Sonett Die Hölle aber Teil eines kleinen Zyklus ist, dessen übrige Stücke (GA I, 90–92, Son.II,46, Der Todt; II,47, Das Letzte Gerichte; II,49, Ewige Frewde der Außerwehlten) nur gelegentlich eigens beachtet worden sind,¹⁷ das ist nur selten vermerkt und noch seltener ernst genommen worden,¹⁸ obgleich nur so auch das Höllen-Sonett verstanden werden kann. Denn Gryphius behandelt in diesen vier Sonetten ein theologisches Thema¹⁹ mit alter, vielfältiger Tradition, und er ist dieser Tradition dabei so eng verbunden, daß die Sonette eigentlich mit jedem Gedanken, jedem Motiv, jeder Wendung, ja fast mit jedem einzelnen Wort und mit entscheidenden Sprachformen nicht seine Erfindung sind, sondern ganz von jener Tradition gespeist werden.
17 Hinweise auf einzelne der drei anderen Sonette in den schon genannten Arbeiten von Faber du Faur (S. 27), Flemming (S. 140, 176), van Ingen (S. 95f.), Mönch (Das Sonett. S. 159), Trunz (Entwicklung des barocken Langverses. S. 466); ferner u. a. bei Adelheid Beckmann: Motive und Formen der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts und ihre Entsprechungen in der französischen Lyrik seit Ronsard. Tübingen 1960. S. 69 – Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. Tübingen 1981. Bd. 2, S. 341 – Dietrich Korn: Das Thema des Jüngsten Tages in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1957. S. 81 – Gertrud Lazarus: Die künstlerische Behandlung der Sprache bei Andreas Gryphius. Diss. Hamburg 1932. S. 47 – Adolf Strutz: Andreas Gryphius. Die Weltanschauung eines deutschen Barockdichters. Horgen-Zürich, Leipzig 1931. S. 25 – Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967. S. 100. 18 Vereinzelte, oft nur beiläufige und knappe Hinweise auf den Zyklus in den schon genannten Arbeiten von Flemming (S. 174), van Ingen (S. 110f.), Kemper (Bd. 1, S. 306), Korn (S. 79); ferner u. a. bei Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. Hamburg 1949. S. 419. – Robert M. Browning: Deutsche Lyrik des Barock. Stuttgart 1980. S. 118f. – Robert M. Browning: Towards a determination of the cyclic structure of the secular Sonnets of A. Gryphius. S. 319f. In: Daphnis 14 (1985) S. 303–324 – Victor Manheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius. Studien und Materialien. Berlin 1904. S. 135 – Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ‚Sonnete‘ des Andreas Gryphius. München 1976. S. 104f., 120 – Marvin S. Schindler: The Sonnets of Andreas Gryphius. Use of the Poetic Word in the Seventeenth Century. Gainesville 1971. S. 144–151 – Hans-Jürgen Schings: Catharina von Georgien. S. 38. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hrsg. v. Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968. S. 35–72 – Marian Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964. S. 63 – Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1931. S. 90f.; genauere Behandlung des Zyklus vor allem bei A.G. de Capua: Two Quartets: Sonnet Cycles by Andreas Gryphius. In: MDU 59 (1967) S. 325–329 und insbesondere in dem unten in Anm. 104 näher gekennzeichneten Buch von Günter Ott: Die ‚Vier letzten Dinge‘ in der Lyrik des Andreas Gryphius. Untersuchungen zur Todesauffassung des Dichters und zur Tradition des eschatologischen Zyklus. Frankfurt a.M., Bern, New York 1985. 19 Zutreffend benannt bei Browning, van Ingen, Kemper, Ott, Schindler, etwas allgemeiner bei de Capua, Mauser, Schings.
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Was Gryphius in den vier Sonetten behandelt, die, gefolgt noch von dem Sonett ELIAS (GA I,92, Son.II,50),²⁰ den Abschluß des 1650 zuerst gedruckten, aber schon 1646 fertiggestellten zweiten Sonettbuchs bilden, das ist die Lehre von den quatuor novissima, den vier letzten Dingen, die bis ins 18. Jahrhundert hinein die bestimmende Erscheinungsform christlicher Eschatologie gewesen ist. Mit vielen Einzelzügen dieser traditionellen Lehre vermag freilich heutige Theologie nichts mehr anzufangen. Denn mit der Aufklärung hat ein Prozeß kritischer Verwandlung, ja Auflösung der alten Vorstellungen von den letzten Dingen eingesetzt, den auch Pietismus und Erweckungsbewegung²¹ mit der ihnen eigenen Art von Endzeiterwartung nicht haben aufhalten können und der zu einer – wie man gesagt hat – „Enteschatologisierung“ der Theologie im 19. Jahrhundert geführt hat.²² Beispiele für die aufklärerische Diskussion der Letzten Dinge auch außerhalb der Theologie im engeren Sinne sind Lessings Aufsatz Leibniz von den ewigen Strafen (1773)²³ und Kants Schrift Das Ende aller Dinge (1794).²⁴ Kennzeichnend und prägend für die aus jenem Prozeß hervorgegangene Einstellung der Theologie des 19. Jahrhunderts zur Eschatologie ist
20 Im einzelnen kann auf dieses Sonett, seinen Zusammenhang mit den vorangehenden vier eschatologischen Sonetten und damit auf die in der Forschung wiederholt erörterte Frage nach dem Aufbau dieses und des ersten Sonettbuchs hier nicht näher eingegangen werden. Denn dazu bedürfte es zusätzlicher, über das Material des hier vorgelegten Aufsatzes hinausgreifender Nachforschungen über die Deutung der Gestalt des Elias im dogmatischen, exegetischen und erbaulichen Schrifttum des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Auf jeden Fall haben die über Kemper (Bd. 1, S. 306) und Mauser (S. 101ff.) hinausgehenden Hinweise von Browning (Deutsche Lyrik. S. 119f.; Towards a determination. S. 320f.) und Ott (bes. S. 192ff., 196f.) auf die Bedeutung der Gestalt des Elias als Vorzeichen des Gerichts, die auf Mal. 3,23 beruht und im Zusammenhang mit dem Lehrstück vom Gericht in den alten Quellen öfters genannt wird, viel für sich, auch wenn die Schwierigkeit darin besteht, daß Gryphius in seinem Elias-Sonett, jedenfalls soweit es bisher erschlossen ist, auf die eschatologische Funktion des Propheten, die die Einordnung des Sonetts nach den vier Stücken auf die letzten Dinge plausibel machen würde, nirgendwo ausdrücklich hinweist. 21 Vgl. dazu die entsprechenden Teile der Untersuchungen von Gerhard Maier: Die Johannesoffenbarung und die Kirche. Tübingen 1981 und James P. Martin: The Last Judgment in Protestant Theology from Orthodoxy to Ritschl. Edinburgh, London 1963, ferner Helga Rusche: Die Eschatologie in der Verkündigung des schwäbischen und niederrheinischen Biblizismus des 18. Jahrhunderts. Diss. theol. Heidelberg 1943 (Masch.). 22 So oder ähnlich formulierend u. a. Fritz Buri: Die Bedeutung der neutestamentlichen Eschatologie für die neuere protestantische Theologie. Ein Versuch zur Klärung des Problems der Eschatologie und zu einem neuen Verständnis ihres eigentlichen Anliegens. Zürich, Leipzig 1935. S. 109; Martin: The Last Judgment. S. 129ff. 23 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Paul Rilla. Bd. 7. Berlin 1956. S. 454–488. 24 Immanuel Kant: Werke. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 9. Darmstadt 1968. S. 175–190.
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Schleiermachers Dogmatik,²⁵ die die Lehre von den Letzten Dingen nur noch als recht unbestimmte Vorstellungen von Vollendung der Kirche und persönlicher Fortdauer zu fassen vermag.²⁶ Seit dem späten 19. Jahrhundert empfand man, was der Theologie hier verloren gegangen war. So gab es eine Rückbesinnung auf die Eschatologie als auf ein Kernstück christlicher Theologie, die wichtige Impulse zunächst von der Leben-Jesu-Forschung (J. Weiß, A. Schweitzer u. a.), dann von der dialektischen Theologie Karl Barths empfangen und mehrere Phasen bis heute durchlaufen hat.²⁷ Doch konnte dabei die Theologie, konzentriert vor allem auf eine enge Verbindung von Eschatologie und Christologie und auf ein daran anknüpfendes, endzeitlich gerichtetes christliches Geschichtsverständnis,²⁸ nicht zur alten anschaulichen Gewißheit der Lehre
25 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Teilband 2. Hrsg. v. Hermann Peiter. Berlin, New York 1980. (= Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. 1. Abtlg., Bd. 7, Teilbd. 2) S. 313–338. 26 Vgl. auch die folgenden Spezialschriften aus dem 19. Jahrhundert, die selbst da, wo sie noch stärker an überlieferten Vorstellungen festhalten, doch die eingetretenen Veränderungen und die daraus entstandenen Verlegenheiten gegenüber jenen Vorstellungen spiegeln: W. Floerke: Die letzten Dinge. Rostock 1866 – Hermann Gerlach: Die letzten Dinge unter besonderer Berücksichtigung der Eschatologie Schleiermachers nach der Lehre der heiligen Schrift. Berlin 1869 – Th. Harms: Die letzten Dinge. 3Hermannsburg 1875 – H. Karsten: Die letzten Dinge. Zehn Vorlesungen an die Gebildeten in der Gemeinde. 3Hamburg 1861 – Chr. Ernst Luthardt: Die Lehre von den letzten Dingen in Abhandlungen und Schriftauslegungen dargestellt. Leipzig 1861 – Justus W. Lyra: Die Lehre von den letzten Dingen mit Bezug auf ihre homiletische und katechetische Behandlung in Predigt und Unterricht. Hannover 1880 – Friedrich Richter: Die Lehre von den letzten Dingen. Eine wissenschaftliche Kritik, aus dem Standpunct der Religion unternommen. Breslau bzw. Berlin 1833–1844 – de Valenti: Eschatologie oder die Lehre von den letzten Dingen. Bern, Basel 1840. 27 Dazu und zur Kritik an der Theologie des 19. Jahrhunderts vgl. außer den schon genannten Arbeiten von F. Buri, G. Maier und J.P. Martin u. a. Georg Hoffmann: Das Problem der letzten Dinge in der neueren evangelischen Theologie. Göttingen 1929 – Folke Holmström: Das eschatologische Denken der Gegenwart. Drei Etappen der theologischen Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts. Gütersloh 1936 – Peter Müller-Goldkuhle: Die Eschatologie in der Dogmatik des 19. Jahrhunderts. Essen 1966 (= Beiträge zur neueren Geschichte der katholischen Theologie. 10) – Willi Ölsner: Die Entwicklung der Eschatologie von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Gütersloh 1929. 28 Vgl. außer der schon genannten Literatur u. a. auch Paul Althaus: Die Letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie. 5Gütersloh 1949 (11922) – Rudolf Bultmann: Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958 – Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. München 1964 – Heinrich Ott: Eschatologie. Versuch eines dogmatischen Grundrisses. Zollikon 1958.
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von den Letzten Dingen und ihrer Einzelheiten zurückfinden.²⁹ Höchst bezeichnend ist dafür, wie in Karl Barths Frühschrift über den Römerbrief neben dem für die eschatologische Besinnung der Theologie im 20. Jahrhundert fundamentalen Diktum „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“³⁰ das andere steht, das eine Endzeiterwartung als „Erwartung eines groben, brutalen, theatralischen Spektakels“ ein „harmloses ‚eschatologisches‘ Kapitelchen am Ende der Dogmatik“ (S. 484) nennt.³¹ Von der Veränderung der neuzeitlichen Eschatologie ist die neuere dogmen- und kirchengeschichtliche Literatur in ihren Fragen und Deutungen nicht unbeeinflußt geblieben. Darum kann man bei ihr nur begrenzt Auskunft über die alte Eschatologie finden.³² Man muß zu den Quellen zurück-
29 Zur Kritik, die ihnen daher vielfach ausdrücklich gilt, aber auch zu den Schwierigkeiten, die sie selbst dort bereiten, wo an sie und die theologische Überlieferung noch ausdrücklich angeknüpft wird, vgl. u. a. Althaus: Die Letzten Dinge. S. 77ff. – Hoffmann: Das Problem der letzten Dinge. S. 6ff. – Müller-Goldkuhle: Die Eschatologie in der Dogmatik des 19. Jahrhunderts. S. 2 – H. Ott: Eschatologie – Wolfgang Trillhaas: Dogmatik. 3Berlin, New York 1972. S. 450ff. Anders noch neuere katholische Werke wie Johannes Brinktrine: Die Lehre von den Letzten Dingen. Paderborn 1963 – Michael Schmaus: Katholische Dogmatik. Bd. 3.2.2. Die Lehre von den Sakramenten und von den Letzten Dingen. München 1941. 30 Karl Barth: Der Römerbrief. Achter Abdruck der neuen Bearbeitung. Zollikon-Zürich 1947. S. 298 (diese Fassung zuerst 1922). 31 Dieses kritische Diktum Karl Barths klingt mannigfach in der theologischen Literatur nach; vgl. u. a. Buri: Die Bedeutung der neutestamentlichen Eschatologie. S. 1 – Hoffmann: Das Problem der letzten Dinge. S. 1 – Moltmann: Theologie der Hoffnung. S. 11, 112 – Rusche: Die Eschatologie in der Verkündigung des schwäbischen und niederrheinischen Biblizismus. S. 159. Soweit dabei die ältere Dogmatik vor der Aufklärung, in deren Systematik übrigens die letzten Dinge durchaus nicht immer am Ende stehen, mitgemeint ist, wird man damit weder der sachlichen Begründung dieser Systematik noch der praktisch-erbaulichen Absicht, die damit auch verknüpft ist, gerecht. 32 Genannt seien Leonhard Atzberger: Die christliche Eschatologie in den Stadien ihrer Offenbarung im Alten und Neuen Testamente. Freiburg i.Br. 1890 (Nachdr. Graz 1977) – Leonhard Atzberger: Geschichte der christlichen Eschatologie innerhalb der vornicänischen Zeit. Freiburg i.Br. 1896 (Nachdr. Graz 1970) – Walther Köhler: Dogmengeschichte als Geschichte des christlichen Selbstbewußtseins. Zürich, Leipzig 1938 – Erhard Kunz: Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung. Freiburg, Basel, Wien 1980 (= Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. IV, Fasc. 7c,1) – G. Maier: Die Johannesoffenbarung und die Kirche – J.P. Martin: The Last Judgment in Protestant Theology – Philipp Schäfer: Eschatologie. Trient und Gegenreformation. Freiburg, Basel, Wien 1984 (= Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. IV, Fasc. 7c,2) – Artikel „Eschatologie“ in der TRE 10 (1982) S. 254–363 (mit reichen Literaturhinweisen). Ferner zur Eschatologie bei einzelnen Theologen: Paul Althaus: Luthers Gedanken über die letzten Dinge. In: Luther-Jahrbuch 23 (1941) S. 9–34 – Ulrich Asendorf: Eschatologie bei Luther. Göttingen 1967 – Hans Eger: Die Eschatologie Augustins. Greifswald
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gehen, will man in seiner Fülle und Vielfalt all das genau genug erfassen, was von den letzten Dingen, was im einzelnen vom Tod, vom Gericht, von der Hölle und von der Seligkeit der Gerechten über viele Jahrhunderte bis zur Aufklärung hin geglaubt und gelehrt worden ist. Ausgebildet worden sind diese Lehren, an vorchristliche Vorstellungen und an zahlreiche eschatologische Bibelstellen anknüpfend, nach und nach in den ersten christlichen Jahrhunderten. Überall liegen bei den frühen Kirchenvätern in verschiedenartigen Schriften die allmählich sich verbindenden Elemente zutage.³³ Entscheidende, nachhaltig weiterwirkende Zusammenfassung erfahren sie bei Augustin, insbesondere in den letzten Büchern seiner Schrift De civitate Dei. Die schließlich im allgemeinen in die quatuor novissima gegliederte und in weitreichender Übereinstimmung immer wieder dargelegte Eschatologie hat das hohe und späte Mittelalter in oft auch viel später noch rezipierten und zitierten dogmatischen, katechetischen, erbaulichen Schriften und Dichtungen wie denen von Petrus Damianus,³⁴ Honorius Augustodunensis,³⁵ Vinzenz von Beauvais,³⁶ Bonaventura,³⁷ Thomas von Aquin,³⁸ Seuse,³⁹ Gerhard von Vlieder-
1933 – Heinrich Quistorp: Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins. Gütersloh 1941 – Konrad Stock: Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt. München 1971 – Hinrich Stoevesandt: Die letzten Dinge in der Theologie Bonaventuras. Zürich 1969. 33 Vgl. die „Indices de hominum Novissimis“ bei Migne: PL 220, Sp. 197–308. 34 Migne: PL 145, Sp. 737ff. (Institutio monialis, cap. VI. De anima, cum egreditur, quibus dolorum anxietatibus coarctetur; VII. Sententiae Scripturarum de die judicii; XII. De suppliciis damnatorum; XV. De coelestis Hierusalem beatitudine sempiterna); Sp. 977–983 (Carmina et Preces, CCXXIII. De die mortis; CCXXIV. In eos qui de regis ultione securi sunt, sed Christum evadere nequeunt; CCXXV. Hucusque de adventu; hinc de poenis inferni; CCXXVI. De Gloria paradisi). 35 Migne: PL 172, Sp. 1157–1176 (Elucidarium sive Dialogus de summa totius Christianae theologiae). 36 Vincentius Bellovacensis: Speculum Quadruplex. III. Speculum morale. Graz 1964 (Nachdr. d. Ausgabe Douai 1624). Sp. 689–860: Libri II, Pars I, De quatuor novissimis (das „speculum morale“ wohl erst posthum von anderen verfaßt und dem Werk des Vinzenz beigefügt). 37 Bonaventura: Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis. Hrsg. u. übersetzt v. Josef Hosse. München 1958 (T. III u. IV). 38 Thomas von Aquin: Summa theologica. Deutsch-lateinische Ausgabe. Bd. 35. Supplement 69–86: Auferstehung des Fleisches; Bd. 36. Supplement 87–99: Die letzten Dinge. Heidelberg, Graz, Wien, Köln 1958, 1961. 39 Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg. v. Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907. S. 237–247, 278–287 (Büchlein der Ewigen Weisheit, Kap. XI, XII, XXI) – Pius Künzle: Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe. Freiburg/Schweiz 1977. S. 454–468, 526–540 (Lib. I, Materia X–XI; Lib. II, Materia II). Vgl. Richard F.M. Byrn: Heinrich Seuse und die Lehre von den Vier Letzten Dingen. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts.
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hoven⁴⁰ oder Dionysius Cartusianus⁴¹ den folgenden Jahrhunderten überliefert.⁴² Aufgegriffen und in vielerlei dogmatischen und erbaulichen Werken, in Predigten und Dichtungen dargelegt worden ist sie im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur von katholischen Autoren wie Robert Bellarmin,⁴³ Petrus Besseus,⁴⁴ dessen Predigten Aegidius Albertinus übersetzt hat,⁴⁵ Jacob Bidermann,⁴⁶
Dubliner Colloquium 1981. Hrsg. v. Walter Haug, Timothy R. Jackson, Johannes Janota. Heidelberg 1983. S. 65–75. 40 Ihm wird jetzt die unter Titeln wie „Cordiale quatuor novissimorum“ oder „Quatuor Novissima“ in zahllosen Handschriften und Frühdrucken und in mehreren Übersetzungen überlieferte anonyme Schrift zugeschrieben, die wohl die am stärksten verbreitete Darstellung der vier letzten Dinge gewesen ist. Vgl. dazu insbesondere Marieluise Dusch: De veer Utersten. Das Cordiale de quatuor novissimis von Gerhard von Vliederhoven in mittelniederdeutscher Überlieferung. Köln, Wien 1975 (mit einem Verzeichnis von 222 Handschriften) – Richard F.M. Byrn: Johannes Bämlers Cordiale-Auszug vom Jahre 1473. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hrsg. v. Volker Honemann, Kurt Ruh, Bernhard Schnell, Werner Wegstein. Tübingen 1979. S. 95–106 – Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 7 (1938) Nr. 7469–7541. Hier benutztes Exemplar: Quatuor Nouissima cū multis Exemplis pulcherrimis. Leipzig 1497 (Gutenberg-Museum Mainz, Ink. 18, Nr. 3). 41 Dionysius Cartusianus: Opera omnia. Bd. 9. Tournai 1912. S. 489–594: De quatuor hominis novissimis. 42 Vgl. u. a. auch Marieluise Dusch: Drei Sermones van den vtersten des mynschen. In: Niederdeutsches Wort 10 (1970) S. 25–43; ferner zu den zahlreichen mittelalterlichen Werken in Vers und Prosa, in denen mancherlei Einzelzüge der letzten Dinge begegnen: Wilfried Kettler: Das Jüngste Gericht. Philologische Studien zu den Eschatologie-Vorstellungen in den alt- und frühmittelhochdeutschen Denkmälern. Berlin, New York 1977 – Nigel Palmer: Die Letzten Dinge in Versdichtung und Prosa des späten Mittelalters. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. v. Wolfgang Harms, L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 225–239 – Hans-Wilhelm Rathjen: Die Höllenvorstellungen in der mittelhochdeutschen Literatur. Diss. Freiburg i.Br. 1956 (Masch.) – Walther Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle 1928. 43 Robert Bellarmin: Opera omnia. Bd. 9. Frankfurt a.M. 1965 (Nachdr. d. Ausgabe Paris 1873). S. 413–455: Conciones de quatuor novissimis – dt.: Postill / Oder AVßlegung mehrentheyls Episteln vnd Euangelien. Köln 1616. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 358–407: Von vier letzten Dingen – Kurtzer Innhalt Christlicher Lehre. Prag 1687. (Exemplar in meinem Besitz) S. 323– 327: Von den vier letzten Dingen – ital. Originalfassung: Opera omnia. Bd. 12. Frankfurt a.M. 1965 (Nachdr. d. Ausgabe Paris 1874). S. 283–337. 44 Petrus Besseus: Conciones sive conceptus theologici super quatuor hominis noviss. Venedig 1614. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 45 Der Seelen Compaß Das ist: Von den Vier letsten dingen deß Menschen ... Anfangs Durch ... Petrum Bessaeum ... in Frantzösischer Sprachen beschriben. An jetzo aber durch Aegidium Albertinum ... verteutscht. München 1617. (Film der Sammlung Faber du Faur). 46 Jacob Bidermann: Heroum Epistolae. Salzburg 1716. (Film der Sammlung Faber du Faur). Liber I. De quatuor novissimis ...
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Jeremias Drexel,⁴⁷ Hermann Hugo,⁴⁸ Ludovicus Granatensis,⁴⁹ Martin von Cochem,⁵⁰ Johann Niesius und Matthaeus Rader,⁵¹ William Stanyhurst,⁵² Martin Pallu⁵³ oder Angelus Silesius⁵⁴ und von Humanisten, die der alten Kirche zugetan geblieben sind, wie Erasmus⁵⁵ oder Thomas Morus,⁵⁶ sondern in ebenso vielfältiger Weise auch auf protestantischer Seite.⁵⁷ Zwar gibt es bei Luther keine zusammenhängende Darstellung der letzten Dinge, sondern nur eine Vielzahl
47 Jeremias Drexel: Aeternitatis Prodromus Mortis Nuntius. Köln 1630. (Film der Sammlung Jantz) – dt.: Der Ewigkeit Vorlauffer Oder Deß Tods Vorbott. 2 München 1630. (Film der Sammlung Jantz) – Der Ewigkheit Vorbott, deß Todtß Heroldt ... in dise Teütsche Carmina durch Johan Jacob Schülpl vbersetzet. Wien 1649. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Richter Stuel Christi Oder ... gehaimes Gericht aines jeden Menschen in seiner Sterbstund. München 1633. (Film der Sammlung Faber du Faur) – De aeternitate considerationes. 2 München 1622. (Film der Sammlung Jantz) – dt.: Betrachtungen von der Ewigkeit. München 1625. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Infernus, Damnatorum Carcer et Rogus. Köln 1632. (Film der Sammlung Jantz) – dt.: Der Verdambten fewrige jmmerwehrende Höllgfänknuß. München 1631. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Caelum, Beatorum Civitas. Antwerpen 1635. (Film der Sammlung Jantz) – dt.: Himmel Die Ewige Bleibstatt aller Seeligen. München 1637. (Film der Sammlung Faber du Faur). 48 Hermann Hugo: Pia desideria. Hildesheim, New York 1971 (Nachdr. d. Ausgabe Antwerpen 1632). S. 118–128: I,14. Vtinam saperent, & intelligerent, ac nouissima prouiderent! 49 Ludovicus Granatensis: Opera. Tomus III. Köln 1626. (Exemplar Bischöfliches Priesterseminar Mainz): De Oratione et Meditatione liber primus, S. 205–231: De morte; De extremo iudicio; De poenis infernalibus; De gloria vitae caelestis. 50 Martin von Cochem: Die Vier letzten Dinge. 23Augsburg 1838. 51 Quatuor Hominis Vltima a Mattheo Radero Duo Ab Joanne Niesio duo vtroque Societate Jesu Sacerdote Plorata Cantata. In: Bernhard Bauhusius: Epigrammatum libri V. Köln 1615. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 124–178. 52 William Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt ... Durch andächtige Behertzigung Dern Vier Letzten Dingen deß Menschen ... in Latein beschrieben; Nachgehends ... ins Teutsch uberbracht. Molsheim 1679. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 53 Martin Pallu S.J.: Von denen Letzten Dingen des Menschen ... Nach der dritten Französischen Auflag. Augsburg 1764. (Exemplar StB München). 54 Angelus Silesius: Sämtliche Poetische Werke. Hrsg. v. Hans Ludwig Held. Bd. 3. 3München 1949. S. 221–312: Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge. 55 Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Lateinisch und deutsch. Hrsg. v. Werner Welzig. Bd. 2. Darmstadt 1975. S. 258f.: Epigramma de quatuor nouissimis. 56 Thomas Morus: Die vier letzten Dinge. Übers., eingel. u. kommentiert v. Friedrich-Karl Unterweg. München 1984 (= Werke. Bd. 4) (Fragment; posthum 1557 gedruckt). 57 Die folgenden wie die schon zuvor gegebenen Hinweise können nirgends die Absicht haben, die Werke zu den quatuor novissima vollständig aufzuzählen, sondern müssen sich im gegebenen Rahmen damit begnügen, durch eine größere Auswahl von Quellen, von denen auch nicht immer der erste oder beste Druck zur Verfügung stand, einen zureichenden Eindruck von deren Zahl und Vielfalt über die Jahrhunderte hin zu vermitteln.
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verstreuter Äußerungen zur Eschatologie,⁵⁸ in den lutherischen Bekenntnisschriften nur einzelne Feststellungen,⁵⁹ bei Melanchthon,⁶⁰ aber auch bei Calvin⁶¹ erst Ansätze einer systematischen Behandlung. Aber in dem Maße, in welchem zugleich mit der konfessionellen Konsolidierung auch immer stärker systematisch verfahrende protestantische Darstellungen der Dogmatik sich ausbilden, werden darin auch die vier letzten Dinge – vielfach als gewichtiger Schlußteil, in manchen Werken aber auch an anderer, systematisch begründeter Stelle – als eigene Lehrstücke in Anknüpfung an die Tradition⁶² mit gebüh-
58 Die theologische Forschung – vgl. u. a. Alfred Adam: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2. Mittelalter und Reformationszeit. Berlin 1973. S. 291f.; Althaus: Luthers Gedanken über die letzten Dinge. S. 11, 13, 17ff., 22; Althaus: Die Letzten Dinge. S. 146ff.; Asendorf: Eschatologie bei Luther. S. 23; Maier: Die Johannesoffenbarung und die Kirche. S. 285, 292; Martin: The Last Judgment. S. 4ff.; Quistorp: Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins. S. 1ff., 200 – hat weithin gemeint, darin ein Anzeichen dafür finden zu können, daß sich Luther zunehmend von der hergebrachten Lehre von den letzten Dingen, sich auch darin als Reformator bewährend, abgewendet habe, und sie hat dementsprechend mit Bedenken vermerkt, daß die spätere lutherische Dogmatik ihm u. a. in der Vorstellung vom Schlaf der Seele nach dem Tode nicht gefolgt ist und stattdessen die vom sofortigen besonderen Gericht vertreten hat. Zu prüfen wäre aber, ob das Fehlen einer zusammenhängenden Darstellung bei Luther tatsächlich theologisch begründete Absicht ist und nicht vielmehr durch die Situations- und Anlaßbezogenheit eines großen Teils seiner Produktion indirekt mit erklärt wird und ob nicht seine verstreuten Äußerungen zur Eschatologie immer auch die überlieferten Vorstellungen zum stillschweigend vorausgesetzten Hintergrund haben. Zugleich wird man sich – angesichts des für das Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts ganz selbstverständlich weiter bestehenden Zusammenhangs mit aller unverdächtigen altkirchlichen Überlieferung, aus der denn auch u. a. bei der Eschatologie vielfach zitiert wird – hüten müssen, in der Fortgeltung der alten Lehre von den vier letzten Dingen in der lutherischen Orthodoxie ohne weiteres eine bedenkliche Abweichung von Luther und zudem gar eine Annäherung an katholische Lehre zu sehen, wo es doch vielmehr um eine Gemeinsamkeit des theologischen Erbes geht, dessen Kraft sich darin bezeugt. 59 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. 5Berlin 1960. S. 72 (CA XVII; Schwabacher Artikel, 13; Frühfassung der Augustana, 16). Vgl. Edmund Schlink: Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften. 2 München 1946. S. 364–397. 60 Philipp Melanchthon: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Robert Stupperich. Bd. 2, T. 2. Loci praecipui theologici von 1559 (2. Teil). Gütersloh 1953. S. 609–616: De resurrectione mortuorum. 61 Johannes Calvin: Opera selecta. Hrsg. v. Peter Barth, Wilhelm Niesel. Bd. 4. Institutionis Christianae religionis 1559 librum III. Continens. München 1959. S. 131–146: Cap. V. De supplementis quae ad satisfactiones adiiciunt, nempe indulgentiis et purgatorio; S. 170–177: Cap. IX. De meditatione futurae vitae; S. 368–379: Cap. XXI. De electione aeterna, qua Deus alios ad salutem, alios ad interitum praedestinavit; S. 432–456: Cap. XXV. De resurrectione ultima. Vgl. Kunz: Protestantische Eschatologie. S. 31ff. – Quistorp: Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins, S. 1ff., 50, 108f. 62 Ob und wieweit und in welchen Punkten es bei aller auffälligen Übereinstimmung dennoch Unterschiede gegenüber den mittelalterlichen und den frühneuzeitlichen katholischen
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render Einläßlichkeit dargestellt, bei Jakob Heerbrand,⁶³ Matthias Hafenreffer,⁶⁴ Adam Francisci⁶⁵ oder Leonhard Hutter,⁶⁶ bei Johann Gerhard,⁶⁷ Johann Heinrich Alstedt,⁶⁸ Nikolaus Hunnius,⁶⁹ Johannes Henichius,⁷⁰ Johann Wilhelm Baier⁷¹ oder David Hollatz.⁷² Entsprechend dieser Rolle in der protestantischen Dogmatik haben zahlreiche protestantische Autoren die letzten Dinge auch zum Gegenstand von Predigten und oft umfangreichen und vielfach auch illustrierten Erbauungsbüchern gemacht, so Daniel Bamberg,⁷³ Melchior Bischoff,⁷⁴ David Chytraeus,⁷⁵
Werken zur Eschatologie oder auch Differenzen innerhalb der protestantischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts gibt, das kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht bedacht und erörtert werden. 63 Jakob Heerbrand: Compendium Theologiae, Methodi quaestionibus tractatum. Tübingen 1575. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 64 Matthias Hafenreffer: Loci Theologici. Jena 1601. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 65 Adam Francisci: Margarita Theologica Continens methodicam explicationem Praecipuorum Capitum doctrinae Christianae. Wittenberg 1605. (Exemplar Bischöfliches Priesterseminar Mainz). 66 Leonhard Hutter: Compendium Locorum theologicorum. Hrsg. v. Wolfgang Trillhaas. Berlin 1961 (Ausgabe des Drucks von 1610). 67 Johann Gerhard: Loci theologici. Hrsg. v. Johann Friedrich Cotta. Bd. 17–20. Tübingen 1727– 1731. (Exemplar UB Mainz) (Erstausgabe der „Loci“ 1610–1622). 68 Johann Heinrich Alstedt: Theologia scholastica didactica, Exhibens locos communes theologicos methodo scholastica. Hannover 1618. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 69 Nikolaus Hunnius: Epitome Credendorum, Oder Kurtzer Inhalt Christlicher Lehre. Wittenberg 1664. (Exemplar Stadtbibl. Soest). 70 Johannes Henichius: Compendium Theologicum. Rinteln 1671. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 71 Johann Wilhelm Baier: Compendium Theologiae positivae. Hrsg. v. Karl Ferdinand Wilhelm Walther. Bd. 2. Saint Louis 1879. (Widmungsvorrede dat. 1686). 72 David Hollatz: Examen theologicum acroamaticum universam Theologiam thetico-polemicam complectens. Darmstadt 1971 (Nachdr. d. Ausgabe Stargard 1707). – Außer diesen für den vorliegenden Aufsatz genauer ausgewerteten Werken vgl. u. a. auch die entsprechenden (soweit nicht anders angegeben, in Wolfenbütteler Exemplaren durchgesehenen) Schriften von Leonhard Culman, Johann Paul Hebenstreit, Johann Friedrich König, Andreas Musculus, Christoph Pelargus, Johann Andreas Quenstedt, Urban Rhegius, Johann Adam Scherzer, Johann Spangenberg sowie unter den Praesides Johann Conrad Dannhauer (Exemplar Bischöfliches Priesterseminar Mainz), Christian Gueintz, Joachim Hildebrand gehaltene Disputationen. 73 Daniel Bamberg: Heilsames Gedenck an mich ... In Eilff geistlichen Betrachtungen von den Vier letzten Dingen. Dresden 1677. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 74 Melchior Bischoff: Vom Ewigen Leben der Außerwehlten Kinder Gottes / Acht Predigten: Item / Vom ewigen Todt vnnd Verdamniß der Gottlosen / Sechs Predigten. 2 Leipzig 1600. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 75 David Chytraeus: Christlicher / Tröstlicher ... vnterricht. Vom Tode vnd Ewigen Leben. Berlin 1590. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) – Christlicher / Tröstlicher ... vnterricht. I. Von Vnsterb-
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Johann Michael Dilherr,⁷⁶ Caspar Döler,⁷⁷ Erasmus Francisci,⁷⁸ Johann Gerhard,⁷⁹ Justus Gesenius,⁸⁰ Johann Matthäus Meyfart,⁸¹ Johann Quistorp⁸² oder Wolfgang Seber.⁸³ Andere haben die Novissima in unterschiedlichen poetischen For-
ligkeit der Seelen / vnd jhrem Zustand nach dem Leibstode ... V. Von der Ewigen Marter vnd Pein der Gottlosen in der Helle. Frankfurt a.d.O. 1592. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 76 Johann Michael Dilherr: Tod / Gericht und Hölle ... in etlichen Wochen- / und SonntagsPredigten. Nürnberg 1658. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 77 Caspar Döler: De Vita aeterna … Meditatio sacra, in illustri Casimiriano SaxoCoburgiaco … recitata. Coburg 1618. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) (lt. Jöcher, Erg.bd. 2, Sp. 723 gibt es von Döler auch eine „Meditatio de inferno“, 1620). 78 Erasmus Francisci: Die Brennende Lampen der Klugen; Zu Sorgfältiger Beleuchtung der Sterblichkeit. Nürnberg 1679. (Film der Sammlung Jantz) – Das Unfehlbare Weh der Ewigkeit für die Verächter der Gnaden-Zeit. Nürnberg 1686. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Das Ehr- und Freuden-reiche Wol der Ewigkeit / für die Verächter der Eitelkeit. Nürnberg 1683. (Film der Sammlung Faber du Faur). Vgl. ferner Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. T.1. Stuttgart 1980. S. 649, Nr. 32: Die Letzte Rechenschafft ... Bedenckungen Deß Sonderbaren Seelen-Gerichts / und Allmenschlichen End-Gerichts. Nürnberg 1681. 79 Johann Gerhard: Meditationes Sacrae. Leiden 1629. (Exemplar in meinem Besitz): Meditatio XLIII–L. 80 Justus Gesenius: Tractatus, De Quatuor Novissimis, Oder Vier letzte Dinge. Braunschweig 1642. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 81 Johann Matthäus Meyfart: Tuba Novissima Das ist Von den vier letzten Dingen des Menschen 1626. Hrsg. v. Erich Trunz. Tübingen 1980 – Drey Nützliche Tractat ... vom Jüngsten Gericht ... vom Hilischen Jerusalem ... vom Höllischen Sodoma. Nürnberg 1710. (Exemplar in meinem Besitz) (die drei Werke erschienen einzeln 1627ff.). Vgl. auch die in der MeyfartBibliographie angeführten Disputationen über einzelne Stücke der Letzten Dinge, die in Coburg unter Meyfart als Praeses gehalten worden sind: Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica. Hrsg. v. Erich Trunz. Tübingen 1977. S. 13*ff. 82 Johann Quistorp: Quatuor Novissima Oder Fünff vnd fünfftzig Predigten. Rostock 1629. (Exemplar HAB Wolfenbüttel). 83 Wolfgang Seber: Hortulus Biblicus, Oder Biblisch Lust-Gärtlein. Leipzig 1660. (Exemplar HAB Wolfenbüttel): Kap. XXIX–XXXIV. – Vgl. ferner u. a. Georg Albrecht: Tuba novissima. Nürnberg 1652 – Georg Albrecht: Vae nobis. Ulm 1660 – Michael Baumann: Meditationes de Aeternitate ... Sechzehen Predigten von der Ewigkeit. Ulm 1664 – Basilius Faber: Allerley Christliche / nötige vnd nützliche vnterrichtungen / von den letzten Hendeln der Welt. Eisleben 1565 – Henricus Schwartz: Christliche Todes-Betrachtung. Magdeburg 1671 – Henricus Schwartz: Eins von Beyden / Das ist Zwey unwider-ruffliche Endurtheil. Helmstedt 1678 – Michael Christian Tieroff: Evangelische Todtenbahn. Leipzig 1673 – Michael Christian Tieroff: Evangelisches Jüngstes Gericht. Frankfurt, Leipzig 1676 – Michael Christian Tieroff: Evangelischer Hiels-Saal und Höllen-Qvaal. Frankfurt, Leipzig 1677 (alle Exemplare HAB Wolfenbüttel) – Christian Sigismund Wolf: Christianismus Salviani illustratus, Oder Erläutertes Christenthum. Hamburg 1678. (Film der Sammlung Jantz) S. 601–696.
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men behandelt, Harsdörffer⁸⁴ und Rist⁸⁵ in Liedern, Schottel ähnlich wie Angelus Silesius in langen Gedichten aus Reimstropen, die er mit umfangreichen Anmerkungen ergänzt hat,⁸⁶ Johann Georg Albini in poetisch ausmalenden Alexandrinergedichten,⁸⁷ Johannes Plavius⁸⁸ und Adam Tülsner⁸⁹ in Sonetten wie Gryphius, Gottfried Feinler in Madrigalen.⁹⁰ Zwar gibt es in der Lehre vom Fegefeuer, die im protestantischen Bereich noch lange nach der Reformation immer wieder ausdrücklich und oft in heftiger Polemik bestritten wird, eine tiefgreifende Differenz zwischen katholischen und protestantischen Autoren. Aber sonst zeigt sich überall der breite gemeinsame Fundus, aus dem all diese vielen Werke über die vier Letzten Dinge schöpfen. Dabei mögen die einen – wie das ähnlich schon bei mittelalterlichen Werken zu beobachten ist – mehr auf die zentralen dogmatischen Fragen erörternd und begründend eingehen und dann zuweilen weniger Einzelheiten des Gerichts, der Höllenqualen oder der ewigen Seligkeit ausmalen, mögen die anderen die dogmatischen Begründungen mehr zurücktreten lassen und der erbaulichen Wirkung und einer ihr dienenden eindringlichen Darstellung anschaulicher Einzelzüge mehr Raum geben.⁹¹ Allen
84 Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten. T.1. Nürnberg 1649. (Film der Sammlung Faber du Faur) S. 15, 356, 360, 365. 85 U.a. in: Johann Rist: Himlischer Lieder ... Das Vierdte Zehn. Lüneburg 1649. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Neüer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch. Lüneburg 1651 (abgedruckt in: Albert Fischer, W. Tümpel (Hrsg.): Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Gütersloh 1905. S. 236ff.). 86 Justus Georg Schottel: Sonderbare Vorstellung / Wie es mit Leib und Seel Des Menschen werde Kurtz vor dem Tode / In dem Tode / und nach dem Tode bewandt seyn. Braunschweig 1675. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Eigentliche und Sonderbare Vorstellung Des Jüngsten Tages. 2 Braunschweig 1689. (Exemplar StuUB Göttingen) – Grausame Beschreibung und Vorstellung Der Hölle Und der Höllischen Qwal. Wolfenbüttel 1676. (Film der Sammlung Faber du Faur) – Sonderbare Vorstellung Von der Ewigen Seeligkeit. Braunschweig 1673. (Film der Sammlung Faber du Faur). 87 Johann Georg Albini: Jüngstes-Gerichte. Leipzig 1653 – Quaal der Verdammten. Leipzig 1653 – Freude Des Ewigen Lebens. Leipzig 1653. (Exemplare StuUB Göttingen). 88 Johannes Plavius: Sonnette. Danzig 1630 (abgedruckt in: Danziger Barockdichtung. Hrsg. v. Heinz Kindermann. Leipzig 1939. S. 122–164): Nr. 94–100. 89 Adam Tülsner: Hundert Geistliche Sonnete. Dresden 1644. (Mikrofiche Exemplar StuUB Göttingen): Nr. 94–99. 90 Gottfried Feinler: Poetische Betrachtung Der IV. letzten Dinge / oder geistliche Madrigalen. Jena 1692. (Mikrofiche Exemplar StuUB Göttingen). 91 Vgl. schon Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 542: „Postremo, de finali judicio multa difficilia quaeri possent ac introduci, quae doctores super quartum Sententiarum movent ac tractant. Sed non est propositi mei in isto tractatulo talia scholastica atque subtilia determinare, sed simpliciter ac devotionaliter tantum procedere“.
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aber – auch einer so besonders umfangreichen und gelehrten Dogmatik wie den Loci Johann Gerhards, der jedem Lehrstück ein Kapitel über dessen praktischerbaulichen usus anfügt – ist bei aller Verschiedenartigkeit der Formen und Verfahrensweisen zugleich mit dem Inhalt im ganzen und im einzelnen auch die Absicht gemeinsam,⁹² die Zuhörer und Leser aufs nachdrücklichste auf das jeden Augenblick bevorstehende Lebens- und Weltende mit dem Gericht und seinen ewigen Folgen hinzuweisen und so zu rechtem christlichen Leben anzuleiten. Die oft als Motto dienende Stelle Sir. 7,40 „WAs du thust / so bedencke das ende / So wirstu nimer mehr vbels thun“ (Vulgata Ecclesiasticus 7,40: In omnibus operibus tuis memorare novissima tua, & in aeternum non peccabis)⁹³ ist eine der am häufigsten in der Literatur über die vier letzten Dinge zitierten Bibelstellen. Welche Bedeutung die Lehre von den vier Letzten Dingen für die kirchliche Verkündigung und die Frömmigkeit noch des 16. und 17. Jahrhunderts hat, das wird auch da sichtbar, wo sie in knapper Form innerhalb größerer Zusammenhänge – etwa als Argumente der Mahnung zur Übung von Glauben und Buße bei Spee⁹⁴ oder Johann Arndt,⁹⁵ der Anleitung zu seligem Sterben bei Martin Moller⁹⁶ – in Erinnerung gerufen werden, wo einzelne ihrer Teilstücke knapper oder auch breit wie bei Philipp Nicolai⁹⁷ erörtert oder poetisch darge-
92 So kann sich z. B. Meyfart auf J. Gerhard berufen: „WIe die letzten Dinge auf einander folgen / hat der vortreffliche Theologus Herr Johann Gerhard in dem achten Theil seiner Theologischen Articul genugsam ausgeführet / und wollen wir solche sehr kürtzlich widerholen“ (Drey Nützliche Tractat. S. 1174). 93 Bibelzitate nach Luthers Übersetzung: Biblia. Das ist: Die gantze Heilige Schrifft. Stuttgart 1967 (Nachdr. d. Ausgabe Wittenberg 1545) bzw. nach: Biblia Sacra Vulgatae Editionis. Venedig 1737 (Exemplar in meinem Besitz). 94 Friedrich von Spee: Güldenes Tugend-Buch. Hrsg. v. Theo G.M. van Oorschot. München 1968. S. 46; vgl. auch S. 62, 209ff. 95 Johann Arndt: Wahres Christenthum. [Sondershausen 1708]. (Exemplar in meinem Besitz) S. 243ff., 2. Buch, 8. Kapitel. 96 Martin Moller: Manuale de Praeparatione ad Mortem. o.O. 1690. (Vorr. dat. 1563 [recte: 1593]) (Film der Sammlung Jantz) S. 218ff., Kap. 9: Thut Bericht / wo die unsterblichen Seelen nach ihrem Abschiede hinkommen / und was ihr Zustand sey. Betrachtet auch die Auferstehung unserer Leiber / die Freude der ewigen Wonne / und Pein der ewigen Verdamnuß. – Vgl. ferner u. a. Johann Heinrich Alstedt: Theologia Prophetica. Hannover 1622. (Exemplar Stadtbibl. Ulm) S. 329ff. (Predigtdispositionen) – Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Bd. 2. De tribus principiis. Stuttgart 1960. S. 473ff., 27. Kap.: Vom jüngsten Gericht und Auferstehung der Todten, und ewigen Leben. – S. auch den Hinweis auf das „Tractätlin von den vier letzten Dingen des Menschen ... sehr nützlich zu lesen“ bei Grimmelshausen (Satyrischer Pilgram. Hrsg. v. Wolfgang Bender. Tübingen 1970. S. 31). 97 Philipp Nicolai: Freudenspiegel des ewigen Lebens. Facsimile-Neudruck der Ur-Auflage von 1599. Soest 1963 – Vgl. ferner u. a. Aegidius Albertinus: Lucifers Königreich und Seelen-
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legt werden,⁹⁸ wo sie als eigene Stichworte auch in poetischen Florilegien nicht fehlen,⁹⁹ wo sie in die Bilderfindungen illustrierter Flugblätter einbezogen¹⁰⁰ oder wo sie als zyklische Motive in Graphik, Malerei oder Plastik aufgenommen werden.¹⁰¹ In allen möglichen Formen geistlicher Prosa, als Predigt oder innerhalb der systematischen Darstellung theologischer loci, in Meditation, erbaulichem Traktat oder Gebet und in vielerei poetischen Formen behandelt, sind die vier Letzten Dinge ein zentrales Thema der geistlichen Literatur über die Jahrhunderte hin, bis in viele Einzelheiten hinein von großer Konstanz und noch in der gesamten frühen Neuzeit¹⁰² nicht nur ein Gegenstand gelehrter Dogmatik, sondern in Übereinstimmung mit ihr ein Herzstück der Frömmigkeitsgeschichte. Überblickt man die ganze, hier wenigstens angedeutete Fülle der Zeugnisse, so wird
gejaidt. Hrsg. v. Rochus von Liliencron. Berlin, Stuttgart o.J. (= DNL 26). S. 362ff. – Daniel Cramer: Speculum gloriae futurae. Frankfurt 1604. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) – Ignatius von Loyola: Exercitia spiritualia. Hrsg. v. Joseph Calveras, Candidus de Dalmases. Rom 1969 – Andreas Musculus: Vom Himmel vnd der Hellen. Frankfurt a.d.O. 1559. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) – auch Thomas a Kempis: De imitatione Christi Libri Quatuor. Regensburg 1923. 98 Vgl. u. a. Daniel von Czepko: Geistliche Schriften. Hrsg. v. Werner Milch. Darmstadt 1963 (Nachdr. d. Ausgabe Breslau 1930). S. 244, 276, 356ff., 378ff. – Gottfried Feinler: Poetisches Lust-Gärtgin. Zeitz 1677. (Mikrofiche Exemplar StuUB Göttingen) S. 10ff., 80ff., 113f. – Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Hrsg. v. Robert L. Beare. Tübingen 1971. Bd. 1, S. 158; Bd. 2, S. 126ff. – Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte. Hrsg. v. Gustav Eitner. Hildesheim, New York 1974 (Nachdr. d. Ausgabe Tübingen 1872). S. 217, 271, 511, 540, 639, 668 – Bartholomäus Ringwaldt: Zustandt des Himmels / vnd der Hellen ... In einem Geistlichen Geticht. Hamburg 1597. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) – Diederich von dem Werder: Krieg und Sieg Christi Gesungen In 100.Sonnetten. Wittenberg 1631. (Mikrofiche Exemplar StuUB Göttingen) Nr. 99 und 100. 99 Vgl. u. a. Michael Bergmann: Deutsches Aerarium Poeticum Oder Poetische Schatzkammer. Jena 1662 (Film der Sammlung Faber du Faur) S. 75ff., 213ff. – Melchior Weinrich: Aerarium Poeticum. Hoc est, Phrases & nomina Poëtica. 6Frankfurt 1664. (Exemplar Deutsches Institut der Universität Mainz) S. 143ff., 520ff. 100 Vgl. Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl. Hrsg. v. Wolfgang Harms u. a. Tübingen 1983. Nr. 1, 12, 13. 101 Vgl. dazu u. a. Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 4 (1972) Sp. 460f. – Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 4 (1958) Sp. 12ff.; Bd. 5 (1967) Sp. 1456ff. – Lutz Malke: Zur Ikonographie der „Vier letzten Dinge“ vom ausgehenden Mittelalter bis zum Rokoko. In: Zeitschr. d. Dt. Vereins f. Kunstwissenschaft 30 (1976) S. 44–66 – Ott: Die ‚Vier letzten Dinge‘, S. 22ff. 102 Ob und wieweit das vielleicht seit dem späteren 16. Jahrhundert verstärkt zutrifft, und wie dies dann frömmigkeits- und geistesgeschichtlich zu beurteilen wäre, das ließe sich zuverlässig nur nach noch umfassenderen bibliographischen Recherchen, als sie für diesen Aufsatz möglich waren, und nach deren eingehender Auswertung klären.
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deutlich, daß die Lehre von den vier Letzten Dingen mit all ihren Einzelzügen bis ins späte 17. und frühe 18. Jahrhundert hinein von einer außerordentlichen Gegenwärtigkeit für jedermann gewesen sein, daß sie zum vertrautesten geistlichen Vorstellungsgut jedes Lesers und jedes Hörers gezählt haben muß. In diesem breiten Überlieferungsstrom stehen auch die vier eschatologischen Sonette des Andreas Gryphius, für dessen Kenntnis der Überlieferung, bedürfte es angesichts ihrer Präsenz und seiner Belesenheit überhaupt der Beweise, eigens angeführt werden könnte, daß er die Gedichtsammlung des Plavius gekannt, die eschatologischen Schriften Meyfarts offenkundig besonders geschätzt, mancherlei andere einschlägige Schriften zitiert hat und nach Ausweis des Versteigerungskatalogs der Bibliothek seines Sohnes Christian, der einen Teil auch von Büchern aus dem Besitz des Vaters enthalten zu haben scheint, besessen haben dürfte, daß er sich auch an vielen Stellen seiner Leichabdankungen mit wichtigen Einzelfragen der Eschatologie vertraut zeigt.¹⁰³ Im Zusammenhang mit jenem Überlieferungsstrom, von dem seine Sonette nur ein fast beliebiger Teil sind, muß man sie sehen, was sie daraus entnommen haben, muß man im einzelnen genau erfassen,¹⁰⁴ um zu verstehen, was sie von den Letzten Dingen sagen, wie sie es sagen und in welcher Absicht.
103 Nachweise zu Plavius und Meyfart bei Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976. S. 171 u. 307. In den „Dissertationes Funebres“ (Leipzig 1666, Exemplar UB Greifswald) werden u. a. zitiert Augustins „De civitate Dei“ (S. 12; vgl. auch GA V,94), die Ps. Augustinischen „Meditationes“ (S. 135, 688), Bellarmins „De arte bene moriendi“ (S. 513), Gregors d. Gr. „Dialogi“ (S. 81), H. Hugos „Pia desideria“ (S. 298). Im „Catalogus Bibliothecae Gryphianae“ (Breslau [1707], Exemplar Zentralbibl. d. dt. Klassik Weimar) u. a. Nr. 81 (J. Heerbrand: Compendium Theologiae, 1582), 287 (J. Drexel: de aeternitate considerationes, 1625), 2110 (M. Rader, J. Niesius: IV. Novissima, 1635), ferner Nr. 131, 155, 251f., 264, 283, 284 mit zum weiteren Umkreis (u. a. ars moriendi) gehörenden Titeln. Zu den eschatologischen Stellen in den Leichabdankungen vgl. einzelne Nachweise weiter unten. Zur Eschatologie bei Gryphius wenig ergiebig: Maria Fürstenwald: Andreas Gryphius. Dissertationes Funebres. Studien zur Didaktik der Leichabdankungen. Bonn 1967. S. 64ff. und Korn: Das Thema des Jüngsten Tages. S. 78ff. 104 Dazu macht die umfangreiche Dissertation von Günter Ott (Die ‚Vier letzten Dinge‘ in der Lyrik des Andreas Gryphius), die während der Arbeit an diesem seit längeren Jahren vorbereiteten Aufsatz erschienen ist, einen ersten, aber nicht ausreichenden Schritt (vgl. auch meine in „Arbitrium“ erscheinende Rezension). Sie weist nachdrücklich auf die Tradition hin, zu der Gryphius mit seinem Zyklus gehört, und erläutert den Inhalt der Sonette im einzelnen durch zahlreiche Belege aus einer Reihe von Quellen. Aber sie gibt keinen Überblick über die Geschichte der Eschatologie, und die Auswahl der Quellen bleibt begrenzt und zum Teil recht zufällig. So wird die Tradition nicht umfassend und nicht differenziert genug sichtbar, werden manche inhaltlichen Einzelheiten falsch gedeutet oder gar nicht erläutert. Auch geht die Arbeit kaum irgendwo über die Frage nach den theologischen Inhalten hinaus. Daher kann
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II. „Mors certa, hora incerta“ – der in dieser mannigfach abgewandelten und oft breit entfalteten antithetischen Formel enthaltene Hinweis auf die Gewißheit und Unberechenbarkeit des oft plötzlich eintretenden Todes, der Anlaß zu Mahnung und Besinnung gibt, fehlt in kaum einer Betrachtung der letzten Dinge.¹⁰⁵ Ihn variiert mit den beiden Halbversen „Mensch! deine Stūde schlegt! Zwar ehr alß du vermeynt!“ auch das erste der eschatologischen Sonette des Gryphius gleich zu Beginn: Der Todt. WAs hilfft die gantze Welt / Mensch! deine Stūde schlegt! Zwar ehr alß du vermeynt! doch wer muß nicht erbleichen? Nun wird die schönheit rauch; nun muß die Tugend weichen / Nun ist dein Adel dunst / die stärcke wird bewegt! Hier fällt auff eine Baar der Hutt und Krone trägt Hier feilt die grosse kunst kein Tagus schützt die reichen. Man siht kein Alter an / die gantz verstellte Leichen (O Freunde! gutte nacht!) wird in den staub gelegt Du scheidest! gantz allein! von hier! wohin! so schnelle! Diß ist deß Himmels bahn! die öffnet dir die helle!
der hier vorgelegte Aufsatz zwar hie und da zur Ergänzung auf Quellenzitate bei Ott verweisen, doch auf eine Skizze der inhaltlichen Bezüge des Gryphius zur übrigen eschatologischen Literatur nicht verzichten. Dabei wird es übrigens angesichts der Verbreitung der Lehre von den letzten Dingen, trotz den in Anm. 103 gegebenen Hinweisen, nicht darauf ankommen, vor allem nachweislich von Gryphius gekannte Quellen heranzuziehen oder überhaupt seine mutmaßlichen Quellen auszumachen, sondern plausible Parallelstellen anzuführen, wofür, in Anbetracht der großen Konstanz der Überlieferung und der geringen konfesionellen Unterschiede, auch jüngere Belege und nebeneinander Belege von Autoren der verschiedenen Konfessionen zitiert werden. 105 Vgl. u. a. Migne: PL 83, Sp. 736f. (Isidor: Sententiarum lib. III, cap. 62); 158, Sp. 692 (Anselm: Carmen de contemptu mundi); 182, Sp. 843 (Bernhard: Sermo de conversione ad Clericos, VIII,16); 217, Sp. 713 (Innozenz III.: De contemptu mundi, I, cap. XXIV. De vicinitate mortis) – Bonaventura: Soliloquium. S. 158 (de mortis inevitabili necessitate: „… Isidorus: ‚Quid in rebus humanis certius morte, quid hora mortis incertius? …‘“) – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 705 („Nihil enim morte certius, nihil incertius hora mortis“) – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. AA 2rf. („aduentus eius hora nobis est occulta & incerta. ipsa tamen est certissima et veniens venit cito et non tardabit“) – Bellarmin: Conciones. S. 416 („tum maxime mortem advenire solere, cum minus homines de eo cogitant“); Kurtzer Innhalt. S. 324 – Dilherr: Tod / Gericht und Hölle. S. 27 (mit vielen Bibelzitaten) – Döler: De Vita aeterna. Bl. B 4r („mors certa, hora incerta“) – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 31 – Gesenius: Tractatus. S. 17 – Henichius: Compendium. S. 373 – Morus: Die Vier letzten Dinge. S. 159 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 29, 38, 53.
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Nach dem der strenge Printz sein ernstes Vrtheil hegt. Nichts bringst du auf die welt / nichts kanst du mit bekoen: Der einig’ Augenblick hat / was man hat / genommen. Doch zeucht dein werck dir nach / Mensch! deine Stunde schlegt. (GA I,90 Son.II,46).
Den Hinweis auf Gewißheit und Unberechenbarkeit des Todes verbindet Gryphius mit einem zweiten, ähnlich verbreiteten und in der Tradition eschatologischer Literatur oft mit jenem eng verknüpften Motiv, der Allgemeinheit und Unentrinnbarkeit des Todes, gegen den nichts hilft und der niemanden, keinen Stand, kein Alter, weder Reiche und Mächtige noch Arme verschont. Bei Bonaventura, der Isidor zitiert, lautet es: „Quid in rebus humanis certius morte, quid hora mortis incertius? Non miseretur inopiae, non reveretur potentiam, non respicit morum aut generis excellentiam, non parcit iuventuti vel aetati …” (Soliloquium. S. 158), bei Gerhard von Vliederhoven: „Nobilium tenet imperium nullumque veretur. Tam ducibus quam principibus communis habetur. Mors iuuenes rapit atque senes nulli miseretur“ (Quatuor Nouissima. Bl.AA 2v), bei Dionysius Cartusianus: „… vide, disce, considera, quod decor, honor et gloria mundi, fortitudo, agilitas corporis, nobilitas generis, principatus, imperium, opulentia, eloquentia, ingenium, longiturnitas temporum, acquisita scientia … nulli prosint ad salutem …“ (De quatuor hominis novissimis. S. 511).¹⁰⁶ In großer Nähe zu solchen Texten nennt Gryphius¹⁰⁷ Schönheit, Tugend, Adel, Stärke, Wissen („kunst“)¹⁰⁸ und Reichtum ( bezeichnet durch den goldreichen Tagus/Tajo) als Beispiele für menschliche Eigenschaften und irdische Güter, die gegen den Tod nichts vermögen,¹⁰⁹ die Träger von „Hutt vnd Krone“ und alle Altersstufen (v.7a) als Beispiele für die Allgemeinheit des Todes, wie sie
106 Vgl. u. a. auch Migne: PL 158, Sp. 701 (Anselm: Carmen de contemptu mundi) – Bellarmin: Kurtzer Innhalt. S. 324 – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 15ff. – Gesenius: Tractatus. S. 26 – Hollatz: Examen theologicum. P.III/2, S. 373 – Hunnius: Epitome. S. 575 – Meyfart: Tuba. S. 96 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 6, 27 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 223f. 107 Vgl. auch verwandte Stellen in seinem übrigen Werk, u. a. GA I,85, Son.II,37 (Grabschrifft eines Hochberühmbten Mannes) – GA II,9, Od.I,4 (Prosopopoeia Viri Literati è Tumulo); 201, Epigr.II (Grabschrifft / die er ihm selbst in tödtlicher Leibes Schwachheit auffgesetzet) – Dissertationes Funebres. S. 528, 638 (Zitat aus Od.I,4) – Menschlichen Lebenß Traum. S. 14 (Hrsg. v. Gerhard Hay. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15 (1971) S. 1–23). 108 So dürfte – entgegen den tastenden Überlegungen von Ott (S. 132) – das Wort hier angesichts seiner älteren Bedeutungen und der in Anm. 107 genannten Parallelstellen zu verstehen sein. 109 Darum, nicht allgemein nur um die „Nichtigkeit irdischer Güter“ (Ott, S. 130ff.), geht es hier.
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auch Thema der mit dem ersten Teilstück der Novissima verwandten Literatur der Totentänze ist.¹¹⁰ Anklingen läßt Gryphius dabei in v.7b–8 das Geschehen des Sterbens und Begrabenwerdens, von dem viele Schriften über die Novissima eingehender handeln, und hier und im Vers über die Träger von „Hutt vnd Kron“ den Verfall des Körpers, der Folge des Todes ist und die im Leben unterschiedenen Menschen ununterscheidbar macht, wie man das auch bei Bellarmin lesen kann:¹¹¹ Animo igitur e corpore ... egresso, jacet ibi non amplius corpus humanum, sed vilissimum atque abjectissimum cadaver, sine vita, sine sensu, sine viribus, et tam foedum ac horribile, ut vix ejus aspectus tolerari possit, denique tale est corpus equi aut canis, quod in campis mortuum jacet, et omnes qui transeunt, nares occludunt … Tale … remanet corpus humanum, etiamsi pontificis aut imperatoris cadaver sit (Conciones. S. 421)
oder bei Quistorp, der Augustin zitiert: Gehe in das Beinhauß / besehe die vber einen hauffen geworffene TodtenBeine / vnd sehe zu / ob du kanst den Reichen vnd Armen / den Schwachen vnd Stärcken / den Schönen vnnd Heßlichen von einander vnterscheiden (Quatuor Novissima. S. 28).
Gewißheit, Unberechenbarkeit, Allgemeinheit, Unentrinnbarkeit des Todes sind Inhalt der beiden Quartette des Sonetts. Die Terzette wenden sich dem zu, was im Augenblick des Todes dem einzelnen Menschen geschieht: es ist das besondere Gericht, auch erstes oder Vorgericht genannt, in welchem nach früh entwikkelter und weit verbreiteter kirchlicher Meinung¹¹² über die Seele jedes einzelnen Menschen, während der Leib noch der Auferstehung harrt, bereits geurteilt und Seligkeit oder Verdamnis zuerteilt wird, die dann das Jüngste Gericht
110 Vgl. dazu vor allem Hellmut Rosenfeld: Der mittelalterliche Totentanz. Entstehung – Entwicklung – Bedeutung. 2 Köln, Graz 1968. – Angesichts einzelner oben und im folgenden gegebener Zitate aus Werken über die Novissima ist allerdings fraglich, ob man wie Ott (S. 129) geradezu von „Anleihen beim ‚Totentanz‘“ sprechen kann. Offen ist durch jene Zitate auch, ob v.5b (der Hutt vnd Krone trägt) Kaiser und Bauer, wie Ott (S. 129) meint, bezeichnet oder nicht eher Repräsentanten geistlicher und weltlicher Macht, wie sie die Totentänze anzuführen pflegen; vgl. auch das bei Ott (S. 65f.) stehende Zitat aus Albertinus („Wo seind anjetzo die Zepter der Könige / die Hüt der Cardinäln ...“) und das Zitat aus einem Totentanz bei A. Freybe: Das Memento mori in deutscher Sitte, bildlicher Darstellung und Volksglauben, deutscher Sprache, Dichtung und Seelsorge. Walluf 1972 (Nachdr. d. Ausgabe Gotha 1909). S. 124. 111 Vgl. auch bei Gryphius: Dissertationes Funebres. S. 406, 629f. – Menschlichen Lebenß Traum, S. 14 – GA III,56 (Der Weicher-Stein). 112 Vgl. dazu Eger: Die Eschatologie Augustins. S. 30 – Adam: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2, S. 165.
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endgültig und öffentlich nach der leiblichen Auferstehung aller bestätigt und abschließend vollzieht. Die protestantische Dogmatik nach Luther hat, obgleich es bei Luther anders lautende Äußerungen gibt,¹¹³ die Vorstellung vom besonderen Gericht wie die ältere kirchliche Tradition vertreten und wiederholt die dem entgegenstehende Vorstellung vom Schlaf der Seelen bis zum Jüngsten Gericht ausdrücklich abgelehnt,¹¹⁴ und Gryphius schließt sich in seinem Sonett keineswegs einer nur altkirchlichen oder spezifisch katholischen Lehre an,¹¹⁵ sondern befindet sich ebenso in Übereinstimmung mit der protestantischen Dogmatik, in deren Sinn er sich in seinen Leichabdankungen mit dieser theologischen Kontroverse auch eingehender und wie die Dogmatik mit einschlägigen Bibelstellen und Väterzitaten argumentierend auseinandergesetzt hat.¹¹⁶ Zur Lehre vom besonderen Gericht gehört, daß es anders als das allgemeine Gericht den einzelnen Menschen, der, wie Bellarmin formuliert, „ in illam aeternitatem ... ipse tunc solus et nudus ingredi debebit“ (Conciones. S. 418), „gantz allein“ (v.9a) im Augenblick seines persönlichen Todes trifft, daß es „so schnelle“ (v.9b), daß
113 Vgl. dazu oben Anm. 58. 114 Zur Lehre vom besonderen Gericht u. a. Baier: Compendium. Bd. 2, S. 234 – J. Gerhard: Loci. Bd. 17, Cap. VIII, Sectio III – Heerbrand: Compendium. S. 524f. – Hollatz: Examen theologicum. P.III/2, S. 377ff. – Hunnius: Epitome. S. 583; zur Ablehnung des Seelenschlafs vgl. u. a. die in Walthers Ausgabe von Baiers „Compendium“ (Bd. 2, S. 234ff.) angeführten Zitate – Hunnius: Epitome. S. 594; s. auch Francisci: Brennende Lampen. S. 910 – Schottel: Sonderbare Vorstellung / Wie es mit Leib und Seel Des Menschen werde ... bewandt seyn. S. 84ff.; vgl. im übrigen Anm. 58 und Kunz: Protestantische Eschatologie. S. 38, 49ff. 115 Das ist nachdrücklich gegen Ott zu betonen, der, obgleich er gelegentlich richtig die Übereinstimmungen katholischer und protestantischer Eschatologie andeutet (S. 119, 171, 218), aus zu geringer Quellenkenntnis, insbesondere im Bereich protestantischer Dogmatik und Erbauungsliteratur, nicht nur sich seltsam unsicher zeigt, ob Gryphius eigentlich vom besonderen Gericht spreche (S. 142f., 172), sondern mehrfach eine Nähe zu „der katholischen Auffassung“ zu sehen meint (S. 119, 143, 153) oder durch eigene Formulierungen nahelegt (S. 172), wo Gryphius doch nur langer und auch im Protestantismus fortgeltender Tradition folgt, während Ott ihn andererseits gelegentlich auf undifferenzierte Weise zu einem der „getreuesten Gefolgsmänner“ Luthers macht und dabei in Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie stellt (u. a. S. 18, 170), obgleich es genug Hinweise darauf gibt, daß Gryphius, wie gar nicht anders zu erwarten, treuer Lutheraner gerade im Sinne der lutherischen Orthodoxie seines Jahrhunderts ist und unter ihrem Vorzeichen die eschatologische Tradition rezipiert (vgl. zu Otts unsicheren Einschätzungen auch unten Anm. 126). 116 Dissertationes Funebres. S. 478ff. An zahlreichen Stellen (u. a. S. 96, 117, 122, 139, 178, 191f., 207, 303, 315, 423, 425, 693) bezeugt er außerdem die Vorstellung vom besonderen Gericht und dessen Folgen, wenn er – wie auch in vielen seiner Epicedien – vor allem immer wieder hervorhebt, daß die Seele des Verstorbenen schon bei Gott sei und die Seligkeit genieße, während der Leib in der Erde bis zum Jüngsten Gericht ruht.
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es „alsobald“ (Hunnius), „statim“ (Baier)¹¹⁷ eintritt und vollzogen wird. Immer wieder wird betont, daß es mit diesem Augenblick des Todes und des besonderen Gerichts um die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle, über Seligkeit oder Verdammnis des einzelnen Menschen geht. Was Gryphius mit dem antithetischen Vers „Diß ist deß Himmels bahn! die öffnet dir die helle!“ (v.10) sagt, das lautet in vergleichbarer Schärfe bei Johann Gerhard „Quales in aeternum futuri simus, beati an miseri, una mortis hora decernitur; in uno hoc momento aeterna felicitas aut possidetur, aut amittitur“ (Meditationes Sacrae. S. 318) oder bei Quistorp „Der Gottlosen / wenn sie sterben / jhre Seelen fahren alsbald in die Hellen. Der Gottsfürchtigen Seelen / wenn sie durch ein seliges Sterbstündlein abgesondert seyn / kommen in den Himmel“ (Quatuor Novissima. S. 138).¹¹⁸ Richter im besonderen wie im allgemeinen letzten Gericht ist, wie überall gesagt wird, Christus.¹¹⁹ Ihn nennt Gryphius im nächsten Vers in dieser Funktion mit der Wendung „der strenge Printz“,¹²⁰ einer der wenigen metaphorischen Stellen
117 Hunnius: Epitome. S. 594 – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 234; ferner u. a. Migne: PL 77, Sp. 356f. (Gregor d.Gr.: Dialogi IV,25); 172, Sp. 1157 (Honorius Augustodunensis: Elucidarium) – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 582f. – Francisci: Brennende Lampen. S. 878, 902f. – Gerhard: Loci. Bd. 17, Cap.VIII, Sectio III – Meyfart: Tuba. S. 37f. – Pallu: Von denen Letzten Dingen. S. 214 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 138 – Schottel: Sonderbare Vorstellung / Wie es mit Leib und Seel Des Menschen werde ... bewandt seyn. Bl. )(5v, )(7v, S. 82 – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 35, S. 11 – Den Zusammenhang des „so schnelle“ bei Gryphius mit dem besonderen Gericht übersieht Ott (S. 139), wenn er die Formulierung nur auf den Vorgang des Sterbens bezieht. 118 Vgl. auch u. a. Baier: Compendium. Bd. 2, S. 234 – Drexel: Himmel. S. 765 – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 28f. – Gerhard: Loci. Bd. 17, Cap.VIII, Sectio III – Hutter: Compendium. S. 130f. – Moller: Manuale. S. 218ff. – Seber: Hortulus Biblicus. S. 528 – Gryphius: Dissertationes Funebres. S. 366, 446; Menschlichen Lebenß Traum. S. 15. 119 Vgl. u. a. Bellarmin: Opera. Bd. 8. Frankfurt a.M. 1965 (Nachdr. d. Ausgabe Paris 1873). S. 593 (De arte bene moriendi) – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 525 – Drexel: Richter Stuel Christi. S. 157 – Francisci: Brennende Lampen. S. 883 – Meyfart: Tuba. S. 99 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 127 (... weil heilige und gelahrte Leute dieser Meinung seyn / die auch dem Göttlichen Worte nicht ungemäß / daß ... jeder Mensch in der Stunde / wan er stirbet / und auch an dem Orte / wo er stirbet / vor Christi Richter-Stuel gestellet / was er gethan oder unterlassen ihm vorgehalten / und das Vorurtheil über ihn ausgesprochen werde: Und dieses ist das Gericht / welches genennet wird Judicium particulare & arcanum; in welchem Gerichte die vom Leibe abgeschiedene Seele alsbald erfähret / ob sie werde ewig verdamt / oder ewig seelig seyn: Und muß auch so fort die Seele hinwandern an einen / von Gott bestimten Ort / daselbsten zu verbleiben biß auf den Jüngsten Tag ...) – Gryphius: Menschlichen Lebenß Traum. S. 15 (... das wier das Kleidt vnserer Seelen den sterblichen leib ablegen, vnd vor dessen strengen Richters Antlitz tretten werden ...). 120 Es ist eine aus mangelnder Quellenkenntnis erwachsende befremdliche Spekulation, wenn Ott (S. 142f., 145) in einem auch im einzelnen seltsamen Argumentationsgang meint,
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seiner eschatologischen Sonette. Mit Sätzen wie „... da der Todt uns alles dessen beraubet / was man hier auf dieser Welt gehabt ...“ (Heilsames Gedenck an mich. S. 79f.), „nudus venisti, abibis nudus“ (Meditationes Sacrae. S. 316), „... es bleibet doch alles hie / vnd kan man nichts davon mit sich nehmen ... Wir haben nichts wie Paulus sagt / in die Welt bracht / darumb offenbahr ist / wir werden auch nichts hinauß bringen“ (Quatuor Novissima. S. 103) kennzeichnen Autoren wie Bamberg, Johann Gerhard oder Quistorp ganz so wie Gryphius in v.12 und 13 unter Anspielung auf Bibelstellen wie Hiob 1,21 und 1. Tim. 6,7 ein weiteres Merkmal von Tod und besonderem Gericht.¹²¹ Und wenn schließlich Gryphius dem den Hinweis auf das „werck“ entgegenstellt, das anders als aller vergängliche irdische Besitz bleibt und im Gericht von Bedeutung ist, dann gerät er damit nicht etwa in eine besondere Nähe zu spezifisch katholischen Auffassungen und in einen Gegensatz zu lutherischer Lehre. Denn es geht in ihr, wo sie vom Gericht spricht, nicht um die in der Reformationszeit umstrittenen guten Werke als Mittel zur Erlangung der Seligkeit, sondern als Zeichen des Glaubens oder Unglaubens ist alles Tun und Denken des Menschen Gegenstand des besonderen wie dann auch des letzten, allgemeinen Gerichts. Das bezeugt Johann Gerhard etwa: „ostenditur, iudicium esse ferendum de omnibus factis, verbis & cogitatis“ (Loci. Bd. 19, S. 331) oder Hollatz: „Judicabuntur in hominibus tùm fides & infidelitas, tùm effecta fidei & infidelitatis scilicet opera bona & mala, interna & externa“ (Examen theologicum. P.III/2, S. 407).¹²² Und daran erinnert Gryphius in seinem
damit sei der Erzengel Michael bezeichnet. Dem widersprechen die in Anm. 119 genannten Belege ebenso wie die Parallelstellen bei Gryphius selbst, an denen eindeutig Christus als Richter über den einzelnen Menschen im besonderen Gericht gemeint ist oder auch als Weltenrichter im Jüngsten Gericht ebenso benannt wird: GA I,36, Son.I,12; 40, Son.I,16; 162, SuF I,64; sonstige Stellen, an denen Christus Prinz oder Fürst genannt wird: GA I,96, SN 3; 145, SuF I,25; 151, SuF I,41; 158, SuF I,56; 176, SuF II,24; GA II,144, Od.IV,18. An der Stelle hingegen (GA I,10, Li 10: der Engel-Printz den Teuffel triumphirt), auf die sich Ott (S. 321, Anm. 67) beruft, ist vom Erzengel Michael nur in seiner Funktion als Bekämpfer des Teufels und des höllischen Drachens nach Jud.9 und Off.12,7 die Rede. 121 Vgl. u. a. auch Bellarmin: Conciones. S. 418 – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 27 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 524f. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 68f. – Gryphius: Dissertationes Funebres. S. 353. 122 Vgl. auch u. a. Chytraeus: Christlicher ... vnterricht ... Von Vnsterbligkeit der Seelen. Bl. O3v – Francisci: Margarita Theologica. S. 428f. – Hafenreffer: Loci. S. 705f. – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 64 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 528 – Kunz: Protestantische Eschatologie. S. 61 – s. auch Gryphius: Menschlichen Lebenß Traum. S. 15. – Angesichts solcher Belege erübrigen sich die mühsamen Spekulationen, mit welchen Ott (S. 126, 147–153) die Stelle zu erklären versucht.
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mahnenden, mit dem Anklang an Off. 14,13 (das sie rugen von jrer erbeit / Denn jre werck folgen jnen nach) aber doch auch tröstlichen Schlußvers. An vielen Stellen des zweiten Sonetts über die vier letzten Dinge ist gar nicht leicht zu sagen oder eigentlich überhaupt nicht zu entscheiden, ob Gryphius eher nur eschatologische Bibelstellen zitiert und variiert, ob er eher mit Rücksicht auf die eschatologische Tradition, die ihrerseits ganz von diesen Stellen geprägt ist und ihm natürlich ebenso vertraut gewesen sein muß, formuliert. Denn was dieses Sonett enthält, speist sich in hohem Maße aus oft fast im Wortlaut wiedergegebenen biblischen Aussagen. Immer wieder ist ihre Verwendung aber auch von dem besonderen Gebrauch bestimmt, den auch sonst die Überlieferung eschatologischer Literatur von ihnen macht: Das Letzte Gerichte. AVff Todten! auff! die welt verkracht in letztem brande! Der Sternen Heer vergeht! der Mond ist dunckel-rott / Die Sonn’ ohn allen schein! Auff / Ihr die grab vnd kott Auff! jhr die Erd vnd See vnd Hellen hilt zu pfande! Ihr die jhr lebt komm’t an: der HERR / der vor in schande Sich richten ließ / erscheint / vor Ihm laufft fla’ vnd noth Bey Ihm steht Majestätt / nach jhm / folgt blitz vnd todt / Vmb jhn / mehr Cherubim als Sand an Pontus strande. Wie lieblich spricht Er an / die seine Recht’ erkohren. Wie schrecklich donnert Er / auff diese die verlohren Vnwiderrufflich wortt / kommt Freunde! Feinde fliht’ Der Himmel schleußt sich auff! O GOtt! welch frölich scheiden! Die Erden reist entzwey. Welch weh / welch schrecklich leidē. Weh / weh dem / der verdamm’t: wol dem der IESVM siht. (GA I,90, Son.II,47).
Der Ruf zu Auferstehung und Gericht, mit dem der erste Vers beginnt, ist das Kernstück einer auf Hieronymus zurückgeführten Formulierung: Quoties diem illum considero, toto corpore contremisco. Sive enim comedo, sive bibo, sive aliud aliquid facio, semper videtur mihi tuba terribilis sonare in auribus meis: Surgite, mortui, venite ad judicium,¹²³
die an Bibelstellen von der Posaune des Gerichts und von der Auferstehung der Toten kombinierend anknüpft und immer wieder, oft unter Berufung auf Hier-
123 So – unter Nennung des Hieronymus – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 516 – vgl. Migne: PL 30, Sp. 417 (Hieronymi opera supposititia: Regula Monacharum).
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onymus, bei der Behandlung des Jüngsten Gerichts als eindringlicher Mahnruf begegnet.¹²⁴ Die weiteren Teile der beiden Quartette des Sonetts beruhen vor allem auf Bibelstellen wie 2. Petr. 3,10 „ES wird aber des HErrn tag komen ... In welchem di Himel zergehen / mit grossem krachen / Die Element aber werden fur Hitze schmelzen / Vnd die Erde vnd die werck die drinnen sind / werden verbrennen“ (v.1b),¹²⁵ Matth. 24,29 (vgl. Mark. 13,24; Luk. 21,25) „BAld aber nach dem trübsal der selbigen zeit / werden Sonn vnd Mond den schein verlieren / vnd die Sterne werden vom Himel fallen / vnd die kreffte der Himel werden sich bewegen“ (v.2–3a),¹²⁶ Joh. 5,28.29 „es kompt die stunde / in welcher alle die in den Grebern sind / werden seine Stimme hören / Vnd werden erfür gehen“ und Off. 20,13 „Vnd das Meer gab die Todten die darinnen waren / vnd der Tod vnd die Helle gaben die Todten die darinnen waren / vnd sie wurden gerichtet / ein jeglicher nach seinen wercken“ (v.3b–4),¹²⁷ Matth. 24,30 „des menschen Son
124 Vgl. u. a. Alstedt: Theologia scholastica. S. 839 – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 121 – Bonaventura: Soliloquium. S. 166 – Gesenius: Tractatus. S. 84 – Hugo: Pia desideria. S. 128 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 261 (Der alte und bekannte Hieronymus hat sich die Freyheit genommen und des Engels Worte [Off.10,1–6] abgefasset / als ob er sagen werde: Stehet auf ihr Todten / und kommet vor Gericht); Tuba. S. 72f., 111 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 155, 232 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. Bl. c 2r, S. 87, 89. 125 Gryphius scheint sich in einer in der Überlieferung umstrittenen Frage für die Annahme eines dem Gericht schon vorausgehenden oder es begleitenden Feuers zu entscheiden; so auch u. a. Bonaventura: Soliloquium. S. 164 – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 540 – Hafenreffer: Loci. S. 693 – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 35, S. 195 – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 769. Der Brand als Mittel der consummatio mundi erst nach dem Gericht u. a. bei Augustin: De civitate Dei. Leipzig 1877. Bd. 2, S. 295 (Lib.XX,16) – Hollatz: Examen theologicum. P.III/2, S. 413. 126 Daß Gryphius nur diese Zeichen für den Eintritt des Jüngsten Tages, nicht aber die vielfältigen sonstigen Vorzeichen nennt, von denen oft in der eschatologischen Literatur die Rede ist, kann nicht, wie Ott (S. 182) vermutet, aus besonders „treuer Luthergefolgschaft“ hergeleitet oder als Merkmal von Veränderungen im Barock angesehen, sondern nur aus der von der Sonettform nahegelegten auswählenden Konzentration erklärt werden. Denn eine größere Anzahl solcher Vorzeichen findet man bei Lutheranern des 17. Jahrhunderts, so bei Baier: Compendium. Bd. 2, S. 251f. – Hunnius: Epitome. S. 616ff. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 52ff. – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 185ff. Vgl. im übrigen zu den Zeichen nach Matth. 24,29 u. a. Gesenius: Tractatus. S. 66ff. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 124ff. – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 163f. – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 30ff. – Gryphius: GA I,135, SuF I,2. 127 Vgl. zu entsprechenden Darstellungen der Auferstehung und zur Berufung auf Off.20,13 u. a. Hunnius: Epitome. S. 598 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 648; Tuba. S. 74 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 94, 101, 103 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 231. In den nicht sehr klaren Ausführungen von Ott (S. 171ff.) werden weder der Zusammenhang mit jenen Bibelstellen noch die Entsprechungen in anderen Quellen genügend bedacht.
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in den wolcken des Himels / mit grosser Krafft vnd Herrligkeit“, Matth. 25,31 „WEnn aber des menschen Son komen wird / in seiner Herrligkeit / vnd alle heilige Engel mit jm“, Joel 2,3 „Vor jm her gehet ein verzehrend Fewr / vnd nach jm ein brennende flamme“, Ps. 50,3 „Fressend Fewr gehet fur jm her / Vnd vmb jn her ein gros Wetter“, Jes. 66,15.16 „der HERR wird komen mit Fewr / vnd seine Wagen / wie ein Wetter / Das er vergelte im grim seines zorns / vnd sein schelten in fewrflammen. Denn der HERR wird durchs fewr richten“, Dan. 7,10 „von dem selbigen gieng aus ein langer fewriger stral. Tausent mal tausent dieneten jm / vnd zehen hundert mal tausent stunden fur jm“, Off. 5,11 „VND ich sahe / vnd höret eine stimme vieler Engel vmb den stuel ... vnd jr zal war viel tausent mal tausent“ (v.5b–8).¹²⁸ Das sind all jene Bibelstellen, aus denen sich auch in vielen anderen Texten die Darstellung der Zeichen des Gerichts, der Auferstehung der Toten und des Erscheinens Christi als des Richters ableitet. Eingeschlossen in die Verse über die Auferstehung ist bei Gryphius der notwendige Hinweis auf die beim Beginn des Gerichts noch Lebenden (v.5a), wobei er aber die im Anschluß an 1. Kor. 15,51.52 und 1. Thess. 4,16.17 „Vnd die Todten in Christo werden aufferstehen zu erst. Darnach wir / die wir leben vnd vberbleiben / werden zu gleich mit denselbigen hin gerückt werden in den wolcken / dem HErrn entgegen“ viel behandelte Frage, ob diese noch Lebenden im Augenblick des Gerichts zunächst noch sterben müssen oder nur verwandelt werden,¹²⁹ nicht eigens erörtert, und es fehlt auch nicht (v.5b/6a) die Jüngstes Gericht und Passion Christi verknüpfende, vor allem auf Joh. 5,22.27 zurückgehende Hervorhebung des paradoxen Verhältnisses zwischen der Erniedrigung des leidenden und der Majestät des als Weltenrichter erscheinenden Christus, die bei Gesenius lautet „Die Ehre hat Er dafür / daß ER sich vnrechtmessiger Weise allhie hat verurtheilen vnd verdammen lassen“ (Tractatus. S. 76) oder bei Quistorp „Erstlich / weil die ander Persohn der Gottheit sich hat vmb der Menschen willen vom hohen Himmel
128 Vgl. entsprechende Darstellungen des Erscheinens Christi zum Gericht u. a. bei Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. CC1r – Alstedt: Theologia scholastica. S. 839 (Christus è coelo summa cum Gloria & maiestate) – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 120f., 190 – Dilherr: Tod / Gericht und Hölle. S. 68ff. – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 46ff. – Gesenius: Tractatus. S. 99ff. – Hafenreffer: Loci. S. 693 – Hunnius: Epitome. S. 614 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 222ff. – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 69ff. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 203ff. Auch hierzu bei Ott (S. 183) nur unzureichende Quellenbelege und unvollständige Bibelstellennachweise. Das gilt ebenso für die Behandlung der in den nächsten beiden Anmerkungen belegten Aspekte bei Ott (S. 172, 183f.). 129 Vgl. dazu u. a. Baier: Compendium. Bd. 2, S. 245 – Francisci: Margarita Theologica. S. 413f. – Gesenius: Tractatus. S. 67ff., 108 – Hafenreffer: Loci. S. 693 – Heerbrand: Compendium. S. 548 – Hutter: Compendium. S. 130, 133 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 267ff., 667ff. – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 114ff.
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hernieder gelassen / vnd sich in seiner angenommenen Menschlichen Natur / auffs euserste erniedriget / so hat sie auch wider durch diese Gerichtsgewalt sollen erhöhet / vnd vor allen Creaturen geehret werden“ (Quatuor Novissima. S. 210).¹³⁰ Der zweite Teil des Sonetts ist durchgehend bestimmt von den für die Darstellung des Jüngsten Gerichts in der eschatologischen Literatur zentralen Stellen Matth. 25,32–34.41.46:¹³¹ „Vnd er wird sie von einander scheiden / gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet / vnd wird die Schafe zu seiner Rechten stellen / vnd die Böcke zur Lincken. Da wird denn der König sagen zu denen zu seiner Rechten / Kompt her jr gesegneten meines Vaters / ererbet das Reich / das euch bereitet ist von anbegin der welt ... / DEnn wird er auch sagen zu denen zur Lincken / Gehet hin von mir / jr Verfluchten / in das ewige Fewr / das bereitet ist dem Teufel vnd seinen Engeln ... Vnd sie werden in die ewige Pein gehen / Aber die Gerechten in das ewige Leben“. Was von Gryphius in enger Anlehnung daran in wenigen antithetischen Versen über das von Christus gesprochene Urteil und dessen offenkundig sofortige Vollstreckung gesagt wird, ist zugleich in mehreren charakteristischen Einzelheiten von der Art geprägt, mit welcher in der eschatologischen Tradition im Blick auf Matth. 25 die Bedeutung des Gerichts herausgearbeitet wird. Auch in ihr wird wie bei Gryphius in v.9/10 und 14 der Gegensatz hervorgehoben, daß das Urteil und seine Vollstrekkung „lieblich“ für die Erwählten und „schrecklich“ für die Bösen sind, bei Gesenius: „So erfrewlich aber vnd liebreich die Ansprache des HERRN an die Gläubigen seyn wird / so schrecklich vnd vber alle masse trawrig wirds seyn / vnd wehe thuen / wenn der HERR die Vngläubigen nu im Zorn anreden / vnd das Vrtheil vber sie sprechen wird“ (Tractatus. S. 120), bei Schottel: „WOl / o wol dem / welcher ist mit den auserwehlten Schaaren ... Weh / o weh dem / welcher ist nun mit der verdamten Schaaren“ (Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 259).¹³²
130 Vgl. auch u. a. Augustin: De civitate Dei. Bd. 2, S. 323 – Migne: PL 36, Sp. 408 (Augustin: Enarratio in Ps.XXXVII), 568 (in Ps.XLIX) – Alstedt: Theologia scholastica. S. 841 – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 259 – Gerhard: Loci. Bd. 19, S. 170f.; Meditationes Sacrae. S. 333 – Hollatz: Examen theologicum. P.III/2, S. 403f. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 236 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 69f., 73f. – Seber: Hortulus Biblicus. S. 555f. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 215 – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 36, S. 53, 66, 72. 131 Vgl. auch GA I,161, SuF I,61; 162, SuF I,64 (kombiniert mit Off.20,13). 132 Vgl. auch (z.T. mit Bezug auf das Jüngste Gericht insgesamt): Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 17 – Bellarmin: Conciones. S. 431 – Bonaventura: Soliloquium. S. 166 – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. DD2r – Hollatz: Examen theologicum. P.III/2, S. 405 – Hugo: Pia desideria. S. 128 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 169 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 245, 256 – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 243, 246 – Gryphius: Dissertationes Funebres. S. 644, 646f.
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Die Unwiderruflichkeit (v.11) und sofortige Vollstreckung des Urteils faßt Hafenreffer in die Worte: „hoc Iudicium ... sine longiori circuito, vnico Actu finietur, breuißima, sed irreuocabili lata sententiâ, quae confestim, sine vllis exceptionibus, aut appellationibus dabitur exequutioni“ (Loci. S. 701).¹³³ Wie Gryphius (v.11b) geben auch andere Autoren das „Kompt her“ und „Gehet hin“ von Matth. 25,34 und 41 in antithetischer Konzentration wieder, um so das alles entscheidende Gericht in seiner Endgültigkeit zu betonen, so im Examen theologicum von Hollatz: „Christus sententiam decretoriam promulgabit compellando primum electos: Venite; deinde reprobos: ite“ (P.III/2, S. 409).¹³⁴ Und der Ausführung des Urteils widmet Meyfart je ein Kapitel „Wie mit einem unermäßlichen KlagGeschrey die Gottlosen von dem Thron Christi JEsu hinwegtraben / den Auserwehlten zuruffen / und sich miteinander jämmerlicher Weise zerfluchen“ und „Wie die Auserwehlten mit herrlichen Triumph in die volle Seeligkeit geführet / und dargegen die gesammte Schaar der Gottlosen und Teufel von den Engeln in die volle Verdamnuß gejaget und gestürtzet werden“ (Drey Nützliche Tractat. S. 402ff., 410ff.). Und auch in anderen Werken wird wie bei Gryphius über die knappe Aussage von Matth. 25,46 hinaus die Vollstreckung als ein Vorgang voll Jammer und Freude, mit weit sich öffnendem Himmel und sich zur Hölle hin auftuender Erde vorgestellt.¹³⁵ Das dritte der Sonette des Gryphius über die vier Letzten Dinge, das so oft seiner metrischen und sprachlichen Form wegen als Ausdruck persönlicher Erregung oder als Beweis nur besonderer, ja auch fast fragwürdiger Kunstfertigkeit betrachtet worden ist, ist nicht weniger als die vorangehenden vom eschatologischen Traditionsgut erfüllt:
133 Vgl. u. a. auch Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 519f. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 386ff. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 264f. 134 Vgl. u. a. (z.T. in enger Verbindung mit dem Gegensatz von Lieblichkeit und Schrecklichkeit des Urteils): Bonaventura: Soliloquium. S. 166 (O quid potest lamentabilius et terribilius cogitari quam: Ite? Quid delectabilius exprimi quam: Venite? Duae voces, quarum una nihil horribilius, et altera nihil iucundius poterit audiri) – Hafenreffer: Loci. S. 705 – Hugo: Pia desideria. S. 128 – Hutter: Compendium. S. 136. 135 Vgl. ferner u. a.: Alstedt: Theologia scholastica. S. 840 – Hafenreffer: Loci. S. 706 – Heerbrand: Compendium. S. 561 – Hutter: Compendium. S. 136 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 220, 238 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 246 – Stanyhurst: Geistliche NeuGeburt. S. 279ff.
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Die Hölle. Ach! vnd weh! MOrd! Zetter! Jammer! Angst! Creutz! Marter! Würme! Plagen. Pech! Folter! Hencker! Fla! stanck! Geister! kälte! Zagen! Ach vergeh! Tieff’ vnd Höh’! Meer! Hügel! Berge! Felß! wer kan die Pein ertragen? Schluck abgrund! ach schluck’ eyn! die nichts denn ewig klagen. Je vnd Eh! Schreckliche Geister der tunckelen hölen / Ihr die jhr martert vnd Marter erduldet Kan denn der ewigen Ewigkeit Fewer / nimmermehr büssen dis was jhr verschuldet? O grausamm’ Angst / stets sterben sonder sterben / Diß ist die Flamme der grimmigen Rache / die der erhitzete Zorn angeblasen: Hier ist der Fluch der vnendlichen Straffe; hier ist das jmmerdar wachsende rasen: O Mensch! Verdirb / vmb hier nicht zuverderben. (GA 1,91, Son.II,48).
Was die am meisten die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Verse 2 und 3 in strikt asyndetischer Reihung von sechzehn auf die beiden Alexandriner in gleicher Weise verteilten ein- und zweisilbigen Substantiven nennen, das ist nichts anderes als die Vielfalt der auf die Verdammten wartenden Qualen der Hölle, die in der christlichen Eschatologie schon früh in Anknüpfung an vielerlei Bibelstellen ausgebildet worden ist, um die Furchtbarkeit der ewigen Verdammnis zu erfassen, und die man überall als Kernstück der Lehre von der Hölle und ihrer Betrachtung antrifft. Gryphius folgt ihr nicht nur mit seinem fast vollständigen Katalog,¹³⁶ sondern auch mit dessen Form. Denn man kann auch an anderen Texten beobachten, daß die Bemühung um eindringliche Vorstellung der Höllenqualen zu deren auf knappstem Raum zusammengedrängter Aufzählung führt, in den so verbreiteten Meditationes Sacrae Johann Gerhards etwa: „Erit ibi calor ignis, & rigor frigoris, erunt ibi perpetuae tenebrae; erit ibi fumus & perpetuae lacrymae; erit ibi aspectus terrificus Daemonum; erit clamor in perpetuum; erit ibi ariditas, sitis, foetor sulphuris, vermis conscientiae, timor, dolor, pudor & confusio peccatorum omnibus manifestorum, invidia, odium, tristitia, divinae
136 Ergänzt wird er durch einige weitere Einzelheiten in v.6b, 7b, 9, 10a, 11a. Nicht genannt werden bei Gryphius hingegen u. a. Hunger und Durst.
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visionis carentia, omnis spei ablatio“ (S. 358f.) oder in Versen schon bei Petrus Damianus: Rediviva septem plagae Renovant supplicia, Fumus, fetor, algor, ardor, Fames, sitis ignea, Vermes nunquam satiantur, Qui corrodunt viscera. Illic dolor, cruciatus, Fletus, stridor dentium ...¹³⁷
Zum Bild der Hölle gehört der Jammer und das Klagegeschrei der Verdammten. In die Formel „Ach! vnd weh!“, mit der Gryphius sein Sonett eröffnet, fassen es auch andere Autoren wie Seuse: „Ach jamer und not ... unser oren [mugen] nicht anders hören denne ach und we“ (Büchlein der Ewigen Weisheit. S. 238), Gesenius: „ewiger Jammer / Ach / vnd Wehe / vnd höllisches Zettergeschrey“ (Tractatus. S. 432) oder Schottel: „Ach und Weh Reuquelend-voll / wütendgleiches Seufftzersausen“ (Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 217ff.).¹³⁸ In den Versen 6
137 Migne: PL 145, Sp. 980. Ähnliche Aufzählungen u. a. auch Migne: PL 40, Sp. 1064 (Augustini Opera. Appendix: De salutaribus documentis), Sp. 1280 (Ad fratres in Eremo); 76, Sp. 1290 (Gregor d.Gr.: Homiliae II,38); 183, Sp. 664 (Bernhard: Sermones de diversis, Sermo XLII); 184, Sp. 492f. (Ps. Bernhard: Meditationes, Cap.III) – Bonaventura: Soliloquium. S. 168 – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 811 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 244 – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 283f. – Bischoff: Vom Ewigen Leben. Bl. Rr8rf. – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 211ff. Zu den Qualen der Hölle – s. auch die Zitate bei Ott (S. 199ff.) – vgl. ferner u. a. Migne: PL 172, Sp. 1159ff. (Honorius Augustodunensis: Elucidarium); 217, Sp. 738 (Innozenz III.: De contemptu mundi) – Augustin: De civitate Dei. Bd. 2, S. 324ff. – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 36, S. 284ff. – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 548ff. – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. EE 5rff. – Seuse: Horologium. S. 454ff. – Alstedt: Theologia scholastica. S. 855f. – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 206ff. – Bellarmin: Conciones. S. 433ff. – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 59ff. – Gerhard: Loci. Bd. 20, S. 253ff. – Gesenius: Tractatus. S. 441ff. – Hafenreffer: Loci. S. 708ff. – Heerbrand: Compendium. S. 566ff. – Hunnius: Epitome. S. 626ff. – Hutter: Compendium. S. 137 – Ludovicus Granatensis: De Oratione et Meditatione. S. 220ff. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 985ff., 1095f., 1219ff.; Tuba. S. 104ff. – Plavius: Sonnette. Nr. 100 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 268ff. – Seber: Hortulus Biblicus. S. 576ff. – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 249ff. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 295ff. 138 So oder ähnlich u. a. bei Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 590 (nach Seuse), Bl. Rr8r – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 1218, 1246 (nach Seuse) – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 368.
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und 7 des Sonetts fällt bei aufmerksamer Lektüre ein Anklang auf an Luk. 23,30 „Denn werden sie anfahen zu sagen zu den Bergen / Fallet vber vns / vnd zu den Hügeln / decket vns“ (vgl. Hos. 10,8) und an Off. 6,15.16 „Vnd die Könige auff Erden / vnd die Obersten / vnd die Reichen / vnd die Heubtleute / vnd die Gewaltigen / vnd alle Knechte vnd alle Freien / verborgen sich in den Klüfften vnd Felsen an den Bergen / vnd sprachen zu den bergen vnd felsen / Fallet auff vns / vnd verberget vns fur dem Angesichte des / der auff dem stuel sitzt / vnd fur dem zorn des Lambs / Denn es ist komen der grosse tag seines zorns / vnd wer kan bestehen?“. Diese Anspielung auf zwei Bibelstellen und damit auch erst eigentlich der Sinn der Verse 5–7 wird für einen heutigen Leser deutlicher, wenn man andere Texte zu Rate zieht.¹³⁹ Teils verwenden sie jene Bibelstellen gemäß dem Zusammenhang von Off.6, um damit den Schrecken der Sünder beim Nahen des Gerichts und über das Urteil des Weltenrichters Christus zu beschreiben,¹⁴⁰ teils aber auch, um ähnlich wie bei Gryphius – und zuweilen auch wie bei ihm in engster Verbindung mit der Formel „Ach! vnd weh“ – den Jammer und das ungeheure Leiden der Verdammten zu kennzeichnen, das der Vielfalt und Schrecklichkeit der Qualen entspricht und sie – vergeblich – wünschen läßt, vernichtet zu werden, um diesen Qualen zu entgehen. So steht es, später wiederholt nachgeahmt, bei Seuse: „Owe und owe, ir berg und tal, wes beitent ir, wes haltent ir so lange uf, wes vertragent ir uns? War umb besturzent ir uns nit vor dem jemerlichen anblicke“ (Büchlein der Ewigen Weisheit. S. 238f.; Horologium. S. 459), so, ergänzt um Off. 16,20, bei Johann Gerhard: Clamabunt dānati, & dicent montibus ac petris; Cadite super nos, & abscondite nos ab ira Agni. sed clamor iste erit frustaneus, quia coelum & terra fugient ab ira ejus: sicut scriptum est; Fugit omnis insula, & montes nō sunt inventi (Meditationes Sacrae. S. 363f.)
oder, verknüpft mit Off. 9,6, bei Quistorp: Welches der Wurmb das böse Gewissen bey den Verdampten wircken wird / ist ein stetigs wündschen des Todes ... Sie werden ruffen vnd schreyen: O jhr Berge fallet auff vns / vnd
139 Wegen mangelnder Beachtung der Bibelstellen und der Quellen bietet Ott (S. 201f.), der in v.6 u. a. „pathetische, rhetorische oder paränetische Floskeln, die mehr Mitleid oder Zorn, Schrecken oder Drohung, jedenfalls eine affektive Teilnahme des Betrachters, d. h. des Dichters, anzeigen sollen“, sieht, zu der ganzen Stelle nur Unrichtiges oder Unzulängliches. 140 So Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. DD6r – Meyfart: Tuba. S. 23 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 51 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 233 – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 276.
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jhr Hügel bedecket vns. Sie werden den Todt / suchen / vnd nicht finden. Werden begehren zu sterben / vnd der Todt / wird von jhnen fliehen (Quatuor Novissima. S. 299f.).¹⁴¹
Nachdem die beiden Quartette die Vielfalt der Höllenstrafen, das dadurch bedingte Wehgeschrei der Verdammten und ihren Wunsch nach Vernichtung dargelegt haben, verbinden die beiden Terzette vier weitere Motive aus der Betrachtung der Hölle in der eschatologischen Literatur. Anknüpfend an schon im zweiten Quartett gegebene Hinweise durchzieht die Terzette in mehrfacher Variation, die ihr entsprechendes Gewicht verleiht, die Feststellung der Ewigkeit der Höllenstrafen. Sie ist – auch in der Abwehr des als häretisch geltenden Gedankens der Apokatastasis, der späten Wiederherstellung auch der Verdammten zur Seligkeit – von großem dogmatischen Gewicht. Augustin hat ihr ganze Kapitel des 21. Buches von De civitate Dei gewidmet, und wie von Bischoff: „Das ewige Fewer wird ein vnaußleschlich Fewer genent / nicht darumb allein / das es vor sich nimmermehr verleschen wird / sondern auch / das es die / so es entpfahen wird / nimmermehr vertilgen noch vmbbringen wird“ (Vom Ewigen Leben. S. 556), Quistorp: „der Verdampten Pein vnnd Qual weret jmmer für vnd für / sie brennen jmmer vnd können nimmer verbrennen: Sie sterben jmmer vnd mögen doch nicht sterben: Sie liegen in dem Hellischen Kercker gefangen / vnd mögen nimmer herausser kommen: Sie müssen mitten vnter den Teuffeln ewig liegen / vnd sich von jhnen peinigen vnd martern lassen“ (Quatuor Novissima. S. 312) oder von Johann Gerhard: „Poena inferni non solū est aeterna. sed etiam ne per momentum quidem interrupta ... Quando torquere cessabunt Diaboli torqueri cessabunt damnati; sed nunquam cessabit furor Diaboli; nunquam ergo cessabit cruciatus hominis damnati ... O aeternitas interminabilis! ô aeternitas nullis temporum spaciis mensurabilis! ô aeternitas nullo intellectu humano perceptibilis! quantum auges damnatorum supplicia“ (Meditationes Sacrae. S. 365f., 368, 370f.) so wird in vielen anderen Texten die unermeßliche Ewigkeit der Höllenstrafen dem Leser in vielerlei Abwandlungen nachdrücklich eingeprägt.¹⁴² Ein auffälliges Merkmal ist dabei der häufige Gebrauch einer Formel,
141 Vgl. auch u. a. Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 590 (nach Seuse) – Hunnius: Epitome. S. 593 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 1180, 1246 (nach Seuse). 142 Vgl. auch u. a. Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 544ff. – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. FF 3v ff. – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 36, S. 333ff. – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 822ff. – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 206 – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 293 – Bellarmin: Kurtzer Innhalt. S. 326 – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 71 – Gesenius: Tractatus. S. 488ff. – Hafenreffer: Loci. S. 710 – Heerbrand: Compendium. S. 573 – Henichius: Compendium. S. 404 – Hutter: Compendium. S. 137f. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 1268ff.; Tuba. S. 117f. – Seber: Hortulus
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mit der in paradoxer Zuspitzung diese unentrinnbare Ewigkeit erfaßt wird; sie lautet in einer auf Ps. Augustin und Gregor zurückweisenden Form bei Johann Gerhard: „Mors erit ibi sine morte, erit finis sine fine, defectus sine defectu“ (Meditationes Sacrae. S. 371) oder bei Meyfart „O Sterben ohne Sterben! O alle Stund sterben / und doch nimmermehr sterben“ (Drey Nützliche Tractat. S. 1246), in einer anderen, von den Ps. Bernhardinischen Meditationes herkommenden Fassung bei Arndt: „dort werden die Verdammten also sterben / daß sie doch allezeit leben: und also leben / daß sie doch allezeit und ewig sterben“ (Wahres Christenthum. S. 244).¹⁴³ Auch diese Formel fehlt bei Gryphius (v.11) nicht. In den beiden folgenden Versen wird die Ewigkeit der Strafen bekräftigt, indem sie auf den Zorn Gottes zurückgeführt wird, welcher, wie eine vergleichbare Stelle bei Johann Gerhard verdeutlicht, unveränderlich ist wie das aus Gottes Gerechtigkeit hervorgehende Urteil über die unbußfertigen Sünder: Quando cessabit Dei ira, cessabit etiam damnatorum poena; sed aeterna est ira; aeterna igitur & poena. Quando poenitentiam veram agent damnati, à peccatis suis potuerunt liberari; sed praeclusum tempus poenitentiae; nulla ergo spes restat indulgentiae … Quando mutabitur Dei justitia, mutabūtur etiam damnatorum supplicia; sed invariabilis Dei justitia; aeterna igitur erunt damnatorum supplicia. Ad districti judicis sententiam pertinent, ut nunquam careant supplicio, qui in hac vita nunquam carere voluerunt peccato (Meditationes Sacrae. S. 367f.).¹⁴⁴
Den mahnend das Sonett abschließenden Gedanken endlich, daß es besser sei, auf Erden zu leiden, um der ewigen Pein zu entgehen, verknüpft Gesenius ausdrücklich mit der Gestalt der Märtyrer als Exempla solcher Haltung: „Das
Biblicus. S. 578f. – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 265 – Stanyhurst: Geistliche NeuGeburt. S. 365ff. 143 Vgl. ferner (z.T. in enger Verbindung mit anderen, oben schon behandelten Motiven) u. a. Migne: PL 40, Sp. 821 (Augustini Opera. Appendix: Liber de spiritu et anima); 75, Sp. 915 (Gregor d.Gr.: Moralia IX,66); 145, Sp. 745 (Petrus Damianus: Institutio monialis; nach Ps. Augustin); 184, Sp. 492 (Ps. Bernhard: Meditationes. Cap. III) – Bonaventura: Soliloquium. S. 170 (nach Ps. Bernhard) – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. FF 3r – Seuse: Büchlein der Ewigen Weisheit. S. 238; Horologium. S. 458 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 244 (nach Ps. Bernhard) – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 589, Bl. Rr8v f. (nach Ps. Bernhard) – Gesenius: Tractatus. S. 494 (nach Ps. Augustin), 495 (nach Ps. Bernhard) – Henichius: Compendium. S. 404 (nach Gregor bzw. Ps. Augustin) – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 300, 312 – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 374 (zit. Gregor). 144 Zum Zorn Gottes und der Gerechtigkeit der von ihm verhängten ewigen Strafen vgl. u. a. auch Augustin: De civitate Dei. Bd. 2, S. 342ff. – Migne: PL 77, Sp. 404 (Gregor d.Gr.: Dialogi IV,44); 217, Sp. 746 (Innozenz III.: De contemptu mundi) – Bonaventura: Soliloquium. S. 172 – Thomas von Aquin: Summa. Bd. 36, S. 333ff. – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 657.
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bedachten die Martyrer / vnd lidten deßwegen gern die schreckliche Marter an jhrem Leibe / vnd auch gar den Tod selbst / auff daß sie nicht durfften die ewige Hellenangst vnd Quaal außstehen ...“ (Tractatus. S. 512), variiert Johann Gerhard in gleicher mahnender Form: „O devota anima, semper tibi obversetur poena damnatorū aeterna: Gehennae meminisse, prohibet in gehennam incidere“ (Meditationes Sacrae. S. 374).¹⁴⁵ In seinem letzten Sonett über die vier Letzten Dinge bietet Gryphius zwar nicht wie im Höllen-Sonett einen auf zwei Verse asyndetisch zusammengedrängten Katalog, doch enthalten auch hier die Quartette auf verhältnismäßig knappem Raum vielerlei wesentliche Aussagen über das, was die ewige Seligkeit charakterisiert: Ewige Frewde der Außerwehlten. O! wo bin ich! O was seh’ ich! wach ich! treumt mir? wie wird mir IESV! welcher wollust Meer / überschwemmt mein frölich Hertz / Welt Ade! glück zu mein trost! gutte Nacht todt angst vnd schmertz / Ich find alles. alles lern ich! alles schaw’ ich HERR in dir Ich zuschmeltz in lautter wonne! IESu: IESu. meine zier! O wie herrlich ists hier seyn! Erde deine Frewd ist schertz! IESu! ewig-gläntzend Licht’ (tunckel ist der Soen kertz!) Ach! wie funckeln deine Scharen! Sternen fliht! hier schimmern wir. Ihr die jhr glutt v Schwerd verlacht! ob schon ewr Leib wurd staub vnd aschen / Ihr die jhr ewer reines kleid habt in dem Blutt deß Lambs gewaschen / Rufft Halleluja! Halleluja! frewd vnd leben! Dir dreymal einig Ewigkeit; die alles in allen allmächtig regiret: Sey vnaußsprechlich Lob vnd ruhm / vnd Ehre die dir nur alleine gebühret. Dir / die sich ewig / (Halleluja!) vns wil geben. (GA I,91f., Son.II,49)
Zur Beschreibung der eigentlich unvorstellbaren und unsagbaren Seligkeit des ewigen Lebens gibt es seit alters eine an vielerlei Bibelstellen anknüpfende, oft diffizil ausgearbeitete Lehre von teils systematisch unterschiedenen,¹⁴⁶ teils miteinander identifizierten beatitudines und dotes, welche den Seligen, ihren Seelen und verklärten Leibern verliehen werden. In dem auf Anselm zurückgehenden Liber de Beatitudine coelestis patriae werden sie benannt als pulchri-
145 Ähnliche Wendungen (z.T. auch als mortificatio irdischer Wünsche und Sünden) ferner u. a. bei Migne: PL 217, Sp. 714 (Innozenz III.: De contemptu mundi) – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. DD5v, FF4v – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 618, 1228 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 228. 146 Vgl. etwa Thomas von Aquin: Summa. Bd. 36, S. 188ff.
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tudo, velocitas, fortitudo, libertas, impassibilitas, voluptas, vitae aeternitas, sapientia, amicitia, concordia, potestas, honor, securitas, gaudium (Migne: PL 159, Sp. 589ff.). In den Ps. Bernhardinischen Meditationes zählt das Kapitel „De praemio patriae coelestis“ erst in Prosa, dann in knappen Merkversen auf: Praemium est videre Deum, vivere cum Deo, vivere de Deo, esse cum Deo, esse in Deo, qui erit omnia in omnibus; habere Deum, qui est summum bonum. Et ubi est summum bonum, ibi est summa felicitas, summa jucunditas, vera libertas, perfecta claritas, aeterna securitas, et secura aeternitas; ibi est vera laetitia, plena scientia, omnis pulchritudo, et omnis beatitudo. Est ibi pax, pietas, bonitas, lux, virtus, honestas, Gaudia, laetitiae, dulcedo, vita perennis. Gloria, laus, requies, amor, et concordia dulcis (Migne: PL 184, Sp. 492)
Vinzenz von Beauvais unterscheidet und identifiziert miteinander je drei dotes animae: visio Dei, fruitio seu delectatio, secura tentio und sieben partes beatitudinis ad animam pertinentes: sapientia, amicitia, concordia, honor, potentia, securitas, gaudium, vier dotes corporis: claritas, impassibilitas, subtilitas, agilitas und sieben partes beatitudinis corporis: pulchritudo, agilitas, fortitudo, libertas, sanitas, voluptas, longaevitas (Speculum morale. Sp. 844ff.). Auch die protestantische Dogmatik und Erbauungsliteratur tragen diese aus der mittelalterlichen Kirche ererbten Vorstellungen weiter. Johann Gerhard erörtert in seinen Loci als Güter des ewigen Lebens: Dei visio, ineffabilis beatorum laetitia, Dei glorificatio, perfecta Dei cognitio, voluntatis perfecta sanctitas, als Gaben der verklärten Körper: spiritualitas, immortalitas, incorruptibilitas, impassibilitas, claritas, firmitas ac sanitas, formositas, agilitas, subtilitas, illocalitas, invisibilitas, impalpabilitas, ferner suavissima consociatio und pulcherrima habitatio (Bd. 20, S. 382ff.). Meyfart handelt in seinem Himmlischen Jerusalem in eigenen Kapiteln unter anderem von der „Wissenschafft“, von der „Herrlichkeit und Gerechtigkeit der auserwehlten Seele“, von der „Vereinigung GOttes“ mit ihr, der „seeligen Anschauung GOttes“, dem „Gespräch“ und der „Freude“, weiterhin von der „Schönheit“, der „Subtilität“, der „Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit“, der „Klarheit“, der „Macht und Kraft“, der „Fertigkeit oder Behendigkeit“ und von den „herrlichen und reinen Wollüsten“ der „Leiber der Auserwehlten“ (Drey Nützliche Tractat. S. 576ff., 698ff.).¹⁴⁷
147 Vgl. ferner (z.T. mit anderer Gliederung und anderer Anzahl) u. a. Migne: PL 172, Sp. 1168ff. (Honorius Augustodunensis: Elucidarium); 183, Sp. 664f. (Bernhard: Sermones de diversis, XLII) – Bonaventura: Soliloquium. S. 200ff. – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 573ff. – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. HH1rff. – Alstedt: Theologia scholastica. S. 843ff. – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 191ff. – Bellarmin: Conciones.
„De quatuor novissimis“ bei Andreas Gryphius
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Gryphius führt zwar nicht alle in der Überlieferung unterschiedenen beatitudines und dotes an,¹⁴⁸ aber er benennt mit Wörtern und Sätzen wie „wollust Meer“, „frölich Hertz“ (v.2), „lern ich“, „schaw’ ich“ (v.4), „wonne“ (v.5), „ewig“ (v.7, vgl. auch v.12 und 14), „wie funckeln deine Scharen“ (v.8) viele dieser Vorstellungen, um wie die eschatologische Überlieferung mit ihnen die Herrlichkeit der ewigen Seligkeit zu umschreiben. Und er tut es vielfach mit charakteristischen Wendungen, zu denen es in anderen Texten auffällige Entsprechungen gibt, wenn etwa Gesenius das Übermaß himmlischer Freude in einen Satz faßt wie diesen: „FRewde / Lust vnd Ergetzung wird auch die Fülle vnd gantz vberflüssig seyn in dem ewigen Leben“ (Tractatus. S. 241);¹⁴⁹ wenn Bischoff die umfassende sapientia der Seligen betont: „vnser wissen ist hie stück vnd flickwerck / dort aber wirds alles perfect, gantz vnd vollkommen sein / also / das wir Gott erkennen werden / wie wir von jm erkandt sind“ (Vom Ewigen Leben. S. 132) oder Quistorp mit den Worten: „DIe erste Göttliche Wolthat vnd Herrligkeit / die die Seelen der Gleubigen in jenem Leben zu gewarten haben / ist eine vollenkommene Engelische Weißheit vnd Erkentniß Gottes / der Göttlichen Geheimnüßen / vnd aller Creaturē“ (Quatuor Novissima. S. 392); ¹⁵⁰ wenn die visio Dei ausgemalt wird wie bei Bischoff: „Aber im künfftigen Leben wird ein andere vnd gantz newe weise sein / nemlich die / das wir in das auffgedeckte Angesicht der allerheiligsten Dreyfaltigkeit sehen werden / vnd von solchem anschawen werden wir haben eine vollkommene erkentnis Gottes / sampt vollkommener Gerechtigkeit / Weißheit vnd Heiligkeit / die in vns leuchten wird / also / das wir Gott aus allen krefften werden lieben können / vnd vns in jhm ewiglich frewen ... Dort aber werden wir Gott gegenwertig / aus einem klaren hellen liecht / deß Glantz vns hie zu ertragen vnmüglich / ansehen vnd anschawen“ (Vom Ewigen Leben. S. 129, 131);¹⁵¹ oder wenn immer wieder wie in den Versen
S. 446 – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 78ff., 136ff. – Döler: De Vita aeterna. Bl. A4v f. – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 80ff. – Gesenius: Tractatus. S. 153ff. – Heerbrand: Compendium. S. 583 – Ludovicus Granatensis: De Oratione et Meditatione. S. 226ff. – Martin von Cochem: Die Vier letzten Dinge. S. 462ff. – Plavius: Sonnette. Nr. 99 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 418ff. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 423ff. 148 Es erscheint fragwürdig, wenn Ott, der ansonsten hier manche nützlichen Detailhinweise und Zitate bietet, einige der nicht erwähnten Gaben, die an sich Gryphius natürlich geläufig sind und an anderer Stelle auch in anderer Auswahl genannt werden (GA II,89f., Od.III,10), trotzdem im Text, und sei es auch mittelbar, mit enthalten sehen will (u. a. S. 241, 247). 149 Vgl. z. B. auch Baier: Compendium. Bd. 2, S. 189 – Meyfart: Tuba. S. 80. 150 Vgl. auch u. a. Gesenius: Tractatus. S. 190 – Heerbrand: Compendium. S. 583 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 576ff.; Tuba. S. 54, 81. 151 Vgl. auch u. a. Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 572f. – Heerbrand: Compendium. S. 583 – Hollatz: Examen theologicum. P.I, S. 668 – Hunnius: Epitome. S. 622 – Meyfart: Tuba. S. 71 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 375ff.
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7 und 8 die claritas im Blick auf Dan. 12,3 oder Matth. 13,43 in Beziehung zum Glanz der Sonne oder der Sterne gesetzt wird, so bei Quistorp: „Diese schönheit vnser Leiber / wird insonderheit bestehen / in einem Glantz vnnd Klarheit: Es werden sie funckeln vnd leuchten / nicht nur wie Silber / Gold / Edelgesteine / sondern wie Sterne am Himmel / ja wie die helle Sonne“ (Quatuor Novissima. S. 423f.).¹⁵² Wie Gryphius, der in v.3b (gutte Nacht todt angst vnd schmertz) auf Eigenschaften der Seligen wie impassibilitas, securitas, sanitas, longaevitas (Vinzenz von Beauvais) anspielt, verknüpfen auch Bamberg: „All unser Elend / Jammer und Noth ist nur ein einiger Tropffen Wermuth / aber darauff folgen volle Ströme himmlischer Wohllust“ (Heilsames Gedenck an mich. S. 321f.) oder Quistorp damit das Aufhören alles irdischen Leidens: „Werden wir auch in dem künfftigem FrewdenLeben frey seyn / von allem Creutz / Jammer vnd Elende / das durch die Sünde /vnd mit der Sünden zugleich in die Welt eingeführet ist ... Haben wir vns in dem künfftigen Leben nicht mehr vor dem Todt zu fürchten“ (Quatuor Novissima. S. 370f.).¹⁵³ Daß die ewige Seligkeit aber auch alle irdischen Freuden weit hinter sich läßt und Anlaß zur Abkehr von ihnen ist, das bekräftigt im selben Sinn wie die Verse 3a (Welt Ade!) und 6b (Erde deine Frewd ist schertz!) bei Gryphius ein eschatologischer Erbauungsschriftsteller wie Bamberg: „O der unbeständigen und kurtzen Welt-Freude! Aber die Freude der Außerwehlten wird ewig seyn im Himmel“ (Heilsames Gedenck an mich. S. 319f.).¹⁵⁴ Wenn Gryphius in v.4 zugleich mit verschiedenen Gaben des ewigen Lebens das Wort „alles“ gebraucht, dann klingt damit auch das Motiv des Überflusses, das jenes Leben kennzeichnet, an; bei Johann Gerhard kann man es mit einer Anspielung auf 1. Kor. 12,6 (auch 15,28; Eph. 1,23; Kol. 3,11) formuliert sehen: „Quid ibi amplius desiderari poterit, aut expectari, ubi Deus erit omnia in omnibus? ... Omnia erit Deus, & distribuet unicuique secundum desiderium cordis sua bona
152 Vgl. ferner u. a. Baier: Compendium. Bd. 2, S. 195 – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 354f. – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 220 – Döler: De Vita aeterna. Bl. B1r – Gesenius: Tractatus. S. 216 – Heerbrand: Compendium. S. 583 – Hunnius: Epitome. S. 605 – Meyfart: Tuba. S. 52 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 595 – Seuse: Büchlein der Ewigen Weisheit. S. 244 – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 425. 153 Vgl. ferner u. a. Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 194 – Döler: De Vita aeterna. Bl. C 5v – Gesenius: Tractatus. S. 185ff. – Meyfart: Tuba. S. 52f. – Seber: Hortulus Biblicus. S. 599 (zit. u. a. Jes.51,11). – Erst solche Stellen – nicht schon, wie Ott (S. 247) meint, der Hinweis auf die impassibilitas – verdeutlichen die Eigenart des Halbverses bei Gryphius. – Vgl. auch GA II,51, Od.II,7; 89, Od.III,10. 154 Vgl. auch u. a. Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 591 – Bellarmin: Kurtzer Innhalt. S. 326 – Henichius: Compendium. S. 401 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 496, 536f.; Tuba. S. 80 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 592 – Stanyhurst: Geistliche NeuGeburt. S. 398, 440, 458. – Vgl. auch GA II,51, Od.II,7; 89, Od.III,10.
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…” (Meditationes Sacrae. S. 348).¹⁵⁵ Zusammengehalten wird die Vielfalt der Einzelaussagen zur ewigen Seligkeit in den Quartetten durch die erste Zeile, durch die mit ihr begründete Sprechhaltung des Preises und der Verwunderung. Ihre Elemente, das anaphorisch wiederholte „O“, die wiederholte Frage, die Anspielung auf Ps. 126,1 (WEnn der HERR die Gefangen Zion erlösen wird / So werden wir sein wie die Trewmenden), kann man einzeln oder zusammen in anderen Texten wiederfinden, das „O“ und die Frage bei Seuse: „O stupor et admiratio ... O quid audio? quid video? Quid denique in memet ipso experior …” (Horologium. S. 467f.), das „O“ und Ps. 126 bei Döler: „Prae nimia laeticia Electi ... quasi erunt als die Treumenden ... ô gaudium super omne gaudium, gaudium vincens omne gaudium, extra quod non est gaudium …“ (De Vita aeterna. Bl. C6r).¹⁵⁶ Die beiden Terzette sind ganz einem letzten Kennzeichen der ewigen Seligkeit, in welchem ihr Sinn und ihr eigentliches Wesen zusammengefaßt ist, gewidmet: dem dauernden Lob Gottes durch die Seligen, von dem es bei Augustin am Beginn des letzten Kapitels von De civitate Dei heißt: „Quanta erit illa felicitas, ubi nullum erit malum, nullum latebit bonum, vacabitur Dei laudibus, qui erit omnia in omnibus? Nam quid aliud agatur, ubi neque ulla desidia cessabitur, neque ulla indigentia laborabitur, nescio“ (Bd. 2, S. 422).¹⁵⁷ Gryphius setzt ein mit einer Abwandlung von Off. 7,14 „Diese sinds / die komen sind aus grossem trübsal / vnd haben jre Kleider gewasschen / vnd haben jre kleider helle gemacht im blut des Lambs“, wobei er den ersten Teil dieser Stelle in v.9 mit Bildern des Martyriums entfaltet. Dann benutzt er, um das Sonett in Analogie zum dreifachen „heilig“ von Jes. 6,3 und Off. 4,8 mit einem der Trinität geltenden Preis und dreifachem Halleluja ausklingen zu lassen, noch weitere Stellen aus dem für alle Eschatologie zentralen letzten Buch der Bibel: Off. 19,1.3.4.6.7 „DARnach höret ich eine stim grosser Scharen im Himel / die sprachen / Haleluia. Heil vnd Preis / Ehre vnd Krafft sey Gott vnserm HERRN ... Vnd sprachen zum
155 Vgl. auch Augustin: De civitate Dei. Bd. 2, S. 422ff. – Migne: PL 184, Sp. 492 (Ps. Bernhard: Meditationes) – Heerbrand: Compendium. S. 583 – Hunnius: Epitome. S. 622 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 585ff., 619; zum Motiv des Überflusses ferner u. a. Döler: De Vita aeterna. Bl. A 5v f. – Gesenius: Tractatus. S. 225 – Hunnius: Epitome. S. 622f. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 618ff. 156 Vgl. auch u. a. Migne: PL 172, Sp. 1169f. (Honorius Augustodunensis: Elucidarium) – Meyfart: Tuba. S. 48, 50 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 601. 157 Vgl. u. a. auch Bonaventura: Soliloquium. S. 204 – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. HH4r – Baier: Compendium. Bd. 2, S. 195f. – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 368 – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 391f. – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 90f. – Gerhard: Meditationes Sacrae. S. 353 – Hunnius: Epitome. S. 625f. – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 621ff., 759ff., 777ff.; Tuba. S. 44f., 83ff. – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 384ff., 458 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 285, 290, 304.
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andern mal / Haleluia ... Vnd die ... Eltesten ... sprachen / Amen / Haleluia ... VND ich höret eine stim einer grossen Schar ... die sprachen / Haleluia. Denn der allmechtige Gott hat das Reich eingenomen / Lasset vns frewen vnd frölich sein / vnd jm die Ehre geben“, Off. 4,11 „HERR du bist wirdig zu nemen preis vnd ehre vnd krafft“, Off. 5,11.12 „VND ich sahe / vnd höret eine stimme vieler Engel ... vnd jr zal war viel tausent mal tausent / vnd sprachen mit grosser stim / Das Lamb das erwürget ist / ist wirdig zu nehmen krafft vnd reichthum / vnd weisheit vnd stercke / vnd ehre vnd preis vnd lob“, Off. 7,9–12 „Vnd sihe / eine grosse Schar / welche niemand zelen kund / aus allen Heiden vnd Völckern vnd Sprachen / fur dem Stuel stehend vnd fur dem Lamb / angethan mit weissem Kleide / vnd Palmen in jren Henden / schrien mit grosser stimme / vnd sprachen / Heil sey dem / der auff dem stuel sitzt ... Vnd alle Engel ... sprachen ... Lob vnd ehre / vnd weisheit / vnd danck / vnd preis / vnd krafft / vnd stercke sey vnserm Gott / von ewigkeit zu ewigkeit“. Das sind, mitsamt auch noch dem an 2. Kor. 12,4 anklingenden „vnaußsprechlich“ (v.13),¹⁵⁸ den Worten „Ewigkeit“ und „ewig“ (v.12 und 14) und dem Anklang an 1. Kor. 12,6 (es ist ein Gott / der da wirkket alles in allen) in v.12,¹⁵⁹ alles Elemente, die auch in vielen anderen Texten der Vergegenwärtigung der Seligkeit der Auserwählten und ihres Gesanges dienen. Meyfart hebt hervor, wie die Märtyrer Gott in der Ewigkeit preisen: „Wir wollen ... Märtyrer und Bekenner fragen / was doch die Crone ihrer Ewigkeit / und die Lust ihrer Fröhlichkeit sey? Sie werden antworten: Wir haben gelitten kaum den hundert tausenden Theil von einem Augenblick / das ist schon längsten verstoben und verflossen; jetzunder besitzen wir die holdseelige Ewigkeit / welche nimmermehr aufhöret ... Jetzunder folgen wir nach dem Lamm / vnd singen das Triumph-Lied ...“ (Drey Nützliche Tractat. S. 802f.).¹⁶⁰ Das Bild der durch das Blut des Lamms reinen Kleider der Seligen verknüpft Johann Gerhard in Anlehnung an Off. 7,9.10 mit deren Gesang: „Induemur eadem cum illis veste: in stolis albis coram throno Agni assistentes aeternum psaltemus Domino canticum“ (Medita-
158 Vgl. u. a. Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 313 – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 572 – Gerhard: Meditationes Sacrae. S. 339 – Gesenius: Tractatus. S. 248 – Hafenreffer: Loci. S. 714 – Hutter: Compendium. S. 140 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 545f. – Schottel: Vorstellung von der Ewigen Seeligkeit. S. 18. – Ott (S. 235) verkennt bei Anführung eines entsprechenden Zitats von Aegidius Albertinus diesen Topos. 159 S. dazu oben Anm. 155 und das zugehörige Zitat im Text. – In v.14 übrigens scheinen auch noch Stellen wie Tit.2,14 (Der sich selbs fur vns gegeben hat) (ähnlich Gal.1,4; Eph.5,25; 1.Tim.2,6) anzuklingen. 160 Vgl. u. a. Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 292f. – Bonaventura: Soliloquium. S. 204 – Hafenreffer: Loci. S. 717.
„De quatuor novissimis“ bei Andreas Gryphius
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tiones Sacrae. S. 353).¹⁶¹ Auf Off. 7,10 und 19,4 verweist Baier (Compendium. Bd. 2, S. 195ff.) bei der Feststellung, daß der Seligen „aures hymnis elegantioribus sese oblectare possint“, und Hunnius führt unter anderem Jes. 6,3, Off. 4,8 und 7,11.12 an im Zusammenhang mit dem Satz: „Ein grösseren und angenehmeren Dienst werden die Ausserwehlten im ewigen Leben GOtt nicht erzeigen mögen / denn das sie ihm ein solchen Lobspruch zuruffen ...“ (Epitome. S. 625f.).¹⁶²
III. Die über viele Jahrhunderte hin überlieferte Lehre von den vier Letzten Dingen umfaßt manche anderen Einzelzüge noch als die, die hier an den Sonetten des Gryphius aufgewiesen und mit vielerlei Parallelen aus den Texten anderer Autoren belegt und erläutert worden sind. Zum Lehrstück vom Tod gehört etwa auch die Frage nach seiner Ursache oder die Begründung für die Unsterblichkeit der Seele, die ins einzelne gehende Schilderung des Sterbens und der Todesarten, die Anleitung zum seligen Sterben, die Erörterung von Sinn und Form des Begräbnisses und der Trauer um die Toten. Bei der Erörterung des Jüngsten Gerichts – wie auch bei der der Hölle und der ewigen Seligkeit – wird vielfach ein Beweis mit mancherlei Gründen dafür, daß es zu erwarten sei, geführt, und eingehend geschildert werden oft die zahlreichen Vorzeichen, die das Gericht ankündigen, der Vorgang des Gerichts selbst oder die Vernichtung der Welt nach dem Gericht, die consummatio oder annihilatio mundi. Die überlieferte Lehre von der Hölle enthält weitere Qualen noch, als im Katalog des dritten der Sonette aufgezählt, vielfach auch eine genaue Systematik und Begründung der einzelnen Strafen, teilweise mit Bezug auf die einzelnen Sinne, mit denen gesündigt worden ist, oder auch das für die unvorstellbare Ewigkeit der Höllenstrafen oft vergleichend gebrauchte, wohl auf Seuse (Büchlein der Ewigen Weisheit. S. 239; Horologium. S. 459) zurückgehende Bild vom Stein, von welchem ein Vogel alle hunderttausend Jahre nur ein winziges Körnchen abpickt, oder auch vom
161 Zur Verwendung von Off.7,14 u. a. auch Meyfart: Tuba. S. 38 – Seber: Hortulus Biblicus. S. 597f. – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 302 – Gryphius: Dissertationes Funebres. S. 338, 424; GA VI,220, Catharina von Georgien V, 390, 399. 162 Vgl. auch u. a. Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 368 – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 391f. – Bonaventura: Soliloquium. S. 204 – Döler: De Vita aeterna. Bl. C6v – Hollatz: Examen theologicum. P.I, S. 675 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 622, 759; Tuba. S. 45 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 458ff. – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 290. – Die wenigen Hinweise bei Ott (u. a. S. 235f., 243) zu den Terzetten des Sonetts auf das ewige Leben bleiben vag, weil die anklingenden Bibelstellen und entsprechende Belege aus der eschatologischen Literatur nicht beachtet werden.
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Ozean, aus dem ein Vogel alle hunderttausend Jahre nur einen kleinen Tropfen trinkt. Das Wesen der ewigen Seligkeit wird an noch mehr dotes und beatitudines, als bei Gryphius genannt werden, oder an einem oft breit ausgeführten Bild des Himmlischen Jerusalem veranschaulicht. Gryphius bietet demgegenüber eine Auswahl aus der Fülle dessen, was in vielen anderen Werken zur Lehre von den vier Letzten Dingen und ihrer erbaulichen Vermittlung überliefert wird, – eine Auswahl freilich, die – vieles in den engen Raum des Sonetts in knapper, aber für die mit dem Stoff wohlvertrauten Zeitgenossen gewiß gänzlich verständlicher Form zusammendrängend – doch eine große Zahl sehr wesentlicher Teile der einzelnen Lehrstücke erfaßt. Angesichts solcher Fülle ginge die Annahme sicherlich fehl, Gryphius hätte – abgesehen von dem wenigen, was wie das Fegefeuer zwischen den Konfessionen strittig war – die in seinen Sonetten nicht enthaltenen Einzelheiten nicht gebilligt. Offensichtlich hat er sich bemüht, unter äußerster Nutzung der von ihm zweifellos mit Gründen gewählten Sonettform so viel, wie nur irgend möglich, darin unterzubringen, und so stellen seine vier Sonette, in denen eigentlich keine Stelle ohne Entsprechungen in der Überlieferung ist, sich durchaus als ein zwar nicht vollständiger, aber doch außerordentlich reichhaltiger Abriß der dem 17. Jahrhundert noch geläufigen eschatologischen Lehren dar. Allerdings läßt sich ihnen auch ablesen, daß es Gryphius keineswegs bloß darauf angekommen ist, einen solchen Abriß in lehrhaftem Sinne zu geben. Vielmehr folgt er Intentionen, die in all den vielen erbaulichen, dogmatischen oder poetischen Texten bei der Behandlung der Letzten Dinge immer wieder nachdrücklich bekundet werden. Von dem geistlichen Nutzen, den man gerade der Betrachtung der Letzten Dinge beimißt, heißt es bei Gesenius: „VNter allen Gottseligen Meditationen vnd andächtigen Betrachtungen / darinn ein Christen-Mensch sich zu dem Ende üben muß / damit er für Sicherheit vnd Liebe dieser Welt / vnd also für Sünden sich bewahre / darneben in allem Creutz / Widerwertigkeit vnd Anfechtungen / auch im Tode selbst getrost sey vnd nicht verzage ... sind sonder allen Zweiffel die aller kräfftigsten vnd beweglichsten / wenn wir bey vns vberlegen / vnd in der Furcht deß HERRN erwegen die vier letzten Dinge deß Menschlichen Lebens ...“ (Tractatus. S. 1), bei Quistorp: „OB wol vnter allen Stückē vnserer Christlichen Lehre / kein einiges gefunden wird / durch welches betrachtung / wir nicht könten von Sünden vnnd sündlichem Leben vnd Wesen abgehalten / vnnd ein heiliges Christliches Leben vnd Wandel zu führen / angemahnet werden. So kan doch insonderheit durch die Betrachtung der quatuor novißimorum, das ist / vnsers Todts vnd Sterbligkeit / des künfftigen algemeinen Gerichts / der / den Gottlosen vorstehenden Hellen Pein / vnd der Himlischen Frewde der Gottsfürchtigen / die Lust böses zu thun gebrochen / vnd eine Liebe guts zu thuen / vnd GOtt zu dienen in vns erwecket werden“ (Quatuor Novissima. Bl. a2rf.). Hauptabsichten
„De quatuor novissimis“ bei Andreas Gryphius
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erbaulicher Literatur sind es, für die die Beschäftigung mit den Letzten Dingen als besonders wirksam angesehen wird. Das wird nicht nur zu vielen Malen im Blick auf die Gesamtheit dieser Lehren betont,¹⁶³ sondern immer wieder auch bei jedem einzelnen Lehrstück. Gerhard von Vliederhoven gibt in seinem im späten Mittelalter so außerordentlich verbreiteten Werk am Beginn oder am Ende der Behandlung jedes einzelnen Stücks derartige Hinweise: „meditatio mortis facit hominem omnia contemnere“ (Quatuor Nouissima. Bl. AA 5v), „mors facit hominem penitentiam acceptare“ (Bl. AA6v), „secundum nouissimorum cuius frequens meditatio nos a peccatis reuocat est iuditium nouissimum et finale“ (Bl. BB6v), „Tertium nouissimorum cuius salubris recordatio a peccatis prohibet est infernus seu gehenna“ (Bl. EE4v), „quartum nouissimorum quod valde et precipue debet homines a peccatis retrahere est gloria celestis“ (Bl. HH1r). Bamberg hebt die Wichtigkeit der Betrachtung des Todes hervor: „Wenn ein Mensch stets an sein Ende gedenkket / und betrachtet / wie er diese Stunde ja diesen Augenblick dahin sterben könne / so wird er allezeit in guter Bereitschafft erfunden werden“ (Heilsames Gedenck an mich. S. 62) ähnlich wie Chytraeus: „... das wir die gantze zeit vnsers Lebens / vns erinnern / vnd darauff bedacht sein / weil wir wissen / das wir sterben müssen / da wir vns allenthalben wol vnnd recht bedencken / auff das wir also leben / handeln vnd wandeln / damit / wenn das vnuermeidliche stündlein an vns kompt / wir bereit vnd gefast sein / sehliglich / willig vnd gerne von hinnen zuscheiden“ (Christlicher ... vnterricht. Vom Tode vnd Ewigen Leben. Bl. )(3r), Bellarmin nennt die „mortis meditatio“ „vera mortalium sapientia“ (Conciones. S. 415), Dilherr spricht den Menschen – wie es Gryphius an verschiedenen Stellen seiner Sonette tut – mahnend an: „O Mensch! O du unbesonnener Mensch! der du so thumkühn in Tag hinein lebest ... Bedencke ja bey Zeiten / ja alle Morgen / ja alle Stunde / in was für grausame Gefahr / du / in der Todesstund / kommen könnest: und ändere noch heut dein Leben“ (Tod / Gericht und Hölle. S. 15f.).¹⁶⁴
163 Vgl. u. a. auch Bonaventura: Soliloquium. S. 174 – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 493 – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. HH6v, II1r – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 692 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 243f. – Bellarmin: Conciones. S. 451; Kurtzer Innhalt. S. 35, 323 – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 657 – Martin von Cochem: Die Vier letzten Dinge. Vorrede – Morus: Die Vier Letzten Dinge. S. 113ff. – Pallu: Von denen Letzten Dingen. S. 1 – Rist: Himlischer Lieder ... Das Vierdte Zehn. Bl. A6rff. – Stanyhurst: Geistliche Neu-Geburt. S. 8; durchgehend geprägt davon sind etwa auch das Epigramm des Erasmus und die Sonette des Plavius. 164 Vgl. auch u. a. Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 496, 499 – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 702 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 243 – Drexel: Der Ewigkeit Vorlauffer. S. 6 – Gerhard: Meditationes Sacrae. S. 315, 317 – Gesenius: Tractatus.
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Für Anselm dient die Meditation über die Schrecken des Gerichts „ad excitandum in se timorem“ (Migne: PL 158, Sp. 722), der Prediger Gesenius ruft seinen Zuhörern zu: „Hie ins gemein müsset jhr zum Beschluß mercken ... daß man den Jüngsten Tag auf zweyerley Vrsachen vnd zu zweyerley Ende bedencken / vnd sich dessen offt erinnern muß. 1. Wider die Sicherheit vnd Vnbußfertigkeit. 2. Darnach zum Trost vnd Freudigkeit / gegen alle Widerwertigkeit / vnd Vnglück / vnd wider alle Mühseligkeit vnd Arbeit“ (Tractatus. S. 136), Meyfart legt in einem eigenen Kapitel dar, es nütze „die Betrachtung erstlich darzu / daß wir die Sünde meiden und fliehen ... Zum andern ist die Betrachtung des Jüngsten Gerichts nützlich / zu einer wahren Reu und Busse / oder zur Besserung des Lebens ... zum dritten / daß die Erinnerung des Jüngsten Gerichts nutzet / die Unruhe des Gewissens zu stillen und aufzuheben ... Endlich ... ist die Betrachtung des Jüngsten Gerichts nutz ewiger Verdamnuß zu entgehen“ (Drey Nützliche Tractat. S. 184f., 188–190), Henichius widmet in seinem Compendium Theologicum einen besonderen Abschnitt der Frage, „Num etiam fides & meditatio extremi judicii homines à peccando deterret & ad studium pietatis excitat“ (S. 394).¹⁶⁵ Johann Gerhard läßt eine seiner Meditationes Sacrae ausklingen in die Bitte „O Domine, da, ut gehennam cogitemus, ne in gehennam incidamus!“ (S. 366), für Gesenius ist die „Erinnerung der Höllischen Quaal vnd vnerträglichen / schrecklichen Pein / ... ein solche bequeme Wehre / die kan die hefftigsten anmuhtungen der Sünden reprimiren, vnd dempffen ...“ (Tractatus. S. 395), Meyfart sieht „drey Nutzbarkeiten aus der Betrachtung des höllischen Sodoma herkommen. Die erste bestehet in dem / wenn das zeitliche Elend gelindert und erleuchtert wird: Die andere in dem / wenn die zeitliche Glückseeligkeit dadurch verachtet wird: Die dritte in dem / wenn die Sünde gehindert / der Sünder abgeschröcket / und zu der Besserung vermahnet wird“ (Drey Nützliche Tractat. S. 1302), Chytraeus bedenkt den Nutzen von Hölle und himmlischer Seligkeit zugleich: „Es ist aber nechst der betrachtung des Leidens vnd Sterbens des Sones Gottes / welches vns genugsam den grausamen vnd schrecklichen Zorn Gottes / wider die Sünde / bezeuget / kein besser vnd krefftiger anreitzung / so vns zu warer Gottes furcht / vnd rechtschaffener Busse / auch ernstem vorsatz /
S. 46 – Henichius: Compendium. S. 373 – Ludovicus Granatensis: De Oratione et Meditatione. S. 207 – Pallu: Von denen Letzten Dingen. S. 23 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 37, 58. 165 Vgl. ferner u. a. Bonaventura: Soliloquium. S. 166 – Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 801 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 243f. – Bellarmin: Conciones. S. 424 – Hafenreffer: Loci. S. 696 – Meyfart: Tuba. S. 115, 118 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 155 – Schottel: Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 1, 15, 128, 133, 242.
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vnser Leben zu bessern / vnd guter Wercke zubefleissen / reitzen vnd vermanen köndte / als eines theils die stedte betrachtung des Hellischen Fewers / oder der Pein vnd Marter der Gottlosen in der Hellen / so jmmer vnd ewig weren wird: vnd anders theils das sehnliche vnd grosse verlangen nach dem seligen vnd ewigen Leben ...“ (Christlicher ... vnterricht ... Von Vnsterbligkeit der Seelen. Bl. P3v).¹⁶⁶ „Cur“, fragt Dionysius Cartusianus seinen Leser, „in transitoriis et carnalibus tuam ponis felicitatem, et ea plus appetis, quaeris ac colligis, quam bona spiritualia ac divina, coelestia et aeterna“ (De quatuor hominis novissimis. S. 571), einen zweifachen usus leitet Hafenreffer aus dem Lehrstück von der ewigen Seligkeit ab: „I. Vt magnitudinem coelestis gloriae perpetuo contemplantes, ab omni immundicie & peccato, nos contineamus: quibus fides, Spiritus sanctus, & spes omnis vitae aeternae amittitur … II. Vt magnitudine futurae gloriae, spem & patientiam nostrum in omnibus aduersis foueamus: & isthac meditatione, omnes afflictionum acerbitates, magno & constanti, intrepido atque infracto animo semper superemus“ (Loci. S. 722f.), Quistorp fordert: „Ein rechtschaffenes Christ gleubiges Hertz / wenn es höret / daß das künfftige Leben / das rechte wahre / ewige / jmmerwärende Leben sey / sol hiedurch lernen / sein Hertz vnd Gedancken von dem zeitlichen ab zuwenden / vnd nach dem ewigen Leben zu sehnen“ (Quatuor Novissima. S. 341), und Gesenius erwartet: „Vermittelst fleissiger Betrachtung kan vnd muß vnser Hertz auffgewecket vnd ermuntert werden / durch allerley Hindernüssen hindurch zureissen / vnd mit Ernst nach der versprochenen Seeligkeit zutrachten“ (Tractatus. S. 299).¹⁶⁷ Von Sünde abzuschrecken, Schutz gegen alle Laster zu geben, zu Reue, wahrer Buße, poenitentia, zu täglicher Abkehr von der Welt, zur Verachtung alles Irdischen, zu ständiger Vorbereitung auf den Tod zu bewegen, zu rechtem Leben, zu wahrer pietas, vera sapientia, zur Überwindung alles irdischen Leids, zur Sehnsucht nach dem Himmel, nach dem ewigen Leben und zu einem seligen Sterben zu führen – das sind die geistlichen Absichten, die überall gegenwärtig sind. Anleitung zu ständiger Betrachtung der Letzten Dinge, zu rechter Meditation, Mahnung, Warnung, Trost, Erweckung von Hoffnung sind die Aufgaben, denen die ausgedehnte Überlieferung zur Lehre von den Novissima in
166 Vgl. auch u. a. Vinzenz von Beauvais: Speculum morale. Sp. 827 – Alstedt: Theologia scholastica. S. 852 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 244 – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 301f. – Bellarmin: Conciones. S. 445 – Drexel: Der Verdambten ... Höllfängknuß. Bl. )(5v, )(1or – Feinler: Poetische Betrachtung. S. 72f. – Heerbrand: Compendium. S. 574 – Henichius: Compendium. S. 405 – Quistorp: Quatuor Novissima. S. 269. 167 Vgl. auch u. a. Bonaventura: Soliloquium. S. 176, 186 – Arndt: Wahres Christenthum. S. 244 – Francisci: Wol der Ewigkeit. Bl. )(4v f. – Henichius: Compendium. S. 401 – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 800, 810; Tuba. S. 57 – A. Silesius: Sinnliche Beschreibung. S. 310.
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der Vielfalt ihrer Formen dient.¹⁶⁸ Diese Absichten und diese Aufgaben zu verwirklichen, heißt aber in Jahrhunderten, denen Affektenlehre und Rhetorik geläufig und Grundlage sprachlicher Produktion und ihres Verständnisses sind, bewußt auf die Affekte einzuwirken und dazu die Mittel der Rhetorik einzusetzen, deren Möglichkeiten zugleich mit der Affektenlehre auch die Homiletik noch des 17. Jahrhunderts intensiv rezipiert und reflektiert hat.¹⁶⁹ An manchen Stellen werden darum die Letzten Dinge eigens genannt, wo es um geistlich verstandene Affekte und ihre Beeinflussung geht, so in einer Schola Affectvvm, hoc est, Brevis, et methodica moderandorum Affectvvm, ac Passionum, per media cum Generalia, tum Particularia institutio¹⁷⁰ des Jesuiten Albert Malberg im Kapitel „Meditatio rerum diuinarum expultrix est affectionum immoderatarum“ oder in einer für Prediger bestimmten Sammlung von Bibelstellen unter dem Titel Divina Incentiva piorum affectvvm e Sacris Literis collecta von Johannes Theophilus.¹⁷¹ Der spanische Prediger und Erbauungsschriftsteller Ludovicus Granatensis (Luis de Granada) hat in der Einleitung seines Werks De Oratione et Meditatione des längeren von den virtutes als affectus supernaturales und von deren Erweckung durch Meditation und Predigt gehandelt: Etenim quemadmodum natura dedit nobis affectus, & desideria naturalia, quas quasi calcaria sunt, nos ad id faciendum stimulantia, quod ad vitam naturalem tuendam est necessarium: sic & gratia confert nobis alios affectus supernaturales, qui quasi stimuli sunt, atque incentiua ad vitam spiritualem. Sunt autem virtutes hae, quas vocamus amorem, dolorem, timorem, spem, aliaeque plures: sine quibus vita spiritualis esset, quasi scapha sine remis, aut nauis sine velis. non enim haberet quo moueretur ad bene operandum …; … & sicut audire concionem, si debita cum attentione, deuotioneque audiatur, excercitium est, quod non ad vnam tantum mouet virtutem, sed ad omnia virtutum genera simul (ad
168 Vgl. dazu auch einzelne Hinweise in der Forschung, u. a. bei M. Dusch: De veer Utersten. S. 36* – Martin: The Last Judgment. S. 3 – Palmer: Die Letzten Dinge. S. 225ff. – Quistorp: Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins. S. 33. Mit der Zwecksetzung der literarischen Behandlung der letzten Dinge hängt es auch zusammen, daß deren Darstellung in der bildenden Kunst wiederholt im Zusammenhang mit Beichtgestühl steht (vgl. dazu die in Anm. 101 genannte kunstwissenschaftliche Literatur). 169 Vgl. dazu die Hinweise bei Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. S. 153ff. u. Anm. 32ff. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 26 (1984) S. 145– 162 (Wiederabdruck in: Rhetorik 5 (1986) S. 97–113), mit den dort angeführten Quellen und Literaturnachweisen. 170 Köln 1623. (Exemplar Deutsches Institut der Universität Mainz) S. 62. – Vgl. auch Johann Heinrich Alstedt: Theologia casuum, Exhibens anatomen conscientiae et scholam tentationum. Hannover 1621. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 167ff., 189ff. 171 Poitiers 1610. (Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 235f., 381.
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hoc enim omnis doctrina pia instituitur) sic Consideratio vel Meditatio summum praebet auxilium, non ad vnam solam, sed ad virtutes vniuersas (S. 154).
Das mit solchen Überlegungen eingeleitete Werk enthält unter den Gegenständen von Morgen- und Abendmeditationen für alle Tage der Woche als Inhalt der abendlichen Meditationen vom Mittwoch bis zum Sonnabend die vier letzten Dinge (S. 205–231). Derselbe Autor weist in seinen Ecclesiasticae Rhetoricae ... libri sex¹⁷² innerhalb eines Kapitels „De affectibus in specie“ darauf hin, der Prediger, der zu anderem als die weltlichen Redner, nämlich „ad amorem Dei, peccati odium, spem diuinae miserationis, metum diuini iudicij, ad spirituale gaudium, salutarem tristitiam, diuinarum rerum admirationem, mundi contemptum, & cordis humilitatem, siue animi submissionem“ zu bewegen pflege (S. 172), könne nach einem angeführten Beispiel partim studio & meditatione, partim sacrarum literarum, sanctorumque Patrum lectione rationes inuenire … quibus caeteros affectus in animis auditorum excitare possit. Inter quos ad laetalis peccati odium & detestationem, & ad diuinae iustitiae timorem potissimum studeat inducere. Hunc autē salutarem metum praecipuè acuunt peccatorum multitudo, incerta vitae conditio, mortis ineuitabilis necessitas, diuinorum iudiciorum abyssus, rationis reddendae cogitatio, extremi iudicij formidanda seueritas, suppliciorumque gehennae acerbitas simul & aeternitas, caeteraque his similia. Est autem hic timoris affectus vtilissimus ad obdurata hominum pectora concutienda … Quocirca Ecclesiastes animarum salutem sitiens, frequenter hos affectus vrgere, ac praecipuè gehennae acerbitatem & aeternitatem quanta poterit vi dicendi exaggerare, & velut oculis spectandam proponere debet (S. 175f.).¹⁷³
Hinweise dieser Art machen über die dogmatische Bedeutung hinaus begreiflich, daß sich der Letzten Dinge neben der Dogmatik, die selbstverständlich von ihnen zu handeln hat, auch Predigt und Erbauungsliteratur in solchem Umfang angenommen haben, und erhellen ihrerseits jene Zielsetzungen, die überall im
172 Köln 1578 (Exemplar Deutsches Institut der Universität Mainz). Dieses verbreitete homiletische Werk scheint sich neben anderen in Gryphius’ Besitz befunden zu haben (vgl. Catalogus Bibliothecae Gryphianae, Nr. 1471); wiederholt angeführt wird es u. a. in der mehrfach aufgelegten „Methodus concionandi“ des Wittenberger Theologen Johann Hülsemann (6Wittenberg 1671, Vorr. dat. 1632; Exemplar UB Erlangen). 173 Vgl. etwa auch die Verben in der Kapitelüberschrift „Num etiam fides & meditatio extremi judicii homines à peccando deterret & ad studium pietatis excitat“ bei Henichius (Compendium. S. 394) oder die Überlegungen in Vorreden und Kommentaren bei Francisci (Wol der Ewigkeit. Bl. )(4v f.) und Schottel (Vorstellung Des Jüngsten Tages. S. 232; Vorstellung Der Hölle. S. 2; Vorstellung Von der Ewigen Seeligkeit. S. 18f., 76) über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer recht eindringlichen Darstellung.
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Blick auf die Letzten Dinge bekundet werden. Die Novissima gehören offenkundig zu den wirksamsten Gegenständen, um im Sinne und mit den Mitteln einer auf Affektenlehre und Rhetorik sich gründenden geistlichen Literatur zentrale Ziele christlicher Paränese zu erreichen. Der Entfaltung solcher Wirkungen dienen die vielfältigen geistlichen Prosaformen, die den Letzten Dingen gewidmet worden sind und deren im Dienste rhetorischer Affektbeeinflussung stehenden Bauformen, Verfahrensweisen und Elemente näher zu untersuchen höchst lohnend sein müßte. Der Erreichung derartiger Wirkungen dienen aber auch die verschiedenartigen Formen poetischer Behandlung der Letzten Dinge. Verse gelten noch dem 17. Jahrhundert als etwas, was besonders geeignet ist, um lehrhafte Inhalte nahezubringen und einzuprägen,¹⁷⁴ was aber auch mitsamt einer poetisch gesteigerten Redeweise intensive, von der Poetik da und dort auch näher behandelte Wirkungen¹⁷⁵ im Sinne rhetorischer Affektdarstellung und Affektbeeinflussung ausübt. Besonders eingehend hat sich im Zusammenhang mit den Letzten Dingen Justus Georg Schottel dazu geäußert, neben anderem in der Vorrede seiner Vorstellung Des Jüngsten Tages. Er betont darin, daß so lange die Welt gestanden / nichts gewesen / nichts ist / noch seyn wird / davon man in der Welt mehr geredet und gedacht / auch billig mehr reden und denken soll und muß / als von dem allerletzten grossen Gericht / da die Welt wird / soll und muß gerichtet werden; auch unserem Leibe und der Seel nichts nützlichers und nichts nötigers / als immerfort dasselbe bedenken / davon reden und sagen / was unserem Leibe und der Seele ewigen Nutz und Seeligkeit / oder ewige Noht und Unseeligkeit bringen wird (Bl. a4r),
und hebt dann, unter Hinweis auch auf beigefügte „saubere schöne KupferStükke“, hervor, er habe solche wichtige Materie „nicht mit gemeinen Teutschen Versen / Reimen und Reden / sondern hin und wieder mit nachdenklichen hohen Teutschen Worten und Red-Arten / wie es die hohen Sachen erfordern / nach Möglichkeit vor Augen gestellet“, und da es „ja sonst einer zierlichen deutlichen Rede Eigenschafft und Wirkung“ sei, „daß sie recht ins Gedächtniß dringe / und von dem Verstande sofort Beyfall finde / und den Willen dazu / was sie will / gleichsam willig mache“, wolle er „auch in der Zuversicht stehen / es werde auch bey manchem / der dieses / was allhier geschrieben / gantz durchlesen wird / die
174 Vgl. Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. S. 114ff. 175 Siehe dazu die Belege im letzten Teil des Aufsatzes. – Von solcher Einschätzung der Versform her läßt sich auch verstehen, daß in der gesamten Erbauungsliteratur so oft Prosa und Versteile gemischt werden. Vgl. dazu z. B. auch den Hinweis bei Palmer: Die Letzten Dinge. S. 228.
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Wirkung also statt haben / daß des Jüngsten Tages Zustand und Bewandniß ins Gedächtniß dringen / von dem Verstande nötigen Beyfall / und von dem Willen / willige Folge / zu höchstersprießlichem Nutze / erlangen werde“ (Bl. a5rf.).¹⁷⁶ Durch solche Erwartungen sind gewiß alle Formen poetischer Behandlung der Letzten Dinge – ob sie im einzelnen nun mehr anschaulich schildern wie Schottel oder Angelus Silesius, eindringlich mahnen wie Plavius oder eine sehr genau ins dogmatische Detail gehende Belehrung im modischen Madrigal bieten wie Feinler – bestimmt und für die Zeitgenossen gerechtfertigt. Die geistliche Zwecksetzung, die die verschiedenen poetischen Formen für die Behandlung der Letzten Dinge dienlich erscheinen läßt, steuert in ihnen – wie sich näher zeigen ließe – ebenso einen oft auffälligen, intensiven Gebrauch rhetorischer Figuren.¹⁷⁷ Auch das verbindet poetische und prosaische Formen. Denn auch in diesen, denen ohnehin überall die Bemühung anzumerken ist, den Leser durch die Vielfalt der Einzelheiten und die Eindringlichkeit ihrer Darlegung zu ergreifen, kommt es immer wieder auch zu Stellen, die durch den verstärkten Gebrauch rhetorischer Figuren von großer Affektwirkung¹⁷⁸ wie exclamatio, Apostrophe, enumeratio, gradatio, Anapher, Parallelismus, Antithese zu affekterregenden Höhepunkten werden. So ruft Meyfart im Höllischen Sodoma aus: O Ewigkeit! O Ewigkeit! Du bist eine böse Ewigkeit! O Ewigkeit! O Ewigkeit! Du bist eine schröckliche Ewigkeit. O Ewigkeit! O Ewigkeit! Das vermehret alles / was in dir bös ist; Das überhäuffet alles / was in dir erschröcklich ist; Das übertrifft alles / was in dir grausam ist / daß du bist die verfluchte Ewigkeit (Drey Nützliche Tractat. S. 1273f.),
176 Vgl. hier auch Bl. b7r (Lobgedicht von Andreas Heinrich Bucholtz), S. 32, 261. Ferner u. a. Schottel: Sonderbare Vorstellung / Wie es mit Leib und Seel Des Menschen werde ... bewandt seyn. S. 6 – Drexel: Der Ewigkheit Vorbott ... in dise Teütsche Carmina durch Johan Jacob Schülpl vbersetzet. Bl. )(2v – Meyfart: Drey Nützliche Tractat. S. 410. 177 Das gilt in besonderem Grade u. a. für die Sonette von Plavius, die Lieder von Rist, die „Sinnliche Beschreibung“ von A. Silesius. 178 Vgl. dazu z. B. Johann Heinrich Alstedt: Rhetorica. Herborn 1616. (Exemplar Deutsches Institut der Universität Mainz) S. 245f., 290, 310 – Nicolaus Caussinus: De Eloquentia sacra et humana. Köln 1634. (Exemplar Bischöfliches Priesterseminar Mainz) S. 358, 759, 763 – Ludovicus Granatensis: Ecclesiastica Rhetorica. S. 180 – Jacob Masen: Palaestra Eloquentiae ligatae. 2 Köln 1661. (Exemplar UB Münster) P.I, S. 253ff. – Meyfart: Teutsche Rhetorica. S. 221, 274, 294, 359, 385 u. a. – Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Hrsg. v. Henning Boetius. Bad Homburg v.d.H. u. a. 1969, S. 343. S. auch die Bemerkungen und Quellenbelege zur Affektwirkung bestimmter Figuren bei Heinrich F. Plett: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975, u. a. S. 62, 69, 88, 162, und den Abschnitt „Die Stilfiguren“ bei van Ingen: Vanitas und memento mori. S. 191ff.
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Johann Gerhard kennzeichnet die ewige Seligkeit mit Sätzen wie diesen: Tu, ô Deus, lumen eris, in cujus lumine videbimus lumen, te scilicet in te, in splendore vultus tui, quando te videbimus à facie ad faciem. Neque solum te videbimus, sed etiam tecum vivemus; neque solum tecum vivemus, sed etiam te laudabimus; neque solum te laudabimus, sed gaudii tui consortes erimus; neque solum tecum gaudebimus, sed Angelis etiam similes erimus; neque Angelis solum, sed ipsi etiam Deo benedicto in seculum (Meditationes Sacrae. S. 349f.).¹⁷⁹
Daß solch intensiver Gebrauch rhetorischer Sprachmittel ganz im Dienste von Anweisungen steht, wie sie sich bei Ludovicus Granatensis finden, das wird bekräftigt durch die Beobachtung, daß solche rhetorisch gesteigerten Passagen besonders häufig begegnen, wo es um die Hölle und ihre Qualen oder um die ewige Seligkeit geht. Das sind die beiden Stücke, auf die die ganze Lehre von den Letzten Dingen zuläuft. Zwar geht es auch bei den beiden ersten um die Entscheidung zwischen Heil oder Verdammnis. Aber am anschaulichsten wird sie in den Gegenbildern der Höllenqualen und der Himmelsfreuden. Diese beiden Stücke werden deshalb auch gelegentlich von den ersten beiden, die allen Menschen gemeinsam sind, unterschieden als diejenigen, die einerseits die Verdammten, andererseits die Erwählten betreffen,¹⁸⁰ und schon bei Augustin findet man das Spannungsverhältnis betont, in welchem beide zueinander stehen: „Si ergo quaeratur a nobis, quid Civitas Dei de his singulis interrogata respondeat, ac primum de finibus bonorum malorumque quid sentiat, respondebit aeternam vitam esse summum bonum, aeternam vero mortem summum malum“ (De civitate Dei. Bd. 2, S. 236). In Bonaventuras Soliloquium verlangt die Seele nach der Vorstellung des Gerichts und der Verdammnis zum Trost nach dem Bild der Seligkeit: „Iam nunc, o homo, me miseram in hac lacrymarum valle commorantem satis terruisti, licet non infructuose docuisti. Miserere
179 Hier z. B. auch S. 338, 347, 356, 367, 370. Vgl. ferner die oben in Anm. 137 und im zugehörigen Text angeführten Aufzählungen der Höllenqualen; außerdem u. a. Migne: PL 40, Sp. 917 (Ps. Augustin: Meditationes), 1353 (Ad fratres in Eremo); 145, Sp. 748ff. (Petrus Damianus: Institutio monialis); 172, Sp. 1169f. (Honorius Augustodunensis: Elucidarium); 183, Sp. 473 (Bernhard: Sermones de Sanctis, IV); 184, Sp. 491ff. (Ps. Bernhard: Meditationes) – Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. S. 575, 593 – Gerhard von Vliederhoven: Quatuor Nouissima. Bl. CC1v, DD2v, DD4r, FF2r, HH1v, II1r – Bamberg: Heilsames Gedenck an mich. S. 283, 315, 319 – Bellarmin: Conciones. S. 416ff., 451, 454 – Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 590f. (zit. Seuse), Bl. Rr7v (zit. Ps. Bernhard) – Döler: De Vita aeterna. Bl. A4v, B6v, C6r, C7v – Meyfart: Tuba. S. 53 (ein Lobgedicht von Melchior Steinbrück – Bl. A4v – nennt das Werk „emphaticas et patheticas de quatuor novissimis homilias“) – Gerhard: Loci. Bd. 20, S. 533–536 (Carmina & Rhythmi de vitae aeternae felicitate, von Ps. Augustin, Ps. Bernhard, W. Alardus u. a.). 180 So z. B. bei Hunnius: Epitome. S. 620; ähnlich Bellarmin: De arte bene moriendi. S. 596.
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etiam nunc mihi miserae et fac mecum, sicut iam dudum promisisti. Propone paululum de felicitate perpetua, si forte valeam ex hoc capere aliqua mentis solatia, quia alternis uti delectabile est“ (S. 176).¹⁸¹ An vielen anderen Texten wäre zu zeigen, wie die gesteigerte Darstellung gerade dieser beiden Stücke auch im ganzen antithetisch aufeinander bezogen ist. Es ist vor allem diese Antithetik, die dabei die Verwendung der rhetorischen Formen begründet und zugleich durch solche affektbewegende Vergegenwärtigung in ihrer geistlichen Bedeutung nachdrücklich hervortritt.
IV. Den Absichten und Aufgaben, die den verschiedenartigen Quellen zu entnehmen sind, dienen auch die Sonette des Gryphius auf die vier Letzten Dinge, dient die von ihm getroffene, angesichts des begrenzten Sonettumfangs beträchtliche Auswahl aus der Fülle der überlieferten Motive, dienen deren Anordnung und Verknüpfung mit dem Bau der Sonette, dient ihre sprachliche und metrische Gestaltung.¹⁸² Das Sonett Der Todt ist im Sinne der überlieferten paränetischen Bedeutung dieses ersten eschatologischen Lehrstücks ganz auf die Aufgabe gerichtet, Mahnung an den Tod, Aufforderung zu seiner ständigen, für das Seelenheil notwendigen Betrachtung zu sein. Gewißheit, Unberechenbarkeit, Allgemeinheit, Unentrinnbarkeit des Todes führen daher die beiden Quartette teils in Form knapper Feststellungen, teils in amplifizierender Form vor Augen. Die Terzette setzen daneben das dem einzelnen Menschen sofort mit dem Tod bevorstehende besondere Gericht, in welchem bereits über Seligkeit oder Verdammnis entschieden wird, und erinnern daran, daß der Mensch in Tod und Gericht nichts von allem irdischen Besitztum mitnimmt, wohl aber die Folgen seines Tuns und Denkens, die Gegenstand des Gerichts sein werden. Das Sonett gewinnt seinen mahnenden Charakter aber nicht nur durch diese Auswahl und die dichte Zusammenfügung der einzelnen Motive, sondern darüber hinaus vor allem dadurch, daß die mahnende Anrede des ersten Verses, in welcher der Sinn des Lehrstücks enthalten ist, das ganze Sonett durchzieht, daß sie, immer wieder
181 Vgl. u. a. auch Migne: PL 172, Sp. 1175 (Honorius Augustodunensis: Elucidarium); 183, Sp. 664f. (Bernhard: Sermones de diversis, XLII) – Seuse: Horologium. S. 459f. – Francisci: Wol der Ewigkeit. Bl. )(4v; in ähnlicher Antithetik das ewige Leben gegen das irdische abgehoben bei Bischoff: Vom Ewigen Leben. S. 39ff. – Döler: De Vita aeterna. Bl. A 2v. 182 In der Vernachlässigung, ja z.T. ausdrücklichen Mißachtung solcher Aspekte liegt eine entscheidende Schwäche der Arbeit von Ott (vgl. u. a. S. 114, 167, 263, 351).
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aufgenommen, die bestimmende Sprachform für die Darlegung vieler Einzelzüge ist und daß sie noch ganz am Ende steht, als wörtliche Wiederholung der zweiten Hälfte des Eingangsverses, die nun durch das gesamte Sonett ein gegenüber dem Beginn verstärktes Gewicht erhält. So wichtig ist Gryphius offenkundig die mahnende Anrede, daß er mit ihrer Wiederholung, die zwar als Verknüpfung von erstem und letztem Sonettvers an sich an Spielarten zeitgenössischer Sonettgestaltung anschließt, doch einen Verstoß gegen fraglose Regeln des barocken Sonetts insofern in Kauf nimmt, als dabei die Reimbindungen von zwei Terzettversen (11 und 14) und vier Quartettversen (1, 4, 5 und 8) identisch werden. Die Furchtbarkeit des letzten Gerichts, das alle Menschen betrifft, machen im Sonett Das Letzte Gerichte die beiden Quartette bewußt, indem sie in knapper Reihung die Zeichen des Gerichts nennen, dann die Toten aus sämtlichen Bereichen der Welt und die noch Lebenden, die alle miteinander zum Gericht gefordert werden, und darauf das von Glanz und Schrecken seiner Macht als Weltenrichter begleitete Erscheinen des erhöhten Christus vergegenwärtigen. Die Terzette hingegen, die sich ganz auf das im Gericht ausgesprochene Urteil und seine Vollstreckung konzentrieren, mahnen zur Besinnung auf das Gericht, indem sie in mehrfachem Wechsel den Spruch über die Gerechten und die Verdammten, die Vollziehung des Urteils an den Gerechten und den Verdammten, die Freude der einen, den Schrecken der anderen einander gegenüberstellen. Entsprechend der unterschiedlichen Art, in welcher die beiden Teile des Sonetts auf das Gericht mahnend verweisen, halten auch hier charakteristische Sprechgesten die ausgewählten Einzelheiten zusammen. In den Quartetten ist es vom Einsatz her der aus dem traditionellen „Surgite“ abgeleitete wiederholte Ruf an die Lebenden und die Toten zum Gericht, der dann im zweiten Quartett auf die Darstellung des Erscheinens Christi zuläuft. In den Terzetten sind es die teils identischen, teils antithetisch unterschiedenen Ausrufe, mit denen Urteil und Vollstreckung an den Gerechten und den Verdammten nebeneinander und gegeneinander gestellt werden. Im Mittelpunkt der Quartette des Sonetts Die Hölle stehen die zum Zwecke stärkster Warnung in asyndetischer Reihung als eine Häufung aller nur denkbaren Schrecken genannten Höllenqualen, umgeben und ergänzt vom Jammergeschrei der Verdammten mit ihrem Wunsch, von Bergen und Abgründen erschlagen und verschluckt zu werden, um der Pein zu entgehen. In betrachtender und fragender Form spricht das erste Terzett demgegenüber von der unentrinnbaren Ewigkeit der Pein, während das zweite Terzett in der Weise endgültiger Feststellung jene Unentrinnbarkeit verknüpft mit dem Hinweis auf den die Strafe gerecht verhängenden Zorn Gottes und sie damit bekräftigt. Beide Terzette schließen mit den im Reim verbundenen, aus der eschatologischen Über-
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lieferung herkommenden paradoxen Formeln vom „sterben sonder sterben“ und vom Verderben „vmb hier nicht zuverderben“, die, von einem Ausruf die eine, von einer an Anfangs- und Schlußvers des Todes-Sonetts erinnernden Anrede an den Menschen die andere eingeleitet, als klagende Zusammenfassung des ewigen Leidens der Verdammten und als Mahnung aufeinander verweisen und die entscheidenden Folgerungen aus der warnenden, abschreckenden Vergegenwärtigung der Hölle ziehen. Eine Reihe von himmlischen Freuden und Gaben erfüllt die Quartette des Sonetts Ewige Frewde der Außerwehlten. Sie sind umso mehr Anlaß überwältigten Staunens, als ihnen die Motive der Überwindung alles irdischen Leids und der Abkehr von allen vergänglichen Freuden kontrastierend eingefügt werden und das Motiv des Glanzes der verklärten Leiber zu dem eines Wettstreits mit dem Licht der Gestirne gesteigert wird. Ist im Höllen-Sonett die asyndetische Häufung der Qualen Mittel der abschreckenden Vorstellung, so werden hier die himmlischen Freuden zum Mittel der anspornenden Verheißung, indem sie in einer Folge knapper Sätze aneinandergereiht werden, deren verwundert preisende Sprechhaltung entwickelt wird aus dem an Ps. 126,1 und andere Elemente der Überlieferung anknüpfenden Eingangsvers. Mit dem Beginn der Terzette wechselt in enger Verbindung mit den zahlreichen Anspielungen auf die Offenbarung und andere Bibelstellen die Sprechhaltung. Waren die Quartette Bekundung der Verwunderung durch eine einzelne auserwählte Seele, so folgt nun das alte Motiv der Preisung Gottes durch die Seligen in Form der an sie alle gerichteten Aufforderung zu solchem Preis im ersten und des an die Trinität sich wendenden Preisgesangs selbst im zweiten Terzett, in welchen, die Quartette fortsetzend und übersteigend, die Verheißung ewiger Seligkeit, mit welcher dieses Sonett über die Mahnungen und Warnungen der anderen hinausweist, und damit der ganze Zyklus ausklingt. Der Überblick über die vier Sonette läßt erkennen, wie in ihnen bei manchen bezeichnenden Unterschieden im einzelnen, wesentliche Teile der jeweiligen Lehrstücke – unter spürbarer Mitwirkung bestimmter, zumeist aus der eschatologischen Überlieferung selbst stammender Sprechgesten vor allem der Anrede, des Ausrufs, der Klage oder der Preisung – in der Weise dicht miteinander verwoben werden, daß der Abriß der Lehre zugleich Mahnung, Warnung, Abschreckung, Verheißung ist. Dabei ist die von Gryphius getroffene Auswahl der Motive aus der Überlieferung so angeordnet, daß in jedem der Sonette jeweils eine Gruppe von Motiven die beiden Quartette, eine andere die beiden Terzette – teils mit, teils ohne weitere Aufgliederung innerhalb der Quartette oder der Terzette – füllt und in dieser Aufteilung jeweils eigenes Gewicht hat. Gryphius wählt damit – so genau kalkuliert dabei die Nutzung des Sonettgefüges ist – die einfachste Gliederung des Sonetts, neben der es
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im Barock mancherlei andere, kompliziertere gibt,¹⁸³ die er in vielen anderen Sonetten nicht verschmäht hat. Der verhältnismäßig einfachen Sonettgliederung ist in mancher Hinsicht der Stil der Sonette vergleichbar. Verhältnismäßig selten ist in diesen Sonetten der Gebrauch metaphorischer Elemente, seltener auch als in manchen anderen geistlichen Sonetten des Dichters. Vieles, was auf den ersten Blick als metaphorisch gelesen werden könnte, erweist sich doch im Zusammenhang der übrigen eschatologischen Literatur als ganz wörtliche Aussage. Verhältnismäßig groß ist daher hier auch, trotz den erschwerenden Bedingungen einer Umsetzung in Verse, die Wörtlichkeit in der Wiedergabe der zugehörigen Bibelstellen, die diese Sonette nur in geringem Maße bloß umschreibend anklingen lassen, und auch die Wörtlichkeit der Aufnahme von Motiven und Wendungen aus der Überlieferung. Bei aller Bindung an das Bibelwort und aller Intensität des Rückgriffs auf die exegetische Tradition herrscht in den den Perikopentext auslegenden und auf die Situation des einzelnen Gläubigen applizierenden Sonn- und FeiertagsSonetten des Gryphius ein kompliziertes Verhältnis zwischen Wiedergabe des Bibelworts, metaphorischer Umschreibung und allegorischer Auslegung, das es in den eschatologischen Sonetten nicht gibt. Sie sollen in umfangreicher Auswahl die Lehre von den Letzten Dingen vermitteln. Deshalb ist ihr Stil, zumal was den Gebrauch tropischer Rede betrifft, mehr oder weniger einfach, teilweise geradezu dem lehrhaften genus humile zuzurechnen. Aber sie sollen solche Lehre zugleich so vermitteln, daß sie auf geistliche Weise auf die Affekte einwirkt, daß sie im Sinne der ganzen eschatologischen Überlieferung Mahnung, Warnung, Abschreckung, aber auch tröstliche Verheißung und Ansporn ist. Deshalb verbindet sich mit Auswahl und Anordnung der überlieferten Motive und deren paränetischer Zubereitung durch charakteristische Sprechgesten ein überlegter Gebrauch affekthaltiger rhetorischer Figuren. Im Verein mit einem abwechslungsreichen Satzbau und einer differenzierten inneren Gliederung der Sonett-Teile gibt er den einzelnen Motiven im Mit-, Neben-, auch Gegeneinander ihre eigentümliche Wirkungskraft. Im Sonett Der Todt sind es in den Quartetten vor allem Anaphern – eine Figur, die Meyfart in seiner Teutschen Rhetorica „ sehr schön vnd dapffer; am
183 Vgl. dazu u. a. Joseph Leighton: Deutsche Sonett-Theorie im 17. Jahrhundert. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. Hrsg. v. Gerhart Hoffmeister. Bern, München 1973. S. 11–36, die theoretischen Texte in: Das deutsche Sonett. Dichtungen, Gattungspoetik, Dokumente. Hrsg. v. Jörg-Ulrich Fechner. München 1969, sowie die Hinweise bei Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. S. 292ff.
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meisten aber scharff vnd hefftig“ nennt (S. 294) -, das dreimalige „nun“ in den Versen 3 und 4, das zweimal wiederholte „Hier“ in den Versen 5 und 6, die zusammen mit den parallel gebauten, auf halbe oder ganze Verse verteilten Sätzen die Beispiele für die Allgemeinheit und Unentrinnbarkeit des Todes in so verknüpfter Aufzählung hervorheben und ihnen ihr affektisch-argumentatives Gewicht geben. In den Terzetten unterstreicht die Aufgliederung in kurze Teile in v.9 die Hinweise darauf, daß das besondere Gericht den Menschen ganz allein und sofort trifft. Der nächste Vers stellt in parallelen Halbversen die Möglichkeit von Seligkeit oder Verdammnis neben- und gegeneinander, gefolgt von einem ganzen Vers, der dafür die Begründung im Hinweis auf das Urteil Christi als des Richters im besonderen Gericht gibt. Danach sind es wiederum zwei parallel gebaute, anaphorisch eingeleitete Halbverse, die die Nacktheit und Besitzlosigkeit des Menschen am Lebensbeginn und am Lebensende zeigen, ergänzt durch den folgenden, nun wieder nicht zweigeteilten erklärenden Vers. All dem, was mit dem Tod vergangen ist, kann dann der mit einem „Doch“ beginnende letzte Vers in scharfer Antithese das, was nicht vergeht, sondern im Gericht beurteilt werden wird, das „werck“, entgegenstellen und daraus die den Anfang des Sonetts wieder aufnehmende Mahnung ableiten. Die aus dem traditionellen „Surgite“ hergeleitete Apostrophe – Meyfart nennt diese Figur „sehr schön und scharff“ (S. 385) –, gerichtet an die zum Jüngsten Tag geforderten Toten mit mehrfach anaphorisch wiederholtem „Auff“, verschränkt bis in den Beginn des zweiten Quartetts im Sonett Das Letzte Gerichte die erschreckenden Zeichen des einbrechenden Gerichts und die niemanden auslassende Berufung zu diesem Gericht. Die folgende Vergegenwärtigung der Erscheinung Christi als des Weltenrichters macht deren Glanz und Schrecken anschaulich, indem sie mit verschleierter Anapher in den Versen 6–8 („vor Ihm ... Bey Ihm ... nach jhm ... Vmb jhn“) die sie begleitenden Erscheinungen – in je einem halben Vers – und die unendliche Schar der Engel – diese nun in einem einzigen langen, eine Bibelstelle umschreibenden Vers – aneinanderreiht. Die Terzette arbeiten die das Gericht überall in der eschatologischen Literatur prägende große Alternative von Beseligung oder Verdammnis heraus in einer durchgehenden Folge von Antithesen und deren chiastisch wechselnder Anordnung. Alstedt spricht der Antithese und zumal einer wiederholten eine ungemeine Wirkung zu: „Antithesis, imprimis gemina, singulariter delectat auditorem ... Antitheta maximè penetrant animum auditoris“ (Rhetorica. S. 290). Verschärft wird die Folge von Antithesen in den Terzetten durch Anaphern, Parallelismen, Ausrufe, in v.11 auch durch einen Chiasmus des Satzbaus und durch eine weitgehende Zweiteilung der Verse. Das erste Quartett des Sonetts Die Hölle – und in begrenzter Weise auch das zweite Quartett – wird beherrscht von der asyndetischen exklamatorischen Rei-
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hung, in der hier die Höllenqualen angeführt werden. Nach Meyfarts Rhetorik empfiehlt die Figur des Asyndetons sich, „wenn eine behende Bewegung deß Gemüths anzudeuten ... Oder wenn viel Stücke zuerzehlen / die zimliche Wichtigkeit auff sich tragen“ (S. 221).¹⁸⁴ Die Jammerrufe in den Versen 1 und 4 rahmen die asyndetische Aufzählung der Qualen dadurch wirkungsvoll ein, daß sie eine von Alstedt eigens erläuterte Form der Anapher einsetzen: „Motus ex anaphorâ existit major, si adverbia demonstrandi & exclamandi in gaudio, in desiderio, in luctu, in fletu, in miseriâ adhibeantur“ (S. 246). Die Terzette wiederholen die Figur in den Versen 11 und 14. Mit einer weiteren Anapher in v.13, der Parallelität dieser beiden Halbverse zum ähnlich gebauten Satz im vorangehenden Vers, durch metrisch fundierte lange fragende und feststellende Sätze, die der Gliederung der kleinteilig zusammengesetzten Quartette kontrastieren, bekräftigen die Terzette warnend die im Zorn Gottes begründete Ewigkeit der Höllenstrafen. Exclamatio, zum Teil in der nach Alstedt besonders wirkungsvollen Verbindung mit der Anapher, und Apostrophe durchziehen beide Teile des Sonetts Ewige Frewde der Außerwehlten. Und ähnlich wie im vorigen Sonett ist dabei die Gruppe der Quartette viel kleinteiliger gegliedert als die der Terzette. Aber was dort die Abschreckung zum Zweck hat, dient hier der bewegt darzustellenden Seligkeit und der Aufforderung zum Preis Gottes. Das gilt auch für den mehrfachen Wechsel der Objekte der Apostrophe, für die Anaphern, die kurze Sätze in den Quartetten und lange in den Terzetten verknüpfen, für die Verschränkung von Chiasmus und Anapher in v.4, für mancherlei sonstige Wortwiederholungen und Parallelismen, die zumal in den Quartetten in vielfältiger Weise ineinandergreifen und sich überlagern und so zur preisenden Bewegtheit des Sonetts beitragen, die es deutlich von den ersten drei Sonetten abhebt. Alle vier Sonette setzen eine Vielzahl von affektwirksamen rhetorischen Figuren ein, um mahnend, warnend, abschreckend, verheißend von den Letzten Dingen zu sprechen. Aber es sind dabei auch Unterschiede zu bemerken. Anreden prägen entsprechend ihrer Intention alle Sonette, aber in den ersten drei Stücken sind es Anreden der Mahnung und Forderung, im letzten solche der Preisung und des an alle Seligen gerichteten Aufrufs dazu. Die beiden ersten Sonette sind aufs ganze gesehen aber weniger stark von exclamatio und Apostrophe als die beiden letzten bestimmt, dafür jedoch von einem Gebrauch von Anapher, Parallelismus und Antithese, der ihnen einen mehr argumentativ gegliederten Aufbau und, verglichen mit den beiden anderen, einen eher noch
184 In solchem Sinne hat Gryphius das Asyndeton an anderen Stellen z. B. für Aufzählungen aller möglichen irdischen Leiden verwendet, u. a. GA III, 169, An seinen Hrn Bruder P. Gryphium, v.36ff.; VI,7, Die Heilige Felicitas, I, v.13f.
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belehrenden Charakter gibt, sichtbar auch in noch stärkerer und gleichmäßigerer Konzentration verschiedenartiger Stücke der überlieferten Lehre in allen Sonett-Teilen. So sind denn auch diese beiden diejenigen Teile des Zyklus, bei denen man insgesamt eher von einem einfachen Stil sprechen kann. Stärker jedenfalls als auch diese zielen die beiden letzten Sonette auf einen affekthaft gesteigerten Stil, der sich schon anbahnt in den Terzetten des zweiten Sonetts mit ihrer Konzentration auf exclamatio, Anapher und Antithese. Das ist begründet in der sich gegenseitig spiegelnden antithetischen Bedeutung, die die Bilder von Hölle und Himmel überall auch sonst als sachliche und deshalb auch zu sprachlicher Steigerung führende Höhepunkte der Behandlung der Letzten Dinge haben, und es macht sichtbar, wie die Sonette des Gryphius, von denen jedes in seiner Weise mit der wechselvoll in sich gespannten Gliederung und Ausgestaltung seiner Teile auf die Weckung der geistlichen Affekte gerichtet ist, gerade in ihrer Verschiedenartigkeit als Teile eines Zyklus zusammengehören, der als solcher erst richtig verstanden ist, wenn man ihn in seinen inhaltlichen Voraussetzungen wie in seiner affektbezogenen geistlichen Wirkungsabsicht erfaßt, die ihn in den beiden Schlußsonetten kulminieren lassen muß. Eine letzte Bestätigung erfahren solche Feststellungen durch die metrische Gestaltung des Zyklus. Ganz der allerüblichsten Form der Sonettgestaltung, die die Poetikliteratur der Zeit kennt, folgt nicht nur die Gliederung aller vier Sonette mit ihrer Aufteilung in die Gruppen der Quartette und die der Terzette und ebenso – mit der einen Ausnahme der Verse 11 und 14 des ersten Sonetts – das Reimschema aller vier Sonette,¹⁸⁵ sondern auch die metrische Gestalt der beiden ersten Sonette. Sie bestehen aus Alexandrinern, den – noch vor den vers communs – am häufigsten im barocken Sonett verwendeten Versen. Anders steht es mit dem dritten und vierten Sonett. Sie mischen – und dies noch wieder auf unterschiedliche Weise – mehrere und zum Teil ungewöhnliche Versarten. Im Sonett Die Hölle bestehen nur vier Zeilen aus dem im Barocksonett sonst so üblichen Alexandriner. Es sind die Verse 2/3 und 6/7, mithin diejenigen, von denen vor allem die ersten beiden durch die asyndetische Reihung der Höllenqualen so auffällig sind. Diese vier Alexandriner, durch ihre Füllung von nicht gerade alltäglichem Charakter, sind umgeben von vier trochäischen Versen, die nur aus je drei Silben bestehen und – mit Ausnahme des Verses 4 – nur mit ein-
185 Es ist das Schema abba abba ccd eed, das in zahlreichen Poetiken mehr oder weniger uneingeschränkt zur Norm erklärt wird. Allerdings haben – worauf schon Manheimer: Die Lyrik des A. Gryphius. S. 47 hingewiesen hat – das 3. Sonett in seinen Terzetten und das 4. in seinen Quartetten nicht den sonst fast immer üblichen Wechsel von weiblichen und männlichen Reimen.
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silbigen Wörtern gefüllt sind. Gegen solche Versfüllung, die ihr übel und schwer zu klingen schien, hat die gesamte Barockpoetik Vorbehalte gehabt, gegen die noch Johann Ulrich König im 18. Jahrhundert zu polemisieren Anlaß fand.¹⁸⁶ Ebenso problematisch erschienen ihr so kurze Verse, die allenfalls in bestimmten Fällen zulässig sein konnten, wie beispielsweise Harsdörffer meint: Die zwey- drey- und viersylbigen langkürtzte Reimarten können füglich für sich kein gantzes Gedicht machen / werden aber andern untermenget / wenn man in grossen Trauren gleichsam eine gebrochne Stimm bilden will.¹⁸⁷
Die Terzette mischen zwei vers communs (v.11 und 14) mit vier Zeilen, die aus achthebigen Daktylen bestehen. Daktylen gelten der Poetik des 17. Jahrhunderts fast ausschließlich als allein für fröhliche Gegenstände geeignet,¹⁸⁸ und
186 Johann Ulrich König: Untersuchung Von der Beschaffenheit Der einsylbigen Wörter in der Teutschen Dicht-Kunst. In: Johann von Besser: Schrifften. T.2. Leipzig 1732. (Film der Sammlung Faber du Faur) S. 833–901. Zur Position der Barockpoetik u. a. Siegmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Hildesheim, New York 1973 (Nachdr. d. Ausgabe Nürnberg 1679). S. 5, 16, 59f. – Johann Hofmann: Lehr-mässige Anweisung / Zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst. Nürnberg 1702. (Film Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 9f. – Johann Christoph Männling: Europaeische[r] Parnassus. Wittenberg 1685. (Film Exemplar HAB Wolfenbüttel) S. 51 – Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterei. 5Halle 1949. S. 28 – Gottfried-Wilhelm Sacer: Nützliche Erinnerungen Wegen der Deutschen Poeterey. Alten Stettin 1661. (Film der Sammlung Faber du Faur) S. 19 – Justus Georg Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. Hildesheim, New York 1976 (Nachdr. d. Ausgabe Lüneburg 1656). S. 33, 70 – Justus Georg Schottel: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubt-Sprache. Hrsg. v. Wolfgang Hecht. Tübingen 1967 (Nachdr. d. Ausgabe Braunschweig 1663). T.2, S. 825, 847 – Johann Peter Titz: Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen. Danzig 1642. (Exemplar UB Tübingen) Bl. H4v – Andreas Tscherning: Unvorgreiffliches Bedencken über etliche mißbräuche in der deutschen Schreib- und Sprach-Kunst. Lübeck 1659. (Exemplar UB Marburg) S. 98 – Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 9. Deutscher Helicon. Berlin, New York 1971. S. 23, 37; Bd. 10. Hoch-Deutscher Helikon. Berlin, New York 1977. T.1, S. 42f. 187 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Darmstadt 1969 (Nachdr. d. Ausgabe Nürnberg 1648ff.). T.1, S. 54. Vgl. auch u. a. Birken: Rede- bind- und Dicht-Kunst. S. 17ff. – Männling: Europaeischer Parnassus. S. 52f. – Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1704. (Exemplar UB Münster) S. 70 – Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. S. 102, 104, 127; Ausführliche Arbeit. T.2, S. 870f., 887f. 188 Vgl. dazu u. a. Harsdörffer: Poetischer Trichter. T.3, S. 93 – Hofmann: Lehr-mässige Anweisung. S. 91f. – Christoph Kaldenbach: Poetice Germanica. Nürnberg 1674. (Exemplar StuUB Göttingen) S. 14 – Männling: Europaeischer Parnassus. S. 46, 55 – Johann Christoph Männling: Der Europaeische Helicon. Alten Stettin 1704. (Exemplar UB Greifswald) S. 92. – Masen: Palaestra Eloquentiae ligatae. P.I, S. 395 – Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. S. 299, 345 – Johann Georg Neukirch: Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie. Halle 1724. (Exemplar LB Wiesbaden) S. 73 – Omeis: Gründliche Anleitung. S. 74, 101 – Johann
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dementsprechend wird oft darauf hingewiesen, daß sie ganz und gar nicht für Trauergedichte beispielsweise zu gebrauchen seien. Nur wenige Theoretiker wie Birken, Zesen oder Hadewig meinen, daß daktylische Verse auch „zu geistlichen Liedern gar schicklich gebraucht werden“ könnten¹⁸⁹ oder in Trauergedichten, wenn man „mit lustigē Worten di herliche Freude des ewigen Lebens wolte beschreiben / und di Betrübeten also nur trösten“.¹⁹⁰ Zesen geht sogar so weit, als Ausnahme zu fordern: „daß solche dattel-ahrt nicht allein zu dergleichen lustigen / sondern auch (damit der wider-sprecher meinung gantz zu nichte werde) zu seufzenden / trauer- und kläglichen sachen bißweilen könne gebraucht werden“ (Sämtliche Werke. Bd. 10/2, S. 577). Bedenken haben die Zeitgenossen oft auch gegen so lange Verse. Sie erscheinen ihnen wenig nützlich, da man sie kaum überschauen und den Reim kaum hören könne,¹⁹¹ oder mehr der ungebundenen als der gebundenen Schreibart zugehörig,¹⁹² sie sind ihnen „wegen der über-länge / ganz verdrieslich zu lesen“.¹⁹³ Gryphius aber nutzt Daktylen hier für einen alles andere als fröhlichen Gegenstand, und er macht die überlangen, achthebigen Daktylen geradezu zu seinem Gerichts- und Höllenvers. Das mit einem Ausblick auf das Jüngste Gericht endende Sonett Mitternacht (GA I, 66f., Son.II,4) besteht ganz aus solchen Versen, im Leo Armenius (GA V, 64f., 4. Abhandlung, v.61ff.) mischen sich unter die Alexandriner plötzlich solche (und einige andere abweichende) Verse, als Jamblichus einen höl-
Joachim Statius: Der Wohlgebahnte Weg zu der Teutschen Poesie. Bremen 1716. (Exemplar UB Halle) S. 62 – Titz: Kunst Hochdeutsche Verse ... zu machen. Bl. G1v f. 189 Birken: Rede- bind- und Dicht-Kunst. S. 114. 190 Johann-Henrich Hadewig: Wolgegründete teutsche Versekunst. Bremen 1660. (Exemplar LB Hannover) S. 290f.; ebenso Johann-Henrich Hadewig: Kurtze und richtige Anleitung / Wie in unser Teutschen Muttersprache Ein Teutsches Getichte ... könne verfertiget werden. Rinteln 1650. (Exemplar LB Wiesbaden) S. 138. 191 Hadewig: Anleitung. S. 76, 77; Versekunst. S. 195, 204f. 192 Omeis: Gründliche Anleitung. S. 69; s. auch S. 73, 76. 193 Birken: Rede- bind- und Dicht-Kunst. S. 25. Vgl. ferner u. a. August Buchner: Anleitung zur deutschen Poeterey. Hrsg. v. Marian Szyrocki. Tübingen 1966 (Nachdr. d. Ausgabe Wittenberg 1665). S. 124 – Harsdörffer: Poetischer Trichter. T.1, S. 71ff. – Hofmann: Lehr-mässige Anweisung. S. 22f. – Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. S. 301 – Georg Neumark: Poetische Tafeln. Hrsg. v. Joachim Dyck. Frankfurt a.M. 1971 (Nachdr. d. Ausgabe Jena 1667). Anmerkungsteil, S. 127, 133 – Jakob Friedrich Reimmann: Poesis Germanorum Canonica & Apocrypha. Leipzig 1703. (Exemplar StuUB Göttingen) S. 69f. – Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. T.1. Leipzig 1687. (Exemplar LB Fulda) Bl. C1v, C6r – Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. S. 125; Ausführliche Arbeit. T.2, S. 885, 898 – Johann Samuel Wahll: Gründliche Einleitung zu der rechten / reinen und galanten Teutschen Poesie. Chemnitz 1723. (Exemplar StuUB Hamburg) S. 40ff. – Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 9, S. 34.
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lischen Geist beschwört.¹⁹⁴ Selbstverständlich ist den Zeitgenossen auch nicht die Mischung von verschiedenartigen Versen, zumal wenn es sich um Verse aus unterschiedlichen Arten von Versfüßen handelt wie bei Gryphius.¹⁹⁵ Harsdörffer schließt solche Mischung allerdings nicht aus, doch gilt sie ihm noch als neu, schicklich aber immerhin „zu Vorstellungen einer grossen Betrübniß / oder beweglicher Vermahnung“ (Poetischer Trichter. T.I, S.78). Männling sieht in ihnen eine „Emphatische Zierlichkeit“, „wann ein sonderlicher Casus sich ereignet“ (Der Europaeische Helicon. S. 92).¹⁹⁶ Obgleich Gryphius in seinem übrigen Werk in so ungewöhnlicher Weise wie hier verschiedene Versarten nur recht selten noch gemischt hat, tut er dies in seinem eschatologischen Zyklus – wenn auch auf andere Art – gleich noch ein zweites Mal im abschließenden Sonett Ewige Frewde der Außerwehlten. Die Quartette bestehen hier aus achthebigen Trochäen,¹⁹⁷ die mit ihrer Länge auch für die zeitgenössische Poetik zu den Versen zählen, die ihr nicht unbedenklich erscheinen. Die Terzette, auch in anderer Hinsicht von den Quartetten unterschieden, heben sich metrisch von ihnen dadurch ab, daß nun vorwiegend jam-
194 Etwas kürzere daktylische Verse begegnen im Zusammenhang mit vergleichbaren Motiven – vor allem in Reyen – u. a. in Gryphius’ „Papinian“ (IV), Lohensteins „Agrippina“ (V), Hallmanns „Catharina“ (I), „Sophia“ (IV), „Theodoricus“ (II). 195 Bedenken dagegen – obgleich Mischungen sonst z.T., etwa bei zu kurzen Versen oder bei Daktylen, gefordert werden – u. a. bei Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. S. 303 (zumal gegen zu häufigen Wechsel der pedes) – Omeis: Gründliche Anleitung. S. 81 – Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 10/1, S. 136 (gegen Versmischungen außerhalb der Liedform); Bd. 10/2, S. 572 (gegen zu künstliche Versmischungen, während Zesen an sich an mehreren anderen Stellen auf mögliche Versmischungen hinweist); gegen Mischung von Versfüßen innerhalb einer Zeile: Buchner: Anleitung. S. 134. 196 Vgl. auch Hadewig: Anleitung. S. 150; Versekunst. S. 196, 289, 299ff. – Harsdörffer: Poetischer Trichter. T.1, S. 83f. (hier auch Mischung unterschiedlicher Versfüße innerhalb einer Zeile); T.2, S. 13 – Männling: Europaeischer Parnassus. S. 95ff. – Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. S. 301f. (um das „kindische“ der Daktylen zu mildern) – Sacer: Nützliche Erinnerungen. S. 30 – Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. S. 170ff.; Ausführliche Arbeit. T.2, S. 914f. Bezeichnend ist der oft apologetische Ton der positiven Stimmen und die weitgehende Beschränkung von Versmischungen auf Liedstrophen, in denen sie ohnehin vielfach gebräuchlich sind. – Gryphius hat – im einzelnen wäre das im Blick auf die Funktion näherer Untersuchung wert – insgesamt von der Mischung insbesondere von Versarten, die nicht nur durch die Zahl, sondern auch durch die Art der Versfüße unterschieden sind, nur begrenzt Gebrauch gemacht. 197 In derselben Versart – eingeschoben in jambische Verse – spricht im Prolog der „Catharina von Georgien“ die Ewigkeit vom Kontrast von irdischem Leid und ewiger Seligkeit (GA VI, 141).
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bische Verse folgen. Die Verse 9 und 10, achthebige Jamben,¹⁹⁸ haben dieselbe Länge wie die Quartettverse. Die Verse 12 und 13, die längsten dieses Sonetts, mischen gar vier jambische und vier daktylische Versfüße. Und die Verse 11 und 14 sind zwar die kürzesten dieses Sonetts, es sind sechshebige jambische Verse. Aber auch sie sind ungewöhnlich. Denn es sind nicht, wie bei einem jambischen Vers mit dieser Silbenzahl in einem Text des Barock zu erwarten, Alexandriner: sie haben keine Zäsur. Kaum einem Verfasser einer Poetik ist solche Abweichung von einer selbstverständlichen Norm vorstellbar. Nur ganz selten ist solche Abweichung als im Einzelfall zulässig erklärt worden, von Zesen oder Schottel, auch von Männling, der ähnlich wie jene dazu erklärt: „Allein es wird nur solche Freyheit daher entschuldigt / weilen man die Sache trachtet lebhafft vorzustellen / sonst ist es dem Thone nach sehr unlieblich“ (Der Europaeische Helicon. S. 67).¹⁹⁹ Aber auch da ist wohl immer nur an einen einzelnen Vers und sein eher zufälliges Wortmaterial gedacht, nicht an eine so planmäßige zweimalige Abweichung, wie sie bei Gryphius dadurch vorliegt, daß zweimal das für den Schluß des Sonetts zentrale Wort „Halleluja“ dort steht, wo die Zäsur des Alexandriners liegen müßte, und die Lesung der Verse als Alexandriner unmöglich macht. Gryphius häuft in der metrischen Gestalt seiner letzten beiden eschatologischen Sonette Formzüge, die, wenn sie auch nicht geradezu Verstöße gegen gültige Normen darstellen, doch an deren Grenzen liegen und der zeitgenössischen Poetik alles andere als selbstverständlich sind. Wo sie dennoch von einzelnen Theoretikern hingenommen werden und dafür eine Begründung gegeben wird, da geschieht es doch nur als Ausnahme, zumeist dann aber auch mit dem Hinweis, daß in bestimmten Fällen dadurch eine besondere Affektwirkung erreicht werden könne. Sie offenkundig ist auch, was Gryphius damit erstrebt und erreicht. Die Mischung der unterschiedlichen, teils extrem kurzen, teils
198 Von Zesen (Sämtliche Werke. Bd. 10/1, S. 259) werden immerhin vierzehn- bzw. fünfzehnsilbige Jamben als eine mögliche Versart vorgeführt und mit einem eigenen Gedicht „Von der Ewigkeit“ belegt; mit demselben Beispiel dann auch bei Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. S. 143ff. 199 Vgl. auch Männling: Europaeischer Parnassus. S. 35 – Omeis: Gründliche Anleitung. S. 92 – Schottel: Teutsche Vers- oder Reimkunst. S. 75; Ausführliche Arbeit. T.2, S. 852 – Zesen: Sämtliche Werke. Bd. 10/1. S. 65f. (Verse der hier gemeinten Art gibt es bei Gryphius – nach einem Hinweis bei Manheimer: Die Lyrik des A. Gryphius. S. 19 – wohl nur in „Der Schwermende Schäffer“, GA VIII, S. 114, v.94, S. 166, v.156, wo sie kaum durch eine besondere Wirkungsabsicht begründet erscheinen). Gegen Zesens Standpunkt in dieser Frage polemisiert Hadewig: Anleitung. S. 98f.; Versekunst. S. 222f. Sonst gilt die Zäsur im Alexandriner einfach als selbstverständlich und wird darum immer nur knapp erwähnt.
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extrem langen Versarten aus unterschiedlichen Versfüßen im Höllen-Sonett ist den einzelnen, aus der eschatologischen Tradition abgeleiteten Teilstücken des Sonetts genau angepaßt und im Verein mit ihnen wie mit der Sprachform geeignet, in einer die Affekte ergreifenden und dadurch abschreckenden Weise die Fülle der Höllenstrafen und ihre Ewigkeit vor Augen zu stellen. Im letzten Sonett aber ist die Wirkung des im Prinzip gleichen Verfahrens eine ganz andere. Die vielen langen Verse geben dem Sprechen hier, bei aller Kleinteiligkeit der Füllung mancher Verse, einen eigenen Duktus freudig-bewegter Beruhigung, machen anschaulich erfahrbar, daß in der ewigen Seligkeit alle Spannung, alle Widersprüche des Irdischen aufgelöst werden, sodaß das Sonett am Ende ausgehen kann mit einem der beiden Verse, in welchen aus dem Alexandriner ein sechsfüßiger jambischer Vers ohne Zäsur und ohne Antithetik geworden ist. Gerade die Unterschiedlichkeit der metrischen Gestalt der beiden Sonette im einzelnen läßt die mit ihnen beabsichtigte Affektwirkung erkennen und läßt zugleich erkennen, daß die Wahl solcher Formzüge nicht in artistischer Willkür, sondern im Gegenstand begründet ist und ihm dient. Die metrische Form der beiden Sonette, die sie von den beiden ersten gemeinsam abhebt, läßt den ganzen Zyklus in dem Sinne, den die theologische Überlieferung der Entgegensetzung von Hölle und Himmel gibt, auf sie zulaufen, macht diese Entgegensetzung selbst gegenwärtig und läßt den ganzen Zyklus nach dem Höhepunkt der Affekterregung durch das Höllen-Sonett ausklingen in die mit andersartiger Eindringlichkeit vergegenwärtigte Verheißung der Ewigen Frewde der Außerwehlten als tröstliche Affektberuhigung. Andreas Gryphius hat in seinen Sonetten über die vier letzten Dinge kein „selbstherrliches Spiel der Worte inszeniert“, er hat nicht aus individueller „innerer Notwendigkeit“ zu bestimmten auffälligen Stilzügen gegriffen, nicht die Sonettform, die ihm doch in fast allen seiner mehr als zweihundertundfünfzig Sonette sonst genügt hat, hier aus vehementem Ungenügen an ihr gesprengt, er hat überhaupt nicht persönlichem Ausdrucksverlangen Raum gegeben. Daß gerade dies nicht Absicht solcher Gedichte ist, daß barocke Gedichte tatsächlich von anderer Art, in einem ganz anderen Sinne auf eine Wirkung beim Leser angelegt sind als die Lyrik, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt hat, das wird deutlich und doch wohl auch für einen heutigen Leser erfahrbar, wenn man den einzelnen Text nicht für sich nimmt, sondern seine Inhalte in den Zusammenhang der Überlieferung, der sie zugehören, stellt und ihre Verfahrensweisen von den Auffassungen der Zeit aus zu begreifen sucht. Diese eschatologischen Sonette sind Texte, die auf die Erregung, die Beeinflussung der Affekte des Lesers oder Hörers gerichtet sind und alle ihre Mittel, die metrischen Formen wie die rhetorischen Figuren, die Sonettform und die Möglichkeiten ihrer Gliederung wie die Verbindung der getroffenen Auswahl aus der eschatologischen Überlie-
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ferung mit dieser Form, die Umsetzung dieser Auswahl in ein aus jenen Formzügen gewonnenes, dicht verfugtes Gebilde solcher Aufgabe und ihrer geistlichen Begründung dienstbar machen. Hier wie in seinem übrigen Werk beruht die noch heute anrührende Kraft seiner Texte nicht etwa darauf, daß Gryphius ganz anders wäre als die meiste Literatur seiner Zeit, sondern daß er deren Formmöglichkeiten mit besonderer, im Sinne des rhetorischen aptums ganz an der Sache orientierter Überlegung und Konsequenz nutzt. In solcher Weise hat er in seinem eschatologischen Zyklus mit bedachtem und dadurch eindrücklich wirksamem Einsatz der persuasiven rhetorisch-poetischen Mittel wie so viele andere Predigten, Erbauungsschriften oder Dichtungen über die Letzten Dinge versucht, zum Bedenken dessen anzuleiten, wovon er auch in seiner Leichabdankung Abend Menschlichen Lebens gesprochen hat, dabei im Wortlaut der Luther-Bibel jene Stelle aus Jesus Sirach (7,40) zitierend, die – oft auch in der Vulgata-Fassung „In omnibus operibus tuis memorare novissima tua, & in aeternum non peccabis“ angeführt – so etwas wie eine Devise aller eschatologischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist: Würde man den nicht vor thöricht schätzen / der auff bestiten Tag vor dem Richter erscheinen / und einer Anklage auf alle sein Haab und Vermögen / auff seine Ehre / ja auff sein Haupt und Leben gewertig seyn solte / sich aber gar nichts hierum besorgete / mit keinen zu dem Gegenbeweiß dienenden Schrifften / keinem Vorsprechen / keinem Beystand / auch keinem Rettungs-Mittel sich gefaßt machete? Eben so ists mit mehrentheils Menschen bewandt; Wir sehen ja täglich Leichen und Gräber: Wir wohnen in den Häusern / die andere vor uns gebauet: Wir brauchen nicht wenig Stücke / die wir von andern geerbet: Wir lesen derer Bücher / die längst vor uns entschlaffen / daß es unmöglich / das man sich nicht offt des Todes erinnern müsse. Wie aber machet man sich darzu fertig und geschickt? Kommt bißweilen ja ein heilsamer Gedancken / so schläget man denselben aus dem Sinn ... Und dannenhero kommt der Tod den meisten so schrecklich vor / weil sie / wenn man aus dieser irrdischen Hütten muß / sich keiner andern Wohnung zu getrösten haben; Die jenigen aber / die sich iederzeit durch ein heiliges Leben zu jenem stets wehrendē fertig gemacht / die mit GOtt allhier gewandelt / in diesem Leben ... welche nicht nur ihren letzten Willen / so viel Freunde / Güter und Verlassenschafft betrifft / zeitlich auffgesetzet; sondern (was tausend mal herrlicher) sich dem Willen des Höchsten unterworffen / sind getrost und freudig. Sie ruffen mit David / wenn sich der Tod einstellt: Es ist ein guter Freund / und bringet gute Bottschafft ... Wie denn auch Gerhardus, des heiligen Bernhardi Bruder / mit diesen Worten sein Leben geendet: Lobet den HErrn in seinem Heiligthum ... Der Tag / saget hierzu der heilige Lehrer / brach dir schon an zu Mitternacht / die Nacht ward dir liechte / wie der Tag ... Ich bin zu diesem Wunder gefodert / zu sehen einen Menschen / der sich ergetzte in dem Tode / der den Tod verlachte ... Jam non est stimulus, sed jubilus. Jam cantando moritur homo, & moriendo cantat … Ja die stete Vorbereitung schrecket ab von allen Lastern; Was du thust / so bedencke das Ende / sagt Syrach / so wirst du nimmermehr übels thun (Dissertationes Funebres. S. 454ff.).
4 Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock Klopstocks Oden, die unter seinen Werken am stärksten und nachhaltigsten auf die Folgezeit gewirkt und sich zum Teil bis heute lebendig erhalten haben, sind wiederholt als Ganzes oder in Auswahl neugedruckt und dabei meistens auch kommentiert worden.¹ In diesen Kommentaren sind jedoch die zahlreichen Anklänge, Zitate, Umschreibungen von Bibelworten stets nur in engerer oder weiterer, daher auch noch im besten Fall irreführender Auswahl nachgewiesen worden. Angesichts ihrer bedeutenden Zahl aber will es als fraglich erscheinen, ob der diesem Stand der Kommentierung entsprechende bloße Hinweis auf die Psalmen als das neben Pindar und Horaz wichtigste Vorbild für Klopstocks Lyrik ausreicht, mit dem man sich in der Forschung weithin begnügt.² Das gilt in besonderem Maße für jene fünf in den Jahren 1758/1759 entstandenen Stücke in freien Rhythmen, die Klopstock in veränderter Versgestalt in seine zuerst 1771 gesammelten Oden eingereiht hat, die man aber doch als Hym-
1 Vgl. dazu den Kommentar von Düntzer: Klopstocks Oden, erläutert von Heinrich Düntzer, Heft 1–6, Wenigen-Jena 1860–1861 (Erläuterungen zu den dt. Klassikern, Abt. 5) und folgende Klopstock-Ausgaben: Oden. Auswahl, mit Einl. u. Anm. hrsg. v. Heinrich Düntzer, 2 Leipzig 1881 (Bibliothek der Dt. Nationallitteratur des 18. und 19. Jh.) – Werke, Teil 3, Oden, Epigramme und geistliche Lieder, hrsg. v. R. Hamel, Berlin, Stuttgart o.J. (Dt. National-Litteratur, Bd. 47) – Oden, ausgew. und erklärt v. I. Imelmann, Berlin 1891 – Ausgewählte Dichtungen, hrsg. v. K. Heinemann, Bielefeld, Leipzig 1919 (Velhagen & Klasings Sammlung dt. Schulausgaben, Bd. 45) – Ausgew. Oden und Elegien, nebst einigen Bruchstücken aus dem Messias, hrsg. v. Bernh. Warneke, 9. Aufl. hrsg. v. Valentin Reichert, Paderborn 1920 (Schöninghs Ausg. dt. Klassiker mit ausführl. Erläuterungen, Bd. 12) – Oden und Elegien. Nach der Ausg. in 34 Stükken Darmstadt 1771, hrsg. v. W. Bulst, Heidelberg 1948 (Editiones Heidelbergenses, Heft 12) (mit dem besten Kommentar zu den Bibelanklängen) – Lieder und Oden, ausgew., eingel. u. erläutert v. Karl Kindt, Berlin 1949 – Ausgew. Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962 – Oden, hrsg. v. Karl Ludwig Schneider, Stuttgart 1966 (Reclams UB, Nr. 1391/1392). Unkommentiert: Oden, hrsg. v. Franz Muncker, Jaro Pawel, Bd. 1–2, Stuttgart 1889. 2 So (z.T. mit gelegentlichen einzelnen Bibelstellennachweisen) u. a. Franz Muncker, Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Stuttgart 1888, S. 323 – Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, 2 Darmstadt 1961, S. 119 – August Closs, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Versuch einer übersichtlichen Zusammenfassung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit, Bern 1947, S. 64. Auf die Bedeutung einzelner Bibelstellen gehen hingegen ein: Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1, Hamburg 1949, S. 596f., und Gerhard Kaiser, Klopstocks ‚Frühlingsfeyer‘, S. 28f., 36, 37, in: Interpretationen, hrsg. v. J. Schillemeit, Bd. 1, Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn, Frankfurt a.M., Hamburg 1965 (Fischer Bücherei, Bd. 695), S. 28–39 (zuerst in: Wirkendes Wort 8, 1957/1958, S. 329–335).
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nen zu bezeichnen sich endgültig entschließen sollte.³ Sie sind bekannt unter den Titeln der letzten Fassung: Dem Allgegenwärtigen, Das Anschaun Gottes, Die Frühlingsfeier, Der Erbarmer, Die Glückseligkeit Aller. Vom Anteil und von der Bedeutung des Bibelworts in diesen Hymnen soll hier die Rede sein. Dabei werden die Hymnen nach den im Nordischen Aufseher veröffentlichten frühen Fassungen zitiert,⁴ worin die freien Rhythmen noch nicht wie in den späteren Fassungen in vierzeilige Strophen gegliedert sind. Die Hymne Dem Allgegenwärtigen beginnt mit den Versen: „Als du mit dem Tode gerungen, Mit dem Tode! Heftiger gebetet hattest! Als dein Schweiß und dein Blut Auf die Erde geronnen war; In der ernsten Stunde Thatest du jene große Wahrheit kund, Die Wahrheit seyn wird, So lange die Hülle der ewigen Seele Staub ist! Du standest, und sprachst Zu den Schlafenden: Willig ist eure Seele; Allein das Fleisch ist schwach! Dieser Endlichkeit Looß, Diese Schwere der Erde, Fühlt auch meine Seele, Wenn sie zu Gott, zu Gott!
3 Vgl. dazu unten den Exkurs I. 4 Die Hymnen sind im „Nordischen Aufseher“ an folgenden Stellen veröffentlicht worden: „Dem Allgegenwärtigen“: Bd. 1, 44. Stück, 14.IX.1758, S. 389–400 – „Das Anschaun Gottes“: Bd. 2, 78. Stück, 19.IV.1759, S. 157–164 – „Die Frühlingsfeier“: Bd. 2, 94. Stück, 2.VIII.1759, S. 309–316 – „Der Erbarmer“: Bd. 2, 102. Stück, 14.IX.1759, S. 366–368 – „Die Glückseligkeit Aller“: Bd. 2, 103. Stück, 15.IX.1759, S. 369–376 (die frühen Fassungen von „Dem Allgegenwärtigen“, „Die Frühlingsfeier“ und „Der Erbarmer“ finden sich jetzt auch in: Ausgew. Werke, hrsg. v. K.A. Schleiden, S. 78ff., 85ff., 92ff., die frühe Fassung von „Das Anschaun Gottes“ nach der Darmstädter Sammlung in: Oden und Elegien, hrsg. v. W. Bulst, S. 13ff.). Die Zitate aus den Erstdrucken der Hymnen werden mit der Abkürzung NA sowie römischer Band- und arabischer Seitenzahl angeführt. Da die Hymnen jedoch im Erstdruck teils keine Titel, teils aus den Vorbemerkungen nicht deutlich herausgehobene Titel, teils im Text andere Titel als in den Inhaltsverzeichnissen des „Nordischen Aufsehers“ haben, werden sie im folgenden stets mit den oben erwähnten bekannteren Titeln der späten Fassungen benannt. Alle anderen Klopstock-Zitate nach: Sämmtliche Werke, Leipzig 1854–1855 (= SW).
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Zu dem Unendlichen! Sich erheben will!“ (NA I, 389f.).
Zwei nahezu wörtlich nach Luthers Übersetzung wiedergegebene Stellen aus den Passionsberichten der Evangelien – der vom Blutschweiß Christi in Gethsemane handelnde Vers Luk. 22,44 und das Wort Christi „Der geist ist willig, aber das fleisch ist schwach“⁵ nach Matth. 26,41 (bzw. Mark. 14,38) – sind hier miteinander verknüpft zum Auftakt der Hymne, der um den rechten Aufschwung zu Gott ringt. In dem dreiundvierzig Verse umfassenden Schlußteil derselben Hymne, deren frühe Fassung aus insgesamt zweihundertundsechzehn Versen besteht, sind auf ähnliche Weise verschiedene Bibelstellen, vor allem aus der Passionsund Auferstehungsgeschichte, verbunden: Verheißungen Christi an seine Jünger aus Matth. 24,35 und 28,20, die Geschichte des ungläubigen Thomas nach Joh. 20, Teile des hohenpriesterlichen Gebets Christi aus Joh. 17. Die letzten Verse vereinen die Erscheinung des sinkenden Petrus auf dem Meer (Matth. 14,30) mit den Worten des ungläubigen Thomas (Joh. 20,28): „Gedanke meines tiefsten Erstaunens, Ich bebe vor dir! Da die Winde gewaltiger wehten, Die höhere Wog’ auf ihn strömte, Sank Kephas! Ich sinke! Hilf mir, mein HErr! und mein Gott!“ (NA I, 400).
Zwischen jenen Auftakt und dieses Ende, die zusammen nahezu ein Drittel der Hymne ausmachen, sind die übrigen Teile gespannt, die die künftige Herrlichkeit des Anschauens Gottes in der Ewigkeit und die Erfahrung der Allgegenwart Gottes in allen Bereichen der Schöpfung bedenken und preisen und dabei ebenfalls biblischer Wendungen sich häufig bedienen. Der Gegenwärtigkeit Gottes in der Schöpfung konfrontiert zum Beispiel Klopstock die noch verborgene größere Herrlichkeit des künftigen Anschauens, das seinerseits auch auf biblische Vorstellungen zurückgeht,⁶ in den Versen:
5 Bibelzitate nach: Biblia Das ist: Die gantze Heilige Schrifft Altes und Neues Testaments / verteutschet durch D. Martin Luthern, Leipzig: Gleditsch, Weidmann 1701. 6 Vgl. Ps. 42,3 („wenn werde ich dahin kommen, daß ich GOttes angesicht schaue?“), Matth. 5,8 („Selig sind die reines hertzens sind, denn sie werden GOtt schauen“), 1. Kor. 13,12 („Wir
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„Wenn der Gedank’ an dich, Allgegenwärtiger! Schon so viel Kräfte jener Welt hat! Was wird es seyn dein Anschaun, Unendlicher! Unendlicher! Das sah kein Auge, Das hörte kein Ohr, Das kam in keines Herz; Wie sehr es auch rang, Wie es nach Gott auch, nach Gott! Nach dem Unendlichen, dürstete, Kams doch in keines Menschen Herz: Was Gott bereitet hat Denen, die ihn lieben!“ (NA I, 390f.).
Diesen Versen liegt zugrunde eine Stelle aus dem 1. Korintherbrief 2,9 „Daß kein auge gesehen hat, und kein ohr gehöret hat, und in keines menschen hertz kommen ist, das GOTT bereitet hat denen, die ihn lieben“, erweitert um Ps. 42,3 „Meine seele dürstet nach GOtt, nach dem lebendigen GOtt“. Etwas freier und knapper werden Ps. 139,8 („Führe ich gen himmel, so bist du da; bettet ich mir in die hölle siehe, so bist du auch da“) und Jes. 2,17 („Daß sich bücken muß alle höhe der menschen“) vom Dichter benutzt, um im Blick auf Verwesung und Auferstehung von der Allgegenwart Gottes zu sprechen: „Freu dich deines Todes, o Leib! In den Tiefen der Schöpfung, In den Höhen der Schöpfung, Werden deine Trümmern verwehn! Auch dort, Verwester, Verstäubter, Wird Er seyn, der Ewige! Die Höhen werden sich bücken! Die Tiefen sich bücken! Wenn der Allgegenwärtige nun Wieder aus Staube Unsterbliche schafft!“ (NA I, 393f.).
Neben solchen, zum Teil noch knapperen und freieren Zitaten und Umschreibungen von Bibelstellen, die in den Text verwoben sind, stehen Verse, in denen
sehen itzt durch einen spiegel in einem dunckeln wort, denn aber von angesicht zu angesichte“).
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die preisende Schilderung der irdischen Natur und des weiteren Kreises der Schöpfung sich immer wieder an biblische Wendungen anschließt. An Hiob 37,2 („höret doch, wie sein donner zürnet, und was für gespräch von seinem munde ausgehet“) knüpfen diese Verse an: „Wenige, deren Ohr In dem mächtigen Rauschen des Sturmwinds, Im Donner, der rollt, Oder im lispelnden Bache, Den Unerschaffnen hört!“ (NA I, 391).
Stellen wie Ps. 78,26 „Er ließ weben den ostwind unter dem himmel, und erregete durch seine stärcke den südwind“ oder Ps. 147,18 „Er läßt seinen wind wehen“ sind die Grundlage für Verse Klopstocks wie: „Mit heiligem Schauer Fühl ich das Wehn, Hier ist das Rauschen der Lüfte! Es hieß sie wehen, und rauschen Der Ewige! Wo sie wehen, und rauschen, Ist der Ewige!“ (NA I, 393).⁷
Außer durch breitere Paraphrasierung von Bibeltexten und biblischen Ereignissen, durch knappere Zitate oder durch die Art der Naturschilderung steht die Hymne Dem Allgegenwärtigen auch noch durch mancherlei Formeln des Lobpreises⁸ wie durch zahlreiche sonstige Einzelwendungen und -anklänge⁹ in Beziehung zum Bibelwort.
7 In der späteren Fassung (SW IV, 108): „Der Ewige Ist, wo sie säuseln, und wo der Donnersturm die Ceder stürzt“ tritt noch ein Anklang an Ps. 29,5 („die stimme des HErrn zerbricht die cedern, der HErr zerbricht die cedern im Libanon“) hinzu. 8 Vgl. z. B. nach 5. Mos. 32,39 („Ich kan tödten und lebendig machen“) oder 1. Sam. 2,6 („Der HErr tödtet und macht lebendig“): „Halleluja dem Schaffenden! Dem Tödtenden Halleluja! Halleluja dem Schaffenden!“ (NA I, 394) 9 Vgl. z. B.: „Ich lieg, ich liege vor dir Auf meinem Angesichte! O läg ich, Vater, noch tiefer vor dir
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All diese Formen des Zusammenhangs mit dem Bibelwort, die für den zeitgenössischen Leser gewiß überall noch rascher und eindringlicher als für den heutigen weniger bibelkundigen Leser hervortraten, begegnen, mehr oder weniger gehäuft, stets aber auffallend genug, auch in den anderen Hymnen. Die Hymne Das Anschaun Gottes spricht in mehreren Versgruppen von Moses und von ihm widerfahrenen Geschehnissen; sie variiert mehrfach die Worte „daß (durch uns) entstünde die erleuchtung von der erkäntnis der klarheit GOttes, in dem angesicht JEsu Christi“ aus dem 2. Korintherbrief 4,6 und „in ihm wohnet die gantze fülle der Gottheit leibhafftig“ aus Kol. 2,9; sie endet mit Versen, die wie der Schluß von Dem Allgegenwärtigen vom ungläubigen Thomas (Joh. 20,24–28) handeln (NA II, 159–164). Die Hymne Der Erbarmer gibt ein Wort aus Jes. 49,15¹⁰ an zentraler Stelle wieder in den Versen: „Kann eine Mutter Ihres Säuglings vergessen, Daß sie sich, über den Sohn Ihres Leibs, nicht erbarme? Vergässe sie sein; Ich will dein nicht vergessen!“ (NA II, 368).
Ein Wort aus Ps. 139,17–18: „wie köstlich sind vor mir, GOtt, deine gedancken? Wie ist ihrer so eine grosse summa? Solte ich sie erzählen, so würde ihrer mehr seyn denn des sandes“¹¹ dient in der Hymne Die Glückseligkeit Aller als Ausdruck der Preisung: „Wie herrlich sind vor mir, Gott, deine Gedanken; Wie zahllos sind sie! Wollt ich sie zählen; O ihrer würde mehr, wie des Sandes am Meere seyn! Dieser ist einer deiner Gedanken: Einst werd ich weniger endlich seyn!“ (NA II, 370).
Gebückt im Staube Der untersten der Welten!“ (NA I, 396) nach Ps. 119,25 („Meine seele liegt im staube“) oder: „Wer bin ich, o Erster! Und wer bist du! –“ (NA I, 397) mit Beziehung zu 2. Sam. 7,18 („Wer bin ich, HErr, HErr? Und was ist mein haus, daß du mich bis hieher gebracht hast?“). 10 „Kan auch ein weib ihres kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den sohn ihres leibes? Und ob sie desselbigen vergässe, so wil ich doch dein nicht vergessen.“ 11 Zur Wendung „Sand am Meere“ im vierten Vers des folgenden Klopstock-Zitats vgl. 1. Mos. 22,17; 32,12; 41,49 und andere Stellen.
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Und auch die so eindringliche Darstellung des Gewitters in der Frühlingsfeier ist allenthalben getragen und geprägt von biblischen Wendungen und Naturbildern.¹² Das sind nur einige weitere Beispiele. Sie wie die zuvor angeführten Stellen aus Dem Allgegenwärtigen zeigen, daß es sich, wo man in Klopstocks Versen auf einen Zusammenhang mit der Bibel stößt, um mehr handelt als nur um einzelne Anklänge, eine allgemeine biblische Tönung der Sprache oder eine bloße Anlehnung an die Psalmen. Die Bibel ist hier nicht nur Quelle einzelner Bilder, Metaphern, Motive. Die zahlreichen Beziehungen zum Bibelwort durchdringen vielmehr als ein integrierender Bestandteil den ganzen Text der Hymnen. Die Gedichte leben in entscheidendem Maß von der Verbindung des hymnischen Sprechens mit dem Bibeltext. Aber dieser ist dabei, auch wo er fast wörtlich wiedergegeben oder breiter paraphrasiert und variiert wird, keineswegs Selbstzweck. Es geht nicht darum, bestimmte Bibeltexte als solche oder ihnen zugehörige Deutungen und Lehren wiederzugeben. Vielmehr trifft der Dichter eine durchaus eigenwillige Auswahl von Bibelstellen, die ganz der thematischen Entfaltung der Hymnen untergeordnet werden. Das kann bis zu völliger Loslösung der Stellen von dem ursprünglichen Sinn gehen, der sich aus dem biblischen Kontext ergibt. Der sinkende Petrus und der zweifelnde Thomas werden am Ende der Hymne Dem Allgegenwärtigen nicht als Beispiele des Unglaubens und seiner Überwindung angeführt, sondern diese Gestalten verhelfen dem erstaunenden Versinken vor der Allgegenwart Gottes zum Ausdruck. Die Worte aus Jes. 49,15 („Kan auch ein weib ihres kindleins vergessen ...“) sind in der Hymne Der Erbarmer nicht Ver-
12 Vgl. u. a. Ps. 18,11 („er schwebete auf den fittigen des windes“), Ps. 18,16 („Da sahe man wassergösse, und des erdbodens grund ward aufgedeckt, HErr, von deinem schelten, von dem odem und schnauben deiner nase“), Ps. 29,9 („Die stimme des HErrn ... entblösset die wälder“) zu: „Nun fliegen, und wirbeln, und rauschen die Winde! Wie beugt sich der bebende Wald! Wie hebt sich der Strom!“ (NA II, 314) oder Ps. 18,14 („Und der HErr donnerte im himmel, und der Höheste ließ seinen donner aus mit hagel und blitzen“) zu: „Hört ihr den Donner Jehovah? Hört ihr ihn? Hört ihr ihn? Den erschütternden Donner des Herrn?“ (NA II, 315) oder Ps. 68,10 („Nun aber giebest du, GOtt, einen gnädigen regen“) zu: „Ach schon rauschet, schon rauschet Himmel und Erde vom gnädigen Regen!“ (NA II, 316).
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heißung der Erlösung Zions oder allgemeiner der Fürsorge Gottes, sondern sie sind hier Unterpfand der Unsterblichkeit. Die Formel „der HErr, der da ist, und der da war, und der da kommt“ (Off. 1,8; 1,4; 4,8), die in der Offenbarung des Johannes mehrfach dem Preis Gottes als des Immerwährenden dient, wird in einigen Versen der Hymne Die Glückseligkeit Aller verselbständigt zum Anlaß des dankenden Staunens über das Dasein Gottes:¹³ „Wesen der Wesen, Du warst von Ewigkeit! Dieß vermag ich nicht zu denken! In diesen Fluten versinke ich! Wesen der Wesen! Du bist! Ach Wonne: Du bist! Was wär ich, Wenn du nicht wärst! Du wirst seyn! Auch ich werde, durch dich, seyn, Wesen der Wesen!“ (NA II, 373).
Daß die hier skizzierte Art, die vielerlei Bibelstellen zu verwenden, weder selbstverständlich noch zufällig, sondern für Klopstocks Hymnen charakteristisch ist, zeigt ein Vergleich mit den geistlichen Liedern des Dichters, deren erster Teil ungefähr gleichzeitig mit den Hymnen seit 1756 entstanden und 1758 veröffentlicht worden ist. Hier wird mit dem 1. Korintherbrief 2,9 nicht vom künftigen Anschauen Gottes, das die Erfahrung der Allgegenwart Gottes in der Natur noch übersteigt, gesprochen, sondern in größerer Nähe zum Bibeltext von Auferstehung und ewigem Leben überhaupt: „Das kam in keines Menschen Herz Was Denen Gott bereitet, Den Pilgern, die oft trüber Schmerz Zum ew’gen Leben leitet“ (SW V, 238f., Die Hoffnung der Auferstehung).¹⁴
Hier werden die Worte der Offenbarung des Johannes „der HErr, der da ist, und der da war, und der da kommt“ nicht wie mehrfach in den Hymnen verselb-
13 Vgl. auch NA II, 367, Der Erbarmer. 14 Ferner SW V, 95, Der nahe Tod; 274f., Die zukünftige Welt.
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ständigt und frei variiert, sondern sie dienen so wie im Bibeltext selbst als feste Formel zum Lobpreis Gottes.¹⁵ Hier ist die Stelle Jes. 49,15 („Kan auch ein weib ihres kindleins vergessen ...“) nicht wie in der Hymne Der Erbarmer Unterpfand der Unsterblichkeit, sondern sie wird unter demselben Titel Der Erbarmer mit den ebenfalls ziemlich wörtlich gegebenen Bibelversen Jes. 49,13–14 und Hes. 16,6 und mit Anspielungen auf Joh. 3,16 und Röm. 8,18 zu einem fünfstrophigen Lied verknüpft, das von Fürsorge und Erbarmen Gottes in der Erlösung der Sünder durch Christus spricht (SW V, 75f.). Es setzt eine Tradition fort, die im 16. und 17. Jahrhundert mindestens zehn Gedichte, darunter ein Lied von Johann Heermann und eine pindarische Ode von Andreas Gryphius, über denselben Text aus Jes. 49 (bzw. über Jes. 49,14–16) hervorgebracht hat.¹⁶ Die vielfältige, enge Beziehung zum Bibelwort, die sich, wie auch ein Blick auf die von Klopstock geschätzten Lieder Gellerts lehrt,¹⁷ für das geistliche Lied des 18. Jahrhunderts keineswegs von selbst versteht, haben die geistlichen Lieder Klopstocks mit seinen Hymnen gemein. Von diesen aber unterscheiden die Lieder sich nicht nur dadurch, daß sie noch häufiger und oft noch wörtlicher Bibelstellen einbeziehen. Vielmehr beruhen die Lieder als Ganzes auch noch viel stärker und oft fast ausschließlich auf der Verbindung verschiedener Bibelstellen, und im Zusammenhang mit Themen des Kirchenjahrs und des geistlichen und zukünftigen Lebens der Christen bleiben die benutzten Bibelstellen
15 Vgl. SW V, 127, Der Tod; 245, Die Erlösung. 16 Vgl. Andreas Heinrich Bucholtz, Geistliche Teutsche Poëmata, Braunschweig 1651, S. 301– 344 – Andreas Gryphius, Gesamtausg. der deutschsprachigen Werke, hrsg. v. Marian Szyrocki, Hugh Powell, Bd. 2, Oden und Epigramme, hrsg. v. Marian Szyrocki, Tübingen 1964 (Neudrucke dt. Literaturwerke, N.F. 10), S. 3f. (Oden, I,1) – Johann Heermann, Devoti Musica Cordis, Leipzig 1636, S. 172ff. – Christoph Kaldenbach, Gottselige Andachten, Tübingen 1668, S. 46ff. – Michael Kongehl, Eines vortrefflichen Poeten Geist- und Weltliche Gedichte, Leipzig 1715, Bl. G4v f. – Valentin Wudrian, Schola Crucis, Hamburg 1639, Bl. A6rf. – Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jh., Bd. 3, Leipzig 1870, S. 360f. (Johann Horn) – Albert Fischer, W. Tümpel, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jh., Bd. 2, 2 Hildesheim 1964, S. 125f. (anonym), S. 464f. (Justus Gesenius, David Denicke); Bd. 3, 2 Hildesheim 1964, S. 500 (Joachim Pauli). 17 Zwar hat Gellert selbst in der Vorrede seiner „Geistlichen Oden und Lieder“ (Sämmtliche Schriften, Bd. 2, Karlsruhe 1774, S. 89) gefordert, daß in geistlichen Liedern „die Sprache der Schrift; diese unnachahmliche Sprache, voll göttlicher Hoheit und entzückender Einfalt“ herrschen solle; und dementsprechend hat Emil Werth (Untersuchungen z. Chr.F. Gellerts Geistlichen Oden und Liedern, Diss. Breslau 1936) „rund 1000 Entlehnungen“ (S. 102) aus der Bibel nachgewiesen. Aber es handelt sich dabei nur um eine biblische Färbung der Sprache durch viele einzelne biblische Wendungen und Begriffe, kaum aber um jene für Klopstock charakteristische Art von Rückgriffen, die sich immer wieder auch auf ganze Verse und zusammenhängende längere Textstücke der Bibel richten.
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stärker auf ihren Kontext und die durch ihn nahegelegten Deutungen bezogen. Die viel engere Bindung an den Bibeltext geht so weit, daß manche Lieder sich fast ganz darauf beschränken, Ereignisse aus den Evangelien wie die Auferwekkung des Lazarus oder den Lebensweg Christi eingehender oder mehr raffend nachzuerzählen¹⁸ oder Texte wie das Vaterunser oder die Sendschreiben an die sieben Gemeinden im 2. und 3. Kapitel der Offenbarung zu paraphrasieren.¹⁹ Der Unterschied in der Benutzung der zahlreichen Bibelstellen, der zwischen Klopstocks geistlichen Liedern und seinen Hymnen besteht und deren Eigenart beleuchtet, erklärt sich nicht allein aus dem Unterschied der Themen. Er beruht vielmehr auf einer grundsätzlichen Unterscheidung von zwei verschiedenen Möglichkeiten geistlicher Dichtung, über die sich der Dichter in der Vorrede zum ersten Teil seiner geistlichen Lieder, 1758, geäußert hat (SW V, 43ff.).²⁰ Klopstock geht hier von den Psalmen als Mustern geistlicher Dichtung aus. Er teilt sie ein in erhabene und sanftere,²¹ in Gesänge und Lieder und stellt sich die Frage, welche
18 SW V, 82, Die Auferstehung; 85, Gott dem Sohne. 19 SW V, 234, Das Gebet des Herrn; 107, Die sieben Gemeinen. Ähnliche Beispiele u. a. SW V, 130, Gott dem heiligen Geiste; 236, Die Nachfolge; 256, Die große Verheißung; 281, Sinai und Golgatha. 20 Erste Ansätze dazu begegnen schon in einem Brief an den Vater (SW X, 421; 8.XI.1756), in dem der Dichter vom Beginn der Arbeit an den geistlichen Liedern berichtet, die er für seinen zweiten Beruf halte. – Die Forschung hat von der Vorrede meistens nur referierend Kenntnis genommen; vgl. u. a. F. Muncker, Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 307f. – Max Freivogel, Klopstock der heilige Dichter, Bern 1954 (Basler Studien zur dt. Sprache u. Literatur, Heft 15), S. 95 – Karl August Schleiden, Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Geschichte der deutschen Poetik, Saarbrücken 1954, S. 133ff. – Johannes Pfeiffer, Dichtkunst und Kirchenlied. Über das geistliche Lied im Zeitalter der Säkularisation, Hamburg 1961, S. 28ff. – Dieter Lohmeier, Herder und Klopstock. Herders Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und dem Werk Klopstocks, Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1968 (Ars poetica, Studien, Bd. 4), S. 132ff. Im Gegensatz zu diesen Arbeiten hat Gerhard Kaiser, Klopstock. Religion und Dichtung, Gütersloh 1963 (Studien zur Religion, Geschichte und Geisteswissensch., Bd. 1), S. 156f., einen wichtigen theologischen Hinweis gegeben, indem er an die aufklärerische und pietistische Lehre von der Herablassung oder Akkomodation erinnerte, auf die sich Klopstock (SW V, 49f.) in seiner Vorrede beruft. Die unten folgenden Erläuterungen zu der Vorrede werden freilich zeigen, daß dieser Hinweis die literargeschichtliche Bedeutung der Vorrede noch nicht trifft. 21 Bei dieser Unterscheidung scheint auch einzuwirken die Einteilung der Psalmen in drei Arten, die Robert Lowth in seinen 1753 erstmals erschienenen, für den Einfluß der Psalmen auf die Ausbildung der Odentheorie im 18. Jh. (vgl. K. Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 117f., 140) wichtigen „De sacra Poesi Hebraeorum praelectiones“ vorgenommen hat (vgl. die Ausgabe von Johann David Michaelis, 2Göttingen 1770, S. 506, Prael. XXV: „... omnem hujusce poëmatis diversitatem in tres species includamus, quarum primam distinguat, et quasi praecipua quadam nota designet, suavitas; alteram, sublimitas; quibus interponi potest medius quidam et ex utraque temperatus character“). Diese Unterscheidung wird eingehend disku-
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der beiden Arten der christliche Dichter nachahmen solle. Für den Gottesdienst erklärt Klopstock nur Lieder, wie sie auch den Anlaß der ganzen Vorrede bilden, für zulässig, da allein sie „der größten Anzahl nützlich zu werden“ (SW V, 44) vermögen. Daneben aber gibt es „andre heilige Gedichte, die nur für Viele und schlechterdings nicht für die Meisten geschrieben werden müssen, und dabei die Verfasser, wenn sie Dieses thun wollten, nicht allein der Art zu dichten, in welcher sie arbeiten, entgegen handeln, sondern auch desjenigen Zwecks, der hier ihr vornehmster seyn muß, nämlich: die Religion in ihrer ganzen Schönheit und Hoheit vorzustellen, verfehlen würden“ (SW V, 44). Beide Arten geistlicher Dichtung unterscheiden sich voneinander in Hinsicht auf das Publikum, den Zweck, die Schreibart, die metrische Form. Das für die „Meisten“ bestimmte Lied hat „der moralischen Absicht, der größten Anzahl nützlich zu werden, ... viele poetische Schönheiten“ (SW V, 44) zu opfern, es bedient sich der gemilderten Schreibart (SW V, 47); dem Gesang hingegen, der nur für „Viele“, nicht für die „Meisten“ bestimmt ist und der „Diejenigen, die erhabner denken, in einem gewissen hohen Grade zu rühren“ hat (SW V, 44), gehört die „erhabne Schreibart“ (SW V, 47). „Der Gesang ist fast immer kurz, feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften, oft kühn, heftig, bilderreich in Gedanken und im Ausdrucke und nicht selten von denjenigen Gedanken beseelt, die allein von dem Erstaunen über Gott entstehen können“ (SW V, 45f.). Das Lied kann zwar auch vieles davon haben, aber „es mildert es fast durchgehends und bildet es in Vorstellungen aus, die leichter zu übersehen sind“ (SW V, 46). Der Gesang „ist die Sprache der äußersten Entzückung oder der tiefsten Unterwerfung“; das Lied ist „der Ausdruck einer sanften Andacht und einer nicht so erschütterten Demuth. Bei dem Gesange kommen wir außer uns. Sterben wollen wir und nicht leben! Bei dem Liede zerfließen wir in froher Wehmuth und erwarten unsern Tod mit Heiterkeit. Der Erste erlaubt sich’s nicht nur, sondern es ist eine von seinen Hauptpflichten, daß er schnell von einem großen Gedanken zum andern forteile“, das Lied muß „gewisse nähere Erklärungen, gewisse Ausbildungen“ hinzusetzen (SW V, 46). Das Lied „richtet sich nach den eingeführten Melodien“, den Gesang „erhebt der Dichter durch andre Sylbenmaße. Bald braucht er das Sylbenmaß der Alten. Bald setzt er dieß auf neue Art zusammen. Bald wählt er diejenigen unter den eingeführten Sylbenmaßen der Lieder, in welchen der Trochäus bisweilen den Jamben, oder dieser jenen unterbricht. Allein den Reim läßt er weg“ (SW V, 47).
tiert von dem mit Klopstock befreundeten Johann Andreas Cramer (Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben, Bd. 4, Leipzig 1764, S. 269ff.).
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Alle diese Bestimmungen sprechen deutlich dafür, daß Klopstock unter Gesängen Dichtungen von der Art jener Hymnen versteht,²² deren Entstehung im Erscheinungsjahr der Vorrede zu den geistlichen Liedern einsetzt. Daß den beiden Möglichkeiten geistlicher Dichtung auch eine unterschiedliche Art der Beziehung zum Bibeltext zugehört, das deutet die Vorrede allerdings nur in einem kurzen Absatz an, in dem es von Gesang und Lied heißt: „Sie sollen die Thaten Jesu besingen. Die lyrische Erzählung gehört unter die schwersten Unternehmungen der Poesie. Die kühnen Übergänge, die dem Gesange eigen sind, machen, daß demselben die Erzählung nicht ganz so schwer, als dem Liede ist“ (SW V, 48). Um so deutlicher aber wird die Zuordnung von Dichtart und Behandlung des Bibelworts durch die Tradition beleuchtet, in der Klopstocks Gedanken zur geistlichen Dichtung und damit seine geistlichen Lieder und seine Hymnen selbst stehen. Auch in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts unterscheidet man zwei verschiedene Arten von geistlicher Dichtung.²³ Diese Unterscheidung geht zurück auf das vierte Buch von Augustins Schrift De doctrina christiana.Darin werden die aus der antiken Rhetorik überlieferten, zugleich auf den Gegenstand und den Zweck der Rede bezogenen und danach abgestuften genera dicendi für die christliche Literatur in der Weise fruchtbar gemacht, daß ihr Gebrauch, da es sich in christlicher Literatur stets um denselben höchsten Gegenstand handelt, sich allein nach dem Zweck der Rede richten soll. Der hohe und der niedere Stil – auf diese Zweiheit reduziert sich in der Praxis im allgemeinen die theoretische Dreiheit – entsprechen dem Zweck des flectere oder movere und des docere. Die geschichtliche Wirkung von Augustins Anweisungen geht dann zwar dahin, daß in der Folgezeit und noch im 16. Jahrhundert vielfach der dem docere dienende stilus oder sermo humilis als verbindlich für alle geistliche Literatur gilt. Zumal seit Beginn des 17. Jahrhunderts jedoch und vor allem nach Opitz wird auch der hohe Stil als legitime Möglichkeit der geistlichen Dichtung gefordert und verteidigt. Das geschieht in Fortsetzung von Augustins Hinweisen und unter Berufung auf den Stil von Kirchenvätern und von biblischen Büchern wie
22 Dazu stimmt, daß diese Hymnen in den Vorbemerkungen zu den frühen Fassungen im „Nordischen Aufseher“ nur „Gesänge“ genannt werden (NA II, 309, 310, 366), während sie in den Klopstocks Einfluß gewiß entzogenen Inhaltsverzeichnissen der betreffenden Bände des „Nordischen Aufsehers“ konsequent „Oden“ genannt werden. 23 Vgl. dazu im einzelnen das Kapitel über den sermo humilis in meiner demnächst erscheinenden Untersuchung über den jungen Gryphius und die Traditionen der Perikopen- und Passionsauslegung; außer zahlreichen Quellenbelegen dort auch Hinweise zur neueren Literatur zu diesem Fragenkreis.
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den Psalmen oder der Offenbarung, die noch für Klopstocks Dichtung besonders wichtig sind. Die ganze Diskussion der Möglichkeiten geistlicher Dichtung findet sich nirgends systematisch entfaltet, sondern vollzieht sich vor allem in knapperen oder eingehenderen Bemerkungen in Vorreden zu geistlichen Werken. Am deutlichsten ist sie bei Andreas Gryphius in der Vorrede zum vierten Odenbuch, den Tränen über das Leiden Jesu Christi,zu fassen. Gryphius sagt hier: „Was die Art zu schreiben belanget / ist selbige auff das schlechteste / vnd so viel möglich / an die Worte der heiligsten Geschichte gebunden / Denn weil ich hier nichts als die Andacht gesuchet / habe ich mich bekanter Melodien vnd der gemeinesten Weyse zu reden gebrauchen wollen. Wehm poetische Erfindungen oder Farben in derogleichen heiligen Wercke belieben / den weise ich zu meinem Oliveto, Golgatha vnd Trauer-Spielen / ja auch in vorhergehenden Oden zu der verlassenen Zion / oder den hinweggeführeten Kindern.“²⁴ Daran schließt sich bei Gryphius dann eine eingehende Verteidigung der geistlichen Dichtung im hohen Stil an. Die geistliche Dichtung im einfachen Stil, die auf poetische Erfindung und Schmuck verzichtet, ist bestimmt vom Grundsatz möglichst großer Treue zum Bibeltext, soll oft bestimmte Texte einprägen helfen, ist wie teilweise noch bei Klopstock vor allem Paraphrase von ganzen Texten, begegnet daher besonders als Psalmen- und Perikopendichtung, ist vorzugsweise für den einfachen Mann und die Jugend bestimmt oder in der Rücksicht auf diese begründet, bedient sich der Liedform und richtet sich in der Strophenform nach bekannten Kirchenliedern. Die geistliche Dichtung im hohen Stil hingegen kann alle Möglichkeiten des Redeschmucks in sich aufnehmen, ist nicht gehalten, auf den einfachen Mann und die Jugend Rücksicht zu nehmen, ist nicht von der Aufgabe des docere bestimmt, steht dem biblischen Text freier gegenüber und ist auch für die Verwendung kunstvollerer metrischer Formen offen. So schreibt Andreas Gryphius pindarische Oden über einzelne Bibelstellen, die sehr frei und weitausgreifend variiert werden. Im 17. Jahrhundert begegnen damit all jene Gesichtspunkte, die auch bei Klopstock die Unterscheidung von Gesang und Lied bestimmen, und wie im 17. Jahrhundert zum Beispiel Meyfart in seiner Rhetorik, so setzt sich auch noch Klopstock in der Vorrede zu seiner Bearbeitung älterer Kirchenlieder auseinander mit einer Stelle aus dem 1. Korintherbrief 2,1 „UNd ich, lieben brüder, da ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen worten, oder hoher weisheit, euch zu verkündigen die göttliche predigt“ und mit dem damit argumentierenden, gegen
24 A. Gryphius, Gesamtausgabe der deutsprachigen Werke, Bd. 2, S. 98.
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kunstvolle geistliche Dichtung gerichteten Einwand, „daß Gott aufs Herz und nicht auf die Art zu denken und zu empfinden, noch weniger auf Worte sehe“ (SW V, 157f.).²⁵ Es wird damit deutlich, daß Klopstock noch ganz in der Tradition der Auffassung des 17. Jahrhunderts von den Möglichkeiten geistlicher Dichtung steht, für deren Fortwirken im 18. Jahrhundert er ein besonders beredter, aber nicht der einzige Zeuge ist. In Pyras zuerst 1737 gedrucktem großen Gedicht Der Tempel Der Wahren Dichtkunst, in dem Andreas Gryphius zusammen mit Paul Gerhardt, Johann Rist und anderen noch als maßgebender Vertreter der geistlichen Dichtung genannt wird, steht eine längere Begründung für kunstreiche geistliche Dichtung.²⁶ Gellert unterscheidet, wenn auch ohne sehr auffällige Konsequenzen für seine Dichtung, in der 1757 geschriebenen Vorrede zu seinen Geistlichen Oden und Liedern eine „doppelte Gattung der geistlichen Oden; zu der einen gehören die Lehroden, zu der andern die Oden für das Herz. Wir benennen sie so, nachdem mehr Unterricht, oder mehr Empfindung darinne herrschet. Es wird also auch eine doppelte Schreibart dieser Oden geben. In den Lehroden wird Deutlichkeit und Kürze vornemlich herrschen müssen; in der andern Gattung die Sprache des Herzens, die lebhafte, gedrungene, feurige und doch stets verständliche Sprache“.²⁷ Der Zusammenhang mit einer älteren Auffassung von geistlicher Dichtung, der neben anderen Unterschieden zwischen Klopstocks Hymnen und Liedern auch deren charakteristisch unterschiedenes Verhältnis zum Bibeltext bedingt und erläutert, wird freilich erst dadurch belangvoll, daß Klopstock bei aller Nähe jene Tradition doch nicht unverändert fortsetzt,²⁸ sondern in seinen Hymnen mit
25 Vgl. auch dazu das in Anm. 23 genannte Kapitel meiner Gryphius-Untersuchung. 26 Vgl. Immanuel Jacob Pyra, Samuel Gotthold Lange, Freundschaftliche Lieder, hrsg. v. August Sauer, Heilbronn 1885 (Dt. Litteraturdenkmale des 18. u. 19. Jh., 22), S. 116, 118. 27 Ch.F. Gellert, Sämmtliche Schriften, Bd. 2, S. 89f. – Man vergleiche ferner die Äußerungen über Stilfragen der geistlichen Dichtung bei Johann Adolf Schlegel (Charles Batteux, Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von J.A. Schlegel, Bd. 2, 3Leipzig 1770, S. 159f., 166–175), Benjamin Friedrich Schmieder (Hymnologie; oder: Ueber Tugenden und Fehler der verschiedenen Arten geistlicher Lieder, Halle 1789, S. 20, 24, 27, 34), Johann Georg Sulzer (Allgemeine Theorie der schönen Künste, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1792–1794, Hildesheim 1967, Bd. 3, S. 255, 547f.). Eine deutliche Nachwirkung der von Klopstock formulierten Ausprägung der in Frage stehenden Auffassungen scheint noch im 19. Jh. vorzuliegen bei Franz Theremin (Gedanken über die Erbauungs-Litteratur, S. 448, in: Theremin, Abendstunden, 3Berlin 1845, S. 419–454) und Friedrich Schleiermacher (Sämmtliche Werke, Abt. 1, Zur Theologie, Bd. 13, Die praktische Theologie, Berlin 1850, S. 183). 28 Vgl. hierzu auch unten den Exkurs II.
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anderen Voraussetzungen verknüpft, für deren Einwirken allerdings gerade die geistliche Dichtung im hohen Stil die nötige Offenheit besitzt. Gegenüber der überlieferten geistlichen Dichtung im hohen Stil sind Klopstocks Hymnen dadurch gekennzeichnet, daß sie von der solcher Dichtung zugehörigen freieren Beziehung zum Bibelwort, wie die oben gegebenen Hinweise zeigen, in ganz neuer Weise Gebrauch machen. Hier ist nicht mehr das Bibelwort (womöglich eine bestimmte einzelne Stelle) Ausgangspunkt, Grundlage, Gegenstand des Gedichts, das mit ihm dann gewiß sehr selbständig variierend verfahren mag. Der Bibeltext erhält vielmehr, so entscheidend er für die Artikulation der lyrischen Aussage ist, eben damit eine dienende Funktion und kann daher auch einen ungewohnten Sinn annehmen. Denn Anlaß des Gedichts ist nicht mehr das Bibelwort, sondern das seit Kopernikus, vor allem durch die Entdeckungen der Astronomie, sich entwickelnde neue naturwissenschaftliche Weltbild, das in der deutschen Literatur erst seit der Wende zum 18. Jahrhundert, im Zeichen der Physikotheologie, rezipiert wird,²⁹ und seine Theologie und Philosophie der Zeit beschäftigenden Konsequenzen für die Auffassungen vom Dasein und Wirken Gottes, vom Standort des Menschen in der ins Unendliche erweiterten Welt und von seinem Verhältnis zu Gott. Die Gegenwart Gottes in allen Bereichen der Schöpfung, in Tier- und Pflanzenwelt oder im Gewitter wie in der unendlichen Weite des Weltenraums, das Lob dieses allgegenwärtigen Schöpfers in Betrachtung seiner Schöpfung, Sterblichkeit des Leibes, Unsterblichkeit der Seele, die Größe Gottes, das Erstaunen des Menschen über sie, Gottes Verheißungen für den endlichen Menschen: das sind die beherrschenden Themen der Hymnen.³⁰ Sie prägen die Auswahl der zahlreichen Bibelstellen, die Klopstock verwendet, die Variationen ihres Wortlauts und den Sinn, den diese Stellen gewinnen. Christi Wort aus Matth. 26,41 „Der geist ist willig, aber das fleisch ist schwach“ wird im oben zitierten Eingang der Hymne Dem Allgegenwärtigen (NA I, 390) zum Ausdruck der Endlichkeit, der Schwere der Erde, die die Seele emp-
29 Vgl. die Belege bei Christof Junker, Das Weltraumbild in der deutschen Lyrik von Opitz bis Klopstock, Berlin 1932 (Germanische Studien, Heft 111). 30 Dazu vgl. für die „Frühlingsfeier“ die Interpretationen von: Paul Böckmann, Die Sprache des Erhabenen in Klopstocks ‚Frühlingsfeier‘, in: Böckmann, Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg 1966, S. 98–105 (zuerst in: Gedicht und Gedanke, hrsg. v. H.O. Burger, Halle 1942, S. 89–101) – Robert Ulshöfer, Klopstock, Die Frühlingsfeier, in: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte, hrsg. v. B. v. Wiese, Bd. 1, Düsseldorf 1956, S. 168–184 – G. Kaiser, Klopstocks ‚Frühlingsfeyer‘.
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findet, wenn sie sich zu Gott, dem Unendlichen, erheben will.³¹ Aus dem Bilde von Ps. 139,8 „Führe ich gen himmel, so bist du da; bettet ich mir in die hölle siehe, so bist du auch da“ werden in derselben Hymne die „Höhen der Schöpfung“, die „Tiefen der Schöpfung“, in denen die „Trümmern“ des Menschen, des „Verwesten“, „Verstäubten“ verwehen werden (NA I, 393). Psalmstellen wie Ps. 8,4 „ich werde sehen die himmel deiner finger werck, den monden und die sterne, die du bereitest“ oder Ps. 74,16 „Tag und nacht ist dein, du machst daß beyde sonn und gestirn ihren gewissen lauff haben“ – solche Psalmstellen, die von Sonne, Mond und Sternen sprechen, werden im Sinne des Erkenntnisstandes der Astronomie zusammengefaßt in den Versen: „Euch, Sonnen, euch, Erden, euch, Monde der Erden, Erfüllet, rings um mich, Seine göttliche Gegenwart! – –“ (NA I, 394).
Eine Stelle aus dem 1. Korintherbrief 13,12: „Wir sehen itzt durch einen spiegel in einem dunckeln wort“ wird in Parallele gesetzt zur irdischen Nacht, in der durch das Hervortreten der Sterne der im Unendlichen sich verlierende Weltenraum und darin dessen Schöpfer erfahren wird: „Geheimnißvolle Nacht der Welten, Wie wir im dunkeln Worte schaun Den, der ewig ist! So schauen wir in dir, o Nacht der Welten, Den, der ewig ist!“ (NA I, 394).
31 Vgl. dazu u. a. Gottfried Wilhelm von Leibniz, Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen und vom Ursprunge des Bösen, mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen vermehrt von Johann Christoph Gottsched, 4Hannover, Leipzig 1744, S. 180–183, Teil 1, § 30, wo die „natürliche Trägheit der Körper“ als ein „rechtes Muster der ursprünglichen Einschränkung der Creaturen“ erläutert und dazu Matth. 26,41 zitiert wird. – Johann Peter Uz, Sämtliche poetische Werke, hrsg. v. August Sauer, 2 Darmstadt 1964, S. 139 (Theodicee): „[der Menschen] himmlischer Verstand Entflieget nie der engen Sphäre: Stets fesselt ihn des Leibes träge Schwere“. – Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausg., Abt. 1, Bd. 1, Berlin 1910, S. 357 (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels), wo die „Grobheit des Stoffes und des Gewebes in dem Baue der menschlichen Natur“ bezeichnet wird als „die Ursache derjenigen Trägheit, welche die Fähigkeiten der Seele in einer beständigen Mattigkeit und Kraftlosigkeit erhält“.
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Ähnliches ließe sich in den anderen, alle Bereiche der Schöpfung durchwandernden Teilen der Hymne Dem Allgegenwärtigen oder an der Gewitterdarstellung der Frühlingsfeier wie an vielen anderen Stellen der übrigen Hymnen zeigen.³² Die überall so mächtig hervordrängenden und Auswahl wie Funktion der Bibelstellen bestimmenden Themen treten als solche allerdings im 18. Jahrhundert nicht erst bei Klopstock auf. Bei Uz, der sich in seinem Gedicht Theodicee ausdrücklich an Leibniz anschließt, bei Haller, Ewald von Kleist oder J.A. Schlegel, besonders aber bei Brockes³³ findet sich, im Gefolge von Leibniz, Chri-
32 Vgl. z. B. Stellen wie: „Erheb, o meine Seele, dich Ueber die Sterblichkeit! Blick auf, und schau! Schau oft; so wirst du stralenvoll Des Vaters Klarheit In JEsu Christi Antlitz schaun!“ (NA II, 161, Das Anschaun Gottes) (dazu 2. Kor. 4,6: „daß (durch uns) entstünde die erleuchtung von der erkäntnis der klarheit GOttes, in dem angesicht JEsu Christi“) oder: „Preis, Anbetung, und Freudenthränen Und lauter, ewiger Dank Für die Unsterblichkeit!“ (NA II, 368, Der Erbarmer) (dazu Off. 7,12: „lob und ehre, und weisheit, und danck, und preiß, und krafft, und stärcke, sey unserm GOtt, von ewigkeit zu ewigkeit“) oder „Was ist das in mir, Daß ich so endlich bin? Und mit diesem heissen Durste dürste, Weniger endlich zu seyn? Das ist es in mir: Einst werd ich weniger endlich seyn!“ (NA II, 370, Die Glückseligkeit Aller) (dazu Ps. 42,3: „Meine seele dürstet nach GOtt, nach dem lebendigen GOtt, wenn werde ich dahin kommen, daß ich GOttes angesicht schaue?“). 33 Vgl. z. B. J.P. Uz, Sämtliche poetische Werke, S. 135–140, Theodicee (Gottsched hat das Gedicht in die 5. Aufl. seiner deutschen Ausgabe von Leibniz’ Theodicee, Hannover, Leipzig 1763, S. 107–112, aufgenommen) – Albrecht von Haller, Gedichte, hrsg. v. Ludwig Hirzel, Frauenfeld 1882 (Bibliothek älterer Schriftwerke der dt. Schweiz, Bd. 3), S. 150–154, Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit – Ewald von Kleist, Werke, hrsg. v. August Sauer, Berlin 1880, Teil 1, S. 22–27, Lob der Gottheit – Johann Adolf Schlegel, Vermischte Gedichte, Bd. 1, Karlsruhe 1788 (Sammlung der besten dt. prosaischen Schriftsteller und Dichter, Teil 136), S. 1–14, Erkentniß Gottes aus den Werken der Natur; S. 35–41, Verherrlichung des Schöpfers durch seine Geschöpfe; S. 48–79, Die Schöpfung. – Dazu wie zu den zahlreichen Beispielen bei Brokkes vgl. Ch. Junker, Das Weltraumbild in der deutschen Lyrik (dort S. 85ff. auch Erwähnung weiterer Autoren), z.T. auch Stefanie Behm-Cierpka, Die optimistische Weltanschauung in der
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stian Wolff und anderen,³⁴ bereits ebenso jene grundlegende Verbindung von Betrachtung der Natur und Anschauen und Preis des Schöpfers in ihr, an dessen unmittelbarer Wirksamkeit in der so neu gesehenen Natur festgehalten wird. Als besonders charakteristisch für diese Fassung des von den naturwissenschaftlichen Entdeckungen bestimmten Weltbilds und seiner Konsequenzen erscheinen zum Beispiel zwei Schriften von Christian Wolff. Er läßt seinen Vernünfftigen Gedancken Von den Würckungen der Natur, 1723, einer Darstellung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Natur, eine sehr ähnlich aufgebaute Schrift Vernünfftige Gedancken Von den Absichten Der natürlichen Dinge, 1724, folgen, worin nun nach dem vom Schöpfer beabsichtigten Zweck all jener zuvor naturwissenschaftlich behandelten Erscheinungen gefragt wird. Als Hauptabsicht der in ihrer Größe Staunen³⁵ hervorrufenden Welt wird „die Offenbahrung der Herrlichkeit GOttes“ festgestellt, „das ist, daß GOtt die Welt deswegen hervorzubringen beschlossen, auch nach seinem Rath-Schlusse würcklich hervor gebracht , damit man seine Vollkommenheit daraus erkennen möchte“ (S. 2, § 2).³⁶ Der Mensch ist „die einige Creatur ..., durch die Gott seine Haupt-Absicht erreichen kan, die er von der Welt gehabt, daß er nemlich als ein GOTT erkandt
deutschen Gedankenlyrik der Aufklärungszeit, Diss. Heidelberg 1933, vor allem aber neuerdings Karl Richter, Die kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock, in: Jahrb. d. Dt. Schillergesellsch. 12, 1968, S. 132–169, und Paul Böckmann, Anfänge der Naturlyrik bei Brockes, Haller und Günther, in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger, Berlin 1968, S. 110–126. Zu einzelnen Parallelen zwischen Klopstock und anderen Autoren vgl. oben Anm. 31 und unten Anm. 37. 34 Bezeichnende und verbreitete außerdeutsche Beispiele der Physikotheologie sind etwa die Werke von Noël Antoine Pluche (Le spectacle de la nature, Paris 1732ff.; eine Ausgabe von 1739 befand sich in Klopstocks Bibliothek, vgl. Verzeichniß eines Theils der Bibliothek des wohlsel. Legationsrath Klopstock, Hamburg 1805, S. 20, Nr. 337–347) oder William Derham (PhysicoTheology, London 1713; Astro-Theology, London 1715). Über Beziehungen von Brockes zu den Schriften Derhams vgl. Ch. Junker, Das Weltraumbild in der deutschen Lyrik, S. 118f.; hier auch S. 100f. über die Bedeutung Popes für die Rezeption des neuen Weltbildes in der deutschen Literatur. Vgl. zur Physikotheologie ferner Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957 (Forschungen zur Systematischen Theologie und Religionsphilosophie, Bd. 3), wo freilich Chr. Wolff mit offenkundig unzureichenden und ungerechten Gründen allzu sehr an den Rand gedrängt wird. Zum Zusammenhang von Naturbetrachtung und Preis Gottes in der neuzeitlichen Naturwissenschaft vor dem 18. Jh. vgl. K. Richter, Die kopernikanische Wende in der Lyrik, S. 150f. 35 Vgl. dazu u. a. S. 64f., 115. 36 Ebenso schon in Wolffs Metaphysik: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, 8Halle 1741, S. 643, § 1045, worauf an der oben zitierten Stelle auch verwiesen wird.
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und verehret wird“ (S. 496, § 236).³⁷ Der Mensch ist daher gehalten, „die Erkäntnis der natürlichen Dinge zum Lobe und Preise GOttes“ anzuwenden (S. 59f., § 36). Daneben aber werden in Wolffs Schrift auch vielerlei besondere, auf den Nutzen des Menschen gerichtete Absichten bezeichnet, die Gott mit den natürlichen Dingen verfolge. Das mutet überall an wie der Grundriß zur Dichtung von Brockes, in welcher in der genau betrachteten Natur das Wirken des Schöpfers und der wohlbedachte vielfältige Nutzen der von ihm geschaffenen Dinge erstaunend wahrgenommen werden. Doch Brockes bringt es nur zu einer Beschreibung der Natur und ihrer Wunder und zu daran sich anschließenden Hinweisen auf deren von Gott gewollten Nutzen und auf das im Menschen erregte Erstaunen über den Schöpfer und seine Schöpfung. Erst Klopstock gelingt es, beides zu verschmelzen, erst er vermag den aus dem Anschauen der Natur erwachsenden Lobpreis des Schöpfers, das aus der Erfahrung der Größe der Natur entstehende Staunen, den von der Betrachtung des begrenzten Menschen und seiner Beziehung zum unendlichen Schöpfer herausgeforderten Aufschwung zu Gott als sprachlichen Vorgang im Gedicht zu gestalten. Die Haltung des hymnischen Sprechens, die von den neuen Themen ebenso gefordert wie gerechtfertigt wird, unterscheidet Klopstock von Brockes und anderen Vorgängern,³⁸ bei denen das neue naturwissenschaftliche Weltbild mit seinen Folgerungen für den Menschen auch schon wirksam wird.
37 Bei Klopstock begegnet dieses Motiv u. a. in „Dem Allgegenwärtigen“: „Was sind diese selbst den Engeln Unzählbare Welten Gegen meine Seele! Ihr, der unsterblichen, ihr, der erlösten Bist du näher als den Welten; Den[n] sie denken, sie fühlen Deine Gegenwart nicht!“ (NA I, 395) und in „Der Erbarmer“: „Der Donner verhallt! Der Sturm braust weg! Das sanfte Säuseln verweht; Aber, mit langen Jahrhunderten, Strömt die Sprache der Menschen fort, Und predigt, jeden Augenblick Was Jehovah geredet hat!“ (NA II, 367). 38 Dies zu betonen, erscheint mir angesichts der nicht zuletzt vom Bibelwort mitbedingten Besonderheit Klopstocks gegenüber seinen Vorgängern weiterhin nötig, trotz den gewiß berechtigten Hinweisen von K. Richter (Die kopernikanische Wende in der Lyrik, S. 146ff.) auf die Vorbereitung des hymnischen Sprechens bei jenen Vorgängern.
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Ebenso sehr aber unterscheidet Klopstock von seinen Vorgängern die besondere Rolle des Bibelworts, das nicht nur bei keinem der Vorläufer so wie bei ihm ein bestimmendes, das ganze Gedicht durchziehendes Element ist, sondern bei jenen überhaupt fast völlig fehlt. Hymnisches Sprechen und Benutzung des Bibelworts sind die eng miteinander verknüpften Bedingungen dafür, daß Klopstocks Hymnen mit jener teilnehmenden Gefühlskraft von Natur und Gott zu sprechen vermögen, die diesen Gedichten ihre Bedeutung für die Entfaltung der deutschen Lyrik vom Göttinger Hain bis zu Hölderlin gibt. Durch die mit der Ps. Longin-Rezeption verknüpften Erwartungen von erhabener Dichtung,³⁹ die vor allem durch Bodmer und Breitinger für die deutsche Literatur wirksam werden und für die Theorie der Ode und Hymne im 18. Jahrhundert besondere Bedeutung gewinnen, wird Klopstock veranlaßt und ermutigt, im Anschluß an antike Vorbilder wie an die Psalmen die Möglichkeiten des hymnischen Sprechens, die preisende, feiernde, dankende Anrede an ein göttliches Gegenüber und das in solche Zuwendung hineingenommene Nennen der Dinge zu erproben, diese Möglichkeiten in dem sie tragenden Medium der aus der Aneignung antiker Versformen erwachsenden freien Rhythmen durchzusetzen und so dem Anspruch des neuen Weltbildes gerecht zu werden. Ermöglicht aber wird diese Verwirklichung jener Erwartungen dadurch, daß der Dichter, wie sich an seiner Bestimmung des Gesangs und des Liedes und am Anteil des Bibelworts in seinen Hymnen zeigt, zugleich ausgeht von der Tradition geistlicher Dichtung im hohen Stil. Diese Tradition ihrerseits bleibt dabei nicht unverändert. Es ist bezeichnend, daß die von Klopstock Gesang genannte Art von geistlicher Dichtung bei ihm sehr viel genauer bestimmt wird als im 17. Jahrhundert, in dem ihre Eigenschaften teilweise nur aus ihrem Gegenspiel, der einfachen geistlichen Dichtung, erschlossen werden können. Vor allem das movere als Redezweck, dem der hohe Stil zugeordnet ist, erfährt bei Klopstock, im Zusammenhang mit den Erwartungen vom Erhabenen und den davon bestimmten Vorstellungen von hoher Lyrik, eine spürbare Belebung und Steigerung, während sich etwa bei Gryphius die Rechtfertigung des hohen Stils doch selbstgenügsamer auf den
39 Vgl. dazu u. a. K. Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 133ff. – Karl Viëtor, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: Viëtor, Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte, Bern 1952, S. 234–266 – P. Böckmann, Formgeschichte, S. 574ff. – Hymnische Dichtung im Umkreis Hölderlins. Eine Anthologie, hrsg. v. Paul Böckmann, Tübingen 1965 (Schriften der Hölderlin-Gesellsch., Bd. 4), S. 5f. Zum Zusammenhang des Erhabenen mit dem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild vgl. K. Richter, Die kopernikanische Wende in der Lyrik, S. 136ff., der dazu u. a. eine charakteristische Stelle aus J.G. Sulzers Artikel über das Erhabene (Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 105) zitiert.
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Redeschmuck als solchen zu konzentrieren scheint. Bei Klopstock kann es nun vom Gesang heißen, daß er „feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften, oft kühn, heftig, bilderreich in Gedanken und im Ausdrucke“ ist, daß er „die Sprache der äußersten Entzückung oder der tiefsten Unterwerfung“ ist, daß er „schnell von einem großen Gedanken zum andern“ forteilt (SW V, 45f.).⁴⁰ Damit ist die „erhabne Schreibart“ (SW V, 47) auf eine Gefühlsbewegung bezogen, die in der engeren Bindung an den Bibeltext im 17. Jahrhundert noch hintangehalten wird. Aber zu solcher Umwandlung liegen doch die Voraussetzungen in der Tradition geistlicher Dichtung im hohen Stil selbst, zumal sie nicht nur jene dem hymnischen Sprechen zugehörige Stillage ihrerseits ebenfalls einhält, sondern auch, bei aller Unentschiedenheit und Unschärfe des Begriffs in der humanistischen und barocken Poetik seit Scaliger,⁴¹ etwas vom ursprünglichen antiken und christlichen Sinn des Hymnos bewahrt zu haben scheint.
40 Diese Kennzeichen berühren sich aufs engste mit den Bestimmungen von Hymne und Ode als Gattungen der hohen Lyrik, die in der zeitgenössischen Theorie entwickelt werden. Hier wird besonders deutlich, wie die Fortführung und Abwandlung einer überlieferten Auffassung von geistlicher Dichtung, die bei Klopstock zu beobachten ist, zusammenfließt mit der im 18. Jh. sich entwickelnden Theorie der Lyrik, in der man, unter dem Einfluß antiker Muster, der Theorie des Erhabenen und der von da aus begriffenen Psalmen, in Abwendung vom unscharfen Wortgebrauch des 17. Jh. immer mehr Ode und Hymne als benachbarte Gattungen der hohen Lyrik voneinander zu scheiden und zugleich (parallel zu dem auch in der geistlichen Dichtung geltenden Unterschied) dem Lied gegenüberzustellen beginnt (vgl. K. Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, u. a. S. 89f., 112, 117f., 133ff., und die dort genannten Schriften von Boileau, Cramer, J.B. Rousseau, Batteux, Lange, J.A. Schlegel, Young; dazu die Artikel „Hymne“, „Lied“, „Lyrisch“, „Ode“ bei J.G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2 und 3; zur englischen und französischen Entwicklung vgl. u. a. Kurt Schlüter, Die englische Ode. Studien zu ihrer Entwicklung unter dem Einfluß der antiken Hymne, Bonn 1964 – Dieter Janik, Geschichte der Ode und der ‚Stances‘ von Ronsard bis Boileau, Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1968 = Ars poetica, Bd. 2). Wandlung der Auffassung von geistlicher Dichtung im engeren Sinn und Entwicklung der allgemeineren Lyriktheorie bedingen einander hier aufs engste. Erst in dieser Verbindung, bei der der Zweck des movere das vermittelnde Element ist, vermag der lange nur mitgeschleppte und unsicher gebrauchte Terminus „Hymne“ (vgl. Anm. 41), den noch Sulzer (Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 659: „man ist schon gewohnt, dieses Wort auch im Deutschen zu brauchen“) offenbar als nicht völlig etabliert empfindet, in der Theorie überhaupt genauer ausgeprägt und dann bei Klopstock poetische Realität zu werden. 41 Dazu vgl. u. a. Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Faksimile-Neudruck der Ausgabe Lyon 1561, hrsg. v. August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 162 – Jacob Pontanus, Poeticarum Institutionum libri tres, Ingolstadt 1594, S. 146ff. – Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, hrsg. v. Wilhelm Braune, 5Halle 1949 (Neudrucke dt. Literaturwerke des 16. und 17. Jh., Nr. 1), S. 21f. („Hymni oder Lobgesänge waren vorzeiten, die sie jhren Göttern vor dem altare zue singen pflagen, vnd wir vnserem GOtt singen sollen ... Wiewol sie auch zuezei-
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Wie die Zwecksetzung des movere erweitert und verwandelt wird, so wird in Verbindung mit dem hymnischen Sprechen, das sich auf eine neue Sicht Gottes und der Welt richtet, auch die Beziehung zum Bibelwort noch freier, verändert auch sie sich im Vergleich zur Tradition. Die neuartigen Themen, die nun wahrgenommenen Aspekte der Natur als der unendlichen, gesetzmäßig geordneten Schöpfung bestimmen die vielfältige Auswahl aus dem Bibelwort, das nicht mehr Ausgangspunkt des Gedichts ist. Die Auswahl richtet sich auf solche Bibelstellen, die der in ihrer Erhabenheit erfahrenen und zum Aufschwung zum Schöpfer treibenden Natur entsprechen und damit die einzelnen Erscheinungen der Natur in einem das hymnische Sprechen rechtfertigenden Sinne erfassen können, und diese Bibelstellen werden solcher Aufgabe entsprechend vielfach in Wortlaut und Sinn abgewandelt. Aber es bleibt dabei charakteristisch für Klopstocks Hymnen, daß überall gerade biblische Texte und Wendungen das hymnische Sprechen zu tragen vermögen. Drei Elemente verbinden sich in Klopstocks Hymnen aufs engste und bedingen einander: Die aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild und seiner Reflexion durch Theologie und Philosophie als Anspruch an die Dichtung sich ergebenden Themen, die Haltung des hymnischen Sprechens als Antwort auf jenen
ten was anders loben; wie bey dem Ronsard ist der Hymnus der Gerechtigkeit, Der Geister, des Himmels, der Sternen, der Philosophie, der vier Jahreszeiten, des Goldes, etc.“) – Alexander Donatus, Ars poetica, Köln 1633, S. 332ff. – Balthasar Kindermann, Der Deutsche Poët, Wittenberg 1664, S. 282 – Sigmund von Birken, Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1679, S. 189 („Die erste unter denselben sind / die sogenannte Hymni oder GOtt und den Himmel zu Ehren verfasste Geistliche Lieder“) – Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 2 Lübeck, Frankfurt 1700, S. 644ff. – Johann Christoph Männling, Der Europaeische Helicon, Alten-Stettin 1704, S. 148, 174f. – Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1704, S. 2 („Einige Christgelehrte stehen in dieser frommen Meinung / als hätten schon die aller-älteste heilige Vätter / wann sie im Grünen / bei unschuldig-guter Muße sich erlustiret / oder ihrem Feldund Welt-Bau obgelegen / Lob- und Danck-Lieder / zur Ehre GOttes gedichtet und angestimmet. Zumaln aus heiliger Bewunderung und Erforschung der Natur und Welt-Geschöpfe / die Hymni oder Göttliche Lob-Gesänge entsproßen“), S. 100 („Die Geistliche [Oden] / welche man GOtt zu Ehren verfaßet / werden Hymni oder Geistliche Lieder genennet; dergleichen bei uns Christen billich die meinsten seyn solten: und derer viele schöne von HH. Risten / Röling / Dachen / Paul Gerhard / und andern / gemacht worden“). Vgl. auch noch den Artikel „Hymne“ bei J.G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 659–666, bes. S. 666 über „geistliche Lieder“ (gerade hier noch wird deutlich, daß der Gebrauch des Begriffs deshalb so lange unbestimmt bleiben mußte, weil, soweit er inhaltlich als auf das Göttliche gerichtetes Gedicht definiert war, unklar war, in welchem Maße in christlicher Zeit nur Lieder zu gottesdienstlichem Gebrauch als Hymnen bezeichnet werden durften, in welchem Maße aber zugleich auch alle geistlichen Lieder als Hymnen bezeichnet werden konnten).
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Anspruch und die Beziehung zur Überlieferung geistlicher Dichtung und zum frei gehandhabten Bibelwort, worin das hymnische Sprechen sich entfalten kann. Diese Verbindung muß fraglich werden, sobald das Denken, wie sich in Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels ... nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, 1755, im Unterschied zu den Schriften Wolffs zeigt, die Möglichkeit der unmittelbaren Wirksamkeit Gottes in der Natur immer mehr einschränkt. Dann muß die hymnische Dichtung in jene Problematik ihrer Rechtfertigung geraten, die schon im Umkreis Hölderlins und dann am eindrücklichsten bei diesem selbst hervortritt.⁴² Daß hingegen Klopstock eine hymnische Dichtung in deutscher Sprache im Zusammenhang mit einer älteren Tradition geistlicher Dichtung durchsetzt und insofern übrigens tatsächlich in einer sonst nur gelegentlich vag behaupteten Beziehung zur Dichtung des 17. Jahrhunderts⁴³ steht, – das bestätigt seine oft betonte Stellung an einer geschichtlichen Grenzscheide der deutschen Lyrik. Das gilt aber in einem besonderen Sinn auch für die geistliche Dichtung selbst. Denn indem Klopstock sie so, wie es in seinen Hymnen geschehen ist, abwandelnd fortsetzt, hebt seine in dem Raum der Ausdruckshaltung führende Dichtung zugleich die Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Dichtung auf und bedeutet das Ende einer schöpferischen, an der Geschichte der literarischen Formen beteiligten geistlichen Dichtung.
Exkurs I (zu S. 501f.) Die Bezeichnung der hier behandelten freirhythmischen Gedichte schwankt in der KlopstockForschung. Gegen die Bezeichnung „Hymnen“ haben sich entschieden ausgesprochen: Ernst Kaußmann, Der Stil der Oden Klopstocks, Diss. Leipzig 1931, S. 172f., und Hans-Georg Müller, Odisches und Dithyrambisches in Klopstocks lyrischem Werk. Ein Beitrag zum Verständnis der ‚dithyrambischen‘ Ode in eigenrhythmischen Versen, mschr. Diss. Tübingen 1961, u. a. S. 11, 32f., 150. Beide Autoren glauben, vor allem von metrischen Überlegungen her, die freirhythmischen Gedichte so nah an die Oden heranrücken zu müssen, daß sie ihnen unter Berufung auf Klopstocks Anmerkung (SW IV, 413) zur Ode Die Genesung (dem ersten freirhythmischen Gedicht des Dichters) lediglich das Prädikat „dithyrambisch“ als Kennzeichnung einer Grenzstellung zubilligen wollen. Dabei spielt die Meinung mit (Müller, S. 32f., 150), daß Klopstock die lyrischen Gattungen streng unterschieden und jene freirhythmischen Gedichte, indem er sie unter dem Gesamttitel Oden mit seiner übrigen Lyrik vereinte, ausdrücklich als Oden im
42 Vgl. dazu P. Böckmanns Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Sammlung „Hymnische Dichtung im Umkreis Hölderlins“, die überhaupt eine der Anregungen zu den hier dargebotenen Überlegungen zur Hymnik Klopstocks gewesen ist. 43 Vgl. besonders Oskar Walzel, Barockstil bei Klopstock, in: Festschrift Max H. Jellinek, Wien, Leipzig 1928, S. 167–190, und Karl Kindt, Klopstock, 2 Berlin 1948. Zur Auseinandersetzung mit beiden vgl. G. Kaiser, Klopstock, S. 11ff.
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eigentlichen Sinne gekennzeichnet, nicht aber den Begriff der Ode im weiteren Sinne seiner Zeitgenossen gebraucht habe. Dagegen ist mehreres einzuwenden. Das Wort „dithyrambisch“ gebraucht Klopstock in jener Anmerkung zu Die Genesung nur im Blick auf die metrische Form dieser freirhythmischen Ode. Nennt man mit Kaußmann und Müller alle freirhythmischen Gedichte Klopstocks als vermeintlich bloße Grenzfälle der Ode dithyrambisch, so verdeckt man die Eigenart der großen religiösen freirhythmischen Gedichte, die nach Sprachform und Thematik (und eben auch durch die besondere Verwendung des Bibelworts) auch von einer freirhythmischen Ode wie Die Genesung unterschieden sind, und in denen man nicht nur die für die Hymne bezeichnende Haltung der Anrede an ein göttliches Gegenüber, sondern auch in abgewandelter Form die konstituierenden Formelemente des antiken Hymnos – Anrufung, pars epica, Bitte (vgl. Pauly-Wissowa, Bd. IX/1, Sp. 140ff.) – findet. Vor allem aber ist auf zwei Äußerungen von Klopstock selbst zu verweisen. In den Gedanken über die Natur der Poesie (1759) sagt Klopstock: „Horaz hat den Hauptton der Ode, ich sage nicht des Hymnus, durch die seinigen, bis auf jede seiner feinsten Wendungen bestimmt. Er erschöpft alle Schönheiten, deren die Ode fähig ist“ (SW X, 219). In der Vorrede zu den Geistlichen Liedern (1758) heißt es: „Es ist nicht leicht, einen Gesang oder ein Lied über die Werke Gottes zu machen. Man unternimmt’s, und es wird unvermerkt eine Ode“ (SW V, 48). Wenn Klopstock im einen Fall Horaz, nicht aber die Psalmen, die doch eher für die großen religiösen freirhythmischen Gedichte das Vorbild gewesen sind, als Muster der Ode, ausdrücklich aber nicht des Hymnus nennt, wenn er im anderen Fall aber vom Gesang, der offenkundig Gedichte von der Art jener freirhythmischen bezeichnet, die Ode unterscheidet, dann wird wohl deutlich, daß Klopstock neben der Ode im engeren Sinn eine andere Form hoher Lyrik kennt, die er als Gesang (so auch in den Erstdrucken der in Frage stehenden freirhythmischen Gedichte im Nordischen Aufseher, vgl. oben Anm. 22) oder Hymnus bezeichnet. Wenn er dann trotzdem die Hymnen ohne besondere Kennzeichnung in seine Sammlung mit dem Gesamttitel Oden einreiht, der Literarhistoriker diese Gedichte aber, um ihrer Eigenart gerecht zu werden, ausdrücklich „Hymnen“ nennt, dann steht beides im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung der literarischen Theorie. Sie hat (vgl. oben Anm. 40 und 41) vom 17. Jahrhundert an über Gottsched, Sulzer oder Eschenburg bis zu Hegel und Vischer die Hymne als auf das Göttliche gerichtet und dem Erhabenen besonders zugeordnet zunehmend von der Ode geschieden, immer wieder aber auch beider Nachbarschaft betont und deshalb die Hymne vielfach als „erhabenste Gattung der Oden“ (Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften, Frankfurt, Leipzig 1790, S. 160, Die lyrische Poesie, § 9) begriffen (während der seit der Antike normalerweise begrenztere Begriff des Dithyrambus nur gelegentlich und viel unklarer verwendet wird.)
Exkurs II (zu S. 514) Daß Klopstock die aus dem 17. Jahrhundert bei ihm nachwirkenden Auffassungen von geistlicher Dichtung nicht unverändert fortsetzt, das gilt in bestimmter Weise auch für die geistliche Dichtung im einfachen Stil. Das zeigt sich lehrreich an einer Kontroverse, die im 18. Jahrhundert im Anschluß an eine Bemerkung Klopstocks in der Vorrede zu seinen Geistlichen Liedern entstanden ist. Klopstocks geistliche Lieder nämlich und seine Vorrede dazu galten, zusammen mit denen Gellerts, an sich den Zeitgenossen (vgl. die unten angeführten Werke) als unbestrittene Muster und Anleitungen zu einer der Zeit gemäßen geistlichen Liederdichtung. (Das ist der oft allzu raschen Mißachtung von Klopstocks geistlichen Liedern in der Klopstock- und
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Kirchenliedforschung entgegenzuhalten; vgl. dazu u. a. F. Muncker, Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 305ff., aber auch noch neuerdings J. Pfeiffer, Dichtkunst und Kirchenlied, bes. S. 33ff., und Aloisio Rendi, Lirica religiosa di Klopstock: i Geistliche Lieder e gli inni, in: Studi Germanici NS 3, 1965, S. 182–200). Der Hinweis Klopstocks jedoch, die „Anlage“ geistlicher Lieder dürfe wie die der Gesänge „niemals eine Abhandlung von einer Lehre der Religion seyn“ (SW V, 48), hat, obgleich Klopstock selbst hinzugesetzt hatte: „Ich meine nicht, daß sie nicht hier und da kurze Sätze, die Lehren der Religion enthalten, einstreuen sollten. Es ist Dieß eine von ihren vornehmsten Regeln“, wiederholt den Widerspruch von Zeitgenossen erregt, die darin, Klopstocks Hinweis noch verschärfend, eine Verwerfung der von ihnen so genannten „Lehrlieder“ sahen. In diesem Sinne äußerten sich kritisch u. a. J.A. Schlegel (Ch. Batteux, Einschränkung der Schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, übers. v. J.A. Schlegel, Bd. 2, S. 170ff.), Johann Bernhard Basedow (Ein Privatgesangbuch zur gesellschaftlichen und unanstößigen Erbauung, Berlin, Altona 1767, Bl. a3v), J.G. Sulzer (Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 3, S. 254). Eine Vermittlung zwischen Klopstocks und J.A. Schlegels Position versuchte Johann Andreas Cramer in einem (titellosen) Aufsatz im Nordischen Aufseher (Bd. 3, 137. Stück, 12.III.1760, S. 105–116). Die Kontroverse zeigt, daß Klopstock, obgleich er die Bestimmungen der geistlichen Dichtung im einfachen Stil in enger Anlehnung an die Tradition entwickelt, doch auch den Redezweck des docere stärker, als manche Zeitgenossen schon konzedieren mögen, auf die Empfindung zu beziehen geneigt ist (vgl. das oben S. 520f. zur geistlichen Dichtung im hohen Stil und zum movere Gesagte).
Teil IV: Dichter und ihr Werk
1 Paul Gerhardt Kein deutscher Dichter des Barockzeitalters ist – mag auch die Wissenschaft sich mit Autoren wie Andreas Gryphius oder Grimmelshausen unvergleichlich viel mehr beschäftigt haben – bis heute so bekannt, ja lebendig und vertraut geblieben wie Paul Gerhardt. Zwar wird er auch nach seinem Tod in der zeitgenössischen Poetik und in Dichterkatalogen – trotz Birken etwa, der ihn den „geistreichen Paul Gerhard“ nennt, trotz Omeis oder Neumeister („Poëta vere Christianus, dulcis, perspicuus; cujus Hymni perplures, pii omnes ac infucati neutiquam, Ecclesiae nostrae oppido sunt familiares“) – nur selten erwähnt. Auch werden seine Lieder, zumal zu seinen Lebzeiten, nicht sogleich in aller Fülle in die zahlreichen Gesangbücher der Zeit und noch weniger in den gottesdienstlichen Gebrauch aufgenommen. Doch will das nicht viel besagen angesichts einer Poetik, deren zeitgenössische Muster für lange Zeit vor allem Opitz und einige andere frühbarocke Autoren sind und die von der so selbstverständlich gegenwärtigen geistlichen Dichtung viel weniger als von den humanistisch geprägten Gattungen handelt, angesichts auch der Eigenart der Gesangbuchgeschichte im 17. Jahrhundert, die sehr stark von dem aus dem 16. Jahrhundert überkommenen Kernbestand im Gottesdienst eingebürgerter und dem Kirchenjahr fest zugeordneter Lieder beherrscht ist. Es fehlt gleichwohl schon zu Lebzeiten Gerhardts wie in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nicht an Zeugnissen eines sehr entschiedenen und rasch wachsenden Interesses an den Liedern dieses Dichters, für den 1666 in der Zeit seiner Amtsenthebung durch den Großen Kurfürsten der Berliner Magistrat gegenüber dem Herrscher als für einen „frommen, Geistreichen, und in Vielen Landen berümbten Mann“ (Eingabe vom 13. Februar 1666) eintritt, von dessen „geistreichen [d.i. hier wohl: an poetischem wie biblischem Geist reichen] Liedern ... nach seiner besondern / sententiòsen / kurtz- und schmackhaften Art“ der Nürnberger Prediger Feuerlein 1682 in seiner Vorrede zur Neuausgabe der Ebelingschen Sammlung meint, dass sie „wol vor vielen / wo nicht allen / den Preiß erhalten“, und an dem 1707 sein Herausgeber Feustking, Konsistorialrat und Superintendent in Anhalt-Zerbst, rühmt, ihn habe die göttliche Weißheit mit solchen ungemeinen Gaben in Verfertigung geistlicher Lieder ausgerüstet / daß ich sicherlich gläube / hätte er unsers grossen Lutheri glückselige Zeiten erreichet / daß er sein Beystand und Mitarbeiter in dem seligen Reformations-Werck gewesen wäre ... Wer aber solche [Lieder] wohl betrachtet / und in recht heiliger Andacht absinget / auch die Fülle des Geistes kennet / woraus sie geflossen / der wird gestehen müssen / daß sie beydes darstellen / nemlich Geist und Kunst / Krafft und Zierligkeit. Ich sage es frey heraus: kein vergebliches / kein unnützes Wort findet man darinnen / es fället und fleußt dem Gerhard alles auffs lieblichste und artlichste / voller Geistes / Nachdrucks / Glaubens und Lehre; da ist nichts gezwungenes / nichts eingeflicktes / nichts
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verbrochenes; Die Reimen / wie sie sonsten insgemein etwas himmlisches und geistliches mit sich führen ... also sind sie auch absonderlich im Gerhard recht auserwehlet / leicht und auserlesen schön / die Redens-Arten sind schrifftmäßig / die Meynung klar und verständig / die meisten Melodeyen nach unsers unvergleichlichen Lutheri / und anderer alten Meister-Sänger Tone / lieblich und hertzlich / in Summa / alles ist herrlich und tröstlich / daß es Safft und Krafft hat / hertzet / afficiret und tröstet ...
Solcher Einschätzung gemäß, die den Rang der Lieder Paul Gerhardts schon recht früh mit dem Wirken Luthers in vergleichende Beziehung setzt und teilweise dafür ursprünglich auf Luthers Lieder gemünzte, auf Cyriacus Spangenbergs Cythara Lutheri (1569) zurückgehende Kennzeichnungen verwendet, nimmt im späteren 17. und im frühen 18. Jahrhundert die Verbreitung seiner Lieder in Gesangbüchern, nicht zum wenigsten dann auch im Zeichen des vordringenden Pietismus, rasch zu, werden seine Lieder in mancherlei sonstige erbauliche Werke aufgenommen, erscheinen, ehe bis zum frühen 19. Jahrhundert eine Pause eintritt, weit in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein immer noch neue Ausgaben seiner Lieder, sammelt die hymnologische Literatur des frühen 18. Jahrhunderts Nachrichten über die fromme Benutzung und erbauliche Wirkung dieser Lieder, gelten Liedpredigten und Auslegungen Texten von Paul Gerhardt und gewinnen Strophen von ihm Bedeutung in Kantaten und Oratorien Bachs, Telemanns und ihrer Zeitgenossen. Die große Wirkung Paul Gerhardts, die ihn noch im heutigen Evangelischen Kirchen-Gesangbuch neben Luther zum meistvertretenen Liederdichter macht, die ihn über die Konfessionsgrenzen hinweg zu einem ökumenischen Dichter und auf dem Wege über Gesangbücher in anderen Sprachen wohl zum einzigen auch in Übersetzungen weit verbreiteten deutschen Autor des 17. Jahrhunderts hat werden lassen, hat gewiß auch manche fragwürdigen Züge, hat Legenden und bis in neueste populäre Darstellungen und nicht nur darin wirkende Klischees des bewundernden Urteils hervorgebracht. Auch ist diese Wirkung, vermittelt und ermöglicht vor allem durch das Gesangbuch und seinen ausgewählten und bearbeiteten Textbestand, vielfach eine so sehr ins Privateste, ins Selbstverständliche und Anonyme reichende, daß sie in ihrem ganzen Umfang mehr zu ahnen als zu dokumentieren ist und bei manchem Großen der Literaturgeschichte vergeblich nach einem Beleg suchen läßt. Aber es gibt auch eindrückliche Zeugnisse dieser Wirkung von sehr verschiedenartigen Autoren. Im 18. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte Paul Gerhardts Lieder in den Gesangbüchern unter dem Einfluß einer rationalistischen Theologie stark zurückgedrängt und oft radikal überarbeitet werden, sind gleichwohl Autoren wie Winckelmann oder Gellert, der lieber ein zweiter Paul Gerhardt als der größte Fabeldichter zu sein wünschte, Herder, Hippel, Matthias Claudius oder Voss Zeugen solcher Wirkung, die auch aus der Jugend Schillers oder Tiecks berichtet
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wird. August Wilhelm Schlegel und Eichendorff haben in ihren Iiterargeschichtlichen Werken vor anderen Dichtern des Barock Paul Gerhardt rühmend hervorgehoben. Fontane kommt wiederholt auf ihn und seine Lieder bewundernd zu sprechen. Hebbel hat in seinen Tagebüchern bekannt, wie er in der Kindheit an Paul Gerhardts Abendlied „die Poesie in ihrem eigentümlichen Wesen und ihrer tiefsten Bedeutung zum erstenmal“ geahnt habe. Und noch im 20. Jahrhundert sind es nicht nur dezidiert protestantische Autoren wie Rudolf Alexander Schröder oder Kurt Ihlenfeld, Albrecht Goes oder der in den wachsenden Bedrängnissen vor seinem Freitod an Paul Gerhardt sich aufrichtende Jochen Klepper, die die Gegenwärtigkeit dieses Liederdichters bekräftigen, oder der in Traditionen wohl erfahrene Rudolf Borchardt, sondern auch der aus seiner pietistischen Herkunft sich lösende Hermann Hesse oder – und sei es schließlich nur noch in parodistischem Anklang und polemischer Abgrenzung – so skeptische Geister wie Bert Brecht oder Gottfried Benn. Solche lebendige Wirkung eines Mannes, von dem außer seinem Werk nur wenig bekannt ist und der außer seinen Liedern, deren Zahl nicht einmal sehr groß ist, kaum etwas geschrieben hat, solche – übrigens wohl selbst im Blick auf die Lieder Luthers – fast unvergleichliche Ausstrahlungskraft, die namhafte spätere Dichter ebenso ergriffen wie ungezählte namenlose singende, lesende, betende Menschen vor allem immer wieder tröstend angerührt hat, verleiht dem Werk einen eigentümlichen Rang. Sie fordert, mag sie sich auch einer völligen Erklärung verweigern, zu der Frage heraus, worin sie denn begründet, wie sie zu verstehen sei. Darauf ist zu vielen Malen besonders mit dem Hinweis auf die Einfachheit, die Schlichtheit von Paul Gerhardts Liedern geantwortet worden. In ihr, die man zumeist gegen die als allzu künstlich verstandene übrige Dichtung der Zeit abhob, sah man das wichtigste, die geistliche Haltung ihres Autors unmittelbar bezeugende Merkmal dieser Lieder und die Ursache ihrer Wirkung. Um solcher Schlichtheit willen war man geneigt, dem Autor manches nachzusehen, was man bei aller Zuneigung doch eigentlich kritisieren zu müssen meinte, die Länge mancher Lieder, die Abhängigkeit von Vorlagen, das Fehlen ausgedehnter dogmatischer Aussagen. Kirchenliedgeschichtlich schien sie erträglich zu machen, was man den Subjektivismus dieser Lieder im Unterschied zur Objektivität des Lutherschen Liedes nannte und oft als den Anfang einer bedenklichen Auflösung des reformatorischen Kirchenlieds ansah. Literaturgeschichtlich schien sie den Dichter zum willkommenen Vorläufer der Lyrik seit Goethe zu machen. Seltsam und betrüblich erschien nur der Gegensatz, in welchem die von solcher Einfachheit geprägte fromme Lieddichtung zu Zügen einer schroffen Orthodoxie in jenem späten Berliner Lebensabschnitt zu stehen schien, welcher als einziger durch reichlichere Quellen etwas genauer faßlich wird. Aber besteht da wirklich ein Widerspruch? Sind die Befunde und Folge-
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rungen zutreffend, die sich in jenen immer wiederkehrenden Zügen des von Paul Gerhardt und seinem Werk gezeichneten Bildes verbinden? Und was hat es mit jener Einfachheit, wenn sie denn richtig beobachtet ist, auf sich? Das sind die Fragen. Was besagen Werk und Leben, auf dem Hintergrund der Zeit und ihrer Literatur betrachtet, dafür? Paul(us) Gerhardt, am 12. März 1607 in Gräfenhainichen im Kurfürstentum Sachsen geboren als Sohn eines Gastwirts, der auch einer der drei Bürgermeister der Stadt ist, und einer Tochter und Enkelin lutherischer Pfarrer, deren Vater in den kryptocalvinistischen Auseinandersetzungen in Sachsen wegen des Festhaltens am Exorzismus bei der Taufe zeitweilig seines Amtes enthoben worden war, besucht nach dem frühen Tod der Eltern seit 1622 die Schule in Grimma, eine der drei nach der Reformation eingerichteten sächsischen Fürstenschulen, die ihren Schülern eine humanistische Bildung vermittelten und sie im Geiste eines reinen Luthertums erzogen. Anfang 1628 wird Paul Gerhardt zum Studium der Theologie in Wittenberg, einem Hort streng lutherischer Lehre, immatrikuliert. Daß er hier auch von August Buchner gelernt haben mag, zu dessen akademischen Schülern viele andere Autoren des 17. Jahrhunderts gehört haben, mag man vermuten, ohne es belegen zu können. In Wittenberg bleibt Paul Gerhardt fast anderthalb Jahrzehnte, seit etwa 1635 offenbar als Hauslehrer. Seit 1642 oder 1643 lebt er in Berlin, wiederum wohl als Hauslehrer und aushilfsweise auch als Prediger tätig. Ende 1651 wird er auf Empfehlung des Berliner Geistlichen Ministeriums zum Propst im nahen Mittenwalde berufen. Vor Antritt des Amtes wird er in der Berliner Nikolaikirche unter Verpflichtung auf die lutherischen Bekenntnisschriften zum Pfarrer ordiniert. Am 11. Februar 1655 heiratet er Anna Maria Barthold (oder Berthold), die Tochter eines Berliner Kammergerichtsadvokaten, in dessen Hause er zuvor längere Jahre gelebt hatte. Von fünf Kindern überlebt nur ein 1662 geborener Sohn die Eltern. Im Mai 1657 wird Paul Gerhardt vom Berliner Magistrat als Diakonus an die Nikolaikirche berufen. Vor allem Gelegenheitsgedichte zeigen ihn in diesen wie schon in den früheren Berliner Jahren in mannigfachen Beziehungen zu den gelehrten Kreisen des Berliner Bürgertums, zu den Mitgliedern des Magistrats, zu Juristen, zu den Lehrern des Gymnasiums zum Grauen Kloster, zu denen auch die Kantoren der Nikolaikirche und Komponisten Gerhardtscher Lieder, Johann Crüger und sein Nachfolger Johann Georg Ebeling, gehören. 1662 verschärft der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm seine Religionspolitik, die aus persönlicher Überzeugung wie aus politischen Gründen auf eine Sicherung und möglichste Stärkung des von seinem Großvater Johann Sigismund angenommenen reformierten Bekenntnisses in seinen lutherischen Territorien gerichtet ist, durch Edikte, welche die konfessionelle Polemik auf den Kanzeln verbieten und allen Untertanen den Besuch der Universität Wit-
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tenberg zum Studium der Theologie oder Philosophie untersagen, sowie durch Anordnung eines Religionsgesprächs zwischen den lutherischen und den reformierten Geistlichen der beiden benachbarten Residenzstädte Berlin und Cölln. Paul Gerhardt, der als Prediger offenkundig ohne besondere Schärfe nur auf die klare Darstellung der lutherischen Glaubenslehre bedacht ist, fällt dabei wiederholt die Aufgabe zu, den Standpunkt der lutherischen Seite zu formulieren. Die erhaltenen Schriftstücke zeigen ihn als einen dogmatisch und dialektisch geschulten Mann, der die Lehrunterschiede der Konfessionen und die Abgrenzung gegen die Calvinisten mit der in der Kontroverstheologie der Zeit üblichen Deutlichkeit herausarbeitet. Nachdem das Religionsgespräch nach zahlreichen Sitzungen 1663 ergebnislos abgebrochen worden ist, erläßt der Kurfürst 1664 erneut ein verschärftes Religionsedikt und fordert von den kurbrandenburgischen Geistlichen die Unterschrift unter einen Revers, der durch Anerkennung der verschiedenen kurfürstlichen Edikte zum weitgehenden Verzicht auf theologische Auseinandersetzung und auf den damals noch in vielen lutherischen Kirchen beibehaltenen Exorzismus bei der Taufe verpflichtet sowie die Distanzierung von der Formula Concordiae bedeutet, von jener jüngsten lutherischen Bekenntnisschrift von 1577, die eine abschließende Formulierung der lutherischen Glaubenslehren bezweckt, das Ziel der Überwindung aller innerlutherischen Lehrstreitigkeiten allerdings, obgleich in vielen lutherischen Territorien unter die Bekenntnisschriften aufgenommen, nicht hatte erreichen können. Unter denjenigen, die die Unterschrift verweigern, weil sie in den Forderungen des Kurfürsten – auch in der nach einer hier noch eher politisch als religiös begründeten „Christlichen tolerantz“ – die Gefahr des Synkretismus, der Vermischung und damit der Aufhebung fundamentaler Glaubensüberzeugungen sehen, ist auch Paul Gerhardt. Im Gefolge längerer Auseinandersetzungen der Berliner Geistlichkeit mit dem Kurfürsten wird nach dem Propst der Nikolaikirche, der später einen gemilderten Revers unterschreibt, und dem Archidiakonus, der bald Berlin verläßt, am 6.2.1666 auch Paul Gerhardt von seinem Amt suspendiert. Wiederholtes dringliches Eintreten der Bürgerschaft und aller Gewerke, des Berliner Magistrats und der brandenburgischen Stände für den „geliebten Prediger undt Seelsorger ... [der] alle- undt jede Zum wahren Christenthumb, durch Lehre undt Leben bis dato geführet, undt keine Seele mit worten oder wercken angegriffen“ habe (Eingabe der Bürgerschaft und der Gewerke an den Magistrat vom Februar 1666), veranlaßt den Kurfürsten schließlich, Paul Gerhardt zu Anfang des Jahres 1667 den Revers zu erlassen mit der Erwartung, dieser werde sich auch ohne förmliche Unterschrift an die Edikte, deren Sinn er wohl nur nicht recht verstanden habe, gebunden wissen. Damit wird für Paul Gerhardt insbesondere die Frage nach der Geltung der Konkordienformel, die einer der Vorgänger des Kurfürsten und Mitunterzeichner auch für Brandenburg
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als verbindliche Bekenntnisschrift eingeführt hatte, vollends zur Gewissenssache. Da er sich in der vom Magistrat unterstützten Bemühung um eine sein Gewissen beruhigende Äußerung des Kurfürsten der Wiederaufnahme seines Amtes enthält, befiehlt der Kurfürst im Februar 1667 dem Magistrat die Berufung eines anderen Predigers. Der damit endgültig Abgesetzte, der in einer Erklärung seines Verhaltens zwischen einer guten, von ihm bejahten und geübten Moderation als Freiheit der Lehrabgrenzung von persönlichem Affekt und einer bösen, zur Auflösung des eigenen Bekenntnisses führenden Moderation unterscheidet, wird vom Magistrat aus den Einkünften seiner Stelle noch bis zu deren Neubesetzung im August 1668 unterhalten. Am 5. März dieses Jahres stirbt seine Frau. Im Herbst wird er als Archidiakonus in das damals mit der Niederlausitz dem Herzog von Sachsen-Merseburg gehörende Lübben im Spreewald berufen. Im Juni 1669 tritt er das neue Amt an. Briefe und amtliche Dokumente zeugen von unerquicklichen Auseinandersetzungen um die Herrichtung einer zureichenden Wohnung in Lübben und von späteren Belastungen der Amtsführung. Am 27. Mai 1676 stirbt Paul Gerhardt, am 7. Juni wird er an unbekannter Stelle in der Lübbener Kirche begraben. Der in vielem, im Bildungsgang etwa oder in persönlichem Leid, typische Lebensweg Paul Gerhardts läßt sich unschwer in einer knappen Skizze zusammenfassen, weil er ohnehin nur lückenhaft, nur in seinen Hauptstationen und in ungefähren Umrissen überliefert ist (sogar Geburts- und Sterbedatum waren lange nicht sicher bekannt), weil er selbst in solcher Lückenhaftigkeit fast nur aus unscheinbaren und inhaltsarmen Belegen, aus verstreuten Erwähnungen, aus Eintragungen in Kirchenbüchern, aus datierten Drucken von Gelegenheitsdichtungen und aus nur wenigen aussagekräftigeren Quellen – meist amtlichen Schriftstücken – zu rekonstruieren ist und dabei kaum die private Person und so gut wie gar nicht den Dichter zu erkennen gibt. So scheint er für den späteren Betrachter fast beziehungslos neben dem Werk zu stehen und diesem in der am reichsten dokumentierten Phase, dem Berliner Konflikt mit dem Kurfürsten, geradezu zu widersprechen. Aber es wäre falsch, hier eine unbegreifliche Kluft zwischen Frömmigkeit und dogmatischem Starrsinn zu sehen und den Dichter Paul Gerhardt als einen kirchenpolitischen Reaktionär zu verstehen. Was immer auch an Glaubensüberzeugungen in der brandenburgischen Kirchenpolitik wirksam war und was darin nachträglich an Wurzeln neuzeitlicher Toleranz und konfessionellen Ausgleichs gefunden werden mag, das läßt doch ihre auch vorhandenen machtpolitischen Antriebe nicht verkennen. Paul Gerhardt gerät mit ihr in Konflikt, weil hier konfessionelle Auseinandersetzungen, die entstehen mußten, sofern noch lange die Konsequenzen aus der Glaubensspaltung zu ziehen und zu bewältigen waren, zusammentrafen mit komplexen politischen Veränderungen und ganz andersartigen Interessen des sich
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herausbildenden absolutistischen Staates und davon noch verschärft wurden. Wenn für Paul Gerhardt dabei auch das Festhalten an der jüngsten Bekenntnisschrift, der Konkordienformel – auf sie hatte er sich wie auf die anderen symbolischen Bücher des Luthertums bei seiner Ordination feierlich verpflichtet, sie wird beispielsweise in dem der religiösen Unterweisung in Grimma zugrunde gelegten, weit verbreiteten Compendium Locorum Theologicorum des Wittenberger Theologen Leonhard Hutter gleich zu Beginn im Locus De Scriptura Sacra: deque norma ac Iudice controversiarum Ecclesiasticarum zusammen mit den anderen Bekenntnisschriften als „testimonium pro religione nostra“ genannt, auf sie wurden in Paul Gerhardts Studienzeit in Wittenberg schon die Theologiestudenten und alle sonst hier studierenden Landeskinder verpflichtet –, wenn für ihn das Festhalten auch und gerade an dieser Bekenntnisschrift zu einer Gewissenssache wurde, deren sich auch die Berliner Bürgerschaft und ihr Magistrat annahmen, so zeigt sich darin, welche fundamentale Bedeutung für ihn wie für viele Zeitgenossen die durch Luther aufgeworfenen Glaubensfragen immer noch hatten. Diese Glaubensfragen hatte gerade auch die Konkordienformel, auch wenn sie dann ihrerseits noch wieder Anlaß zu Auseinandersetzungen gegeben hat, mit großem Ernst zu klären gesucht. Daß Paul Gerhardt, von dem sein späterer Herausgeber Feustking berichtet, daß er ständig mit Johann Arndts Paradiesgärtlein umgegangen sei, dabei nicht als geistlicher Dichter, sondern als Kontroverstheologe in Erscheinung tritt, das charakterisiert ihn als Vertreter jener Haltung, die große, vielfach als Reformorthodoxie benannte Teile des Luthertums im 17. Jahrhundert – darunter etwa auch namhafte Mitglieder der streitbaren Wittenberger Theologenfakultät, die Paul Gerhardts Lehrer oder später seine und seiner Berliner Amtsbrüder Ratgeber waren – kennzeichnet und für die die reine Lehre so wichtig ist wie ein reines Leben, Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit, Kontroverstheologie und Erbauungsschrifttum und geistliche Dichtung keine Gegensätze sind, sondern einander notwendig ergänzen. Was aber, an dem einen heller beleuchteten Konflikt wie an den sonst nur schattenhaft greifbaren Lebensabschnitten, als Existenzform Paul Gerhardts hervortritt, das erweist sich – anders als bei anderen dichtenden Theologen des Barock, Johann Heermann etwa oder Johann Rist – gewiß als der respublica litteraria der Zeit sehr fern stehend. Doch die da sichtbare Beschränkung auf das geistliche Amt, die frei von allem literarischen Ehrgeiz ist – Paul Gerhardt hat anders als viele Theologen seiner Zeit keine Sammlungen seiner Predigten herausgegeben und auch seine Lieder nicht einmal selbst publiziert –, ist nicht ohne Bezug zu seinem Werk, das sich ganz auf die geistliche Lieddichtung konzentriert, sondern ist dessen Wurzelgrund, ohne den es in seiner Eigenart kaum zu verstehen ist. Die wenigen anderen Werke in ihrer geringen Zahl und in ihrer Art bestätigen das.
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Das Werk Paul Gerhardts besteht – abgesehen von den nicht sehr zahlreichen Briefen meist amtlichen Charakters, den theologischen Schriftsätzen aus Anlaß der Berliner Auseinandersetzungen und einer Art von geistlichem Testament für den einzigen überlebenden Sohn – aus etwas mehr als einhundertunddreißig deutschen Gedichten, Liedern zumeist, worunter manches zu verschiedenartigen Gelegenheiten, vor allem für Freunde Entstandene, aus fünfzehn lateinischen Gelegenheitsgedichten und aus vier Leichenpredigten, die in zeitüblichen Gelegenheitsdrucken überliefert sind. Die Predigten belegen jene zeitgemäße rhetorische und theologische Schulung, die bei dem Absolventen der Grimmaer Fürstenschule und der Wittenberger Universität ohnehin vorauszusetzen ist. Auch die deutsche und lateinische Gelegenheitsdichtung, unter der sich beispielsweise eine Reihe von ganz regelmäßigen Epicedien – aus antiken Ursprüngen entwickelten barocken Trauergedichten – befindet, zeigt den Dichter auf selbstverständlichste Weise vertraut mit der humanistischen Bildung und Poetik seiner Zeit. Was sie an literarischen Möglichkeiten boten, ist ihm zwar offenkundig nicht das Wichtigste gewesen, aber es ist ihm geläufig und ist damit auch Grundlage seines eigentlichen Werks. Dieses sind jene einhundertundzwanzig Lieder, die seit 1647 nach und nach vor allem in verschiedenen Auflagen von Johann Crügers Praxis Pietatis Melica. Das ist: Ubung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesängen / Herrn Dr. Martini Lutheri fürnemlich / und denn auch anderer vornehmer und gelehrter Leute, zum Teil mit dessen Melodien, erschienen und dann – unter Einschluß von gut zwei Dutzend bis dahin ungedruckter Stücke – 1666/67, in der Zeit von Gerhardts Amtsenthebung, durch Johann Georg Ebeling als Pauli Gerhardi Geistliche Andachten ... Der göttlichen Majestät zu foderst Zu Ehren / denn auch der werthen und bedrängten Christenheit zu Trost / und einer jedweden gläubigen Seelen Zur Vermehrung ihres Christenthums zusammengefaßt und, fast durchgehend mit neuen eigenen Melodien versehen, für vier Vokalstimmen und Instrumente vertont wurden. Mehr, als bis heute nachgewiesen, mögen die Lieder daneben in Gelegenheitsschriften und anderen Einzeldrucken verbreitet worden sein, viele sind aus den ersten Berliner Veröffentlichungen nach und nach in andere Gesangbücher und sonstige geistliche Liedsammlungen übernommen, auch in erbauliche Prosawerke eingefügt, manche dann auch mit anderen Melodien versehen und von anderen Komponisten neu vertont worden. Die gebrauchsnahe, der Musik eng verbundene Form der Publikation von Paul Gerhardts Liedern, die zwar, soweit sie durch die beiden Kantoren der Nikolaikirche geschah, gewiß nicht ohne seine Zustimmung und wohl auch nicht ganz ohne seine Teilnahme, aber doch ohne eindeutige Autorisation der verschiedenen Textfassungen erfolgte, brachte es mit sich, daß die komplizierte textkritische Problematik der Überlieferung bis heute nicht durch eine endgültige Ausgabe gelöst ist.
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Paul Gerhardts Lieder, die sich in ihrer Mehrzahl nur durch den Zeitpunkt ihrer ersten Veröffentlichung ungefähr datieren lassen, benutzen rund fünfzig verschiedene Strophenformen, von denen einige vom Dichter selbst erst gebildet worden sind, während viele andere sich an bekannte Melodien anlehnen. Die Formen reichen von sehr einfachen vierzeiligen Gebilden (Nun last uns gehn und tretten ... etwa, Wach auf mein Hertz und singe ..., Ich singe dir mit Hertz und Mund ... oder Nun dancket all und bringet Ehr ...) bis zu umfangreichen und zuweilen komplizierten Fügungen (Gib dich zu frieden / und sey stille ..., Gott lob nun ist erschollen ..., Ich hab in Gottes Hertz und Sinn ..., Solt ich meinem Gott nicht singen ... und manche sonst). In ihrer Vielfalt, die zumal im Verhältnis zur Anzahl der Lieder bemerkenswert groß ist, erweisen die Strophenformen die enge Beziehung, in welcher die Dichtungen Paul Gerhardts zur Musik, mit der zusammen sie denn auch immer wieder in den Drucken auftreten, zur Gattungsüberlieferung des Liedes und insbesondere zum geistlichen Lied stehen. Die aus dem 16. Jahrhundert herkommende Liedtradition und vor allem das seit Luther so reich entwickelte protestantische Kirchenlied sind der Quellgrund von Paul Gerhardts Lieddichtung. Es wird von Paul Gerhardt fortgeführt und auf eine die Gattung wirkungsreich prägende Weise erweitert und gesteigert. Schon die Strophenformen zeigen indessen auch, daß das nicht ohne oder gar gegen die literarischen Möglichkeiten der Zeit geschieht, sondern unter deren umsichtiger Nutzung. Die Formen sind, ohne gelegentliche, gattungsentsprechende Freiheiten aufzugeben, auf das selbstverständlichste von der seit Opitz entwickelten Metrik und der ihr zugehörigen Sprachbehandlung geprägt, auch wenn Paul Gerhardt im Zeichen seiner engen Beziehung zur Liedtradition so zeittypische Formen wie den Alexandriner, das Sonett, die pindarische oder selbst die im Kirchenlied häufiger begegnende sapphische Ode selten oder gar nicht benutzt. Die Wahl vielfältiger Strophenformen und eine bewegliche sprachliche Füllung dieser Formen aber stehen ganz im Dienst der geistlichen Themen und der mit ihnen verknüpften, durch sie zu erweckenden geistlichen Affekte (aufs deutlichste faßlich etwa in Festliedern wie Frölich sol mein Hertze springen ... oder Auf / Auf / mein Hertz mit Freuden ... oder dem Morgenlied Die güldne Sonne ...). Von der da sich ausbildenden Ausdruckskraft des geistlichen Liedes sind auch die hymnologisch und musikgeschichtlich bedeutsamen Melodieschöpfungen und Kompositionen der Zeitgenossen bestimmt mit ihrem engen Wort-Ton-Verhältnis und – vor allem bei Ebeling – der Entwicklung zur Ausdruckshaftigkeit des mehr für den häuslichen Gebrauch als für den Gemeindegesang gedachten Aria-Typus. Nahezu die Hälfte der Lieder Paul Gerhardts hat einen biblischen Text zur Vorlage, und bei fast der Hälfte dieser Dichtungen stammt die Vorlage aus den Psalmen. Die Beziehung zur biblischen Vorlage, verstärkt vielfach durch Einfügung zusätzlicher einzelner Bibelstellen, kann so eng sein, daß es sich um eine
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getreue Nachdichtung mit von Strophe zu Strophe eingehaltener Korrespondenz handelt, sie kann andererseits auch den Text sehr frei variieren und ausdeuten. Wo solche Bindung an eine bestimmte biblische Vorlage nicht besteht, gibt es doch mancherlei Entsprechungen dazu, sei es, daß Lieder biblische Ereignisse – insbesondere die großen Heilstatsachen – nacherzählen und zugleich deuten, sei es, daß sie jedenfalls getränkt sind von biblischen Anspielungen und vertrauten geistlichen Wendungen. Mehrere Lieder sind Nachdichtungen von lateinischen oder deutschen Texten anderer Dichter (Arnulf von Löwen, Nathan Chyträus, Sebaldus Heyden, Paul Röber), sechs beruhen auf Gebeten in Johann Arndts verbreitetem Paradiesgärtlein, andere mit Titeln wie Buß- und Bätt-Gesang / Bey unzeitiger Nässe und betrübtem Gewitter, Danck-Lied / vor einen Gnädigen Sonnenschein, Danck-Lied einer reisenden Persohn auf dem Rück-Wege haben Gebete für einzelne Gelegenheiten zum Muster, wie man sie in den zeitgenössischen Gebetssammlungen findet. Gerhardts Morgen- und Abendlieder weisen vielfach in Bauform und Motiven auf die entsprechenden Gebete in Luthers Kleinem Katechismus und in späteren Gebetssammlungen wie der von Arndt als ihr Vorbild zurück. Genauere Nachforschungen, zu denen es bisher nur unsichere Ansätze gibt, würden gewiß weitere Beziehungen zur Predigt-, Gebets- und Erbauungsliteratur, die auch sonst eine bedeutende Quelle der zeitgenössischen geistlichen Dichtung ist, und zu biblischen Texten ans Licht bringen. Solche vielfältige Verknüpfung mit biblischen Texten und mit mannigfachen Erscheinungsformen geistlicher Literatur, wie sie bei Paul Gerhardt besteht, ist nicht eine besondere Eigenheit nur seiner Lieder, sie ist aber auch nicht ein Merkmal geistlicher Dichtung zu allen Zeiten. Sie ist in dieser Fülle vielmehr ein Kennzeichen der geistlichen Dichtung im 16. und 17. Jahrhundert, an deren Bedingungen Paul Gerhardt teilhat. Die betonte Rolle der Heiligen Schrift seit Luther und die vor allem von Melanchthon wirkungsreich formulierte reformatorische Auffassung von der Rolle von Vers und Musik für die Verbreitung der doctrina de deo sind die Voraussetzungen dafür, daß sich seit der Reformation mannigfache, auf Unterrichtung und auf Weckung der Andacht zielende Formen geistlicher Dichtung zumal im protestantischen Raum ausbilden, die teils biblische Texte mehr oder weniger genau paraphrasieren, teils erbaulich auslegen oder auch beides zugleich tun. Solche Dichtung, zu deren bevorzugten Gegenständen neben den Perikopen die Psalmen gehören, bemächtigt sich im 17. Jahrhundert um der Andacht willen zunehmend auch der Erbauungs- und Gebetsliteratur, die durch solche Umsetzung in Verse eine zusätzliche Wirkungsmöglichkeit gewinnt. Besondere Vorliebe gilt dabei neben anderen den Gebeten Johann Arndts. Für derartige Dichtung, für die die Bindung an Vorlagen etwas übliches, die eigene poetische Erfindung hingegen kein vorrangiger Zweck ist und die Verwendung mannigfacher Bibelstellen, ein Sprechen mit Bibelstellen
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ein ausdrücklich gefordertes Verfahren darstellt, ist das Lied die bevorzugte poetische Form, neben die im Lauf des 17. Jahrhunderts erst nach und nach auch andere treten. Wenn Paul Gerhardt seine geistliche Dichtung fast nur in Liedform schreibt und zudem durch andere in Verbindung mit Musik publizieren läßt, dann ist das ebenso wie die häufige Bindung an Bibeltexte und andere Vorlagen ein Symptom dafür, wie sehr sein Werk in den größeren Zusammenhang der geistlichen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts gehört und aus deren besonderen Voraussetzungen erwächst. Allerdings verfaßt er, obgleich sich seine Lieder leicht dem Kirchenjahr zuordnen lassen, sicher auch zum Teil in engem Zusammenhang mit ihm entstanden sind und in den Ausgaben des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vielfach entweder nach dem Kirchenjahr gruppiert oder durch entsprechende Register erschlossen werden, so wenig einen Zyklus von Perikopenliedern wie eine vollständige Nachdichtung des Psalters – zyklische Formen, die vor allem durch die Vermittlung des biblischen Textes als solchen im christlichen Glauben unterrichten wollen –, und nur wenige seiner Lieder nach biblischen Texten sind Beispiele der paraphrasierenden Bibeldichtung im strengsten Sinn. Auch nimmt er sich in den Arndt-Nachdichtungen, bei aller erkennbaren Treue zum Text, immer wieder Freiheiten gegenüber der Vorlage und benutzt Strophenformen, die ersichtlich mehr leisten, als einen Gebetstext als solchen lediglich in Verse umzusetzen. An alldem ist abzulesen, daß Paul Gerhardts Lieddichtung, so vollkommen sie sich im Sinne der für das ganze 16. und 17. Jahrhundert gültigen Überlieferung in den Dienst der doctrina de deo und ihrer Verbreitung stellt, dies doch weniger zum Zwecke der bloßen Unterrichtung als vielmehr vor allem zur Erweckung der Andacht tut, die im 17. Jahrhundert im Zusammenhang frömmigkeitsgeschichtlicher Entwicklungen zunehmend Raum in der geistlichen Dichtung gewinnt und die Paul Gerhardt selbst in einem Gedicht an Joachim Pauli ausdrücklich als höchstes Ziel aller Dichtung nennt. Das bestätigt sich an der Tatsache, daß viele der zeitgenössischen und posthumen Ausgaben von Paul Gerhardts Liedern durch einen Anhang mit Gebeten von Arndt, Johann Gerhard und anderen ergänzt und so vollends zu Andachtsbüchern gemacht und daß umgekehrt seine Lieder in andere Erbauungswerke aufgenommen werden, und es entspricht dem, was sich am Gebrauch der Strophenformen und an den Kompositionen Gerhardtscher Lieder beobachten läßt, wie dem, was in ihnen an beherrschenden Themen und Motiven begegnet. Entgegen einer da und dort geäußerten Meinung ist es nicht etwa so, als gäbe es nicht bei Paul Gerhardt sehr dezidierte dogmatische Aussagen. In Liedern wie Du Volck / das du getauffet bist ..., Herr Jesu / meine Liebe ..., Weg mein Hertz mit den Gedancken ... oder Ich weiß das mein Erlöser lebt ... werden zentrale Aussagen lutherischer Dogmatik, das Sakrament der Taufe, das Abendmahl mit
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der Lehre von der Realpräsenz und von der manducatio oralis, dem mündlichen Empfang des Leibes Christi, die zu den Streitpunkten des vom Großen Kurfürsten angeordneten Religionsgesprächs gehörten, werden die lutherische Bußlehre mit ihrer Auffassung von contritio und fides oder die Lehre von der leiblichen Auferstehung in einer Weise behandelt, die immer wieder fast wörtlich an entsprechende Stellen in verbreiteten Darstellungen lutherischer Glaubenslehre wie Luthers Katechismen, der für Paul Gerhardt so existenzbestimmend gewordenen Formula Concordiae oder L. Hutters Compendium Locorum Theologicorum anklingt. Solche Lieder bestätigen, wie wenig es einen Gegensatz zwischen dem frommen Liederdichter und dem an den Bekenntnisschriften hartnäckig festhaltenden Berliner Prediger gibt. Freilich sind das nicht die vorherrschenden Liedtypen. Man darf – auch wenn eine historisch zureichende, von der Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts ausgehende dogmatische Untersuchung Paul Gerhardts noch aussteht – bei diesem wie bei jedem anderen geistlichen Dichter des 17. Jahrhunderts nicht das suchen, was Sache der gelehrten Dogmatiker und Kontroverstheologen ist. So wenig wie um einen vollständigen Psalter oder einen Perikopenzyklus ist es Paul Gerhardt um ein dogmatisches Kompendium gegangen. Vielmehr sind bestimmte Teile christlicher Lehre und christlicher Glaubenserfahrung auffällige Schwerpunkte seiner Lieder. Neben Liedern auf die herausragenden Ereignisse der Heilsgeschichte und die ihnen zugeordneten hohen Feste, die von der mitleidend-reuigen Betrachtung der Passion (Ein Lämmlein geht und trägt die schuld ..., O Haupt vol Blut und Wunden ..., O Welt sieh hier dein Leben ...) oder von der Freude der Weihnachtsbotschaft und der Auferstehung erfüllt sind, stehen einerseits Lieder der Buße, der Anfechtung, des Kreuzes, in denen auch das der Zeit so vertraute Vanitas-Motiv nicht fehlt, andererseits aber und vor allem Lieder des Trostes, der Freude, der Zuversicht und des Vertrauens und einer davon bestimmten christlichen Lebensführung (Befiehl du deine Wege ..., Du meine Seele singe ..., Gib dich zu frieden / und sey stille ..., Ich hab in Gottes Hertz und Sinn ..., Ich singe dir mit Hertz und Mund ..., Ist Gott für mich / so trete ..., Nun dancket all und bringet Ehr ..., Solt ich meinem Gott nicht singen ..., Warumb solt’ ich mich dann grämen ...). Es sind – mit einem zentralen Wort der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts gesagt – vor allem Lieder der praxis pietatis, die der dichterischen Erscheinung Paul Gerhardts das besondere Gepräge geben und deren Rezeption bis heute vor anderen beherrscht haben. Sie unterscheiden sich – das ist oft betont worden – gewiß von den Liedern Luthers und anderer Dichter des 16. Jahrhunderts, die ganz vom Bekenntnis der neu errungenen Glaubenseinsichten leben. Aber die Lieder einer praxis pietatis bei Paul Gerhardt ruhen auf dem Fundament dieser Glaubenseinsichten. Neben dem Vertrauen zu Gott als dem Schöpfer und Erhalter im Sinne der loci theo-
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logici de creatione und de providentia Dei ist es die immer wieder bekundete Gewißheit der Erlösung durch Christus und die darauf beruhende, in Dreiviertel dieser Lieder – und sei es auch nur als knapp angedeuteter Ausblick – vergegenwärtigte Verheißung der ewigen Herrlichkeit, was die Spannung von Buße, Anfechtung, Kreuz und Trost, Vertrauen, Ergebung trägt, was vielen Liedern trotz erfahrenem Leid ihren zuversichtlichen, ja freudigen Ton gibt, was Sonne und Licht zu häufigen Bildern werden und das Bewußtsein der Vanitas doch nicht den Blick auch für die Schönheiten und Gaben der irdischen Welt und für die Anforderungen des irdischen Lebens (etwa in den Ehestandsliedern) völlig verstellen läßt. Das lutherische sola fide ist die Bedingung für Paul Gerhardts Lieder. Ihre getroste Glaubenszuversicht ist eine Frucht der lutherischen Reformation und ihrer Rechtfertigungslehre. Es ist freilich richtig, daß bei Paul Gerhardt das einzelne gläubige Ich stärker und häufiger als im Kirchenlied des 16. Jahrhunderts hervortritt. Dafür sind nicht einmal so sehr die oft bemerkten, nicht selten übrigens auf biblische Vorlagen zurückgehenden Liedanfänge kennzeichnend, die mit „Ich“ beginnen, als vielmehr jene Lieder, die die Taten des Schöpfers und Ereignisse der Heilsgeschichte vergegenwärtigen und – sei es im Wechsel der Strophen oder Strophenteile, sei es in einem zweiten Teil oder ganz am Ende – auf die Situation des gläubigen Ich beziehen (Wie sol ich dich empfangen ..., Frölich sol mein Hertze springen ..., Ein Lämmlein geht und trägt die schuld ..., O Welt sieh hier dein Leben ..., Auf / auf / mein Hertz mit Freuden ..., Solt ich meinem Gott nicht singen ... und andere mehr). Aber es ist weder in einem positiven noch in einem negativen Sinne so, daß hier ein individuell empfindendes Ich sich in Vorwegnahme einer späteren Phase der Lyrikgeschichte verselbständigte. Wie denn auch Paul Gerhardts Abendlied (Nun ruhen alle Wälder ...) und sein Sommer-Gesang (Geh aus mein Hertz und suche Freud ...) mißverstanden werden, wenn man sie um einiger Verse und Strophen willen als Vorklang späterer Naturlyrik betrachtet und jene durchgehende geistliche Deutung der Natur übersieht, die deren Vergegenwärtigung erst rechtfertigt. Auch in Paul Gerhardts Liedern spricht ein überpersönliches Ich, das Ich jedes Gläubigen, wie schon in der Gebetsliteratur und im Kirchenlied des 16. Jahrhunderts. Was sich hier und bei anderen geistlichen Dichtern des 17. Jahrhunderts verstärkt, das ist die Applikation der überlieferten Glaubenslehren auf das Leben jedes einzelnen Gläubigen, das Bemühen, der persönlichen Aneignung der Glaubenslehren den Weg zu bereiten. Daraus entsteht jene Haltung betrachtender Andacht, erbaulicher Meditation in Paul Gerhardts Liedern, die in deren Publikationsform und schon in den Titeln von Crügers und Ebelings Sammlungen ihre Entsprechung findet und auch die frühe Rezeption in den verschiedenen Formen erbaulicher Literatur mit ihrem typischen gegenseitigen Austausch von Texten und die Komposition der Lieder bestimmt.
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Paul Gerhardt steht damit im Zusammenhang einer allgemeinen frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung, in der seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert mit wachsendem zeitlichen Abstand von der Reformation und der frischen Ursprünglichkeit ihrer Erfahrungen verstärkt nach der Möglichkeit persönlicher Aneignung der in der Reformation gewonnenen Glaubenswahrheiten gefragt wird. Im Dienste solchen Fragens vollzieht sich auch die Rezeption mystischer Überlieferung, die im 17. Jahrhundert unter anderem in der Erbauungsliteratur zu beobachten ist. Ähnlich wie bei Dichtern und Predigern wie Johann Heermann oder Valerius Herberger oder wie mittelbar bei Andreas Gryphius begegnet sie bei Paul Gerhardt, dem nachdichtenden – und dabei manche mystischen Züge dämpfenden – Leser von Arndts Paradiesgärtlein, als ein Element einer neuen, innerlichen Frömmigkeit, für die „Andacht“, „Erbauung“, „praxis pietatis“ zentrale Vokabeln sind. Die Verknüpfung solcher Frömmigkeit mit dem Eintreten für die unverfälschte rechte Lehre macht das Wesen der sogenannten lutherischen Reformorthodoxie aus, zu der auch Paul Gerhardt gehört. Man kann die Lieder Paul Gerhardts und vieler Zeitgenossen als Erbauungs- oder Andachtslieder von den Bekenntnisliedern des 16. Jahrhunderts abgrenzen. Aber sie stehen zu diesen nicht im Gegensatz, verdrängen sie nicht, lösen deren Tradition nicht auf. Gerichtet vor allem auf die häusliche Andacht und die Erbauung des Einzelnen, sind sie ihrer Haltung und Funktion nach Ergänzung und Erweiterung des überkommenen reformatorischen Liedbestandes, der noch lange im Gottesdienst vorherrscht und damit eine Gegenwärtigkeit besitzt, die als Hintergrund für Eigenart und Absicht der darüber hinausgehenden und doch nicht davon fortführenden Lieder Paul Gerhardts gesehen werden muß und auch deren nur langsames Eindringen in den gottesdienstlichen Gebrauch verständlich macht. Von Johann Crüger bis heute hat die Länge der Lieder Paul Gerhardts – nur gut ein Drittel hat weniger als zehn Strophen, fast ebenso viele hingegen sogar mehr als fünfzehn Strophen – die Gesangbuchherausgeber zu Kürzungen veranlaßt. Das ist für die praktische Nutzung der Lieder im Gemeindegesang wohl unvermeidlich und kann auch ein gewisses gattungstheoretisches Recht für sich beanspruchen, sofern der humanistischen und barocken Poetik Kürze als ein Gattungsmerkmal der sangbaren lyrischen Dichtung, der Ode oder des Liedes gilt. Aber mit solchen Kürzungen, die nicht selten unentbehrliche Motive und Verbindungsstücke treffen, mit der immer wieder vorgetragenen Kritik am Umfang Gerhardtscher Lieder werden der Grund solcher Länge und die Bauform der Lieder verkannt. Ihre Länge erwächst aus der Haltung andächtiger Meditation, der es um eine eindringliche Erwägung der geistlichen Erfahrungen, um eine vielseitige Betrachtung und umfassende Aneignung der Glaubenswahrheiten geht. Es ist die Haltung der Gebets- und Erbauungsliteratur, die gerade darin solcher geistlichen Dichtung aufs engste verwandt ist und sie mannigfach
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befruchtet und deren Texte dadurch dieselbe Breite andächtiger Betrachtung haben. Die Vorrede zur Eislebener Ausgabe von Paul Gerhardts Liedern von 1700, die diesen den „Preiß ... vor allen Gesängen“ und Arndts Paradiesgärtlein „vor allen Gebet-Büchern unserer Zeit“ zuerkennt, stellt denn auch, einem Hinweis Arndts folgend, zum Zwecke erbaulicher Benutzung „einem jeden frey ... nach seiner Andacht aus einem Gebete (also auch aus einem Liede) zwey oder drey zu machen“. Die Haltung andächtiger Meditation aber verwirklicht sich in Paul Gerhardts Liedern erst, indem der so gegebene weiträumige Rahmen der Betrachtung gefüllt wird mit Bauformen, die aus der rhetorisch-dialektischen Schulung der Zeit erwachsen und klare Verfahrensweisen der Themenentfaltung ermöglichen. Durchgehende Entgegensetzung von irdischen Erscheinungen und deren geistlicher Deutung im Blick auf die Ewigkeit innerhalb jeder einzelnen Strophe (Nun ruhen alle Wälder ...) oder in der ersten und der zweiten Gedichthälfte (Geh aus mein Hertz und suche Freud ...), – Orientierung der Strophenfolge an den Prädikaten des Heiligen Geistes und ihrer amplifizierenden Erläuterung (Zeuch ein zu meinen Thoren ...), – Entgegensetzung der göttlichen Personen mit ihren verschiedenen Eigenschaften und Gaben und der Geringfügigkeit des dank jenen Gaben dennoch getrosten gläubigen Ich (Ist Gott für mich / so trete ...), – eine Folge von Glaubensargumenten und geistlichen Erfahrungen, auf denen die Getrostheit in allem Unglück beruht (Warumb solt’ ich mich dann grämen ...), – Auslegung eines anaphorisch am Beginn jeder Strophe wiederholten Stichworts im Blick auf verschiedene loci topici wie Ursachen, Eigenschaften, Wirkungen (Gedult ist euch von nöhten ...), – systematisch verfahrende Darlegung der göttlichen Personen, der Schöpfung, der Fürsorge Gottes auch im Kreuz als bestätigender Argumente eines unerschütterlichen Gottvertrauens (Solt ich meinem Gott nicht singen ...), – bittende Hinwendung zu Gott als Folgerung aus einer Reihung von Exempeln für die Vergeblichkeit menschlichen Denkens und Tuns (Ich weis / mein Gott / daß all’ mein Thun ...), – argumentatorische Ausformung von Texten bis in einzelne Strophen und Wendungen hinein (Warumb wiltu draussen stehen ..., Ich hab’ offt bey mir selbst gedacht ..., Du bist ein Mensch / das weist du wol ..., Ich hab in Gottes Hertz und Sinn ..., Frölich sol mein Hertze springen ... und andere mehr), – die planvolle Verknüpfung der Strophen auch in Liedern, die sich paraphrasierend eng an biblische Vorlagen halten, oder all jene Lieder, in denen ein großer Spannungsbogen zum eschatologischen Ausblick am Ende hinführt, – das alles sind Beispiele wohlüberlegter Bauformen, die zugleich mit einer historischen Untersuchung des dogmatischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Gehalts einer näheren Analyse nach Maßgabe der zeitgenössischen Anleitungen zur Textverfertigung bedürften. Einer davon getragenen Gestaltungsweise, die sich mit Bedacht der Einzelschritte abgrenzenden und zugleich
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verbindenden Strophenfolge des Liedes zu bedienen weiß, in solcher Verknüpfung mit der Liedform aber allen argumentativen Zügen den Charakter bloß rationaler Darlegung nimmt und sie in den Gang des Ganzen einschmilzt, verdanken Paul Gerhardts Lieder ihre Eindringlichkeit und Wirkungskraft ebenso wie der Art, wie sie sich zu Sprache und stilistischen Normen der Zeit verhalten. Wie die Lieder Paul Gerhardts, so eng auch ihr Zusammenhang mit der Gattungsüberlieferung des 16. Jahrhunderts ist, auf ganz selbstverständliche Weise in ihrer Metrik und Sprachbehandlung den seit Opitz entwickelten Grundsätzen entsprechen, so erweisen sie den Autor auch als völlig vertraut mit der Verwendung rhetorischer Figuren nach den Erwartungen der Zeit. In nicht wenigen Texten finden sich Antithesen, Synonymien und andere Formen der adiectio, Anaphern (O Haupt vol Blut und Wunden ..., Gedult ist euch von nöhten ..., Ich singe dir mit Hertz und Mund ... oder Du meine Seele singe ...) und manches sonst als Mittel eindringlicher Aussage und steigernder Verknüpfung affektgerichteten Sprechens. Aber es ist andererseits – schon die frühen Äußerungen Neumeisters oder Feustkings deuten darauf hin – nicht zu verkennen, daß Gerhardt von solchen Möglichkeiten sehr viel zurückhaltender Gebrauch macht als viele seiner Zeitgenossen, wie denn auch das Vorkommen metaphorischer Formen oder die Benutzung von Epitheta bei ihm begrenzt und oft unauffällig und seine Syntax leicht überschaubar ist. Darin hat man oft Kennzeichen einer Einfachheit gesehen, die man gerne als Merkmal einer von der zeitgenössischen Literatur unterschiedenen und in solcher Unterscheidung begründeten Eigenart Paul Gerhardts verstanden hat. Doch tritt der Dichter damit nicht aus seiner Zeit heraus. Paul Gerhardts Einfachheit ist die Einfachheit des sermo humilis, des einfachen Stils, der als beherrschende, wenn auch nicht ausschließliche Stilform vieler Arten von geistlicher Literatur eine lange Tradition seit Augustin und dessen Anweisungen zur christlichen Anwendung der antiken Rhetorik hat. Er ist unter anderem die Stilform der unterrichtenden und erbaulichen, der zu solchem Zweck Vorlagen paraphrasierenden, der für jedermann bestimmten geistlichen Literatur, er gehört zu Gattungen wie der Predigt oder dem Lied. Sermo humilis, Beziehung zu Vorlagen, Haltung der Meditation, Weckung der Andacht als Zweck wie in der Erbauungsliteratur, gattungsgerechter, das Gebot einer Vermeidung des Enjambements mit großer Entschiedenheit und fast ohne Ausnahme einhaltender und damit den sermo humilis begünstigender Gebrauch der Liedform, nahe Beziehung zur Musik und ganz auf die andächtige Benutzung nur zielende Form der Publikation gehören darum bei Paul Gerhardt aufs engste zusammen. Es ist insofern nicht unverständlich, daß die geläufig gewordene, gebrauchsnahe, aber damit auch einseitige Auswahl aus seinen Liedern, wie sie das heutige Evangelische Kirchen-Gesangbuch bietet, eine Reihe von besonders konsequenten Beispielen des sermo humilis enthält, daß sie vor allem diese ungekürzt
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läßt, in anderen Liedern hingegen wiederholt gerade bei davon abweichenden Stellen kürzend eingreift. Allerdings engt solche Auswahl, die für die spätere Wirkung Paul Gerhardts weitgehend bestimmend geworden ist, das Bild seiner Dichtung auch in stilistischer Hinsicht ein. Denn so sehr der sermo humilis für sie maßgeblich ist und, zumal in der Verbindung mit dem Lied, abermals auf den Zusammenhang der geistlichen Dichtung des Barock mit Überlieferungen des 16. Jahrhunderts verweist, so wenig ist doch Paul Gerhardt auf eine einzige und einfachste Form solchen Stils festgelegt. Wie andere Dichter der Zeit, die auch für eine geistliche Dichtung in höherem Stil eintreten, zugleich den sermo humilis als eine wesentliche Stilform geistlicher Literatur anerkennen und in bestimmten Werken benutzen und damit deutlich machen, wie er in das für die Literatur der Zeit, für ihre Gattungen, Gegenstände und Wirkungsmöglichkeiten fundamentale rhetorische Stilsystem der genera dicendi, die doch keine starren Größen sind, eingeordnet ist, so kennt Paul Gerhardt seinerseits im Sinne jenes Stilsystems Abstufungen und damit auch Möglichkeiten einer reicheren Ausgestaltung des sermo humilis. Vom Affekt geistlicher Freude beherrschte und auf dessen Weckung zielende Festlieder etwa begnügen sich weniger mit der einfachsten Form des sermo humilis als Lieder von eher belehrendem oder schlicht bekennendem Charakter. Gerade aus solcher Variabilität der Handhabung im Verein mit der vollkommenen Beherrschung einer seit Opitz außerordentlich geschmeidigten Sprache gewinnt der sermo humilis, an welchem Paul Gerhardt so entschieden – auch in seinen Predigten übrigens – festhält, den er dabei aber so kunstreich ausformt wie andere Autoren der Zeit andere Stillagen, seine Bedeutung für die verschiedenen Themen von Paul Gerhardts andächtiger Lieddichtung. Erst in solchem aus barocker Formgesinnung erwachsenden Zusammenspiel von Thematik und beweglicher Ausgestaltung der zugehörigen Stillage ist der altüberkommene sermo humilis in seiner hier erreichten einfachen Klarheit ein in der Tat auffälliges und wesentliches Merkmal von Gerhardts Dichtung. Paul Gerhardts Erscheinung – bis heute kaum wirklich erforscht – ist nicht richtig gezeichnet, wenn man sich damit begnügt, in ihr „fast ... ein geschichtliches Rätsel“ (W. Trillhaas) zu sehen. Sein Werk und seine Wirkung lassen sich besser verstehen, wenn man beachtet, was darin – wie auch bei anderen Dichtern geistlicher Lieder und in manchen anderen Formen der geistlichen Literatur der Epoche – zusammentrifft: lutherische Rechtgläubigkeit und vertiefte innerliche Frömmigkeit, Liedtradition, reformatorische Musikanschauung, sermo humilis und barocke Sprachpflege, barocker Formsinn, Bindung an biblische Texte und an mancherlei Beispiele geistlicher Literatur, Meditationshaltung der Gebets- und Erbauungsliteratur und zeitgemäße rhetorisch-dialektische Schulung. Es gibt darum keinen Zwiespalt in Paul Gerhardts Erscheinung selbst und
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keinen Gegensatz zur Zeit. Seine Ferne vom literarischen Leben seiner Zeit, die weitgehende Unbekanntheit seiner Biographie und die Wege seiner Wirkung erklären sich aus Absicht und Eigenart seiner Dichtung und sind auf ihre Weise kennzeichnend für die Erscheinungsformen und die Bedeutung geistlicher Literatur im 17. Jahrhundert. Es ist der Prediger und Seelsorger Paul Gerhardt, der seine Lieder im Geiste der Reformation und der lutherischen Reformorthodoxie und ihrer Frömmigkeit schreibt und zugleich für die Reinheit der Lehre eintritt und leidet. Aber er gelangt zu der beabsichtigten und zu seiner dauernden Wirkung nur, indem er diese Lieder in der formalen Schulung, mit den literarischen Mitteln seiner Zeit schreibt. Dem verdanken seine Texte ihre klare Faßlichkeit und ihre anrührende Eindringlichkeit, damit erst gewinnen sie ihren Rang. Paul Gerhardt ist ein Exempel dafür, daß nicht schon fromme Gefühle große, wirkungsreiche geistliche Dichtung hervorbringen, sondern erst die Verbindung mit einer eigenständigen Formkraft, die sich in den Dienst des Glaubens stellt. Durch die unbeirrte, ja einseitige Konsequenz, mit welcher der Prediger Paul Gerhardt auch dies tut und jene verschiedenartigen geschichtlichen Voraussetzungen in seinem Werk aufs engste miteinander verschmilzt, ist er in der reichen geistlichen Literatur des 17. Jahrhunderts eine herausragende Gestalt.
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2 Friedrich Gottlieb Klopstock Der Chor der Stimmen, die – bedauernd oder ironisch – eine nachlassende Resonanz, eine begrenzte Bekanntheit seines Werks konstatieren, ihm eine nur sehr eingeschränkte Bedeutung attestieren, ist schon früh ebenso groß und gewichtig wie die Zahl derjenigen, die seine starke und bis in die Gegenwart anhaltende Wirkung bezeugen. Obgleich Klopstock vom Augenblick seines ersten Auftretens und des um die Anfänge des Messias geführten und zu seinen Gunsten entschiedenen Streites an sofort ein ungewöhnlich bekannter Autor und eine der beherrschenden Gestalten der Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, exemplifiziert Lessing, der über ihn neben Zustimmung manche spitze Bemerkung hat fallen lassen, schon 1753 im ersten Stück seiner Sinngedichte, das man dann immer wieder bis zum Überdruß zitiert hat, die Gefahr der Distanz zwischen Autoren und einem mehr lobenden als lesenden Publikum gerade am Namen Klopstocks. Schon lange vor dem Teufel in Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, der sich des Messias als eines probaten Schlafmittels bedient, erfährt Karl Philipp Moritz’ autobiographischer Romanheld Anton Reiser entsetzliche Langeweile unter dem Zwang, eine Lesung des Epos anzuhören und über das Gehörte auch noch entzückt zu sein. Goethe hat in Dichtung und Wahrheit auf ergötzliche Weise die frühe Wirkung des Messias bezeugt, im Werther ist Klopstocks Name ein Erkennungswort gleichgestimmter empfindsamer Seelen, und den Dichter des Werther begeistert zu gleicher Zeit die Gelehrtenrepublik als die „Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker, die einzige Regeln die möglich sind“ (Brief an G. F. E. Schönborn, Juni 1774). Der alte Goethe aber, im Gespräch mit Eckermann etwa oder an manchen Stellen der Autobiographie, betrachtet Klopstock, bei aller Würdigung seiner Bedeutung, mit deutlich spürbarer Reserve. In der Karlsschule argumentiert der junge Schiller in Festreden mit Klopstock-Zitaten, seine Lyrik ist tief beeinflußt von der Klopstocks, aber später, in Über naive und sentimentalische Dichtung, unterzieht er den Älteren einer zwar nicht kleinlichen, aber unnachsichtigen Analyse, nennt ihn, der allem, was er behandle, den Körper ausziehe, um es zu Geist zu machen, einen „Abgott der Jugend, obgleich bey weitem nicht ihre glücklichste Wahl“, bangt für den Kopf desjenigen, „der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuche machen kann“. Vom jungen Wieland, von Bürger, Hippel, von Fichte gibt es verehrungsvolle Briefe an Klopstock. Schubart ist sein begeisterter Propagator im südlichen Deutschland. Für Hamann ist Klopstock der „große Wiederhersteller des lyrischen Gesanges“ (Kreuzzüge des Philologen, Aesthetica in nuce), für die Ausbildung von Herders Lyrikanschauung ist er ein bestimmendes Paradigma. Die Mitglieder des Göttinger Hains widmen Klopstock 1773 einen ganzen handschriftlichen Band ihrer
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Gedichte. Die Lyrik Hölderlins ist ohne die vorangegangene Klopstocks kaum zu denken. Die Vorstellung, die die Zeitgenossen von einer Ode haben, ist ganz von Klopstocks Dichtung geprägt. In vielen Teilen Deutschlands, in bestimmten literarischen Kreisen hat es auch im späten 18. Jahrhundert, als schon längst Andere, Jüngere die literarische Szene beherrschten, eine lebendige Beziehung zu seinem Werk gegeben. Doch daneben stehen Kritiker wie Lichtenberg, Jean Paul, August Wilhelm Schlegel oder Friedrich Schlegel, deren skeptische, ja oft maliziöse Bemerkungen die anerkennenden überwiegen. Und in der spekulativen Ästhetik, bei Solger, Schelling, Hegel, Vischer figuriert der Messias zusammen mit Miltons Paradise lost als einigermaßen abschreckendes Exempel einer, wie man meint, geschichtsphilosophisch erwiesenen und nur von diesen Dichtern verkannten Unmöglichkeit des Epos in der Neuzeit. Für die Zeitgenossen ist Klopstock jemand gewesen, an dem man nicht vorbeisehen konnte, der viele begeisterte und eigentlich jedem gegenwärtig war, der einem aber auch zu schaffen machte und dem man sich schließlich doch sehr entfremdet glaubte. Ihm das Verdienst eines entscheidenden Durchbruchs zuzuschreiben, zugleich aber seine Bedeutung darauf beschränkt zu sehen und dies teils durch die historischen Umstände, teils durch persönliche Eigenheiten zu erklären, Einzelnes an seinem Werk zu preisen, aber zunehmend Vieles abzulehnen – das bildet sich in Klopstocks letzter Lebenszeit und nach seinem Tod im frühen 19. Jahrhundert als das übliche Urteil der Zeitgenossen heraus. Die Klopstock-Forschung hat davon dann viel übernommen, sie hat sich selten frei vom Zwang zur Apologie ihres Autors gefühlt und oft schon vorbeugend bereitwillig erklärt, daß kaum etwas von ihm noch unmittelbar zur jeweiligen Gegenwart sprechen könne. Und doch hat Klopstock – und es waren dabei ganz verschiedene Teile seines Werks im Spiel – immer wieder auch im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein auf die Literatur produktiv eingewirkt oder wenigstens zur Stellungnahme herausgefordert. Rilke oder George, Weinheber, Friedrich Georg Jünger, Hans Henny Jahnn oder Brecht sind dafür zu nennen oder aus jüngster Zeit Namen wie Arno Schmidt, Johannes Bobrowski, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf. Weder die Meinung der Zeitgenossen noch die Frage nach der Lebendigkeit in diesem oder jenem späteren Augenblick kann ein zulänglicher Maßstab für geschichtliches Verstehen einer auf jeden Fall zeitlich entfernten Erscheinung sein. Aber die eigentümlichen Widersprüche, ja schroffen Gegensätze in der Wirkung Klopstocks können dazu hinleiten und den Blick schärfen. Wie lassen sie sich in Hinsicht auf Person und Lebensgang, Werk und historische Situation begreifen? Der am 2. Juli 1724 in Quedlinburg als Sohn eines fürstlich-mansfeldischen Kommissionsrats Geborene erhält den wichtigsten Teil seiner Schulbildung in den Jahren 1739–1745 in Schulpforta, gründlich vor allem in den alten Sprachen
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und der antiken Dichtung. Er beginnt mit dem Studium der Theologie in Jena, setzt es 1746 in Leipzig fort, ohne es je abzuschließen. Hier kommt er in Kontakt mit dem aus dem Banne Gottscheds sich lösenden Kreis der „Bremer Beiträger“, in deren Zeitschrift 1748 die ersten drei Gesänge des Messias erscheinen. Nach kurzer Tätigkeit als Hauslehrer in Langensalza, Heimat der von ihm unter dem Namen Fanny umworbenen Kusine Maria Sophia Schmidt, reist Klopstock 1750 nach Zürich auf Einladung Bodmers, mit dem es jedoch, weil seinen Erwartungen die Lebenshaltung des jungen Dichters nicht entspricht, bald zu Konflikten kommt. Nachdem er in diesen Jahren da und dort fürstliche Unterstützung zu gewinnen gehofft, auch die Bemühung um eine Professur der Poesie oder Beredsamkeit erwogen hat, erhält Klopstock auf Veranlassung des dänischen Ministers Graf Bernstorff von König Friedrich V. von Dänemark eine Pension, bestimmt zur Vollendung des Messias, dann lebenslänglich gewährt. Im Frühjahr 1751 siedelt Klopstock nach Kopenhagen über. Auf dem Wege dorthin lernt er in Hamburg die dreiundzwanzigjährige Meta Moller, die er dann in seinen Oden Cidli nennt, kennen. Mit ihr spinnt sich, während er immer noch auch mit der spröden Fanny korrespondiert, ein lebhafter, so neckender wie empfindungsreicher Briefwechsel an. Im Sommer 1752 kommt es zur Verlobung, am 10. Juni 1754 findet in Hamburg die Hochzeit statt. Nach wenigen glücklichen Jahren stirbt Meta Klopstock am 28. November 1758 an der Entbindung von einem totgeborenen Sohn. Ihr Trauerspiel Der Tod Abels, einige andere Schriften und Auszüge aus dem Briefwechsel publiziert Klopstock zu ihrem Gedenken 1759 für ein teilnehmendes Publikum. In Dänemark, wo es im 18. Jahrhundert im politischen und kulturellen Leben vielfache enge Beziehungen zu Deutschland gegeben hat und wo pietistische Strömungen die Aufnahme von Klopstocks Dichtung vorbereitet hatten, bleibt Klopstock bis 1770. Dann folgt er seinem ins Exil gehenden Gönner, dem von Struensee gestürzten Minister Bernstorff, und läßt sich in Hamburg nieder. 1774/75 ist Klopstock auf Einladung des Markgrafen Carl Friedrich von Baden, der ihm als „Dichter der Religion und des Vaterlandes“ wie früher schon der dänische König eine Pension gewährt, für einige Monate in Karlsruhe, kann sich aber zu dauerndem Aufenthalt dort nicht entschließen. 1791 geht er eine zweite Ehe ein, mit der verwitweten Johanna Elisabeth von Winthem, einer Nichte Meta Mollers. Am 14. März 1803 stirbt Klopstock in Hamburg, am 22. März wird er mit großer öffentlicher Anteilnahme in Ottensen feierlich zu Grabe getragen. Das lange Leben des früh Berühmten ist an äußeren Ereignissen nicht reich gewesen. Dank der auf die große Wirkung des Messias zurückgehenden fürstlichen Unterstützung, die ungeachtet der nicht einmal schlechten Honorare dieses Autors die eigentliche materielle Grundlage bot, erhielt es schon früh die fürs 18. Jahrhundert keineswegs selbstverständliche Form einer von allen Berufs-
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pflichten freien, allein dem dichterischen Werk gewidmeten Existenz. Davon bleibt das ganze Leben geprägt, und das entspricht der Auffassung von Rang und Bedeutung der Dichtung und des Dichters, die Klopstock die Unterstützung eines Werks wie des seinen geradezu als eine Ehrenpflicht deutscher Fürsten ansehen und ihn ob der Mißachtung solcher Pflicht und überhaupt der deutschen Literatur zum grollenden Gegner Friedrichs II. von Preußen werden ließ. Er ist bei alledem kein weltfremder Poet. Der empfindungsreiche Dichter des Messias und der Oden ist ein gewandter Schwimmer, Schlittschuhläufer, Reiter, der noch im hohen Alter dem Freunde Gleim schreibt: „warum unterstehen Sie sich denn, daß Sie so lange leben, da Sie doch nicht reiten?“ (7.11.1795). Eine von der Neologie geprägte, aber auch vom Pietismus beeinflußte tiefe Religiosität, die sich ergreifend im brieflichen Bericht an den Freund Cramer vom 5. Dezember 1758 über Metas Tod äußert und die ihn zum Feind aller Freigeisterei machte, ist die Grundlage seines Werks, sie läßt ihn immer wieder interessiert sein an dessen moralischer Wirkung auf die Leser. Das hindert nicht, daß er bemüht ist, auch einen angemessenen materiellen Gewinn aus seinem Werk zu ziehen, und bereit, hartnäckige Auseinandersetzungen mit seinen Verlegern zu führen. Bei zwei Werken, der Gelehrtenrepublik und der abschließenden, sogenannten Altonaer Ausgabe des Messias, erprobt er deshalb dank einem ausgeklügelten Subskriptions- und Vertriebssystem mit Erfolg den Weg des Selbstverlags, auch in der Absicht, damit den Verlags- und Buchhandelspraktiken der Zeit und insbesondere dem Unwesen des Nachdrucks entgegenzuwirken und andere Autoren zur Nachahmung zu ermuntern. Für allgemeinere kulturpolitische Belange setzt sich Klopstock auch ein, als er 1768 – freilich vergeblich – versucht, Joseph II. für einen großen Plan zur Förderung der Wissenschaften und der Künste in Deutschland zu gewinnen. Solche Bemühungen haben, neben dem hohen Anspruch des Werks selbst, Teil an der Bedeutung, die nach dem Zeugnis Goethes im 10. Buch von Dichtung und Wahrheit Klopstocks schriftstellerische Existenz für Ansehen und Wirkungsmöglichkeiten der Literatur im Deutschland des 18. Jahrhunderts gehabt hat. Öffentlichen Dingen ist Klopstock ebenso durch sehr entschiedene politische Anschauungen zugewandt, die er wiederholt in seinen Oden bekannt hat. In Friedrich V. von Dänemark sieht er die seltene Verkörperung eines Ideals, an dem er andere Fürsten seiner Zeit kritisch mißt. Er ist ein Gegner von Eroberungskriegen, er tritt für die Bauernbefreiung ein, begeistert sich für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Französische Revolution. Zwar sieht er dann deren Ideale durch die Jakobiner verraten und spricht das mit harten Worten in seinen Oden aus. Aber er weigert sich beharrlich, wiederholten unerbetenen Ratschlägen zu folgen und das ihm verliehene französische Bürgerrecht zurückzugeben, an dem ihm besonders wichtig ist, daß es ihn auch zum Mitbürger George Washingtons macht. Es sind zwar nicht
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einander widerstreitende, doch zum Teil spannungsreich nebeneinander stehende Züge, es sind immer mit charakteristischer Entschiedenheit und zuweilen bis zur Schroffheit vertretene Anschauungen und Handlungen, die den Umriß der Person konstituieren. Seinen öffentlichen Initiativen und der großen Wirkung seines Werks zum Trotz steht Klopstock nicht lange im Zentrum des literarischen Lebens und hat nur begrenzt Anteil an den literarischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Deutlich wird seine Position markiert durch die Überlieferung, auf die er sich bezieht, die Autoren der eigenen Zeit, die er schätzt, die literarischen Beziehungen, die er pflegt. Die Bibel, die antiken Autoren, deren Ausgaben einen großen Teil seiner hinterlassenen Bibliothek ausmachen, vor allem Homer, Vergil, Horaz, Ps. Longin, Tacitus, dann Luther, Opitz, Leibniz, Milton – das sind die Erscheinungen der Überlieferung, die sein Denken geprägt haben, Grundlagen seines Schaffens, immer wieder genannte Gewährsleute seiner eigenen Bemühungen um die deutsche Sprache und Literatur. Aus der eigenen Zeit treten hinzu Haller, Bodmer, Breitinger, Gellert und der ganze Kreis der Bremer Beiträger, Gleim, Lessing, Herder, die Karschin, Gerstenberg, der Göttinger Hain, Fielding, Richardson, Young, Elizabeth Rowe, Macphersons Ossian. Das alles läßt er gelten, davon spricht er immer wieder, und zu vielen dieser Autoren unterhält er persönliche Beziehungen. Es ist eine unverächtliche Reihe von Namen aus Vergangenheit und eigener Gegenwart, die für Klopstocks Werk wichtig sind. Die Intensität, mit der er den meisten von ihnen zugewandt ist, hängt aufs engste zusammen mit dem Selbstverständnis und der zielstrebigen Entschiedenheit, die die Verwirklichung des eigenen Werks vorantreiben. Aber es ist auch nicht zu verkennen, daß jene Namen zwar eine sehr charakteristische Auswahl ausmachen, aber auch eine eigentümliche Eingrenzung des Interesses anzeigen – im Feld der anderen Künste haben Gluck und die Malerin Angelika Kauffmann für Klopstock eine ähnliche, anderes weithin ausschließende Bedeutung – und daß zu ihnen kaum ein Autor gehört, der erst in den 70er Jahren oder gar später hervorgetreten wäre. Dem entspricht sein Verhältnis zu den literarischen Strömungen des 18. Jahrhunderts. Klopstock beginnt als ein mit Gottsched Unzufriedener – noch heftiger verworfener und oft genannter Inbegriff von Positionen der ersten Jahrhunderthälfte ist für ihn später Voltaire –, er wird von Gottsched und seinem Kreis scharf abgelehnt und bekämpft und erfährt frühe Unterstützung von seiten der Bremer Beiträger und entschiedener Gottsched-Kritiker wie Bodmer, Breitinger, Georg Friedrich Meier. Zwischen 1750 und 1770 gehört er zu den Autoren, auf die sich das literarische Interesse besonders stark richtet. Zu Lessing und Herder hat er von mancherlei Übereinstimmung gestützte gute, wenn auch nicht immer gleich bleibende Beziehungen. Von den jugendlichen Mitgliedern des Göttinger Hainbundes läßt
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er sich feiern. Aber gegen das aufkommende Geniewesen des Sturm und Drang äußert er sich grollend. Den jungen Goethe lernt er kennen, aber es kommt bald zum Bruch. Zu Schiller gibt es keine persönlichen Beziehungen. Beide aber werden, zusamt Kant, immer mehr zum Gegenstand herber Kritik Klopstocks. Einen jüngeren Autor wie Hölderlin oder andere seiner Generation schließlich scheint der späte Klopstock gar nicht mehr wahrgenommen zu haben. Schroffe Ablehnung neben enthusiastischer Bejahung, enger Kontakt mit der aktuellen literarischen Situation und zunehmende Abwendung von ihr, trotz immer noch neuer Wirkung auf jüngere Zeitgenossen und anhaltender eigener Produktivität und Experimentierlust – das eine wie das andere zeigt sich, wenn man Klopstocks historische Stellung mit dem Blick auf Rezeptions- und Wirkungszusammenhänge zu ermessen sucht, und prägt die Physiognomie dieses Autors in auffälliger Weise. Bedeutung und Grenzen Klopstocks scheinen sich da sehr plastisch herauszuheben. Verwunderlich ist es darum wohl nicht, daß man Klopstock oft nur als einen Vorläufer, einen bloßen Wegbereiter der Klassik verstanden, daß man fast nur seine frühen Werke, die ersten Gesänge des Messias und die frühen Oden, hat gelten lassen und in ihm im übrigen einen früh Erstarrten und schon zu Lebzeiten Überholten hat sehen wollen. Aber ist das richtig oder in welchem Sinne könnte das richtig sein? Manche gern gebrauchten werkgeschichtlichen Argumente jedenfalls stimmen nicht: viele Partien der späteren Messias-Teile, die angeblich weniger ursprünglich als die ersten Gesänge sein sollen, sind auch schon früh entstanden, und die späten Oden sind keineswegs nur Repetition von früh Erreichtem, sondern haben vielfach ihre eigene, auch lebensgeschichtlich bedingte Thematik und entsprechend verwandelte Bauformen. Man sieht in jenen Klischees Klopstock zu sehr mit den Augen seiner jüngeren Zeitgenossen, die ihn für sich, bei allem erfahrenen Einfluß, als nach und nach überholt ansehen und nach anderem streben durften. Man sieht ihn aber auch, wenn man seine Leistung als Vorläufer mit Begriffen wie Erneuerung der Dichtung, des Dichtertums näher zu bezeichnen sucht, zu sehr isoliert von vorangegangenen Möglichkeiten und Bestrebungen der Literatur. Es gilt, genauer zu fragen, tiefer und weiter zurück zu greifen, um in seinem Werk Klopstocks geschichtliche Situation und Bedeutung zu erfassen und seine eigentümlich widersprüchliche Wirkungsgeschichte zu verstehen. Der Messias – geplant schon in Schulpforta und 1745 beim Abgang von dort in der lateinischen Abschiedsrede Declamatio qua poetas epopeiae auctores recenset Frideric. Gottlieb Klopstock insgeheim angekündigt, in der Studienzeit zuerst in einem nicht erhaltenen Prosaentwurf begonnen, dann in Hexameter umgesetzt, bis 1773 in einzelnen Teilen entstanden und nach und nach publiziert, aber auch noch nach dem endlich erreichten Abschluß bearbeitet und verändert – dieses Werk, von Klopstock als eine heilige Verpflichtung verstanden,
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ist dasjenige, was ihn sehr rasch ungemein bekannt gemacht hat. Das verdankte er nicht zum wenigsten einer ganzen Reihe von Streitschriften, die das Werk für und gegen sich hervorrief, beginnend mit der Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749) des Ästhetikers G. F. Meier. Anlaß zu starker Anteilnahme bot es nicht nur durch bestimmte, auch später noch als Verdienst anerkannte Züge und Gestalten, die das Mitfühlen eines empfindsamen Publikums zu erregen vermochten, wie am meisten Abadonna, der seinen Abfall von Gott bereuende Teufel, für dessen Erlösung, angedeutet als künftiges Ereignis des Weltgerichts schließlich im 19. Gesang, die Leser sich schon früh beim Dichter einsetzten. Aufmerksamkeit mußte der Messias vor allem auch im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Diskussion über epische Dichtung und mit den davon bestimmten literarischen Erwartungen finden. So sehr dabei freilich Homer, den der junge Klopstock in seiner lateinischen Abschiedsrede mit der Natur selbst gleichsetzt, das grundlegende Muster ist, so wenig darf man doch das Ergebnis einer längeren neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte der antiken Epik unmittelbar und allein am Maßstab der homerischen Dichtung messen. Denn dann bieten sich nur all jene Klischees der Unanschaulichkeit, der Handlungsarmut und so fort an, die der späteren Kritik geläufig geworden sind. Der Messias gestaltet in zwanzig Gesängen die Geschichte der Passion Christi und die seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Dieses Geschehen wird hineingestellt in die Weite eines unendlichen Weltraums, in dessen Darstellung Klopstock das naturwissenschaftliche Weltbild des 18. Jahrhunderts verbindet mit den überlieferten Vorstellungen vom Himmel und von der Hölle. Dargestellt wird das Geschehen der Erlösung nicht nur durch unmittelbares episches Erzählen, sondern vielfach vermittelt durch den teilnehmenden Bericht der als Mittler, Boten, Zeugen fungierenden zahlreichen Engel und durch die Schilderung der mitleidenden Trauer und dann der verwunderten Freude der Jünger und Anhänger Christi. Und erweitert und in seiner Bedeutung verstärkt wird das Geschehen dadurch, daß näher oder weiter im unendlichen Weltraum die Väter und Propheten des Alten Testaments, unter denen Adam und Eva als Stammeltern der Menschheit und Urheber ihrer Erlösungsbedürftigkeit immer wieder besonders hervortreten, zusamt den Seelen noch ungeborener Geschlechter und den Bewohnern anderer Welten als Zeugen teilnehmen und zugleich in Erinnerungen und Visionen die Stationen der Heilsgeschichte im Alten Testament und das Leben Christi bis zur Passion, die künftige Geschichte der frühen Christenheit von Pfingsten an und das Ende der Welt im Gericht vergegenwärtigen. Durch solche Ausweitung des Geschehens und seiner Spiegelungen in die Unendlichkeit von Raum und Zeit wird die Erlösung der Welt durch Christus als ein den ganzen Kosmos und die ganze Geschichte umfassender und überall mit äußerster Teilnahme erfahrener heilsgeschichtlicher Vorgang gezeigt. An ihm hat auch die
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eindringlich gezeichnete Gegenwelt der Hölle ihren Anteil, deren übermütige Herren ihre Ohnmacht erfahren und mit ihrem Winseln die Größe der göttlichen Macht und des göttlichen Handelns bezeugen müssen. Bei der Entfaltung seines großen heilsgeschichtlichen Panoramas greift Klopstock in vielfältiger Weise auf biblische Gestalten und Ereignisse, auf biblische Wendungen und Texte zurück. Das dient nicht nur einer den Umriß der Passionsgeschichte ausfüllenden und Episoden einflechtenden epischen Erfindung gemäß den gattungsgeschichtlichen Erwartungen, die sich auch in den aufs homerische Vorbild schauenden, dem Gegenstand entsprechend aber vielfach ins Geistig-Moralische verschobenen Gleichnissen geltend machen; sondern es zielt, zusamt den neuerdings wahrscheinlich gemachten Rückgriffen auf Traditionen typologischer Exegese und geistlicher Emblematik, zugleich auf die geistliche Deutung und knüpft überall an alte kirchliche Überlieferung an, so wenn Klopstock traditionell zur Passionszeit gehörende Texte wie Jes. 53 (4. Ges., v. 1090ff.) und Ps. 22 (10. Ges., v. 699ff.) oder den zur Abendmahlsliturgie gehörenden Text 1. Kor. 11, 23ff. (19. Ges., v. 618ff.) verwendet. Mit der Fülle seiner Gestalten, seiner gleichzeitigen oder auch weit in die Zeit vor- und zurückgreifenden Ereignisse und seiner heilsgeschichtlichen Bezüge zeigt das Werk das paradoxe, alles umkehrende Wunder der Erlösung durch Christus als den Leidenden und den Verherrlichten, gespiegelt in der Gliederung in zwei spannungsreich aufeinander bezogene, je zehn Gesänge umfassende Teile, von denen der erste mit den knappen, bibelnahen Versen endet: rufte: Vater, in deine Hände befehl’ ich meine Seele! Dann: (Gott Mittler! erbarme dich unser!) Es ist vollendet! Und er neigte sein Haupt, und starb (10. Ges., v. 1049ff.)
und, in Korrespondenz dazu, der zweite – weitgehend aufgelöst zuletzt in unendliche, den Aufstieg Christi durch die Himmel begleitende, Stationen der Heilsgeschichte und des künftigen Gerichts rekapitulierende und vorausnehmende Jubelchöre in zahlreichen, frei erfundenen Odenmaßen – mit den stillen Versen: So sahe den Sohn des Vaters aller Himmel Himmel! Indem betrat die Höhe des Thrones Jesus Christus, und setzete sich zu der Rechte des Vaters (20. Ges., v. 1185ff.).
Die Wirkung des groß entworfenen Werks wie die spätere Kritik an ihm lassen sich nur aus der dichtungs- und poetikgeschichtlichen wie geistesgeschichtlichen Situation begreifen, aus der es erwachsen ist. In der aus der neuzeitli-
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chen Rezeption der Antike hervorgegangenen humanistischen Poetik, die bis weit ins 18. Jahrhundert hineinreicht, streitet das Epos mit der Tragödie, der anderen Gattung hoher Gegenstände und hohen Stils, um den ersten Platz in der Hierarchie der Gattungen. An ihm unter anderem muß sich zeigen, ob eine neuzeitliche nationale Literatur fähig geworden ist, mit den antiken Mustern sich zu messen. Entsprechende Erwartungen von einem großen Epos durchziehen die deutschsprachige Poetik im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Zugleich lassen bestimmte Momente der an den antiken Mustern und im Anschluß an die antike Poetik entwickelten humanistischen Epostheorie (so das Neue und Wunderbare, die Episoden) das Epos zu einem zentralen Beispielfall in den kontroversen Diskussionen werden, die vor allem zwischen Gottsched und Theoretikern wie Bodmer, Breitinger, G. F. Meier um Spielraum und Grenzen der poetischen Erfindung, um die Rechte der poetischen Einbildungskraft, um Sinn und Anwendung der poetischen Nachahmung geführt werden. Je nach dem Standpunkt, den man gegenüber solchen Fragen und den Ansprüchen aufklärerischer Vernunft einnahm, mußte ein religiöser Stoff, wie Milton das für die englische Dichtung gezeigt hatte, geradezu als höchste Erfüllung der auf das Erhabene und Wunderbare gerichteten Ansprüche der Gattung erscheinen oder aber zu mancherlei Bedenken und Vorbehalten Anlaß geben. Mit diesen für Umschichtungen der Literaturauffassung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wichtigen Diskussionen zeigt sich Klopstock vertraut in der Abschiedsrede von Schulpforta und frühen Briefäußerungen gegenüber Bodmer wie in der dem Messias erstmals in der Kopenhagener Ausgabe von 1755 vorangestellten Abhandlung Von der heiligen Poesie, die das Werk gattungstheoretisch und theologisch rechtfertigt. Mit dem Messias schuf er ein Werk, das durch seine homerisches Vorbild und biblische Geschichte vereinende große und planvolle Konzeption in Verbindung mit dem hier erstmals richtig gelungenen deutschen Hexameter und einer dem Gegenstand angemessenen bewegt-erhabenen Sprache bei aufgeschlossenen Zeitgenossen als überzeugende Einlösung der in jenen Diskussionen entwikkelten Erwartungen und neben Milton nun als zweites Exempel für sie gelten mußte. Bodmer und G. F. Meier gehören darum zu den ersten entschiedenen Förderern des jungen Klopstock. Erfüllung ist sein Werk aber auch im Blick auf die in den größeren Umkreis der vielfältigen Formen geistlicher Dichtung gehörende Tradition der Bibelepik, die vor allem in ihrem neulateinischen Zweig längst die Verbindung von hohem, die Antike nachahmendem epischen Stil und biblischer Geschichte betrieben hatte. Und den frühen Lesern, denen, zumal wo es um das biblische Wort ging, die belehrende Funktion von Dichtung noch selbstverständlich war, muß der Messias auch als eindrucksvolle Nachgestaltung des überall noch ganz vertrauten Bibelworts in seiner Fülle ebenso wichtig gewesen sein wie als Erfüllung epischer Forderungen am biblischen Stoff.
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Schon in Herders Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias (Über die neuere Deutsche Literatur, II, 1767) aber dokumentiert sich die nun eintretende Verschiebung der literarischen Erwartungen, die die poetischen Maßstäbe überwiegen und hinter der daraus abgeleiteten Kritik den theologischen Gehalt zurücktreten läßt, um dessen Vereinigung mit den für ihn höchsten poetischen Ansprüchen es Klopstock gerade gegangen war. Zugleich verdrängt in diesen Jahrzehnten der Roman zunehmend das Epos, so produktiv dieses noch in der ersten Jahrhunderthälfte für die allgemeine Dichtungsauffassung gewesen ist und so sehr jener noch mit Vorbehalten zu kämpfen hat, im Interesse der Autoren und Leser und dann auch allmählich in der literarischen Theorie und läßt das Epos überhaupt als anachronistisch erscheinen. So setzt sich immer mehr das schon bei Herder angelegte Urteil durch, das das Einzelne gelten lassen will, aber das Ganze als Verfehlung gegen vermeintlich dauernd gültige epische Gesetze kritisiert, damit aber, was geschichtlich bedingt ist, als persönliche Schwäche des Autors verkennt und so die Eigenart und die geschichtliche Bedeutung des Messias nicht mehr begreift. Klopstocks Lyrik, wohl im Frühjahr 1747 mit den ersten Oden einsetzend, ist zunächst lange Zeit nur in Abschriften und in verstreuten, zum Teil unautorisierten Einzel- und Separatdrucken verbreitet gewesen. Erst 1771 – nachdem im selben Jahr in Darmstadt für den Kreis um die Landgräfin ein Privatdruck Oden und Elegien in vierunddreißig Exemplaren veranstaltet worden war und Schubart eine ebenfalls nicht autorisierte Sammlung Kleine poetische und prosaische Werke veröffentlicht hatte – verwirklichte Klopstock selbst erstmals den vorher wiederholt erwogenen Plan einer eigenen Ausgabe seiner Oden, die, 1798 im Rahmen der Göschenschen Werkausgabe verändert und erweitert, unter der Bezeichnung „Oden“ in Übereinstimmung mit der Lyriktheorie der Zeit neben Oden im engeren Sinne und freieren Abwandlungen der Odenform auch hymnische Gedichte und zudem eine Reihe von Elegien enthält. Daneben stehen in Klopstocks Werk Epigramme und Spruchgedichte, die, teils verstreut, teils erst 1804 in der Göschenschen Werkausgabe erschienen, wie manche der Oden vor allem literarkritische und ästhetische Fragen zum Gegenstand haben, und die 1758 und 1769 in zwei Sammlungen publizierten Geistlichen Lieder, die, wie auch die Vorreden bezeugen, im Unterschied zu den freier mit dem Bibelwort umgehenden hymnischen Gedichten an Überlieferungen des bibelnahen, stilistisch einfacheren und stärker lehrhaften geistlichen Liedes des 16. und 17. Jahrhunderts anknüpfen, wenn auch nicht ohne Abwandlungen im Sinne der das ganze Werk Klopstocks prägenden Dichtungsauffassung. Die Oden Klopstocks haben, wiewohl verhältnismäßig spät erst gesammelt, eine ähnlich starke Resonanz wie der Messias gehabt, aber anders als jener zugleich eine länger fortwirkende. Auch sie kann nicht nur von dem her, was
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als neu gelten kann, sondern muß im Zusammenhang mit den Voraussetzungen und der geschichtlichen Situation, woraus diese Gedichte hervorgegangen sind, verstanden werden. Die Erfahrung unerwiderter, mit der Hoffnung jenseitiger Erfüllung sich tröstender und die Gewißheit der in der Gestalt Cidlis endlich erfüllten Liebe, Feier der Freundschaft, Weihe der Dichtung, Amt und zumal religiöse Berufung des Dichters, Preis der Natur und Gottes als des Schöpfers und Erbarmers – das vor allem sind von Anfang an die Themen, die Klopstocks Lyrik das Gepräge geben, erweitert nach und nach um die Verherrlichung von Gestalten vaterländischer Geschichte und Beispiele der um 1770 modischen Bardendichtung, um Begeisterung für die Französische Revolution und dann herbe Enttäuschung und Kritik an ihr, um Fragen der Dichtungstheorie und schließlich zunehmend um erinnernden Rückblick wie vorausblickende Meditation über Tod und Ewigkeit. Solche Themen, in vielen Gedichten – man denke an Stücke wie Auf meine Freunde, Die Stunden der Weihe, An Gott, Der Zürchersee, Die Frühlingsfeier, Die frühen Gräber – auf unterschiedliche Weise eng miteinander verknüpft, haben, auch wenn lebens- und zeitgeschichtliche Anstöße dabei wirksam sind, ihren Ursprung nicht im Anspruch eines lyrischen Ich, nur sich selbst und seine Erfahrung auszusprechen. Sie haben vielmehr einen überpersönlichen, oft auch geradezu öffentlichen Charakter, sind nicht ablösbar vom Bezug auf ein Du oder einen Kreis Gleichgestimmter, und dem entspricht ihre Herkunft und Geschichte. Das Thema der Freundschaft etwa ist schon vor Klopstock im 18. Jahrhundert bedeutend, hat aber auch zuvor schon eine lange humanistische Tradition. Das Lob Gottes in der im Sinne des kopernikanischen Weltbilds gesehenen Natur erfüllt schon die Lyrik von Brockes und anderen. Die vor allem dem dänischen Königshaus gewidmeten Gelegenheitsgedichte führen, wenn auch mit aufschlußreichen Umprägungen der zugehörigen Topik, zurück auf ältere Erscheinungen der Trauerdichtung oder der Panegyrik. Die Art, in der Klopstocks Oden von der Französischen Revolution sprechen, läßt beispielsweise an neulateinische Oden Baldes zur Zeitgeschichte des 17. Jahrhunderts denken. Klopstocks Hymnen mit ihren Unterschieden gegenüber seinen geistlichen Liedern setzen Erscheinungsformen geistlicher Dichtung im hohen Stil aus dem 17. Jahrhundert auf ihre Weise fort. Die der Dichtung und der Gestalt des Dichters geltenden Oden greifen mancherlei Momente humanistischer und antiker Dichtungsanschauung auf. Über ihre neuzeitliche Vorgeschichte hinaus weisen Klopstocks Themen überall auf die beiden überhaupt für sein Werk konstitutiven Überlieferungsstränge, den antiken und den biblisch-christlichen zurück. Horaz und die Psalmen, Reservoir vieler einzelner Motive und Vorbild vieler Formzüge, sind für Klopstocks Lyrik die herausragenden Repräsentanten dieser Überlieferung, die ihrerseits schon vor ihm in der Lyrik eine wichtige Wirkungsgeschichte gehabt haben und auch daraus ihre Bedeutung für ihn erhalten.
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Vor solchem Traditionshintergrund erfahren die für Klopstocks Lyrik bestimmenden Themen eine unverwechselbare Ausbildung erst durch die besondere Art, in der sie hier aufgefaßt und gestaltet werden. Darstellung der Natur beispielsweise ist nicht wie bei Brockes von beschreibend-belehrender und daraus verwunderte Schlüsse auf den Schöpfer ableitender Art, sondern, auch wo in einer Ode wie Die Gestirne eine Vielzahl von Gestirnen und Sternbildern genau benannt wird, unbedingter, bewegter Preis. Oder obgleich manche der Freunde Klopstocks in die Geschichte der deutschen Anakreontik gehören, ist das Thema der Liebe bei ihm, unerachtet einiger weniger schwacher Berührungen, weit entfernt vom scherzenden Spiel anakreontischer Liebesdichtung. Die für ihn kennzeichnenden traditionsreichen Themen werden von Klopstock ganz und gar als überpersönlich-verpflichtende Ansprüche und Erfahrungen gestaltet. Die Konzentration auf diese als erhabene Anlässe lyrischen Sprechens ergriffenen Themen bedeutet, formuliert mit den aus der Rhetorik entlehnten Begriffen der um die Mitte des 18. Jahrhunderts immer noch wirksamen humanistischen Poetiktradition: Negierung der Redezwecke des docere und delectare und ausschließliche Hinwendung zum Redezweck des movere, das in der humanistischen Poetiktradition den hohen Gegenständen zugeordnet ist und demgemäß auch den hohen Stil erfordert. In seinen programmatischen Prosaschriften wie in einzelnen kunsttheoretischen Oden und Epigrammen hat Klopstock diese Position gegenüber den traditionellen Redezwecken wiederholt auch grundsätzlich ausgesprochen. Voraussetzungen seiner entschiedenen Hinwendung zum movere sind unter anderem die seit dem späten 17. Jahrhundert sich vollziehende Rezeption der Schrift des Ps. Longin über das Erhabene und das Zusammentreffen der noch wirksamen Rhetorik und der auf ihr fußenden Poetik mit der aus der aufklärerischen Lehre von den Seelenvermögen sich ergebenden Reflexion auf die Leidenschaften, ihre Erregung und Wirkung, sichtbar beispielsweise in G. F. Meiers, des frühen Klopstock-Fürsprechers, Schrift Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) oder in der Dissertation De nonnullis ad Poema Pertinentibus (1735) seines Lehrers A. G. Baumgarten, des Wolff-Schülers und Begründers der Ästhetik, wo es unter anderem heißt: „affectus vehementiores excitare magis poeticum, quam minus vehementes“ (§ XXVII). Überzeugend wirksam werden und der Gestaltung von Klopstocks Themen ihre Eindringlichkeit geben kann eine in solchen Voraussetzungen vorbereitete, allein dem movere verschriebene Lyrik freilich nur deshalb, weil es Klopstock gelingt, antike Metren nachzubilden, damit eine unmittelbar an antiken Vorbildern orientierte Odenform zu gewinnen und in ihr eine über die entsprechenden Möglichkeiten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts hinausführende Sprache des hohen Stils zu entwickeln. Auch da knüpft er an längere humanistische Bemühungen an, aber er setzt sie nicht nur fort, sondern vollendet sie. Versuche
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zur Nachahmung der antiken Metren in deutscher Sprache – Konsequenz der grundlegenden Orientierung der deutschen Literatur an der Antike seit dem frühen 17. Jahrhundert – hat es da und dort, mit halbem Erfolg und vielen Zweifeln schon vor Klopstock gegeben. Er endlich verwirklicht nicht nur den Hexameter, sondern auch die sonstigen antiken Metren von früh an mit großer Sicherheit. Das bleibt die Grundlage seiner Lyrik auch da, wo er nach und nach zu hymnischer Dichtung in von ihm durchgesetzten freien Rhythmen, zu eigenen Odenmaßen und zu noch freieren Strophenformen kommt. Zugleich zieht er aus der Reimdiskussion der Zeit die radikale Konsequenz einer so völligen Verwerfung des Reims, daß er ihn nur in einigen Spruchgedichten und im Kirchenlied gelten läßt, selbst hier aber zuweilen darauf verzichtet und die wenigen liedartigen Strophen in der übrigen Lyrik nur reimlos gebraucht. In engstem Zusammenhang mit einer metrisch-rhythmischen Gestaltung von erhaben-bewegter Strenge entwickelt Klopstock eine poetische Sprache, deren Leistung man zwar mit dem oft gebrauchten Begriff einer „Erneuerung der deutschen Dichtersprache“ – angesichts ihres Zusammenhangs mit rhetorischer Tradition und angesichts der Ausbildung einer Sprache des hohen Stils schon in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts – nicht richtig bezeichnet, die aber eine neue Stufe solcher Sprache darstellt nicht nur durch die von der Forschung eingehend registrierten, vielfach sprachgeschichtlich wirksam gewordenen Neuschöpfungen von Wörtern, Wortformen, Wortzusammensetzungen, sondern vor allem durch ihre in den antiken Metren entwickelte und von der syntaktischen Fügung mitgetragene Fähigkeit, im Sinne des horazischen „si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi“ (De arte poetica, v. 102f.) vom Erhabenen ergriffene Empfindung zu gestalten, um Bewegung der Seele zu wecken. Mit solchen Elementen erreicht Klopstock die schon lange vor ihm angestrebte Nachgestaltung antiker Oden auf vollendete Weise. Im Anschluß an die humanistische Poetik tradiert die deutsche Poetik im 17. und frühen 18. Jahrhundert zwar bestimmte, an der Antike abgelesene Merkmale hoher, odenartiger Lyrik (Enthusiasmus, lyrische Unordnung, Abschweifungen, Enjambement und dergleichen), doch verknüpft mit Zügen der zunächst allein zur Verfügung stehenden Liedform. Erst in deutschen Odenstrophen, die mit ihrer spannungsreich wechselnden Versgestalt und Versfolge einen vom Lied unterschiedenen weitausgreifenden und vielgliedrigen Sprach- und Gedankenduktus ermöglichen, können jene Merkmale vollkommen realisiert werden. Die Geschichte der Odentheorie in der deutschen Poetik ist die Voraussetzung für Klopstocks Lyrik und findet darin ihre Erfüllung. Die an den entsprechenden antiken Mustern orientierte, erhabene Ode bildet den Kern dieser Lyrik, auch wo ihr Autor mit Abwandlungen experimentiert, und tritt noch im Spätwerk wieder beherrschend hervor. Sie ermöglicht, ja fordert im Gang ihrer Strophen sehr unterschiedliche, durch Bilder, syntaktische Fügun-
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gen, rhetorische Figuren konstituierte Spannungsgefüge, in denen beispielsweise Aussagen allgemeinen Charakters fast eine ganze Ode füllen können, um dann erst ganz zuletzt im Kontrast dazu das eigentlich Gemeinte hervortreten zu lassen (An Bodmer), oder ein einziges, in sich gegensätzliches Neben- und Hauptsatzgebilde nahezu alle Strophen einer Ode umfassen kann (An Fanny). Diesen Plan der Oden muß erkennen, wer deren Absicht und Wirkung erfahren will. Die Spielarten der Bauform in ihrer Verknüpfung mit Sprache und Metrik verleihen den Themen Klopstocks ihre verpflichtende Größe und lassen sie den Wirkungszweck des movere erfüllen. Die eindringliche Art und Weise, in der Klopstocks Lyrik vor ihm wirksame Tendenzen humanistischer Poetik verwirklicht, läßt sie zu einem entscheidenden Beispielfall des in der Odentheorie Erwarteten werden und wesentlichen Anteil haben an der Bedeutung der Ode und der Odentheorie für die Entwicklung der Lyrik insgesamt und ihrer Theorie im 18. Jahrhundert. Indem Klopstock die in der Odentheorie angelegte Konzentration auf das movere so unbedingt vollzieht und die vorher für die Lyrik unanstößigen Zwecke der Belehrung und Unterhaltung beiseite schiebt, führt er an den Punkt, wo jene anderen Wirkungszwecke geradezu als obsolet erscheinen und der mit der Wirkungsabsicht des movere gegebene Ausdruck der Empfindung allein als das gilt, was lyrische Dichtung ausmacht. So ist Klopstock bald gelesen worden. Sobald das aber selbstverständlich wurde und sich ablöste aus dem System der humanistischen Poetik, das noch Klopstocks konsequente Hinwendung zur hohen Lyrik trug, mußte die Ode um ihres planvollen Baus und ihrer genau kalkulierten Sprache willen als nicht mehr befriedigend, als kalt und nicht unmittelbar genug erscheinen. Sie wird, nachdem sie von zentraler Bedeutung für Wandlungen der Lyrikauffassung im 18. Jahrhundert, ja Inbegriff von Lyrik gewesen ist, aus dieser Rolle vom Lied und seiner Art der Empfindungssprache verdrängt. Darum hat Klopstocks Odendichtung, vom Sonderfall Hölderlin abgesehen, eigentlich keine Nachfolge gefunden, und so ist es, wiewohl sie als Neubeginn deutscher Lyrik im 18. Jahrhundert und als eher lesbar als der Messias gilt, schwer geworden, sie noch richtig zu verstehen, droht das Verständnis sich einzuschränken auf wenige, zumeist frühe Gedichte, die mit später entstandenen Kriterien gelesen werden und so die Voraussetzungen der Klopstockschen Lyrik vergessen lassen und auch die fragwürdige Meinung von der angeblichen Erstarrung der Alterslyrik befestigen, deren Eigenart doch nur den wundern kann, der die frühe Lyrik Klopstocks ohne ihren Bezug zu einer langen humanistischen Literaturtradition sieht. Neben dem Messias und der Lyrik gehören zu Klopstocks poetischem Werk drei biblische Dramen (Der Tod Adams, 1757 – Salomo, 1764 – David, 1772) und drei Bardiet genannte Hermann-Dramen (Hermanns Schlacht, 1769 – Hermann
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und die Fürsten, 1784 – Hermanns Tod, 1787), deren Stoff sich wie die bardische Lyrik nicht zuletzt der schon von Humanismus und Barock geführten Auseinandersetzung mit dem Vorbild der Antike und der Bemühung um dessen angemessene Umsetzung und Aneignung verdankt. Klopstock selbst hat in der Vorrede zum Tod Adams erklärt, daß er sein Stück nicht für eine Aufführung geschrieben habe. Doch wäre es falsch, unter Berufung auf solche Äußerung seine Dramen ohne weiteres mit erst später entstandenen Formerwartungen zu messen und angesichts einer nicht sehr großen Wirkung nur als Beweis mangelnden dramatischen Talents zu nehmen. Diese Werke, wiewohl in ihrer Gestalt nicht ohne Nähe zu anderen zeitgenössischen Erscheinungen des Dramas, haben zwar keine mit dem Messias und der Lyrik vergleichbare gattungsgeschichtliche Bedeutung, aber sie sind doch ebenfalls aufschlußreiche Zeugnisse für Klopstocks dichterische Absichten. Das auffälligste Merkmal seiner Dramen ist, daß darin die dargestellten Ausschnitte der überlieferten Stoffe – das Sterben Adams, das Leiden Davids und Israels als Strafe für die von David freventlich befohlene Zählung des Volkes, Salomons Rückkehr vom Kult Molochs zu Gott, einzelne Stationen der Geschichte des Cheruskerfürsten Hermann –, die ohnehin so gewählt sind, daß sie nicht viel an äußerer Handlung enthalten, in einem ungewöhnlich hohen Maße durch die dramaturgischen Mittel der Teichoskopie und des Botenberichts vermittelt werden. Das sind offenkundig mit Bedacht gewählte Mittel, um nicht Entscheidungen, Handlungen, Verstrickungen zu zeigen, sondern das Fühlen, die Wesensart und Größe der Helden. So verwirklicht Klopstock Vorstellungen, die er im Poetik-Abschnitt der Gelehrtenrepublik vertreten hat, wo er, ohne übrigens einen wesentlichen Unterschied zwischen epischer und dramatischer Handlung zuzugestehen, ein „Gedicht ohne Handlung und Leidenschaft“ einen „Körper ohne Seele“ nennt, zugleich aber postuliert, daß man sich einen falschen Begriff von Handlung mache, „wenn man sie vornämlich in der äusserlichen That sezt“, und von den Handlungen, „welche der Wahl des Dichters würdig seyn sollen“, fordert, daß sie „mit Leidenschaft geschehen“. Das gilt ihm für alle poetischen Gattungen als zentrales Merkmal, und das ist ihm daher auch für das Drama wichtiger, als „nur Begebenheiten“ darzustellen. Klopstock ist ein entschiedener Gegner von Lehrbüchern und Regelsystemen der Poetik gewesen, wie sie zur Tradierung einer an die Antike anknüpfenden humanistischen Dichtungsauffassung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein selbstverständlich und unerläßlich schienen. Aber er hat sich in zahlreichen Schriften, deren Reihe mit der Abschiedsrede in Schulpforta beginnt, außerordentlich intensiv und bis in die präzise Erörterung handwerklicher Details hinein mit theoretischen Fragen der Literatur auseinandergesetzt. Verstreute Aufsätze wie Von der Sprache der Poesie (1758), Gedanken über die Natur der Poe-
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sie (1759), Von der heiligen Poesie (1755), Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen (1755), Vom deutschen Hexameter (1768, 1779), Vom Sylbenmaße (1770) oder Von der Darstellung (1779), zum Teil zusammengefaßt in Über Sprache und Dichtkunst. Fragmente (1779), bezeugen das ebenso wie die beiden großen, unabgeschlossen gebliebenen Werke Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) und Grammatische Gespräche (1794). Klopstocks Interesse reicht dabei von Fragen der Poetik über solche der Metrik bis hin zu Entwürfen zur Grammatik und Orthographie, mit denen er an entsprechenden Bestrebungen seiner Zeit teilhat und in mancherlei polemische Auseinandersetzung hineingezogen worden ist. Der zentrale Begriff Klopstocks zur Bestimmung der Aufgabe und Wirkung der Dichtung, der immer wieder auftaucht und auf den alle übrigen Bestimmungen und Forderungen zurückbezogen werden, ist die Bewegung der Seele, das rhetorische movere, dessen herausgehobene, die traditionelle Trias der officia oratoris allmählich umprägende und aufhebende Bedeutung vor Klopstock vorbereitet wird bei Theoretikern wie Baumgarten, G. F. Meier, Bodmer, Breitinger. Wenn Klopstock zur Erreichung dieses Ziels unter Berufung auf Horaz gleiche Empfindung im Dichter, eine dem Gegenstand gemäße Bildung und Teilnahme des Herzens fordert, so geht er damit über Gottsched hinaus, der im Falle der Darstellung eigener Erfahrungen des Poeten in einer allzu großen Frische des Affekts noch ein Hindernis angemessener Darstellung gesehen hatte, und kommt er auch zu kritischer Auseinandersetzung mit der Autorität des Batteux, in dessen auf dem Prinzip der Nachahmung beruhender Systematik der Gattungen die nachahmende Darstellung eigener Affekte des Dichters in der Lyrik nur ein mit gewisser Verlegenheit betrachteter Sonderfall ist. Trotzdem geht es Klopstock nicht um eine Erlebnisunmittelbarkeit im dichterischen Sprechen, sondern im Anschluß an alte rhetorische Vorstellungen um die Fähigkeit zum Mitfühlen als Bedingung zulänglicher Darstellung seelischer Bewegung zwecks Erreichung solcher Bewegung im Leser oder Hörer der Dichtung. Nicht individuell-einmaliges Erleben, sondern alles, was überpersönliche Erhabenheit besitzt, ist angemessener Gegenstand der Dichtung, und in schroffer Ablehnung vor allem der aufs delectare gerichteten nur „angenehmen Poesie“, der „Werke des Witzes“ ist die wahre Erscheinungsform der Dichtung für Klopstock nur die „höhere Poesie“ und zumal ihre höchste Stufe, die „heilige Poesie“, die am meisten Bewegung der Seele schaffen kann. Moralische Schönheit ist ihr Endzweck; sie soll „uns dem Strome entreißen, mit dem wir fortgezogen werden ... uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben, viel glückseliger seyn könnten“ (Von der heiligen Poesie). In allen solchen Bestimmungen des eigenen Standorts stecken, verschwiegen oder eigens ausgesprochen, Abgrenzungen gegen literarische Positionen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie
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sie besonders sichtbar von Gottsched vertreten worden sind. Aber das vollzieht sich dennoch auf der Basis gemeinsamer Voraussetzungen und gleicher Begriffe, es bleibt noch im Rahmen alter rhetorisch-humanistischer Auffassungen von Dichtungslehre und Dichtungspraxis. In deren Interpretation, nicht in deren Aufhebung liegt das für Klopstock Kennzeichnende und, wenn man will, Neue. Das gilt auch für Klopstocks Beiträge zur Stil- und Verslehre. Wenn er Unterschiede zwischen prosaischem und poetischem Ausdruck oder Möglichkeiten und Aufgaben der Wortfolge zu bestimmen sucht, wenn er Probleme der Wortwahl, des Gebrauchs fremder, veralteter, neuer Wörter, der Wortzusammensetzung diskutiert, wenn er zur Entwicklung der deutschen poetischen Sprache die imitatio antiker und neuzeitlicher Muster in anderen Sprachen empfiehlt und als Erfordernis für junge Dichter „Untersuchung des Menschen, Vorübungen, und Sprachkentnis“ nennt (Gelehrtenrepublik), wenn er Angemessenheit von Gedanke und Ausdruck fordert oder sich bemüht, Eigenart und Wirkung verschiedener Versmaße zu erfassen und zu beschreiben, so sind dies alles – wie eine genauere Untersuchung zu zeigen hätte – Stichworte und Fragen, die die humanistische Poetik und Rhetorik vor allem im Bereich der elocutio jahrhundertelang erörtert haben. Auch das steht bei ihm vor allem unter dem Vorzeichen des movere, und es enthält da und dort Ansätze zur Abwendung von der rhetorischen Stillehre. Aber Klopstock verläßt sie noch nicht, sondern überall bleibt sein Bemühen, die Wirkung des sprachlichen Details genau zu erfassen und Anleitung zu seinem richtigen Gebrauch zu bieten, von ihr geprägt, und daß sein Interesse sich überhaupt so sehr auch auf Fragen der Metrik und Grammatik erstreckt, ist ebenfalls noch abzuleiten aus der Überlieferung humanistischer Literaturtheorie, für die diese Fragen im Blick auf die literarische Praxis ganz eng und selbstverständlich mit denen der Poetik zusammengehören. Horaz, Cicero, Quintilian, Ps. Longin, Aristides, Demetrius, Dionysios von Halikarnaß, Vossius sind die Autoritäten, auf die Klopstock sich immer wieder beruft; Scaligers Poetik hat sich in seinem Besitz befunden. Im Geiste humanistischer Auffassung der Antike handelt er schließlich auch da, wo er immer wieder auf die antiken exempla sich bezieht, deren imitatio als gegebene Grundlage der neueren Literatur und des eigenen Werks behandelt, dabei Unterschiede zwischen der römischen und der bevorzugten griechischen Dichtung macht, auch nach Grenzen der imitatio fragt und die besondere Fähigkeit der deutschen Sprache zum Wettkampf vor allem mit der griechischen – dem Nachweis dieser Fähigkeit dienen auch seine Übersetzungen aus antiken Dichtern – betont, scheinbar patriotisch befangen, in Wahrheit aber auch damit noch die prägende Macht der Antike und die Aufnahmebereitschaft für sie bezeugend. Wo immer man auf Klopstocks Werk blickt, auf seine Motive und Themen, seine Bilder und seine Sprache, auf seine produktiven Beiträge zur Geschichte
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bestimmter poetischer Gattungen, seine metrische Leistung, seine theoretischen Schriften, da zeigt er sich als ein Autor, der wie wenige sonst im 18. Jahrhundert bestimmt ist von der humanistischen, Antike und Christentum verbindenden Überlieferung. Gewiß formt und deutet er, dem andere dabei vorgearbeitet haben, manches um. Aber was ihn kennzeichnet, ruht auf dieser Grundlage und ist mit den Begriffen dieser Überlieferung zu fassen. Seine produktive Bedeutung liegt nicht darin, daß er die von einer rhetorisch fundierten Poetik beschriebene und beförderte Erscheinungsform von Literatur aufgäbe, sondern daß er in ihr vorhandene Tendenzen auf eigene Weise fortführt und steigert. Sein Werk ist das eindrucksvolle Ergebnis einer langen Geschichte der an der Antike orientierten Ausbildung neuzeitlicher europäischer Literatur. Die von ihm eingenommene Position sieht schon bald, vor allem für jüngere Zeitgenossen, anders aus, vieles an seinen Texten und seinen Begriffen läßt sich für sie auch so verstehen, daß die es tragende Überlieferung dahinter versinkt, und wird so produktiv für andere Autoren und neue Strömungen. Das begründet seinen Ruhm. Klopstock selbst ist von jener Überlieferung so sehr bestimmt, daß er deshalb in seinen späteren Jahren hinter der Literatur seiner Zeit zurückzubleiben scheint und nach und nach mitsamt jener Überlieferung immer schwieriger zu verstehen ist. Das bedingt die Zwiespältigkeit seiner Wirkungsgeschichte. Er hat neue, weit über seine Zeit hinauswirkende Möglichkeiten literarischer Artikulation freigesetzt, indem er die jahrhundertelange humanistische Überlieferung auf einen Höhepunkt geführt und dadurch allerdings auch ihre Auflösung eingeleitet hat. Das macht ihn zu einer zentralen Gestalt in der Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert.
Literaturverzeichnis Texte Klopstocks sämmtliche Werke. Stereotyp-Ausgabe. Leipzig 1844; 21854–1855. Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden. München 1962. Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Horst Gronemeyer u. a. Berlin, New York 1974ff. Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden, hrsg. v. Franz Muncker, Jaro Pawel. Stuttgart 1889. Briefe von und an Klopstock, hrsg. v. J.M. Lappenberg. Braunschweig 1867; Nachdr. Bern 1970. Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg , hrsg. v. Jürgen Behrens. Mit einem Anhang: Briefwechsel zwischen Klopstock und Herder, hrsg. v. Sabine Jodeleit und einem Nachwort von Erich Trunz. Neumünster 1964. Meta Klopstock geb. Moller, Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden, hrsg. v. Hermann Tiemann. Hamburg 1956. „Für Klopstock“. Ein Gedichtband des Göttinger „Hains“, 1773, hrsg. v. Anton Lübbering. Tübingen 1957.
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Bibliographien Gerhard Burkhardt, Heinz Nicolai: Klopstock-Bibliographie, Berlin, New York 1975 (Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abteilung Addenda, I) (umfassende, gut gegliederte Bestandsaufnahme der Literatur über Klopstock und seine Wirkung; im folgenden daher nur eine knappe Auswahl vor allem neuerer Arbeiten). H. T. Betteridge: Klopstocks Briefe. Prolegomena zu einer Gesamtausgabe. Stuttgart 1963. Verzeichniß eines Theils der Bibliothek des wohlsel. Herrn Legationsrath Klopstock. Hamburg 1805.
Literatur Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. Leopold Magon: Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien 1750–1850, Bd. 1, Die Klopstockzeit in Dänemark. Johannes Ewald. Dortmund 1926. Paul Großer: Der Junge Klopstock im Urteil seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes im 18. Jahrhundert. Diss. Breslau 1937. Ilse Tiemann: Klopstock in Schwaben. Ein Beitrag zur Geschmacks- und Stammesgeschichte. Greifswald 1937. Paul Böckmann: Klopstock: Die Frühlingsfeier. In: Gedicht und Gedanke, hrsg. v. Heinz Otto Burger. Halle 1942, S. 89–101 (jetzt in: Böckmann, Formensprache. Hamburg 1966, S. 98–105: Die Sprache des Erhabenen in Klopstocks „Frühlingsfeier“). Friedrich Beißner: Klopstocks Ode Der Zürchersee. Münster, Köln 1952. August Langen: Klopstocks sprachgeschichtliche Bedeutung. In: Wirkendes Wort 3, 1952/53, S. 330–346. Karl August Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Geschichte der deutschen Poetik. Saarbrücken 1954. Wolfgang W. Mickel: Der gefühlsmäßig-religiöse Wortschatz Klopstocks, insbesondere in seiner Beziehung zum Pietismus. Ein Beitrag zur Sprache und Theologie des Dichters. Diss. Frankfurt a.M. 1957. Renate Baudusch-Walker: Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthographiereformer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Grammatik im 18. Jahrhundert. Berlin 1958. Jean Murat: Klopstock. Les thèmes principaux de son œuvre. Paris 1959. Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960. Reinhold Grimm: Marginalien zu Klopstocks „Messias“. In: GRM 42, 1961, S. 274–295. Gerhard Kaiser: „Denken“ und „Empfinden“: ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klopstocks. In: DVjs 35, 1961, S. 321–343. Ludwig Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode. Ein Beitrag zur Druckgeschichte von Klopstocks Werken mit Einschluß der Kopenhagener Ausgabe des „Messias“. In: Archiv f. Gesch. d. Buchwesens 3, 1961, Sp. 1473–1610. B.A.T. Schneider: Grundbegriffe der Ästhetik Klopstocks. Pretoria 1962. Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963; 2Kronberg 1975.
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Dichter und ihr Werk
Ingrid Strohschneider-Kohrs: Klopstocks Drama ,Der Tod Adams’. Zum Problem der poetischen Form in empfindsamer Zeit. In: DVjs 39, 1965, S. 165–206. Eberhard Wilhelm Schulz: Klopstocks Alterslyrik. In: Euph. 61, 1967, S. 295–317. Hans-Henrik Krummacher: Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock. In: Jahrb. d. Dt. Schillerges. 13, 1969, S. 155–179. Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne. Frankfurt a.M. 1969. Klaus Weimar: Theologische Metrik. Überlegungen zu Klopstocks Arbeit am ,Messias’. In: Hölderlin-Jahrbuch 16, 1969/70, S. 142–157. Terence K. Thayer: Klopstock’s Occasional Poetry. In: Lessing Yearbook 2, 1970, S. 181–212. Jörn Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks „Messias“. Diss. Göttingen 1971. Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973.
Nachweise Zur Theorie der Lyrik. Herkunft und Wandlungen Principes Lyricorum. Pindar- und Horaz-Kommentare seit dem Humanismus als Quellen der neuzeitlichen Lyriktheorie. – Ungedruckt. Erweiterte Fassung eines zuerst in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz gehaltenen Vortrags. Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert. – Ungedruckt. Erweiterte Fassung eines zuerst an der Universität Wien gehaltenen Vortrags. Pindar – Horaz – Ossian. Zur Entwicklung von Herders Lyrikanschauung. – Ungedruckt. Erweiterte Fassung eines zuerst zum 85. Geburtstag von Paul Böckmann an der Universität zu Köln gehaltenen Vortrags. Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel. – Gedruckt in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, hrsg. v. Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher und Werner Welzig, Tübingen 1995, S. 255–285.
Das Epicedium. Seine Voraussetzungen und seine Geschichte Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. – Gedruckt in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18, 1974, S. 89–147. (Erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom 29.1.1970; Paul Böckmann zum 4. November 1974 gewidmet). Nachtrag zu Anm. 29: Für die Bedeutung der rhetorischen Schriften des Ps. Dionysios von Halikarnaß und insbesondere Menanders als Grundlage der frühneuzeitlichen Gelegenheitsdichtung ist es höchst bezeichnend, daß sich der Florentiner Humanist Angelo Poliziano auf diese Schriften schon lange, bevor sie 1508 im Druck allgemein zugänglich wurden, in seinem 1480/81 entstandenen lateinischen Kommentar zu den Silvae des Statius bei der Behandlung verschiedener Arten der Kasualdichtung vielfach beruft und sie für die Interpretation von Gedichten des Statius heranzieht (s. Angelo Poliziano, Commento inedito alle Selve di Statio a cura di Lucia Cesarini Martinelli, Florenz 1978; darin S. 429ff. zum Epicedium, mit Hervorhebung der Spannung zwischen luctus und consolatio). „Ich öffne meines Herzens Wunden“. Wandlungen des Epicediums in den Gedichten auf den Tod der eigenen Ehefrau bei Besser, Canitz und Haller und ihre Wirkungsgeschichte im 18. Jahrhundert. Eine Skizze. – Ungedruckt. „Sterben ist der langen Narrheit Ende“. Die Trauergedichte des jungen Schiller. Eine Skizze. – Ungedruckt. Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina. – Gedruckt in: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli, Bern u. a. 1996, S. 267–289.
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Nachweise
Bibelwort, Erbauungsliteratur und Lyrik Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. – Gedruckt in: Vox. Sermo. Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Festschrift Uwe Ruberg, hrsg. v. Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber und Rudolf Voß, Stuttgart, Leipzig 2001, S. 143–168. Wiederabdruck (mit leichten redaktionellen Änderungen durch den Herausgeber) in: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist, hrsg. v. Johann Anselm Steiger, Neuendettelsau 2007, S. 37–76. Andreas Gryphius und Johann Arndt. Zum Verständnis der „Sonn- und Feiertags-Sonette“. – Gedruckt in: Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, hrsg. v. Walter Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz, Hamburg 1964, S. 116–137. „De quatuor novissimis“. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius. – Gedruckt in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe, hrsg. v. August Buck und Martin Bircher, Amsterdam 1987 (Chloe Bd. 6), S. 499–577. Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock. – Gedruckt in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13, 1969, S. 155–179 (Habilitationsvortrag vom 8.3.1967 vor der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln; Paul Böckmann zum 4. November 1969 gewidmet).
Dichter und ihr Werk Paul Gerhardt. – Gedruckt in: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hrsg. v. Harald Steinhagen und Benno von Wiese, Berlin 1984, S. 270–288. Friedrich Gottlieb Klopstock. – Gedruckt in: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hrsg. v. Benno von Wiese, Berlin 1977, S. 190–209.
Nachwort Die in diesem Buch versammelten Arbeiten sind im Lauf vieler Jahre entstanden und haben sich nach und nach zu einem der Schwerpunkte meiner wissenschaftlichen Bemühungen entwickelt. Wenn sich ihre schon länger geplante Zusammenfassung in einem Band, dessen thematische Gliederung für sich sprechen und die Sammlung rechtfertigen mag, auch nach meiner Emeritierung erst später als erhofft hat verwirklichen lassen, so liegt dies vor allem an den Anforderungen der von mir mitbegründeten und mitherausgegebenen historisch-kritischen Mörike-Ausgabe und insbesondere der von mir bearbeiteten Gedichtbände, auf die ich bei zunehmendem Alter vor allem anderen Zeit und Kraft konzentrieren muß. Daher kam für die schon früher publizierten Arbeiten – von vereinzelten Korrekturen und an wenigen Stellen nötigen redaktionellen Eingriffen abgesehen – nur ein unveränderter Wiederabdruck – unter Beibehaltung der durch den jeweiligen Erstdruck bedingten Unterschiede der äußeren Form – in Frage, der auch den Verzicht auf die Nennung neuerer Ausgaben mancher Quellen und neuerer Forschungsliteratur einschließen mußte. Die drei noch ungedruckten, auf Vorträge zurückgehenden Abhandlungen zur Oden- und Lyriktheorie (I,1–3) konnten zwar durch zusätzliche Quellen erweitert und vertieft werden, mußten aber Grenzen der Auseinandersetzung mit jüngerer Forschungsliteratur einhalten. Und die beiden Beiträge zum Epicedium im 18. Jahrhundert (II, 2 und 3), die als ausführlichere Untersuchungen geplant waren, mußten sich in der Form einer Skizze mit der Zusammenstellung von Quellen und der aus ihnen sich ergebenden Fragen begnügen. Für diese Einschränkungen bitte ich den geneigten Leser um Nachsicht. Dem in Tübingen residierenden Teil des Verlags De Gruyter (ehemals Max Niemeyer Verlag), mit welchem mich jahrzehntelange, stets harmonische Zusammenarbeit verbindet, und insbesondere Frau Birgitta Zeller sage ich aufrichtigen Dank dafür, daß sie sich dieses Buches überaus freundlich angenommen haben. Mainz, 6. Juni 2012
Hans-Henrik Krummacher