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German Pages [273] Year 2016
Schriftenreihe der
D
Thiemo Breyer Thomas Fuchs Alice Holzhey-Kunz (Hg.)
Ludwig Binswanger und Erwin Straus Beiträge zur psychiatrischen Phänomenologie
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495808184
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B
Schriftenreihe der D
https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Die Herausgeber: Thiemo Breyer, Prof. Dr. phil., Juniorprofessor für »Transformations of Knowledge« an der Universität zu Köln. Thomas Fuchs, Prof. Dr. med., Dr. phil., Karl Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Alice Holzhey-Kunz, Dr. phil., Präsidentin der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse, Zürich.
https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Thiemo Breyer / Thomas Fuchs / Alice Holzhey-Kunz (Hg.) Ludwig Binswanger und Erwin Straus
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D Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) Herausgegeben von Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Stefano Micali, Boris Wandruszka Band 4
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Thiemo Breyer / Thomas Fuchs / Alice Holzhey-Kunz (Hg.)
Ludwig Binswanger und Erwin Straus Beiträge zur psychiatrischen Phänomenologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Thomas Fuchs Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48711-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80818-4
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Ludwig Binswanger Boris Wandruszka Der Traum als Manifestation der Existenz. Überlegungen zur phänomenologisch-daseinsanalytischen Anthropologie Ludwig Binswangers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Karl-Ernst Bühler Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
. . . . . . . . . .
34
Frank Töpfer Liebe und Sorge. Binswangers kritische Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Alice Holzhey-Kunz Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger, dargestellt am »Fall Ellen West« . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Jann E. Schlimme Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit: Handlungsraum und gelebte Autonomie in der ›Schizophrenie‹ .
94
Elisabetta Basso Lorini »Kein Mensch ist der Mensch«. Subjektivität und Lebendigkeit bei E. Straus und L. Binswanger: 1946–1948 . . . . . . . . . . . .
119
7 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Inhalt
II. Erwin Straus Thomas Fuchs Die Ästhesiologie von Erwin Straus
. . . . . . . . . . . . . . 137
Benjamin Bühler Flexible Umwelt-Beziehungen. Epistemologische Kritik und phänomenologische Anthropologie in Erwin Straus’ Vom Sinn der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
Annette Hilt Die Ferne ist die raumzeitliche Form des Empfindens – Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung . . . . . . . . .
175
Oliver Florig Zeit, Unmittelbarkeit und Geist: Straus’ und Theunissens Deutung des Zeiterlebens in der endogenen Depression . . . .
197
Remy Rizzo Hegels Anthropologie des Empfindens und die Phänomenologie von Erwin Straus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
Mădălina Diaconu Von Hunden und Menschen. Zur anthropologischen Differenz bei Heidegger, Lévinas und Straus . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . 266
8 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt Forschungsbeiträge zu zwei bedeutenden Vertretern einer phänomenologisch-hermeneutisch orientierten Psychiatrie im 20. Jahrhundert – Ludwig Binswanger und Erwin Straus. Die vielgestaltigen Überlegungen beider Denker haben großen Einfluss auf unterschiedliche Bereiche der humanistischen Psychologie, der Psychoanalyse und der Psychotherapie gehabt und wirken bis heute nach. Beide standen sich auch persönlich sehr nahe und führten zwischen 1925 und 1996 einen umfangreichen Briefwechsel. 1 Ludwig Binswanger (1881–1966) war Mediziner, Psychiater, Psychoanalytiker und Philosoph. Seine Zuwendung zur Phänomenologie führte schon früh zu einer Kritik des naturalistischen Ansatzes Freuds. Sein Ziel war aber nicht, die Psychoanalyse zu reformieren, sondern die Psychiatrie auf ein nicht-objektivierendes Verständnis des Menschen zu gründen. Von Heideggers Daseinsanalytik übernahm er die Begrifflichkeit des »In-der-Welt-Seins« und gewann daraus eine neue Methode der Erforschung von Geisteskrankheiten, die darauf ausgerichtet ist, den »Weltentwurf« eines Kranken freizulegen und seine besondere Struktur zu untersuchen. Erwin Straus (1891–1975) war Neurologe, Psychiater, Psychologe und Philosoph. Er setzte sich kritisch mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Freudschen Psychoanalyse, des Behaviorismus ebenso wie mit Heideggers Daseinsanalyse auseinander. Seine Arbeiten orientierte er an der Phänomenologie Husserls, allerdings weniger an dessen Beschreibungen der Bewusstseinsakte als an sei1 S. Holzinger (2006): Die Arzt-Patienten-Beziehung in der Sicht von Erwin Straus unter besonderer Berücksichtigung seines Briefwechsels mit Ludwig Binswanger. Med. Diss., Humboldt-Universität zu Berlin. – Zu den persönlichen Beziehungen beider Psychiater vgl. auch T. Passie (1995): Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie: Eine Studie über den »Wengener Kreis«: Binswanger – Minkowski – von Gebsattel – Straus. Hürtgenwald: Pressler.
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Vorwort
nen späteren Analysen der Lebenswelt. Der cartesianischen Trennung von Wahrnehmung und Wirklichkeit setzte er eine grundlegend verschiedene Konzeption entgegen, die er auch als Ästhesiologie bezeichnete: die Konzeption einer Wahrnehmung, die uns als leiblichen Wesen zukommt und die uns als Angehörige einer gemeinsamen Lebenswelt miteinander verbindet. Die Aufsätze in diesem Band widmen sich den Werken von Binswanger und Straus aus methodologischer wie inhaltlicher, historischer wie systematischer Perspektive, um ihre Grundeinsichten zu rekonstruieren, ihre Aktualität für gegenwärtige Fragen zur psychischen Struktur des Subjekts und ihrer Störungen aufzuweisen sowie Parallelen und Differenzen zwischen beiden Autoren aufzuzeigen. Unser besonderer Dank gilt Rixta Fambach, Christina Gallinat, Lukas Iwer, Tilman Rivinius und Daniel Vespermann für ihre redaktionelle Hilfe bei der Fertigstellung des Bandes. Köln / Heidelberg / Zürich, im August 2015 Thiemo Breyer
Thomas Fuchs
Alice Holzhey-Kunz
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I. Ludwig Binswanger
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Der Traum als Manifestation der Existenz Überlegungen zur phänomenologisch-daseinsanalytischen Anthropologie Ludwig Binswangers Boris Wandruszka
Einleitung Wenn wir in dieser Schriftenreihe gewisse Repräsentanten der phänomenologisch-daseinsanalytischen bzw. anthropologischen Richtung in Psychiatrie und Psychotherapie vorstellen, einer Richtung, die im heutigen Mainstream von Wissenschaft und Medizin wenig berücksichtigt wird, ja weitgehend vergessen 1 ist, dann ist für dieses Vorhaben, wenn es dennoch von aktueller Relevanz sein will, eine Rechtfertigung gefordert. Um dem Ergebnis dieser Betrachtung vorzugreifen, sei darum gesagt, dass die phänomenologisch-daseinsanalytische Psychopathologie und Psychotherapie einen Aspekt – und zwar einen fundamentalen Aspekt – des Menschseins herausgearbeitet hat, der weder in den Gesichtskreis der naturwissenschaftlichen Medizin noch der Psychoanalyse noch überhaupt der bloß naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie gelangen kann und darum von einer eigenständigen Wissenschaft, nämlich von der »Wissenschaft der Existenz«, d. h. von der Wissenschaft des Selbstseins und seiner Selbstkundgabe in Leib, Tat, Sprache, Werk, Umwelt, Beziehung und Krankheit geleistet werden muss. Damit aber berühren wir ein Grundproblem aller Philosophie, insbesondere der Philosophie des Geistes, der Person und des »Daseins« im heideggerschen Sinne, nämlich das Problem, wie sich eine ungegenständliche oder, wie ich sagen werde, inständliche, d. h. eine nicht zu verobjektivierende, sondern sich selbst gewahrende und aus sich selbst agierende, d. h. sich in Aktvollzügen konstituierende Realität in gegenständlichen Seinsverhältnissen manifestieren kann und muss oder auch, so nämDiesem Vergessen, das selbst in der aktuellen Psychiatrie weit verbreitet ist, versucht die außerordentlich wertvolle Arbeit von Torsten Passie (1995) über den »Wengener Kreis« (Binswanger, Straus, Gebsattel, Minkowski) entgegenzuwirken. Speziell zu Binswanger siehe S. 21–95.
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Boris Wandruszka
lich in vielen psychopathologischen Zuständen, zwar will, aber nicht kann. 2 Im Folgenden werde ich diese Fragestellung im Horizont des Denkens von Ludwig Binswanger entwickeln; und zwar in Bezug auf seine Anschauung vom Wesen und Daseinsort des Traumes. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass das Werk Binswangers einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag zur phänomenologischen Anthropologie darstellt, der in gewisser Hinsicht sogar über das Denken etwa von Karl Jaspers und Martin Heidegger hinausgeht. Während nämlich Jaspers (1947, 231 ff.) von der Subjekt-Objekt- oder Ich-WeltSpaltung als der Grundtatsache allen Denkens und Lebens ausgeht und Heidegger das Problem der Selbstkundgabe des ungegenständlichen Daseins im gegenständlichen Leben, vor allem in Leib und Körper bzw. in vital-organismischer und physikalischer »Natur« 3 nicht problematisiert, ist es das Grundanliegen Binswangers, die (intentionale) Selbstkundgabe des ungegenständlichen Seins des Menschen bzw. seiner Grundstrukturen oder Grundvollzüge – auch Existenzialien genannt – im gegenständlichen Sein zu zeigen. Oder kurz gesagt: in der »Welt« aufzuspüren und sichtbar zu machen, um so zu zeigen, dass der Dualismus von Geist und Körper bzw. – philosophisch gesprochen – von ungegenständlichem Sein und gegenständlichem Sein im Falle des konkret leibhaften, aber auch des träumenden Menschen je schon überstiegen und damit überwunden ist. Im Falle der SubjektObjekt-Spaltung spricht Binswanger darum nicht grundlos in aller Härte vom »Krebsübel aller Psychologie« 4 (1947, 193). Der begriffliche Gegensatz von »gegenständlich« und »ungegenständlich« wird in unterschiedlichen Bedeutungen und oft sehr unklar verwendet. Für manche deckt er sich mit dem Gegensatz explizit versus implizit (also bewusst-reflexiv und latentagierend); für andere deckt er sich mit dem Gegensatz von apersonal versus personal, so etwa bei Scheler (1928); und wieder für andere deckt er sich mit dem Gegensatz von Ding versus Akt (passive »tote« Sache versus lebendiger Vollzug). Klar sollte sein, dass alles nicht-subjektive, nicht sich selbst vollziehende Seiende im Sinne von Dinghaftigkeit von gegenständlich-passiver Natur ist; dagegen muss eine explizit-bewusste Wahrnehmung, z. B. eines Selbstvollzuges oder einer Gestimmtheit, keineswegs gegenständlich-dinglicher Natur sein, vielmehr ist sie explizit-reflexiv-ungegenständlich, sowohl in ihrem Vollzug als auch bezogen auf den Inhalt der Wahrnehmung. Kurzum: Das Explizite muss nicht immer gegenständlich, das Implizite muss nicht immer ungegenständlich sein. 3 Wie später gezeigt wird, besitzt der Leib auch eine ungegenständliche, »subjektive«, selbsthafte Seite, insofern das Subjekt in ihm inkarniert ist und daher nicht nur einen Leib hat, sondern ein Leib ist und sich als Leib akthaft vollzieht. 4 »Warum bemühe ich Sie mit diesen anscheinend komplizierten Dingen? Aus kei2
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Der Traum als Manifestation der Existenz
Biografische Skizze 5 Ludwig Binswanger wurde am 13. April 1881 in Kreuzlingen (Schweiz) geboren. Sein Vater war der Psychiater Robert Binswanger, der sich als Sanatoriumsleiter einen Namen gemacht hatte; sein Onkel Otto Binswanger war Ordinarius für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Jena, wo Friedrich Nietzsche nach seinem Zusammenbruch behandelt worden war. Binswanger studierte Medizin in Lausanne, Heidelberg und Zürich; 1907 schloss er seine Studien mit einer psychiatrischen Dissertation ab, deren Doktorvater Carl Gustav Jung – damals Oberarzt und Privatdozent für Psychiatrie an der Zürcher Universitätsklinik Burghölzli – war. Durch Jung wurde Binswanger auf die Psychoanalyse und Sigmund Freud aufmerksam, welchem er sich mit Feuereifer anschloss und den er ein Leben lang verehrte. Er beendete seine Ausbildung bei seinem Onkel in Jena und trat anschließend als Mitarbeiter in das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen ein, das unter der Leitung seines Vaters stand. Ab 1911 war er medizinischer Direktor dieser Institution, der er in der Folge bis zum Jahre 1956 vorstand. Seine große Inanspruchnahme als Psychiater und Psychotherapeut hinderte Binswanger keineswegs daran, ein umfängliches wissenschaftliches und literarisches Lebenswerk aufzubauen. Er publizierte im Lauf der Jahre etwa ein Dutzend Bücher, die in der Fachwelt starke Beachtung fanden. Im Anschluss an Bleuler, Husserl, Freud und besonders Heidegger gründete er die daseinsanalytische Schule 6 für Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, die heute neben Psychoanalyse (Freud), Individualpsychologie (Adler), komnem andern Grunde als deswegen, weil mit der Lehre vom In-der-Welt-Sein als Transzendenz das Krebsübel aller Psychologie überwunden und der Weg für die Anthropologie freigemacht ist, das Krebsübel nämlich der Lehre von der Subjekt-ObjektSpaltung der Welt.« (Binswanger 1947, 193) 5 Diese biografische Skizze ist, leicht verändert, dem Buch »Klassiker der Psychoanalyse« von Joseph Rattner (1995, 631 ff.) entnommen. 6 Eine parallele daseinsanalytische Schule in der Medizin gründete in der Schweiz Medard Boss, der auch Heideggers Unterstützung erfuhr (vgl. Zollikoner Seminare). Dagegen warf Heidegger Binswanger vor, den fundamentalontologischen Ansatz von Sein und Zeit (1979) missverstanden und unberechtigterweise ins Anthropologische gezogen zu haben. Das ist insofern nicht recht nachvollziehbar, als sich auch »Sein und Zeit« nur mit dem »Dasein«, also dem Menschen, beschäftigt und seinen Anspruch, eine Lehre des Seins zu bieten, nicht einlöst. Außerdem ist zu sagen, dass eine Anthropologie keineswegs mit einer reinen Ontologie im Widerspruch steht, sondern beides sehr wohl integriert werden kann und muss.
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Boris Wandruszka
plexer Psychologie (Jung) und Logotherapie (Frankl) als eine der wichtigsten Anthropologien in der Psychotherapie gilt. Überhaupt muss hervorgehoben werden, dass Binswanger nicht wie Heidegger bestrebt war, auf dem Boden der Analyse des menschlichen Daseins eine reine Seinslehre aufzustellen (die allerdings auch bei Heidegger zeitlebens ein bloßes Desiderat blieb), sondern die Absicht hatte, sowohl die heideggersche Daseinsanalytik als auch die husserlsche Intentionalitätsanalyse als Grundlage für seine spezifisch psychiatrischpsychologische Anthropologie zu nehmen und beide zu integrieren. Und eben genau auf diesem Felde gelang es ihm, die Menschenlehre Heideggers wesentlich zu ergänzen, zum einen dadurch, dass er die krankhaften Abwandlungen des menschlichen Daseins und seiner Existenzialien, also seiner ungegenständlichen Grundstrukturen, untersuchte, zum anderen dadurch, dass er den von Heidegger – man muss wohl sagen: sträflich – vernachlässigten Lebensbereichen »Körperlichkeit«, »Leiblichkeit«, »Ausdruck«, »Gemeinschaft«, »Miteinandersein«, »Liebe« 7 und »Glück« nachging und phänomenologisch-daseinsanalytisch aufzuhellen suchte. So erweiterte er auch den heideggerschen Grundbegriff des »In-der-Welt-Seins« um die Dimension des »Über-die-Welt-Hinaus-Seins« und erkannte, dass der sprachbegrifflich so neutrale Begriff des »Daseins« der Selbstdimension bedarf, soll er menschlich und menschlich tief werden. So dürften wir im Falle von Binswangers Daseinsanalyse auch von einer »Selbst-Anthropologie« sprechen. Obwohl die Fachpsychiatrie die binswangerschen Darlegungen mit großer Skepsis aufnahm, letztlich deshalb, weil sie überwiegend naturwissenschaftlich-objektivierend eingestellt war (und noch ist), während Binswanger das Personale, Subjektive, das Intersubjektive und das Sinnverstehen in den Mittelpunkt seines Denkens stellte, kam es bald zur Anerkennung seines Wirkens von vielen Seiten. So wurde ihm 1940 der Dr. phil. honoris causa verliehen und man nahm ihn als Mitglied und Ehrenmitglied in viele Gesellschaften auf. 1956 erhielt er die internationale Kraepelin-Medaille in München und legte damit seine Leitungsfunktion als Klinikchef ab. Binswanger starb mit 85 Jahren am 5. Februar 1966 in Kreuzlingen, wo er fast fünfzig
Über Miteinandersein und Liebe verhandelt Binswanger vor allem in seinem Hauptwerk: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942).
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Der Traum als Manifestation der Existenz
Jahre lang als Chefarzt der bereits erwähnten Nervenheilstätte Bellevue vorgestanden hatte.
Geistesgeschichtliche Einflüsse Binswanger, der über eine stupende literarische und philosophische Belesenheit verfügte, reiht sich in die geisteswissenschaftliche Tradition ein, die von Wilhelm Dilthey inauguriert und von vielen anderen fortgeführt wurde. Ihr Kernanliegen bestand und besteht bis heute darin aufzuzeigen, dass das menschliche Sein nicht auf rein naturalorganismische Verhältnisse reduziert und nicht rein rational-analytisch voll erfasst werden kann. Auch wenn der Mensch zweifellos ein Naturwesen, ein Lebewesen, ein Organismus, ein komplizierter Funktionenkomplex ist, ein Komplex, der in der Krankheit nicht vernachlässigt werden darf, 8 so ist er im Wesen doch noch mehr und im Kern etwas sehr Einfaches, eben das, was die Begriffe Geist, Existenz, Dasein, Person oder Selbst zu umschreiben suchen. Mit den berühmten Worten Sören Kierkegaards (1976, 31), der genau dieses Selbstsein, Selbstseinkönnen und Selbstseinmüssen als erster analytisch zu fassen versuchte, ist der Mensch jenes Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, 9 ist also ein Wesen, das, obwohl passiv entstanden, sich dennoch aus eigener unableitbarer Initiative, gleichsam als »causa sui« selbst ergreift, ausrichtet, entwirft, gestaltet und entwickelt. Solches Selbstseinwollen impliziert aber notwendigerweise, um wirklich selbst zu sein, sowohl ein unmittelbar intuitives Selbstgewahren als auch das frei tätige Sichselbstbestimmen, womit sich diese Freiheit als selbstgewahrend, aktiv, schaffend, ja schöpferisch erweist. Zwar ist Die Abqualifizierung der neurobiologisch orientierten Psychiatrie als »Hirnmythologie« durch Karl Jaspers (1913) schüttet daher das Kind mit dem Bade aus: So wie die Psychiatrie ohne Gehirn nicht möglich ist, so erschöpft sie sich nicht in der Gehirnpathologie, vielmehr muss sie stets auch das Erleben des Betroffenen und seine Verarbeitungsweisen von Welterfahrung, Widerfahrnis und Krankheit miteinbeziehen. Das hebt natürlich den pathischen »Widerfahrnischarakter« von Krankheit, insbesondere von neurobiologischen Veränderungen nicht auf. Der Mensch ist eben Objekt und Subjekt, geworfen und entwerfend, gemacht und machend, fremdbestimmt und selbstbestimmend, verletzlich und verletzend, rezeptiv und initiativ. 9 Kierkegaard sagt an der angegebenen Stelle von Die Krankheit zum Tode genauer, dass der Mensch als Geschöpf Gottes durch zwei Beziehungsverhältnisse hindurch sein »Selbst« konstituiert, durch das Verhältnis Gott-Mensch und durch das Selbstverhältnis. 8
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die menschliche Freiheit nicht absolut, da sie sich nicht selbst ins Sein gesetzt hat, sondern ins Sein, wie Heidegger (1979, 175) sagt, geworfen wurde, doch sodann ist sie wesenhaft und immer Seinkönnen, Entwurf, Selbstzeitigung und darin Geschichtlichung und eben nicht nur funktionelles Reagieren, Ablauf und Geschehen. Das ist das eine, was Binswanger vorfindet und uneingeschränkt übernimmt; das andere aber entnimmt er, vor allem in seiner Spätphase, 10 der Tradition Franz Brentanos und Edmund Husserls, nämlich die Erkenntnis, dass alles Erleben und Tun des Menschen bezogen ist, intentional auf irgendetwas ausgerichtet, auf ein Etwas, das alles Mögliche, ja auch Unmögliche, also die Welt überhaupt 11 mit ihren vielen Regionen (physische Welt oder Natur, Kulturwelt, Traumwelt, Phantasiewelt, Wahnwelt, mathematische Welt etc.) umfasst. Hier ist stets ein Wer auf ein Was bezogen, ja dieser Wer konstituiert dieses Was, bildet es und ist so an dessen Entstehung und Gestaltwerdung zumindest mitbeteiligt. Ob der Mensch auf Dinge, Prozesse, Lebewesen oder Personen in der physischen Welt gerichtet ist, ob auf das Absolute und den Grund, ob auf sich selbst oder gar auf nichts, ob im Traum auf das Traumgeschehen oder in der Psychose auf Wahninhalte, immer konstituiert und konfiguriert er damit »Welt« oder, wie Heidegger (1979, 83 ff.) sagt, eine »Bewandtnisganzheit«, einen Bedeutungszusammenhang, einen »Seinssinn«, der auch noch durch Hemmungen, Verzerrungen, Brüche, VerwerfunIn Anlehnung an Herbert Spiegelberg unterscheidet Passie (1995, 174) vier Phasen in Binswangers geistiger Entwicklung: 1. Die präphänomenologische Phase (vor 1920), in der sich Binswanger mit den Vorläufern der wissenschaftlichen Psychologie, besonders mit Kant und dem Neukantianismus auseinandersetzt. 2. Die erste Husserlsche Phase (nach 1920), in der Binswanger die Bedeutung der phänomenologischen Methode für Psychologie und Psychiatrie fruchtbar zu machen versucht. 3. Die Heideggersche Phase (nach 1927), in der Binswanger das In-der-Welt-Sein mit seinen Existenzialien (»Daseinsgefüge«) als Norm für das menschliche Dasein und seine pathologischen Abwandlungen heranzieht. 4. Die zweite Husserlsche Phase (nach 1955), in der Binswanger die Konstitutionsphänomenologie, die Appräsentation und die Egologie, also das Subjekt und seine weltkonstituierenden Akte bzw. Intentionalitäten (und deren pathologische Formen) zur Grundlage seiner Psychopathologie macht. 11 Es ist klar, dass Heidegger genau hier kritisch ansetzte und den Intentionalitätsbegriff Husserls in sein Konzept des In-der-Welt-Seins (1979, 52 ff.) umformulierte. In Wahrheit liegt aber auch Heideggers Konzeption, insofern das In-der-Welt-Sein wesentlich vom Selbstentwurf des Daseins abhängt, der Intentionalitätsbegriff zugrunde. Beide Theoreme lassen sich also durchaus verbinden, und eben genau das ist das Anliegen des späten Binswangers. 10
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Der Traum als Manifestation der Existenz
gen hindurch scheint. Anders kann der Mensch gar nicht. Und daher ist es letztlich, wenn auch nicht unwichtig, so doch zweitrangig worin, also in welchem Medium sich diese Weltbildung formiert, ob im Leib, in der Mimik, Gestik, in der Bewegung, in Kunst, Tanz, ob in der Sprache, im Handeln, in der Technik, in der Wissenschaft, in der Religion, ob im Wahn oder im kritischen Nachdenken, ob im Wachen oder Träumen – immer ist der Mensch als Existenz mitwirkend, mitgestaltend, also frei-schöpferisch und sinnschaffend tätig, nie ist er nur Objekt, Gegenstand, Ding, Wirkung, sondern immer auch Wirker, Schöpfer, Gestalter, Subjekt, Person, Deuter, Interpret eines Weltzusammenhanges, eines ausgebreiteten Horizontes von übernommener und selbst produzierter Bedeutung. Da nun aber die menschliche Freiheit weder totale Willkür noch im Sinne der »tabula-rasa-Theorie« völlig unbestimmt ist, vielmehr ihre inneren Grundstrukturen besitzt, die teils apriorisch und damit unverfügbar vor- und mitgegeben, teils aposteriorisch erworben sind, Strukturen, die, wie Binswanger betont, zusammen ein sinnhaftes Gefüge, eine gefügt-gegliederte Ganzheit bilden, kann Binswanger darangehen, diese existenziell-kategorialen Grundstrukturen des Menschseins, die Heidegger »Existenzialien« nennt, im Felde der Psychopathologie und Psychiatrie, aber auch im Felde der Kunst und des Miteinanderseins herauszuarbeiten. Unter vielen verschiedenen Phänomenen hat er sich dabei auch des Phänomens des Traums angenommen, um zu zeigen, dass auch dieses so rätselhafte Phänomen typisch menschliche Wesenszüge, also solche Selbstvollzüge des Menschseins aufweist, die fundamental und deswegen universal sind und eine eigene Welt, eben die Traumwelt konstituieren. Denn als das sich selbst bewegende Wesen vollzieht sich der Mensch auch im Traum in vielfältigen Bewegungsweisen, sei es in der Weise des Stehens und Gehens, des Steigens und Fallens, des Schwebens und Emporgetragenwerdens, sei es in den Weisen des Schreitens, Stockens, Stolperns oder gar des Stürzens und Abstürzens. Geworfenheit und Entwerfen, Widerfahrnis und Selbstvollzug, Erleiden und Tätigsein sind im Traum in eigenartiger Weise verschmolzen und manifestieren so das Grundwesen des Menschen, Objekt und Subjekt, Fremdbestimmter und Selbstbestimmter in einem zu sein. Und so wird, wie Binswanger sagt, der Traum zum gegenständlich-bildhaften Gleichnis, zum dramatischen Symbol im goetheschen Sinne für das ungegenständliche Selbst- und Innesein des Menschen, für sein Selbstseinkönnen und Selbstseinmüssen (aber auch für sein Nicht19 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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selbstseinkönnen, aber Selbstseinwollen) 12 , für das, was nie, wie Jaspers (1947, 152 ff.) immer wieder betont, objektivierbar bzw. direkt von außen anschaubar ist, was aber doch nicht isoliert und abgespalten vom gegenständlichen Weltsein da steht, sondern medial sich darin manifestieren, ausgestalten – oder in einem schönen Ausdruck von Alexander Pfänder 13 – »auszeugen« und darleben will. Zu Recht spricht Binswanger darum von der Selbstkundgabe des Daseins im Traum bzw. davon, dass im Traum das Dasein vor sich selbst gebracht ist. Wie ist das genauer zu verstehen und woran können wir dies in konkreten Träumen erkennen?
Der Traum als Abwandlung der Existenz Nachdem die zwei Wesensaspekte des Menschseins und ihre innigunzerreißbare Einheit aufgewiesen worden sind, nämlich sein existenzielles, auf erlebte Freiheit gebautes Selbstseinkönnen und dessen notwendige Entwerfung und Gestaltung in einem zeiträumlich ausgebreiteten Medium (Leib, Sprache, Umwelt etc.), das wir allgemein mit Scheler »Welt«, mit Heidegger »Bewandtnisganzheit« oder mit Jaspers und Sartre »Situation« nennen, dürfen wir an die Aufgabe gehen, diesen Zusammenhang im Felde einer »regionalen Ontologie«, dem Seinsbezirk des Traums aufzudecken. Was sagt Binswanger dazu? Wovon geht er aus? Und wohin führt ihn seine phänomenologisch-existenzielle Analyse des Träumens im Detail? Wie bei seinen psychopathologischen und literarischen Analysen, so versucht Binswanger auch in Bezug auf den Traum die Existenzialien und ihr Strukturgefüge zu erfassen, also jene ungegenständlichen bzw. inständlichen Vollzüge oder Akte zu bestimmen, die das fundamentale und damit allgemeine Wesen des Träumens ausmachen. In seinem Aufsatz Traum und Existenz findet sich eine Reihe von Existenzialien des Traumes, die im Folgenden sukzessiv besprochen, erklärt und gewertet werden sollen. Bei der Betrachtung von exemplarischen Träumen, z. B. solchen von Gottfried Keller, von Goethe, aber auch von Patienten, fiel BinsIn dieser Diskrepanz von Wollen und Nichtkönnen liegt die Wesenszwietracht des Leidens (vgl. Wandruszka 2009). 13 Der Begriff des »Auszeugens« erscheint in Pfänders Hauptwerk Die Seele des Menschen (1933), das den Versuch einer phänomenologischen Psychologie darstellt. 12
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Der Traum als Manifestation der Existenz
wanger (1994b, 100–106) auf, dass die Träumer in leibhaftiger Gestalt, sei es als Mensch oder Tier (und hier vor allem als Vogel), oft auffliegen oder hinunterfallen, steigen oder stürzen, stocken oder springen, 14 schweben oder sinken, dass sie sich also nicht nur überhaupt bewegen, was ja als Selbstbewegung eine Grundäußerung des Lebens ist, sondern ihre Bewegung in den Dimensionen der Höhe und Tiefe, der Weite und Enge vollziehen. Nach der klugen Feststellung Binswangers, dass sich Erleben und Sprache primär gemäß unseres leiblichen In-der-Welt-Seins konfigurieren, arbeitet er aus der Tatsache des geträumten Fliegens, Steigens, Fallens und Schwebens heraus, dass es sich hier nicht nur um neutrale physische Dislokationen im geometrischen Raum, sondern um lebendige Vollzüge in einem Bedeutungs-, Sinn- und Wertraum handelt. Denn für den leibhaften Menschen verbinden sich mit dem »Oben« das Aktive und Aufrechte, Helle und Klare, das Würdige, Stolze, Erhabene, das Leichte, Souveräne, Starke, die Freude und das Über-sich-selbst-hinausSein, aber auch das Sichversteigen, während sich mit dem »Unten« das Schwere, Schwache, Dunkle, Tödliche, das Sich-verlieren, das Kranke und Sterbende, die Trauer und die Passivität, aber auch das Sich-erden und Festgegründetsein verknüpfen. Hierzu passend berichtet Jean Paul folgenden Fliegetraum: »Wahrhaftig selig, leiblich und geistig gehoben, flog ich einige Male steilrecht in den tiefblauen Sternhimmel empor und sang das Weltgebäude unter dem Steigen an.« (Zit. in Binswanger, 1994b, 105) Obwohl in ungeheurer Ekstase verliert sich hier in diesem Traum der Dichter keineswegs, sondern behält seine Form und wird seiner Bestimmung, die Größe und Schönheit der Welt dichterisch zu besingen, voll gerecht. Wie anders der Traum eines psychotischen Patienten Binswangers, der träumt: »Ich befand mich in einer wunderbaren anderen Welt, in einem Weltenmeer, worin ich ohne Form geschwebt. Von weitem sah ich die Erde und alle Gestirne und fühlte mich ungeheuer flüchtig und mit einem übermäßigen Kraftgefühl.« (Zit. in ebd.) In beeindruckender Prägnanz wird hier dem Träumer die Gefahr der Selbstauflösung, der Ich-Inflation und weltverlierenden narzisstischen Verstiegenheit gespiegelt. Wieder anders verhält es sich bei einem Traum Gottfried Kellers, der träumt, dass er mit seinem Onkel einen erhaben schwebenden Das »Springen« erkennt Binswanger (1933) in seinen Ideenfluchtstudien als die fundamentale »Gangart« des manischen Menschen.
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Boris Wandruszka
Adler, der eine Krone trägt, beobachtet, aber schließlich, als das Tier zum Fenster hereinfliegt, das Gewehr ergreift, nach ihm schießt und am Boden statt des Adlers nur noch einen Haufen von schwarzen Papierschnitzeln liegen sieht, »worüber wir uns sehr ärgerten« (zit. in ebd., 101 f.). Obwohl wir hier intuitiv einen tieferen Sinn spüren, so erschließt er sich, wie bei vielen Träumen, nicht auf Anhieb und bleibt verhüllt. Doch immerhin sagt der Traum klar, dass hier etwas Hohes, Großes, Wertvolles mit Gewalt »heruntergeholt«, ja zerstört wird und dann in Wertloses übergeht. Studiert man mehrere Träume Gottfried Kellers, dann wiederholt sich das Motiv der Gewalttat, der Tötungslust, der Werterniedrigung und der Enttäuschung und weist uns so auf einen tiefen Daseins- und Selbstkonflikt im Dichter hin, der natürlich nur im Rahmen eines sehr persönlich-therapeutischen Gespräches aufgeklärt werden könnte und im Übrigen eine schwere Selbstwertproblematik spiegelt. Diese Aufklärung aber würde, wie auch Binswanger betont, nur gelingen, wenn man neben der Analyse der Existenzialien, also der grundlegenden und apriorischen Daseinsmöglichkeiten, hier als Bewegungsmöglichkeiten manifestiert, die nur aposteriorisch zu fassende innere und äußere Lebensgeschichte des Träumers ermitteln und in Beziehung zum manifesten Traumgeschehen bringen würde. Im Falle seines psychotischen Patienten, dessen Traum wir oben wiedergegeben haben, kann Binswanger dann z. B. sagen: Geht man aber der äußeren und inneren Lebensgeschichte unseres Kranken auf den Grund, so gewahrt man immerhin, dass dieser Rückkehr in die kosmische Urkraft eine stark erotisch gefärbte Muttersehnsucht entspricht, nämlich das von dem jugendlichen Kranken deutlich zur Schau getragene und realiter betätigte Anlehnungsbedürfnis an eine mütterliche Geliebte. So kommt hier hinter dem anscheinend rein objektiven Dynamismus ein stark subjektiver Personalismus zum Vorschein, der den Halt am Objektiven und Unpersönlichen immer wieder in Frage stellt (ebd., 106).
Entspringt diese klassisch psychoanalytische, d. h. genauer psychodynamische und psychogenetische Deutung aber nicht, so muss man fragen, der willkürlichsten Phantasie? Oder anders: Vermag Binswanger diese zweifellos hermeneutische Deutung in der Struktur des Traumes selbst zu verankern und so auch sachlich, seinsmäßig zu begründen? Ich meine ja, er kann dies, und ich mache dies an dem unscheinbaren Wörtchen »entspricht« fest, womit Binswanger 22 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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die Rückkehr des Träumers in die kosmische Urkraft mit der Sehnsucht nach der Mutter in eine gar nicht willkürliche, sondern innere, eben symbolische Beziehung bringt.
Der Gleichnis- und Symbolcharakter des Traums als Kundgabe des existenziellen Selbstseins In der Tat dringt Binswanger mit dem Entsprechungsgedanken tief in den Wesens- und Sinngrund des Traums vor, denn er erkennt, dass das manifeste Traumgeschehen und die darin sich kundgebende »latent-verborgene« Existenzdynamik des Träumers einander nicht nur, wie die Psychoanalyse meint, assoziativ-äußerlich, allegorisch, Freud sagt: »wie in einem Bilderrätsel, einem Rebus« zugeordnet sind (1999, 283 f.), sondern einander strukturell, gestaltlich und sinnhaft entsprechen, und eben dadurch das bilden, was im Kunstschaffen »Gleichnis«, »Symbol«, »physiognomischer Ausdruck« heißt und was Binswanger selbst immer wieder, etwa auch in seiner bedeutenden Ibsen-Studie (1949, 74–97) so bezeichnet. Was aber beinhaltet dies tiefer betrachtet? Nichts weniger, als dass der Traum keineswegs nur, wie Ricœur sagt, »Symbolgeröll« (1974, 516) ist, sondern dass der Traum, wenigstens in nicht seltenen Fällen, gestaltet, ja gebaut ist, und zwar gleichsam von innen heraus, will sagen, von den innersten Erfahrungen, Gestimmtheiten, Einstellungen, Hoffnungen, Erwartungen, Ängsten und Wünschen des Träumers. Damit ist der Traum aber kein Symbol im konventional-äußerlichen Sinne, sondern, wie auch Boss (1974, 236 ff.) betont, eine weltbildende Selbstkundgabe des träumend-gestimmten Selbst im Medium der träumenden Phantasie. Die Entsprechung, von der Binswanger spricht, verdankt sich daher keiner Zusammensetzung, sondern einer Selbstauszeugung, einer tief sinnhaften Selbstgestaltung im Medium der unwillkürlichen Phantasietätigkeit des schlafenden Menschen. Führend in dieser Gestaltbildung ist aber – ganz in Anlehnung und Übereinstimmung mit Heidegger, Boss und den heutigen Emotionstheorien – die Gestimmtheit, also die emotionale Befindlichkeit des Träumers.
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Das existenzial-fundamentale Strukturgefüge des Traums Aufgrund dieser meines Erachtens richtigen Einsicht wagt sich Binswanger nun noch weiter vor und legt weitere fundamentale Existenzialien des Traums frei. Binswanger erkennt nämlich im Traum eine schöpferische Potenz, die mittels dramatischer Mittel das Selbstseinkönnen, Selbstseinsollen und Selbstseinmüssen, aber auch das Nichtselbstseinkönnen, aber Selbstseinwollen des Träumers als Handlungsgeschehen darstellt. Dabei werden die verschiedenen Aspekte, Strebungen, Motive und Konfliktkonstellationen des Traumselbst auf verschiedene Figuren wie auf dramatische Rollen mit dem Ziel verteilt, deren Zusammen- und Gegeneinanderwirken gleichsam sichtbar zu machen und anschaulich-erlebbar durchzuspielen (was schon an sich eine stupende geistige Leistung des »Unbewussten«, der »Tiefenperson« ist (Frankl, 1988). Dieser Vorgang, in dem sich das Selbst als Viele erlebt, bedingt wiederum, dass es einerseits zu einer objektivierenden, d. h. gegenständlich-veranschaulichenden Vergegenwärtigung des Selbst und seiner inneren Kämpfe, Konflikte und Brüche im Traum, andererseits, wie Binswanger sagt (1994b, 100), zu einer »Einkleidung« und damit zu einer Verschlüsselung des Inneren des Träumers kommt, die, wie er ebenfalls sagt, eine Rückübersetzung in die alltägliche Begriffssprache nötig macht. Denn der Traum spricht in bewegten, dramatisch gestalteten Bildern, und eben nicht in Gedanken und Begriffen; er spricht gewissermaßen vorrational in magisch-mythischen Imaginationen, die uns, wie Sartre (1994, 254 ff.) richtig sieht, faszinierend fesseln und verstricken. Durch diese spezifische Traumsprache, die nicht allegorisch, sondern gleichnishaft-symbolisch redet, konstituiert sich aber eine selbstbezügliche, sich selbst anschauende »Eigenwelt« ohne direkten Bezug zur äußeren Wachwelt – eine Eigenwelt, die vom Träumer als geschlossen-einheitliches Ganzes erlebt wird und die ich daher die »Landschaft des Selbstseins« (Wandruszka 2008, 205) nenne, in der sich das ungegenständliche Selbst- und Innesein des Menschen gegenständlich darlebt, auseinanderfaltet und so sich selbst gegenübergestellt sieht. Hier mag der Hinweis nicht uninteressant sein, dass schon der Philosoph Georg Simmel (1911, 245–277) in Bezug auf das Kulturleben des Menschen genau diese Besonderheit, ja dieses Dilemma des Menschseins aufgezeigt hat: Um zu leben, sich auszudrücken und um zu kommunizieren, muss der Mensch die gegenständlich-dingliche Welt ergreifen und gestalten, etwa in Bewegung, 24 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Gestik, Sprache, Technik, Kunst, Wissenschaft und Religion, um aber dann doch auch zu gewahren, dass diese Manifestation seines Seins nicht nur Offenbarung, sondern immer zugleich und notwendig Begrenzung und Verhüllung ist und nicht selten in Verstellung und Verzerrung übergeht. Leicht ersichtlich liegt darin auch die Bedingung der Möglichkeit für Maske und Maskierung. Das Verhältnis von überendlichem, d. h. alles Endliche transzendierendem Selbst und endlich-begrenztem Medium, in dem sich das Selbst manifestieren muss, ist schließlich der wesentliche Grund, warum der Mensch seine Kulturschaffungen immer wieder überschreitet, ja überwinden und oft sogar zerstören muss, denn rasch werden sie, wie jede Jugend weiß, zu Fesseln und lebenserstickenden Konventionen und Normen. Die geschlossen-einheitlich-gestaltete Eigenwelt des Traums bedingt schließlich, dass sie sich, wie der für das Kunstschauen so begabte Binswanger klar sieht, dem Kunstwerk annähert und nicht selten, wie z. B. im Falle des berühmten Fasanentraumes Goethes, den auch Binswanger zitiert (1994b, 104), eine hohe ästhetische Qualität annimmt.
Der ontologische Grundzug des Träumens Von größerer Bedeutung als der ästhetische Aspekt ist für unsere Zwecke aber Binswangers Ausdrucks- oder Expressionsgedanke, der besagt, dass sich im Traum das spezifische Sosein des Menschen gemäß den Existenzialien und gemäß der einmaligen individuellen Lebensgeschichte gleichnishaft-dramatisch ausdrückt und auslebt. Dieser Vorgang erfolgt aber nicht wie beim Künstler bewusst-gewollt und reflektiert (außer in so genannten Klarträumen), sondern unwillkürlich-unmittelbar, also präreflexiv und implizit, man könnte auch sagen »unbewusst«. Denn der Träumer weiß nicht, dass er sich in dramatischen Bildern darlebt und ausdrückt, weiß nicht, dass er seine ungegenständliche Subjektivität objektiviert, weiß nicht, dass er sich gewissermaßen vor einen Spiegel gestellt sieht und in dieser Selbstbespiegelung in effigie manifestiert. Philosophisch gesprochen bedeutet dies, dass der Träumer zwar intentional auf das Traumgeschehen bezogen ist, dieses aber nicht macht, sondern viel eher erleidet und mitleidet, von woher, wie Sartre (1994, 254–279) richtig sah, das magisch-faszinierend-Fesselnde des Traums herrührt. Und in der Tat: Uns widerfährt das Träumen, was nichts weniger bedeutet, als dass 25 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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wir nicht nur in das Träumen geworfen werden (denn niemand beginnt sein Träumen selbst), sondern dass wir im Traum sogar gemacht werden. Binswanger sagt darum zu Recht: Hier ist, um mit Heidegger zu reden, das Dasein vor sein Sein gebracht; es ist gebracht, insofern als ihm etwas geschieht, und als er nicht weiß, wie und was ihm geschieht. Das ist der ontologische Grundzug alles Träumens und seiner Verwandtschaft mit der Angst! Träumen heißt: Ich weiß nicht, wie mir geschieht. In dem Ich und Mir kommt zwar der Einzelne […] wieder zum Vorschein, aber keineswegs als derjenige, der den Traum macht, sondern als der, dem er, »er weiß nicht wie«, geschieht (1994b, 118).
Wachen und Träumen: der existenzielle Status zweier Daseinsformen Dieser Widerfahrnischarakter des Traumes, der am Grunde der Subjektivität unser aller Bestimmt- und Geworfensein, ja unseren primär ontologischen Objektstatus offenbart, erlaubt Binswanger zum Schluss seines Vortrages eine Gegenüberstellung von Träumen und Wachen. Was zeichnet Letzteres, also das Wachen, gegenüber dem Ersteren aus? Binswanger sagt: Ein Einzelner wird aus einem nur Selbigen ein Selbst oder »der« Einzelne, aus dem Träumer ein Wacher in dem unergründlichen Augenblick, wo er sich entscheidet, nicht nur wissen zu wollen, wie ihm geschieht, sondern auch »selber« einzugreifen in die Bewegung des Geschehens, wo er sich entschließt, in das bald steigende, bald fallende Leben Kontinuierlichkeit hineinzubringen oder Konsequenz. Erst jetzt macht er etwas. Was er aber macht, das ist nicht Leben, denn das kann auch der Einzelne nicht machen, sondern Geschichte (ebd.).
Mit anderen Worten: Aus dem primär Geworfenen wird ein Entwerfer, aus dem Passiven ein Aktiver, aus dem Objekt ein Subjekt, aus dem Schlafend-Schlummernden ein Wacher, und eben der ist eo ipso aktiv erlebend, aktiv schauend, aktiv fühlend und aktiv wollend, also in originärer Weise selbstbestimmend. Indem aber der Wache in das Leben und die Welt eingreift, ergreift er auch sich selbst und gibt sich, wie Binswanger sagt, eine Lebensrichtung. Formt er diese Richtung konsequent aus, dann erhält sein Leben, wie Binswanger betont, eine Daseinsgestalt und einen Daseinsstil, der seinerseits den Daseinsgang des Menschen entscheidend und oft auch fatal, wie z. B. im Falle von Ibsens Baumeister Solness, gliedert. Damit aber trifft der Mensch 26 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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eine Wahl, ja Grundwahl (choix originel, Sartre, 1997, 956 ff.) und stellt sich in eine Welt der Werte und Unwerte, etwa solchen, die nach oben, oder solchen, die nach unten weisen, Werten, die das Leben weit oder eng, reich oder arm, hoch oder niedrig, souverän oder verstiegen, geradlinig oder verschroben, natürlich oder manieriert gestalten (vgl. Binswanger 1956). In einer solch selbstverantworteten Selbstübernahme macht der Mensch aus einem Leben schließlich Geschichte und nimmt demselben den bloßen Ablaufcharakter, den wir bei den anorganischen Dingen und sogar noch bei den Tieren gewahren. Macht er dies »richtig«, d. h. in Übereinstimmung mit den allgemeinmenschlichen Existenzialien (in denen Binswanger letzte Lebensnormen sieht) und mit der eigensten unvertretbaren Selbstbestimmung, die sich stets als konkret-historische Aufgabe im Dienste des menschlichen und kosmischen Ganzen stellt, dann macht er nicht nur Geschichte, sondern gute, gelungene und erfüllte Geschichte. Indem im Traum eine Sichtbarmachung des Daseinsstiles eines Menschen und dadurch eine Selbstklärung stattfinden oder doch stattfinden können, hilft sogar dieses vordergründig so egozentrisch und geschichtslos wirkende Phänomen dem wachen Menschen in der Erfüllung seines Lebens in Welt und Gemeinschaft. Ist der Traum aber wirklich so egozentrisch und geschichtslos, wie Binswanger (1994b, 98 ff.) in Anlehnung an Heraklit und seinen berühmten Satz: »Den Wachenden gehört eine gemeinsame Welt, der Schlummernde wendet sich der eigenen Welt zu« (Fragment 89) behauptet? Hier muss meines Erachtens eine Kritik an Binswanger ansetzen, die seine Überlegungen ergänzt. Denn nur vordergründig ist der Träumer, wie Binswanger schreibt, »eine bloße Nummer« (ebd., 115), ein idios kosmos, eine Täuschung, ein »Missverständnis über das Menschsein«, gemeinschaftslos, geschichtslos und daher aus Sicht Binswangers eine uneigentliche Existenz. Die einseitige Abwertung der Traumexistenz, die Binswanger hier vornimmt, ist nämlich keineswegs zwingend. Warum? Nun, abgesehen davon, dass der Mensch nicht nur ein Gemeinschaftswesen ist, sondern nicht selten sogar gegen alle Gemeinschaft einem einsamsten Ruf zum Selbstsein folgen muss (vgl. Kierkegaard und Heidegger), und also eine Abwertung des Selbstpols gegenüber dem Beziehungspol genauso wenig angeht wie umgekehrt eine Abwertung des Gemeinschaftspols gegenüber dem Selbstpol (eben weil sie ontologisch gleich hoch stehen), beweist eine genauere Analyse des Traums, dass er nicht nur die innere Kohärenz 27 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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bzw. Inkohärenz des Selbstseins, sondern in den meisten Fällen ebenso die Beziehungsformen zu Mitmenschen und Gemeinschaft, die »Interaktionsmuster« oder RIGs (representations of interactions generalized) nach Daniel Stern (1992), wenn auch oft nur indirekt und verhüllt, thematisiert und nicht selten korrigiert. Von einem »Missverständnis des Träumers« über sich selbst zu sprechen, wird daher dem Traum nicht gerecht. Warum der Träumer subjektiv seine Welt aber tatsächlich für eine eigenständige und abgeschlossene Welt hält (obwohl sie das »objektiv« nicht ist) und welcher Sinn darin liegt, habe ich in meiner Traumarbeit (Wandruszka 2008) auszuloten versucht.
Die Frage nach der Verursachung des Traums Durchaus konsequent schließt Binswanger mit der Erkenntnis der Daseinsdifferenz zwischen Träumen und Wachen seine phänomenologische Analyse ab, denn sie kann nur das Gegebene, sei es im Wachen, sei es im Träumen, betrachten und behandeln, mehr nicht. Das menschliche Denken aber wird sich damit nicht zufrieden geben, denn ein jeder würde sofort und unwillkürlich fragen, wer oder was, wenn eben nicht der Träumer selbst, den Traum hervorbringt, das Traumgeschehen so seinsmächtig erzeugt, initiiert und nicht selten sinnhaft-gleichnishaft den Daseinsentwurf und Daseinsstil eines Menschen gestaltet? Hier drängt sich die berühmt-berüchtigte Frage nach der Ursache, dem Wirkgrund, dem Schaffens- und Gestaltungsquell auf, der da sein muss, aber sich phänomenologisch entzieht und darum anderweitig ermittelt werden muss. Da die Phänomenologie allgemein die Kausalitätsfrage von ihren Bemühungen ausschließt, diese Frage aber eine Urfrage der Menschheit ist, zumal in Mythos, Religion und Philosophie, kann sie nicht umgangen werden. Denn alles in diesem Universum entsteht, also muss es eine seinsmäßige, objektive Bedingung der Möglichkeit solchen Entstehens geben, und eben dieser Bedingungsgrund kann im Entstehenden allein nicht liegen, sondern muss diesem ontisch und ontologisch vorausgehen. Da nun kein Phänomen in dieser Welt sich einzig und allein aus sich selbst verstehen lässt, auch nicht ein psychopathologisches Phänomen oder der Traum (was aber die Hoffnung oder gar der Anspruch mancher Phänomenologen war), lässt sich ein durchgreifendes Verständnis erst erreichen, wenn auch die Bedin28 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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gung der Möglichkeit des Entstehens eines Phänomens aufgeklärt wird. Gerade in der Psychiatrie ist das aber leider oft nicht möglich, und entsprechend muss man sich nicht selten mit einem Nichtverstehenkönnen bescheiden. Die allzu rasche Rückführung rätselhafter Phänomene auf die Gehirnbiologie, auf das Unbewusste oder auf einen Daseinsentwurf (dessen Ursprung auch bei Binswanger zumeist im Dunkeln liegt), muss daher immer kritisch hinterfragt werden. Was den Traum betrifft, so habe ich mir in meinem eigenen »Traumbuch« (Wandruszka 2008) unter anderem diese Frage gestellt und gezeigt, dass genau jene Strukturaspekte, die Binswanger als die Existenzialien des Traumgeschehens offengelegt hat, nur einen Rückschluss erlauben, nämlich den, dass der schöpferische, aber verborgene und daher auch unverfügbare Grund des Träumens, den auch Binswanger annimmt, nicht bloß physikalischer oder biologischer Provenienz sein kann, sondern notwendig personal-geistiger Herkunft sein muss. 15 Wie das genau zu denken ist, kann ich hier nicht darlegen. In meiner ausführlichen Philosophie des Traums lässt es sich aber nachlesen und vielleicht auch nachvollziehen.
Die philosophische Grundaufklärung: die Bedingung der Möglichkeit des Bestehens des ungegenständlichen Seins im gegenständlichen Sein als notwendige Voraussetzung des Träumens An diesem Punkt angelangt, könnte dieser ganze Diskurs beendet werden, und er darf in Bezug auf Binswangers Lehre auch durchaus als abgerundet gelten. Doch philosophisch bleibt wesentlich Ungeklärtes, nämlich Wesen und Grund dessen aufzuzeigen, was die Daseinsanalyse Binswangers letztlich begründet: die Möglichkeit dessen, dass sich das ungegenständliche Dasein, also der sich selbst ergreifende und gestaltende, im Kern frei und darin auch unvertretbar »einsam« vollzogene Eigengrund des Menschen 16 in der sichtbarViktor Frankl (1988) spricht treffend von der »geistigen Tiefenperson«. Oder, wie Jaspers (1947, 54 ff.) sagt, dieser als Objekt niemals erfahrbare »Eigenoder Selbstursprung« der Existenz. Im Übrigen teilt auch Binswanger diese Auffassung von der Unableitbarkeit des personalen Erlebens aus irgendwelchen Lebensfunktionen, weshalb er in Anlehnung an Thomas Hobbes treffend vom »Urphänomen« (Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte) des »Erlebens von etwas«, der »Er-
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begrenzten, sinnlich-anschaulichen, also objektiv-gegenständlichen Welt überhaupt darleben und zeigen kann. Vordergründig mutet dies wie ein Dilemma, ja wie eine Aporie an, und so sieht es Jaspers (1947, 54 ff.) auch. Doch das gilt nur vordergründig, in Wahrheit liegen die Verhältnisse anders, auch komplexer. Um dies zu sehen, muss man sich zunächst klar machen, dass das ungegenständliche Sein, etwa eben das des Menschen, immer ein aktives, heißt selbsttätig-selbsterlebendes Sein ist. Als aktives ist es aber notwendig hervorbringend, schaffend, schöpferisch. Doch was bringt es hervor? Nun, nichts anderes als gegenständlich Seiendes! Schon wenn wir nur die »inneren« Erzeugnisse des Erlebens und Bewusstseins des Menschen betrachten, seine Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Wünsche, Begriffe, Worte, Bilder, Imaginationen, dann handelt es sich bei allen diesen nie um Ungegenständliches, also um Akte oder aktive Zustände des Erlebens, des Bewusstseins, des Ich, sondern um Dinge, Objekte, uns innerlich gegenüberstehende Gegenstände, eben Wirkungen des Ich, wenn auch natürlich rein mentaler Art. Doch können wir jederzeit diese inneren, mentalen Objekte »veräußerlichen« und z. B. in Wortund Schriftsprache, in Mimik und Gestik, in technische, medizinische, künstlerische, wissenschaftliche, politische und religiöse Handlungen und Werke, kurzum in sinnlich-materielle Gegenstandswelten überführen. Und umgekehrt gilt dasselbe: Wir sind durchaus in der Lage, Dinge, Ereignisse, Geschehnisse, Personen der so genannten Außenwelt, die sich selbst immer nur in gegenständlichen Medien entfalten und präsentieren, so vor allem in der anorganisch-organischen Materie, in die Gegenstandswelt unserer mentalen Objekte, also in Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Gedanken, Begriffe usw. zu transponieren. Stimmt dies, dann gibt es aber keineswegs, wie Jaspers (1958, 27 ff.) in Anlehnung an Kant meint, eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem ungegenständlichen Selbst (»Ding an sich«) und der gegenständlichen Welt der Erscheinungen. Vielmehr gehören sie engstens zusammen, ja sie kommunizieren miteinander, und was die mentalen Objekte, die leiblichen Handlungen und die materiellen Werke betrifft, werden sie sogar vom ungegenständlichen Ich originär hervorgebracht, also in scheinungshaftigkeit« des geistigen Lebens spricht, eines Urphänomens, das »nur aus sich selbst begriffen werden kann« (Binswanger 1994a, 60). Es ist klar, dass Binswanger hier dem Naturalismus, wie er sich heute in Philosophie und Psychiatrie, ja auch in der Phänomenologie immer wieder vordrängt, eine entschiedene Grenze zieht.
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geistiger Kausalität erzeugt. Damit aber muss sich das ungegenständliche Selbstsein notwendig in seinen gegenständlichen Wirkungen, Werken und Handlungen ausprägen, abzeichnen, gleichsam wie mit Fingerabdrücken darin abbilden und somit zugleich offenbaren und verhüllen. Ja, eine genauere Kategorialanalyse kann sogar zeigen, dass diese beiden »Seinsränge« (Brandenstein 1966), eben der ungegenständlich-aktiv-schöpferisch-subjektive und der gegenständlichdinglich-passiv-objekthafte Seinsrang, viele Grundstrukturen des Seins gemeinsam haben, was beweist, dass alles Seiende – das daseiende Seiende (das Ich), das vorhandene Seiende (Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen) und das zuhandene Seiende (Werkzeuge und Werke), um in der Sprache Heideggers zu sprechen – auf ein ursprünglichstes, höchstes, vollstes Sein zurückgeht, das alles Seiende, ob ungegenständlich-inständlich, ob gegenständlich-dinglich, trägt, hält, umfasst, nährt, »ruft«, erfüllt und erhebt. Eine Sonderstellung nimmt dabei, wie auch Binswanger (1947, 144 ff.) nicht müde wird zu betonen und auch wir hier nicht unterschlagen, das leibliche Erleben ein, das nämlich wesenhaft beides ist, ungegenständlicher Selbstvollzug und gegenständliches Körpersein, und zwar in einem und untrennbar, wenn auch oft in Spannung und Konflikt bis zu Entfremdung und Bruch (vgl. Wandruszka 2009, 256 ff.). Die Tatsache der kategorialen Zwischenrangigkeit der Leiblichkeit gewinnt natürlich vor allem für Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie eine eminente und zentrale Bedeutung, in Wahrheit aber durchzieht sie das gesamte Leben des Menschen und konstituiert seine einzigartige Stellung im Kosmos. Analog verhält es sich mit dem Traum: In seinem bildhaft-dramatischen Aufbau ist er zunächst immer gegenständlich-dinglicher Natur, »Erscheinung«, doch als »Werk« der Tiefenpsyche manifestiert sich darin notwendigerweise und immer auch das ungegenständliche Selbstseinkönnen, Selbstseinwollen und Selbstseinmüssen des Menschen – und manchmal manifestiert sich darin sogar noch mehr oder zeigt sich wenigstens als Spur, als Wink, in indirekter Gestalt: nämlich der ganz und gar ungegenständliche, der ungegenständlichste »Grund« überhaupt, jenes Sein, das im Modus des actus purus steht, das rein aktive Urwesen des Seins schlechthin oder mit dem traditionellen Wortgebrauch: die Gottheit, das Eine, der Ursprung aller Ursprünge. Nicht selten heißt es daher in heiligen Texten: »Und der Heilige sprach im Traum durch seinen Boten«. Sollte das tatsächlich möglich sein, dann bewiese dies, dass der Traum als besondere 31 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Seinsweise des Selbstseins bzw. der Existenz für letztlich alles, für jede Seinsdimension transparent ist oder doch sein kann.
Literatur Binswanger, L. (1933). Über Ideenflucht. Zürich: Orell Füssli. Binswanger, L. (1942). Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich: Niehans. Binswanger, L. (1947). Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, Zur phänomenologischen Anthropologie. Bern: A. Francke. Binswanger, L. (1949). Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst. Heidelberg: Lambert Schneider, S. 74–97. Binswanger, L. (1994a). Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte. In M. Herzog & H.-J. Braun (Hrsg.), Vorträge und Aufsätze: Ausgewählte Werke 3 (S. 50–73). Heidelberg: Asanger. Binswanger, L. (1994b). Traum und Existenz. In M. Herzog & H.-J. Braun (Hrsg.), Vorträge und Aufsätze: Ausgewählte Werke 3 (S. 95–119). Heidelberg: Asanger. Binswanger, L. (1956). Drei Formen missglückten Daseins. Tübingen: M. Niemeyer. Boss, M. (1974). Der Traum und seine Auslegung. München: Kindler. Brandenstein, B. v. (1966). Grundlegung der Philosophie (Bd. 3). München: Anton Pustet. Frankl, V. (1988). Der unbewusste Gott. München: Kösel. Freud, S. (1999). Die Traumdeutung (Ges. Werke, Bd. 2/3). Frankfurt am Main: Fischer. Heidegger, M. (1979). Sein und Zeit. Tübingen: M. Niemeyer. Jaspers, K. (1913). Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin: Springer. Jaspers, K. (1947). Von der Wahrheit. München: Piper. Jaspers, K. (1958). Der philosophische Glaube. Frankfurt a. M.: Fischer Kierkegaard, S. (1976). Die Krankheit zum Tode. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Passie, T. (1995). Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Eine Studie über den »Wengener Kreis«: Binswanger – Minkowski – von Gebsattel – Straus. Hürtenwald: G. Pressler. Pfändner, A. (1933). Die Seele des Menschen. Halle: Max Niemeyer. Rattner, J. (1995). Klassiker der Psychoanalyse. Weinheim: Beltz. Ricœur, P. (1974). Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sartre, J.-P. (1994). Das Imaginäre. Hamburg: Rowohlt. Sartre, J.-P. (1997). Das Sein und das Nichts. Hamburg: Rowohlt. Scheler, M. (1928). Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt: Reichl. Stern, D. (1992). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Der Traum als Manifestation der Existenz Simmel, G. (1911). Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Philosophische Kultur. Leipzig: Kröner, S. 245–277. Wandruszka, B. (2008). Der Traum und sein Ursprung. Eine neue Anthropologie des Traums. Freiburg: Alber. Wandruszka, B. (2009). Philosophie des Leidens. Freiburg: Alber.
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Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse Karl-Ernst Bühler
Einführung Ludwig Binswanger darf als der Begründer der daseinsanalytisch orientierten Psychologie und Psychopathologie gelten. Ihm kommt das Verdienst zu, sich in seinem Werk ernsthaft abwägend und keineswegs kritiklos mit der Psychoanalyse Freuds auseinandergesetzt zu haben, obwohl er Freud zeitlebens persönlich verbunden war. Er konnte jedoch dem naturalistischen Menschenbild der Schule Freuds nicht zustimmen. Aufgrund der gedanklichen Nähe zur Existenzphilosophie Martin Heideggers, welche auch Daseinsanalytik genannt wird, gab er seiner psychologischen Lehre den Namen »Daseinsanalyse«. Im angelsächsischen Sprachraum wird die Daseinsanalyse als »Existential Analysis« oder im Zusammenhang mit verwandten psychotherapeutischen Ansätzen als »Existential Psychotherapy« bezeichnet. Die existenziellen Psychotherapierichtungen (vgl. Bühler & Wyss 1985) mit ihren Wurzeln in der Lebensphilosophie (Dilthey, Nietzsche), der Phänomenologie (Husserl, Scheler) und der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre) entwickelten sich auch als Gegenbewegung zu den reduktionistischen und mechanistischen Auffassungen der Psychoanalyse Freuds und ihrer Nähe zu naturwissenschaftlichen Denkkategorien, insbesondere der Physik um die Wende zum 20. Jahrhundert. Das Bemühen um ein eigenständiges Menschenbild darf als eine grundlegende Gemeinsamkeit aller existenziellen Schulen angesehen werden. Deren Erkenntnisinteresse richtet sich auf spezifisch menschliche Eigenschaften, die dem abendländischen Humanismus entstammen, wie die Freiheit des Willens, die persönliche Würde des Individuums, grundlegende autonome Fähigkeiten zu kreativen Akten, Möglichkeiten der Wahl sowie das Setzen von Werten und Zielen. Der Mensch wird somit als aktiver, autonomer Gestalter seiner 34 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
Existenz angesehen, der sich Werte und Ziele setzen kann, und der nach Verwirklichung seiner Möglichkeiten, seines Selbstentwurfs strebt. Als notwendige Folge von Willensfreiheit, also des Setzens von Werten und Treffens von Entscheidungen, wird die Verantwortlichkeit angesehen – ihrerseits eine Voraussetzung für die Erfahrung des Schuldigwerdens und des Gewissens. Das Verfehlen dieses Anspruchs wird als »existenzielle Schuld« bezeichnet.
Die Grundpolarität zwischen Binswanger und Freud Die Grundpolarität zwischen Binswanger und Freud lässt sich kurzgefasst auf die folgenden beiden Fragen zurückführen (vgl. auch Bühler 1993): (a) Ist der Mensch in seinem Sein Natur, ist sein Leben durchwirkt von Trieben und sein Geist ein Sklave dieser Triebe? (b) Oder ist der Mensch als liebender Mit-Mensch ein geistiges Wesen, das sein Lebensziel in der Liebe – dem nach Binswanger obersten Prinzip – sieht, dessen Geist Kultur und Religion entspringen, die gerade nicht aus einem Triebverzicht abgeleitet werden können? Diese Polarität entwickelte sich nach Binswangers Einschätzung in fünf Phasen (Binswanger 1957). Die erste Phase wird als die des »Lernens« bezeichnet. Carl Gustav Jung machte seinen Doktoranden mit der Psychoanalyse vertraut und nahm ihn 1907 mit zu einem Besuch bei Freud in Wien. Der Beginn der Freundschaft zwischen Binswanger und Freud geht bis auf diesen Besuch zurück, bei dem er an manchen Gesprächen zwischen Freud und Jung, aber auch an einer Sitzung mit Freuds Schülern (Mittwochsgespräch am 6. März) teilnehmen konnte. Eine »tiefe Bewunderung und Liebe« habe nach Binswanger diese lernende Erfahrung erleichtert (ebd.). In der zweiten Phase sollte dann das Erlernte praktisch erprobt werden. Binswanger legte Freud mehrere Analysen vor, z. B. im Jahre 1909 die Analyse einer Hysterie, auf die Freud in mehreren Briefen ausführlich eingeht und dazu schreibt: »Es ist schwer, Ihnen Einzelheiten auszusetzen, denn alles ist korrekt, scharfsinnig, gut verbunden, besonders die Verteilung der Akzente scheint mir zutreffend« (Binswanger 1956, 23). In dieser Zeit erprobt er die Stimmigkeit dessen, was in der Psychoanalyse über den Menschen ausgesagt wird, und ihn befällt ein Unbehagen. Schon immer an philosophischen Grundfragen interessiert und 35 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Karl-Ernst Bühler
früh mit der phänomenologischen Schule Husserls vertraut, beginnt er die Methoden der Psychoanalyse aus philosophischer Perspektive näher zu untersuchen. Damit ist er in die dritte Phase, die erkenntniskritische, eingetreten. Die Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Methode lässt ihn bis zum Kern der Lehre Freuds vordringen und zeigt ihm, dass dies der falsche Weg sein müsse, die menschliche Existenz zu begreifen. Er beginnt daraufhin seine eigene Schule, die Daseinsanalyse, zu entwickeln – ausgehend von der Phänomenologie Husserls und entscheidend beeinflusst von Heideggers Buch Sein und Zeit, das 1927 erschienen war. Das Verständnis des Menschen in seiner Existenz zeigte ihm die Beschränktheit der Psychoanalyse auf. In einem Vortrag vor dem Akademischen Verein für Medizinische Psychologie anlässlich von Freuds 80. Geburtstag fasst er seine Erkenntnisse unter dem Titel Freuds Auffassung vom Menschen im Lichte der Anthropologie (Binswanger 1947) zusammen, womit seine vierte Phase beginnt. Er kritisierte Freud von seiner neu gewonnenen anthropologischen Perspektive aus. Freud kann diese Kritik in ihrem sachlichen Gehalt zwar nicht annehmen, die Freundschaft der beiden zerbricht daran jedoch nicht. Im Gegenteil, sie erweist sich als »Seelengrund, auf dem Freie sich lassen zur Rechenschaft ziehen« (Binswanger 1957, 38). Freud schreibt dazu in einem Brief vom 8. Oktober 1936: Natürlich glaube ich Ihnen doch nicht. Ich habe mich immer nur im Parterre und Souterrain des Gebäudes aufgehalten. Sie behaupten, wenn man den Gesichtspunkt wechselt, sieht man auch ein oberes Stockwerk, in dem so distinguierte Gäste wie Religion, Kunst u. a. hausen. Sie sind nicht der Einzige darin, die meisten Kulturexemplare des homo natura denken so. Sie sind darin konservativ, ich revolutionär. Hätte ich noch ein Arbeitsleben vor mir, so getraute ich mich auch jenen Hochgeborenen eine Wohnstatt in meinem niedrigen Häuschen anzuweisen. Für die Religion habe ich es schon gefunden, seitdem ich auf die Kategorie ›Menschheitsneurose‹ gestoßen bin. Aber wahrscheinlich reden wir doch aneinander vorbei und unser Zwist wird erst nach Jahrhunderten zum Ausgleich kommen. In herzlicher Freundschaft und mit Grüßen an Ihre liebe Frau, Ihr Freud (Binswanger 1956, 115)
Dies ist eine der wenigen Stellen, in denen Freud direkt zu den Grundlagen der Daseinsanalyse Stellung bezieht. Auf die entscheidende Problematik dieser Stellungnahme weist Binswanger selbst hin: »Wie man aus dem letzten Satz ersieht, betrachtet Freud unseren 36 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
Gegensatz als einen durch empirische Forschung zu überwindenden, nicht als einen solchen hinsichtlich der, der empirischen Forschung zugrundeliegenden, transzendentalen Verstehensentwürfe« (ebd.). Hier scheint ein transzendentalphilosophischer Gedankengang auf, der aber – Binswanger entwickelt die Daseinsanalyse weiter – bei den Überlegungen hinsichtlich der Weltentwürfe (siehe unten) teilweise wieder verlassen wird. Ludwig Binswanger versäumt nicht, seine Auseinandersetzung mit Freud zu vertiefen, weshalb er sich in der letzten, fünften Phase wieder Freud und dessen Naturalismus annähert. In der Folge entsteht eine daseinsanalytische Schule, die seine Anregungen aufgreift.
Freuds naturalistisches Menschenbild aus der Sicht Binswangers Binswanger kennzeichnete Freuds Verständnis vom Menschen erstmals eindeutig mit der Bezeichnung »homo natura« im Aufsatz Freud und die Verfassung der klinischen Psychiatrie (Binswanger 1955b) und im Vortrag zu Freuds 80. Geburtstag Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie (1947). Ein Zitat aus dem Aufsatz mag Binswangers Kritik verdeutlichen: »Was Freuds wissenschaftliches Verfahren mit demjenigen der klinischen Psychiatrie verbindet, ist aber gerade, dass beide das Menschenwesen auf ein naturwissenschaftliches Schema oder System ›reduzieren‹« (Binswanger 1957, 50 f.). An anderer Stelle heißt es: »Andererseits aber wird in dem Aufsatz gezeigt, dass sich Freuds Lehre in ihrer ›grandios konsequenten Einseitigkeit‹ – nämlich die Menschheit nur aus der Naturhaftigkeit oder dem ›Leben‹ zu verstehen – mit der ›Verfassung der klinischen Psychiatrie‹ begegnet« (ebd., 106). Binswanger bezeichnet die Hoffnung Freuds als eine utopische Fiktion und hält dieser entgegen, dass die Möglichkeit zu Religion, Sittlichkeit, Kultur und Kunst dem Menschen ebenso zugehören wie Hunger, Durst und Sexualität, und nicht auf letztere reduzierbar sind. Binswanger begründet diesen Sachverhalt mit den Worten: »… weil es noch niemandem gelungen ist und niemandem gelingen wird, aus Trieben Geist herzuleiten, denn hier handelt es sich um Begriffe, die ihrem Wesen nach inkommensurabel sind, ja dieser Inkommensurabilität gerade ihre Existenzberechtigung verdanken« (Binswanger 1947, 95). Da Freud den homo natura in seinem Ursprung als tabula 37 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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rasa versteht, erklärt er notwendigerweise Mythos, Religion und Geist im weitesten Sinne als auf biologische Grundlagen zurückführbar. Hierzu äußert sich Binswanger: […] so dreht nun die Naturwissenschaft den Spieß um, setzt an den Anfang das Produkt ihrer Konstruktion, die Idee des homo natura, macht aus dessen ›natürlicher Entwicklung‹ Geschichte, und sucht aus jener Natur und dieser Geschichte den Mythos und die Religion zu ›erklären‹. Jetzt erst erblicken wir die Idee des homo natura in ihrer ganzen Bedeutung: sie klammert den Menschen ein zwischen Trieb und Illusion. Aus der Spannung dieser beiden Mächte lässt sie Kunst, Mythos und Religion hervorgehen (ebd., 164).
Das Leben des Menschen ist nach dieser Auffassung nicht Existenz, Freiheit des Individuums, sondern nur Umweg zum Tod. Der Mensch lebt nicht selbst, er wird gelebt: »Der Mensch ist hier also im Grunde seines Seins Leiblichkeit, d. h. Produkt und passiver Spielball jener gewaltigen, unsichtbaren mythischen Wesen, genannt Triebe, die sich aus dem unergründlichen Strom des kosmischen Lebens ahnend abheben lassen« (ebd., 170). In der letzten, der fünften Phase seiner Auseinandersetzung mit Freud, lässt Binswanger eine gewisse Wiederannäherung in dem Sinne erkennen, als er die Naturhaftigkeit des Menschen deutlicher berücksichtigt. Dies ist durchaus folgerichtig, denn jede Humanwissenschaft muss sich mit dem homo-natura-Aspekt des Menschen befassen und kann nicht ausschließlich nach hermeneutischen Prinzipien verfahren. Es scheint jedoch eher ein metaphysisches denn ein erfahrungswissenschaftliches Naturverständnis zu sein, von dem sich Binswanger leiten lässt. Insofern vollzieht er in seiner fünften Phase vornehmlich eine Korrektur, kehrt aber nicht mehr auf den Stand der zweiten oder der dritten Phase zurück.
Menschenbild und theoretische Grundlagen der Daseinsanalyse Ludwig Binswanger entwickelte die Daseinsanalyse in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem entscheidenden Einfluss von Heideggers Sein und Zeit (1927/2006). Er schreibt dazu wörtlich: »Unter Daseinsanalyse verstehen wir eine anthropologische, d. h. auf das Dasein des Menschen gerichtete wissenschaftliche Forschung. Ihr Name sowohl als ihr philosophisches Fundament leiten sich von der 38 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Daseinsanalytik Heideggers her« (Binswanger 1947, 190). Er nennt die Daseinsanalyse folgerichtig auch eine »phänomenologische Anthropologie« (ebd., 191). Heidegger entwarf das Dasein als »In-derWelt-Sein« und versuchte die Strukturen dieses Daseins offenzulegen. Binswanger beschreibt diese Strukturen folgendermaßen: An der Struktur des Daseins als In-der-Welt-Sein unterscheiden wir also: 1. die Weisen, wie es Welt entwirft oder Welt bildet, kurz die Weisen des Weltentwurfs oder Weltbildes, 2. die Weisen, wie es ineins damit als ein Selbst existiert oder, mit einem Wort, sich selbstigt oder auch nicht selbstigt, 3. aber auch die Weisen des Überstiegs als solchen, d. h. die Weisen, wie das Dasein in der Welt ist (z. B. handelnd, denkend, dichtend, schwärmend) (ebd., 199).
Als Modi des Daseins seien die »Umwelt« (die Welt der Objekte), die »Mitwelt« (die Welt des Menschen unter anderen Menschen) und die »Eigenwelt« (die subjektive Welt der Person) genannt. Jedes Individuum lebt in diesen drei Modi gleichzeitig. Freuds Lehre ist nun aus Binswangers Sicht einseitig, da sie hauptsächlich die »Umwelt« betont – zuungunsten der anderen beiden Modi. Es stellt sich somit die Frage, ob Weltentwürfe als transzendentale Entwürfe unabhängig von der Erfahrung zu verstehen sind. Binswanger lehnt hier einen transzendentalphilosophischen Ansatz ab. Ziel der Daseinsanalyse ist vielmehr das Untersuchen und Beschreiben der Weltentwürfe eines jeden einzelnen Individuums. Denn jeder hat seinen eigenen Weltentwurf, der eine Auswahl, eine Beschränkung seiner Möglichkeiten bedingt, sich zur Welt zu verhalten, und den der einzelne Mensch leben oder auch verfehlen kann. Weltentwürfe sind demnach eine Art von Konstrukten, die von Lebenserfahrungen abhängig sind, weshalb sie besser »Lebensentwürfe« heißen sollten. Diese Lebensentwürfe lassen sich wiederum in Weltentwürfe unterteilen, welche die »Umwelt«, d. h. die Welt der Objekte, umfassen, in Entwürfe der Mitwelt, d. h. hinsichtlich der Welt eines Menschen unter anderen Menschen, und in Selbstentwürfe, die die Eigenwelt einer Person betreffen. Insbesondere die Sprache ist ein adäquates Mittel, um diese Weltentwürfe zu erfassen: »Denn die Sprache ist es, in der sich unsere Weltentwürfe eigentlich ›befestigen‹ und artikulieren und infolgedessen auch feststellen und mitteilen lassen« (ebd., 202). Die daseinsanalytischen Untersuchungen und Beschreibungen werden phänomenologisch durchgeführt; doch geschieht dies nicht im Sinne Edmund Husserls, denn Binswanger will keine eidê (Wesens39 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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formen), verstanden als abstrakte Bewusstseinsgehalte, erfassen. Ihm geht es um mehr, nämlich um die Existenz des Menschen, wie sie sich in den Weltentwürfen zeigt. Hierzu führt er aus, »… dass wir streng zu unterscheiden haben zwischen der reinen oder eidetischen Phänomenologie Husserls als einer transzendentalen Disziplin und der phänomenologischen Interpretationen menschlicher Daseinsformen als einer empirischen Disziplin« (ebd., 192). Wie im letzten Teil noch auszuführen sein wird, erscheint ein transzendentalphilosophischer Ansatz – wie ihn die transzendentale Phänomenologie Husserls nun einmal verfolgt – für den Existenzgedanken völlig unangemessen. In diesem Sinne unterscheidet sich Binswangers Ansatz auch von der Daseinsanalytik Heideggers, der diese nicht empirisch und anthropologisch konzipiert hatte, sondern ontologisch. Neben diesem eher formalen Unterschied vollzieht Binswanger auch einen inhaltlichen Unterschied, nämlich im Bereich der Intersubjektivität. Heidegger nimmt zwei Formen des Mit-Seins an: das »Mit-Sein mit anderen« und das »Mit-sein anderer als anderer Existenzen oder anderer Selbst« (Heidegger 1927/2006, § 26). Das Erstere erscheint bei Heidegger nur negativ bewertet als Form des Verfallens an das »Man«, d. h. an die »Masse«. Folglich kann der Mensch sich nur selbst finden, wenn er sich von der Verfallenheit löst und sein eigenes Sein erschließt. In diesem prägnanten Verständnis der sozialen Beziehung stellt sich diese gleichsam als eine »asoziale« dar. Dieses Verständnis der sozialen Beziehung trifft jedoch auf Binswanger nicht zu, neben die »Sorge« als Existenzial tritt bei ihm die »Liebe« im Sinne von »Ich und Du«. Diese »Wirheit« macht geradezu das eigentlich Menschliche aus. Fast ein Drittel seiner siebenhundert Seiten umfassenden Schrift Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942) ist diesem Thema gewidmet. Binswanger stellt hier Heideggers Beschreibung des Daseins als »Sorge« das »Beheimatetsein in der Liebe« gegenüber und beschreibt ihre Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Offenheit im Erschließen der Welt. Er stützt sich hier auf Martin Bubers Philosophie der Begegnung, beschreibt diese »Grundformen menschlichen Daseins« aber als Existenziale im Sinne der Heideggerschen Daseinsanalytik. Liebe ist dabei nicht nur eine reine Stimmung, sondern wird geradezu als eine Vorbedingung der Existenz des Menschen und der Menschheit gesehen, wie Binswanger an vielen Beispielen aufzeigt. Der Einfluss Bubers, dessen Auffassungen in wesentlichen Teilen bereits Ludwig Feuerbach vorweggenommen hatte, auf Binswanger ist unübersehbar. 40 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
Vielfach werden Binswangers Ergänzungen zu Heidegger als Missverständnisse bezeichnet, was jedoch nicht ganz zutreffend sein dürfte, denn Binswanger beschränkt sich nicht auf eine Auslegung Heideggers, sondern nimmt diese Abweichungen ganz bewusst vor, wenn er dazu schreibt: Es ist die Beantwortung der letzten Frage [»um wen es dem Dasein […] geht, und welches seine ursprüngliche Seinsweise […] ist« – Anm. des Verf.], in der wir, wie der Leser sieht, mit Heidegger nicht übereinstimmen. Da wir aber in einem ontologischen Entwurf der Strukturganzheit des Daseins nicht einfach ein Strukturglied durch ein anderes ersetzen können, ohne dass die ganze Struktur sich verändert, bedeutet unsere Divergenz eine Divergenz hinsichtlich der ontologischen Auffassung des ›In-derWelt-Seins‹ überhaupt. Ihr »springender Punkt« ist, dass wir das ›In-derWelt-Sein‹ zwar auch als ein Sein verstehen, darin es dem Dasein um es selbst geht, dass wir dieses Selbst aber nicht nur in dem faktischen IchSelbst des Daseins als je meinem, deinem, seinem zu erblicken vermögen, sondern auch in jenem Selbst vorgelagerten Möglichkeiten des Wir-Selbst, des Daseins als »unserem«, als Ur-Begegnung. Das aber heißt wieder nichts anderes, als dass das »Beheimatet-Sein als Liebe« das »In-der-Welt-Sein« als »Sorge« transzendieren muss (Binswanger 1942, 101).
An anderer Stelle kommt Binswanger nochmals auf seine gedankliche Beziehung zu Heidegger zurück: Vorher muss ich nur noch erwähnen, dass ich selbst an der damaligen Heideggerschen Lehre insofern Kritik, und zwar positive Kritik geübt habe, als ich dem In-der-Welt-Sein als Sein des Daseins umwillen meiner selbst, von Heidegger bekanntlich auch als Besorgen oder Sorge bezeichnet, das Überdie-Welt-hinaus-Sein als Sein des Daseins umwillen Unserer, von mir als Liebe bezeichnet, entgegengestellt habe (Binswanger 1947, 195).
In seinem Aufsatz Daseinsanalytik und Psychiatrie (Binswanger 1955a, 279 ff.) geht Binswanger in einem eigenen Kapitel auf die »Missverständnisse« näher ein, die man ihm in seiner Heidegger-Interpretation vorgeworfen hatte. Danach wäre es korrekter, Binswanger nicht als einen Heidegger-Exegeten zu betrachten, sondern als einen eigenständigen »phänomenologischen Anthropologen«, der seine Konzeption auf der Grundlage der Heideggerschen Seinsfrage entwickelt. Entscheidend für den Menschen ist also die Wirheit der Liebe und die dadurch gegebene Möglichkeit des Überwindens der Sorge, in der es dem Dasein zunächst um es selbst geht. Auf die »liebende Begegnung« legt Binswanger sehr großen Wert – auch und gerade für 41 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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seine Psychotherapie. In der Wirheit wird die eigene Existenz bis zu einem gewissen Maße zugunsten der wechselseitigen Begegnung aufgegeben, die auf die »Manipulation« des anderen ausdrücklich verzichtet, diesen um seiner selbst willen und nicht hinsichtlich anderer Ziele sucht. Begegnung ist jedoch kein einseitiges Geschehen der Empathie oder des »Sich-Hineinversetzens« in andere, sondern ein wechselseitiges Sich-Steigern im Respekt vor dem anderen. Es entstehen dadurch Möglichkeiten, die sonst nicht gegeben wären. Authentizität kann nicht durch die Isolation von den Mitmenschen erreicht werden – und hierin unterscheidet sich Binswanger grundlegend von Heidegger –, sondern erst durch erfüllende Liebe. Liebende Begegnung ist eine ursprüngliche Gegebenheit des Menschen, die weder auf andere »Faktoren« zurückführbar ist noch anhand dieser analysiert werden kann. Weil wir selbst lieben und geliebt werden können, sind wir nach Binswanger überhaupt erst menschliche Wesen. Nur durch den anderen und dessen Hilfe können wir uns in unserem Menschsein erfüllen. Die daseinsanalytische Konzeption ist bei Binswanger nicht ohne praktische Folgen für seine Art der psychotherapeutischen Behandlung geblieben, die hier jedoch nicht näher beleuchtet werden können.
Diskussion Gegen die Daseinsanalyse Binswangers im Besonderen und die existenziellen Psychotherapierichtungen im Allgemeinen wurden Einwände erhoben, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.
Erster Einwand: Einschränkung der menschlichen Freiheit Kunz (1957; 1974) kritisiert überzeugend die Auffassung von einer uneingeschränkten Freiheit des Menschen als menschliche Überheblichkeit. Diese Kritik trifft jedoch die Daseinsanalyse Ludwig Binswangers – wenn überhaupt und im Gegensatz zum Existenzialismus Sartre’scher Prägung – nur in einem geringen Maß. Der als uneingeschränkt verstandenen Freiheit des Menschen lässt sich die Sichtweise eines Humanismus der frühen griechischen Antike (z. B. Aischylos) gegenüberstellen, der als ein tragisch gefasster, »gebrochener Humanismus« beurteilt wird, und der die Zwiespältigkeit aller 42 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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menschlichen Vermögen betont. Es ist ein tragischer Humanismus unausgleichbarer Gegensätze, denen der Mensch unterworfen ist (Weinstock 1955; 1967). Die Existenz des in diesem Sinne tragischen Menschen bleibt zwiespältig. Die Gegensätzlichkeit des Tragischen bleibt jedoch nicht auf das Individuum beschränkt, sondern besteht auch zwischen Individuum und Gemeinschaft. Diese Verfassung des Menschen wurde von den griechischen Denkern als antípalos harmonía, d. h. als »widerspenstige Einheit« bezeichnet. Die Aufgabe des Menschen ist zwar, sein Leben in Eigenverantwortung zu führen, doch bleibt er in seiner Verantwortlichkeit stets im Ungewissen. Verfehlung und Schuld des Menschen sind der Möglichkeit nach unausweichlich und damit auch sein Scheitern.
Zweiter Einwand: Die Hermeneutik hat keinen Universalitätsanspruch Habermas (1970) weist zu Recht auf den nicht einlösbaren Universalitätsanspruch der Hermeneutik und deren subjektivistische Grundhaltung hin, denn jede Humanwissenschaft muss sich auch mit dem homo-natura-Aspekt des Menschen und dessen Bezug zur Natur befassen und kann nicht ausschließlich nach hermeneutischen Prinzipien verfahren. Auch dieser Einwand betrifft die Daseinsanalyse nur teilweise, denn Binswanger lässt in der letzten, der fünften Phase seiner Auseinandersetzung mit Freud eine gewisse Wiederannäherung erkennen, indem er die Naturhaftigkeit des Menschen berücksichtigt – auch wenn er sich hierbei eher von einem metaphysischen als von einem erfahrungswissenschaftlichem Naturverständnis leiten lässt. Es folgen nun Überlegungen zu Philosophemata, die der Daseinsanalyse Ludwig Binswangers zu Grunde liegen.
Dritter Einwand: Zu große Nähe zur Transzendentalphilosophie Kants In seinen Auseinandersetzungen mit der Lehre Freuds führt Ludwig Binswanger immer wieder transzendentalphilosophische Argumente an, die er jedoch hinsichtlich der Weltentwürfe wieder aufgibt. Solche transzendentalphilosophischen Argumente beinhalten synthetische Sätze apriori. Hier stellt sich die berechtigte Frage, ob der transzen43 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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dentalphilosophische Ansatz, welcher – im Sinne eines Bindegliedes zwischen Empirismus und Rationalismus – die Möglichkeit von synthetischen Sätzen apriori behauptet, dem gerecht werden kann, was Menschsein ausmacht. An dieser Stelle müsste eingehend das Verhältnis der Existenzphilosophie einerseits zum Essentialismus und Necessitarianismus, andererseits zum Skeptizismus geklärt werden. Dies ist aber hier nicht zu leisten.
Vierter Einwand: Zu große Nähe zur Transzendentalen Phänomenologie Husserls Abgesehen von Kants Transzendentalphilosophie erhielt Binswanger auch Anregungen durch die transzendentale Phänomenologie Edmund Husserls (2009; 2013). Diese will transzendental und nicht nur eine deskriptive Psychologie im Sinne Franz Brentanos sein, weshalb sie – je nach Lesart – einen Essentialismus beinhaltet, da eidê oder essentiae, d. h. »Wesen«, nicht nur als bloße Idealisierungen, sondern als ideale Formen angesehen werden. Der Essentialismus im Allgemeinen unterstellt essentiae oder Wesen, d. h. ein eigentliches Sein von etwas, wovon dessen Existenz abgeleitet ist. Essentiae oder Wesen werden als ideale Formen angesehen, die unveränderlich und überdauernd sind. Sie beinhalten Eigenschaften, die nicht nur definitorisch notwendig sind, sondern notwendig im Sinne eines Universalienrealismus. Zusammenfassend gründet sich der Essentialismus auf mindestens zwei Annahmen: Erstens werden ideale Formen als notwendig unterstellt, zweitens sind bloße heuristische oder auch bewertende Idealisierungen, d. h. bloße Annahmen idealer Formen, nicht ausreichend, um als Ersatz für ideale Formen gelten zu können. Als Beispiel für eine solche »Idealisierung-als-ob« sei der Freiheitsgedanke bei Jean-Paul Sartre genannt. Diese beiden Annahmen stehen in einem Gegensatz zum Existenzgedanken, denn nach diesem ist für Menschen »Existenz« charakteristisch und nicht »Essenz«. In seinem phänomenologischen Ansatz grenzt sich Ludwig Binswanger jedoch von der transzendentalen Phänomenologie Husserls ab, indem er diesen ursprünglich als »Phänomenologische Anthropologie« und später – in Anlehnung an Martin Heideggers Daseinsanalytik – als »Daseinsanalyse« bezeichnete.
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Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
Fünfter Einwand: Falsches Verständnis der Daseinsanalytik Heideggers Von der Schule um Medard Boss (1953; 1954; 1957; 1971; 1978) wurde Ludwig Binswanger vorgeworfen, er habe die philosophischen Lehren von Martin Heidegger missverstanden und daher aus ihnen falsche Schlussfolgerungen gezogen. Ausgehend von Heideggers eigener Auffassung ist dieser Einwand durchaus berechtigt, denn er hat sich stets gegen eine Deutung seiner Fundamentalontologie verwahrt, welche diese entweder als formale bzw. abstrakte Anthropologie oder einfach nur als Anthropologie versteht. Nach den Ausführungen zur Transzendentalphilosophie (Kant) und zur transzendentalen Phänomenologie (Husserl) stellt sich daher hier die Frage, ob auch Heideggers Fundamentalontologie mit dem Existenzgedanken vereinbar ist. Auf Grund der Begrenzung des Themas kann hier der Einfluss Heideggers auf Binswanger nicht umfassend erörtert werden. Wir beschränken uns hier daher im Wesentlichen auf die Existenzialien, wie sie Heidegger (1927/2006) herausgearbeitet hat. Diese nennt er – wie auch die Kategorien der philosophischen Überlieferung – »Seinscharaktere«. Kategorien und Existenzialien sind die Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren. Feick (1980) führt als die wichtigsten Existenzialien auf: Ausrichten, Befindlichkeit, Einräumen, Ent-fernen, Entschlossenheit, Entwurf, Erschlossenheit, Geschichtlichkeit, In-der-Welt-Sein, In-Sein, Man, Mitsein, Möglichkeit, Rede, Seinbei, Sein zum Tode, Sinn, Sorge, Verfallen, Verstehen, Vorlaufen, Wahrheit, Weltlichkeit. Nun stellt sich die Frage, ob Existenzialien – aller Behauptungen des Gegenteils zum Trotz – nicht doch »verkappte« Kategorien im Sinne der philosophischen Überlieferung darstellen. Entscheidend dafür, ob sowohl Heideggers Fundamentalontologie als auch die Existenzialien – trotz deren Bezeichnung – mit dem Existenzgedanken vereinbar sind, ist daher die Frage, was man unter der Bezeichnung »Seinscharaktere« zu verstehen hat. Handelt es sich hierbei um Eigenschaften oder sogar notwendige Eigenschaften? Und welche Art von Eigenschaften sind dies? Berücksichtigt werden muss außerdem, dass mit dem Gebrauch der Sprache immer auch Verallgemeinerungen verwendet werden müssen. Mit dem Existenzgedanken vereinbar wäre es jedoch, wenn diese Verallgemeinerungen lediglich im Sinne von ordnenden Heu45 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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ristiken oder als heuristische Idealisierungen im Sinne von Ordnungsprinzipien zu verstehen sind, anstelle von idealen Formen. Heuristiken in diesem Sinne sind nicht »richtig« oder »falsch«, sondern »nützlich« oder »unnütz«. Die nützlichen Heuristiken unterscheiden sich wiederum durch die Dauer ihres Nutzens. Erstrebenswert sind Heuristiken mit einer unbegrenzten – sofern es so etwas überhaupt gibt – oder möglichst langen Dauer. Gegen die Auffassung von Existenzialien als ordnende Heuristiken dürfte sich Heidegger vermutlich verwahrt haben, denn sie dürfte mit seinem Anspruch auf eine Fundamentalontologie wohl schwerlich vereinbar sein. Genau dieses wäre dann ein Grund dafür, weshalb die Fundamentalontologie Heideggers im Gegensatz zum Existenzgedanken stünde. In diesem Falle zeigt sich, dass eine zu enge Anlehnung an die Daseinsanalytik Heideggers für den daseinsanalytischen Ansatz wenig hilfreich ist, denn eine auf Erfahrung beruhende Praxis, wie sie die Psychotherapie sein soll und die Daseinsanalyse ebenfalls ist, würde sich zu sehr von bestimmten Philosophemata – seien diese noch so grundlegend verstanden – abhängig machen und sich dadurch den Blick für Neues und Anderes verstellen, das durch diese nicht erfasst wird – sei es die Transzendentalphilosophie Kants, die transzendentale Phänomenologie Husserls in ihrer essentialistischen Lesart oder die Daseinsanalytik Heideggers. Außerdem stellt sich bei Philosophemata immer die Frage, ob diese zutreffend aufgefasst werden, so dass ein exegetischer Zwist oft unausweichlich ist. Daher kann Mut zum fruchtbaren Missverstehen durchaus förderlich sein. So dürften manche von Heideggers Erkenntnissen – mögen sie auch noch so missverstanden werden – sich im Sinne von Heuristiken als nützlich erweisen. Solche Heuristiken finden sich auch bei großen Dramatikern, Romanschriftstellern und Aphoristikern. Hier ließe sich daher eine Verbindung mit der psychotherapeutischen Vorgehensweise in der Daseinsanalyse herstellen. Der nun folgende Ausblick befasst sich daher mit psychotherapeutischen Interventionen mittels Aphorismen.
Ausblick Allgemein betrachtet finden sich Erfahrungen des Menschseins nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern – möglicherweise sogar tiefschürfender – auch in großen Dichtungen und Schriften der 46 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Ludwig Binswanger und die Daseinsanalyse
Weltliteratur aller Zeiten. Letztere beruhen jedoch nicht auf einer systematischen Theorie, sondern gehen von Einzelbeobachtungen und der allgemeinen Lebenserfahrung aus. Diese Erkenntnisse sind oft fragmentarischen Charakters und lassen sich am besten in Aphorismen ausdrücken. Daher sind Aphorismen Teil der Erfahrungswissenschaft – beispielsweise im Sinne der angelsächsischen CommonSense-Philosophie und der phänomenologischen Philosophie der Lebenswelt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob eine Ergänzung des psychotherapeutischen Vorgehens in der Daseinsanalyse denkbar ist, das ja vornehmlich mittels der Psychoanalyse Freuds erfolgt, die nicht losgelöst von dessen Metapsychologie verstanden werden darf. Als Ergänzung wird hier die kognitive Umstrukturierung mittels Aphorismen vorgeschlagen. Die Bezeichnung »Aphorismus« leitet sich vom griechischen aphorismos ab, was so viel bedeutet wie »abgrenzen, aussondern, erwählen, festsetzen« (Passow 1970). Fußhoeller (1953, 49) definiert »Aphorismus« als »konkreten Gedanken, der den Kern einer Sache überraschend ausspricht«. Die Verdichtung und Ausrichtung auf den Kern einer Sache hat die Kürze dieser Aussagen zur Folge. Die perspektivische Darstellung von Erfahrungen durch Aphorismen ist der Komplexität des Lebens in besonderer Weise angepasst und bleibt keinesfalls ein defizienter Modus der Vermittlung von Alltagserfahrungen. In der Kürze des aphoristischen Denkens und seiner suggestiven rhetorischen Überzeugungskraft liegt einerseits ein protreptischer Nutzen für die psychotherapeutische Behandlung, andererseits aber auch die Gefahr der Überspitzung und Einseitigkeit. Die Auseinandersetzung mit Sprüchen, Epigrammen, Aphorismen, Wortspielen, Paradoxien und Metaphern lehrt jedoch, dass gerade diejenigen, welche auf den ersten Blick kryptisch erscheinen, häufig nicht nur eine einzige Sinnschicht enthalten, und dass es sich lohnt, tiefer gelegene Schichten freizulegen. Als konkrete Beispiele dafür können Aphorismen von Friedrich Nietzsche dienen: »Ein noch gesetzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinierung einer kleinen Freude, welche leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann« (Nietzsche 1886/87, III, § 18), oder »Wenn man kein Glück hat, soll man sich Glück anschaffen« (Nietzsche 1876, 16 [37]) oder »In dem Bestreben, sich selber nicht zu erkennen, sind die gewöhnlichen Menschen sehr fein und listig« (Nietzsche 1882, 4 [54]).
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Karl-Ernst Bühler
Bühler (2013) hat eine Sammlung von Aphorismen vorgelegt, deren Gliederung in der nachfolgenden Auflistsung dargestellt ist: Im Laufe der Zeit haben sich mehrere Themenschwerpunkte herausgebildet, wie etwa die Asophrosyne (Eigenliebe, Hochmut, Selbstgefälligkeit, Hybris, Narzissmus), Psycholetheia (systematisch Unbemerktes bzw. Unerkanntes), Psycholethesis (Selbsttäuschung, Nichtwahrhaben-Wollen), Psychalethesis (Selbsterkenntnis), Skepsis oder Relationalität von Gut und Böse. Es handelt sich hier jedoch nur um ordnende Heuristiken, welche die Sichtung und Auswahl von Aphorismen erleichtern sollen. Da die Aphorismen zum großen Teil aus der Behandlung von Patienten gewonnen wurden, eignen sie sich für die Psychotherapie, denn anspruchsvolle und für Bildung aufgeschlossene, gelegentlich auch narzisstische Personen, bei denen eine Psychotherapie angezeigt ist, stellen an diese hohe Anforderungen. Diesen gilt es gerecht zu werden, sollen die Hilfesuchenden nicht abgewiesen werden und unbehandelt ihrem Schicksal überlassen bleiben. Besonders für diesen Personenkreis eignen sich Interventionen mittels Aphorismen, wie sie in einer Anthologie (Bühler 2013) zusammengefasst sind, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens weisen die Themenbereiche der Suche nach entsprechenden Aphorismen eine Richtung, zweitens enthält die Anthologie eine Auswahl von dafür geeigneten Aphorismen, und drittens stellt deren Lektüre eine Anleitung und Übung dar, um selbst eigene Aphorismen zu entwickeln (vgl. auch Bühler 2014).
Literatur Binswanger, L. (1942). Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich: Niehans. Binswanger, L. (1947). Ausgewählte Vorträge und Aufsätze Bd. I. Bern: Francke. Binswanger, L. (1955a). Daseinsanalytik und Psychiatrie. In ders., Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. II. Bern: Francke. Binswanger, L. (1955b). Freud und die Verfassung der klinischen Psychiatrie. In ders., Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. II. Bern: Francke. Binswanger, L. (1956). Erinnerungen an Sigmund Freud. Bern: Francke. Binswanger, L. (1957). Der Mensch in der Psychiatrie. Pfullingen: Neske. Boss, M. (1953). Der Traum und seine Auslegung. Bern: Huber. Boss, M. (1954). Einführung in die Psychosomatische Medizin. Bern: Huber. Boss, M. (1957). Psychoanalyse und Daseinsanalytik. Bern: Huber. Boss, M. (1971). Grundriss der Medizin. Bern: Huber. Boss, M. (1978). Praxis der Psychosomatik. Bern: Benteli.
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Liebe und Sorge. Binswangers kritische Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik Frank Töpfer
I. »Die vorliegende Schrift«, schreibt Ludwig Binswanger (1922, V) im Vorwort seiner Probleme der allgemeinen Psychologie, »entspringt dem Bestreben, Klarheit zu gewinnen über die begrifflichen Grundlagen dessen, was der Psychiater in psychologischer und psychotherapeutischer Hinsicht ›am Krankenbett‹ wahrnimmt, überlegt und tut.« Thema der Psychiatrie ist der »seelisch-kranke Mensch« (ebd., 1), Absicht des Buches die Bestimmung des Psychischen. Sie lässt sich, meint Binswanger, mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht durchführen, sondern ist Sache introspektiver Selbst- und verstehender Fremderfahrung. Bei der Frage nach der Natur des Psychischen und der Weise seiner Erkenntnis orientiert sich Binswanger am Neukantianismus und vor allem an Husserls Phänomenologie, bei der Frage nach der Erkenntnis des Fremdpsychischen an der Hermeneutik Diltheys. Binswanger plante zunächst eine überarbeitete zweite Auflage der Probleme der allgemeinen Psychologie. Am Ende wurde ein neues Buch daraus: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942/1962). Denn inzwischen hatte Binswanger Heideggers Sein und Zeit (1927/1993) gelesen und mit der darin durchgeführten Analytik des menschlichen Daseins sah er die Psychiatrie methodischsachlich und in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis auf eine neue begriffliche Grundlage gestellt. 1 Diese neue Grundlage sieht Binswanger in der Bestimmung des menschlichen Daseins als »Inder-Welt-sein« (Binswanger 1955, 295). Alle konkreten Weisen, Die Rezeption von Heideggers Philosophie in der Medizin war Thema eines zeitweilig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Die vorliegende Arbeit ist aus diesem Projekt heraus entstanden.
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Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
Mensch zu sein, sollen sich als Variationen, als Abwandlungen oder Realisierungen dieser Grundstruktur des Menschseins beschreiben lassen, auch – und darum geht es dem Psychiater Binswanger – das psychisch kranke Dasein. Die Realisierung der Grundstruktur versteht Binswanger in solchen Fällen als Abweichung – das In-derWelt-sein bekommt normative Bedeutung. 2 Was ist mit »In-der-Welt-sein« gemeint? Grob gesagt dies: Dass menschliches Dasein in allem, was es im weitesten Sinne »tut«, auf etwas – auf andere Menschen, Dinge, Pläne usw. – bezogen ist im Zusammenhang einer Welt, eines umgreifenden Sinnganzen, in dem das, womit man es zu tun hat, seine Bedeutung hat. Dieses doppelte Bezogensein auf etwas in einer Welt gehört zum Dasein als solchem. Es gibt kein weltloses, kein unbezogenes Dasein, und dieses Bezogensein ist nicht eines auf isolierte Dingobjekte, sondern auf Dinge – im weitesten Sinn – in einem umfassenden Sinnhorizont. – Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Descartes, der Vater der neuzeitlichen Philosophie, hatte die menschliche Seele als ihrer selbst gewisse, wesentlich unbezügliche res cogitans konzipiert. Dieses »denkende Ding« braucht zu seinem Sein keine Welt. Es steht in sich selbst und tritt erst nachträglich sowie dann auch nicht aus innerer Notwendigkeit mit Anderem in Beziehung. Dieses Andere ist ihm, dem Subjekt, ein gegenüberstehendes Objekt. In dieser Vorstellung, in der Subjekt-Objekt-Spaltung, sieht Binswanger das »Krebsübel aller Psychologie«. Denn sie reduziert den Menschen auf ein weltloses Rumpfsubjekt […], in dem sich alle möglichen Vorgänge, Ereignisse, Funktionen abspielen, das alle möglichen Eigenschaften hat oder alle möglichen Akte vollzieht, von dem aber niemand mehr sagen […] kann, wie es mit einem »Objekt« zusammentreffen und mit andern Subjekten kommunizieren und sich verständigen kann (Binswanger 1947, 193).
Mit dem In-der-Welt-sein ist dies anders: Das Dasein verhält sich immer schon zu Anderem im Verständnishorizont einer Welt. Es verhält sich dabei auch zu sich, aber nur indem es sich zur Welt und Anderem verhält: Es verhält sich zu sich als zu seinem Sein in der Welt. Und es gewinnt sich als »Eigentliches«, als sich zu Eigenes, nur in der Unterscheidung von Anderem in der Welt (Heidegger 1927/1993, 42).
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Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten siehe Töpfer (2010).
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Frank Töpfer
Mit der Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung sieht Binswanger den »Weg für die Anthropologie freigemacht« (Binswanger 1947, 193). Denn Anthropologie heißt, nach dem Sein des ganzen Menschen zu fragen. Eben dies vermag Heideggers Daseinsanalytik zu tun. Sie gibt, meint Binswanger, mit dem Begriff des »In-derWelt-seins« einen Umriss des ganzen menschlichen Daseins. Als Anthropologie versteht Binswanger auch seine eigene psychopathologische Forschung. Ihr unmittelbarer Untersuchungsbereich ist zwar der einer Einzelwissenschaft, sie orientiert sich dabei jedoch an einer Vorstellung vom Menschen als Ganzem, in deren Umriss sie ihre Ergebnisse einträgt. Weil »In-der-Welt-sein« ihr leitender Grundbegriff ist, heißt konkrete Gestalten menschlichen Daseins als Realisierungen der Grundstruktur des Menschseins zu beschreiben, sie in ihren Weltbezügen zu beschreiben. Die Strukturanalyse solcher konkreten Weisen des In-der-Welt-seins nennt Binswanger »Daseinsanalyse«, terminologisch unterschieden von Heideggers »Daseinsanalytik«. 3 Seine Untersuchungen psychisch Kranker führen Binswanger dabei zu typischen Verlaufsformen, typischen Daseinsgestalten, so dass man z. B. von einem daseinsanalytischen Begriff der Manie oder Schizophrenie und von einer spezifischen »Welt« der Manischen oder Schizophrenen sprechen kann. Die Orientierung an Heideggers Grundriss des menschlichen Daseins im Ganzen verhilft der Psychiatrie, in Binswangers Augen, außer zu einer sachlichen und methodischen Grundlage auch zu einem geklärten wissenschaftlichen Selbstverständnis. Denn die Daseinsanalytik erhebt den Anspruch, hinter die Spaltung des Menschen in Psychisches und Physisches zurückzugehen. In ihr sieht Binswanger ein Produkt wissenschaftlicher, nicht zuletzt psychiatrischer Vergegenständlichung. Denn in ihrer klinischen Ausrichtung ist die Psychiatrie biologisch orientiert und versteht den Menschen naturwissenschaftlich; als Psychotherapie dagegen hat sie es mit dem kranken Mitmenschen zu tun und fasst ihn als Psychisches auf. Beide Realitätskonzeptionen sind unvermeidbar; sie entspringen »zwingenden praktisch-wissenschaftlichen Bedürfnissen« (Binswanger 1955, 268). Zugleich sind sie auf einzelwissenschaftlicher Ebene Zwar spricht auch Heidegger gelegentlich von »Daseinsanalyse«, ich werde mich der Einfachheit halber aber an Binswangers Terminologie halten. Für einführende Darstellungen zu Binswangers Daseinsanalyse siehe Wyss (1991) und Blankenburg (1977).
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Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
unvereinbar. So geht durch das Selbstverständnis der Psychiatrie ein Riss, weil sie über keinen einheitlichen Gegenstand, kein thematisches Ganzes verfügt. Aufgrund der offensichtlichen Verbindungen zwischen Psychischem und Physischem, auf deren Möglichkeit u. a. die Wirksamkeit von Psychopharmaka beruht, sieht sich die Psychiatrie zur theoretischen Konstruktion eines Bindeglieds, des Psychophysischen, genötigt, ohne dies, von einem Begriff menschlicher Ganzheit ausgehend, rechtfertigen zu können. Aus der von Heidegger aufgewiesenen Ganzheit menschlichen Daseins als In-der-Weltsein soll verständlich werden, dass es sich bei den Sachgebieten des Psychischen und Physischen um beschränkte wissenschaftliche Realitätsentwürfe, um sekundäre Vergegenständlichungen und Abstraktionen sowie beim psychophysischen Bindeglied um bloße theoretische Postulate handelt. (Ebd., 268)
II. Heideggers Daseinsanalytik stellt die Psychiatrie auf eine neue und, wie Binswanger meint, tragfähige Grundlage. Dennoch ist es gerade Heideggers Auffassung des menschlichen Daseins, die er der Kritik unterzieht, und das nicht in irgendwelchen marginalen Aspekten, sondern in ihrem Zentrum: in der Bestimmung des Wesens des Daseins als »Existenz« oder »Sorge«. Das heißt zugleich, dass er den Begriff des »In-der-Welt-seins« kritisiert, denn die Struktur der Welt korreliert mit der Struktur des Daseins, wobei »kritisieren« aber nicht in dem Sinne zu verstehen ist, dass Binswanger diese Bestimmungen für falsch hielte. Er bestreitet jedoch, dass sie das Wesen des Menschseins vollständig erfassen, und er bestreitet damit auch, dass das Ganze dessen, worin sich das Dasein vollzieht, identisch ist mit dem, was Heidegger »Welt« nennt. Heideggers Einsicht, dass der Mensch kein isoliertes, weltloses Subjekt ist, sondern Dasein in der Welt, bleibt unangetastet. Aber Heidegger bestimmt dieses Dasein unvollständig, und der Raum, in dem das Dasein sich bewegt, ist weiter als die Welt von Sein und Zeit. Demnach muss auch das Wesen des Daseins anders bestimmt werden. Wie Heidegger wiederholt einschärft, liegt die eigentliche Aufgabe von Sein und Zeit in der Beantwortung der Frage nach dem »Sinn des Seins überhaupt« oder »als solchem« (Heidegger 1927/ 1993, 27, 231). Die Frage zielt, anders ausgedrückt, darauf ab, »was 53 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Frank Töpfer
Seiendes als Seiendes bestimmt« (ebd., 6), 4 und zwar jedes Seiende. Sein und Zeit will eine allgemeine Ontologie darlegen und keine Anthropologie, die ja nach der Verfassung eines bestimmten Seienden fragt – der des Menschen. Warum spielt dann die Analytik des menschlichen Daseins, die Frage nach dem Sein dieses besonderen Seienden, in Sein und Zeit eine so überragende Rolle? Tatsächlich widmet sich ja das Buch fast ausschließlich diesem von anderem unterschiedenen »Seienden, das wir selbst je sind« (ebd., 7). In Sein und Zeit hält Heidegger fest, dass das »Sein jeweils das Sein eines Seienden ist« (ebd., 6, 9). Von einem Seienden muss darum das Sein »abgelesen« werden (ebd., 7). Damit stellt sich die Frage: Von welchem Seienden? Denn »›seiend‹ nennen wir vieles und in verschiedenem Sinn« (ebd., 6), wie Heidegger, unausgesprochen Aristoteles zitierend, bemerkt. Vielleicht von Quarks? Aber damit wäre die Vorentscheidung getroffen, dass »Sein« materielles Sein bedeutet. Um sie zu rechtfertigen, wäre eine Auffassung darüber, was »Sein« bedeutet, schon vorausgesetzt. – Aber ist das nicht immer der Fall? Setzen wir nicht schon, wenn wir auch nur nach »Sein« fragen, irgendein Verständnis von »Sein« voraus? Genau, meint Heidegger: Wir verfügen über ein implizites, ein vorontologisches »Seinsverständnis« (ebd., 12 f.). Ontologie kann nur so verfahren, dass sie dieses Seinsverständnis expliziert: Sie ist Hermeneutik. Nur auf diesem Wege lassen sich Seinsbegriffe rechtfertigen. Wie zeigt sich das Seinsverständnis, dieses implizite ontologische Wissen? Es zeigt sich im Verhalten im weitesten Sinne, unserem Sein in der Welt. Verhalte ich mich zu etwas – Dingen, Mitmenschen, mir selbst –, dann liegt darin eine Auffassung dessen, wozu ich mich verhalte. Sie ist differenziert, denn wir verhalten uns zu Dingen, zu Mitmenschen und zu uns selbst nicht in der gleichen Weise. Die Explikation des impliziten ontologischen Wissens verläuft nicht so, dass dieses Wissen direkt erfragt würde, sondern auf dem Wege einer Analyse des Verhaltens, das durch dieses Wissen geleitet wird. Dies lässt sich mit der Erforschung der Grammatik vergleichen: Als kompetente Mitglieder einer Sprachgemeinschaft können wir Sätze korrekt bilden und die Korrektheit oder Inkorrektheit von Sätzen beurteilen – auch dann, wenn wir nicht in der Lage sind, die entsprechenden grammatikalischen Regeln zu formulieren. Wir verfügen 4 Dies ist eines von vielen stillschweigenden Zitaten aus Aristoteles’ Metaphysik, die sich in Sein und Zeit finden lassen.
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Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
über ein »schweigendes« grammatikalisches Wissen (Chomsky 1986, 263–273). Es wird auf dem Wege der grammatikalischen Analyse sprachlicher Äußerungen expliziert. Entsprechend wird das vorontologische Seinsverständnis in der Analyse des Seins des Menschen in der Welt expliziert: Wie drückt sich darin unser Verständnis vom Sein dessen aus, wozu wir uns verhalten? Und wie drückt sich darin ein Verständnis eines allgemeinen Sinns von »Sein« aus? Die Explikation des vorontologischen Seinsverständnisses erfordert also die Analytik des Seins eines bestimmten, von anderem unterschiedenen Seienden: des Sein-verstehenden menschlichen Daseins. Sie ist zwar Ontologie eines bestimmten Bereichs des Seienden, soll dabei aber die Möglichkeit eröffnen, einen universalen Sinn des Seins zu gewinnen und das Fundament dafür legen. Weil das ihr leitender Zweck ist, ist sie auf das beschränkt, was zu seiner Erfüllung nötig ist; sie liefert, wenngleich sie eine Wesensbestimmung gibt, keine vollständige Ontologie des Daseins. (Heidegger 1927/1993, §§ 3 ff.) Verhalte ich mich zu mir selbst, verstehe ich mich dabei als »Existenz« (ebd., 12, 42), das heißt: Ich verstehe mein Sein als eigentlichen Zweck, als »Worum-willen« meines Verhaltens (ebd., 84). Das ist aber nun kein Sonderfall, als verhielte ich mich gelegentlich zu mir selbst, gelegentlich aber auch zu Anderem, sondern in allem Verhalten verhalte ich mich, wie Heidegger meint, insofern zu mir selbst, als es mir dabei letztlich stets um mein eigenes Sein geht. Eben das meint der Begriff »Existenz«. Weil »Existenz« der zentrale Begriff der Daseinsontologie ist, trägt sie auch den Namen »Existenzialanalytik« (ebd., §§ 4 f.). Alle Begriffe, die Seinsweisen des Daseins bezeichnen, alle »Existenzialien«, bezeichnen Momente der Struktur des Daseins als Existenz. Dass es dem Dasein stets um sein Sein geht, betont Heidegger nachdrücklich, indem er formuliert, dass es mir um »je mein« Sein geht: Das Dasein ist gekennzeichnet durch »Jemeinigkeit« (ebd., 41 ff.). Weil dies unser Wesen ausmacht, kann Heidegger sagen: Das Sein des Daseins ist »Sorge« (ebd., §§ 39–45), Sorge um das je eigene Sein. Das heißt dann: Es geht der Sorge um die Sorge. Das könnte man nun so verstehen, dass es dem »es geht mir um« um das »es geht mir um« geht; das »Verlangen-nach« verlangt nach dem Verlangen selbst, nicht nach dem Schnitzel, nicht nach dem Weltmeistertitel, nicht nach dem guten Leben. Versteht man Heidegger so, dann ist der gegen Sein und Zeit erhobene Nihilismus-Vorwurf nicht unverständlich, denn es fehlt eine inhaltliche Bestimmung dessen, worum es dem Dasein geht. 55 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Frank Töpfer
Binswanger versteht ihn nicht so. In einem Brief an den Dichter Rudolf Alexander Schröder schreibt er: »Sorge [ist für Heidegger] nur ein zusammenfassender Ausdruck […] für Handeln inkl. der Denkhandlung« (Binswanger 1946). Das hieße dann: Dem Handeln geht es um das Handeln selbst. Bringt uns das weiter? Ja, dann nämlich, wenn man Handeln als menschlichen Lebensvollzug versteht und menschliches Leben als Handlungszusammenhang. Im Leben geht es uns um das Leben selbst. Heidegger spricht nicht von »Leben«, er spricht – unter anderem, um der Gefahr einer biologischen Verengung von vornherein auszuweichen – von »Dasein«, dem es um sein Sein geht. Das konkretisiert sich, indem es dem Dasein jeweils um bestimmte Seinsmöglichkeiten geht, z. B. darum – ein Beispiel Heideggers –, bei einem Unwetter sicher unterkommen zu können (Heidegger 1927/1993, 87). Zur Verwirklichung einer solchen Seinsmöglichkeit ist man auf ein Dach über dem Kopf angewiesen, das aus Materialien mit Hilfe von Werkzeugen hergestellt werden muss. Materialien und Werkzeuge sind Mittel; sie sind »Um-zu« oder »Zuhandenes«, wie Heidegger sagt. Eine Seinsmöglichkeit des Daseins ist sein Zweck. (Ebd., 68) Weil menschliches Dasein in allem Verhalten Sorge um das eigene Sein ist, ist das primäre Verhalten zu anderem Seienden instrumentelles Verhalten; Heidegger nennt es »Umgang«, der von der Wissensform der »Umsicht« geleitet wird, dem Verständnis von Seiendem als Instrument, mit Heideggers Ausdruck: als »Zuhandenes« für etwas. (Ebd., §§ 15–18) Darin liegt, meint Heidegger, seine letzte ontologische Bestimmung: Seiendes, das nicht von der Art des Daseins ist, ist Zuhandenes, ist Mittel für Dasein. Es ist an sich nicht bloßer »Weltstoff« (ebd., 71), der sich dann unter verschiedenen, lediglich subjektiv-beliebigen Aspekten auffassen ließe, sondern, wie Heidegger sagt, »an sich« von der Seinsart der Zuhandenheit (ebd., 71). Die Welt, in der dieses Seiende sich befindet, ist »Umwelt« (ebd., § 15 f.), eine Welt von Zweck-Mittel-Beziehungen, zentriert um das Dasein als letztem Zweck und dessen Bedürfnisstruktur widerspiegelnd. Sie ist, wie Heidegger auch sagt, vom Dasein »entworfene« »Werkwelt« (ebd., 71, 117, 172). Dieses Entwerfen ist kein Akt, der in das Belieben des Daseins gestellt wäre: Mit seinem unaufgebbaren Selbstverständnis als letztem Zweck seines Tuns ist es gegeben, dass das Dasein die Welt als Werkwelt und das Seiende in ihr als zuhandenes Mittel versteht. Daseinsverfassung und Weltverfassung stehen in einem Verhältnis notwendiger Korrelation. Deshalb kann Binswanger seine psychopathologischen Untersuchungen 56 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
ebenso als Untersuchungen abgewandelter Daseinsgestalten wie als Untersuchungen abgewandelter Weltentwürfe charakterisieren. Ist Dasein In-der-Welt-sein, kann man es gar nicht anders beschreiben als in seinem Verhalten in und zu seiner Welt. Nun spricht Heidegger in Sein und Zeit gelegentlich so, dass der Eindruck entstehen könnte, die Umwelt sei ein Teil oder Aspekt der Welt, nicht die ganze. Dass er außer der Umwelt auch eine »Mitwelt« kennt – die Welt als mit Anderen geteilte (ebd., 118) –, scheint für eine solche Auffassung und gegen die Identität des Begriffs der »Welt« und des Begriffs der »Umwelt« zu sprechen. Tatsächlich aber identifiziert Heidegger beide. Denn nachdem er aus den Zweck-Mittel-Beziehungen zwischen Materialien, Instrumenten, herzustellendem Werk und Dasein die Struktur der Umwelt als Werkwelt entwickelt hat, erklärt er diese Struktur zur Struktur der Welt, der Welt überhaupt (ebd., 86). So hat ihn auch Binswanger verstanden: In seinem Referat kommt er mit der gleichen Selbstverständlichkeit von der Strukturanalyse der Umwelt zur Rede von Welt (Binswanger 1942/1962, 63 ff.). In einer solchen Welt, einer Welt, deren Sinn instrumentell ist, ist kein anderes Verhalten als ein instrumentelles möglich. Ein andersartiges Verhalten müsste ein Verhalten in einer anderen Welt sein. Welt ist aber per definitionem das Ganze, in dessen Bedeutungsstruktur – Heidegger spricht von »Sinn« (Heidegger 1927/1993, 151) – sich das Dasein bewegt. Alle scheinbar von technischen abweichenden Verhaltensweisen müssen darum als Derivate technischen Verhaltens verstanden werden. Heidegger versucht das exemplarisch am theoretischen Verhalten zu zeigen. An sich ist der Begriff des »In-der-Welt-seins« nicht festgelegt auf eine technische Interpretation; er böte Raum für jedes Verhalten. Aber Heideggers pragmatistische Anthropologie legt das In-der-Welt-sein auf ein instrumentelles Verhalten, mit dem je eigenen Dasein als Zweck, fest und damit auch den Sinn der Welt als Werkwelt.
III. Wie kommen die Anderen in diese Welt? Sie sind immer schon enthalten: als Träger und Benutzer dessen, was ich herstelle, als Lieferanten der Materialien, die ich verarbeite, als Hersteller der Werkzeuge, die ich gebrauche, als Mitbenutzer (ebd., 70, 117). Sie begegnen mir in den umweltlichen Zusammenhängen des Zuhandenen, mit dem ich 57 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Frank Töpfer
zu tun habe. Und weil die im Sein des Daseins als Existenz begründete, instrumentelle Perspektive konstitutiv für die Struktur der Welt ist, könnte man erwarten, dass wir auch die Anderen als Zuhandenes, als Instrumente um unserer Zwecke willen, verstehen. Heidegger bestreitet zwar nicht, dass instrumentelle Beziehungen einen Großteil des alltäglichen Miteinanders ausmachen, er scheint aber zu meinen, dass wir auch dann noch die Anderen als anderes Dasein – als von derselben Art wie wir – verstehen, nicht bloß als zuhandenes Mittel für unsere Zwecke. (Ebd., 118) Auch wenn die Kellnerin mir bloß den Kaffee bringt, betrachte ich sie anders als einen Kaffeeautomaten: Wir wissen – das scheint Heideggers Auffassung zu sein –, dass auch sie für sich ihr eigener Zweck ist, wie ich für mich. Wir verstehen sie als Dasein, dem es um sein eigenes Sein geht, wie es mir um meines geht; wir verstehen sie als »Mitdasein« (ebd., 118, 121). Die Perspektive auf Andere ist anders als die auf Zuhandenes und auch nicht von ihr abgeleitet; sie ist eine ursprüngliche. Heidegger analysiert sie unter dem Titel »Fürsorge« (ebd., 121) – terminologisch unterschieden vom »Besorgen« –, was alles Zutunhaben mit dinglichem Seienden – Herstellen, Verwenden, Anschaffen, Instandhalten usw. – umfasst (ebd., 57). »Fürsorge« ist einer der vielen leicht missverständlichen Heidegger’schen Termini. Er meint nicht ein fürsorgliches Verhalten, nicht Pflege oder Wohlfahrt, sondern jedes Verhalten zu Anderen, auch z. B. wo ich mich nicht um sie kümmere, sie ignoriere und dergleichen. Auch in so einem Falle sind die Anderen für mich irgendwie präsent. Der Andere verschwindet ja nicht für mich, wenn ich mich von ihm abwende, sondern das Sichabwenden ist gerade eine Weise des Bezogenseins. Solche Weisen des Bezogenseins – des Sichabwendens, Aneinandervorbeigehens usw. – sind negative Weisen der Fürsorge. Eine Extremform positiver Fürsorge analysiert Heidegger unter dem Titel »einspringende Fürsorge« (ebd., 121 f.). Die unüberhörbaren kritischen Untertöne seiner Analyse rühren nicht daher, dass diese Fürsorge die Tendenz hätte, den Anderen zum Zuhandenen zu machen, sondern dass derjenige, der eine Arbeit, eine »Sorge« (ebd., 121), an einen Anderen abgibt, ihn für sich »einspringen« lässt, um am Ende das fertige Resultat zu übernehmen, dass derjenige »aus seiner Stelle geworfen« und »zum Abhängigen und Beherrschten werden« kann, »mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben« (ebd., 122). – Was hat Heidegger hier im Blick? Ist es die arbeitsteilige Gesellschaft? Ein schein58 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
bar helfendes, in Wahrheit entmündigendes Verhältnis, wie es z. B. zwischen Arzt und Patient möglich ist? Er hat all jene zwischenmenschlichen Beziehungen im Blick, in denen durch die Übertragung einer Aufgabe, einer »Sorge«, an Andere die Gefahr besteht, dass man sich grundsätzlich den Sorge-Charakter des eigenen Daseins verdeckt. Nicht, dass jemand anderes meine Schuhe flickt, ist das Problematische, sondern dass darin, wie Heidegger meint, die Gefahr liegt, dass ich mir verdecke, dass ich für meine Existenz verantwortlich bin. Das klingt vielleicht zunächst weit hergeholt, aber schon weniger weit, wenn man sich vor Augen hält, in welchem Ausmaß Arbeitsteiligkeit, das heißt Delegierung von Aufgaben, das Miteinandersein bestimmt. Und es klingt noch weniger weit hergeholt, wenn man an die Lebensversicherung denkt. Nicht, dass ich eine habe, ist das Problematische, sondern wenn ich mir damit den fundamentalen Unsicherheitscharakter meiner Existenz verdecke. Denn Sorge, »es geht mir um«, heißt, dass meine Existenz auf Zukunft ausgerichtet und darum grundsätzlich offen und also unsicher ist (ebd., 170; Heidegger 1985, 120). Heidegger sieht im Dasein ein tiefsitzendes Sicherungsbedürfnis, das aber aufgrund der Zukunftsorientierung des Lebens nie vollständig zu befriedigen ist. Darum haben wir, meint er, ein ebenso tief sitzendes, verborgenes Interesse daran, uns den SorgeCharakter unseres Daseins zu verdecken. Wir haben, mit anderen Worten, ein Interesse an Selbstentfremdung, an »Uneigentlichkeit« (Heidegger 1927/1993, §§ 25 ff.). »Einspringende Fürsorge« kann diesem Interesse dienen. Das andere Extrem positiver Fürsorge, die »vorausspringende Fürsorge«, arbeitet diesem Interesse entgegen. Sie nimmt dem Anderen die Sorge nicht ab, sondern gibt sie ihm »erst eigentlich als solche zurück«. Sie betrifft »nicht ein Was«, das einer für den anderen »besorgt«, sondern »die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen«. Sie »verhilft dem Anderen dazu, sich in seiner Sorge durchsichtig und für sie frei zu werden« (ebd., 121). Medard Boss, zunächst Schüler Binswangers, später nur noch Heideggers, hat hierin eine Beschreibung seiner psychotherapeutischen Praxis gesehen: Der Therapeut eröffnet dem Patienten neue Verhaltensmöglichkeiten – er »springt« in diese »voraus« –, nicht um sie ihm abzunehmen, ihre Verwirklichung vorzuschreiben, sondern um sie ihm als von ihm ergreifbare Möglichkeiten seiner Existenz zurückzugeben (Boss 1962, passim). So kann man, meine ich, vorausspringende Fürsorge illustrieren. Diese Fürsorge verhilft zum besseren Verständnis der 59 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Frank Töpfer
eigenen Existenz, sie arbeitet der Selbstentfremdung entgegen und macht frei, insofern nur die durchsichtig gemachte Existenz eine ist, die ich annehmen kann, ohne sie bloß blind zu exekutieren. Die vorausspringende Fürsorge befreit zur Freiheit für die Sorge, das heißt zur jemeinigen Existenz, in der es mir um mein Sein in der Welt geht. Sie nimmt sich des Anderen an, um ihn dann vor seine Vereinzelung, seine durchsichtig gemachte Jemeinigkeit zu stellen. Beide analysierten Formen der Fürsorge beziehen sich demnach auf das Dasein in seiner Jemeinigkeit, in der es ihm um seine je eigene Existenz geht: einmal in der Weise der Verdeckung und damit Selbstentfremdung, einmal in der Weise des Durchsichtigmachens und damit der Selbstaneignung. Und anders kann es auch gar nicht sein, auch nicht für die zwischen diesen Extremen liegenden anderen, von Heidegger nicht eigens analysierten Formen der Fürsorge: Wird menschliches Dasein als Existenz bestimmt, der es um das eigene Dasein in einer durch instrumentelle Vernunft konstituierten Welt geht, dann kann die Beziehung zu Anderen, wenn nicht instrumentell, dann nur als Erkenntnis – was nicht schon Anerkenntnis heißt – ihrer gleichen jemeinigen Selbstzweckhaftigkeit in der instrumentell verstandenen Welt gedacht werden.
IV. Das sieht Binswanger und hält darum Heideggers Daseinsanalytik für ergänzungsbedürftig. Denn in die Bestimmung des Daseins als Existenz im Heidegger’schen Sinne und korrelativ der Welt als Werkwelt lässt sich das Phänomen der Liebe nicht integrieren. Das Worum-willen der Liebe nämlich, das, worum es in der Liebe geht, ist, meint Binswanger, nicht die jemeinige Existenz, es sind »Wir-beide« (Binswanger 1942/1962, 71). Dass Binswanger seine Philosophie der Liebe als Ergänzung zu Heideggers Daseinsanalytik verstanden wissen will, ist einerseits durchaus zutreffend, andererseits beschwichtigend. Zutreffend, weil Binswanger die einzelnen Bestimmungen der Daseinsanalytik so gut wie nicht kritisiert; er meint lediglich, dass sie unvollständig seien, wofür er sich auf Heidegger selbst berufen kann. Beschwichtigend zum einen, weil von dieser Ergänzung die Wesensbestimmung des Daseins betroffen ist, zum anderen, weil die Liebe nicht eine Form neben der Daseinsform der Existenz ist, sondern diese erst ontologisch begründen soll: Die Liebe, die Binswanger auch als 60 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
»Ich-Du-Beziehung«, »Wirheit« oder »dualen Daseinsmodus« bezeichnet, hat gegenüber der Existenz, gegenüber der Sorge, den ontologischen Primat. Die Jemeinigkeit der Existenz entspringt aus der Dualität, der Wirheit; aus ihr erhält das Dasein seine Einheit und Ganzheit. Mit der Wirheit hat Binswanger nicht jede Form des Miteinanders im Blick, und man darf, weil sie »ursprünglich« sein soll, dabei nicht an die Beziehung des Kindes zur Mutter als der ersten zwischenmenschlichen Beziehung überhaupt denken. Die erotische – was nicht heißt sexuelle – Geschlechterliebe stellt die höchste Entfaltung des Ich-Du-Verhältnisses, der Wirheit oder Liebe dar. In ihr sollen Ursprung und Ganzheit des Daseins liegen. (Ebd., 199 f., 260 f.) Was kann es heißen, dass diese Wirheit oder Dualität Ursprung des Daseins ist, wenn die erotische Liebe als lebensgeschichtliches Ereignis doch nicht am Anfang des Lebens steht und so auch nicht dadurch eine alles Spätere bedingende Wirkung beziehen kann? Ist das Dasein keine Einheit und keine Ganzheit, wenn es nicht in einer erotischen Liebesbeziehung lebt? Dasein ist, schreibt Binswanger, an sich schon, »ontologisch«, liebende Begegnung, d. h., auch ohne dass es lebensgeschichtlich zu einer solchen Begegnung gekommen ist: »Nur wenn ›Ich und Du‹ schon zu meiner Seinsverfassung gehören«, so Binswanger (ebd., 84), »[ist die empirische, faktische] Liebe von Dir und Mir überhaupt möglich« (ebd., 83). Wäre dies nicht der Fall, wäre die Dualität kein Strukturmoment der Daseinsverfassung, dann, so meint Binswanger, würden wir den Anderen gar nicht als Du wahrnehmen können und wären außerstande, eine reale lebensgeschichtliche Liebesbeziehung zu führen. Sie wäre sozusagen im »Bauplan nicht vorgesehen« und würde darum nirgends hineinpassen. Es gäbe den Anderen als mögliches Du einer Liebesbeziehung für mich gar nicht, prinzipiell nicht, wenn nicht die »Urbegegnung« (ebd., 117), wie Binswanger das im Anschluss an Martin Bubers Dialogphilosophie nennt (Buber 1923), immer schon stattgefunden hätte – eine Begegnung innerhalb der Struktur jedes Daseins. Und darum ist auch jedes Dasein strukturell ganz und eine Einheit, auch ohne dass die lebensgeschichtliche Begegnung mit dem Du einer Liebesbeziehung schon stattgefunden haben müsste. Wenn sie stattfindet, finden Dasein überhaupt und bestimmtes Dasein zusammen: »Wir überhaupt« und »Wir beide« (Binswanger 1942/1962, 85 f.). In lebensgeschichtlicher Bestimmtheit realisiert sich, worauf wir strukturell angelegt
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sind; in der »Begegnung mit diesem Du« erfüllt sich, schreibt Binswanger, die »Urbegegnung« (ebd., 117). Binswanger spricht von der Liebe sowohl als »Wirheit« wie auch als »Dualität«, als »Ich und Du«. Beides scheint einerseits das gleiche zu bezeichnen – die Daseinsform der Liebe –, doch andererseits soll die Wirheit gegenüber jedem Ich und jedem Du ursprünglich sein. Man muss also fragen, wie sich innerhalb des Wir ein Du und ein Ich ausdifferenzieren können. (Binswanger 1942/1962, 122 f., 124) Wie entspringt Selbstheit aus Wirheit? Sie tut es in der Dialektik von Schenken und Empfangen: Ich schenke mich Dir und bin als Geschenk und Schenkender selbstständig innerhalb der Liebe-Beziehung, dies aber nur in Bezug auf Dich als Empfangenden und umgekehrt. (Ebd., 126) Das könnte für die Beschreibung der Genese der Selbstheit aus der Wirheit genügen – aber auch nur der Genese innerhalb der Wirheit und somit desjenigen Selbst oder Ich, als das ich mich in der Liebesbeziehung als Beschenkt-Schenkender weiß. Doch Binswanger will mehr: Jede Vereinzelung soll etwas Nachträgliches sein (ebd., 122 f.), die Liebe soll der Grund der Sorge, die Dualität der Grund der »Existenz« (im Sinne Heideggers) sein. Aber das scheint nicht gelingen zu können, wenn Selbstheit als Funktion des Bezugs auf den Anderen, als anderen Pol der Liebesbeziehung, gedacht wird: Auf diese Weise kommt man nicht zu demjenigen Selbst, zu dem nur ich mich in einer ausgezeichneten Weise verhalte, das ich »für mich selbst« bin, das nicht »nur das Ich eines Du« ist (ebd., 122). Vielleicht hat Binswanger das selbst gesehen, denn schon als er über die Liebe spricht, vor allem aber in späteren Abschnitten seines Buches, scheint er sich nicht sicher zu sein, ob menschliches Dasein durch ein fundamentales Seinsprinzip – Liebe – konstituiert wird, dem andere entspringen, oder durch zwei aufeinander nicht reduzierbare: Liebe und Sorge (ebd., 260 f., 272). Für Letzteres spricht – abgesehen davon, dass die Fundiertheit der Existenz durch die Dualität der Liebe schwer zu denken ist – auch die begriffliche wie reale Angewiesenheit der Liebe auf die Sorge: Real, weil wir die Anderen auch in ihren Funktionen innerhalb der Umwelt wahrnehmen und uns ihrer in instrumenteller Weise bedienen; begrifflich, weil Binswanger die Liebe als »Über-dieWelt-hinaus-sein« bestimmt, hinaus über die Welt der Sorge nämlich, die Welt im Sinne Heideggers. Als »Über-die-Welt-hinaus« bleibt Liebe begrifflich an die Welt der Sorge gebunden. Binswanger lässt Heideggers Weltbegriff im Wesentlichen unangetastet, d. h., er affirmiert ihn. Da Liebe in dieser Welt keinen Ort hat, muss er zu 62 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
solch unglücklichen Begriffsbildungen wie »Über-die-Welt-hinaus« greifen; unglücklich, weil Welt per definitionem das Ganze ist, solange man nicht über Religion spricht, was Binswanger nicht tut. Das stimmt jedoch nicht ganz, denn er spricht über Religion: über Mystik und negative Theologie. »Man dürfe Gott nicht lieben«, so führt Binswanger Meister Eckhart an, »weil er gütig, gerecht, mächtig usw. wäre, denn dies seien einzelne bestimmte Qualitäten, die ihm seine absolute Einheit […] nehmen; man dürfe ihn nur lieben, weil er eben er sei« (ebd., 114). Das hat, meint Binswanger, die menschliche Liebe mit der Mystik gemeinsam und zieht daraus jene Konsequenz für das Sprechen über Liebe, die die Mystik für das Sprechen über Gott gezogen hat: Dass man über ihn nicht sprechen kann. Über Liebe auch nicht, jedenfalls nicht in der Sprache der Welt. So schreibt Binswanger: Wie Gott so steht auch das menschliche Du der Liebe jenseits des logischen Gegensatzes von Allgemeinem und Besonderem. Eigenschaften sind immer »Verallgemeinerungen«, »allgemeine« Identitäten. Will man von ihnen aus wieder zum Besonderen oder Individuellen zurückkehren, so gelingt dies nur, indem man es als Träger dieser oder jener allgemeinen Eigenschaften bestimmt oder als Substanz, der diese oder jene »Attribute« zukommen. (Ebd., 114)
In der Liebe aber gibt es keine Scheidung in ein Etwas (ein Ganzes oder Allgemeines) und Besonderes (seine Qualitäten), sondern »in allem«, schreibt Binswanger, »bist Du ganz da« (ebd., 114). Die Scheidungen in Besonderes und Allgemeines sind nachträglicher Natur. Die Sprache der Liebe ist »weder logisch-diskursiv, noch metaphysisch-substanziell, sondern imaginativ-spekulativ« (ebd., 114) – es ist die Sprache der Dichtung. Deswegen beschreibt Binswanger Liebe so oft bloß negativ: Liebe sei nicht mit logischen Kategorien zu erfassen oder in leeren Paradoxa, sie sei »Versöhnung aller logischen Gegensätze« (ebd., 115). Deswegen zitiert und kommentiert er so ausführlich Liebesgedichte.
V. An dieser Stelle stoßen wir auf eine Kritik Binswangers an Heidegger, die fundamentaler ist als die Kritik an dessen pragmatistischer Anthropologie. Er übernimmt sie von Buber (der durch die Mystik zu 63 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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»Ich und Du« geführt wurde): die Kritik an der konstituierenden Intentionalität. 5 Gegenüber der Sorge soll Liebe, auch wenn sie an diese gebunden bleibt, das ganz Andere sein. Das ist nötig, weil die Welt der Sorge und ihre Gegenstände Leistungen des entwerfenden Daseins sind, Leistungen transzendentaler Konstitution. Was Welt und Dinge in der Welt ihrem Sinne nach sind, sind sie aufgrund der konstituierenden Verstehensleistungen des Daseins. Weil das Dasein sich selbst in einem bestimmten Sinne versteht, richtet es sich in einem bestimmten korrelativen Verständnis auf Anderes; es konstituiert dieses in seinem Sinn. Das gilt, meint Binswanger mit Buber, für jede Intentionalität: Die intentionale Perspektive, in der ich mich auf etwas richte, bestimmt, wie dieses sich mir zeigt. Wenn dies für das gesamte Verhältnis zu Welt und Seiendem gilt, dann sind die Dinge, mit denen ich zu tun habe, in ihrem Sinn vollständig durch das verstehende Dasein konstituiert. Und wenn auch Heideggers Welt nicht das Korrelat eines intentionalen Aktes ist, nicht Gegenstand, sondern das Sinnganze, innerhalb dessen das Intendieren von Gegenständen erst möglich ist, so ist diese Welt doch das Korrelat des Verstehens des Daseins; sie ist dessen Entwurf. Der Andere wird damit zur Sache, zum Ding wie andere Dinge, zum »Es«, wie Buber sagt (1923, passim). Das Ich der Liebe muss darum ganz anders sein. Ist es das? Nein, Binswanger entkommt dem Modell transzendentaler Konstitution des Anderen nicht. Denn wie wir gesehen haben, gehört die Urbegegnung, gehört das »Du überhaupt« zur Daseinsverfassung als solcher. Das, meint Binswanger, ist die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung eines realen Du. Als reales Du kann nur begegnen, was durch die Daseinsverfassung ermöglicht wird. Das reale Du ist vollständig durch das Du überhaupt, das schon zur in sich dialogischen Daseinsverfassung gehört, konstituiert. In der liebenden Begegnung, sagt Binswanger, »bist Du überhaupt, Du als Allgemeines im Sinne ›aller‹ Duhaftigkeit, und Du als dieses besondere eine Du nicht geschieden« (ebd., 114). Das reale Du ist das transzendental konstituierte Du. Im Vorwort zur dritten Auflage der Grundformen verteidigt Binswanger seine Ergänzungen zu Heideggers Daseinsanalytik mit dem Hinweis, ihm sei das zur Jemeinigkeit der Existenz gehörige Ich, 5 Bubers Ich und Du lässt sich als Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Auffassung von der transzendentalen Konstitution des Anderen verstehen; siehe hierzu Theunissen (1977).
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Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
das alles auf sich zentriere, nie zu Gesicht gekommen. (Ebd., 14) Er fordert seine phänomenale Ausweisbarkeit ein. Lässt sich die Einheit von Du überhaupt und besonderem Du in der Liebe, lässt sich die »Wirheit« als ursprüngliches Worum-willen, als ursprünglicher Zweck phänomenal ausweisen? In der Sprache der Welt zumindest nicht, wie ja überhaupt das Verhältnis von Sprache und Anschauung ein schwieriges Kapitel der Phänomenologie ist. Binswanger zieht darum die Dichtung mit ihrer Bildlichkeit heran. Aber: »Vieles lügen die Dichter«. Doch auch wenn sie nicht lügen: Bringt jeder Dichter die gleiche Erfahrung ins dichterische Wort? Binswanger beruft sich unter anderem auf Rilke. Doch einer seiner Briefpartner, Hermann Mörchen, weist ihn darauf hin, dass »ja gerade Rilke oft bezeugt, dass wir auch im Miteinander dem je-einzelnen Dasein nicht entrinnen« (Mörchen 1958). Dichtung muss ausgewählt und interpretiert werden. Woher soll man die Maßstäbe dafür nehmen? Muss man nicht schon wissen, wie die Dinge liegen, damit einem die Dichtung etwas zeigen kann?
VI. Heidegger hat auf Binswangers Kritik in den zwischen 1959 und 1969 gemeinsam mit Medard Boss gehaltenen Zollikoner Seminaren und in Gesprächen mit Boss reagiert. Sein Vorwurf lautet, Binswanger verkenne den existenzialen, ontologischen Sinn des Begriffs der »Sorge« und fasse sie als existenzielles, ontisches Verhalten auf; er missverstehe die Daseinsanalytik als Anthropologie. Nur deswegen könne er der Meinung sein, hier lasse sich etwas ergänzen: das ontische Verhalten des Sich-Sorgens durch das ontische Verhalten des Liebens (Heidegger 2006, 150 ff., 236 ff., 254, 259, 286 f.; Boss 1957, 88 ff.). Binswanger hat zwar ausdrücklich zugestanden, Sein und Zeit anthropologisch missverstanden zu haben (Binswanger 1942/1962, 12). Worin er dieses Missverständnis sieht, bleibt jedoch unklar; in dieser Sache jedenfalls hat er Heideggers Vorwurf zurückgewiesen. Und das zu Recht. Dabei geht es nicht um die Frage, ob die Bezeichnung »Anthropologie« für die Daseinsanalytik zutreffend ist, denn abgesehen davon, dass ein Streit um Benennungen meist unfruchtbar ist, lässt sich mit Sein und Zeit ein Verständnis der Daseinsanalytik als Anthropologie ebenso stützen wie abweisen. Scheint es beispielsweise in § 10 Heideggers Absicht zu sein, einer anthropologischen Lesart der 65 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Daseinsanalytik von vornherein entgegenzutreten, identifiziert er sie an anderer Stelle mit einer existenzialen Anthropologie (Heidegger 1927/1993, 183). Die Frage ist vielmehr, ob die Grundformen tatsächlich bloß ontische Aussagen über den Menschen machen und damit – da sie ja Sein und Zeit ergänzen sollen – zeigen, dass Binswanger auch die Daseinsanalytik ontisch verstanden hat, oder ob dies nicht der Fall ist, ob die Grundformen also Aussagen zur Seinsverfassung des Menschen, zu seiner ontologischen Struktur, machen. Binswangers metatheoretische Reflexionen verwirren hier eher: Schreibt er in seiner Entgegnung auf den Vorwurf des anthropologischen Missverständnisses, dass er die Liebe, aber auch andere von ihm analysierte Daseinsstrukturen, »ontologisch zu verstehen suchte« und es sich bei ihnen nicht um psychologische Verhaltensweisen oder Gestimmtheiten handele (Binswanger 1942/1962, 13), heißt es demgegenüber bereits in der ersten Auflage der Grundformen, er wolle seine Untersuchungen nicht als ontologische verstanden wissen und zwar weil sie nur Grundzüge des »menschlichen Daseins« herausarbeiten, ohne »bis auf das Dasein überhaupt vorzudringen«; letzteres wäre »reine« Ontologie (ebd., 33). In ähnlicher Weise spricht Binswanger vom »anthropologischen Modus des Daseins«, in dem Dasein »in der Form des Menschseins« auftritt (ebd., 88), als könnte es Dasein auch anders denn als menschliches geben. Aber auch wenn Dasein und Mensch nicht identisch sind, insofern sich über den Menschen sachhaltige Angaben wie über Dinge lassen machen, über das Dasein hingegen nicht, da sich an ihm nur »je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das« herausstellen lassen sollen (Heidegger 1927/1993, 42) – der Mensch ist zumindest auch ein Was, das Dasein ein Wer (ebd., 45) –, auch dann gilt, dass Dasein an eine Realisierung im Menschen gebunden ist. Ein Dasein überhaupt, das nicht menschliches ist, kennt Sein und Zeit nicht: Dasein ist das Seiende, das wir selbst sind. Die Absicht von Sein und Zeit ist es, von einer Ontologie dieses Daseins, einer Bereichsontologie, zu einer allgemeinen Ontologie, einem Begriff von »Sein überhaupt« zu gelangen, nicht von einem menschlichen Dasein zu einem Dasein überhaupt. Hier könnte bei Binswanger tatsächlich ein Missverständnis vorliegen. Sicher ist das nicht, denn andernorts unterscheidet er klar zwischen dem Sein des menschlichen Daseins und dem Sein überhaupt (Binswanger 1942/1962, 88, Anm. 30). Doch selbst wenn hier ein Missverständnis vorliegt, ist es ohne Bedeutung für die Frage, ob Heideggers Vorwurf, Binswanger verstehe die Daseinsanalytik als ontische Anthropologie, zutrifft. 66 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
Auch wenn Binswanger am ontologischen Charakter der Grundformen festhält, gibt er doch zu, »die Liebe nicht wirklich ontologisch im Sinne Heideggers« verstanden zu haben und zwar weil er sie nicht dem Ansatz des Daseins als »je meinem«, als Sorge, unterstelle (Binswanger 1942/1962, 14). Denn genau dies, dass es dem Dasein in seinem Sein um je sein eigenes und nur um sein eigenes Sein gehe, sei der für Heidegger in jeder Hinsicht fundamentale philosophische Seinsentwurf. Binswanger sieht also den Begriff der Ontologie bei Heidegger an eine bestimmte Auffassung von der Verfassung des Daseins gebunden. Da er diese Auffassung nicht akzeptiert, kann er sagen, die Grundformen seien keine Ontologie, nämlich keine Ontologie, die sich vollständig im Rahmen von Heideggers Existenz-Begriff bewegt. Achtet man weniger auf Binswangers schwer zu harmonisierende metatheoretische Selbstcharakterisierungen und mehr auf das, was er in seiner Philosophie der Liebe tatsächlich tut, dann lässt sich deren ontologischer Charakter nicht bestreiten und zwar nicht gegen, sondern mit Heidegger. Sie ist ontologisch im Sinne einer Bereichsontologie: einer Ontologie eines bestimmten, von anderem unterschiedenen Seienden – hier des menschlichen Daseins. Ausgehend von einem Boden ontisch-existenzieller, phänomenaler Beschreibungen werden Grundstrukturen herausgearbeitet; in der Terminologie von Sein und Zeit: »Existenzialien«. Binswanger orientiert sich hier methodologisch an Heidegger, indem er ontische Phänomene deskriptiv erfasst, um sie dann auf ihre ontologische Struktur hin zu analysieren. In einem Gespräch mit Boss erklärt Heidegger ganz in diesem Sinne: »Das Verhältnis von ontischer Interpretation und Ontologie ist geschichtlich gesehen immer ein korrelatives, insofern als aus der ontischen Erfahrung neue Existenzialien entdeckt werden« (Heidegger 2006, 259; Heidegger 1927/1993, 50, Anm. 1). Eben das nimmt Binswanger für sich in Anspruch: Durch die Interpretation von bei Heidegger übergangenen existenziellen, ontischen Befunden weitere Existenzialien zu gewinnen. Abgesehen davon, dass Binswanger die Liebe nicht als bloß ontische Verhaltensweise auffasst, sondern mit ihr eine ontologische Struktur herausarbeitet, schützt ihr ontologischer Status als solcher die Sorge natürlich nicht schon davor, ergänzungsbedürftig und -fähig zu sein. Interpretieren Binswangers daseinsanalytische Untersuchungen psychopathologischer Krankheitsbilder, wie Manie oder Schizophrenie, diese als konkrete Realisierungen einer schon explizierten Grundstruktur – des In-der-Welt67 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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seins –, arbeiten die Grundformen mit der Liebe eine solche Grundstruktur erst heraus. Erst als In-der-Welt-sein und als Über-die-Welthinaus-sein, als Sorge und als Liebe, ist die Seinsverfassung des Daseins vollständig bestimmt. Binswanger kann sich darauf berufen, dass Heidegger selbst auf die in ihrem leitenden Erkenntniszweck begründete Unvollständigkeit der Daseinsontologie von Sein und Zeit hingewiesen hatte. Doch Binswangers Ergänzung fügt nicht nur fehlende Stücke an, sie macht eine Modifikation Heidegger’scher Begriffe notwendig, insbesondere des zentralen Begriffs des »Daseins«. Er lässt sich nicht mit »Sorge« oder »Existenz« identifizieren.
VII. Michael Theunissen (1977, 243–252) hat die transzendentalphilosophischen und die dialogphilosophischen Konzeptionen des Anderen – Husserl, Sartre, Heidegger einerseits, Buber, Ebner, Binswanger andererseits – in einer tiefgreifenden Analyse auf ihre Leistungsfähigkeit hin untersucht. In einer Nachschrift stellt er etwas resigniert fest (ebd., 483), dass man nun, nachdem man sich durch das Dickicht der Lektüre gekämpft habe, wohl noch immer nicht wisse, auf welche Seite man sich schlage solle. Ich weiß das auch nicht, vielleicht auf keine von beiden. Ich will die Frage hier aber nicht weiter verfolgen, sondern mit einer Bemerkung schließen, von der ich nicht genau sehe, wohin sie führt und ob sie weiterhilft. – Heidegger will in Sein und Zeit zeigen, dass das theoretische Verhalten ein von der philosophischen Tradition falsch verstandenes Derivat des praktischen ist, genauer: des instrumentellen Verhaltens. Binswanger folgt ihm in dieser Auffassung. Im Blick auf die Liebe stört er sich insbesondere am objektivierenden Charakter des theoretischen Erkennens: Es bestehe ein himmelweiter Unterschied zwischen dem theoretischen Erkennen und dem liebenden Erkennen (Binswanger 1942/1962, 103). Aber wie, würde ich fragen, haben wir das, was wir lieben? Binswanger sieht, dass das ästhetische Erleben in der Welt von Sein und Zeit keinen Ort hat. Wie haben wir ein Bild, das wir lieben? Wir schauen es an. Wie haben wir einen Menschen, den wir lieben? Wir schauen ihn an. »Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger«, heißt es im Alten Testament (Gen. 4,1; 4,17). Der Akt geschlechtlicher Liebe ist hier als Akt der Erkenntnis aufgefasst. Was wir lieben, haben wir im Anschauen, in dem, was in der antiken grie68 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Liebe und Sorge. Binswangers Ergänzung von Heideggers Daseinsanalytik
chischen Philosophie »theoria« heißt. Liebe erfüllt sich im »zwecklosen« »Sich-satt-sehen« an dem, wonach es uns verlangt. Mit anderen Worten: Sie erfüllt sich in der Theorie. Ich denke, man wird nie zu einer zufriedenstellenden Konzeption des Anderen und der Liebe gelangen, wenn man nicht ihren in diesem Sinne theoretischen Charakter sieht (Pieper 1996).
Literatur Binswanger, L. (1922). Probleme der allgemeinen Psychologie. Berlin: Springer. Binswanger, L. (1942/1962). Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (3. Aufl.). Zürich: Niehans. Binswanger, L. (1946). Brief an Rudolf Alexander Schröder. Universitätsarchiv Tübingen, Signatur 443/27. Binswanger, L. (1947). Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. I. Bern: Francke. Binswanger, L. (1955). Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Bd. II. Bern: Francke. Blankenburg, W. (1977). Die Daseinsanalyse. In H. Balmer et. al. (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. III (S. 941–964). Zürich: Kindler. Boss, M. (1957). Psychoanalyse und Daseinsanalytik. Bern/Stuttgart: Hans Huber. Boss, M. (1962). Lebensangst, Schuldgefühle und psychotherapeutische Befreiung. Bern/Stuttgart: Hans Huber. Buber, M. (1923). Ich und Du. Leipzig: Insel. Chomsky, N. (1986). Knowledge of Language. New York: Praeger. Heidegger, M. (1927/1993). Sein und Zeit (16. Aufl.). Tübingen: Niemeyer. Heidegger, M. (1985). Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. Hrsg. v. W. Bröcker u. K. Bröcker-Oltmanns. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Heidegger, M. (2006). Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe (3., um ein Register ergänzte Aufl.). Hrsg. v. Medard Boss. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Mörchen, H. (1958). Brief an Ludwig Binswanger vom 26. 7. 1958. Universitätsarchiv Tübingen, Signatur 443/64. Pieper, J. (1996). Über die Liebe. Werke in acht Bänden. Bd. 4 (S. 296–414). Hrsg. v. B. Wald. Hamburg: Felix Meiner. Theunissen, M. (1977). Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (2., um eine Vorrede vermehrte Aufl.). Berlin/New York: De Gruyter. Töpfer, F. (2010). Zum Verhältnis von Krankheitsbegriff, Normativität und Anthropologie in der daseinsanalytischen Psychiatrie und Psychotherapie. Zeitschrift für medizinische Ethik 56, 251–270. Wyss, D. (1991). Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen (6. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
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Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger, dargestellt am »Fall Ellen West« Alice Holzhey-Kunz
Die Liebe gewinnt in der mittleren – daseinsanalytischen – Phase von Binswangers intellektuellem Schaffen die Bedeutung einer zentralen anthropologischen und methodischen Kategorie. Mit ihr tritt Binswanger gegen Heideggers »Angst« an, welche in Sein und Zeit als jene »Grundbefindlichkeit« figuriert, in der dem Dasein sein eigenes Sein in »ausgezeichneter« Weise erschlossen ist (Heidegger 1927/ 2001, § 40). Binswangers theoretisches Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins von 1942 ist hauptsächlich ein Buch über die Liebe, das zeigen will, dass sich sowohl das Wesen des Menschen wie das Wesen einer dem Menschen angemessenen Erkenntnis nur von der Liebe her erfassen lasse (Binswanger 1942/ 1993). Damit stellt dieses über 600-seitige Werk auch einen Gegenentwurf zu Heideggers Daseinsanalytik von Sein und Zeit dar, in dem die dortige Bestimmung des menschlichen Daseins als »In-der-WeltSein« als eine unzulässige Verkürzung der Struktur kritisiert und durch das Strukturglied des »Über-die-Welt-hinaus-Seins« ergänzt wird. Nach 1958 beginnt die dritte Phase von Binswangers Schaffen, in welcher die Liebe ihre anthropologische und methodische Bedeutung wieder verliert. Unter dem Einfluss des Freiburger Philosophen Wilhelm Szilasi orientiert sich seine psychiatrische Forschung nun nicht mehr an Heidegger, sondern, wie schon in der ersten Phase, wieder an Edmund Husserl, und zwar diesmal an dessen Theorie des transzendentalen Bewusstseins (Binswanger 1960/1994, 428). Damit will Binswanger seinen bisherigen daseinsanalytischen Ansatz zwar nicht disqualifizieren, aber doch transzendieren. Denn dieser basiert, wie wir gleich sehen werden, auf der Annahme, dass die »Welt« bzw. der »Weltentwurf« eines Menschen jenes »Letztgegebene« sei, hinter das man nicht mehr zurückfragen könne, weil es apriorischen Charakter habe. Das erweist sich nun in der Orientierung an Husserl als naiv, weil jetzt das transzendentale Bewusstsein jenes Letzte ist, aus 70 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger
dessen konstituierenden Leistungen die individuellen Weltentwürfe resultieren. Darum kann auch nur die Phänomenologie zeigen, »was hier«, das heißt im Falle einer seelischen Erkrankung, »eigentlich vorgeht« (1960/1994, 425). Damit ist das neue Ziel einer phänomenologischen statt daseinsanalytischen Forschung vorgezeichnet, nämlich aufzuzeigen, wodurch eine psychische Störung zur Störung wird, nämlich durch ein »Versagen« von transzendentalen Bewusstseinsleistungen. Diese phänomenologische Erkenntnis ist von der in der daseinsanalytischen Phase angestrebten phänomenologischen »Daseinserkenntnis« grundverschieden, weshalb hier Überlegungen zum Verhältnis von Liebe und Erkenntnis keinen Sinn mehr machen. Psychiatrische Forschung kann jetzt wieder von jenem wissenschaftlich-diskursiven Standpunkt aus erfolgen, den Binswanger in der zweiten Phase noch als einen dem menschlichen Dasein grundsätzlich unangemessenen Standpunkt zurückweist, weshalb er im Rekurs auf die Liebe zu überwinden sei.
Das Postulat vom anthropologischen Vorrang der Liebe vor der Angst Wenn ich im Titel von einem »methodischen Sinn« der Liebe spreche, dann ist das eine verkürzte Redeweise, weil die Liebe selbst noch keine Erkenntnis ist, sondern sie nur ermöglicht: »Wenn daher die Liebe und Teilnahme an und für sich noch keine Daseinserkenntnis bedeuten, so bedeuten sie doch den grundlegenden, ›fundierenden‹ Seinsmodus für alle Daseinserkenntnis« (Binswanger 1942/1993, 454). Daseinserkenntnis meint dabei, wie schon angedeutet, mehr als nur Erkenntnis über das menschliche Dasein im Unterschied zur Erkenntnis über nichtmenschlich Seiendes, nämlich zugleich jene Erkenntnisform, die allein dem Dasein als Dasein gerecht zu werden vermag. Sie unterscheidet sich von allen anderen Formen wissenschaftlicher Erkenntnis über den Menschen dadurch, dass in ihr weder eine Objektivierung noch eine Partialisierung des Menschen stattfindet. Erkannt wird hier der Mensch als Mensch (bzw. das Dasein als Dasein), und zwar in seiner Ganzheit statt nur in dieser oder jener Hinsicht. Binswangers Titelwahl für sein Hauptwerk ist nicht eben glücklich, weil sie im Unklaren lässt, wie denn die »Grundformen« und die »Erkenntnis« menschlichen Daseins zusammenhängen. Aus dem Vorwort zur 1. Auflage (Binswanger 1942, 17; leider in Binswanger 71 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Alice Holzhey-Kunz
1993, Ausgewählte Werke Band 2, nicht abgedruckt) geht hervor, dass Binswanger einen anderen Titel erwogen hat, der das Verhältnis viel deutlicher gemacht hätte, nämlich: »Anthropologische Grundlagen psychologischer Erkenntnis«. Doch daran missfiel ihm die Rede von »psychologischer Erkenntnis«, weil eine in der Liebe (als anthropologischer Grundgegebenheit) gründende Erkenntnis nicht mehr »psychologischer«, sondern »ontisch-anthropologischer« Natur ist (vgl. 1944–45/1994, 107). Warum seine Wahl nicht auf »Anthropologische Grundlagen der Daseinserkenntnis« gefallen ist, wissen wir nicht, aber der Sache nach steht der erste Teil, mag er auch doppelt so viele Seiten zählen wie der zweite, im Dienste des letzteren. Nun hat der Gedanke, dass die Liebe ihre eigene Erkenntnis hervorbringe, eine lange Tradition, die Binswanger dem Leser auch mit einer stupenden Kenntnis vorstellt und anhand vieler Zitate belegt. An diese Tradition knüpft Binswanger also an, wenn er den »Logos der Liebe« von der in den Wissenschaften herrschenden Ratio unterscheidet. Aus ihr gewinnt er die Überzeugung, dass die recht verstandene Liebe gerade nicht »kopflos«, sondern im Gegenteil besonders hellsichtig mache. Zu untersuchen bleibt also nur, was unter »Daseinserkenntnis« genau zu verstehen ist. Dafür rekurriert Binswanger nun auf Husserls Phänomenologie, der er schon 1922 einen Vortrag gewidmet und deren Bedeutung für die Psychiatrie er darin gewürdigt hat (Binswanger 1922/1992). Für Binswanger ist in allen drei Phasen seines Denkens klar, dass nur dank der »Phänomenologie« ein angemessener Zugang zum menschlichen Dasein möglich wird, nur versteht er darunter nicht immer dasselbe. Was er in der daseinsanalytischen Phase von Husserl übernimmt, ist dessen Überzeugung von der Phänomenologie als »strenger Wissenschaft«. Auch die »Daseinserkenntnis« liefert, insofern sie der phänomenologischen Methode folgt, »wissenschaftlich begründete und nachprüfbare« Erkenntnis (1946/1994, 232). Sich auf den Boden der Liebe zu stellen, heißt also nicht, das Ideal wissenschaftlicher Exaktheit aufzugeben, sondern nur, die Erkenntnis des Menschen nicht dem Ideal naturwissenschaftlicher Exaktheit zu unterstellen. Binswangers Ausführungen zum Verhältnis von Liebe und Daseinserkenntnis stehen zwar im Dienste einer Erneuerung der Psychiatrie, sind aber selbst philosophischer Natur. Mit ihnen tritt er gegen Heidegger an, dem er vorwirft, die philosophische Erkenntnis des Daseins irrtümlich in der »Sorge« gründen zu lassen. Darum kann es nicht verwundern, dass die Grundformen nicht nur stark auf 72 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger
Sein und Zeit bezogen, sondern auch von dessen Begrifflichkeit und Denkweise abhängig sind. Binswanger übernimmt von Heidegger insbesondere zwei wichtige Denkfiguren, die ich kurz erwähnen möchte. Die erste betrifft die ontologische Bestimmung des Erkennens als »Existenzmodus«. Heidegger hintergeht damit die alte Dichotomie von Theorie und Praxis und ordnet stattdessen die Theorie dem (lebenspraktischen) Existenzvollzug zu. Das theoretische Erkennen wird bereits im § 13 von Sein und Zeit als ein »Sein in und zur Welt« und damit als eine besondere »Seinsmöglichkeit« des Daseins bestimmt (Heidegger 1927/2001, 60; 62; Herv. v. Verf.). Wenn Binswanger in den Grundformen die Daseinserkenntnis als »eine völlig eigenartige Seinsweise« bezeichnet und gegen Descartes einwendet, der Weg gehe nicht vom »cogito« zum »sum«, sondern umgekehrt vom »sum« zum »cogito« (vgl. Binswanger 1942/1993, 455), dann hat er das bei Heidegger gelernt. Die zweite Denkfigur betrifft die Unterscheidung zwischen fundierenden und fundierten bzw. ursprünglichen und abgeleiteten Seinsmöglichkeiten des Daseins. Heidegger charakterisiert in Sein und Zeit das theoretische Erkennen als »fundierten« Existenzmodus (vgl. Heidegger 1927/2001, 59), der in einem »ursprünglichen« Erschließen von Welt und Selbst gründe. Binswanger nimmt diese Unterscheidung auf, um für seine »Daseinserkenntnis« zu beanspruchen, sie sei in nichts anderem fundiert, sondern habe selbst ursprünglichen Charakter. Auch Binswangers Hauptanliegen, die Erkenntnis des Menschen von der Liebe her zu fassen, ist nur möglich dank Heideggers Aufwertung der Stimmungen in Sein und Zeit. Denn dort kompliziert sich bekanntlich das Ursprungsproblem, weil Heidegger zwei gleichursprüngliche Modi des Erschließens postuliert, die darum auch gleichrangig nebeneinander stehen, nämlich Befindlichkeit und Verstehen (vgl. Holzhey-Kunz 2009, 117 ff.). Ohne Heideggers Entdeckung, dass die Stimmungen mehr sind als nur Begleiterscheinungen des Verstehens oder Reaktionen darauf, weil sie für sich selbst, unabhängig von allem Verstehen, Welt und Selbst zu erschließen vermögen und darum alles Verstehen in Stimmungen gründet – ohne diese Entdeckung wäre es für Binswanger nicht möglich gewesen, der Liebe eine fundierende Bedeutung für ein angemessenes Erkennen des Menschen zu geben. Betrachten wir nun, wie Binswanger das, was er bei Heidegger lernt, nutzt, um es gegen Heidegger ins Feld zu führen. Er richtet die Frage, ob es sich um ein fundiertes, abgeleitetes oder um ein ur73 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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sprüngliches Phänomen handelt, an die Liebe einerseits und an die Angst andererseits, weil davon abhängt, welche der beiden »Seinsweisen« den »ontologisch-anthropologischen Vorrang« (Binswanger 1942/1993, 581) beanspruchen kann. Damit stellt er auch schon klar, dass es ihm nicht einfach darum geht, die »Liebe« in Heideggers Daseinsanalytik einzuführen, sondern dass alles davon abhängt, ob sie darin den Vorrang vor der Angst bekommt oder nicht. Wenn Binswanger also in der Einleitung zu den Grundformen klagt, »dass das liebende Miteinandersein, die Liebe, frierend außerhalb der Tore dieses [d. h. Heideggers] Seinsentwurfs« stehe, so will er damit nicht nur sagen, dass sie dort mit keinem Wort erwähnt wird, sondern dass sie innerhalb dieses Seinsentwurfs nicht angemessen gedacht werden kann. Denn ein Blick auf Jean-Paul Sartres Analyse der Liebe in Das Sein und das Nichts (Sartre 1943/1993, 641 ff.) zeigt überdeutlich, dass die Liebe durchaus innerhalb dieser Tore einen Platz findet, ohne dass an Heideggers Konzept der Angst als Grundbefindlichkeit gerüttelt werden muss (vgl. Holzhey-Kunz 2005, 109 ff.). Doch Sartres Lösung wäre für Binswanger ganz und gar inakzeptabel, behält doch bei ihm die Angst den Vorrang und bleibt die Liebe immer auf Angst bezogen im notwendig scheiternden Bemühen, sie zu überwinden. Dass die wahre Liebe Vorrang vor der Angst hat, schließt für Binswanger ein, dass sich die Liebe ohne irgendeine Bezugnahme auf Angst denken lässt, weil sie ein »ursprüngliches« Phänomen ist. Darum kann, wenn jemand zur wahren Liebe fähig ist, die Angst gar nicht auftauchen, denn wer »in« der Liebe ist, hat die Angst überwunden. Darum ist weder die Liebe in der Angst fundiert noch umgekehrt die Angst in der Liebe. Die Angst ist vielmehr in der Abwesenheit von Liebe fundiert: »Hingegen ist Angst zu verstehen aus dem Zurückgeworfensein des Daseins aus der liebenden Seinssicherheit und Seinsverbundenheit in die Not und den Heroismus der Existenz« (Binswanger 1942/1993, 581). Es ist nicht schwer zu sehen, warum Binswanger alles am Nachweis gelegen sein muss, dass die Liebe Vorrang vor der Angst hat. Davon hängt nämlich ab, was der Mensch seinem Wesen nach ist, ob, wie Heidegger es wollte, jenes Seiende, das »im Grunde seines Seins sich ängstet« (vgl. Heidegger 1927/2001, 190), weil sein Sein »durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt« ist (ebd., 285), oder jenes Seiende, das seinem Wesen nach in der »ungeschiedenen Seinsfülle des Einander« lebt und also ohne allen Mangel ist (vgl. Binswanger 1942/1993, Einleitung). 74 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger
Wie soll man den Unterschied der beiden anthropologischen Ansätze fassen? Zunächst springt die Wende ins Positive bei Binswanger ins Auge: Wo der Mensch in der Liebe wahrhaft Mensch ist, haben wir es mit einem positiven Menschenbild zu tun, das den Menschen als wesensmäßig heil und ganz ansetzt. Binswanger belässt es nicht bei einer allgemeinen Beschreibung menschlichen Ganzseins, sondern er weist es im Einzelnen nach, wobei er sich streng an den konträren Analysen Heideggers orientiert, um diese zu kritisieren und zu überwinden. Die folgende Liste soll schematisch verdeutlichen, wie sich diese Wende ins Positive und Ganze bei Binswanger ausnimmt: Heidegger:
Binswanger:
Dasein als Sorge
Dasein als Liebe
Das Dasein als je meines; Jemeinigkeit Dasein als je unseres; Wirheit Mit-sein als Mitdasein der Anderen
Mit-sein als Einheit von Ich und Du; als Einandergehören
Endlichkeit der Sorge
Unendlichkeit der Liebe
Nichtigkeit der Sorge
Daseinsfülle der Liebe
Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Ewigkeit der Liebe Sorge Unzuhause-sein in der Welt
Beheimatetsein in der Liebe
Dasein als In-der-Welt-Sein
Dasein als In-der-Welt-über-die-WeltHinaus-Sein
Diese Auflistung könnte zu einem Missverständnis führen, das darum gleich korrigiert werden soll: Was Binswanger gegen Heideggers Auffassungen ins Feld führt, will diese nicht ersetzen, sondern lediglich so ergänzen, dass sie zugleich die erste Stelle einnehmen. Es geht, wie schon gesagt, lediglich um den ontologischen »Vorrang« der Liebe vor Sorge und Angst, sodass Heideggers »negative« Charakterisierungen der conditio humana innerhalb der neuen Anthropologie der Liebe ihr begrenztes Recht behalten. Schon das Inhaltsverzeichnis der Grundformen macht klar, dass die Liebe nur eine von drei Grundformen des Daseins ist; die beiden anderen sind »Das Mitsein von Einem und einem (oder den) Andern« und »Das Zu-sich-selbst-sein«. Die Grundform der Liebe wird aber am Anfang des Werkes abgehandelt, weil die beiden anderen Grundformen nur vom liebenden Miteinandersein her angemessen gedacht werden können. Heideggers Analyse des Daseins als »Sorge« bekommt darum immer dort ihr Recht, wo 75 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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die Liebe nicht zum Durchbruch kommen kann und also die wahre »Ganzheit« des menschlichen Seins verfehlt wird. Ein solches Verfehlen ist nach Binswanger nicht nur faktisch häufig anzutreffen, sondern der Mensch steht wesensmäßig in der Möglichkeit, diese Ganzheit auch zu verfehlen. Das bedeutet, dass die höchste Grundform menschlichen Daseins, die Liebe, zugleich auch die gefährdetste ist. Doch dieser Befund lässt sich nach Binswanger keineswegs gegen den wesensmäßigen Vorrang der Liebe und damit gegen eine positive Anthropologie ins Feld führen, sowenig wie die Tatsache, dass es faktisch auch viele Verfallsformen von Liebe gibt, die weit hinter der wesensmäßigen Liebe zurückbleiben. Alle faktischen Abarten der Liebe sowie ihr Fehlen lassen sich nur angemessen erkennen, wenn man sie an der Grundform der Liebe und damit am wesensmäßigen Ganzsein menschlichen Daseins misst, weil sich nur dann ihr defizitärer Charakter enthüllt. Das macht Binswanger schon in der kurzen Einleitung zu seinem Hauptwerk klar, wo es unmissverständlich heißt, dass »das Umgehen, Verkehren des Einen mit dem oder den ›Andern‹ im Leben der Gesellschaft […] sich dem Daseinsverständnis erst dann erschliesst, wenn es sich als ›Schrumpfung‹ oder ›Verfall‹ des Mit-einander-seins in das blosse Mit-Sein von ›Einem und einem Andern‹ enthüllt« (Binswanger 1942/1993, 11). Durch die Lektüre von Binswangers Schriften ist mir schon früh klar geworden, wie stark ein psychopathologisches Konzept von der zugrundeliegenden Anthropologie bestimmt wird, weil bei ihm die Anthropologie den Zugang zum seelischen Leiden direkt anleitet – ohne Zwischenschaltung einer psychologischen Theorie. Und seine Schriften haben mich auch gelehrt, dass es weniger davon abhängt, als was der Mensch inhaltlich definiert wird, als davon, ob er als grundsätzlich »heil und ganz« oder aber als radikal endlich und wesensmäßig gefährdet bestimmt wird. Binswanger hat sich zweifellos an Heideggers Anthropologie gestoßen, weil sie, darin der Anthropologie Freuds nahe verwandt, der Negativität eine konstitutive Bedeutung gibt (vgl. Holzhey-Kunz 1987, 356 ff.). Dennoch wäre es irreführend, in der Kontroverse Binswanger/Heidegger nur eine Kontroverse um ein positives oder negatives Menschenbild zu sehen, weil man Heideggers Anthropologie nicht gerecht wird, wenn man sie einfach als »negative« apostrophiert. Die Angst hat bei Heidegger nicht deshalb den Vorrang, weil er kursierenden, positiven Menschenbildern ein negatives entgegensetzen will, sondern weil er von Kierkegaard gelernt hat, den Menschen als ein »existierendes« Wesen 76 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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zu verstehen, was er selbst auf die provokative Formel brachte, das Wesen des Daseins liege in seiner Existenz (Heidegger 1927/2001, 42). Die Angst ist jene Stimmung, die dem Dasein nichts als die von der Philosophie so lange verkannte Wahrheit bekundet, dass sein Wesen weder im Geist noch in den Trieben liegt, weder in der Harmonie noch im Konflikt oder was der Gegensätze mehr sind, sondern in der puren »Existenz«, im nackten »Zu sein« (»Das Wesen dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein«, ebd.) Alle »negativen« Momente, die Heidegger am Dasein herausstellt, entspringen dieser radikal neuen Wesensbestimmung, weshalb es sich dabei auch nicht um Mängel im üblichen Sinne handelt. Das Entscheidende an Heideggers Anthropologie ist also nicht ihr negativer, sondern ihr existenzialer Charakter. Die Lektüre der Grundformen macht dem Leser schnell klar, dass Binswanger mit dem entscheidenden Satz, auf dem die ganze Daseinsanalytik Heideggers basiert, wonach das Wesen des Daseins in der Existenz liege, nichts anfangen kann. Er fasst deshalb »Existenz« wie selbstverständlich als eine inhaltliche Wesensbestimmung traditioneller Art auf, gegen die er nun einen anderen Inhalt, nämlich die Liebe, ausspielt. Das aber macht, sobald man »Existenz« existenzial statt eidetisch denkt, gar keinen Sinn. Nur weil Binswanger das »Wesen« des Menschen im Sinne der philosophischen Tradition als ein »Was-sein« statt als ein »Dass-sein« fasst, bleibt für ihn auch die Phänomenologie des Daseins eine »Wesensschau«, während sie bei Heidegger ganz konsequent zur »Hermeneutik« wird (vgl. Heidegger 1927/2001, 37 f.). Dass Binswangers liebende »Daseinserkenntnis« eine Wesensphänomenologie bleibt, während Heideggers phänomenologische Methode zur hermeneutischen mutiert, zeigt schon ein Vergleich der Inhaltsverzeichnisse von Binswangers Grundformen und Heideggers Sein und Zeit. Während Binswanger als Wesensphänomenologe mit der Analyse der Liebe beginnen kann, vermag Heidegger als Hermeneutiker erst in § 40 zum Phänomen der Angst zu gelangen. Binswanger kann direkt mit der Liebe anfangen, weil er davon ausgeht, dass sich ihr ursprüngliches Wesen rein aus ihr selbst gewinnen resp. »schauen« lasse, und er muss auch mit ihr anfangen, weil die beiden anderen Grundformen menschlichen Daseins, das »Mitsein von einem und einem Anderen« sowie das »Zu-sichselbst-sein«, nur im Vergleich mit der Liebe als das erkennbar werden, was sie sind, nämlich Modi der Schrumpfung und des Verfalls eigentlichen Menschseins. Heidegger hingegen muss sich zur Angst 77 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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in mühsamer hermeneutischer Arbeit gleichsam vorbaggern, weil der Mensch aus dieser Grundbefindlichkeit »existiert« und sich deshalb immer schon so oder anders zu ihr verhält – und zwar zunächst und zumeist so, dass er vor ihr in den Seinsmodus der »Alltäglichkeit« flieht, der ein »Verfallen an das Man« bedeutet. Die Angst ist zwar immer irgendwie »da«, aber doch zumeist nur als mehr oder weniger erfolgreich abgewehrte. Darum kann der Phänomenologe der Angst nur auf die Spur kommen, indem er die vorherrschende Lebensform der »Alltäglichkeit« daraufhin untersucht, inwiefern sie der Abwehr der Angst dient, um auf diese Weise das, was in ihr abgewehrt wird, nämlich die Angst, aufzudecken.
Liebe als methodische Bildung Doch auch wenn wir verstehen, warum die Liebe bei Binswanger – anders als die Angst bei Heidegger – ohne Umwege erkennbar ist, bleibt die Frage offen, durch wen sie erkannt werden kann, und wer also für sich beanspruchen kann, das wahre Wesen der Liebe zu schauen. Nach den bisherigen Ausführungen ist zwar klar, dass das nur demjenigen gelingen kann, der selbst schon auf dem Boden der Liebe steht, denn wie sollte eine Erkenntnis, die seinsmäßig noch in der »Sorge« als minderer Existenzform fundiert ist und diskursiv verfährt, auch nur ahnen können, was Liebe ist? So folgt denn aus Binswangers Denkansatz, dass die Liebe nur durch sich selbst erkennbar ist. Doch damit ist noch offen, was das für den Erkennenden heißt: Muss er als Person liebesfähig sein, um die Liebe in ihrem wahren Wesen erkennen zu können? Hat Binswanger sich für einen liebesfähigen Menschen gehalten, der dank seiner persönlichen Liebesfähigkeit in der Lage war, ein Buch über das wahre Wesen der Liebe zu schreiben? Binswanger gibt zu dieser Frage nur einen indirekten Hinweis in Form der Widmung des Buches an seinen Sohn Robert, wir finden aber keinen Hinweis darauf, dass er Heideggers Favorisierung der Angst in Sein und Zeit psychologisch als Ausdruck von dessen persönlichem Verfallensein an die Angst gedeutet hätte. Zur Frage, ob eine persönliche Liebesfähigkeit erforderlich sei, gesellt sich die Frage, wem die Liebe gelten solle, bindet doch Binswanger Daseinserkenntnis an die Zugehörigkeit zu einer »liebenden Wirheit«: »In der Daseinserkenntnis endlich bin Ich nie nur mich dem Gegenstand gegenüber behauptendes erkennendes ›Subjekt‹, 78 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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sondern vor allem Teilglied liebender Wirheit.« (Binswanger 1942/ 1993, 506) Die Grundformen sind »Dem Andenken meines Sohnes Robert« gewidmet, das heißt seinem ältesten Sohn, den Binswanger schon früh zu seinem Nachfolger erkoren hatte und der sich 1929 – erst zwanzigjährig – dieser Aufgabe entzog, indem er seinem Leben ein Ende setzte. Es ist zweifellos die Liebe zu seinem verstorbenen Sohn, die Binswanger zu seinem Buch über die Liebe inspiriert hat, und so kann man auch vermuten, dass es die »liebende Wirheit« mit diesem Sohn ist, die ihn das wahre Wesen der Liebe erfahren lässt. Das Buch ist ineins eine Liebeserklärung an seinen Sohn und ein beeindruckender Versuch, angesichts des schlechthin Unfassbaren dieses Todes nicht zu verzweifeln (vgl. Hirschmüller 2003; Dammann 2012). Man versteht angesichts dieses schweren und wohl auch schuldbelasteten Verlustes, wie wichtig es für Binswanger ist, nachzuweisen, dass in der Liebe der Tod »überschwungen« sei, dass auch im Tod des Geliebten die »Wir-heit im Lieben ›intakt‹« bleibe und »damit ihre Dauer nicht betroffen« sei (Binswanger 1942/1993, 155). Doch es bleibt die Frage, ob auch der daseinsanalytische Psychiater, um einen psychiatrischen Patienten daseinsanalytisch zu erkennen, persönlich liebesfähig sein und mit ihm gar eine »liebende Wirheit« bilden muss. Zunächst scheint niemand anders als der jeweilige Patient dafür in Frage zu kommen. Wäre es von Binswanger so gemeint, dann hätte Ellen West für ihn zum geliebten Du werden müssen, um ihre individuelle Daseinsgestalt in »liebender Imagination« schauen zu können. Dieses Missverständnis wehrt Binswanger aber schon in den Grundformen, also kurz bevor er sich die Studie über Ellen West vornimmt, klar ab: Das kann natürlich nicht die »menschenunmögliche« Forderung bedeuten, dass man, um einen Mitmenschen […] erkennen zu können, ihn lieben, »in ihm« dem »konkreten« geliebten Du begegnen müsse, sondern die menschenmögliche »Bildung«, den zu erkennenden Mitmenschen […] im Licht und Geist der Du- oder Wirhaftigkeit überhaupt zu sehen und zu erkennen (Binswanger 1942/1993, 452 f.).
Nicht persönliche Liebe, sondern »Bildung« ist also erforderlich, und zwar im Sinne der Fähigkeit, den zu erkennenden Mitmenschen »im Licht und Geist der Du-und Wirhaftigkeit« zu sehen. Was Binswanger mit Bildung hier meint, ist offensichtlich eine Schulung im Sehen, die der Daseinsanalytiker durchlaufen muss. Offen bleibt dabei, 79 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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ob auch der Erwerb einer solchen Bildung noch an eine persönliche Liebesfähigkeit des Daseinsanalytikers gebunden ist oder nicht. Diese Frage stellt sich vor allem vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, die ja vom Analytiker eine eigene Lehranalyse fordert, die nicht nur einer besseren Erkenntnis seiner selbst, sondern auch einer besseren Beziehungsfähigkeit dienen soll. Doch eine analoge daseinsanalytische Lehranalyse wird von Binswanger nie diskutiert, was damit zusammenhängt, dass für ihn (anders als für Medard Boss) die Daseinsanalyse eine Daseinserkenntnis und keine Daseinstherapie ist. Darin sieht er selber den entscheidenden Unterschied zur Psychoanalyse Freuds, die von Anfang an therapeutische Zwecke verfolgt habe (Binswanger 1954/1994; vgl. Holzhey-Kunz 2014). Die Psychoanalyse als Therapie zu charakterisieren, ist allerdings schief, zielt doch die Psychoanalyse genauso auf Forschung ab, nur dass diese Forschung nur innerhalb des analytisch-therapeutischen Settings möglich ist, weshalb der Psychoanalytiker immer zugleich Forscher und Therapeut ist. Dass der Daseinsanalytiker nur Forschung betreibt, heißt darum im Klartext, dass Daseinserkenntnis unabhängig von einer therapeutischen Beziehung zum Patienten gewonnen werden kann. Für das, was der Daseinsanalytiker vom Patienten in Erfahrung bringen muss, genügen rein explorative Gespräche mit ihm. Diese werden ergänzt und unter Umständen sogar ersetzt durch schriftliche Aufzeichnungen des Patienten und durch glaubwürdige mündliche und schriftliche Auskünfte von Bezugspersonen über den Patienten (Krankengeschichten usw.). Alle fünf Schizophrenie-Studien Binswangers sind aufgrund solchen Quellenmaterials entstanden. Und wenn Binswanger Ellen West auch während der zehn Wochen ihres Aufenthalts im Sanatorium Bellevue (Mitte Januar bis Ende März 1921) täglich gesehen hat, so stützt er sich doch über 20 Jahre später für die Niederschrift seiner Studie vor allem auf die schriftlichen Selbstzeugnisse (Tagebücher) von Ellen, die ihm deren Ehemann überlassen hatte, sowie auf Auskünfte des Ehemannes und, für die Zeit des Aufenthaltes im Bellevue, auch auf die schriftlichen Notizen des Pflegepersonals. Ob die vom Daseinsanalytiker geforderte »Bildung« im Sinne der Fähigkeit, den zu erkennenden Mitmenschen »im Licht und Geist der Du- oder Wirhaftigkeit zu sehen und zu erkennen«, eine Bildung ist, die den Menschen im Ganzen bildet und so gesehen dem Ziel einer Lehranalyse vergleichbar wäre, ist von Binswanger nicht diskutiert worden. Sicher ist nur, dass der Psychiater sich theoretisch 80 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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auf den Boden der Liebes-Anthropologie Binswangers stellen muss, um einen Patienten im Sinne der Daseinsanalyse erkennen zu können. Und um dabei methodisch richtig zu verfahren, scheint das auch zu genügen. Nun haben wir bereits gesehen, dass Binswangers Auffassung von Daseinserkenntnis mit dem Anspruch verbunden ist, sie sei allen anderen philosophischen und psychologischen Erkenntnissen über den Menschen überlegen. Um diesen Anspruch zu begründen, führt er ein sachliches und ein methodisches Argument ins Feld: Erstens kann nur eine Erkenntnis auf dem Boden der Liebe einen Menschen in seiner individuellen Ganzheit in den Blick bekommen, weil, wie dargelegt, der Mensch nur in der Liebe wahrhaft ganz ist; und zweitens kann das die Daseinserkenntnis nur darum leisten, weil sie selbst von jenem Mangel, den alle anderen Erkenntnisformen in sich tragen, frei ist. Sie ist nämlich, weil in der Liebe fundiert, frei von jeglicher perspektivischen Gebundenheit. Während alle anderen Formen der Erkenntnis von einem bestimmten Standpunkt aus erfolgen und darum perspektivisch sind, ist die Daseinserkenntnis »überstandpunktlich«. Binswanger kommt deshalb zu dieser Überzeugung, weil für ihn die Selbstbehauptung des erkennenden Subjekts und dessen Standortgebundenheit, welche die Perspektive vorgibt, identisch sind. Wer immer dem zu Erkennenden als sich behauptendes Subjekt gegenübertritt, nimmt notwendig einen Standpunkt ihm gegenüber ein, von wo aus er über den zu Erkennenden urteilt. Nur die Daseinserkenntnis macht davon eine Ausnahme, weil die Liebe jene »Wirheit« als »dualen Modus« stiftet, in dem das Dasein nicht mehr je meines, sondern je unseres ist. Und nur der duale Seins-Modus gewährt jene überstandpunktliche Erkenntnis, die Binswanger als phänomenologische »Imagination« bezeichnet – Imagination des zu Erkennenden in seiner individuellen Ganzheit, nämlich als »Daseinsgestalt« (ebd.; vgl. Binswanger 1944–45/1994, 105). Aus der Standpunktfreiheit der Daseinserkenntnis folgt für Binswanger noch ein weiterer immenser Vorteil, nämlich die überzeitliche Gültigkeit ihrer Resultate. Im »Fall Ellen West« hebt er die Daseinserkenntnis von der historischen Erkenntnis ab, wie sie die Geschichtswissenschaft hervorbringt, und beruft sich dafür auf Rankes Aussage, wonach historische Erkenntnisse immer wieder umgeschrieben werden müssten, weil sie trotz aller Wissenschaftlichkeit nicht anders könnten, als ihre Direktiven aus der jeweiligen Gegenwart zu beziehen (ebd., 105). Diese erkenntnistheoretische Naivität 81 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Binswangers mag uns erstaunen, doch für ihn folgt dieser Pluspunkt der Daseinserkenntnis aus dem Umstand, dass sie ihre Direktiven aus der überzeitlich wahren Wesensverfassung des Menschen und ihrer strukturellen Gliederung bezieht, die wir bereits als »In-der-Weltüber-die-Welt-hinaus-Sein« kennen gelernt haben (ebd., 110).
Der Fall Ellen West als »Paradigma für die Daseinsanalyse in der Psychiatrie« Binswanger hat den Fall Ellen West selbst zum Paradigma daseinsanalytisch-psychiatrischer Forschung erklärt (Binswanger 1946/ 1994, 243 f.), sodass es nahe liegt, anhand dieses Falles zu zeigen, wie sich die Daseinserkenntnis einer individuellen Daseinsgestalt auf dem Hintergrund ihrer Lebens- und Leidensgeschichte konkret ausnimmt. Aus der in den Grundformen entfalteten Anthropologie ergeben sich für Binswanger drei Leitfragen, auf die hin er das, was er über Ellen, ihre Lebensgeschichte und den Verlauf ihrer Krankheit weiß, sichtet und prüft: 1. In welchen Grundformen des In-der-Welt-Seins, abgekürzt: in welchen Welten vollzieht sich das Dasein von Ellen West? 2. Welche individuelle Abwandlung weisen diese ontologischen Grundformen des In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Seins bei Ellen West auf? 3. Wie manifestiert sich die Abwandlung der Grundformen in den verschiedenen Stadien der Lebensgeschichte? Die Antworten auf diese drei Fragen können nur niederschmetternd sein, fordern doch diese Fragen auf, alle empirischen Fakten daraufhin zu prüfen, ob sie der Norm eines wesensgemäßen und also gelingenden Menschseins genügen und wenn nicht, wie stark sie davon abweichen. Das gilt schon für die erste Frage, die zunächst wertfrei tönt, aber im Falle seelisch kranker Menschen auf die Frage hinausläuft, in welchen Grundformen sich dieser Mensch nicht aufzuhalten vermag. Binswanger erklärt lakonisch, Ellen sei »nirgends liebend geborgen« (Binswanger 1946/1994, 117), denn es komme mit keinem Menschen zu einem »eigentlichen Ich-Du-Verhältnis« (ebd., 111). Wohl sei Ellens soziale Tätigkeit durch eine Menschenliebe motiviert, aber diese sei nicht »aus Liebe geboren«, sondern »von Ehrgeiz getrieben« (ebd.). Das bedeutet, dass ihr Existieren auf die beiden ande82 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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ren Grundformen und die ihnen entsprechenden Welten, die Mitwelt einerseits, die Eigenwelt andererseits, beschränkt ist – eine Beschränkung, die bereits eine enorme Verarmung und Entleerung dieses Lebensvollzugs bedeutet. Doch es bleibt nicht bei der Reduktion auf diese beiden Welten, weil nach Binswanger deren Verhältnis von Anfang an gestört ist: Statt ineinander überzugehen, seien Mitwelt und Eigenwelt bei Ellen von früher Kindheit an schroff gegeneinander abgesetzt, weil die Mitwelt immer schon »die Bedeutung der Grenze« habe (ebd., 108). Binswanger sieht das in zwei überlieferten »Fakten« aus der Zeit ihrer frühen Kindheit belegt: Ellen habe mit neun Monaten die Milch verweigert und, kaum fähig zu sprechen, habe sie, als man ihr ein Vogelnest zeigte, kategorisch erklärt, dieses Vogelnest sei kein Vogelnest. Dieser sich so früh und so heftig manifestierende Trotz im Verhältnis zur Mitwelt belegt nach Binswanger, dass das Dasein von Ellen sich immer schon vorwiegend in der »Eigenwelt«, dem »idios kosmos von Heraklit«, aufgehalten habe (ebd., 110), was einer größtmöglichen Schrumpfung der wesensgemäßen Strukturganzheit des In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Seins gleichkomme. Die zweite Frage verlangt, alle Grundformen auf mögliche Abwandlungen hin zu betrachten. Das scheint zunächst überflüssig, wenn schon feststeht, dass Ellen vor allem in der Eigenwelt lebt. Binswanger weist aber nach, dass sich bei Ellen, obwohl ihr ein eigentliches Ich-Du-Verhältnis versagt ist, dennoch »Keime wahrer Liebe« finden lassen. Dass Ellen geahnt haben muss, was Liebe ist, schließt Binswanger aus dem Übermaß ihres subjektiven Leidens. Hätte sie nicht ein »geheimes Wissen von der Möglichkeit des Über-die-Welthinaus-Seins« gehabt, dann hätte »dieses Dasein seine Leere und Armut nicht derart erlitten«; »[d]em völlig liebeleeren Menschen kann das Dasein zur Last, aber nicht zur Hölle werden« (ebd., 111). Ellen ist es zur Hölle geworden, weil es in ihr eine »Sehnsucht nach Heimat und Ewigkeit im Sinne der Liebe« gab (ebd., Herv. v. Verf.), die aber, wie Binswanger sofort hinzufügt, für sie »unerfüllbar« war. Binswangers Überzeugung von der grundsätzlichen Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht im Falle Ellen West wird uns noch beschäftigen. Auf die Abwandlung der Grundform des »mitweltlichen Mitseins von einem mit den andern« (ebd.) geht Binswanger am ausführlichsten ein, weil er in dieser Abwandlung den Hauptgrund für Ellens Krankheit sieht. Zunächst stellt er fest, dass dieses Mitsein bei Ellen »die Form des unruhigen Nehmens der Anderen bei der schwachen Stelle, des rastlosen Beherrschen- und Leitenwollens der anderen« 83 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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sowie des Trotzes vor allem gegen die Herkunftsfamilie annehme (ebd.). Doch diese Opposition gegen die Mitwelt ist selbst nur Ausdruck einer radikaleren Abwandlung, die man nur versteht, wenn man berücksichtigt, dass für Binswanger das mitweltliche Mitsein die Grundform des »Schreitens auf der Erde« und damit des in der Welt »Sich tätig Einrichtens« darstellt – die Mitwelt also ineins auch Welt des Handelns und also der Praxis ist, in der das Dasein »mit beiden Füßen auf der Erde steht«. Erst unter diesem Aspekt erweist sich Ellens Opposition gegen die Mitwelt als Ausdruck ihrer Unfähigkeit, sich in der Welt der Praxis aufzuhalten und das eigene Leben handelnd zu gestalten. Diese Welt, die Binswanger auch als die »Welt auf der Erde« bezeichnet, wird bei Ellen völlig dominiert und damit minimalisiert durch die beiden anderen Welten: die »Welt über der Erde« einerseits und die »Welt unter der Erde« andererseits. Ellen habe Mühe, auf der Erde zu schreiten, weil diesem Dasein »das Aufder-Erde-Stehen […] dauernd streitig gemacht [werde] durch ein Schweben und Fliegen in der Luft und ein Eingeschlossensein in und unter der Erde« (ebd., 112). Mit der ätherischen Welt über der Erde ist die Welt der bloßen Wünsche und höchsten Ideale gemeint, mit der Welt unter der Erde die Welt der (sinnlich-leiblichen) Begierden. Beide Welten aber gehören zum »idios kosmos«, zur Eigenwelt, die insofern »abgewandelt« ist, als sie in die beiden Gegensätze von ätherischer Welt einerseits und Welt der Begierde andererseits auseinanderfällt. Es ist ein wichtiges Anliegen Binswangers, dieses Auseinanderfallen der Eigenwelt in die beiden gegensätzlichen Welten schon früh im Leben von Ellen West nachzuweisen – das heißt, lange bevor im 18. Lebensjahr der Wunsch in ihr erwacht, selbst zart und ätherisch zu sein wie ihre Freundinnen, und dann im 20. Lebensjahr die Angst vor dem Dickwerden auftaucht, mit der sich für ihn »der eigentliche Krankheitsprozess im psychiatrischen Sinne manifestiert« (ebd., 118). Binswanger führt dafür frühe Gedichte an, in denen die Gegensätze von hell und dunkel, von leicht und schwer, von fliegen und kriechen usw. bereits eine wichtige Rolle spielen. Die dritte Frage betrifft die Lebensgeschichte, für die sich die Daseinsanalyse, wie Binswanger andernorts betont, genauso interessiere wie die Psychoanalyse, »wenn auch auf durchaus eigene Art«, weil sie die Geschichte eines Patienten »als Abwandlung der Gesamtstruktur des In-der-Welt-Seins« verstehe (vgl. Binswanger 1954/ 1994, 260). Die Abwandlung erweist sich im Falle von Ellen West als 84 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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ein fortschreitender Einkreisungsprozess, und zwar als »Einkreisungsprozess der gesamten Existenz« (Binswanger 1946/1994, 118), der zu jenem Zeitpunkt bereits beendet ist, als aus psychiatrischer Sicht die Krankheit anlässlich des Auftauchens der Angst vor dem Dickwerden mit 20 Jahren erst beginnt. Wann hat dieser Prozess begonnen? Binswanger erwähnt als erste Anzeichen dafür das Verweigern der Milch mit neun Monaten sowie den früh auftretenden und ausgeprägten Eigensinn und Trotz gegenüber der Mitwelt. Doch Binswanger sieht darin nur erste Anzeichen für einen Prozess, der dieser Daseinsgestalt von Anfang an eingeschrieben ist. Der Prozess beginnt also nicht mit einem Ereignis in der frühen Kindheit, denn sogar, wenn sich ein traumatisches Ereignis ausmachen ließe, wäre es nach Binswanger unzulässig, darin die Ursache für die jeweils vorliegende pathologische Abwandlung der Daseinsstruktur zu sehen, weil damit das Rätsel ungelöst bliebe, warum viele Menschen traumatische Kindheitserfahrungen mehr oder weniger unbeschadet überstehen (vgl. Binswanger 1946/1994, 246 f.) Nur unter der Annahme, dass das Schicksal gleichsam von Anfang an besiegelt ist, macht es auch Sinn, von einem Einkreisungsprozess zu sprechen, gehört doch dazu die Vorstellung, die Schlinge sei immer schon angelegt und ziehe sich im Laufe der Zeit nur immer mehr zu, bis der psychische Lebensraum so eng werde, dass ein Weiterleben nur noch unter unerträglichen Qualen möglich sei. Da der Einkreisungsprozess von Beginn an angelegt war, tritt im Laufe der Zeit nur deutlicher hervor, was vorher auch schon, wenn auch unauffällig, da war. So schildert Binswanger, wie sich im Laufe der Zeit die ätherische Welt und die Grabeswelt immer krasser voneinander abhöben (ebd., 114 f.), und dass Ellen immer stärker von der Gruftwelt herabgezogen werde (ebd., 116 f.), weshalb das »Verfallensein an die Sumpfwelt« immer »unmittelbarer zutage« trete (ebd., 126). Wenn sich in der Lebensgeschichte von Ellen also nichts Neues ereignet und alle Therapieversuche scheitern, dann deshalb, weil sich aufgrund der von Anfang an bestehenden schweren Strukturdeformation nichts Neues ereignen kann. Der Einkreisungsprozess ist nicht aufzuhalten, weil sich in ihm nur ausfaltet, was dieses Dasein »von seinem Grunde her« bestimmt, nämlich an die Welt der Begierde verfallen zu sein, die von Binswanger wahlweise auch als »Gruftwelt«, als »Lochwelt«, als »Welt unter der Erde«, als »Sumpfwelt« und einmal sogar als »Grabeswelt« bezeichnet wird (vgl. ebd., 125). 85 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Dass es sich bei Ellen West von Anfang an um ein Verfallensein an die Welt der Begierde handeln soll, macht Binswanger erst am Ende der Deutung des Krankheitsprozesses deutlich. Vorher scheint es sich über längere Zeit um einen Konflikt zwischen den beiden gegensätzlichen Welten des Lichts, der Phantasie, der ätherischen Leichtigkeit einerseits und des Dunkels, der materiellen Schwere, der leiblichen Begierde andererseits zu handeln, der in den unauflösbaren Konflikt zwischen dem Wunsch, dünn und ätherisch zu sein wie die Freundinnen, sowie dem unwiderstehlichen Wunsch zu essen mündet. Erst in der letzten Phase hebt er hervor, dass Ellen nicht an diesem unlösbaren Konflikt zugrunde gehe, sondern an ihrem Verfallensein an die Welt der Begierde. Das Verfallensein an die Begierde liegt also dem Einkreisungsprozess zugrunde, während der Wunsch, dünn zu sein, nur als ein notwendig zum Scheitern verurteilter Versuch zu verstehen ist, diesen Prozess zu stoppen. Wenn Ellen in ihrem Trotz alle Schranken hasst und sich dagegen auflehnt (ebd., 124), dann nur deswegen, weil sie insgeheim ahnt, dass es sich um Schranken ihrer defizitären Struktur des In-der-Welt-Seins handelt, die ihrem Leben vorgegeben sind und ihr deshalb keine Chance lassen, sei es in einer Liebesbeziehung oder in einer befriedigenden Tätigkeit glücklich zu werden. Der bereits zitierte Satz, wonach Ellen sich zwar nach Liebe sehne, aber diese Sehnsucht »unerfüllbar« sei, wird vor dem Hintergrund von Binswangers Überzeugung, dass das Verfallensein an die Welt der Begierde für dieses Leben von Grund auf bestimmend sei, verständlich. Zu dieser Deutung ist anzumerken, dass Binswanger gar nicht bei einem unlösbaren Konflikt zwischen unvereinbaren Welten, an dem Ellen zugrunde gehen würde, stehen bleiben kann, sondern diesen Konflikt als bloße Manifestationsform einer immer schon bestehenden Schrumpfung der Daseinsstruktur interpretieren muss, weil in seiner Anthropologie – anders als in der psychoanalytischen – keine unlösbaren Konflikte vorgesehen sind.
Ellens Tod als »notwendige Erfüllung des Lebenssinns dieses Daseins« Binswanger widmet Ellens Tod ein eigenes Kapitel, handelt es sich doch um einen Suizid, der wie jeder Suizid Fragen aufwirft, die Binswanger »daseinsgemäß« beantworten will. Es liegt nahe, zu ver86 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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muten, dass Binswanger zwar den Tod von Ellen West interpretiert, dabei aber auch immer um ein Verstehen des Todes seines Sohnes Robert ringt. Ich lasse diesen Aspekt hier aber weg und verweise nochmals auf die Ausführungen dazu bei Hirschmüller (2003) und Dammann (2012). Eine »daseinsgemäße« Interpretation von Ellens Tod soll die Stelle des üblichen Verstehens aus psychologischen Motiven einnehmen, weil letzteres immer unbeantwortet lassen muss, »inwiefern diese Motive zu Motiven werden konnten« (Binswanger 1946/1994, 133). Eine daseinsanalytische Interpretation ist nicht psychologisch, sondern anthropologisch geleitet, und stellt den Tod in den Zusammenhang der vorliegenden Strukturabwandlung des Daseins, was für Binswanger identisch ist mit einem Verstehen »aus dem Grunde dieses Daseins«. In diesem anthropologischen statt psychologischen Zusammenhang erweist sich – so die Kernaussage Binswangers – Ellens Suizid als »die notwendige Erfüllung des Lebenssinns dieses Daseins« (ebd.), weil dieses Leben von Anfang an ein »todgeweihtes« gewesen sei (ebd., 135). Binswanger benutzt die Unterscheidung von »existenziellem« Tod und »biologischem Lebensende« (ebd., 134), um zu zeigen, dass der existenzielle Tod mit dem Ende des Einkreisungsprozesses bereits eingetreten und deshalb Ellen »reif für den Tod geworden« sei (ebd., 133). Vor diesem Hintergrund braucht Binswanger die Frage gar nicht zu stellen, ob man den Suizid damals nicht hätte verhindern können und auch sollen. Vielmehr liefert er 23 Jahre später eine daseinsanalytische Rechtfertigung für den damaligen Entscheid des Ehemannes, Ellen trotz ihrer hohen Suizidalität nicht zu einem Aufenthalt in einer geschlossenen Abteilung zu zwingen, sondern sie nach Hause zu nehmen – einen Entscheid, dem Binswanger damals aufgrund seiner Überzeugung von der unheilbaren Krankheit Ellens zugestimmt hatte (vgl. Hirschmüller 2003; Akavia & Hirschmüller 2007). Für Binswanger spricht also auch 23 Jahre nach dem Tod von Ellen West nichts gegen die Richtigkeit des damaligen Entscheides. Er sieht ihn vielmehr bestätigt durch die Schilderungen, die ihm der Ehemann über die kurze Zeitspanne zwischen der Abreise vom Bellevue und Ellens Suizid zukommen lässt, vor allem über den dritten Tag ihres Zuhauseseins, an dem sie wie umgewandelt gewesen sei, nämlich ruhig und heiter (vgl. Binswanger 1946/1994, 104 f.). Sie habe endlich wieder ohne Gewissensbisse, ja mit Genuss essen kön87 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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nen, bis sie satt gewesen sei, habe Gedichte gelesen, Briefe geschrieben und mit ihrem Ehemann noch einen Spaziergang unternommen. Das alles, vor allem aber die eingetretene heitere Stimmung – Binswanger nennt sie sogar »festlich« –, sind für ihn Belege dafür, dass es sich hier nicht mehr wie bei den früheren Suizidversuchen um eine verzweifelte Kurzschlussreaktion gehandelt habe, sondern um einen »freiwillig-notwendigen Entschluss zum Tode«, in dem dieses Dasein »eigentlich und ganz es selbst geworden« sei (ebd., 137, 150). Damit wird diese Verwandlung Ellens am letzten Tag auch zum Beleg für die Wahrheit der daseinsanalytischen Deutung dieses Todes als »notwendiger Erfüllung des Lebenssinns dieses Daseins« (ebd., 133). Binswanger verleiht Ellens Entschluss zum Tod sogar das Attribut der Eigentlichkeit. Denn während Ellen im Leben nicht wirklich habe »praktisch« werden können, entspringe ihr Entschluss zu sterben der Welt der Praxis und nicht der Welt der ätherischen Phantasien (ebd., 135). Zwar sei Ellen auch mit diesem letzten Entschluss »nicht über sich selbst hinausgewachsen« (was ja nur in der Liebe möglich sei), wohl aber sei sie damit »eigentlich sie selbst« geworden. Sie habe »im Entschluss zum Tode erst sich selbst gefunden und sich selbst gewählt« (ebd., 137). Binswanger steigert sich hier in ein verdächtiges Pathos hinein, der im Satz kulminiert: »Das Fest des Todes war das Fest der Geburt ihrer Existenz« (ebd.). Diese idealisierende Bewertung von Ellens tragischem Suizid nimmt er auch im kurzen Kapitel über die »Ewigkeit« (ebd., 151 ff.) nochmals auf, das den m. E. wenig ergiebigen Versuch abschließt, das In-der-Welt-Sein von Ellen West auf die Struktur der Zeitlichkeit hin zu interpretieren. Dort geht Binswanger in der Idealisierung dieses Todes noch weiter, indem er ihn sogar als Durchbruch »des dualen Modus im Menschen«, das heißt der »Liebe«, deutet. Er glaubt, in Ellens Verhalten kurz vor ihrem Tod drücke sich »ein wahres Wissen um wahre Liebe« und damit auch ein Wissen um die Ewigkeit aus, womit Ellen »tatsächlich im Sein stehe« und »in ruhiger Gelassenheit über die Endlichkeit des Seins triumphiere« (ebd., 153).
Der transzendental-apriorische Ansatz der Daseinsanalyse Binswangers Binswangers idealisierende Deutung von Ellens Suizid irritiert und weckt den Wunsch, diese an der »Realität« zu messen und zu fragen: 88 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Wer war Ellen West wirklich? Woran hat sie gelitten? Warum haben die beiden analytischen Therapien nicht gefruchtet? Welche Diagnose würde man heute stellen? – und schließlich: Wer war schuld an ihrem Suizid? Albrecht Hirschmüller verdanken wir nicht nur die Publikation bisher unveröffentlichter Quellen, die für die Beantwortung dieser Fragen relevant sind, sondern auch eine sachlich-respektvolle historische Darstellung aufgrund dieses neuen Quellenmaterials. Sie zeigt, dass schon damals die Schwere des Leidens unterschiedlich eingeschätzt wurde: von Ellens psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten als Neurose, von Binswanger, Bleuler und Hoche als – nicht therapierbare – Schizophrenie. Es ist zweifellos interessant, heute dank des neuen Quellenmaterials Binswangers Deutung andere Deutungen von Ellens Leiden gegenüberzustellen und vor allem auch die Therapierbarkeit aufgrund einer anderen Diagnosestellung und der inzwischen erfolgten Weiterentwicklung der therapeutischen Technik neu einzuschätzen. Es wäre aber falsch, zu meinen, dass Binswanger Ellen auch 20 Jahre später nur aufgrund der malignen Diagnose für nicht therapierbar gehalten habe. Die Frage der Therapierbarkeit ist nämlich ein ungelöstes Problem in Binswangers Daseinsanalyse selbst, das er allerdings selbst nicht erkannt hat (vgl. Holzhey-Kunz 2014). Und zwar liegt das Problem in den philosophischen Prämissen dieses Ansatzes, auf deren Basis – unabhängig von Ellen West als individuellem Fall – sich eine seelische Erkrankung nur als ein vordeterminierter und darum therapeutisch nicht zu beeinflussender Prozess konzipieren lässt. Damit kehre ich abschließend nochmals zu den Konsequenzen zurück, welche Binswangers Postulat vom anthropologischen Vorrang der Liebe vor der Angst hat. Die positive Absicht sei zuerst hervorgehoben: Binswanger will den seelisch Kranken als das unverwechselbare Individuum erfassen, das er auch als Kranker bleibt, statt an ihm nur jene Symptome zu beschreiben, die es erlauben, ihn als Fall einer bestimmten Krankheitskategorie zuzuordnen. Damit vertritt er ein Anliegen, das gegenüber der traditionellen Psychiatrie bis heute einen immensen Mehrwert hat. Doch wie Binswanger die jeweilige individuelle Gestalt glaubt, erfassen zu können, ist, wie der Fall Ellen West zeigt, überaus problematisch, mündet es doch in ein unermüdliches Maßnehmen an der Norm des strukturell intakten »In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-Seins«, dem wesensmäßig nichts fehlt. Was uns auf diese Weise als individuelle Daseinsgestalt entgegentritt, ist die jeweils vorliegende individuelle Abweichung von 89 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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der Norm, die kleiner oder größer sein kann und von der abhängt, in welchem Ausmaß dieses Individuum »die Struktur des Menschseins verfehlt hat« (vgl. Binswanger 1954/1994, 260). Darin manifestiert sich der methodische Sinn des Vorrangs der Liebe vor der Angst. Indem Binswanger Heideggers existenziale Anthropologie in eine normative verkehrt, die den Menschen als seinem Wesen nach heil und ganz (»über-die-Welt-hinaus«) ansetzt, gibt er die Chance, seelisches Leiden nach dem Vorbild Freuds, wenn auch auf neuem philosophischem Grund, zu verstehen statt nur als je individuelle Abweichung von einer ontologischen oder transzendentalen Norm zu beschreiben, preis (vgl. Holzhey-Kunz 2003, 100 ff.). Doch damit ist der eigentümlich deterministische Zug in Binswangers Auffassung psychischer Krankheit als individueller Abwandlung der wesensmäßigen Struktur menschlichen Daseins noch nicht erklärt. Dieser rührt ja daher, dass Binswanger die sich zunehmend manifestierende Pathologie nicht auf frühkindliche Erfahrungen, die Ellen West machte, bezieht, sondern auch diese frühen Erfahrungen bereits als Ausdruck einer zugrundeliegenden und diese prägenden apriorischen Struktur zurückführt. Binswanger greift hier auf Kants Vorstellung eines transzendentalen Apriori zurück und macht daraus ein individuelles Apriori, das als der »Weltentwurf« eines jeden Einzelnen jenes unhintergehbar Letzte bildet, das auch noch Freuds »Unbewusstem«, das ja aus frühkindlichen Verdrängungen entsteht, zugrunde liegt. Dass die Daseinsanalyse das individuelle Apriori freilegen kann, ist für Binswanger ein wichtiger Pluspunkt gegenüber der Psychoanalyse, die lediglich die seelischen Anfänge in den ersten Lebensjahren erforscht. Die deterministisch geprägte Auffassung seelischen Leidens folgt also aus Binswangers apriorischem Konzept von Individualität. Doch ist es der Psychiater Binswanger, der in guter psychiatrischer Tradition am determinierenden Charakter einer angeborenen Disposition festhalten will und dafür eine philosophisch-anthropologische Grundlage sucht, oder ist es der Philosoph Binswanger, der Heideggers Daseinsanalytik transzendental statt existenzial liest und deshalb eine transzendentale statt existenziale Theorie psychischer Krankheiten entwirft? Vermutlich hat beides zusammengespielt. Sicher aber ist, dass Binswanger Heideggers Fundamentalontologie als eine Transzendentalphilosophie im Sinne Kants und Husserls gelesen hat. Für ihn ist die von Heidegger herausgestellte »ursprüngliche Ganzheit des Strukturganzen des Daseins« (so der Titel von § 39 von 90 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Sein und Zeit) ein transzendentales Apriori, das dem konkreten Existenzvollzug als dessen Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt. Darum gibt es für Binswanger, anders als für Heidegger, zwei voneinander streng gesonderte Ebenen, die ontologische oder anthropologische einerseits, die ontische oder psychische andererseits. Binswangers eigenes Konzept eines individuellen Apriori fügt sich in seine transzendentale Lesart Heideggers ein. Daraus folgt, dass auch die individuelle Seinsverfassung ein apriorisches Gehäuse ist, in dem der konkrete Lebensvollzug eingeschlossen bleibt. Heideggers zentrale These, wonach das Dasein sich zu seinem Sein verhält, das heißt, immer irgendwie um sich und seine existenzialen Grundbedingungen weiß, wird von Binswanger völlig ignoriert. Nur darum kann Binswanger feststellen, dass Ellens Einsicht in ihr Dasein gegen Ende nicht ab-, sondern zunehme (Binswanger 1946/1994, 128), ohne auch nur zu fragen, ob denn eine solche Einsicht am Verwandlungsprozess des gesamten Daseins nicht doch etwas zu ändern vermöchte. Binswangers Einführung der transzendental statt existenzial aufgefassten Daseinsanalytik in die Psychiatrie führt also dazu, dass psychische Krankheit noch einmal radikal anders als bei Freud aufgefasst wird. Während dort nämlich das Subjekt, wenn auch meist nur unbewusst, sogar im Krankheitsprozess noch aktiv ist, ist es hier radikal entmächtigt zugunsten einer es determinierenden apriorischen Struktur. Diese wird zu einem »strukturellen Gehäuse«, aus dem es für das Individuum kein Entrinnen gibt (vgl. dazu HolzheyKunz 1994/2001, 30). Wenn Binswanger trotzdem in den 1950er Jahren eine daseinsanalytische Psychotherapie pathologisch abgewandelter Weltentwürfe ins Auge fasst, dann tut er das, ohne zu fragen, wie sich das mit seinem transzendentalen Ansatz vereinbaren lässt (vgl. dazu Holzhey-Kunz 2014). So hat denn Binswangers Überzeugung vom Vorrang der Liebe vor der Angst fatale Konsequenzen, und aus dem Bemühen, ein heiles Menschenbild zu retten, entspringt eine geradezu gnadenlos anmutende Beschreibung von Ellen Wests Erkrankung als einem irreversiblen und das innere Leben zwangsläufig abtötenden Einkreisungsprozess. Dass ausgerechnet eine Erkenntnis, die beansprucht, auf dem Boden der reinen und wahren Liebe zu stehen, ein solches Resultat liefert, stimmt nachdenklich. Von Wolfgang Blankenburg gibt es interessante Überlegungen zum Verhältnis von Erkenntnis und Scham, vor deren Hintergrund die Frage auftaucht, ob Binswangers daseinsanalytische Deutung von Ellen Wests tragischem Schicksal nicht 91 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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etwas Schamloses an sich habe. Für Blankenburg entspringt aus der Scham der »Takt gegenüber dem Begegnenden«, das heißt ein taktvolles Fragen, »wie er/sie/es verstanden sein möchte, welche Herangehensweise ihm adäquat« wäre (Blankenburg 1997, 186). So lässt sich denn zum Schluss fragen, ob, wenn nicht die Angst, so doch eine (behütende) Scham als erkenntnisleitende Haltung Vorrang haben muss vor einer (allzu ideal konzipierten) Liebe.
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Der methodische Sinn der Liebe bei Ludwig Binswanger Holzhey-Kunz, A. (1994/2001). Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene (2. Aufl.). Wien: Passagen. Holzhey-Kunz, A. (2003). Ellen West: Binswangers daseinsanalytische Deutung in daseinsanalytischer Kritik. In: A. Hirschmüller (Hrsg.), Ellen West. Eine Patientin Ludwig Binswangers zwischen Kreativität und destruktivem Leiden (S. 95–109). Heidelberg Kröning: Asanger. Holzhey-Kunz, A. (2005). Kann und soll die Liebe in den Fokus zweckrationaler Paartherapie rücken? In J. Willi & B. Limacher (Hrsg.), Wenn die Liebe schwindet. Möglichkeiten und Grenzen der Paartherapie (S. 99–115). Stuttgart: Klett-Cotta. Holzhey-Kunz, A. (2009). Emotionale Störungen in daseinsanalytischer Interpretation. In R. Esterbauer & S. Rinofner-Kreidl (Hrsg.), Emotionen im Spannungsfeld von Phänomenologie und Wissenschaften (S. 111–128). Frankfurt a. M.: Peter Lang. Holzhey-Kunz, A. (2014). Welche therapeutischen Konsequenzen hat Binswangers Konzept des Weltentwurfs? In G. Dammann (Hrsg.), Phänomenologie und Psychotherapeutische Psychiatrie (S. 79–93). Stuttgart: Kohlhammer. Sartre, J.-P. (1943/1993). Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Hrsg. u. Übers. v. T. König). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit: Handlungsraum und gelebte Autonomie in der ›Schizophrenie‹ Jann E. Schlimme
Einleitung Ludwig Binswangers Text zur Verschrobenheit aus dem Jahr 1952 ist der Mitteltext der drei sich mit der ›Schizophrenie‹ 1 beschäftigenden Aufsätze Formen des missglückten Daseins (Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit). Der erste Text zur Verstiegenheit stammt aus dem Jahr 1949. Er ist kurz, wie es sich für einen Zeitschriftenartikel, der er ursprünglich war, gehört, und kann als Ausgangspunkt für die dann folgenden Texte aus den Jahren 1952 (Verschrobenheit) und 1955 (Manieriertheit) verstanden werden. Interessanterweise präsentiert Binswanger bereits im Text von 1949 seine zentrale Idee zur ›Schizophrenie‹, dass nämlich der Mensch mit einer ›Schizophrenie‹ nicht im üblichen Sinne reife und sich in seinem fortgesetzten Lebenslauf entwickele, sondern durch die Erkrankung gezwungenermaßen in Formen des missglückten Daseins hineingerate, welche eben als verstiegen, verschroben oder manieriert bezeichnet werden könnten. So kann er im Rückblick aus dem Jahr 1955 im abschließenden Absatz der Texte schreiben, dass »der psychiatrische Sinn und Zweck unserer drei Abhandlungen […] in der Auflösung des starren Begriffs des Autismus als des schizophrenen Kardinalsymptoms durch seine Rückverwandlung in den Fluß des Geschehens des menschlichen Daseins« lag (Binswanger 1955/ 1994, 418). Eines Flusses, wie wir im Bild und Binswangers Sprache bleibend ergänzen könnten, der seinerseits in der ›Schizophrenie‹
Binswanger spricht durchgehend von »der Schizophrenie«. Aus heutiger Sicht erscheint diese vergegenständlichende Rede schwierig, weshalb ›Schizophrenie‹ in diesem Text in einfachen Anführungsstrichen erscheint und zuweilen auch von Schizophrenie-Diagnose, schizophrenen Störungen oder, vermutlich am korrektesten, von Psychose-Erfahrung gesprochen wird.
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Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit
eben gerade gestört und verhindert sei und in verstiegene, verschrobene oder manierierte Daseinsformen münde und dort erstarre. Denn, wie Binswanger im ersten Text (Verstiegenheit) schreibt, es sei gerade verstiegen, […] dass der Schizophrene […] »ohne Rücksicht auf die Erfahrung« auf einer bestimmten Sprosse der »Leiter der menschlichen Problematik« stehen bleibe[n]. […] Soweit hier überhaupt noch »Erfahrungen« gemacht werden, werden sie nicht mehr als solche gewertet und verwertet; denn »der Wert« liegt ein für allemal fest (Binswanger 1949/1992, 246).
Binswanger spricht damit eine weitgehende Unmöglichkeit an, die fortlaufend sich ereignenden Lebenserfahrungen so aufzunehmen, dass man als Person wächst und reift. Diese Metapher, welche mit Binswanger als wesentliche daseinsanalytische Beschreibung des schizophren erkrankten (»schizophrenen«) Menschen genommen werden kann, findet sich unter dem Begriff der »schizophrenen Erstarrung« insbesondere im dritten Teil (Manieriertheit). Dabei definiert er rückblickend die Verschrobenheit als »Vorstufe der schizophrenen Erstarrung« (Binswanger 1955/1992, 411). Als »schizophrene Erstarrung« zeige sich dann eigentlich erst die Manieriertheit, so dass sich derjenige nicht mehr entwickeln könne, sondern sich stattdessen in der lebenslang endlosen Wiederholung seiner manierierten Rolle, zu der er keine Rollendistanz mehr aufbauen könne, bewege (ebd., 413 ff.). Binswangers metaphorische (daseinsanalytische) Beschreibungen können auch heutzutage mit Gewinn für die eigene psychopathologische und klinisch-therapeutische Tätigkeit gelesen werden. Allerdings ist die Beschäftigung mit Binswangers Termini in der wissenschaftlichen Literatur derzeit kaum vorhanden, wenn man davon absieht, dass psychopathologische Beschreibungen auch in den aktuellen Klassifikationssystemen im Gefolge Emil Kraepelins und Eugen Bleulers Begriffe wie »Manierismen«, »vages, schiefes und verschwommenes Denken« oder »seltsames, exzentrisches oder eigentümliches Verhalten« benutzen. Das Lesen-mit-Gewinn gilt meines Erachtens insbesondere für die Termini der Verschrobenheit und der Manieriertheit, wobei mir der Begriff der Verschrobenheit fruchtbarer erscheint, wie meine nachfolgende Analyse zeigen wird. Ich werde mich im Folgenden darum bemühen, Binswangers Terminus der Verschrobenheit genau und kritisch zu erfassen und für eine feinkörnige phänomenologische Beschreibung des Handlungsraums 95 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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und der im Alltag gelebten Autonomie von Menschen mit PsychoseErfahrung (Schizophrenie-Diagnose) fruchtbar zu machen. Dies impliziert auch eine kritische Sicht auf Binswangers Daseinsanalyse insgesamt, wie sich im Verlauf zeigen wird.
Verschrobenheit, eine erste Definition Der Begriff Verschrobenheit bezieht sich, wenn wir zunächst den geläufigen Wörterbüchern folgen, auf verschrobene Handlungen oder Äußerungen bzw. das Verschroben-sein von Objekten oder Sachverhalten. Dabei meint verschroben so etwas wie merkwürdig, eigenartig oder eigentümlich. Auch Binswanger nimmt seinen Ausgang bei der Analyse der Verschrobenheit zunächst an den sprachlichen Verwendungen dieses Wortes, reiht Synonyme aus verschiedenen Sprachen auf, und fasst zusammen, dass »Verschrobenheit sowohl die gesamte Seinsweise eines bestimmten Menschen als auch ein bestimmtes Verhalten dieses Menschen« bezeichnen kann (Binswanger 1952/1992, 263). Er erläutert dann die Wortbedeutung – von ihm als »anthropologische Bedeutung« bezeichnet (ebd., 266 ff.) – auf hellsichtig-differenzierte Weise, wobei ihm der Umstand wesentlich wird, dass das Wort seine Bedeutung aus der Handhabung von Objekten bzw. dem Umgang mit Anderen herleitet: Was von der anthropologischen Herkunft des Wortes Verschrobenheit und seiner Umschreibungen aus bestimmten Werkstätten des homo faber, aus dem handlichen und handwerklichen Umgang mit einem bestimmten umweltlichen Material gilt, das gilt weiterhin aber auch von den rein psychologischen Umschreibungen. Auch sie entstammen der Sphäre des alltäglichen oder des ärztlich-handwerklichen Umgangs mit einem bestimmten Material, zwar nicht mehr mit einem stofflichen, sondern mit einem »Menschenmaterial« (ebd., 267).
Dieser Material-Vergleich ist von Binswanger explizit nicht abwertend gemeint, sondern soll auf den Umstand verweisen, dass ein Mensch als verschroben bezeichnet wird, wenn der Umgang mit ihm hakt und klemmt. Binswanger bemerkt, dass die Verwendung des Begriffs ein »wertendes Minusmoment« (ebd., 256) des Betreffenden miteinschließt, welcher »im Umgang stört und behindert« und insofern als »untauglich« von Anderen bewertet wird (ebd., 303). Die Bewertung eines Menschen als »untauglich« für den gemeinschaft-
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lichen Umgang ist zwar aus dem handwerklichen Feld entlehnt und von Binswanger als neutral gemeinte Beschreibung eingeführt, wirkt aber dennoch abwertend. Wie kommt es zu diesem Eindruck, den wir heute vielleicht sogar stärker wahrnehmen als die Leser zu Binswangers Zeiten? Und wie kommt es, dass Binswanger auf diesen Umstand nicht direkt reflektiert? Es scheint an dieser Stelle eine erste Kritik des binswangerschen Verständnisses der Verschrobenheit angezeigt, um den Hintergrund dieses Eindrucks und Umstands erkennen zu können.
Daseinsanalyse der Verschrobenheit, eine erste Kritik Daseinsanalyse bedeutet, wie Binswanger in seinem Überblick bietenden Text Der Mensch in der Psychiatrie von 1957 formuliert, »dem kranken Mitmenschen als Daseinspartner das Verständnis für die Struktur des menschlichen Daseins zu öffnen« (Binswanger 1957/ 1994, 71). Binswanger bestimmt die Position des Psychiaters als Wissenschaftler und Behandler als die Position des Schicksalsgefährten bzw. Daseinspartners, genauer: als die Position des mitleidenden Mitmenschen. Der Psychiater erkennt, dass ihn das Schicksal des Anderen auch betreffen könnte, dass es für ihn auch eine Möglichkeit (»Daseinsmöglichkeit«) darstellt. Psychiatrie ist für Binswanger die Wissenschaft vom Menschen als Ganzem aus der Position des Mitmenschen heraus (ebd., 58). Insofern gilt die Definition: Daseinsanalyse ist die Analyse des Anderen aus der Position des Mitmenschen als Dasein. Es ist jedoch zuzugeben, dass auch Analysen aus der expliziten Position des Mitmenschen ihre Grenzen haben. Für eine wissenschaftliche Psychiatrie gilt insofern die Forderung einer Methodenpluralität und methodenkritischen Haltung, wobei letztere die angewandte Vielfalt der Methoden zum fruchtbaren Diskurs öffnet. Auch Binswanger fordert die methodische Vielfalt, sieht aber die Einstellung des Mitmenschen als favorisierte Einstellung an – man könnte auch von der Königseinstellung aus binswangerscher Sicht sprechen. Jedoch finden sich auch Grenzen in der Daseinsanalyse selbst, wenn wir davon ausgehen, dass die Daseinsanalyse eine Analyse des Anderen aus der Position des Mitmenschen als Dasein ist. Es sind dies vor allem zwei Grenzen: zum einen die Grenze aufgrund des anthropologischen (psychologischen) Missverständnisses der von Heidegger 97 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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in spezifischer Einstellung aufgewiesenen Sorgestruktur des Daseins als In-der-Welt-sein; zum anderen die Grenze hinsichtlich der gemeinen bzw. gewöhnlichen Sicht der Dinge, wie sie in der Gemeinschaft eben nun mal üblich sind. Beide Grenzen hängen miteinander zusammen, wie sich zeigen wird. Beginnen wir mit der zweiten Grenze: Die Aussage, dass jemand untauglich oder quer zum gewöhnlichen Umgang miteinander in seiner Gemeinschaft steht, kann nur aus der Sicht dieser Gemeinschaft getroffen werden. Denn die automatische Wertnehmung der Eigenschaften des Anderen in seinem Verhalten in der gemeinsamen Situation als verschroben, störend, querstehend oder untauglich kann nur erfolgen, wenn die Werte, Regeln und Normen des Umgangs miteinander in dieser Gemeinschaft dermaßen habitualisiert sind, dass sie in den automatisch (prä-reflexiv) erfolgten Wertnehmungen inkludiert sind. Aber aus der Sicht der als verschroben bewerteten Person ist das Verhalten eben gerade nicht verschroben, störend, querstehend oder untauglich. Im Gegenteil, seine Sicht seines Umgangs mit den Anderen zeigt sein Verhalten eher als das einzig mögliche, wie Binswanger selbst beschreibt (vgl. Binswanger 1952/1992, 274 ff.). Er bestimmt geradezu das Verschrobene als das Einzig-Mögliche aus der Sicht des Betreffenden (ebd., 292). Es ist, mit anderen Worten, aus der Sicht des Betreffenden angemessen, wenn auch vielleicht nicht perfekt: »Ich habe mich nicht verstellt, ich hab’ es nicht mit Absicht gemacht, ich mußte doch so sein […] wissen Sie, ich war immer schon anders, ich habe nur versucht, verzweifelt versucht […] zu leben […] etwas zu machen« (Wulff 1995b, 58). Was aber bliebe von der Verschrobenheit, wenn wir von unserer Wertung absehen würden? Die Einklammerung unserer Wertung führt uns allerdings aus der mitmenschlichen Einstellung insofern heraus, als wir unsere eigene Einstellung als Mitmensch dieser Gemeinschaft einklammern müssen, um diese Bewertung nicht ständig zu vollziehen. Wir benötigen also eine artifizielle Einstellung, wenn eine genauere Analyse der Erfahrung der von anderen Menschen als verschroben bewerteten Person erfolgen soll. Wir benötigen hierzu eine Einstellung, in der wir die üblichen gemeinsinnigen Wertungen unserer Gemeinschaft, in der wir beide stehen – der Mensch, der als verschroben bewertet wird, als auch der Mensch, der als verschroben bewertet –, noch nicht vollzogen haben. Eine solche andere Einstellung könnte beispielsweise die Einstellung Heideggers oder die der Phänomenologie, aber auch einer psy98 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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chologisch-hermeneutischen Methode sein. Binswanger steht den beiden erstgenannten Einstellungen am nächsten, wie er auch in seinem Text zur Verschrobenheit wiederholt betont. Dennoch kann das Ziel der daseinsanalytischen Untersuchung für Binswanger nicht die »reine Wesenserfassung« im Sinne Husserls sein, sondern man muss sich, wie Binswanger schreibt, »in daseinsanalytischer Forschung damit begnügen, das Wesen einer faktischen Daseinsweise oder eines bestimmten faktischen Daseinsgangs vom Hintergrund des Daseins oder Inder-Welt-Seins überhaupt in daseinsanalytischem Verstehen phänomenologisch abzuheben und in der Eigenart seiner Grundzüge zu beschreiben« (Binswanger 1952/1992, 301). Diese Form der Analyse orientiert sich explizit an Heideggers Sein und Zeit (1927/1933), denn […] die Ontologie des Daseins [Heideggers in Sein und Zeit] hat eine apriorische Wesensstruktur mit wesenhaften Strukturgliedern (»Existenzialien«) zutage gefördert, die es dem Psychiater erlaubt, die von ihm zu erforschenden und zu beschreibenden Krankheitsformen als faktische Abwandlungen dieser apriorischen Struktur zu erforschen und zu beschreiben (Binswanger 1955/1992, 397).
Dieses anthropologisierende Missverständnis der heideggerschen Beschreibungen durch Binswanger hat, wie bekannt ist, Anlass für Auseinandersetzungen zwischen Heidegger und Binswanger gegeben, wobei Binswanger zwar nach 1959 dieses Missverständnis wiederholt selbst eingestand, aber dennoch im Missverständnis verblieb (vgl. Emrich & Schlimme 2013; Schlimme 2014). Es gilt jedenfalls, dass die mitmenschliche Einstellung nicht durchgehend eingenommen werden kann, wenn gleichzeitig die heideggerschen Beschreibungen der Grundstrukturen des Daseins angemessen als existenziale (oder gar phänomenologische) Begriffe aufgenommen werden sollen, wie es an sich von der Daseinsanalyse in ihrer Orientierung an Heidegger zu fordern wäre. Denn Heidegger nimmt seine Beschreibungen der Grundstruktur des Daseins (»Existenzialien«) in Sein und Zeit seinerseits nach einem expliziten Einstellungswechsel aus der alltäglichen Einstellung des besorgenden Daseins in die Einstellung des seinsverstehenden Subjekts vor. Zwar gilt, dass auch als seinsverstehendes Subjekt im Augenblick der (Existenzial-)Analyse diese Grundstrukturen wie selbstverständlich vollzogen (»besorgt«) werden. Demnach muss es erst den Blick auf diese Strukturen (»Existenzialien«) des eigenen Daseins gewinnen, muss zuallererst der Blick auf dieses Selbstverständliche und im Alltäg99 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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lichen somit Versteckte (»Verborgene«) lenken (Heidegger 1927/ 1993, 35). Dieser reflexiv-artifizielle Einstellungswechsel nimmt demnach gerade das in den Blick, was für den Analysierenden zunächst nicht sichtbar wird, da es bereits alltäglich durch ihn (als Mensch) besorgt ist. Und tatsächlich tritt auch Binswanger unbemerkt aus der mitmenschlich-mitleidenden Einstellung heraus, wenn er in seinen theoretischen Abhandlungen hermeneutische Tiefeninterpretationen des verschrobenen Anderen anfertigt. Wie bereits gezeigt, nimmt Binswanger dabei in seinen drei Texten zu den Formen des missglückten Daseins eine anthropologische bzw. psychologische Einstellung ein, welche er als die des Mitmenschen deklariert. Der sich hierin aussprechende Mangel an methodologischer Absicherung und Reflexion führt zu einer analytischen Unschärfe gerade an dem Punkt, an dem die gemeine bzw. gemeinschaftliche Wertung in die Beschreibung des Anderen hineinspielt. Kurz gesagt: Binswanger ist zwar explizit einsichtig, dass die Beschreibung eines Verhaltens als verschroben eine Bewertung aus der Position des Gemeinsinns heraus darstellt – womit er indirekt auch ihre Kulturabhängigkeit zugesteht –, er thematisiert aber nicht die Frage, inwiefern denn der Gemeinsinn nicht als ein automatisch schon immer vollzogener Akt der Bedeutungsverleihung beschrieben werden kann (bzw. muss). Diese Beschreibung würde Erich Wulffs schlagendem Argument folgen, dass wir üblicherweise in den Akten, in denen wir die sich uns in der Situation präsentierenden Eigenschaften von Objekten und Sachverhalten bewerten und bedeuten, schon immer auch eine »Gültigstempelung« der allgemeinen Bedeutung mit vollzogen haben (Wulff 1995a, 557). Wie Wulff argumentiert, wird gerade diese Gültigstempelung im Falle einer Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) nicht mehr auf automatische Weise im üblichen Umfang vollzogen (ebd.; siehe auch Wulff 1995b, 163 ff.). 2
In seiner eigenen Beschreibung nimmt Wulff im übrigen intensive, wenn auch implizit bleibende Anleihen bei Binswangers Beschreibung der Verschrobenheit, wobei sich dies insbesondere auf Binswangers sehr feinkörnige Beschreibung des Handlungsraums von Menschen mit einer Schizophrenie bezieht. Diese impliziten Anleihen Wulffs werde ich im Verlauf des Textes u. a. in einer weiteren Fußnote erneut deutlich machen. Sie verweisen auf die Nähe daseinsanalytischer und phänomenologischer Beschreibungen, aber auch auf eine mögliche, bisher nicht untersuchte Spur der Wirkung von Binswangers Formen des missglückten Daseins.
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Wulffs zugegeben naheliegendes, aber nichtsdestotrotz geniales Argument verweist darauf, dass eine genauere Analyse des Handlungsraums von Personen mit Psychose-Erfahrung (SchizophrenieDiagnose) aus einer erstpersonalen Perspektive für ein tiefergehendes Verständnis der Verschrobenheit fruchtbar wäre, wenn in dieser erstpersonalen Perspektive zugleich die Wertungen außer Spiel gesetzt werden können, die eben gerade aus gemeinschaftlicher gemeinsinniger Sicht zuvor die Person bzw. genauer: ihr Verhalten als verschroben wertgenommen haben. Eine solche genauere Analyse bietet sich unter Beachtung der vorgetragenen methodologischen Kritik direkt ausgehend von Binswangers wegweisenden (daseinsanalytischen) Beschreibungen des Handlungsraums von Personen mit ›Schizophrenie‹ an.
Verschrobenheit, eine zweite Definition Binswanger beschreibt ausgehend von seiner Ableitung des Begriffsfeldes der Verschrobenheit vom werkstättlichen Charakter unseres Daseins (homo faber) die Verschrobenheit vor allem an klinischen Beispielen mit einem Handlungsbezug. Besonders eindrücklich erscheint das Beispiel eines Patienten, der sich beim Abendbrot zur Kühlung des als heiß empfundenen Kopfes ein Stück Zunge (vermutlich gemeint: eine Aufschnittscheibe einer Rinderzunge) auf die Stirn legt. Wie Binswanger ausführt, zeige sich hier eine eigenartige »Fügung der Verweisungszusammenhänge« im Handlungsraum. Der Patient, so Binswanger, reihe das Stück Zunge in die Bewandtnisganzheit bzw. den Verweisungszusammenhang der »Kühlung des Kopfes« ein, als wäre es ein nasser Lappen, obwohl eine Scheibe Wurst hierfür eben üblicherweise als fernliegend und unpassend angesehen werde (Binswanger 1952/1992, 280 ff., 302). 3 Er formuliert, dass in der »Verschrobenheit (der Horizont) auf eine Welt beschränkt ist, deren Bedeutsamkeit aufgeht im Zuhandenen als querem, schrägem, schiefem ›Zeug‹« (ebd., 319). Binswangers Beschreibung müssen wir freiAn diesem Beispiel zeigt sich auch die Kulturabhängigkeit von Verweisungszusammenhängen, da es eben in bestimmten Kulturen/Subkulturen nicht unüblich ist, beispielsweise ein gefrorenes oder gekühltes Stück Fleisch (Steak o. ä.) zur Kühlung zu nutzen. Hier wäre dann die Verwendung eines Stücks Wurst zur Kühlung der Stirn weniger fernliegend, als Binswanger es in seinem Beispiel aus dem Schweizer Kreuzlingen der 1950er Jahre vorstellt.
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lich nach unserer o. g. Kritik umformulieren, da ja das »Zeug« nicht aus der Sicht des Betreffenden, sondern aus der Sicht der anderen Menschen seiner Gemeinschaft auf als unpassend oder untauglich bewertete Weise verwandt wird. Dies wird sogar in Binswangers Beispiel deutlich, obwohl er, wie im Abschnitt zuvor dargelegt, diesen wichtigen Punkt gewissermaßen »übersieht«. Er überliefert, dass der Betreffende seine Verwendung des »Zeugs« mit dem listig vorgetragenen Hinweis begründet, dass die Zunge seinen heißen Kopf vortrefflich kühle (ebd., 279). Offenbar ist dem Betreffenden also selbst klar und einsichtig, dass sein Verhalten üblicherweise als verschroben angesehen werden könnte, hat es aber dennoch freiwillig ausgeübt. Wir formulieren also um: Verschrobenheit bedeutet in einem Handlungsraum zum Handeln aufgerufen zu sein, in dem die Objekte oder Sachverhalte auf eine solche Weise zum Handeln einladen oder zuhanden sind, dass es aus gemeinsinniger Sicht als eigentümlich oder merkwürdig erscheint, wenn sie tatsächlich auf die sich anbietende Weise verwandt werden. Binswangers Beschreibung der Verschrobenheit als eine »eigentümliche Artikulation der Verweisungsbezüge« (»Eigenart der Fügung«) greift zurück auf Heideggers Begriff der Zuhandenheit. Mit diesem Terminus beschreibt Heidegger, dass wir (habitualisiert) an den Objekten und Sachverhalten direkt Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen (Heidegger 1927/1993, 68 ff.). Die wahrnehmbaren Handlungseigenschaften (action properties) von Objekten in unserer Lebenswelt (z. B. Wurstscheibe, Hammer, Fahrrad) bzw. von Sachverhalten in unserer Lebenswelt (z. B. erhobene und winkende Hand des Gegenübers) reihen sich in einen Bewandtniszusammenhang ein, in dem sie in dieser oder jener spezifischen Art und Weise als Objekte oder Sachverhalte im Interesse des jeweiligen Projekts verwandt werden können. Eine Beschreibung in phänomenologischer Tradition, hierin sowohl Husserl als auch Heidegger folgend, könnte demnach wie folgt vorgenommen werden: Wir entbergen uns, prä-reflexiv und habituell vermittels entsprechend ausgebildeter Erwartungsintentionen (Husserl 1999, § 25), die Objekte und Sachverhalte unserer Situation bzw. unserer Lebenswelt in mehr oder weniger vertrauter Weise, wobei wir sie sofort und schlagartig mit für sie spezifischen, uns an ihnen bereits mehr oder weniger vertrauten Handlungseigenschaften wahrnehmen (vertrauter Handlungsraum, experiential workspace, Talero 2008; neuerdings zum Thema perception und action properties, Nanay 2012). Es ist hier bedeutsam, dass die Hand102 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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lungsoptionen den Dingen im wahrsten Sinne des Wortes »angesehen« werden, d. h. auf der Wahrnehmungsebene (doxische Ebene) gegeben sind und, so sie wahrgenommen werden, den Charakter des Wirklichen und objektiv Gegebenen haben. Allerdings werden die am Objekt bzw. Sachverhalt wahrgenommenen Handlungsoptionen präreflexiv und automatisch entsprechend unserer jeweiligen Projekteinstellung selektiert. Die Verwendung einer Scheibe Wurst zur Kühlung eines als heiß empfundenen Kopfes ist eine Handlungseigenschaft, die man einer Wurstscheibe üblicherweise nicht automatisch ansieht. Hat man sich diese Möglichkeit aber durch Überlegung vor Augen geführt, kann diese Verwendungsmöglichkeit zumindest nicht geleugnet werden (sie ist objektiv vorhanden), auch wenn es einen bei der Vorstellung daran ekeln mag. Die dann (und unüblicherweise) direkt wahrgenommene Handlungseigenschaft der Scheibe Wurst als kühlender nasser Lappen für die eigene heiße Stirn wird also gemeinhin sofort und unbedacht als unpassend, untauglich oder gar ekelig bewertet. Der Patient hingegen nimmt nicht nur diese Handlungseigenschaft an der Scheibe Zunge wahr, sondern wertet sie auch weder als unpassend und untauglich, noch als dermaßen ekelig, dass er ihren Einsatz als kühlenden Lappen auf der Stirn nicht ausführen würde. Im Gegenteil, wir müssen annehmen, dass ihm diese Verwendung als eine »vorzügliche«, also gut begründete Lösung für den Ruf nach einer Kühlung seiner als heiß empfundenen (wahr- und wertgenommenen) Stirn erscheint. Üblicherweise eröffnen wir uns also unsere Lebenswelt als einen (mehr oder weniger) vertrauten Handlungsraum, in dem wir uns als Agent erfahren, sowohl vorauserwartend angesichts gewohnter Handlungswege als auch fortlaufend in der Erfüllung dieser präreflexiven Erwartungsintentionen. Wir sind in ihm schon immer zum Handeln aufgerufen und haben in ihm schon immer gehandelt, auch wenn wir gerade innehalten, um die Situation zu ordnen und Übersicht zu gewinnen. Die fehlende gemeinsinnige Fügung der Verweisungsbezüge, welche auch mit Bleuler und Kraepelin als das Fehlen einer »inneren Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit im Seelenleben« bezeichnet werden kann (Binswanger 1952/1992, 294), lässt sich also genauer als die Wahrnehmung sonst unüblicher und (gemeinhin) merkwürdig scheinender (als merkwürdig wertgenommener) Handlungseigenschaften an den Objekten und Sachverhalten im eigenen Handlungsraum beschreiben. Wenn diese Beschreibung zutrifft, so stellt sich die Frage, ob diese besondere (merkwürdige) Handlungs103 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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eigenschaft nun zusätzlich zu den sonst üblichen Handlungseigenschaften hinzutritt, und nur als die richtige oder naheliegende bewertet wird, oder aber ob sie die einzig verbliebene Handlungseigenschaft darstellt, welche überhaupt wahrgenommen wird?
Verschrobenheit, eine dritte Definition Auch Binswanger fragt in seiner Analyse nach, wieso den Betreffenden die verschrobene Handlung als die einzig mögliche erscheint. Er zielt dabei auf ein mitmenschliches (daseinsanalytisches) Verständnis des Umstands, dass derjenige diese Möglichkeit wählt, womit er zugleich sagt, dass der Betreffende auch noch andere Handlungsoptionen bemerkt haben muss. Dennoch ist die Voraussetzung für die Wahl einer derart ungewöhnlichen (verschrobenen) Handlung, dass überhaupt mehr (und andere) Handlungsmöglichkeiten an den Gegenständen oder Sachverhalten wahrgenommen werden, gemeinhin üblich. Genau diese Aufweitung und Aufladung der Gegenstände mit Zuhandenheiten wird von Menschen mit einer Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) berichtet, insbesondere in akuteren Phasen ihrer Erkrankung. Ihr Handlungsraum macht sie ratlos, ist irritierend und beirrend. Von solchen Erfahrungen berichtet auch Herr A. 4 , der seit 20 Jahren wiederkehrende Psychose-Erfahrungen ohne vollständige Genesung hat. Er ist ein begeisterter Heimwerker und baut in seiner Freizeit üblicherweise an einem Holzprojekt in einer eigens für ihn eingerichteten kleinen Werkstatt in seiner betreuten Wohngemeinschaft. Einige von ihm fertiggestellte Möbelstücke bevölkern die Wohngemeinschaft. In der Zeit der urlaubsbedingten Abwesenheit seines Wohnbetreuers, oftmals verbunden mit einer Zunahme der psychopathologischen Symptomatik, erschien ihm sein Handlungsraum wiederholt irritierend und beirrend. War im Rückblick viel mit den Holzprojekten […] musste schon viel sägen […] eigentlich wollte er (sein Wohnbetreuer) zuerst die Kammer fertig haAlle Personen, die im Folgenden zitiert werden, haben ihre informierte Einwilligung in die Zitierung der Narrative aus Therapiesitzungen und Daten zu ihrer Erkrankung in wissenschaftlichen Veröffentlichungen erteilt. Die Daten zu ihrer Krankheit und Person sind darüberhinaus so verändert, dass eine Identifizierung unmöglich ist.
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ben (getroffene Vereinbarung vor seiner Abreise war das Fertigstellen des Regals in seinem Zimmer), Regalbretter, aber ich habe mich an die Bank gemacht, und habe dann einen Schrank angefangen, den habe ich dann zum Bett umgebaut, und dann fehlte die Zeit und das Material. Ich fühl mich immer unter Zeitdruck […] wird dann irgendwann unübersichtlich […]. Am Sonnabend stand ich vor der Bank (die Küchenbank, die er begonnen hatte) und wusste nicht mehr, was ich tun soll […] ich wusste gar nicht, wo ich anfangen soll und ob das gut oder schlecht ist. Ich wusste, was ich machen wollte, aber irgendwas hat »Nee« gesagt.
Herr A. verglich diese Situation mit einer Blockade, die er umging, indem er etwas anderes versuchte. Er begann mit dem Schrank, verzettelte sich aber auch hier, wie die vertretende Wohnbetreuerin berichtete, und vernachlässigte andere alltägliche Aufgaben. Eine andere Patientin Frau O. mit weitreichender Remission ihrer PsychoseErfahrung, aber sehr manieriertem Ausdrucksverhalten, berichtet von aufkommender »Gedankenunordnung« unter Stress und Schlafmangel: »Dann achte ich auf jede Kleinigkeit, kann mich nicht auf das konzentrieren, was eigentlich anliegt, kann das Unwichtige nicht mehr rausfiltern.« Sie wertet diese Wahrnehmung einer beirrenden Fülle an Eigenschaften in ihrem Handlungsraum als Frühwarnzeichen, sucht dann vermehrt Erholung, Pausen oder auch Schlaf. In der akuten Psychose klagte sie wiederholt: »Dies ist ein Martyrium der Schlüsselreize.« Diese Wolke von Zuhandenheiten, von Bedeutungs- und Handlungsoptionen, welche die Objekte und Sachverhalte in den akuten Phasen einer schizophrenen Erkrankung aufweisen, wird von den Betreffenden häufig auch als eine Gedankenfülle erfahren. Sie wird sehr eindrücklich von Klaus Conrad als »Wolke der Wesenseigenschaften« beschrieben (Conrad 1971, 65 f.). Rückblickend auf unsere Beschreibungen zum Handlungsraum können wir festhalten, dass ganz offenbar die projekt- bzw. einstellungsgemäße Habitualität nicht mehr ausreichend impliziert, dass wir uns unsere Lebenswelt schon immer als einen (mehr oder weniger) gewohnten (intentional strukturierten) Erfahrungs- und Handlungsraum dergestalt eröffnen, dass sich uns die Sachverhalte und Objekte nur aus einer bestimmten (projektbzw. einstellungsgemäßen) Sicht präsentieren. Im Falle eines akuten schizophrenen Schubes vollziehen sich die passiven Synthesen nicht mehr derart automatisch, wie es zur projektgemäßen Eröffnung des Handlungsraums erforderlich wäre. Konsequenterweise präsentieren sich Sachverhalte und Objekte in einer Fülle an Handlungs- und Be105 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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deutungsmöglichkeiten. (Vgl. Wiggins & Schwartz 2012; Schlimme & Schwartz 2013; Schlimme et al. 2013) 5 Der Betreffende verliert in diesem irritierenden und beirrenden Handlungsraum die Übersicht, muss reflexiv die Dinge und Umstände ordnen, ist überfordert und ratlos, »wusste nicht mehr, was ich tun soll […] ich wusste gar nicht, wo ich anfangen soll und ob das gut oder schlecht ist.« Denn erst die automatisch sich vollziehende Eröffnung des Handlungsraums in einer dem gewählten Projekt gemäßen Weise erlaubt die weitgehend automatische Durchführung des Projekts, und damit wiederum die intentionale Gerichtetheit auf etwas, das über den aktuellen Handlungsschritt hinausgeht bzw. hinausweist – beispielsweise auf das Ziel des Projekts oder den Kontext, in dem es steht oder vollzogen wird. Auch Binswanger beschreibt diesen »Mangel an Umsicht«, welcher mit der Notwendigkeit der ständigen Überlegung angesichts dem »Sich-nicht-Fügen« der Zuhandenheiten korreliert (Binswanger 1952/1992, 303). Es wäre jedoch unzutreffend, wenn wir die Verschrobenheit im Sinne Binswangers nur oder gar vorwiegend auf solche akuten Krankheitsphasen beziehen würden. Im Gegenteil versteht Binswanger die Verschrobenheit als den ausgeübten, und damit fraglich auch eingeübten Weg des Betreffenden im Umgang mit seinem beirrenden Handlungsraum. Die Verschrobenheit kann also durchaus eine neu entwickelte und eingeübte Habitualität meinen, wie bereits Binswanger überliefert, wenn er es auch nicht in diesem Sinne tatsächlich deutet. So berichtet er, dass der Patient, der sich die heiße Stirn mit der Scheibe Zunge kühlte, dies beim Abendessen gewohnheitsmäßig mache (Binswanger 1952/1992, 314). Den tatsächlichen (d. h. erfahrungsmäßigen) Hintergrund für diese Gewohnheit überliefert Binswanger nicht, aber wir müssen annehmen, dass der Betreffende dieses Verhalten auch als eine angemessene Neustrukturierung seines sonst als beirrend erfahrenen Handlungsraums »Abendessen« entwickelt hat. Es ist dem Betreffenden ja offenbar durchaus bekannt, dass dieses Verhalten im Schweizer Kreuzlingen der 1950er Jahre schräg ist. Insofern nutzt er die Rolle des merkwürdigen Exzentrikers ebenso, wie er sich gezwungenermaßen exzentrisch (verschroben) verhält. Er be5 Wulff argumentiert auf vergleichbare Weise in seiner Wahnsinnslogik, wo er in der Teestunde mit einem Patienten dessen ratlos-investigatives Verhalten als Reaktion auf die Aufladung des Objekts mit Bedeutungen beschreibt (Wulff 1995b, 85 ff.). Wulff spricht in diesem Zusammenhang vom »Verlust der Belanglosigkeit« (ebd., 90).
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wahrt eine gewisse, wenn auch vermutlich geringe Rollendistanz. Auch Binswanger zieht diesen Schluss für den verschrobenen Menschen. So betont er, dass der »verschrobene Mensch« am gewöhnlichen Leben durchaus teilnimmt, »lebt auch in der Gemeinschaft des Wohnens, des Essens, des Verkehrs auf der Straße, der Beschäftigung, des Verhältnisses von Patient und Arzt usw.« (ebd., 298). Kommen wir derart präpariert auf die Frage zurück, warum der Betreffende dieses Verhalten wählt bzw. warum es ihm als das einzig Mögliche erscheint. Binswangers Antwort ist, dass das »Worumwillen des Daseins« des Betreffenden die Einhaltung eines gewählten Prinzips bzw. das Sich-Binden an starre Regeln sei. 6 Durch diese »Prinzipienreiterei« falle die gesamte Lebensführung verschroben aus, derjenige verliere hierdurch die notwendige Flexibilität im Leben (ebd., 297). Binswanger interpretiert die Verschrobenheit also nicht als Folge und Bewältigung des Umgangs mit dem beirrenden Handlungsraum, sondern primär als Ausdruck der »Prinzipienreiterei«. Die Vorliebe für philosophische oder religiöse Themen, die bei Menschen mit Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) oft anzutreffen ist, mag diesen Eindruck vermitteln, dass hier insbesondere ein kognitives Problem vorliegt. Jedoch ist diese Ansicht nicht überzeugend, da die Frage unbeantwortet bleibt, wie es dazu kommt, dass derjenige eine solche eigentümliche Form der Beschäftigung mit diesen großen Themen betreibt und wählt? Ist dies nicht gerade deshalb sinnausweisend und, in Grenzen, auch notwendig, da eben die unmittelbare Anschauung der eigenen Lebenswelt und des eigenen Handlungsraums für den Betreffenden in Folge ihrer ungewöhnlichen Veränderung solche Fragen aufwirft und damit zugleich Binswanger versteht unter dem heideggerschen Terminus »Worumwillen des Daseins« so etwas wie den Lebenszweck, den derjenige in seinem Leben durch die Führung seines Lebens besorgt: »Auf alle Fälle aber ist das Wesen, sei es einer Daseinsweise, sei es eines Daseinsganges, in seiner Eigenart erst verstanden, wenn diese Eigenart sowohl hinsichtlich der Weltlichkeit der jeweiligen Welt – der Struktur des Um-zu der Verweisung, Bewandtnis oder Bedeutsamkeit also – als hinsichtlich dessen, worumwillen es dem Daseins jeweils in seinem Seinkönnen geht, verstanden ist« (Binswanger 1952/1992, 301). Binswanger beschreibt das Worumwillen in der Verschrobenheit wie folgt: »Verschrobenheit erweist sich somit als die im Wesen des menschlichen Daseins liegende Möglichkeit, umwillen seiner Einzigkeit und Einzelheit sowohl hinsichtlich der ›Sache‹ als hinsichtlich der Gemeinschaft an eine Grenze oder ein Ende zu gelangen, über das hinaus weder die Sache weiter verfolgt (getrieben, gedreht, geschraubt), noch die Gemeinschaft behütet oder gepflegt werden kann« (ebd., 292).
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ein noch schwierigeres Fundament für die Beantwortung solcher Fragen darstellt, als es bei normalen Personen ohnehin schon der Fall ist?
Verschrobenheit, ein erster Ertrag Nehmen wir die vorgeführte Beschreibung des Handlungsraums ernst, und erkennen wir weiterhin an, dass Personen mit einer Psychose-Erfahrung üblicherweise außergewöhnliche Erfahrungen machen (Stichworte: Fehlwahrnehmungen, überwertige Ideen oder gar wahnhafte Überzeugungen mit oder ohne doppelte Orientierung zur Realität, Ich-Störungen, erschwerter Ausdruck des eigenen Befindens sowie erschwerte Einfühlung in den Anderen mit einer verringerten Resonanz zwischen Personen mit und ohne Psychose-Erfahrung), welche mehr oder weniger ausgeprägt und anhaltend, in jedem Fall aber irritierend und übliche, gemeinsinnige Bedeutungen, Interpretationen und Handlungsmöglichkeiten herausfordernd bzw. überfordernd sind, so bietet sich eine andere Interpretation dieser halb gewählten und halb erzwungenen Merkwürdigkeiten und Eigensinnigkeiten in Verhalten und Lebensführung der Betreffenden an. Es scheint vielmehr ein Sich-an-etwas-mühsam-festhalten bzw. Sichmühsam-seinen-Weg-bahnen zu sein, welches derjenige im Angesicht seines ihn zum Handeln aufrufenden, irritierend-beirrenden Handlungsraums leistet. Dieser Handlungsraum ist unübersichtlich und herausfordernd: zum einen, da die Objekte und Sachverhalte eine Fülle von Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten aufweisen, welche die Ausführung auch der einfachsten alltäglichen Projekte erschweren kann; zum anderen, da die Anerkennung der üblicherweise projekt-, rollen- oder gemeinschaftsangemessenen Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten nicht immer und einfach schon automatisch erfolgt ist (Stichwort: Gültigstempelung), welches insbesondere im Umgang mit Anderen (auch angesichts der verringerten Resonanz zwischen Personen mit und ohne Psychose-Erfahrung) herausfordernd ist; darüber hinaus sind die üblichen Bedeutungen auch nicht immer ausreichend, um die Erfahrungen verständlich und handhabbar zu machen. Hierzu Frau F., die seit fast 30 Jahren eine medikamentös unbehandelte, anhaltende Psychose-Erfahrung hat:
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Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit
Was ist wahr – was ist nicht wahr – was ist wirklich? Wissen Sie, wenn Sie ihre eigenen Eltern sehen, mit denen sie sich unterhalten [vor Erkrankungsbeginn verstorben, J. S.] – soll man das glauben? […] Wenn man sich dran gewöhnt, dann ist das einfach so.
Dies muss nicht bedeuten, dass diese mühsam entwickelte, idionomische Habitualität der eigenen Existenz einen appetitlichen Geschmack verleiht. Aber es bedeutet zumindest, die beirrende Qualität des Handlungsraums insoweit hinter sich zu lassen, dass alltägliche Normalitäten in einer Gemeinschaft weitgehend möglich sind. Frau F: Manchmal merke ich das gar nicht, dass ich laut spreche. Ich bin einfach so beschäftigt, mit den Stimmen, und spreche – und dann weiß ich nicht: War das jetzt laut, habe ich jetzt laut gesprochen oder nicht? Das ist dann peinlich […] Eigentlich ist es ja egal, ich habe ja andere Probleme. […] Wenn früher die Leute am Telefon gesprochen haben, dann habe ich hingeguckt: Redet der jetzt mit sich selbst? […] Ich stecke mir die Dinger ins Ohr, dann fällt das nicht so auf. Ist nicht so peinlich. Ich weiß ja nicht immer, ob ich laut rede oder nicht. Manchmal bricht das so aus mir raus.
Sicherlich, es wirkt verschroben, wenn eine Person ständig mit einem Headset herumläuft, ohne erkennbar zu telefonieren und nur gelegentlich verbal aus sich herausbricht. Dennoch, es macht die Situation handhabbar und stellt einen gewissen Schutz dar, eine soziale Rollenbemäntelung, auf welche Frau F. in vielen Situationen außer Haus nicht verzichten will. Wir können also einen ersten Ertrag formulieren: Verschrobenheit kann positiv formuliert eine eingeübte idionomische Habitualität darstellen oder bezeichnen, welche es der betreffenden Person mit einer Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) erlaubt, auf eine eigenständige (gemeinhin als verschroben, merkwürdig oder ungewöhnlich bewertete) Art und Weise, mit dem irritierenden und beirrenden Handlungsraum so umzugehen, dass sie ihr Leben unter den gegebenen Umständen zu führen vermag. 7 Diejenige gewinnt und
7 Der Begriff Verschrobenheit ist eindeutig negativ besetzt und kann nicht in neutraler Weise genutzt werden. Thomas Bock hat deshalb in seinem einflussreichen und wichtigen Buch Lichtjahre den Begriff der Eigensinnigkeit eingeführt und geprägt (Bock 1997). Der Terminus der idionomischen Habitualität ist m. E. insofern günstiger, da er einerseits den Aspekt der Habitualisierung betont, und andererseits international einsetzbar ist, da er als idionomic habituality wiedererkennbar ins Englische transferiert werden kann (Schlimme & Voss 2014; Schlimme et al. 2015). Der Begriff idionomisch geht dabei auf die einflussreichen und wichtigen Arbeiten von Giovanni
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behält also eine gewisse Einstellung gegenüber ihrem Handlungsraum und Leben, auch wenn diese vielleicht keine Distanzierung in dem Umfang meint, wie sie sonst in der Gemeinschaft üblich ist. Sie behält eben doch einen gewissen »Mangel an Umsicht« (ebd., 303), wie auch Binswanger bemerkt und wie es zum klassischen psychiatrischen Kenntniskanon über die Störungen gehört, die als Schizophrenien bezeichnet werden.
Verschrobenheit, ein zweiter Ertrag Der erste Ertrag der Kritik an Binswangers Daseinsanalyse der Verschrobenheit folgt also dem Argument, dass der Betreffende selbst sein Verhalten gar nicht unbedacht als verschroben oder untauglich bewertet, sondern eben als angemessen und richtig (allenfalls noch als eigensinnig, da ihm die gemeinsinnige Ungewöhnlichkeit seines Verhaltens durchaus einsichtig sein kann) im Angesicht der Umstände, die ihm seine Lebenswelt und sein Handlungsraum anbieten. Insofern übt er sein eigenwilliges Verhalten ein und entwickelt als Umgang mit seinem verändert eröffneten Handlungsraum eine idionomische Habitualität. Dieser Begriff beschreibt zum einen, dass derjenige prä-reflexiv seinen Handlungsraum auf veränderte Weise eröffnet (sei er nun durch Fehlwahrnehmungen ergänzt, durch ungewöhnliche Bedeutungen aufgeladen oder durch wahnhafte Überzeugungen außergewöhnlich interpretiert), als auch eine Einstellung zu ihm gewinnt und eingeübt hat, die ihm erlaubt, sich in diesem anderweitig beirrenden Handlungsraum mehr oder weniger brauchbar zu verhalten. Der zweite Ertrag ergibt sich, wenn wir die formulierte Kritik auf Binswangers Überlegungen zur Rolle und Rollendistanz in einen Zusammenhang mit dem Handlungsraum setzen. Dieser Zusammenhang ist für uns klarer zu erkennen als für Binswanger, da die Verschrobenheit im Sinne des ersten Ertrags nochmals besser verstanden werden konnte, als Binswanger dies selbst anbietet. Erneut geht es also um eine Hochinterpretation des binswangerschen Verständnisses, welches freilich einige Korrekturen miteinschließt. Es zeigte sich bereits, dass Binswanger nicht ausreichend über den als Gegensatz Stanghellini zurück, der den Terminus der idionomia geprägt hat (Stanghellini 2005; Stanghellini & Ballerini 2007).
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Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit
deklarierten Unterschied von Eigensinn und Gemeinsinn hinsichtlich des zwischenmenschlichen Miteinanders hinauskommt. Dies wird nochmals deutlich, wenn wir das folgende Zitat in den Blick nehmen: In der Tat untergräbt das Dasein durch dieses zum Prinzip, zur »Lebensmaxime«, gemachte Umwillen den Grund, auf dem es ist. Es übernimmt ihn gerade nicht als den seinen […] und schneidet sich damit in einem wesentlichen Seinsmodus, dem des Mitseins, von ihm ab. Während das menschliche Dasein nur »glücken« kann im freien Widerspiel von Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe, von Eigen-Sinn und Hingabe an den GemeinSinn, klammert sich das Dasein hier [in der Verschrobenheit, J. S.] an seine Einzelheit [den Eigensinn, J. S.] (Binswanger 1952/1992, 298 f.).
So sehr Binswanger zuzustimmen ist, dass das Wechselspiel von Eigensinn und Gemeinsinn die notwendige Basis für ein umfassend verantwortliches Verhalten bzw. eine verantwortliche Lebensführung darstellt, so sehr ist es andererseits unzutreffend, das Mitsein als abgeschnitten im Leben von Personen mit Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) zu deklarieren. Genauer betrachtet tut Binswanger dies selbst nicht, wenn er beispielsweise den »verschrobenen Menschen« eine Teilhabe am Gemeinsamen attestiert (ebd., 297 ff.). Jedoch greift er diese Punkte in seinen daseinsanalytischen Ausführungen zur Verschrobenheit nur unzureichend auf. In seinem drei Jahre später verfertigten Teil Manieriertheit geht Binswanger hingegen ausführlich auf einige Überlegungen zum Rollenverständnis und zur Rollendistanz bei Personen mit ›Schizophrenie‹ ein (vgl. v. a. Binswanger 1955/1992, 396 ff.). Mit diesen Ausführungen bietet er einen Ansatz, um das Ringen mit dem anderen Menschen und dem gemeinschaftlichen Mitsein bei Personen mit Psychose-Erfahrung besser zu beschreiben. Er argumentiert, dass der Mensch auch im Alltag seine soziale Rolle in der Manieriertheit besorgt: »Der ›Mensch‹ steht hier dauernd in der Überlegung; er darf keinen Augenblick die Rolle vergessen, die er ›aus Überlegung‹ zu spielen hat und die er dazu, aus Angst vor der Entdeckung, übertreibt« (ebd., 403). Dieses Argument kann, wobei wir Binswanger hier ein wenig zwingen müssen, auch so gedeutet werden, dass der Betreffende auf den Effekt hinarbeitet, eine bestimmte Rolle im öffentlichen Miteinander zu spielen, beispielsweise die Rolle des gewöhnlichen Straßenbenutzers, U-Bahnfahrers, im Café sitzenden Teetrinkers, etc. Die Übertreibung ergibt sich dann nicht primär, und hier wäre Binswanger eben anderer Ansicht, aus der Angst vor Entdeckung. Sicherlich ist diese Angst nicht unbedeutend. Aber primär 111 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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ergibt sich die Übertreibung und Unbeholfenheit aus dem Umstand, dass der Betreffende diese an sich automatisch zu spielenden Rollen nicht einfach »kann«. Es gilt für ihn Aspekte des Handlungsraums zu integrieren oder durch Überlegung aufzuholen, die sowohl das automatische und unbedachte »Spielen« der Rolle verhindern, als auch das absichtlich-aktive Spielen der Rolle erschweren und schräg werden lassen. Von solchen Erfahrungen berichtet beispielsweise Herr M., der seit vielen Jahren Psychose-Erfahrungen hat. Er lässt immer mal wieder phasenhaft seine Medikamente weg, die ihm sonst weitgehende Symptomfreiheit erlauben. Er berichtet, dass insbesondere soziale Aktivitäten in diesen kurzen, von ihm selbst durch Wiederaufnahme der Medikation dann wieder terminierten Phasen, erschwert sind: Habe viel nicht mehr gemacht, es tauchten Ängste auf, in der Bahn war es stressiger, die schauen mich alle an, tuscheln über mich – ich bin im letzten Jahr nur mit dem Bus gefahren, aber in der U-Bahn geht es gar nicht […]. Nach Außen will man okay wirken, aber wie es im Endeffekt ist, weiß man ja nicht. Zwischen die Leute setzen geht nicht, das kann ich nicht […]. Vielleicht sehen die mir was an – ich weiß nicht, die Leute glauben vielleicht, dass ich drogenabhängig bin – ich möchte das vermeiden, aber man kann es ja nicht vermeiden. Die Leute denken ja eh, was sie wollen […]. Ich kann mir zwar denken, was die denken. Also, wenn mich einer komisch anguckt, dann glaube ich zu vernehmen, wie die über mich denken. Es fühlt sich so an, als wenn man irgendwelche Information kriegt […] dass ich halt denke, die Leute denken dies und das, und ich bin dann der, der doof daneben steht und die Luft anhält und Panik kriegt wegen gar nichts […]. Wenn ich die angucke, also ein kurzer Blick reicht – aber auch wenn ich rausgucken würde, hätte ich trotzdem den Druck der ganzen Bahn hinter mir […]. Wenn die Bahn losfährt, wenn ich die Leute dann angucke, wenn die mich angucken, irgendwo muss man ja hingucken […]. Wenn ich XY nehme, bin ich stabiler, dann sind die Ängste nicht so da, diese Gedanken, dass die mich komisch angucken.
Herr M. kann für die Art und Weise, wie er sich prä-reflexiv seinen Handlungsraum präsentiert – und dies inkludiert insbesondere auch die Art und Weise, wie er sich die anderen Menschen eröffnet, die in diesem Handlungsraum vorkommen – keine Verantwortung übernehmen. Andere Personen verkomplizieren den Handlungsraum dabei zusätzlich, da sie ihrerseits selbständig handelnde und von daher schwer ausrechenbare, für ihn vor allem zumeist nicht gut einfühlbare Wesen sind. Sie sind die Quelle der Irritation und Beirrung bei den U-Bahnfahrten und machen es für Herrn M. fast unmöglich, die 112 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Rolle eines normalen U-Bahnfahrers zu spielen. Seine Unbeholfenheit wird direkt sichtbar, so dass er U-Bahn fährt, als wäre es sein erstes Mal. Ähnlich berichtet Wulff von seinem Patienten R. aus der Teestunde, dass dieser kaum die Rolle des Teetrinkers zu verkörpern vermag, da er alles reflexiv erfassen und ordnen muss (Wulff 1995b, 85 ff.). Personen mit Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) können auch trotz eingeübter idionomischer Habitualität oftmals die gemeinhin geforderte Rolle nicht umfassend automatisch verkörpern, was an sich im Alltag die übliche Art und Weise ist, um sich im Handlungsraum zu verhalten. Diese Automatik erlaubt es auch, eine gewisse Distanz zum Handlungsraum aufzubauen, beispielsweise um sich umsichtig zum Thema U-Bahnfahren zu verhalten. Zwar kann Herr M. die Rolle noch spielen und Haltungen in der U-Bahn einnehmen, die unauffällig wirken und so die Entdeckung, wie Binswanger sagt, vermeiden. Aber er kann die Rolle nicht mehr so spielen wie ein professioneller Schauspieler, da er sich nicht ausreichend von seiner eigentlichen Rolle des beobachteten und irritierten Menschen distanzieren kann. Diese andere Rolle ist ihm von seiner Lebenswelt bzw. seinem Handlungsraum unabweisbar angetragen. So spielt er die Rolle des U-Bahnfahrers wie ein Laienschauspieler, der zum ersten Mal einen U-Bahnfahrer spielt, oder wie ein Besucher der großen Stadt, der vom Land kommt und sich bemüht, den Großstädter zu spielen. Die verringerte Distanz zum Handlungsraum geht außerdem mit einem Verlust an Übersicht und Einbettung in weiter ausgreifende Kontexte einher. Gelingt eine solche Handlungsraumdistanz noch, kann das Ausagieren des Anrufs üblicherweise vermieden werden. Im Falle von Herrn M. gelingt es gerade noch, nicht nur der beobachtete Mitfahrer in der U-Bahn zu sein, der sich sonst beispielsweise mit einem Ausruf an die anderen Mitfahrer »Nicht so zu gucken!« zur Wehr setzen würde. Weitaus mehr Distanz weist jedoch Frau F. mit ihrer mittlerweile habitualisierten Nutzung des Headsets auf, denn sie distanziert sich von ihrer Rolle des Stimmen-hörens und Gesichter-habens soweit, dass sie aktiv eine Bemäntelung dieses Aspekts ihres Handlungsraums für alle anderen anwesenden Personen vornimmt. Wir können also einen zweiten Ertrag formulieren: Verschrobenheit beschreibt auch einen Verlust der Freiheit der Einstellung gegenüber dem eigenen Handlungsraum. Dieser ist zugegebenermaßen häufig irritierend und beirrend und kann eben gerade nicht auto113 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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matisch gehandelt werden. Der damit einhergehende Verlust an Handlungsraumdistanz und Übersicht impliziert zugleich, dass die vom Betreffenden anvisierte Rolle wie ein Projekt besorgt werden muss, aber aufgrund der Struktur des Handlungsraums meist nicht perfekt vorgespielt werden kann (womit nicht gesagt ist, dass die Rolle nicht gelingt, aber sie weist meist eben nicht die gemeinschaftsübliche Anmut auf). Das Einüben einer idionomischen Habitualität erlaubt dabei zwar wieder eine größere Distanz zum Handlungsraum, da viele Aspekte der in dem Raum geforderten Verhaltensweisen (der »Rolle«) wieder automatisch ausgeführt werden können. Dies ermöglicht auch eine bessere Einbettung in umfassendere Kontexte, mehr Übersicht und damit auch die Adoption von grundlegend anderen Einstellungen (beispielsweise sogar die, dass es sich wohl aus medizinischer Sicht um eine Erkrankung handeln könne, auch wenn diese Sicht ebenfalls nur einen Teil der Erfahrung abdeckt).
Diskussion Binswangers Beschreibungen zur Verschrobenheit bieten fruchtbare Ansätze für eine feinkörnige phänomenologische Beschreibung des Handlungsraums bei Personen mit Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose). Sie bieten außerdem wertvolle Erträge für eine phänomenologisch informierte Psychiatrie bzw. Behandlung von Personen mit Psychose-Erfahrung. Der Handlungsraum von Personen mit Psychose-Erfahrung eröffnet sich ihnen vielfach nicht mit einer gemeinhin gewohnten Selbstverständlichkeit, womit er sowohl als wenig verständlich in Hinsicht der Handlungsaufforderungen und Handlungsziele, als auch als herausfordernd hinsichtlich des tatsächlichen Handelns in ihm erfahren wird. Eine Person mit Psychose-Erfahrung macht dabei die Erfahrung, dass bestimmte und ungewöhnliche (anderen bzw. umstehenden Personen unbekannte, da nicht wahrgenommene) Zusammenhänge verständlich werden müssen (z. B. Fehlwahrnehmungen, veränderte Wertnehmungen bis zur Apophänie bzw. Aufgeladenheit mit Bedeutungen, Wahnwahrnehmungen, Ich-Störungen, reflexiv angewandte wahnhafte Überzeugungen), um angemessen zielorientiert handeln zu können. Dabei gilt zudem, dass zuweilen übliche Verweisungszusammenhänge bzw. Handlungsmöglichkeiten aktiv rekonstruiert bzw. versichert werden müssen. Vor dem Hintergrund dieser phänomenologischen Beschrei114 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Zu Binswangers Terminus der Verschrobenheit
bung des Handlungsraums formulierte der erste Ertrag, dass das Einüben einer idionomischen Habitualität die Verständlichkeit und Handlungsfähigkeit in einem solcherart abgewandelten Handlungsraum verbessert, so dass derjenige auch wieder mehr Umsicht gewinnt. Der zweite Ertrag beschrieb jedoch, dass der unübersichtliche und beirrend-irritierende Handlungsraum die Umsicht, Kontextualisierung und letztlich auch Freiheit der Einstellung gegenüber diesem Handlungsraum einschränkt. Diese beiden Erträge scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass sie vielmehr die zwei Pole des Zusammenhangs von idionomischer Habitualität und Freiheit der Einstellung zum Handlungsraum formulieren. Der veränderte Handlungsraum muss den Betreffenden also keineswegs auf die Rolle des ratlos-verirrten, sich unbeholfen durch die Situation tastenden Menschen festlegen, der die sonst übliche Rolle weder automatisch verkörpern noch vorspielen kann. Er kann auch eine derart gestaltete Einstellung zu ihm gewinnen, dass er seine »Daseinsform […] als eine auf künstlich-technischem Wege bewerkstelligte« (Binswanger 1955/1992, 401) gewinnen kann (was, wie Binswanger annimmt, dann üblicherweise eine manierierte Daseinsform wäre, wobei gegen Binswangers Annahme zuzugeben ist, dass sich Personen mit Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose) auch vollkommen unauffällig im öffentlichen Raum bewegen können). Das Ausmaß der möglichen Distanz zum Handlungsraum ist bei Personen mit Psychose-Erfahrung sehr unterschiedlich und hängt nicht zuletzt auch vom Ausmaß der anhaltenden Abwandlungen des Handlungsraums ab. Jedoch wird die Distanz zum Handlungsraum nicht schlicht durch das Ausmaß oder die Intensität der psychopathologischen Abwandlungen determiniert. So finden manche Personen mit Psychose-Erfahrung eine doppelte Orientierung zur Realität, obwohl sie einen erheblich veränderten (durch Fehlwahrnehmungen ergänzten und durch wahnhafte Überzeugungen umbewerteten und uminterpretierten) Handlungsraum parallel zum bzw. über den gemeinschaftlich geteilten Handlungsraum »überschiebend« (d. h. als überdeckend und zugleich als unterschiedlich) erfahren. Bedeutsam scheint also vielmehr, dass derjenige eine idionomische Habitualität entwickelt (hat), welche ihm seine Erfahrungen weitgehend verständlich und seine (angepassten) Handlungsziele weitgehend erreichbar macht. Eine Distanz zum eigenen Handlungsraum ist ja meist auch des115 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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halb notwendig, da in unserem Handlungsraum andere Personen vorkommen, die sich wiederum für sich selbst in einem eigenen (ihrem) Handlungsraum befinden, in dem sie für sich entscheiden und von sich her handeln. Für sich die Situation zu bewerten, für sich zu entscheiden und von sich aus zu handeln, sind in Anspruch genommene Güter eines selbstbestimmten Agenten (sog. goods of agency, John J. Drummond). Da wir den Handlungsraum des Anderen immer mitprägen, auch da die Anderen von unseren Handlungen betroffen sind, und wir oftmals im Interesse bestimmter Ziele sogar gemeinsam handeln (müssen), erweist sich immer erst im tatsächlich vollzogenen eigenen Handeln, ob die goods of agency auch tatsächlich für die Anderen anerkannt wurden bzw. werden, oder ob man sie nur für sich in Anspruch nimmt bzw. genommen hat. Dabei ist es naheliegend, dass die Anerkennung dieser Güter eines selbstbestimmten Agenten umso leichter fällt, entweder a) desto tugendhafter das eigene Verhalten ist (wobei die Frage aufkommt, ob habitualisierte Tugendhaftigkeit dies tatsächlich immer anbieten kann) oder b) desto besser die Perspektiven, Bedürfnisse und Absichten der Anderen auf reflexivem Wege beachtet wurden (wobei zuzugeben ist, dass absichtliche Verletzungen dieser Güter möglich sind). Es soll an dieser Stelle keine genauere Diskussion dieser Fragen hinsichtlich ihrer Zusammenhänge zur Psychopathologie erfolgen (vgl. Schlimme 2012; 2013; Schlimme & Schwartz 2013). Aus phänomenologischer Sicht kann jedoch argumentiert werden, dass Verantwortlichkeit auch impliziert, Verantwortung für die Art und Weise zu übernehmen, wie man sich den Handlungsraum eröffnet (vgl. zu diesem Argument Drummond 2010, 423). Genau dies aber kann die Person mit anhaltender wahnhafter Überzeugung oder akuter PsychoseErfahrung üblicherweise nicht, wie auch Binswanger festhält (Binswanger 1952/1992, 309). Sie kann aber durchaus, und Binswanger ist ebenfalls dieser Ansicht, Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen, welches aus ihren Überzeugungen und der Art und Weise, wie sie sich ihren Handlungsraum eröffnet, fließt (Schlimme 2009; 2013; Schlimme & Schwartz 2013). Auch Personen mit einer doppelten Orientierung zur Realität können dies häufig, und sind dann (Hass-)Liebenden vergleichbar (vgl. Schlimme 2013). Auch wenn dieser Vergleich nur als metaphorische Annäherung gemeint ist, erfasst er doch einen wesentlichen Aspekt des Zueinanders von Handlungsraum und gelebter Autonomie im Leben von Personen mit einer Psychose-Erfahrung (Schizophrenie-Diagnose). Es ist der Aspekt des 116 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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passiven Ausgeliefertseins an die stattfindenden Abwandlungen der eigenen Lebenswelt bzw. des eigenen Handlungsraums, der aber eben im Falle der Erkrankung einen sehr viel tiefergreifenden Verlust von lebensweltlichen und gemeinsinnigen Selbstverständlichkeiten umfasst als im Falle der Verliebtheit. Während Verliebtheit in einer Vielfalt gesellschaftlicher Bilder, Worte, Geschichten und Modelle gut verständlich ist, auch wenn der Zauber der anderen Person damit nicht erklärt sein mag, so sind die Anwandlungen der Erfahrung im Falle einer Psychose derart einmalig und besonders, verzückend und unheimlich, dass dies nicht nur kaum in Worte und Bilder gefasst und mitgeteilt werden kann, sondern eben gerade dieses Erfassen und Mitteilen seinerseits oftmals behindert. 8 Insofern ist es eben gerade für die Person mit Psychose-Erfahrung wesentlich, eine neue, wenn auch vielleicht eigensinnig wirkende (»verschrobene«) sog. idionomische Habitualität zu entwickeln, um wieder verständnis- und handlungsfähig zu werden. Dies erlaubt dann meist erst wieder bzw. auch eine Distanz zum Handlungsraum, und damit eine verantwortliche Lebensführung.
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»Kein Mensch ist der Mensch.« Subjektivität und Lebendigkeit bei E. Straus und L. Binswanger: 1946–1948 Elisabetta Basso Lorini
Der »methodische Leitfaden der Daseinsanalyse« Die in den 1920er Jahren durch Ludwig Binswanger eingeführte Unterscheidung zwischen den anthropologischen Begriffen »gemeinsame Welt« und »eigene Welt« kann als methodische[r] Leitfaden der Daseinsanalyse gelten (Binswanger 1946/1994, 236). 1 Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung, die an verschiedenen Stellen durch den Schweizer Psychiater anhand des biologischen Begriffs Welt erklärt wird, der in den Werken des deutschen Zoologen Jakob von Uexküll auftaucht. In dem 1946 erschienenen Artikel Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie (Binswanger 1946/1994) zeigt Binswanger insbesondere die starke methodologische Affinität zwischen der Aufmerksamkeit des Psychiaters auf die pathologischen Konfigurationen der verschiedenen Welten von Kranken bzw. ihrer Weltentwürfe und der des Biologen auf die verschiedenen Funktionszyklen der animalischen Integration mit der Umwelt. In der Tat gehen beide Untersuchungen davon aus, dass es unmöglich sei, die Seinseigenschaften sowohl des Menschen als auch des Tieres unabhängig von der Analyse ihrer Situation in der Welt (Beziehungen, Interaktionen, Intentionalität und Planungsfähigkeit) zu begreifen. Dennoch schließt Binswanger, dass der entscheidende Unterschied zwischen Tier und Mensch in der Möglichkeit des letzteren besteht, nicht nur die gemeinsame Welt der ganzen Gattung, sondern auch eine eigene Welt zu entwerfen. Während das Tier »an seinen ›Bauplan‹ gebunden« ist und »nicht über ihn hinaus« kann, enthält
1 Vgl. Binswanger (1946/1994, § 2): Der Unterschied zwischen menschlichem Dasein und tierischem Sein. »Welt« im daseinsanalytischen und »Umwelt« im biologischen Sinne.
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Elisabetta Basso Lorini
das menschliche Dasein »nicht nur unzählige Möglichkeiten des Seinkönnens, sondern hat in diesem vielfachen Seinkönnen gerade sein Sein« (Binswanger 1946/1994, 239). Der von Uexküll jeder lebenden Gattung zugeschriebene Begriff Umwelt – selbst wenn die Eigenschaften solcher Umwelt in Abhängigkeit von den tierischen Gattungen verschieden sind – kann dem Psychiater, der die Verhaltensweisen der Kranken auf der Basis ihrer eigenen Welt untersuchen will, also nicht genügen. Solche Bemerkungen dienen Binswanger als Ausgangspunkt, wenn er die Hintergründe der von ihm so genannten kantisch-kopernikanischen Wendung der Psychiatrie beschreibt: Viel zu sehr haben auch wir Psychiater bisher unser Augenmerk gerichtet auf die Abweichungen unserer Kranken von dem Leben in der allen gemeinsamen Welt, anstatt in erster Linie, wie es ja wohl Freud zuerst systematisch betrieben hat, die eigene oder Privatwelt der Kranken ins Augen zu fassen. […] Sie sehen, um von v. Uexkülls Lehre zur Daseinsanalyse zu gelangen, müssen Sie die kantisch-kopernikanische Wendung vollziehen, indem sie statt von der Natur und ihrer Planmäßigkeit auszugehen und Naturwissenschaft zu treiben, ausgehen von der transzendentalen Subjektivität und von dieser fortschreiten zum Dasein als Transzendenz (ebd. 238).
Im Folgenden können nicht alle theoretischen und klinischen Konsequenzen vertieft werden, die Binswanger aus seinen Bemerkungen ableitet. Diese werden in dem an Heidegger orientierten Teil seiner Forschung entwickelt, wie man an seiner negativen Charakterisierung (d. h. durch Negation) des Problems des Lebendigen erkennt. Hauptziel der vorliegenden Betrachtung ist vielmehr, Erwin Straus’ neuartige Charakterisierung der inneren Differenzierung des Begriffs Dasein anhand der doppelten Modalität des In-der-Welt-Seins (d. h. als Lebendiges und als Subjekt) zu untersuchen. Darum wird hier insbesondere Straus’ Essay On Obsession in Betracht gezogen, den der deutsche Psychiater und Neurologe 1948, nur zwei Jahre nach Binswangers Text, veröffentlichte (Straus 1948). Da von dieser Problematik wichtige Konsequenzen für die Psychiatrie sowohl auf der epistemologischen als auch auf der eigentlich klinischen Ebene ausgehen, ist sie hochrelevant für diese Untersuchung. Straus offenbart schon am Anfang seines Essays den Kern seines Bezugs auf das Lebendige: Wenn man annimmt, dass »die Untersuchung nach dem Verhalten eine spezifische Erkenntnis der Weltstruktur erfordert«, in der der Mensch handelt (Straus 1948, 10) – und hier scheint sich der deutsche Psychiater wieder auf den schwei120 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
»Kein Mensch ist der Mensch«
zer Kollegen zu beziehen –, muss man nicht von der eigenen bzw. der Privatwelt der Kranken, sondern gerade vom »Leben in der allen gemeinsamen Welt« ausgehen, von der Binswanger die Aufmerksamkeit des Psychiaters abzulenken versuchte. Hier stellt sich Straus sofort in offenen Widerspruch zu Binswangers Vorschlag: Wenn er schreibt, dass die »besondere Weltstruktur«, auf die sich der Psychiater beziehen muss, die ist, »in der eine Gattung, sei sie entweder Mensch oder Tier, entweder Gruppe oder Individuen, handelt« (ebd.; Herv. E. B. L.), so spielt er auf den von Binswanger durch Heidegger erwähnten Uexküll an. Der deutsche Psychiater schaut also nicht auf die Krankheit als »besondere von allen biologischen Überlegungen getrennte Modalität des menschlichen Daseins« (ebd., 3), d. h., er bezieht sich nicht – zumindest nicht nur und nicht vordergründig – auf die »Geschichte, die das Wachstum jeder Person bestimmt«, sondern auf die »Konstitution«, die eine gewisse Geschichte vorbestimmt, an die natürlichen Eigenschaften der Gattung nämlich, die über das informieren, was sie unabhängig von der Krankheit hätte werden können (ebd., V). In dieser Perspektive bleibt der Begriff der Möglichkeit – den Binswanger durch seinen konstanten Bezug auf Sein und Zeit als entscheidenden Beweis für die Notwendigkeit einer endgültigen Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Charakter des menschlichen Daseins und demjenigen jedes anderen Lebewesens festlegt – noch konstitutiv für das menschliche Dasein, aber gleichzeitig scheint er eine der daseinsanalytischen völlig entgegengesetzte Bedeutung zu gewinnen. In der Tat gilt für Straus das Sein-Können des Menschen zunächst als die Gesamtheit der von der biologischen Zugehörigkeit zur eigenen Gattung vorbestimmten Potentialitäten. Obwohl die Krankheit zweifellos auch ein Teil des Möglichen ist, das der Situation eines Menschen in der Welt anhaftet, ist sie dies nicht in Bezug auf eine »Eigentlichkeit«, die als Kern unseres »Daseins als Transzendenz« betrachtet werden kann. Deswegen behauptet Straus am Anfang seines Essays über die Diskussion zwischen Freud und Binswanger zur Therapie der Zwangsgestörten, dass es nicht richtig sei, solche existentielle Potentialität einer »Geistigkeit«, einem Vermögen »für sich selbst zu entscheiden« oder »sich auf ein Niveau von geistiger Kommunikation mit dem Therapeuten zu erheben«, zuzuschreiben, die nach Binswanger den Zwangsgestörten ermöglichen würde, sich von ihrer Kompulsivität zu befreien und die Therapie abzubrechen. Nach Binswanger 121 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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würde eine solche Potentialität – ein solches Vermögen – diesen Patienten fehlen (Straus 1948, 3 f.). Die von Straus gemeinte Freiheit ist weder die der Binswanger’schen eigenen Welt, noch die, die den Kranken ermöglichen würde, sich von den Zwängen ihrer eigenen Welt zu befreien, um in der gemeinen Welt eine echtere Freiheit in Form der Möglichkeit zurückzugewinnen. 2 Da die Potentialität, in der der Hauptcharakter des Menschen als lebendiges Wesen erkannt werden muss, vorbestimmt ist, stimmt sie mit den von der Natur der menschlichen Gattung vorgeschriebenen Grenzen überein. Zwar können sich diese Grenzen historisch oder subjektiv wandeln, aber sie können niemals von einer ontologisch aufgefassten Natur bzw. einem ontologisch aufgefassten Wesen festgelegt werden.
Die »Grundstruktur des gemeinen Lebens« Es wäre ein Fehler, Straus’ Bezugnahme auf die biologische Natur des Lebendigen und des Menschen als Ausdruck eines rein positivistischen Reduktionismus zu lesen; im Übrigen wäre dies derselbe Reduktionismus, vor dessen Hintergrund Binswangers Programm ursprünglich – als »befreiende Tat«, wie Straus schreibt – seine Daseinsberechtigung fand (Straus 1963, 938). 3 Bei Straus’ Bezugnahme auf den Begriff Gattung handelt es sich eigentlich nicht um die WieHier ist zu unterstreichen, dass Binswanger auf der intrinsischen Normativität selbst der pathologischen Erfahrungen beharrt – anders als Straus, der die Krankheit als ein Defizit, d. h. als eine »Deformierung« und »Zerstörung«, der gewohnten und normalen Formen versteht. Den Kranken als eine Individualität aufzufassen, die »die Welt als die ihre« hat, heißt in der Tat, selbst dieser Privatwelt eine bestimmte Struktur, d. h. eine geregelte Organisation, zuzuschreiben (Binswanger 1931/1994, 203). Es ist interessant, dass Binswanger einen solchen theoretischen Ansatz gerade durch den Verweis auf die Biologie und hier mit Bezug auf Kurt Goldsteins Reflexionen über neurologische Krankheiten verstärkte: »Damit bekam der Begriff des Pathologischen […] nicht mehr lediglich den Ausdruck für etwas rein Negatives, d. h. für das der Norm Zuwidre, sondern liess sich auch positiv, gerade auch von der Norm aus, fassen. Die Einsicht, dass dieses Positive aber einem ›neuen Sein in der Welt‹ entspricht, vielmehr es darstellt, und dass der Ausfall, das Minus an Leistung, erst von hier aus verständlich wird, verdanken wir insbesondere Goldstein […] So verstehen wir dieses Versagen jetzt aus einem positiv zu kennzeichnenden, neuen Sein in der Welt (was immer heißt: einem normhaft, sinnhaft oder gestalthaft geordneten Sein)« (Binswanger 1992, 104). Zu diesem Thema siehe auch Zaner (2004). 3 Vgl. Straus (1963, § 1): Einleitung: Natur und Dasein. 2
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derherstellung der engen Opposition zwischen Leben und Dasein. Tatsächlich kann eine solche Wiederherstellung als Versuch gelten, die untrennbare Beziehung zwischen dem Lebendigen und dem Subjekt im Licht einer psychiatrischen Reflexion anders zu betrachten. Dieser Versuch zielt darauf ab, die wechselseitige Beziehung zwischen Natur und historischem Dasein zu klären. Mit anderen Worten hat der Bezug auf den biologischen Bereich bei Straus eine weitreichendere Bedeutung als der Bezug auf die Biologie als bloß empirische Wissenschaft. Die Bedeutung eben dieses Bezuges soll hier genauer beleuchtet werden. 4 Straus’ Behauptungen in dem Essay aus dem Jahr 1948 zum Problem der Zwangsstörung werden jedoch eher auf einem epistemologischen als einem klinischen Niveau ausgeführt. Das Grundlegende seiner Überzeugung ist, dass »[n]ur wenn man die für eine Gattung notwendigen Erfordernisse kennt, man die historischen Bedingungen feststellen kann«, die ein einzelnes Vorkommnis bestimmen, nicht also in der Erfindung einer positivistischen Erklärung einer vorliegenden psychiatrischen Störung. Es handelt sich vielmehr um das allgemeinere Problem der Wissenschaftlichkeit der Psychiatrie selbst: um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Singularität des klinischen Falls und der Universalität seiner Erklärung. Straus’ Gebrauch des Begriffs Gattung wurzelt zuerst in der epistemologischen Überzeugung, nach der »der Einzelfall als solcher unverständlich ist« (Straus 1948, 52). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, sich einem weiteren Bezugsrahmen anzuvertrauen, den Straus in der »Grundstruktur des Gemeinlebens« (ebd., 59) identifiziert, um eben den Einzelfall als solchen zu verstehen. Die Grundthese von Straus’ Essay zeigt sich gerade in diesem theoretischen Kontext: »Das Individuum ist eine Besonderung der Gattung, und um die Besonderung zu verIn Vom Sinn der Sinne distanziert sich Straus explizit von Heideggers Position. In der Tat fasste Heidegger die Biologie als auf das Studium des Vegetativen begrenzt auf (Straus 1935/1956, 297). Deswegen betont Straus, dass der von ihm selbst gebrauchte Ausdruck In-der-Welt-Sein »sich nicht ganz mit dem entsprechenden bei Heidegger, Sein und Zeit, deckt« (ebd., Anm. 1, 373). Zur Unterstützung seiner Argumentation zitiert Straus hier interessanterweise ausgerechnet Binswanger: In Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Binswanger 1942, 471) wurde das Dasein von Binswanger nämlich im ontologischen, Heidegger’schen Sinne als »ein unerreichbarer anthropologischer Grenzfall« betrachtet (Straus 1935/1956, 298). Vgl. auch Straus (1975, 149): »Heidegger interpreted Da-Sein as being-in-the-world; yet the German word ›Da‹ actually refers to the earth as man’s original home. It is the territory on which man takes a position, his stand as a living bodily creature, a zoon.« 4
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stehen, sei sie pathologisch oder nicht, muss man sich auf die Normalität beziehen: Es gibt keinen anderen Weg.« (Ebd., 74) Auf den ersten Blick scheint sich eine solche Perspektive doch in entschiedenen Gegensatz zu der Daseinsanalyse zu stellen, die sich aufgrund ihrer Heidegger’schen Schuld – wie Straus schreibt – nicht von der Abhängigkeit eines gewissen anthropologischen »Totalitarismus« befreien kann. Dagegen beschäftigt sich die Psychiatrie mit Menschen, die gerade als Kranke, d. h. von der Krankheit bedingt, ihre ganze Abhängigkeit von einer Naturalität zeigen, die als Substratum ihres In-der-Welt-Seins als Lebendige gilt. »Kein Mensch ist der Mensch«, schreibt Straus, und die Psychiatrie kann keineswegs das philosophische Recht beanspruchen, irgendeinen »wesentlichen« Status für die einzelnen Menschen zu postulieren, über die sie sich Fragen stellt (Straus 1963, 934). Der deutsche Psychiater scheint hier die Beobachtungen vorwegzunehmen, die fünfzig Jahre später der französische Psychiater Georges Lanteri-Laura entwickeln wird: Hiernach besteht eine der Erbschaften des »strukturellen Paradigmas« der phänomenologischen Psychiatrie gerade darin, sich im Rahmen einer globalistischen Rede zu verschließen. Nach Lanteri-Laura reduziert diese die Psychopathologie letztlich auf »einen der Teile einer vollständigen und endgültigen Anthropologie« (Lanteri-Laura 1998, 198). An dieser Stelle könnte man dementsprechend folgenden Einwand erheben: Da Straus’ Begriff der Gattung – als Grundstruktur des Gemeinlebens – ständig auf eine Norm, d. h. auf eine Normativität verweist, die als Hintergrund des Sein-Könnens jedes einzelnen Menschen gilt, steht möglicherweise auch sein Bezug auf einen solchen Begriff in der Gefahr, denselben totalitären, philosophisch-anthropologischen Schluss, den er der Daseinsanalyse zuschreibt, zu vollziehen. Tatsächlich ist das Problem komplexer als es scheint. Erst durch die Auflösung dieser scheinbaren Aporie kann Straus’ Originalität vielleicht am besten geschätzt werden. Zunächst muss die Rolle in Betracht gezogen werden, die Straus’ Bezug auf den Begriff Gattung innerhalb seines theoretischen Vorschlags einnimmt. Es ist in der Tat bedeutend, dass Straus diesen Begriff nicht als Erklärung, sondern als Erklärungsmittel der betrachteten Störung gebraucht. Mit anderen Worten: Wenn Straus sich auf die Funktionsweise der Gattung beruft, um die Krankheit als »Besonderung« zu erklären, schreibt er dieser Funktionsweise trotzdem keinen positiven Status zu. Im Grunde bietet Straus nie eine Definition 124 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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der »normalen« Funktionsweise (»worin sie besteht«), mit der die Störung verglichen werden muss. Er behauptet vielmehr: Nur wenn wir die notwendigen Erfordernisse einer Gattung kennen, können wir sagen, was historische Bedingungen bewirkt haben könnten und was sie tatsächlich in Bezug auf ein einzelnes Exemplar bewirkt haben. Die Unterscheidung zwischen günstiger und ungünstiger Umwelt bezieht sich auf ein Modell, das nichts mit der Geschichte des einzelnen Exemplars zu tun hat (Straus 1948, V; Herv. und Übers. E. B. L.).
Eine solche Präzisierung ist sehr wichtig, da Straus dadurch ein biologisches Modell entwickelt, das für die unabdingbare Geschichtlichkeit der psychopathologischen Erlebnisse offen ist. Mit den von Merleau-Ponty in denselben Jahren benutzen Worten könnte man Straus’ Verweis auf den Begriff Gattung als Verweis auf ein »Apriori der Gattung« (a priori de l’espèce) sowie ein »Apriori des Organismus« 5 verstehen. Bei Merleau-Ponty sollte die Verwendung der Biologie als Bezugsfeld für die Struktur des Verhaltens gerade darauf abzielen, der Psychologie eine Integration ihrer Analysen mit den historischen Faktoren des Verhaltens des Menschen (als In-der-Welt-Sein) zu erlauben. Nach Merleau-Ponty könnte man durch diese Integration die Dogmen des Intellektualismus sowie des behavioristischen Materialismus vermeiden. Die apriori aufgefasste Gattung sollte die notwendige Struktur – in Straus’ Worten: die Norm, den »Bezugsrahmen« – bieten, um die historische Singularität des menschlichen Verhaltens betrachten zu können, ohne bei dieser Betrachtung die Schwierigkeiten des Begriffs Menschsein vorauszusetzen. Darüber hinaus muss auch der Bezug auf die Biologie, unter dessen Blickwinkel Straus eine neue Betrachtung der von der Daseinsanalyse gezeichneten Weltstruktur empfiehlt, im Licht des Begriffs Apriori verstanden werden. Es handelt sich dabei um die besondere Verwendung des Begriffs Apriori, der das wissenschaftliche »Die generelle Hemmung, die man vor sich hat, hat sich nicht nach den mechanischen Gesetzen der Konditionierung herausgebildet; in ihr äußert sich ein neuartiges Gesetz: die Ausrichtung des Organismus auf Verhaltensweisen, die einen biologischen Sinn haben, auf natürliche Situationen, d. h. ein Apriori des Organismus« (vgl. Merleau-Ponty 1942/1976, 139; Merleau-Ponty 1947/2000). Merleau-Ponty entwickelt diese Begriffe im Rahmen einer strengen Kritik an Pawlows Theorie – einer Kritik, die schon seit den dreißiger Jahren von Straus besonders in Vom Sinn der Sinne durchgeführt worden war. Es ist kein Zufall, dass dieses Werk ein wichtiger Anhaltspunkt für Merleau-Pontys Abhandlung aus dem Jahr 1945, die Phänomenologie der Wahrnehmung, ist.
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Universalitätserfordernis der Psychiatrie und die Singularität des konkret betrachteten historischen Daseins verbindet. 6 In der Tat gilt auch bei Straus der besondere Rahmen, in dem der Mensch handelt, als das Apriori – in Form einer gemeinsamen biologischen Bezugsnormativität –, auf das der Psychiater sich unvermeidlich beziehen muss, um die Singularität jedes Falles zu begreifen. Tatsächlich kann der Einzelfall »als solcher« nur im Licht dieser Normativität erkannt werden. Trotzdem sagt Straus sehr klar, dass genau dieser Rahmen, d. h. dieses Apriori, wiederum historisch ist, da »die Gattung niemals vollständig realisiert ist, und keinesfalls von einem hypothetischen Durchschnittswert unter vielen Individuen dargestellt werden kann« (Straus 1948, V). Dieses Apriori bezieht sich immer auf das wirkliche Dasein einer Gattung, d. h. auf ihre historische Wechselhaftigkeit. Es handelt sich um einen beweglichen Rahmen, der gewisse Möglichkeitsbedingungen definiert, insofern als er zwar das von ihm in gewissem Maße abhängende konkrete Geschehen bedingt, aber nicht bestimmt, da er einen Möglichkeitsraum für die konkrete historische Verwirklichung des Geschehens öffnet. Nochmals mit Merleau-Pontys Worten handelt es sich um »eine Norm, die den Tatsachen selbst eingeschrieben ist« (Merleau-Ponty 1942/1976, 139). Diese Norm taucht zusammen mit denselben Phänomenen auf, deren Struktur sie darstellt. In der Phänomenologie der Wahrnehmung drückt Merleau-Ponty dies ganz klar aus: Das Erscheinen der Strukturphänomene »ist nicht die äußere Entfaltung einer präexistenten Vernunft« – dieses Gesetz »ist nicht Bedingung der Möglichkeit der Welt, sondern Erscheinung der Welt selbst, nicht Erfüllung, sondern Entstehung einer Norm« (Merleau-Ponty 1945/1966, 85). Dieser Ansatz bezüglich des Begriffs des Apriori wird in denselben Jahren von dem niederländischen Physiologen Frederik Buytendijk adoptiert, der seit den 1930er Jahren Straus’ Position gegen Pawlows Reflextheorie unterstützt hatte (vgl. Struyker-Boudier 1988). In seinem 1948 erschienenen Hauptwerk – Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung (Buytendijk 1948/1956) – betrachtet Buytendijk das Verhältnis zwischen Subjekt und Umwelt auf der Basis des Begriffs des vitalen Raums, den er als funktionelles Apriori definiert. Nach Buytendijks Ansicht hätte eine solche DefiniDie Wichtigkeit der Dialektik zwischen biologischer Konstitution und Individualität lässt sich bereits 1926 in Straus’ Habilitationsschrift erkennen (vgl. Straus 1926). Zu diesem Thema vgl. insbesondere McKenna Moss (1981).
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tion ermöglicht, ein Erklärungsprinzip des In-der-Welt-Seins des Lebendigen anzubieten, das den historisch wechselnden Charakter dieses Phänomens berücksichtigt. Durch die Ersetzung des klassischen Begriffs »Prozess« durch »Funktion« wurde also eine Erklärung des menschlichen Verhaltens auf der Grundlage der Analyse seiner Möglichkeitsbedingungen und infolgedessen eine Verbindung des wissenschaftlichen Erfordernisses einer Beschreibung der Regelmäßigkeit des Geschehens und der konkreten Wirklichkeit des tätigen Individuums möglich (ebd., 17).
Die sich »anbahnende Harmonie zwischen der Methode der ›Geistes‹- und der ›Natur‹-Wissenschaft« An dieser Stelle muss der grundlegende Unterschied zwischen dem von Straus im Bereich der psychiatrischen Analyse gebrauchten biologischen Ansatz des historischen Apriori und einem zeitgenössischen biologischen Modell des Apriori für die Erklärung der Beziehung von Lebendigem und Welt unterstrichen werden. Tatsächlich legen Straus’ Beobachtungen über die Beziehung zwischen individuellem Verhalten und Gattungsmerkmalen einen Vergleich mit der Art und Weise nahe, auf die sich der deutsche Ethologe Konrad Lorenz mit dem Begriff Apriori befasst. Lorenz setzt sich nämlich gegen die Position des Behaviorismus ein – genau in den Jahren, in denen Straus in seinem Buch Vom Sinn der Sinne dasselbe Ziel verfolgt. Lorenz’ erster anti-behavioristischer Artikel stammt aus dem Jahr 1935: Der Kumpan in der Umwelt des Vogels (Lorenz 1935/1965). Anders als Straus geht Lorenz von einer streng gnoseologischen Untersuchung aus. Aus seiner Perspektive ist die Möglichkeitsbedingung, die die einer Gattung eigentümlichen Verhaltenseigenschaften bestimmt, biologisch im traditionellen Sinne, d. h., sie fällt mit Apparaten, Organen oder historisch bedingten Funktionen zusammen. Diese Apparate, Organe und Funktionen liegen den einzelnen historisch von ihnen abhängenden Leistungen – d. h. der Lernfähigkeit bzw. den höheren Funktionen der Erkenntnis – konkret zugrunde. Mit anderen Worten ist das Apriori der Gattung nur insofern historisch, als es in »Funktionen fertig angepasster Strukturen« (Lorenz 1973, 91) besteht, die »resistent gegen Modifikation« (ebd., 124) sind. Also gilt das Apriori in Lorenz’ neo-darwinscher Sicht als »dasjenige, was vor allem Lernen da ist und da sein muss, um Lernen möglich zu 127 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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machen« (ebd., 125). Das Apriori deckt sich schließlich mit den realen Apparaten, die das In-der-Welt-Sein wesentlich als Anpassung ausmachen. Die eigentümliche Bedeutung von Straus’ Bezug auf die Biologie zeigt sich erst im Vergleich mit dieser naturalistisch-realistischen Position. Durch Lorenz’ Verständnis des lebendigen Wesens in der Welt, dem gemäß das Apriori als Möglichkeitsbedingungen in Form von angeborenen, spezifischen Mechanismen verstanden wird, kann man die grundlegend epistemologisch-methodologische Rolle von Straus’ Bezug auf den Begriff der Gattung am besten verstehen. Wie richtig bemerkt wurde, wird Straus’ »Eingangsversuch zum ›Wesen des Lebendigen‹« weder auf Grund einer Eidetik apriori, die der Konkretheit des Lebendigen vorangeht, noch auf Grund eines positivistischen Bezugs zur Natur durchgeführt. Das Apriori, durch das er sich mit der besonderen Geschichtlichkeit der Lebendigen auseinandersetzt, wird »im Lebendigen selbst« bzw. in seiner Geschichtlichkeit untersucht (Thinès 1991, 84). Dies ist der Grund dafür, dass Straus der biologistischen Interpretation der Welterfahrung – bzw. der SpiegelVerbindung zwischen erkennendem Subjekt und äußerer Welt – folgende Behauptung entgegenstellen kann: »Wir erfahren uns selbst und die Welt, oder gleich die Welt und uns selbst, durch dieselbe Handlung« (Straus 1948, 20). Letztlich besteht das Apriori der Gattung – in dessen Licht die »Besonderheiten der Gattung« bzw. die psychiatrischen Störungen als »Experimente der Natur« verstanden werden müssen – in dieser »sympathetischen Beziehung« zur Welt (ebd., V). Es handelt sich also um ein Apriori, das diese Besonderheiten nicht konkret vorbestimmt, sondern ihnen einen bloßen Bezugsrahmen bietet, innerhalb dessen sie in ihrer Geschichtlichkeit aufgefasst werden können. Deswegen besteht die Aufgabe des Psychiaters darin, die historische Singularität seines jeweiligen Patienten zu untersuchen, um sie auf diesen Bezugsrahmen bzw. auf das Apriori der Gattung zu beziehen. Darum muss man die zufälligen oder »oberflächlichen« (ebd., 5) Manifestationen der Störungen – wie etwas wirklich passiert ist – einklammern und vielmehr ihre Struktur – wie es hätte passieren können – untersuchen. Diese Struktur entpuppt sich schließlich als das historische Apriori des In-der-WeltSeins. Die Vertiefung der Lorenz’schen Thesen ermöglicht ein besseres Verständnis der Spezifizität von Straus’ epistemologisch-psychiatrischen Vorschlägen. Deswegen kann denjenigen Positionen, die 128 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Straus’ Ansatz mit Bezug auf seine Kritik an Freuds Psychoanalyse als »oberflächliches Wissen« (Muscelli & Stanghellini 2006, 44) definieren, nicht zugestimmt werden. Einer solchen Interpretation gemäß, würde Straus der Freud’schen Leidenschaft für den Verdacht, für die Tiefe der Bedeutung, die dessen abstrakten hermeneutischen Ansatz charakterisieren, das Erfordernis entgegenstellen, sich auf die Beziehung des Menschen mit der Lebenswelt zu konzentrieren. Diese Relation würde durch die ganze Physikalität bzw. die »Oberflächlichkeit« des Phänomens aufgefasst. Es ist unvermeidlich, dass die Kritik an der Psychoanalyse bzw. an der Idee, dass es unter den pathologischen Phänomenen einen unbewussten »wahren« Vorgang gibt, dessen pathologische Phänomene den bloßen »Überbau« darstellen (ebd., 53, 60), dazu führt, die »Divergenz« der beiden Perspektiven als eine Opposition von hoch und niedrig, Oberfläche und Tiefe, Basis und »Überbau« zu begreifen. Diese Kritik an der Psychoanalyse stellt im Übrigen einen der Leitfäden von Straus’ Essay dar. Und trotzdem – wenn laut Straus die psychiatrische Analyse die Begebenheiten vom »wie sie wirklich passiert sind« zum »wie sie hätten passieren können« zurückführen muss, d. h. von den individuellen Zwangserscheinungen zur »Struktur der Zwangswelt«, ist nicht zu leugnen, dass diese strukturelle Analyse in jeder Hinsicht als Archäologie definiert werden kann. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine zur Freud’schen grundlegend verschiedene Archäologie. In gewissem Maße ist Straus’ Auffassung der Archäologie der Kant’schen näher – auch wenn erstere nicht auf eine Gnoseologie abzielt 7 –, insofern als dass sie versucht, die Möglichkeitsbedingungen unseres körperlichen Bestandes und unseres Handelns als Lebendige in der Welt aufzuspüren und zu analysieren. Daher kann die strukturelle Analyse nur insofern als ein oberflächliches Wissen definiert werden, als dass sie feststellt, dass die Krankheit mit ihrer Struktur übereinstimmt. Eine solche Struktur muss der Psychiater durch die klinische Arbeit ans Licht bringen: »Die psychiatrische Untersuchung geht vom Ende aus. Sie muss rückwärts arbeiten, denn sie muss die Anfangsbedingungen rekonstruieren und die Faktoren bestimmen, die beim Aufkommen der psychotischen Störung tätig waren« (Straus 1948, V; Herv. E. B. L.). Es wird also deutlich, dass ein solcher biologischer Bezugsrahmen sehr wenig mit der »Planmäßigkeit der Naturwissenschaft« ge7
Vgl. Spicker (1978) zu Straus’ Kritik an Kants transzendentalem Projekt.
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meinsam hat, gegen die Binswanger die Psychiatrie zum Vollzug der kantisch-kopernikanischen Wendung anregte. Im Grunde ist dieser »Kontakt mit der Welt« (ebd., 48) – den Straus als die Grundstruktur der menschlichen Präsenz in der Welt identifiziert – Minkowskis Begriff des Vitalkontakts mit der Welt näher als der »Konstitution« oder den »natürlichen Eigenschaften der Gattung«, auf die Straus am Anfang seines Essays verweist. Dadurch stellt sich Straus, zumindest in erster Linie, gegen die daseinsanalytische Perspektive. Besteht jedoch noch die Berechtigung, die von Straus skizzierte Perspektive als gegensätzlich zu derjenigen Binswangers aufzufassen, wenn die biologische Struktur, auf die Straus anspielt, die Bedeutung des allgemeinen Begriffs gewinnt, der bei Minkowski »das Wesen der lebendigen Personalität in ihren Verhältnissen mit der Umwelt« (Minkowski 1927/1997, 106) 8 zusammenfasste? Wenn Straus’ Bezug auf die Biologie dem Erfordernis entspricht, einen apriorischen Bezugsrahmen als potentiellen (bzw. vitalen Bezugsrahmen, nach Minkowski) Handlungsraum aufzumachen, in dem die Singularität der jeweiligen klinischen Fälle eingeordnet werden muss, drückt ein solcher Bezug also nicht etwa die von Binswanger anerkannte methodologische Konkordanz zwischen dem biologisch-ethologischen und dem daseinsanalytischen Begriff des In-derWelt-Sein aus? Gerade aufgrund einer solchen methodologischen Bedeutung des psychiatrischen Bezugs zur Biologie konnte Binswanger in den 1930er Jahren behaupten: Es ist ein schönes Zeichen für die in unserer sonst so zerrissenen Zeit sich unbeschadet aller Reden von der »Krisis der Wissenschaft« anbahnende Harmonie zwischen der Methode der »Geistes«- und der »Natur«-Wissenschaft, dass der Philosoph zu denselben methodischen Konsequenzen gelangt, nicht nur wie der sich um die existenziale Struktur der Psychose bemühende Psychiater, sondern auch wie der im vollen Sinne des Wort biologisch denkende Biologe und Neurologe (Binswanger 1992, 209).
Sowohl in Binswangers Studien der 1930er und 1940er Jahre als auch in seinen späteren Studien über die Schizophrenie lässt sich gerade diese archäologische Bedeutung der Daseinsanalyse erkennen. Im Vergleich dazu erweckt Straus’ strukturelle Analyse – da sie darauf verzichtet, den Begriff Dasein ontologisch zu charakterisieren – sozusagen den Anschein einer »naturalisierten« Archäologie. Dank der Es handelt sich hier um einen Begriff von Umwelt, der kein Synonym für »äußerliche Welt« ist.
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neuen biologischen Konnotation, die der Bezug auf die »Struktur« in dieser Form der Archäologie gewinnt, scheint Straus’ Perspektive einen bedeutenden Beitrag zur kantisch-kopernikanischen Wendung zu leisten, zu der Binswanger die Psychiatrie angeregt hatte. Es handelt sich dabei um dieselbe archäologische Wendung, auf die einer der Psychiater verweist, der die Zielrichtung von Binswangers Projekt schon in dessen Anfängen bestens verstand – Wolfgang Blankenburg. In seinem bekanntesten Werk Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit (Blankenburg 1971/2012) gebraucht Blankenburg die daseinsanalytischen Begrifflichkeiten gewissermaßen wie Straus, indem er sich inhaltlich dem nähert, was hier als Begriff des Apriori der Gattung bestimmt wurde. Wenn Blankenburg den strukturellen Kern der Schizophrenie mit dem Mangel einer »Verankerung des Menschen in der Welt überhaupt« (ebd., 9; Herv. E. B. L.) identifiziert – d. h., wenn er einen solchen »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« als Verlust der Verbindung zur Umwelt, »wie überhaupt jegliche[r] Verbindlichkeit«, (ebd., 110; Herv. E. B. L.) beschreibt –, dann begreift er zutiefst, ohne jegliche ontologische Ansprüche, den Wert von Binswangers Verweis auf den Begriff des Apriori für die Psychiatrie. In der Tat hat das von Blankenburg betonte Apriori die im engeren Sinne strukturelle Eigenschaft, die Straus durch seine Bezugnahme auf die Biologie ans Licht gebracht hatte. Ein solcher Bezug hing von der Überzeugung ab, dass es unmöglich war, den einzelnen psychopathologischen Fall unabhängig von »jeglicher Verbindlichkeit« mit der Umwelt zu betrachten: In der Tat macht gerade diese »Verbindlichkeit« mit der Umwelt unser In-der-Welt-Sein überhaupt, d. h. als Gattung, aus. Somit lässt sich der Grund dafür verstehen, dass selbst Straus’ Begriff der »gemeinsamen Welt« in der »naturalisierten« Form des Apriori der Gattung letztlich dieselbe Funktion wie bei Binswanger hat. Der einzige Punkt, der bei dieser Parallelisierung beachtet werden muss, ist der, dass Binswangers Bezugnahme auf Heideggers Philosophie nicht wörtlich genommen werden darf. Vielmehr muss aus diesem Bezug die echte phänomenologische Erkenntnis gewonnen werden, nach der kein einzelner Fall als solcher in Erfahrung gebracht werden darf, ohne dass eine allgemeine Bezugsstruktur vorausgesetzt wird. Diese Struktur kann aber wiederum nicht unabhängig von der Besonderheit aufgefasst werden, die ihr die »Gelegenheit« bietet und die nur »durch die Anwendung auf andere Fälle überprüft werden kann« (Straus 1948, 52). 131 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Elisabetta Basso Lorini
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II. Erwin Straus
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Die Ästhesiologie von Erwin Straus Thomas Fuchs
Einleitung Dass alles, was Menschen erleben, in Wahrheit eine Konstruktion und Vorspiegelung ihres Gehirns sei, gehört zu den heute gängigen Überzeugungen von Neurowissenschaftlern und Neurophilosophen. Das belegt schon eine Auswahl einschlägiger Buchtitel: Das Gehirn und seine Wirklichkeit (Roth 1994), Aus Sicht des Gehirns (Roth 2003), Kosmos im Kopf (Lewandowsky & Grünbein 2000), Das Gehirn und sein Geist (Elsner & Lüer 2000) usw. Auch der Neurowissenschaftler Damasio spricht vom sinnlichen Erleben als »Kopfkino« oder »geistiger Multimedia-Show«, die das Gehirn aus inneren und äußeren Sinnesreizen produziere (Damasio 2002). Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren: – Was Sie sehen, ist nicht, was wirklich da ist; es ist das, wovon Ihr Gehirn glaubt, es sei da [Hervorhebungen im Original] (Crick 1994, 30). – Unsere Wahrnehmung ist […] eine Online-Simulation der Wirklichkeit, die unser Gehirn so schnell und unmittelbar aktiviert, dass wir diese fortwährend für echt halten (Siefer & Weber 2006, 259). – Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. […] Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. […] Wir leben unser bewusstes Leben im EgoTunnel (Metzinger 2009, 21 f.). Nach dieser neurokonstruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramatischer Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahrnehmen, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Bilder, die sie in uns hervorrufen. Die alltägliche Wahrnehmung wird gewissermaßen zu einer physiologischen Illusion. Vor allem die qualitativen 137 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Bestimmungen des Wahrgenommenen, also Farben, Töne, Gerüche oder Geschmacksempfindungen, sind nur subjektive Konstrukte; außerhalb unseres Gehirns existieren sie nicht. Die tatsächliche Welt ist ein eher trostloser Ort von Energiefeldern und Teilchenbewegungen, bar jeder Qualitäten. Der Baum vor mir ist eigentlich nicht grün, seine Blüten duften nicht, der Vogel in seinen Zweigen singt nicht melodisch: Das alles sind nur zweckmäßige Scheinwelten, die das Gehirn anstelle nackter, materiell-kinematischer Prozesse erzeugt. Diese Sicht der Welt geht auf das reduktionistische Programm der Naturwissenschaften seit der Neuzeit zurück. Nach und nach wurden alle qualitativen Bestimmungen wie Farbe, Wärme, Geruch, Geschmack aus der Natur eliminiert und als anthropomorphe Zutaten dem Subjekt zugeschlagen. Passend dazu entwickelte sich der moderne Begriff des Bewusstseins als eines Behälters, in den alles Qualitative und Subjektive verschoben werden konnte. Von Descartes zunächst konzipiert als ein Refugium des Geistes angesichts der Alleinherrschaft der Physik über die materielle Welt, war das Bewusstsein seither in der Gefahr, zu einem abgeschlossenen Innenraum, einem fensterlosen Gehäuse des Subjekts zu werden. Jeder mögliche Gegenstand des cartesischen Bewusstseins ist nämlich eine idea – ein Gedanke, eine Vorstellung oder ein Bild. Auch was wir sehen, sind Bilder und nicht die Dinge selbst. Der Idealismus ist die Philosophie, die sich in der Nachfolge Descartes’ besonders aus dieser Abbild-Theorie der Wahrnehmung entwickelte. Auch für Locke und Leibniz, Hume und Kant sind unsere Wahrnehmungen impressions, ideas oder Vorstellungen. Der Idealist sitzt im Gehäuse seines Bewusstseins und empfängt die ideae als Abgesandte und Repräsentanten der Dinge, die er niemals selbst zu sehen bekommt. Wie sehr die idealistische Konzeption der Wahrnehmung das aufgeklärte Bewusstsein im 20. Jahrhundert geprägt hat, illustriert René Magrittes Bild La condition humaine: Das Bild zeigt ein Gemälde mit einer Landschaft, die dem Anblick der hinter dem Gemälde liegenden realen Landschaft gleicht. Magritte selbst erläuterte das Bild folgendermaßen: Das Problem des Fensters ergab »La condition humaine«. Ich stellte vor das Fenster, das vom Inneren des Raumes zu sehen war, ein Bild, das genau das Landschaftsstück darstellte, das von der Leinwand verdeckt war. Der Baum, der auf der Leinwand dargestellt war, verbarg den Baum, der hinter ihm außerhalb des Raumes stand. Für den Betrachter befand er sich also zugleich im Inneren des Raumes auf dem Bild und, in der Vorstellung, außer-
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Die Ästhesiologie von Erwin Straus
halb in der wirklichen Landschaft. Genau so sehen wir die Welt, wir sehen sie außerhalb unserer selbst und dennoch haben wir nur eine Vorstellung (représentation) von ihr in uns (Sylvester & Whitfield 1993, 184; Übers. v. Verf.).
René Magritte, La condition humaine (1933) 1
Hier wird die Doktrin der »Außenwelt« mit ihrer sonderbaren Verdoppelung der Wirklichkeit zur conditio humana stilisiert. Die Fenster unserer Seelenmonaden sind geschlossen wie bei Leibniz, und alles was wir von der jenseitigen Welt empfangen, sind bunte Bilder, die der Maler des Bewusstseins für uns geschaffen hat. Diese subjektiv-idealistische Erkenntnistheorie hat – unter freilich verändertem Vorzeichen – auch Eingang in die Hirnforschung und die zugehörige Neurophilosophie gefunden. Was den cartesischen ideae oder Vorstellungen nun auf neuronaler Ebene entspricht, sind Repräsentate – spezifische Erregungsmuster, durch die das Gehirn die Strukturen der Außenwelt im Inneren verdoppelt, und die in Abb. 1: René Magritte, La condition humaine, 1993, 100 � 81 cm, Öl auf Leinwand, National Gallery of Art, Washington D.C., in Sylvester und Whitfield (1993, 184).
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unserem Bewusstsein als Wahrnehmungen erscheinen. Wie sich zeigt, passen die idealistische Innenwelt des Bewusstseins und die neurobiologische Innenwelt des Gehirns überraschend gut zueinander: Gemeinsam ist ihnen, dass für sie beide das Subjekt keinen Anteil an der wirklichen Welt hat. Der Neurokonstruktivismus stellt nur noch die Verbindung beider Traditionslinien her. Nun scheint dieser Neurokonstruktivismus für den Psychiater ein naheliegender und praktikabler Standpunkt zu sein. Macht er nicht täglich die Erfahrung, dass die Patienten oder vielmehr ihre Gehirne sich ihre eigene Welt konstruieren, eine Welt, die vielfach so offensichtlich verzerrte Züge trägt, dass es sich dabei tatsächlich nur um Zerr-Bilder handeln kann? Und folgt daraus nicht, dass wir alle uns die Welt irgendwie als Bild konstruieren? So einleuchtend eine solche Position erscheint, sie bringt die Psychiatrie in mindestens drei Schwierigkeiten: 1. Wenn alle Welten gleichermaßen Konstrukte sind, bleibt nur eine äußerliche, normative Setzung übrig, welche die einen Konstrukte als »normal«, die anderen als »pathologisch« einstuft. Eine solche nicht im Phänomen selbst begründete Bewertung jedoch setzt sich der Kritik des radikalen Konstruktivismus aus, der Psychopathologie als potenziell autoritär, ja als Herrschaftsinstrument einer Mehrheit über eine Minderheit begreift. 2. Wenn alle Welten gleichermaßen Konstrukte sind, beraubt sich die Psychopathologie auch der Möglichkeit, psychopathologische Erlebnisformen als Abwandlungen der normalen Konstitution von Welt und Selbst zu untersuchen und zu begreifen. Es entsteht gewissermaßen eine Nacht, in der alle Katzen gleich grau sind bzw. gleich wenig sehen. 3. Schließlich mündet ein neurokonstruktivistischer Standpunkt in der Konsequenz in eine Reifizierung und Isolation des Psychischen und damit der psychischen Erkrankung: Die psychopathologischen Phänomene werden als Produktion des Gehirns betrachtet und damit von den lebensweltlichen und biographischen Zusammenhängen isoliert, in denen sie entstehen und aufrecht erhalten werden.
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Erwin Straus In Erwin Straus begegnen wir einem Phänomenologen und Psychopathologen, der der Trennung von Wahrnehmung und Wirklichkeit in zahlreichen Schriften eine grundlegend andersartige Konzeption entgegengesetzt hat, die er auch als Ästhesiologie bezeichnet: Die Konzeption einer Wahrnehmung, die uns als leiblichen oder verkörperten Wesen zukommt, und die uns als Angehörige einer gemeinsamen Lebenswelt miteinander verbindet. Diese Konzeption werde ich in Grundzügen nachzeichnen, um dann einige Bezüge zur Psychopathologie herzustellen. Zunächst seien jedoch die wichtigsten Stationen der Lebensgeschichte von Erwin Straus dargestellt.
Zur Biographie Erwin Walter Maximilian Straus wurde am 11. Oktober 1891 in Frankfurt am Main als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte Medizin in Berlin, Zürich, München und Göttingen, hörte Bleuler, C. G. Jung, Kraepelin, aber auch Carl Stumpf, Benno Erdmann, Theodor Lipps, Moritz Geiger und Adolf Reinach. 1914 wurde er noch vor Ende seines Studiums als Truppenarzt im 1. Weltkrieg eingezogen, erhielt 1917 seine ärztliche Approbation und wurde 1918 verwundet. Er begann 1919 als Volontär bei Karl Bonhoeffer an der Nervenklinik der Charité, promovierte im gleichen Jahr zur »Pathogenese des chronischen Morphinismus«. 1920 heiratete er die Konzertgeigerin Gertrud Lukaschik, die Ehe blieb kinderlos. 1921 ließ sich Straus mit einer eigenen nervenärztlichen Praxis in Charlottenburg nieder, blieb aber weiterhin als Assistent von Richard Cassirer klinisch tätig und beschäftigte sich mit neurologischen Patienten in dessen Poliklinik. 1927 wurde er aufgrund seiner »Untersuchungen über die postchoreatischen Motilitätsstörungen« habilitiert, 1931 zum Extraordinarius für Psychiatrie ernannt. Mit Zutt, Mayer-Gross und Hansen gründete er 1928 die Zeitschrift »Der Nervenarzt«. Mit Ludwig Binswanger begann ein lebenslanger intensiver Austausch sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in privater Freundschaft. 1936 wurde Erwin Straus im Rahmen des Ausschlusses jüdischer Ärzte und Wissenschaftler von der Berliner Charité die Lehrbefugnis entzogen. Vermittlungen einer Professur im Ausland durch 141 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Bonhoeffer und Binswanger scheiterten. Straus emigrierte im Frühjahr 1938 in die USA, wo er eine Stelle als Professor für Psychologie am Black Mountain College in North Carolina erhielt. 1945 ging er für ein Jahr mit einem Forschungsstipendium an die Johns Hopkins Universität nach Baltimore. Er legte dort sein amerikanisches Examen in Medizin ab. Anschließend nahm er 1946 eine Stelle als Ärztlicher Direktor am Veterans Administration Hospital in Lexington, Kentucky an. 1951 lehnte er einen Ruf auf den Münchner Lehrstuhl für Psychiatrie ab. 1961 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität von Kentucky, 1971 die der Universität Transylvania in Kentucky, und 1961 die der Philosophischen Fakultät in Würzburg. 1961 übernahm Straus für ein Jahr eine Gastprofessur am philosophischen Lehrstuhl von Würzburg. 1963 bis 1974 organisierte er in Lexington fünf internationale Kongresse zur angewandten Phänomenologie, Referenten waren z. B. Paul Ricoeur, Helmuth Plessner und Viktor Frankl. 1971 wurde Erwin Straus das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Am 20. Mai 1975 starb Erwin Straus im Alter von 83 Jahren in Lexington.
Straus’ Kritik des entkörperten Bewusstseins »Im alltäglichen Vollzug des sinnlichen Erlebens« – so schreibt Straus in einem zentralen Aufsatz über Ästhesiologie – »ist unser Interesse beim Gegenstand, der Welt, dem Anderen, uns kümmert das Gesehene, nicht das Sehen des Gesehenen, das Gehörte, nicht das Hören des Gehörten« (Straus 1960a, 236). 2 Primär haben wir unsere Sinne nicht, um die Welt aus der Distanz zu erkennen, sondern um mit ihr in Beziehung zu treten: Im Sehen kommt mir der Gegenstand zur Sicht, er selbst, nicht sein Bild […]. Dieses Hinausreichen über sich selbst und Hingelangen zu dem Anderen, das dabei als das Andere sich zeigt, ist das Grundphänomen des sinnlichen Erlebens, eine Beziehung, die sich auf keine andere uns in der physischen Welt vertraute zurückführen lässt (Ä 243).
Die Ästhesiologie in ihrer Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen, im Folgenden »Ä« zitiert.
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Die Ästhesiologie von Erwin Straus
Straus gebraucht für das Andere den griechischen Begriff des Allon, um auszudrücken, dass es um eine Beziehung zu einem realen Gegenüber geht, nicht um eine Abbildung innerhalb des Bewusstseins. Doch im Gefolge der naturwissenschaftlichen Kritik der Sinneserfahrung wird das Subjekt zu einem welt- und leiblosen, extramundanen Bewusstsein, das im Gehirn nur noch Bilder der Außenwelt empfängt. »Der Ausgangspunkt ist immer der Gleiche, es ist die Annahme, dass Erleben ein Bewußtsein von Sinnesdaten, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen sei. Das Bewußtsein mit allen seinen Inhalten ist mit sich selbst allein, von der Welt abgeschnitten« (Ä 239 f.). Der Beziehung von Ich und Anderem wird dann »die Beziehung Innen-Außen untergeschoben« (Ä 245). Einmal im Inneren des Gehirns und des Bewusstseins gefangen, muss die Sinnesphysiologie ihre Zuflucht daher zu Hilfsvorstellungen wie der Projektionstheorie nehmen, um das unbestreitbare Erlebnis der »Außenwelt« zu erklären: Das im Gehirn entstandene Bild des Baumes soll vom Bewusstsein an den Herkunftsort des Lichtreizes projiziert und nur illusionär dort wahrgenommen werden. Wie Straus in seiner Kritik zeigt, kommt es dabei zu einer absurden Verdoppelung der Wahrnehmung: Da das Wahrgenommene ja im Bewusstsein bleiben soll und nicht vollständig hinausverlagert wird – ich fahre ja fort, es wahrzunehmen – wäre es jetzt innen und außen zugleich (Straus 1956, 171 ff.). 3 Anderenfalls müsste sich mein Bewusstsein räumlich bis zum Baum ausbreiten; dann aber fehlte das Erleben des »Gegenüber«, das wir im Wahrnehmen des Baumes haben. Eine Projektion »nach außen« kann es also gar nicht geben, wenn diese Außenwelt doch voraussetzungsgemäß eine vom Gehirn konstruierte Innerlichkeit sein soll. Die Projektionstheorie beruht offensichtlich auf zwei Voraussetzungen, die bereits in die Irre führen: (1) Es gebe so etwas wie einen Bewusstseinsraum, in dem sich Wahrnehmungen »befinden«; (2) dieser Bewusstseinsraum wäre seinerseits »im Gehirn« zu lokalisieren. Auf dieser Basis lässt sich niemals die einfache Tatsache erklären, dass ich hier einen Baum dort sehe und mich auf ihn zubewegen oder ihn berühren kann. Der Sehakt, in dem ich einen Baum wahrnehme, ist nicht ein in meinem Bewusstsein hervorgerufenes Bild, sondern »mein Sehen des Baumes«, also ein Beziehungnehmen des Subjekts zum Gegenstand. »Die Sinneswahrnehmung hat eine polare 3
Vom Sinn der Sinne, im Folgenden »SS« zitiert.
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Struktur: sie umfasst meinen eigenen Akt des Sehens und die gesehenen Dinge. […] In der Sinneserfahrung erlebe ich mich als verkörpert in der Beziehung zu den Dingen, und nicht das eine ohne das andere« (Straus 1969, 227 f.; Übers. v. Verf.). Im sinnlichen Erleben trennt mich keine Grenze zweier Welten, kein Abgrund zwischen Innen und Außen vom Gegenstand; es ist ein und dieselbe Welt, die ihn und mich umfasst. Mit anderen Worten: Wahrnehmend koexistiere ich mit den Dingen. Darin eingeschlossen ist wesentlich die Möglichkeit der Bewegung, also die Freiheit, sich zum Wahrgenommenen zu verhalten – sich ihm zu nähern, es zu berühren, zu ergreifen usw. Wahrnehmung, ja Bewusstsein generell, ist »das natürliche Privileg beweglicher Wesen« (Straus 1963, 957). 4 Als beweglicher, sich bewegender Leib ist der Mensch von der Welt nicht getrennt, denn sein Leib ist zugleich Subjekt und Ding-in-der-Welt, er lässt sich nicht diesseits oder jenseits der Scheidelinie von Innen und Außen ansiedeln. Nach der dualistischen Konzeption freilich soll die Wahrnehmung allein dem Bewusstsein angehören, die Bewegung der res extensa. Das Erleben wird »als ein Binnen-Vorgang, der innerhalb des Organismus abläuft, verstanden« (Ä 247). Dazu deutet Descartes die lebendige Selbstbewegung in Reflexmechanismen um. Doch in bloßen Reflexen bewegt sich ein Lebewesen nicht selbst auf ein Ziel zu, ebenso wenig wie ein Torpedo das Schiff sucht, auf das er programmiert ist. In lebendiger Bewegung beweglich aber sind wir nur in unserem Verhältnis zum Anderen, d. h. nur als erlebende Wesen. […] Im Grund-Verhältnis zum Anderen durchdringen sich Räumlichkeit und Beweglichkeit so, daß eine reinliche Aufteilung nach dem räumlichen Schema afferent-efferent nicht vollziehbar ist (Ä 247).
Die Ästhesiologie ist für Straus also nicht trennbar von der Kinesiologie. »Nur ein bewegliches Wesen […] kann das Sichtbare in seiner Gegenständlichkeit erfassen« (PG 947). Blicken wir unter dieser Voraussetzung noch einmal auf die vermeintliche Condition humaine zurück. Hat Magritte Recht, und sehen wir in Wahrheit nur Bilder? Natürlich könnten wir im Zweifelsfall leicht feststellen, ob es sich jenseits des Fensters, in der sogenannten »Außenwelt«, tatsächlich um Wiesen und Bäume handelt oder um eine Filmstaffage: Wir würden einfach hinausgehen und es mit unseren Sinnen und Bewegun4
Philosophische Grundlagen der Psychiatrie, im Folgenden »PG« zitiert.
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gen überprüfen. Schon der Anblick des Fensters schließt die Möglichkeit ein, sich auch dorthin zu bewegen. Die Wahrnehmung räumlicher Tiefe entsteht nur in Verbindung mit dem Vermögen, sie auch zu durchmessen. »Ferne, Abstand, Richtung kann es nur für bewegliche […] Geschöpfe geben« (PG 966). Die idealistische Konzeption der Wahrnehmung vergisst, dass wir leibliche Wesen oder verkörperte Subjekte sind, nicht reine Bewusstseinsmonaden. Die Verkörperung kommt nicht zur Wahrnehmung noch äußerlich hinzu, sondern sie wohnt ihr inne: Wir müssen schon leiblich in der Welt sein, mit ihr in Beziehung stehen, damit wir überhaupt etwas wahrnehmen können. Es gibt daher keine »Außenwelt« zu einem körperlosen Subjekt, wie Magrittes Bild suggeriert. »Im sinnlichen Erleben«, so Straus, »trennt uns kein Rahmen von dem Gegenstand; es ist ein und dieselbe Welt, die uns und das Andere umfasst« (Ä 246). Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu, wenn wir die Wahrnehmung als Beziehung zu den Dingen selbst begreifen wollen, nämlich die ihr inhärente Möglichkeit gemeinsamer Erfahrung, also die intersubjektive Dimension. Straus wählt dazu das alltägliche Beispiel einer Situation beim Einkaufen: Käufer und Verkäufer tauschen Ware und Geld miteinander. Dabei werden sie […] schwerlich auf den Gedanken verfallen, dass ihr Gegenüber einer andern Welt, einer Außenwelt angehöre, in der sie sich nach außen versetzte Empfindungen wechselseitig zureichen. Käufer und Verkäufer handeln in der Gewissheit, daß sie, jeder für sich, und doch zusammen, dieselben Gegenstände sehen, ergreifen, sich aushändigen können. […] Im Wechsel der Besitzer bleibt der Gegenstand derselbe. Reize und Empfindungen können wir nicht gemeinsam haben, sie können nicht von Hand zu Hand übergehen; wohl aber kann es der Gegenstand, den ich als das Andere, von mir Verschiedene, trennbar und beweglich, erlebe. Zusammen sehen wir denselben Gegenstand. Das Miteinander-sein und Miteinandersein-können wird im Alltag als elementares Faktum hingenommen (Ä 253 f.).
Wahrnehmen bezieht sich also immer auf Objekte, die von anderen grundsätzlich ebenso wahrgenommen werden können; und in diesem mitvollzogenen Blick der anderen konstituiert die Wahrnehmung den wirklichen Gegenstand, nämlich als Gegenstand der zumindest implizit gemeinsam wahrgenommenen Realität. »Wir begegnen uns in der Welt, nicht in meiner Welt« (PG 948). Diese Selbstverständlichkeiten oder »Axiome des Alltags«, wie Straus sie nennt, ersetzt die Wissenschaft durch die Konstruktion
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einer physikalischen Außenwelt und einer dazu komplementären Bewusstseinsinnenwelt. Die Lebenswelt aber ist keine Außenwelt: Da sich das Sichtbare uns gemeinsam zeigt, kann es nicht identisch sein mit Reizen, afferenten Impulsen, corticalen Erregungen. Solche Vorgänge laufen in einem Organismus allein ab. Sie könnten nicht zur Deckung gebracht werden, selbst wenn es so etwas wie eine Außenprojektion von Sinnesdaten gäbe. Die Projektionen meines Nachbarn sind mir nicht zugängig, schon darum nicht, weil ja der Theorie zufolge, mein Nachbar für mich nur als meine Projektion existierte (PG 948).
»An Reizen können wir nicht participieren; die sichtbaren Gegenstände aber haben wir gemeinsam« (PG 980). Diese lebensweltliche Gemeinsamkeit der objektgerichteten Intentionalität ist nicht hintergehbar; sie liegt umgekehrt aller Wissenschaft zugrunde. »Der naive Realismus wird mit jeder Generation, so scheint es, wiedergeboren. Die Zahl seiner Anhänger übertrifft bei weitem die aller anderen philosophischen Schulen und das ohne allen Aufwand an Unterweisung und Werbung« (PG 952). Die Ko-Intentionalität oder gemeinsame Bezogenheit auf die Welt konstituiert ihrerseits das intersubjektive Verhältnis: »Um den Anderen zu verstehen, um mich mit ihm zu verstehen, bedarf es eines Dritten, auf das wir uns gemeinsam richten können. Wir verständigen uns mit dem Anderen über etwas« (Ä 254). Käufer und Verkäufer müssen sich nicht als fremde Iche erst gegenseitig erkennen, denn sie sind als kooperierende Wesen immer schon Teilnehmer einer Lebenswelt, in der das Tun und die Äußerungen des Anderen aus der gemeinsamen Situation heraus verständlich werden. Die Grundform der Kommunikation ist die gemeinsame Praxis, die »synkinetische Beziehung« (PG 968), in der wir uns zu einem Gegenstand verhalten im Bewusstsein, dass auch der andere dies tut – so wie sich die Intersubjektivität im Übergang vom ersten zum zweiten Lebensjahr in Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit von Kind und Erwachsenem auf Objekte entfaltet (joint attention, Tomasello 2002). Nur in pathologischen Fällen, nämlich in der Psychose, bricht diese Möglichkeit des gleichgerichteten Verstehens zusammen (s. u.).
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Gnostische und pathische Wahrnehmung Doch bevor wir uns der Psychopathologie zuwenden, bleibt noch eine Polarität innerhalb der Wahrnehmung zu erörtern, die Straus hervorhebt. Er unterscheidet an ihr ein gnostisches (»erkennendes«) und ein pathisches (»erleidendes«) Moment, die beide an jeder Sinneswahrnehmung in unterschiedlichem Verhältnis beteiligt sind. Das eine hebt das Was des Gegebenen hervor, das andere das Wie des Gegebenseins; das eine ist gegenständliches Wahrnehmen, das andere eher zuständliches Empfinden (Straus 1960b, 151). Bei den entwicklungsgeschichtlich früheren Oralsinnen (Geruch, Geschmack) herrscht das pathische Moment vor, bei den Fernsinnen (Hören, Sehen) das gnostische oder Wahrnehmungsmoment. Der Tastsinn steht am ehesten in der Mitte dieser Polarität, da er Selbst- und Fremdempfindung beinhaltet (Straus 1930, 48). Eine rein gnostische Wahrnehmung allerdings kann es nicht geben, denn das Subjekt steht immer in einer empfundenen, leiblichen Beziehung zum Sinnesgegenstand. Selbst das Sehen von Farben ist z. B. aufgrund synästhetischer Mitempfindungen – der Wärme des Rot, der Kühle von Blau usw. – mehr als die »bloße« Farbwahrnehmung; bei entsprechender Einstellung kann sie einen durchaus leibnahen Charakter annehmen. Das Sich-Weiten und Sich-Dehnen beim versunkenen Anblick einer blauen Fläche oder beim Hören eines tiefen Tones ist ein leiblicher Zustand, in dem nicht nur die Gegenstände ihre scharfen Grenzen verlieren, sondern auch die Grenzen des Ich zur Welt verschwimmen. »Ob die Welt in scharf konturierter Gegenständlichkeit uns ferner rückt, oder ob sie mit einer Auflockerung der Grenzen uns näher rückt […], beides, die präzisierte wie die verschwommene Gegenständlichkeit, sind Abwandlungen der Kommunikation«, oder der Wahrnehmung des Allon (SS 218 f.). Das pathische Moment bedingt also den leibgebundenen Charakter jeder Sinnesempfindung. In der gnostisch vergegenständlichenden Wahrnehmung hingegen löst sich das Subjekt aus der Unmittelbarkeit der Empfindung. »Eine einfache Wahrnehmung, ausdrückbar in dem Satz ›Das hier ist eine Eiche‹, stellt fest und hebt heraus« (SS 348). In dieser »Feststellung« wird der fortwährende Strom des Empfindens unterbrochen, begeben wir uns aus der Einmaligkeit des gelebten Augenblicks in die Wiederholbarkeit und Allgemeinheit des Erkennens. Den gleichen Übergang vollzieht der Arzt, 147 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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wenn er den Kranken untersucht und damit seinen Leib als gegenständlichen Körper auffasst, um diagnostische Erkenntnisse zu gewinnen. Erkenntnis ist also ein Weltverhältnis, das im gegenständlichen, gnostischen Pol der Wahrnehmung bereits angelegt ist. Aus der Einheit beider Momente in der Wahrnehmung resultiert nun die dialektische Beziehung zur Welt: »ein Zusammen im Gegenüber, oder ein Verbundensein im Getrenntsein« (PG 952). Wahrnehmend erfassen wir das Allon als das Andere, aber zugleich doch in seinem Verhältnis zu uns selbst und uns in Beziehung zu ihm. Die sinnliche Erfahrung ist, wie schon gesagt, bipolarer Natur, aber nicht nur als Beziehung von Wahrnehmendem und Anderem, sondern auch als Polarität des Pathischen und des Gnostischen in dieser Beziehung.
Landschaftlicher und geographischer Raum Dem pathischen und dem gnostischen Weltverhältnis entsprechen unterschiedliche Räumlichkeiten des Erlebens, die Straus als »landschaftlichen« und »geographischen« Raum bezeichnet (SS 335 ff.). Die Landschaft meint das unmittelbar Erlebte: Sie ist auf mich und meinen Leib zentriert, in Nähe, Ferne und zentrifugale Richtungen gegliedert, vom Horizont umschlossen und erfüllt von Verweisungen, Anmutungen, Physiognomien. Das pathische Empfinden ist an die aktuelle Beziehung des Leibes zu den Eindrücken gebunden; es »hört nie auf, perspektivisches Dasein zu sein. Der Empfindende gewinnt keinen Standpunkt außerhalb der Erscheinungswelt« (SS 207 f.). Diese ursprüngliche, perspektivisch-subjektive Räumlichkeit wird nun aufgehoben durch den geographischen Raum aperspektivischer, objektivierender Erkenntnis: Will ich erkennen, will ich zu den Dingen gelangen, wie sie an sich sind, so muß ich diese perspektivische Bindung durchbrechen. Ich muß Distanz zu mir gewinnen, das Jetzt auflösen, mir selbst in einer allgemeinen Ordnung identifizierbar werden, also gleichsam aus der Mitte, in die ich beim Empfinden gestellt bin, heraustreten, mir selbst fremd werden (SS 331).
Der geographische Raum abstrahiert vom leiblichen Zentrum; es bildet in ihm nur noch eine Position unter vielen. 5 In ihm lösen wir uns 5
Man könnte hier an Nagels »view from nowhere« denken (Nagel 1992).
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von der unmittelbaren Beziehung zum Empfundenen und erkennen es unter einem allgemeinen, d. h. allen anderen zugänglichen Aspekt. Doch diese Objektivierung ist nicht etwa nur ein Akt reflektierender Erkenntnis, sondern sie geht als gnostisches Moment in die Wahrnehmung selbst ein und wird ihr inhärent. Nur deshalb können wir Dinge als solche wahrnehmen, uns in gemeinsamer Praxis mit anderen über sie verständigen und so an der gemeinsamen Welt teilhaben.
Psychopathologie der Wahrnehmung Nun haben wir die begrifflichen Voraussetzungen, um die Pathologien der Wahrnehmung aus ihrer inhärenten Struktur ableiten zu können. Dabei erweist sich die Beziehung zur Welt, zum Allon, in unterschiedlicher, und zwar wiederum polarer Weise als verändert oder verzerrt. In den Worten von Straus: Die Grenzen zum Allon sind verschieblich zwischen den Polen der Vertrautheit und Fremdheit, des Zugehörens und der Distanz, des Ergreifens und Ergriffenwerdens, des Bemächtigens und Überwältigt-werdens. Solche Grenzverschiebungen werden im extremen pathologischen Fall als Entrückung oder Entfremdung, Erleuchtung oder Beeinflussung erfahren (PG 963).
Wir können dabei zwei Extreme unterscheiden, die jeweils auf einer Entkoppelung des pathischen und des gnostischen Moments der Wahrnehmung beruhen. Geht auf der einen Seite das pathische oder sympathetische Moment verloren, so bleibt ein reines Registrieren, ein Wahrnehmen ohne Kommunikation übrig, das als quälende Fremdheit und Unwirklichkeit erlebt wird – also das, was wir auch als Derealisation oder Depersonalisation bezeichnen. Sie entsteht nach Straus durch einen Verlust der sympathetischen Kommunikation mit der Welt. Für den Depersonalisierten ist etwa das Rot nur noch »rote Fläche«, es ermangelt der Wärme und spricht ihn nicht mehr an. Ohne das Moment der Mitempfindung erscheint das Wahrgenommene leer, tot und wesenlos. 6 Ist auf der anderen Seite das gnostische, objektivierende Moment der Wahrnehmung beeinträchEine Sinnesphysiologie, die den Organismus nur als Rezeptor von Reizen auffasst, kann hier freilich keinerlei Veränderung der Sinnesfunktionen, der Verhältnisse von Reiz, Rezeptor und Erregung feststellen; sie hat keinen Begriff vom »Beziehungnehmen« im Wahrnehmen (SS 225).
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tigt, so resultiert eine Subjektivierung des Erlebens, ein Überwiegen des Pathischen, Ausdruckshaften und Aufdringlichen. Man denke an das scheinbare Näherrücken bedrohlicher Gegenstände bei den Raumängsten, an das Hervortreten von Ausdruckscharakteren im Meskalinrausch 7 oder natürlich an die vielfältigen physiognomischen Phänomene in der Psychose, etwa die fratzenhaft verzerrten Gesichter oder die eindringlichen, durchbohrenden Blicke, denen sich schizophrene Patienten ausgesetzt fühlen. In jeder Beziehung zum Allon, so Straus, ist die Möglichkeit der Beeinflussung, Überwältigung oder Verfolgung im Keim schon angelegt; sie wird verhindert durch den Abstand, den die gnostische Wahrnehmung erzeugt. »Misslingt die Distanzierung, dann sind wir dem Allon ausgeliefert, wir erfahren seine Macht physiognomisch als wachsende Bedrohung« (PG 989). Im Meskalinrausch oder in der Psychose versagt die gnostisch-feststellende Distanzierung, und die Ausdruckscharaktere der Umwelt treten hervor. Das Andere wird nun zum […] Reich des Feindlichen, in dem der Kranke sich ganz allein und ganz wehrlos findet, ausgeliefert an eine Macht, die ihn von überall her bedroht. Die Stimmen zielen auf ihn, sie haben ihn von allen ausgesondert und abgesondert. Er ist gewiss, dass sie ihn und keinen Anderen meinen, er wundert sich nicht, dass sein Nachbar nichts zu hören vermag (Ä 266 f.).
»In dieser Welt gibt es keine Gemeinschaft, gibt es keine diskursive Erläuterung« (Ä 267). Intersubjektive Verständigung erfordert »die Möglichkeit, sich von dem Eindruck zu lösen, auf sich selbst zu reflektieren, sich in eine allgemeine Ordnung zu stellen, in der die Plätze vertauschbar sind« (ebd.). Mit der Verselbständigung des pathischen Moments ist die Möglichkeit des Perspektivenwechsels und damit die Intersubjektivität der Wahrnehmung aufgehoben. Im normalen Erleben lassen sich pathisches und gnostisches Moment der Wahrnehmung nicht voneinander trennen. Der Tisch wird empfunden, seine Farbe und Gestalt leiblich miterlebt; aber er wird zugleich als Tisch wahrgenommen, in der allgemeinen Bedeutung, die ihm zukommt und die wir von anderen erlernt haben. Der common sense, der Gemeinsinn, geht als praktische Bedeutsamkeit in die »Ich lege mich aufs Sofa und betrachte die gegenüberliegende Zimmerwand. Die Rißlinien in den Farben erscheinen mir als tiefe, fast beängstigende Risse.« – »Die Baumkronen sind flammig wie erstarrtes Feuer« (Beringer 1927, 40 f.; vgl. auch Huxley 1970).
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spezifischen Sinne mit ein. So wird es möglich, dass die Wahrnehmung sich durch ihren nur subjektiven oder pathischen Aspekt hindurch auf die Gegenstände selbst richtet. Wird das gnostisch-intersubjektive Moment jedoch geschwächt oder gestört, dann kann die Wahrnehmung nicht mehr den Gegenstand als solchen präsentieren, sondern nur noch seinen Eindruck, seine subjektive Erscheinung. Es fehlt ihm gleichsam die Festigkeit des Objekts, der Charakter des Allon oder der Wirklichkeit. Damit verwandelt sich die Umgebung in eine unheimliche Ansammlung von unwirklichen, scheinhaften und kulissenhaft aufgestellten Dingen mit fragwürdiger Bedeutung. Diese Unheimlichkeit ist das Charakteristikum der schizophrenen Wahnstimmung zu Beginn der akuten Psychose: […] wo man auch hinguckt, sieht alles schon so unwirklich aus […] irgendwie ist plötzlich alles für mich da, für mich gestellt. Alles um einen bezieht sich plötzlich auf einen selber. Man steht im Mittelpunkt einer Handlung wie unter Kulissen (Klosterkötter 1988, 69). Es kam mir immer unwirklicher vor, wie ein fremdes Land […] Dann kam also die Idee, das ist doch gar nicht mehr deine alte Umgebung […] es könnte ja gar nicht mehr unser Haus sein. Irgendjemand könnte mir das als Kulisse einstellen. Eine Kulisse, oder man könnte mir ein Fernsehspiel einspielen. […] Dann hab ich die Wände abgetastet […] Ich habe geprüft, ob das wirklich eine Fläche ist (ebd., 64 f.).
Die Patienten sind nun tatsächlich in der Lage, von der Magritte glaubte, sie sei die condition humaine: Statt die Gegenstände als solche zu erfassen, präsentiert die Wahrnehmung in der Wahnstimmung nur noch Bilder, Nachbildungen oder Attrappen von Dingen (Fuchs 2005). Denn der Schizophrene nimmt gewissermaßen seine eigenen Wahrnehmungen wahr, er dringt nicht mehr durch zu den Dingen selbst. Manche Patienten beschreiben dies regelrecht so, als sähen sie selbst wie durch eine Filmkamera oder einen Monitor: Ich merke, wie meine Augen die Dinge sehen (Stanghellini 2004, 113; Übers. v. Verf.). Ich sah alles wie durch eine Filmkamera (Sass 1992, 132; Übers. v. Verf.). Es war, wie wenn meine Augen Kameras wären […] als wäre mein Kopf riesengroß, so groß wie das Universum, und ich war ganz hinten und die Kameras vorne (De Haan & Fuchs 2010, 329 f.).
Die Patienten nehmen nicht mehr wahr im aktiven, gnostischen Sinn, sondern sie sind umgeben von rätselhaften Bildern, die, gleich den 151 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Traumbildern für den Träumenden, alle auf sie selbst gerichtet scheinen. Unfähig, das Wahrgenommene in seiner intersubjektiv konstituierten Bedeutsamkeit zu erkennen, verstricken sich die Kranken in selbstbezügliche Bedeutungen. Sie werden buchstäblich zu Zuschauern einer Vorführung, die ihre Sinne ihnen geben, ohne zu wissen, welche Rolle sie in diesem Theater zu spielen haben. Psychotisch Erkrankten gelingt es, in Straus’ Worten, also nicht mehr, ihre Erlebnisse in einen allgemeinen, geographischen Raum einzuordnen. Wenn etwa eine Kranke berichtet, daß sie auf dem Markt den Blick einer Person, von der sie sich verfolgt glaubt, bemerkt hat, ohne angeben zu können, wo jene gestanden hat […] dann haben solche Erlebnisse mit dem diskursiven, konstruierbaren, geographischen Raum überhaupt nichts mehr zu tun. […] Ihr »In-der-Welt-Sein« ist so abgewandelt, daß ein Übergang von den Raumformen des psychotischen Erlebens zu dem geographischen Raum nicht mehr vollzogen werden kann, ebensowenig ein Rückgang von dem geographischen Raum zu den räumlichen Verhältnissen, in denen sich das krankhafte Erleben abspielt. […] Es ist charakteristisch, daß in solchen Fällen des krankhaften Betroffenseins die Halluzinationen in Sinnessphären auftreten, für die normalerweise das pathische Moment des Ergriffenwerdens wesentlich ist (SS 381 f.).
Anstelle der intersubjektiv geteilten Bedeutungen der Dinge und Situationen tauchen nun idiosynkratische, physiognomische, oft leibnahe Ausdruckscharaktere auf. Eine alltägliche Situation – ein zum Essen gedeckter Tisch – kann so auf einmal eine abgründige Bedeutsamkeit annehmen. Der Geruch der Suppe mag den Patienten sonderbar, ja vergiftet anmuten. Die weiße Farbe der Suppenschüssel erinnert an Unschuld und Reinheit. Andererseits könnte das Essen auch vorbereitet sein, um ihn dabei zu opfern und zu töten. Der gedeckte Tisch bedeutet in Wahrheit ein geheimes Ritual; und die gedrehten Tischbeine besagen, dass er gefoltert werden soll. Wenn ein Kranker also eine Speise zurückweist, weil darin Gift enthalten sei, dann hat er erlebt, wie die Speise ihm giftig anmutete, giftig schmeckte. Er ist mit seinen Wahrnehmungen oder Halluzinationen eingeschlossen im landschaftlichen Raum. Normalerweise ordnen wir unsere private, landschaftliche Welt in die allgemeine Welt ein, wir erkennen ihre allgemeinen Bedeutungen. Doch das entkoppelte pathetische Erleben liegt vor dem skeptischen Zweifel, vor dem Widerspruch und der Möglichkeit der Begründung. »Weil Wirklichkeit für den Halluzinanten nicht objektive Realität bedeutet […], sondern die subjektive Realität des sympathetischen Betroffenseins, darum 152 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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nimmt auch der besonnene Kranke keinen Anstoß an der Unstimmigkeit seiner Erlebnisse mit der allgemeinen Erfahrung« (SS 379). Im Wahn beschreiben die Patienten ihre subjektive Landschaft zwar gewissermaßen noch in den Begriffen der Geographie, mit den Worten der gemeinsamen Sprache, die ihnen zur Verfügung stehen. Und doch durchbrechen sie damit nicht den Horizont, sie bleiben in der Landschaft. Die Dinge, welche die Kranken mit uns vertrauten Namen nennen, sind doch nicht mehr dieselben Dinge. […] Nur Bruchstücke haben die Kranken aus jener Welt gerettet und in ihre landschaftliche Welt hineingezogen. Auch die Bruchstücke bleiben nicht das, was sie als Teile des Ganzen gewesen sind. Sie verlieren ihre Geschmeidigkeit, die Fülle möglicher Beziehungen; sie unterliegen einem dem Wahnhaften entgegenkommenden und förderlichen Prozess der Erstarrung. Schreitet die Erkrankung weiter, dann deutet die Zerfahrenheit der Gedanken, der völlige Verfall der Sprache auf den fortschreitenden Verlust des geographischen Raumes, die affektive Abstumpfung auf die Verödung der Landschaft (SS 384).
Resümee Unsere wahrnehmende Beziehung zur Welt, zum Allon, ist polarer Natur. In den Begriffen von Erwin Straus stehen ein intentionales, gnostisches und ein pathisches, leibliches oder empfindendes Moment einander gegenüber. Beide Momente wirken bis zu einem gewissen Grad antagonistisch und vermögen einander zu balancieren. Das gnostische Moment drängt die Ausdrucksqualitäten, die aufdringlichen Physiognomien der Dinge zurück und bringt den Gegenstand als solchen zur Wahrnehmung. Das pathische Moment hält uns andererseits mit den expressiven und affektiven Qualitäten der Welt in Kontakt und verhindert, dass wir in der objektivierenden Wahrnehmung der Wirklichkeit entfremdet werden. Mit der Schwächung oder Destruktion der aktiven, intentionalen oder gnostischen Wahrnehmung droht eine Überflutung des Subjekts durch die Physiognomien und Intensitäten des Begegnenden. In der beginnenden Psychose resultiert die Störung der gnostischen Wahrnehmung zudem in einem Verlust der intersubjektiv geteilten Bedeutungen der Umwelt, in einer Entfremdung von der vertrauten Ordnung der Dinge. Der Kranke nimmt die Gegenstände und Situationen nicht mehr als solche wahr, sondern als bloße Erscheinungen, Bilder 153 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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oder Kulissen. Sie verlieren ihre common-sense-Bedeutungen und verwandeln sich in rätselhafte Inszenierungen, die für ihn aufgestellt und gemacht erscheinen. Das gnostische Moment der Wahrnehmung verliert seine Kraft, und die Entkoppelung des Pathischen setzt nun ihrerseits neue, idiosynkratische und selbstbezügliche Bedeutungen frei; das Wahrgenommene erhält eine überwältigende, physiognomische Macht. Blicken wir zurück auf die gängige Interpretation der Wahrnehmung und auf Magrittes Bild, so können wir unschwer erkennen, dass die vermeintliche conditio humana in Wahrheit eine Form der Pathologie darstellt, auch wenn diese Pathologie in der polaren Struktur der Wahrnehmung als Möglichkeit angelegt ist. In der Psychose gelangt der Patient nicht mehr zum gemeinsamen Gegenstand, zum Allon als realem Gegenüber, sondern er bleibt eingeschlossen in eine subjektivierte, solipsistische Wahrnehmung. Er wird zum Gefangenen von Bildern, die sich ihm präsentieren, anstatt in ihnen die gemeinsame Welt erblicken zu können. Die intersubjektive, lebensweltliche Konstitution der Wirklichkeit wird zumindest partiell ersetzt durch idiosynkratische Erlebnisse und Bedeutungen. An die Stelle des koinós kósmos, der gemeinsamen Welt, tritt der ídios kósmos, die selbstbezügliche, egozentristische Welt der Psychose. Der Neurokonstruktivismus beschreibt somit einen Solipsismus intern generierter Vorstellungen, der seine phänomenale Realisierung nicht in der lebensweltlichen, sondern eher in der psychotisch verzerrten Wahrnehmung findet. Demgegenüber vermittelt die Ästhesiologie von Erwin Straus eine Sicht der Wahrnehmung als Beziehung eines verkörperten, empfindenden und sich bewegenden Subjekts zur Welt; sie ist für uns von ungeminderter Aktualität.
Literatur Siglen: Ä SS PG
= Die Ästhesiologie in ihrer Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen (Straus 1960a) = Vom Sinn der Sinne (Straus 1956) = Philosophische Grundlagen der Psychiatrie (Straus 1963)
Beringer, K. (1927). Der Mescalinrausch. Seine Geschichte und Erscheinungsweise. Berlin: Springer.
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Flexible Umwelt-Beziehungen Epistemologische Kritik und phänomenologische Anthropologie in Erwin Straus’ Vom Sinn der Sinne Benjamin Bühler
In seiner ausführlichen Besprechung des von Erwin Straus 1935 erstmals publizierten Buches Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie spricht Ludwig Binswanger, bevor er ausführlich auf das Buch eingeht, von der Erfüllung eines »neuen Wissenschaftsideals«, das das 20. vom 19. Jahrhundert trenne und sich vor allem durch zwei Aspekte auszeichne: Das neue Exaktheitsideal sei die »Respektierung der Phänomene«, und die neue Methode die Phänomenologie, die dem Experiment skeptisch gegenüberstehe, weil es die Phänomenalität einenge und den »vollen Gehalt der Situationsgegebenheit der Wirklichkeit« verfälsche (Binswanger 1936, 1). Gegenwärtig werde diese neue wissenschaftliche Richtung, deren Anfänge Binswanger schon bei Johann Wolfgang von Goethe ausmacht, vor allem in folgenden Disziplinen vertreten: in der Biologie durch F. J. J. Buytendijk und H. Plessner, in der Neurologie durch H. Jackson oder K. Goldstein, in der Psychiatrie durch E. Minkowski, E. Straus, V. E. v. Gebsattel oder F. Fischer, um nur einige Beispiele zu nennen. Dazu zählt Binswanger natürlich auch seine eigenen Arbeiten, die dem phänomenologisch-anthropologischen Verfahren verpflichtet sind. 1 Straus’ Buch liefert aber nicht einfach eine Anwendung dieses Ansatzes auf die Psychiatrie, vielmehr arbeitet er darin die von Binswanger genannten Aspekte – Respektierung der Phänomene und phänomenologische Verfahrensweise – luzide heraus. So wendet er sich zum einen gegen Iwan Pawlows Theorie des bedingten Reflexes und damit überhaupt gegen die Tradition der objektiven Psychologie, zum anderen entwickelt er eine phänomenologische Psychologie. Diese Zweiteilung seines Werkes lässt sich aber noch einmal anders fassen, denn die Kritik an Pawlow erweist sich als eine wissenschaftstheoretische Analyse der impliziten Voraussetzungen von Pawlows 1
Vgl. zu dieser Einordnung von Straus Bossong (1991) und Passie (1995).
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Theorie. Dabei geht es Straus um die Konstruktion bestimmter Entitäten, so die Betrachtung des Tiers als »biologischer Apparat«, sowie um die Art und Weise der Rezeption von Pawlows Theorie. Im zweiten Teil seines Buches entwickelt Straus eine Gegenposition, die den Organismus nicht mehr als bloßen Körper auffasst, sondern als lebenden Leib, der in eine Umwelt eingebettet ist, auf die er flexibel reagiert und in der Dinge Bedeutung haben. Im Fall seines eigenen Vorgehens reflektiert Straus seine eigenen impliziten Voraussetzungen allerdings nicht, weshalb es gilt, ihnen genauer nachzugehen. Denn erst vor diesem Hintergrund lässt sich aufzeigen, worin die wissensgeschichtliche Innovation von Straus’ phänomenologischer Psychologie liegt. Hierfür ordne ich Straus in den Kontext der philosophischen Biologie sowie in die »Denkrichtung« der philosophischen Anthropologien ein (vgl. Grene 1968; Fischer 2008). Diskursgeschichtlich lässt sich Straus aber noch einmal anders verorten, zum einen weil die Wissensfigur des »lebenden Körpers«, inklusive der Dynamik und Regulierung seiner Umwelt-Bezüge, im Zentrum seiner Überlegungen steht (Bühler 2004a; 2004b), zum anderen weil sein Werk in den Kontext einer »kybernetischen Anthropologie« gestellt werden kann (vgl. Rieger 2003, 176 f.). Dabei geht es nicht darum, sein Werk Vom Sinn der Sinne auf eine Variante kybernetischen Denkens zu reduzieren, vielmehr zielen die folgenden Ausführungen erstens auf seine philosophische und wissensgeschichtliche Kontextualisierung, zu der die metatheoretische Auseinandersetzung mit Pawlow gehört, und zweitens auf die Differenz zu einem kybernetischen Denken, die in seinem phänomenologischen Ansatz gegründet ist. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht daher zum einen Straus’ Konzeption des lebenden Körpers, zum anderen die Differenz von Tier und Mensch.
Straus vs. Pawlow: Kritik als historisch-epistemologische Analyse Straus bestreitet keineswegs die Ergebnisse Pawlows, seine Befunde lässt er nach eigenem Bekunden »in vollem Umfang« gelten, aber die »Deutung«, die Pawlow seinen Befunden gab, stellt er fundamental in Frage: »Gegen die Theorie wird sich unsere Kritik richten bei voller Anerkennung und Übernahme seiner Beobachtungen« (Straus 1935, 157 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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27). Straus’ kritisches Vorgehen lässt sich mit einer Unterscheidung des Wissenschaftshistorikers Hans-Jörg Rheinberger genauer fassen. Unter »Wissenschaftsobjekt« oder »epistemischem Ding« versteht Rheinberger den Gegenstand, um den der Forschungsprozess kreist, eine physikalische Struktur oder biologische Reaktion (Rheinberger 1992, 70). Relevant für die Forschung ist, dass dieses Objekt noch nicht bestimmt ist, denn es verkörpert das, was man noch nicht weiß. Im Gegensatz hierzu ist das »technologische Objekt« charakteristisch bestimmt, es »fasst« das Wissenschaftsobjekt im doppelten Sinn: Zum einen weil man technologische Objekte anfassen kann, zum anderen da sie das Wissenschaftsobjekt begrenzen (ebd.). Genau diesen Umwandlungsprozess vom unbestimmten Wissenschaftsobjekt zum bestimmten technologischen Objekt beschreibt Straus am Beispiel von Pawlows Experimenten, weshalb ich seine kritische Auseinandersetzung mit Pawlow als »epistemologische Kritik« bezeichne. Dabei widmet sich Straus unterschiedlichen Voraussetzungen von Pawlows Konstruktion technologischer Objekte. Ein wichtiger Faktor ist die Publikationsgeschichte von Pawlows Schriften. Denn zwar beginnt er mit seinen Forschungen im Jahr 1901 und erhält 1904 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin, doch eine deutsche Ausgabe seiner Vorträge erscheint erst 1926, eine erste systematische Darstellung zuerst 1929 auf Französisch und dann 1932 auf Deutsch (Straus 1935, 28; Pawlow 1926, 1929, 1932). Da die Versuchsanordnungen Pawlows wie auch die Versuche zur bedingten Konditionierung simpel und evident zu sein schienen, die Experimente aber mangels übersetzter Texte nicht nachvollzogen werden konnten, vollzog sich die Rezeption der Lehre Pawlows umso schneller. »Einfachheit« erschien als Kriterium für Objektivität, welche selbst erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Norm etabliert wurde (Daston & Galison 2007, 28). Besonders förderlich für die Rezeption der Theorie war aber die Person Pawlows selbst. So sei der Leser »mehr durch die persönliche Aufrichtigkeit des Autors gezwungen als durch seine Gründe überzeugt«, Pawlows Theorie für »wahr und ebenso objektiv zu halten wie seine Beobachtungen« (Straus 1935, 29). Die Konzentration auf die Person des Forschers ersetzt damit, in Verbindung mit vereinfachten Darstellungen, die Auseinandersetzung mit den Experimentalanordnungen und Voraussetzungen von Pawlows wissenschaftlichen Arbeiten. Damit ist ein grundsätzliches Dilemma moderner Wissenschaften angesprochen. Bereits 1874 beschäftigte sich der Physiker 158 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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und Physiologie Hermann von Helmholtz in seinem Aufsatz Über das Streben nach Popularisierung der Wissenschaft (1874/1971) mit dieser Problematik. Nach Helmholtz kann sich nämlich der interessierte Laie angesichts der zunehmenden Komplexität naturwissenschaftlichen Wissens kaum mehr orientieren, zumal ihn populäre Darstellungen, die nur die Kuriositäten herausstellen, auf die falsche Bahn bringen und erst recht nicht in die Denk- und Verfahrensweisen der Wissenschaft einführen (ebd., 370). Daher muss der Wissenschaftler selbst die Aufgabe der Vermittlung übernehmen, damit der Laie von ihm »Belehrung und Führung« gewinne (ebd., 371; vgl. Sarasin 2003, 248). Genau dieses Verfahren beschreibt Straus für den Fall Pawlows, bei dem mangels vorhandener Übersetzungen ohnehin wenig übrig blieb, als die Wahrheit der Forschungen mit der zugeschriebenen Integrität der Person zu begründen. Straus führt aber auch ein sprachtheoretisches Argument an. Denn nach Straus »übersetzt« Pawlow das Empfinden in die Sprache physikalischer und physiologischer Prozesse. Diese Metapher erlaubt Straus einen Vergleich mit dem Übersetzen von Texten: Wenn man einen Text in eine andere Sprache übertrage, übersetze man ihn nicht wortwörtlich, denn damit würde man der »Eigenart der Sprache«, in die übersetzt werde, Gewalt antun – und ein Sinn käme dabei auch nicht heraus (Straus 1935, 47). Die objektive Psychologie sei aber gerade auf eine solche wortwörtliche Übertragung angewiesen, da für sie physische und psychische Vorgänge identisch seien. Übersetzung von einer Sprache in eine andere erzeugt aber zwangsläufig eine Bedeutungs-Differenz, indem sie einen sprachlichen Ausdruck in eine andere Sprache »verpflanzt« (Benjamin 1923/1972, 15). 2 Dagegen zerstöre Pawlows Methode gerade den Sinn, was Straus u. a. an der syntaktischen Verknüpfung aufzeigt. Für Pawlow muss ein »Nacheinander von Erregungen« einem »Nacheinander von Bewußtseinsinhalten« entsprechen, womit er die »Einheit des Sinnes« preisgebe (Straus 1935, 48). Als Beispiel führt Straus das Anhören eines Musik-Stücks an: Zwar sind alle Vorgänge, die das Stück hervorbringen, voneinander unabhängig und vereinzelt, und hinsichtlich der Abfolge der Takte stehen die Töne im Verhältnis des Nacheinander, aber das Publikum hört dieses »Nacheinander der Töne als eine Einheit« (ebd., 63). Diese Einheit entsteht nicht im Nachhinein, sondern wir hören sie schon im »Vorblick auf das Kommende« (ebd., 64). 2
Zu einer Theorie der »Pfropfung« vgl. Wirth (2014).
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Eine solche Zukunftsdimension kann Pawlows Modell nicht erklären und demnach hat es sein Pendant in der philosophischen Hermeneutik, so entwickelt Hans-Georg Gadamer seine Theorie der hermeneutischen Erfahrung unter Rekurs auf Heidegger aus der »Vorstruktur des Verstehens« (Gadamer 1960/1990, 270 ff.). Schließlich resultiert aus der Übersetzungs-Problematik eine erkenntnistheoretische Problematik: Denn mit der Übertragung von Empfindungen in physiologische Prozesse muss auch Pawlow Vergleiche anstellen, womit Begriffe wie »Selbigkeit«, »Gleichheit«, »Ähnlichkeit« oder »Verschiedenheit« ins Spiel kommen. Straus beschreibt hier, was Michel Foucault als »empirisch-transzendentale Dublette« (1966/1997, 385) bezeichnet hat, nämlich dass der Mensch in der Moderne zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist. Genau das bestätigt Pawlow, wenn er die Möglichkeit einer Erkenntnis der Natur damit begründet, dass es das Naturgeschehen selbst sei, das diese Erkenntnis ermögliche: »Die Erkenntnis soll in ihrem ganzen Gehalt aus dem vermuteten Vorgang des Erkennens abgeleitet werden können […]. Das Erkennen muß sich somit der Struktur des Erkannten angleichen« (Straus 1935, 52). Diese doppelseitige Begründung scheint damit das wortwörtliche Übersetzen von der Sprache der Empfindungen in die Sprache der Physiologie aus epistemologischer Sicht zu erklären. Auch den räumlichen Gegebenheiten gilt Straus’ Aufmerksamkeit, womit auch der Aspekt der Umwelt ins Spiel kommt. Wir dürften, so Straus, nicht vergessen, dass sich die Hunde während der Dauer der Versuche in einer Umgebung befinden, die von der natürlichen Umwelt der Tiere völlig verschieden sei. Für Straus ist die Einrichtung des Laboratoriums keine bloße technische Gegebenheit, vielmehr gibt sie der Deutung der Versuche eine bestimmte Richtung vor. Pawlows Versuche zur Ausbildung bedingter Reflexe könnten nämlich nur in der »Monotonie und Öde« (ebd., 31) funktionieren, die sein Labor erzeuge. Dazu komme aber auch die Art und Weise der Deutung: Für Pawlow hat der umgebende Raum keine Bedeutsamkeit, während nach Straus ein Ton in einer solchen Umgebung eine andere Bedeutung hat als in der natürlichen Umwelt, in der ein Ton im Kontext weiterer Geräusche sowie von Düften, Beleuchtungen u. a. steht. Straus’ Argumentation ist keineswegs singulär, eine ähnliche Strategie nahmen Frederik Buytendijk und Plessner in dem ebenfalls 1935 erschienenen Aufsatz Die physiologische Erklärung des Verhal160 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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tens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows ein. Wie Straus geht es auch ihnen nicht ausschließlich um Pawlow, vielmehr ordnen sie ihn in die Geschichte der Physiologie und Medizin ein, die sich der »anonyme [n] Macht der objektiven Methodik« (Plessner & Buytendijk 1935/ 1983, 7) verschrieben habe. Auch ihnen geht es nicht einfach um den Vorwurf des Reduktionismus. Stattdessen zeigen sie die Konstruktionsweisen von Pawlows Theorie auf und fokussieren damit ebenfalls den Übergang von den Daten und Beobachtungen zu den Hypothesen und Deutungen des Beobachteten. Seine Erklärung des Verhaltens durch Hirnvorgänge entspricht nach Plessner und Buytendijk einer Übersetzung wirklicher Beobachtungen in eine »imaginäre Bildersprache« (ebd., 24). Doch nicht nur die Sprache konstituiere solche Objekte, sondern ebenso die Versuchsanordnung. Erst die monotone Situation im Labor, die Isolierung von Reizen und Reaktionen, die Ausschaltung der natürlichen Umweltbeziehungen und die Fixierung des Tieres im Gestell konstituieren in dieser Logik das Tier als physiologischen Apparat. Nicht um die Ablehnung des Modells geht es Plessner und Buytendijk, sondern sie richten sich gegen seine Verallgemeinerung, welche Pawlow schließlich bis zur Annahme eines Reflexes der Freiheit getrieben habe. Etwas emphatisch führen Plessner und Buytendijk aus, dass »solange wir das Verhalten durch die Brille der Reflexmechanik betrachten, […] wir die Verzerrungen, welche die Brille an den beobachteten Phänomenen bereits hervorruft, nicht als Verzerrungen erkennen« (ebd., 18). Dagegen komme es darauf an, die Brille abzusetzen und mit den »natürlichen Augen das Gebaren anzusehen, um es ohne Vorurteile zu beschreiben und zu verstehen« (ebd., 19). Die kausalanalytischen Untersuchungen sind zu ergänzen um eine »physiognomische Ansicht des lebendigen Verhaltens« (ebd., 29), d. h. phänomenologische und hermeneutische Konzepte sind in die Experimentaluntersuchung zu integrieren. Sowohl Straus als auch Plessner und Buytendijk leisten somit eine Kritik an Pawlows Versuchen, in der es um die Transformation des Tiers in ein bestimmtes Wissenschaftsobjekt, nämlich einen »biologische[n] Apparat« (Straus 1935, 39) geht. Dabei verweist Straus ausdrücklich darauf, dass es ihm um die impliziten Voraussetzungen der Theorie geht, die erst »freigelegt« (ebd., 69) werden müssten. Ein solches Vorgehen bildet nun gerade den Kern dessen, was der Wissenschaftshistoriker Hans Jörg Rheinberger als »historische Epistemologie« beschreibt, nämlich die »Reflexion auf die historischen Be161 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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dingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird« (2007, 11). Diese Transformation von Dingen bzw. Tieren in technologische Objekte geschieht nicht nur auf der Ebene des Organismus, also des Tiers, vielmehr lässt sie sich an sämtlichen Kategorien des Pawlow’schen Denksystems nachverfolgen. Wie Straus ausführt, redet Pawlow ständig von Hunden, er beschreibt sie anschaulich, nennt sie mit Namen und stellt sie als Individuen dar. Sie erscheinen ihm ängstlich und scheu, angriffslustig und zutraulich. Doch wenn Pawlow von einem Hund, der hört, spreche, meine er in Wirklichkeit ein Cortisches Organ, das durch Schallwellen erregt werde. Mit einem Hund, der sieht, sei eine durch Lichtwellen erregte Netzhaut gemeint, das Essen des Hundes sei keine Aktion, sondern eine Summe von Reflexbewegungen, ausgelöst durch chemische und mechanische Berührung der Mundschleimhaut (Straus 1935, 38 f.). Allerdings setzen Straus wie auch Buytendijk und Plessner ihre »Brille« nicht ab, wenn sie zu ihren eigenen Positionen kommen, sondern setzen eine andere auf – was sie jedoch nicht mehr reflektieren.
Lebenstheoretische Grundlagen Wie Plessner und Buytendijk sieht auch Straus in der Anordnung von Pawlows Versuchen ein Element mit weitreichender Bedeutung, nämlich die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung. Pawlow habe das Schema einer Isolierung der Empfindung von der Bewegung zwar nicht theoretisch, aber praktisch durchbrochen. Die Experimentalanordnung habe das, was Pawlow theoretisch vertrete, nämlich die Behauptung, Empfindung und Bewegung, Reiz und Reaktion seien isolierte Funktionen des Organismus, »gesprengt«. Indem Pawlow den »Zusammenhang von Sensorium und Motorium zum Problem machte, hat er auch unserer Untersuchung, die das Empfinden als Weise lebendigen Seins erfassen will, einen außerordentlichen Dienst erwiesen« (ebd., 25). Straus sieht in Pawlows Versuchsanordnung die Umsetzung eines sensomotorischen Kreisprozesses, der im Zentrum seiner eigenen Position wie auch überhaupt einer phänomenologisch orientierten Anthropologie steht. Da Pawlow die Beziehungen eines Organismus zu seiner Um162 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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welt mit einem physikalischen Körper und seinen Gleichgewichtsbedingungen identifiziert, sehe er, so Straus, keinen qualitativen Unterschied zwischen mechanischen Bewegungen, Tropismen bei Pflanzen, tierischen Bewegungen und menschlichen Handlungen. Die Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt bestehe bei Pawlow nur darin, dass seine »Grenzflächen« von außen erregt werden können, der Organismus steht somit als eine »fast selbständige Welt in einer Umwelt von ganz andersartiger Struktur« (ebd., 46). Pawlow betreibt die »Ausmerzung des Phänomenalen« (ebd., 38). Für Straus hat Pawlow damit den Bezug auf die Biologie verfehlt, denn dass der Organismus ein lebender Leib ist, macht ihn nach Straus erst zum Gegenstand der Anatomie und Physiologie: »Die Kenntnis jener Sphären des Lebens und Erlebens geht aller anatomischen und physiologischen Erfahrung sowie auch allen physikalischen und chemischen Bestimmungen in der Physiologie voraus, ist aus ihnen nicht ableitbar« (ebd., 55). Damit schließt Straus an eine Position an, die Buytendijk und Helmuth Plessner in den 1920er Jahren entwickelt haben. In ihrem gemeinsamen Aufsatz Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925), den Hans-Peter Krüger (2000, 314) als die »Geburtsurkunde« der Philosophischen Anthropologie bezeichnet, sprechen Plessner und Buytendijk von einer Schicht des Verhaltens, die den »Inbegriff der Konstitutionsformen und -weisen alles Seienden: das Leben« (Plessner & Buytendijk 1925, 89) erfasse, eine Schicht vor jeglicher physiologischer und psychologischer Erklärungsebene, indifferent gegenüber den cartesianischen Dualismen von Sinnlichkeit und Geistigkeit, Physis und Psyche, Objektivität und Subjektivität. Sowohl die Tiere als auch der Mensch als Lebewesen lebten in dieser Schicht, einer Sphäre sensomotorischer Prozesse, die gekennzeichnet sei durch die »Wesensprädikate« (ebd., 82) Bildhaftigkeit, psychophysische Indifferenz, Gegensinnigkeit der Leib-Umgebungsrelation sowie Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit. In seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) hat Helmuth Plessner diesen Ansatz systematisch entwickelt. Das Programm seines Buches bestimmt er als eine Erneuerung der Philosophie, die gegen den cartesianischen Dualismus gerichtet ist: »Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur« (Plessner 1928/1975, 31). An 163 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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zentraler, nämlich fundierender Stelle steht die Philosophie des lebendigen Daseins, d. h. der Entwurf einer theoretischen Biologie. Plessner stellt den lebenden Körper in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, womit er sich nicht zuletzt gegen den Existentialismus Heideggers wendet, dessen Analyse »einer freischwebenden Existenz« (ebd., XIV) die biologischen Fakten ausklammere. Für Plessner dagegen war Existenz durch Leben fundiert – und zwar nicht im Sinne einer irrationalen Lebensphilosophie, sondern in dem Sinne, dass jede Existenz zuallererst ein lebender Körper sei. Demnach kann ein Organismus nicht als isolierter Körper begriffen werden, sondern als ein auf seine Umwelt bezogener Leib, was Plessner anhand seines Leitbegriffs der »Grenze« herausarbeitet. Auch für Straus ist die Betonung der Leiblichkeit entscheidend, wie ein Zusatz aus der zweiten Auflage seines Buches zeigt. Darin wirft er der Daseinsanalyse – er nennt Martin Heidegger und Ludwig Binswanger – vor, sie ziehe trotz aller Betonung der Geworfenheit die Grenzen menschlicher Souveränität zu weit, denn stets blieben wir an die »Essenz der Leiblichkeit, an unsere ›Natur‹ gebunden« (Straus 1956/1978, 298). Der objektiven Psychologie wirft er dagegen schon in der ersten Auflage seines Buches vor, sämtliches Erleben als »Geschehen im Organismus« zu erklären und »Ich-Welt-Beziehungen« als bloße Phantasmen anzusehen (Straus 1935, 59). Aus dem Blick auf die »Vitalschicht« resultiert dann aber auch zum einen eine Einbeziehung des Tieres in die Betrachtung, zum anderen die Frage nach der Differenz zwischen Tier und Mensch.
Tier und Mensch Straus’ Buch beginnt mit einem Vergleich von Tier und Mensch: Zwar würden wir nicht glauben, dass Tiere wie der Mensch »wahrnehmen und vorstellen, denken und handeln«, sehr wohl aber, dass »sie mit ihren Augen sehen, mit ihren Ohren hören, mit ihrer Nase riechen, kurz, daß sich ihnen in ihrem sinnlichen Empfinden ihre Umwelt öffnet« (Straus 1935, 1). Auf der Ebene des sinnlichen Empfindens macht Straus die Grundlage der Kommunikation zwischen Tier und Mensch aus, allerdings sei die Welt der Menschen von der der Tiere verschieden, da sich nur der Mensch über den Bereich sinnlichen Empfindens erheben könne – dabei ist ihm eine »Rückkehr in die Gefilde des reinen Empfindens für immer versagt« (ebd.). Straus 164 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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formuliert hier die Rückkehr zum Status des Tieres als unerfüllbare Sehnsucht. Gleichwohl geht es ihm weniger um den Sehnsuchtszustand selbst als um die Erforschung des sinnlichen Empfindens. Den Zusammenhang von Empfinden und Bewegen erläutert Straus daher am Beispiel des Tieres, dabei geht es ihm im Gegensatz zu Pawlow gerade darum, dass das Tier als empfindendes Wesen »in der Welt steht« (ebd., 120). Was Plessner über den Begriff der »Grenze« ausführt, fasst Straus mit den Begriffen des »Trennens« und »Einigens«: »Der Stoff-Aufnahme und Ausscheidung kommt aber im tierischen Leben eine von allem pflanzlichen Dasein völlig verschiedene Weltbezogenheit zu, die als ein Einen und Trennen, richtiger als Sicheinen und Sich-trennen zu bezeichnen ist« (ebd., 120). Die Form des Umwelt-Bezugs unterscheidet auch die Organisationsstufen Pflanze und Tier sowie schließlich Tier und Mensch. Die primäre Stufe des Empfindens, die Straus am Beispiel des Tiers herausarbeitet, findet sich auch beim Menschen. Im Umgang mit anderen Menschen reagierten wir auf unzählige Ausdrucksmomente, »ohne zu wissen, daß wir reagieren« (ebd., 121). Genau diese Schicht der Willkürbewegungen ist auch zentraler Gegenstand der philosophischen Anthropologie (vgl. Bühler 2004a). Was Philosophen wie Max Scheler, Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen im Feld der Philosophie verhandeln, hat seine Parallelgeschichte in der Experimentalpsychologie, wie Stefan Rieger (2003) ausführlich aufgezeigt hat. Exemplarisch sei eine Studie von Paul Christian angeführt, der das Vorwort zur zweiten Auflage von Straus’ Vom Sinn der Sinne verfasste. Denn auf Christians Aufsatz Die Willkürbewegung im Umgang mit beweglichen Mechanismen (1948) verweist Arnold Gehlen in der siebten Auflage seines Werkes Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (1962). Damit stellt Gehlen eine Beziehung zwischen Philosophie und Experimentalpsychologie her: »Von der ungeheuren Kompliziertheit und Vollkommenheit gerade der höheren Bewegungsleistungen wird gesagt, haben wir wesentlich keine Vorstellung, und Nietzsche habe hier richtig gesehen, daß alles vollkommene unbewußt und nicht gewollt ist« (Gehlen 1962/1993, 222). Gegenstand von Christians Experimenten ist die Flexibilität der Umwelt-Beziehungen, die »Motorik in beweglicher Auseinandersetzung mit gleichfalls beweglichen und darum veränderlichen Umweltkräften« (Christian 1948, 79; zit. nach Rieger 2003, 357). Im Gegensatz zu Pawlow, der seine Hunde in ein »Gestell« (Straus 1935, 31) 165 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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einspannt, in dem sie unbeweglich verharren müssen, zielen Experimentalanordnungen wie diejenige von Christian auf die Dynamik, Beweglichkeit, Veränderbarkeit der Umwelt-Beziehungen. Möglich sind solche Versuche aber erst mit Blick auf den »inneren Zusammenhang« von Bewegung und Empfindung (ebd., 120, 150), die immer wieder in das Bild des Kreises gefasst werden, exemplarisch seien genannt: Jakob von Uexkülls »Funktionskreis«, Plessners »Lebenskreis« oder Viktor von Weizsäckers »Gestaltkreis« als Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. In der Fokussierung der Dynamik sensomotorischer Kreisprozesse liegt damit der gemeinsame Grund von philosophischer Anthropologie, Experimentalpsychologie und Straus’ phänomenologischer Psychologie. Hinzufügen ließe sich hier auch die Kybernetik, die ebenfalls an der von den genannten Forschern anvisierten »Vitalschicht« ansetzt, worauf Titel wie beispielsweise derjenige von Norbert Wieners wegweisender Studie Cybernetics or Control and Communication in the Animal and Machine (1948) verweisen. Damit sind wir aber auch bei der Frage nach der Differenz von Tier und Mensch. Auch hier lässt sich die philosophische Anthropologie anführen. So hat Joachim Fischer den »Identitätskern« der philosophischen Anthropologie in einer Denkbewegung festgemacht, die sich auch bei Straus findet. Die philosophische Anthropologie setzt nach Fischer nicht auf der Höhe des Menschen an, sondern geht vom lebenden Körper in seiner Umwelt-Relation aus, um sich dann durch die Stufen des Lebendigen – Pflanze, Tier – zum Menschen nach oben weiterzuarbeiten (Fischer 2008, 519 f.). Vor allem dem Tier-Mensch-Vergleich komme dabei eine wichtige Rolle zu. Während beim Tier der lebendige Körper mit seiner Umwelt in Funktionskreisen korreliert ist, findet sich beim Menschen eine Auf- oder Eingebrochenheit im Lebenskreis. Nach Fischer ist die Sphäre des Menschen dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die Lebenskreisläufe des Lebendigen in bestimmter Hinsicht gebrochen sind, indirekt vermittelt, aber zugleich durch das Leben getragen bleiben: »Alle prägnanten Begriffe der Philosophischen Anthropologie für den Menschen sind gebrochene und künstlich neu vermittelte Lebenskreisbegriffe« (ebd., 524). Auch Straus geht vom lebenden Körper aus, so verbindet die Stufe des sinnlichen Empfindens Tier und Mensch, die »Welt des Empfindens« sei eine »Mensch und Tier gemeinsame Welt« (Straus 1935, 119). Allerdings lässt sich die am Tier festgemachte Vitalschicht 166 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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nicht isolieren, selbst im Genuss bleibt nach Straus ein »Moment der Reflexion und der Verneinung« (ebd., 123). Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht auf die Gegenwart beschränkt, er kann die Bindung an den Augenblick aufheben: »Der Erkennende tritt aus der flüchtigen Gemeinschaft des Augenblicks, er muß es, um erkennen und sprechen zu können« (ebd., 122). Das Heraustreten aus der Bindung an die Gegenwärtigkeit der Welt des Empfindens konstituiert somit den Menschen als Menschen. Daher kann der Mensch aber auch nicht in den Zustand des Tiers zurückkehren, das Paradies sei ihm verschlossen, für ihn existierten nur »künstliche Paradiese« (ebd., 123). Straus umschreibt hier metaphorisch, was Plessner als »natürliche Künstlichkeit« (Plessner 1928/1975, 309) und Gehlen als »zweite Natur« des Menschen (Gehlen 1962/1993, 37) fassten. Deutlich wird die Verbindung und Differenz zum Tier am Beispiel des Zusammenhangs von Empfinden und Sich-Bewegen, bei dessen Erläuterung Straus immer wieder auf die Gemeinsamkeiten von Tier und Mensch rekurriert (Straus 1935, 150 ff.). Dabei geht es ihm gerade nicht wie der Physiologie oder objektiven Psychologie um die Trennung und Isolierung dieser Vorgänge, sondern um die Einheit von Empfinden und Bewegen. Diese Einheit resultiert für ihn nicht aus physiologischen Prozessen, vielmehr ist sie diesen Prozessen »vorgegeben«: Als Leib von Tier und Mensch sei der Organismus in seinem »Verhalten zur Welt« einheitlich (ebd., 153). Daher verlaufe die Grenze zwischen Drinnen und Draußen nicht zwischen Ich und Welt, sie scheidet weder Dinge noch Räume. Vielmehr handle es sich um eine »Gliederung des Verhältnisses des Ichs zu seiner Welt«, die vermittelt werde durch den Leib (ebd., 166). Dabei befindet sich Straus noch auf der Ebene der Gegenwart, zumal zu jedem Empfinden und Sich-Bewegen ein »Hier und Jetzt« gehöre (ebd., 170), was er an Verhaltensweisen von Tieren veranschaulicht (ebd., 173 f.). Doch der Mensch lebt nicht in der »sprachlosen Welt« des Tiers, die auf die Gegenwart beschränkt ist, denn er hat sich mit der Sprache und Schrift, mit aufrechter Haltung und aufrechtem Gang von der zeitlichen und räumlichen Bindung, die dem Tier zu eigen ist, gelöst (ebd., 122; vgl. Straus 1949/1960). Hier ist die von Fischer für die philosophische Anthropologie beschriebene Denkbewegung auszumachen: Straus geht von der Schicht des Empfindens aus, die Tier und Mensch gleichermaßen bewohnen, zeigt aber auf der Ebene des Erkennens auf, dass im Falle des Menschen das Verhältnis zur Umwelt gebrochen ist – mit dem »freien Schritt des Menschen« sei keine 167 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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»tierische Bewegungsart« zu vergleichen (Straus 1935, 122). Aber damit ist nicht einfach eine zeitliche und räumliche Ausdehnung gemeint, sondern als Erkennender löse man sich von der perspektivischen Bindung an das Hier und Jetzt und damit von sich selbst (ebd., 230). Straus beschreibt hier ein Selbstverhältnis, das Plessner »Positionalität der exzentrischen Form« (1928/1975, 288) nannte: Während das Tier im Hier und Jetzt existiere, aber keinen Gegenpunkt zu dieser Position einnehmen könne und daher »aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein« lebe (ebd.), kann der Mensch Distanz zu dieser Mitte einnehmen, was die »totale Reflexivität des Lebenssystems« ermögliche (ebd., 290). Demnach gilt: Der Mensch ist Körper, er ist im Körper (als Innenleben oder Seele) und er ist »außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus er beides ist« (ebd., 293). Der Mensch hat, wie es Wolfgang Eßbach (1994) ausdrückt, seinen Mittelpunkt außerhalb. Auch für Straus gilt, dass das Ich aus der »Mitte«, in die es beim Empfinden gestellt sei, heraustrete und sich selbst fremd werde (Straus 1935, 230). So ist notwendigerweise der »menschliche Alltag von der Welt, in der das Tier lebt, wesensverschieden« (ebd., 239), wie Straus am Unterschied vom Raum des Empfindens und Raum der Wahrnehmung verdeutlicht, die sich zueinander wie Landschaft zur Geographie verhalten. So bewegen wir uns in der Landschaft von Ort zu Ort, wobei der Horizont stets mitwandert und jeder Ort allein durch benachbarte Orte im Umkreis der Sichtbarkeit bestimmt ist. Dagegen ist der geographische Raum geschlossen und in seiner gesamten Struktur durchsichtig. Jeder Ort ist hier bestimmt durch seine Lage im Koordinatensystem. Man befindet sich daher in der Landschaft, und wenn die Dunkelheit einbricht oder Nebel aufzieht, kann man sich zwar bewegen, aber man weiß nicht mehr, wo man ist. Dagegen ist im geographischen Raum der Nullpunkt des Koordinatensystems willkürlich festgelegt, dieser Raum ist allgemein und jeder Ort lässt sich als Lage in diesem System bestimmen, weshalb das Ich nicht mehr im »Mittelpunkt des Raumsystems« (ebd., 236) steht. Während das Tier nach Straus in der Landschaft lebt, befindet sich der Mensch im geographischen Raum. Doch diese beiden Räume sind für Straus keineswegs strikt getrennt, denn die menschliche Wahrnehmungswelt liegt »zwischen« der Landschaft und der Physik (ebd., 238). Gerade diese Zwischenstellung macht nach Straus die menschliche Welt »vieldeutig in sich selbst«, versetzt sie aber auch in ein 168 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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»äußerst labile[s] Gleichgewicht«, gefährdet durch Schwankungen zur einen oder anderen Seite (ebd., 238). Damit ist die, mit Plessner (1928/1975, 316) formuliert, »konstitutive Gleichgewichtslosigkeit« das Strukturmerkmal, das den Menschen vom Tier unterschiedet und ihn daran hindert, in die »Gefilde des reinen Empfindens« (Straus 1935, 1) zurückzukehren.
Kybernetik und Phänomenologie Dass sich Straus’ Entwurf einer phänomenologischen Psychologie und seine Kritik an Pawlow und der objektiven Psychologie ohne weiteres aktualisieren ließe, legt Straus selbst im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches (1956) nahe. Hier verweist er auf die Kybernetik und ordnet sie in die Tradition der objektiven Psychologie ein. Die neuere Entwicklung sei für ihn außerdem Anlass gewesen, der ersten Auflage Zusätze hinzuzufügen, wozu u. a. das Kapitel Der Mensch denkt, nicht das Gehirn gehört. Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Kybernetik, die ganz im Sinn von Straus gewesen sein dürfte, lieferten Buytendijk und Christian in ihrem Aufsatz Kybernetik und Gestaltkreis (1963), der auch anhand der Konzeption eines flexiblen System-Umwelt-Verhältnisses die Verbindung zwischen phänomenologischer Anthropologie und kybernetischem Denken zeigt. Technisches Denken lässt sich nach Buytendijk und Christian in der Tat auf Verhalten anwenden: Die moderne Verhaltensanalyse müsse es sogar verwenden, weil sie von der Leistung und Ziel- bzw. Zweckgerichtetheit ausgehe. Insofern biologische Akte im Bereich des Messbaren betrachtet werden, greifen technische Beschreibungsformen, und hierbei stellt die Kybernetik das damals interessanteste Theorieangebot dar, wie der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem ausführt. Denn in der Kybernetik findet nach Canguilhem eine lange Geschichte der Regelung ihren vorläufigen Abschluss, »die aus Theologie, Astronomie, Technologie, Medizin und sogar aus der gerade entstehenden Soziologie zusammengesetzt ist und in die Newton und Leibniz nicht weniger verwickelt sind als Watt und Lavoisier, Malthus und Auguste Comte« (Canguilhem 1974/1979, 91). Die Kybernetik habe nämlich eine allgemeine Theorie der Regulation entwickelt und »das formale Konzept« geliefert, »das geeignet war, seine etymologische Begrenzung zu überschreiten« (ebd., 90). 169 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Allerdings spricht Viktor von Weizsäcker, wie Buytendijk und Christian betonen, in seiner Theorie des Gestaltkreises von »biologischen Akten«, die intentional seien und Subjektivität voraussetzten (Buytendijk & Christian 1963, 97). Mit Rekurs auf Edmund Husserl, der von »fungierenden Intentionalitäten« spricht, und Maurice Merleau-Pontys Begriff des »corps sujet« bringen die beiden damit die Phänomenologie gegen die Kybernetik in Stellung – so wie Straus die Phänomenologie gegen die objektive Psychologie positionierte. So findet sich bei Buytendijk und Christian wohl nicht zufällig ein Ausdruck wieder, den Straus auf Pawlow bzw. die objektive Psychologie anwandte, wenn sie ausführen, mit der Reduktion von Verhalten auf technische Vorgänge betreibe man eine »Ausmerzung des Phänomenalen« (Buytendijk & Christian 1963, 98; Straus 1935, 38). Buytendijk und Christian führen als Beispiel den Gestaltkreis von Viktor von Weizsäcker an, der den »Gedanken einer Selbststeuerung und Regelung« enthalte (Buytendijk & Christian 1963, 98). So entspräche der Tastakt, bei dem die Hand Fühler und Greifer zugleich ist, einem technischen Regelkreis, da jeder »Bewegungsschritt« im »geschlossenen Wirkungskreis« für die weitere zweckmäßige Bewegung überwacht und beeinflusst werde (ebd.). Weizsäckers Gestaltkreis werde daher zur Entwicklung des kybernetischen Denkens gezählt, da für ihn die »kreisartige sensomotorische Verbundenheit […] eine notwendige physiologische Bedingung der Verwirklichung des Tastens« (ebd.) sei. Aber, und das ist der entscheidende Einwand, damit wären nur die Strukturbedingungen der Verwirklichung des Tastakts genannt, nicht aber das Intentionale erklärt. Kybernetische und phänomenologische Beschreibungen fokussieren demnach beide die Flexibilität der Umweltverhältnisse, indem sie die Regelung von Verhalten in sensomotorischen Regelkreisen darstellen, wobei allerdings die Kybernetik dem funktionalen Aspekt des Verhaltens verhaftet bleibt, da es ihr alleine um die Leistung geht. Auch hier stellt die Willkürbewegung ein zentrales Beispiel dar. Gemäß dem Modell des Regelkreises richtet sich eine Bewegung nach einem sogenannten »Bewegungsentwurf« (ebd., 99), da beim Ausführen der Bewegung jedoch zwangsläufig Verzögerungen und Reibungen an den Extremitäten und der Umwelt vorkommen, müssen die Bewegungen fortlaufend korrigiert werden. Die Ausführung wird auf verschiedenen Ebenen des Organismus mit der »Befehlsausgabe« verglichen, Differenzen an das Regelungszentrum geleitet, das Korrekturen in der Ausführung der Bewegung durchführt. Aus170 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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gehend von der Idee des »gesteuerten Servomechanismus’« trete ein »selbstprogrammierter Bewegungsentwurf« in Form eines »Bewegungsschemas« als Führungsgröße in die nachgeordneten Regelkreise ein (ebd.). Nach Buytendijk und Christian liegt nun aber die Ausführung einer Bewegung im »vornhinein« (ebd., 100) noch nicht fest. Die Abfolge der einzelnen Bewegungsschritte liegt im Bereich des Möglichen, was auch heißt, dass es eine Vielzahl möglicher Ausführungen gibt. Im intentionalen Verhalten entstehe erst »unterwegs«, in der »beweglichen Auseinandersetzung«, eine Zielvorstellung, weshalb es vor Ausführung einer Bewegung noch kein festes Programm geben könne. Wenn die kybernetische Beschreibung des Verhaltens ein solches Programm voraussetzt, kann sie das nur nachträglich tun. Sie erklärt das zum Programm, was am Ende als Bewegung erscheint, und verwirft somit die Vielzahl der möglichen Ausführungen einer Bewegung, die für das Subjekt jedoch »etwas Wirkliches« sind (ebd.). Verhalten ist dagegen aus Sicht von Buytendijk und Christian stets improvisiert, und diesen produktiven Akt habe von Weizsäcker »Gestaltkreis« genannt. Weiterhin folgt daraus: In der Willkürbewegung sind nicht quantitative Größen bestimmend, sondern »Intentionen, thematische und thetische Ordnungen«, also Bedeutungsgefüge (ebd.).
Schluss Straus’ Buch Vom Sinn der Sinne lässt sich in einem Diskurs verorten, dessen zentrales Objekt der lebende Körper ist und der die Regelung von Verhaltensweisen ins Zentrum stellt. Als eine Ganzheit, die sich selbst steuert und reguliert, erscheint der lebende Körper als eine Wissensfigur in einem diskursiven Feld, in dem Wissensformen wie die Physiologie, theoretische Biologie, philosophische Anthropologie, Experimentalpsychologie oder Kybernetik angesiedelt sind. Dabei ist der lebende Körper zwar der zentrale Bezugspunkt und das Objekt, über das und mit dem Wissen generiert wird, doch zugleich ist in diesem Feld eine fundamentale Differenz auszumachen: Auf der einen Seite lassen sich Ansätze verorten, die den lebenden Körper und sein flexibles Verhältnis zur Umwelt anhand von physikalischen Prozessen und mathematischen Formeln konstruieren, auf der anderen Seite finden sich solche, die die Aspekte in den Blick nehmen, welche sich durch die Physik und Mathematik nicht 171 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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fassen lassen. Straus’ Werk kommt hierbei eine herausragende Stellung zu, da er auf der einen Seite eine epistemologische Kritik objektiven Denkens leistet, die zumindest implizit wissenschaftstheoretische Argumentationen verwendet, und auf der anderen Seite ein eigenständiges phänomenologisches Konzept entwickelt, das anhand des Empfindens die Gemeinsamkeiten und anhand des Erkennens die Differenz von Tier und Mensch herauszuarbeiten versucht. Damit schreibt sich Straus’ Buch Vom Sinn der Sinne nicht zuletzt in die Geschichte des Tiers als »Wissensfigur« ein (Bühler & Rieger 2006). Denn auch Straus generiert mit Tieren und über Tiere neues Wissen, weshalb auch für ihn gilt, was Canguilhem für die Biologie herausgearbeitet hat, nämlich die »Rückwirkung des Objekts des Wissens auf die Konstitution des Wissens«, welches auf das »Wesen dieses Objekts« (Canguilhem 1965/2001, 22) abzielt.
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Die Ferne ist die raumzeitliche Form des Empfindens – Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung Annette Hilt
»Im Erleben ist die Welt das Umfassende, Mächtige, Bleibende. Aber in seiner Beweglichkeit ist dem Erlebenden eine begrenzte Macht über die Teile gegeben, die er gemäß der dem Ganzen abgelauschten Ordnung für seine Zwecke planmäßig zusammenfügen kann« (Straus 1960a, 397). Im sensomotorischen Umgang mit der Welt erfahren wir die Welt und uns selbst in ihrer jeweiligen Wirklichkeit und ihren Abwandlungsformen sowie schließlich, wie sich unser Erleben in diesem Verhalten zur Welt auch pathologisch gegen das Vertrauen in die Einstimmigkeit unseres Erlebens wandeln kann. Der Wandel des Erlebens unserer impliziten Selbstgegebenheit zum Erkennen, zum Wissen und zur Erfahrung erweist sich zwar stets erst nachträglich zum Erleben, ist jedoch in einer Verfasstheit unserer Existenz gegründet, die bereits in der menschlichen leiblichsinnlichen Struktur impliziert ist und sich auch hier – im Erleben – explizieren lässt: Nämlich über den Horizont, den wir im Zusammenspiel von Bewegen und Wahrnehmen raum-zeitlich ermessen können. Mit Erwin Straus gesprochen sind diese Transformationen unseres Erlebens der Welt, in der wir leben, der Erfahrung zwei voneinander verschiedener Weisen der Wirklichkeitserfassung geschuldet; diese bestimmen, wie unsere Sinnlichkeit – begrifflich genauer und differenzierter auslegbar als unsere leibliche Konstitution – uns ausrichtet und so Ich und Welt miteinander in Beziehungen, in wechselseitige Kommunikation des Angehens, des Ausgreifens, der Responsivität – diesseits der Unterscheidung von actio und passio – zum Aus- bzw. Eindruck bringt. Diese zwei Formen der Wirklichkeitserfassung sind die gnostische und die pathische, d. h. die erkennende und die empfindende Wirklichkeitserfahrung. Pathische Erfahrung gestaltet sich über die empfundene Wirklichkeit, die sich nicht erst über die Vorstellung von sichtbaren Körpergrenzen und der expliziten Gegenüberstellung von Ich und Welt konstituiert und vor der Wahrnehmung über unsere Einzelsinne 175 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Annette Hilt
liegt; so sind im Empfinden Bewegungstendenzen – wie Weitung und Verengung, nach unten ziehende Schwere etc. – gegeben, die einen »dynamisch strukturierten Raum« aufspannen, der zwar unscharf und wandelbar, aber nichtsdestotrotz als »unmittelbare Wirklichkeit erlebt wird« (Fuchs 2000, 89). Das Erlebte bzw. Empfundene kann wiederum gnostisch – erkennend und urteilend – in Raum und Zeit und zu uns als leiblichem Nullpunkt des sensomotorischen Erlebens situiert werden. Doch nicht nur unser Leib lässt sich von uns als in einer gegenständlichen Welt situiert erfahren, indem wir uns bewegen und jenen zum Zentrum des von uns durchmessenen Raumes machen, in dem so nun alles eine Richtung und einen Platz hat. Stattdessen können wir zu uns, unserem innerweltlichen Leib, einen quasi-archimedischen Standpunkt einnehmen, 1 indem wir als erlebende Sinnlichkeit Teil unserer Erfahrung werden und so die Empfindungen zueinander, zu den Aussagen anderer über mich, zu theoretischem und praktischem Wissen in ein Verhältnis gebracht werden können: Erfahrungen sind stets gemachte, sind durchlebte Erfahrungen und wir können uns ihre Genese, die dabei erlittenen Widerstände unseres Empfindens vergegenwärtigen und in unsere Wirklichkeitsdeutung, in unser Verhalten und Handeln integrieren. Nach einem Monat Lauftraining kann ich etwa weitere Strecken mit weniger Anstrengung und vor allem ohne Stechen in der Brust und in den Waden laufen – ich kann meine Kräfte besser einschätzen. Dass meine Antriebslosigkeit und Traurigkeit Symptome einer Depression sind, kann ich akzeptieren und im Zuge einer Therapie lernen, damit umzugehen. Die Welt und wir selbst begegnen uns nicht nur auf eine Weise und unmittelbar, sondern wir, die wir die Position in ihr leiblich und über unser Betrachten und Vorstellen wechseln können, wir, denen Empfinden stets doppelt, nämlich präsentisch und historisch (Straus 1956, 403 ff.), gegeben sein kann, weil sich unser Leib nie nur in einer Umwelt, sondern stets raum-zeitlich und in einem Spielraum befindet, stehen mit ihr, die immer auch wandelbar ist, in Kommunikation. 1 So Erwin Straus in seinem Aufsatz Der Archimedische Punkt über den »betrachtenden, entdeckenden, erfindenden Menschen« (Straus 1960a, 397), der die TeilWirklichkeit, über die er, als Sichbewegender, von der Welt, als ihn umfassende, stets nur verfügt, in ein Bild fasst, welches das Nacheinander seiner Empfindungen in eine zeitlich-kausale Relation bringt und der als Beobachter seine eigene Position reflexiv als Teil im Ganzen erfassen kann (Straus 1960a).
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Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung
Für Straus ist die Ferne eine wesentliche Bedingung für diese Wandelbarkeit, auch bereits in der pathischen Wirklichkeitserfahrung: »Die Ferne ist die raumzeitliche Form des Empfindens« (ebd., 405). Selbst das unmittelbare Empfinden in seiner Betroffenheit ist schon in einer bestimmten Weise in einem Horizont möglicher Wahrnehmungen ausgerichtet, insofern Empfindungen Wert für uns haben, also positiv oder negativ konnotiert sind, so dass damit bereits dem Widerfahrnis, das die Empfindung in ihrer präreflexiven Unmittelbarkeit ist, ein Horizont gegeben wird: Was sein und was nicht sein soll, was verwirklicht und was gemieden werden will. Dem leiblichen Empfinden geht als Ermöglichung diese raum-zeitliche Dimensioniertheit menschlichen Lebens voraus, es lebt in einem Spiel-, einem Aktionsraum, der die zeitliche Dimension des Werdens, die Richtung, die das Empfinden sensomotorisch nehmen kann, miteinschließt; prä-reflexives Erleben ist so nie nur an den Augenblick gebunden, sondern transzendiert diesen, trägt in sich die Möglichkeit zur Veränderung, insofern es mit der Welt in ihrer Abgehobenheit vom Leib kommuniziert. Transzendenz zur Ferne charakterisiert unsere Sinnlichkeit, ermöglicht die Modifikation unserer Leiblichkeit in die einzelnen Sinnesfunktionen, aber auch deren synästhetisches Zusammenspiel. Vielmehr noch als der Rede von unterschiedlichen intentionalen Ausrichtungen, unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Bewusstseinshaltungen bzw. einer leiblich induzierten Perspektivik entspricht diese ambivalente Gegebenheit der Wirklichkeit einer »zweideutige[n] Weise des Existierens« (Merleau-Ponty 1965, 234) unserer selbst als sinnliche Wesen; als solche finden wir uns in unterschiedlichen aisthetischen Strukturen, die sich voneinander abheben und voneinander unterscheiden, die sich voneinander ent-fernen lassen und so das Empfinden wahrnehmend und bewegend gliedern. Erfahrung in ihren unterschiedlichen Modi der Wirklichkeitsgegebenheit erlangt so selbst einen ontologisch zweideutigen Status, indem der Leib, an dem bzw. an dessen sinnlich-leiblichen Empfinden dies manifest wird, zwischen dieser Zweideutigkeit ein Feld aufspannt, auf dem sich nun unterschiedliche Formen der Erfahrung ausbilden können. Diese nicht nur transzendental zu rekonstruieren, sondern sie aus dem »Bereich der reinen Phänomene« (Minkowski 1971, 29), wie sie uns widerfahren und unser Empfinden als Gestalten des Tuns und Leidens für uns strukturieren, zu fassen, zu intuieren, stellt eine der wesentlichen Aufgaben einer aus der Medizin und der Psychopathologie 177 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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erwachsenen Klärung der condito humana dar: Erfahrung zu gewinnen, indem wir uns ein Bild von dem machen, was dem unmittelbaren Zugriff entzogen ist, und was als Erfahrung erst mit der Zeit und dem zeitlichen Umgang mit unserem Erleben entsteht. Dieses Bild ist nicht nur Abbild, das unsere begrenzte Perspektive, aus der uns Welt gegeben ist, wiederholt, sondern es stellt uns das sinnlich Empfundene deutlicher und mit größerer Prägnanz und Ausdruckskraft als das Original dar (Straus 1960a, 389). Einführen in Straus’ Überlegungen zur Erfahrungsbildung sollen im Folgenden zunächst Straus’ ideengeschichtlicher Denkkontext, sodann seine phänomenologisch-psychopathologischen Denkbewegungen und schließlich seine Auseinandersetzung mit einer »Norm« derjenigen primordialen Erfahrungsstrukturen, die unser Wirklichkeitserleben erst möglich machen, und von der aus pathologische Formen des Zur-Welt-Seins und des Empfindens verständlich werden und (differential-diagnostisch) bestimmt werden können.
Phänomenologische Ausrichtungen der Psychopathologie Der Göttinger Psychiater Joachim-Ernst Meyer charakterisierte den psychiatrischen Fachdiskurs in der Zeitspanne von 1950–1965 über dessen Prägung durch die »Anthropologische Psychiatrie« (Meyer 1985) – einer Forschungsrichtung, die von Eugène Minkowskis Werk Die gelebte Zeit (Minkowski 1971) zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eingeleitet wurde. Neben Minkowski, Binswanger, Alfred Storch und Viktor Emil Freiherr von Gebsattel zählt auch Erwin Straus zu den Inauguratoren dieser Richtung, 2 obgleich sie sich gegen den Begriff einer »Schulbildung« stets verwehrten (von Gebsattel 2014, 78, 87 f.). Für sie alle war der kranke Mensch als Subjekt im Krankheitsgeschehen zentral: sowohl in der Forschung als auch in der Therapie. Sie problematisierten die anthropologischen Hintergründe der Psychiatrie in kritischer Auseinandersetzung mit deren zunehmender Naturalisierung und der Tendenz zur abstrahierenden Modellbildung, gleichwohl aber auch die Abkehr der Psychologie von Minkowski, Straus, Binswanger und von Gebsattel waren sich in 40-jähriger Freundschaft auch in ihren Forschungen eng verbunden und bildeten den sog. »Wengener Kreis« (Passie 1995). In Wengen im Berner Oberland trafen sie sich zu regelmäßigen Arbeitstreffen (Wiesenhütter 1986, 8).
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Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung
einem medizinisch-wissenschaftlichen Anspruch. 3 Das Verständnis der Normen von seelischer Krankheit und Gesundheit, das jedem Verstehen pathologischer Symptome vorangeht und das gerade in der Beziehung von Arzt und Patient wirksam und bedeutsam wird, sollte vertieft werden. Geisteskrankheiten seien nicht schlicht Gehirnkrankheiten (Griesinger 1845), wie dies das Paradigma der damaligen wie auch noch der heutigen Hirnpsychiatrie in der Hoffnung unterstellte, dass sich die histopathologischen Grundlagen der Geisteskrankheiten vollständig identifizieren ließen, um so eine optimale somatische Therapie entwickeln zu können. Mit Ende des 19. Jahrhunderts rückten das Phänomen der Zeit und die unterschiedlichen Formen zeitlichen Erlebens in ihrer persönlichkeitskonstitutiven und -wandelnden Bedeutung erneut in das philosophische Interesse, und zwar zum einen im Zuge der Lebensphilosophie Bergsons, zum anderen im Rahmen der Phänomenologie zunächst durch Husserl, dann durch Scheler und schließlich durch Martin Heidegger, die alle ein abstraktes Zeitverständnis auf seine Grundlage in der gelebten Erfahrung zurückzuführen suchten. Die Anthropologische Psychiatrie 4 knüpfte daran in methodischer, be3 Vgl. hierzu v. a. J. H. Schultz’ Konzeption einer bionomen Grundlegung der medizinischen Psychologie. Schultz war neben V. E. von Gebsattel und V. Frankl Mitherausgeber des Handbuchs für Neurosenlehre und trat für eine Vermittlung der Grabenkämpfe zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein: »Wir setzen also eine wissenschaftlich besonnen abgegrenzte medizinische Psychologie scharf ab gegen Philosophie, Pädagogik, Kulturwissenschaft, Theologie und Seelsorge. Keinesfalls aus ärztlicher Überheblichkeit, sondern genau im Gegenteil gerade aus geziemender Achtung und Ehrfurcht vor den hier verwalteten höchsten Menschheitsgütern. Nur muß – wie es scheint, ganz besonders heute in den Tagen einer wildgewordenen Psychosomatik – mit allergrößtem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß eben gerade diese Ewigkeitswelten menschlichen Geistes völlig ›oberhalb‹ der Kategorien gesund/krank stehen; hier geht es um recht/unrecht, um wahr/unwahr, um schön/ häßlich, niemals aber im eigentlichen Sinne um gesund/krank« (Schultz 1955, 22). Dennoch: »So führt besonnene, kritische und abständige Betrachtung der bionomen Problematik unausweichlich und unversehens in höchste allgemein menschliche Haltungen, mögen die im einzelnen erörterten Zusammenhänge auch auf den ersten Blick, ganz besonders im Bereich des Seelischen, ›nur‹ naturnahe Primitivabläufe bedeuten« (ebd., 9). 4 Jaspers bespricht sie in der vierten Auflage seiner Allgemeinen Psychopathologie unter der Bezeichnung »konstruktiv-genetische Psychopathologie« (Jaspers 1948, 453 ff.) und unterzieht sie hier auch scharfer – teils oberflächlicher –, aber von ihrem eigenen Anliegen her vollkommen gerechtfertigter Kritik (Kupke 2009). Straus – und nicht nur er, sondern auch von Gebsattel (Hilt 2014) – nimmt die Jaspers’sche Kritik in die Differenzierung der Kategorien des Erlebens auf. Dabei ist er sich durchaus der
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grifflicher und schließlich auch ethischer Hinsicht an, suchte, ausgehend von den veränderten und gestörten Zeitbezügen der Leidenden, psychopathologische Störungen zu erhellen und zielte dabei auf eine Grundschicht des menschlichen Lebens und Erlebens, die sich nicht in einer abstrakten Zeit befindet, sondern sich mit der gelebten und erlebten Zeit zum personalen Leben als Werden und Vergehen entfaltet (Minkowski 1971, 27), was interpersonal, so z. B. im ärztlichen Umgang mit dem kranken Menschen, aufgegriffen, gewandelt, gestärkt werden kann. Erst in diesem Werden kommen Person und Persönlichkeit zum Ausdruck, gewinnen Wirklichkeit und Beständigkeit im Austausch mit der Welt und ergeben ein »Sinn-Bild« in gelingender wie auch in als misslingend erfahrener Lebensführung: 5 In Gestalt einer »Norm« für die Verwirklichungsbedingungen dessen, wie ich mich in meinem Werden empfinde und entwerfe – mich selbst (Individualnorm) und mit anderen (Kollektivnorm). 6 Philosophisch wie psychopathologisch wurde auf eine Aufarbeitung unserer Haltung der Zeit gegenüber abgezielt, die nicht mehr von der alltäglichen Auffassung einer quantitativ verstandenen Zeit und auch nicht von der Praxis einer uns entfremdeten Zeit (dem Leistungsdruck, der Zeitknappheit, der Erfahrung von Zeitleere) geprägt ist. Besinnung auf die Zeit hat den therapeutischen Aspekt, leben zu lernen: »Das Problem der Zeit« – trotz des abstrakten Charakters, den es in seiner philosophischen Besinnung annimmt – wird so »das lebendigste und persönlichste Problem für jeden von uns« (Minkowski 1971, 15). Fallen einer unreflektierten Begriffsübertragung vom biologischen auf den psychischen und schließlich auch den ethischen Bereich bewusst. Straus (1960b, 136) hinsichtlich der Bedeutungs- und Wert-Modifizierung vitaler Reize durch das subjektive Zeiterleben: »Wir sind in der Psychiatrie gewohnt […], psychische Gegebenheiten zur Diagnose und Kennzeichnung biologischer Funktionsstörungen zu verwenden. Dabei wird die Eigenart biologischer Begriffsbildung zuweilen verwischt, und den psychiatrisch-biologischen Begriffen werden Merkmale beigelegt, die sie nur als psychologische Begriffe haben können. […] Aber nur in einem Erleben, in dem die an einen Zeitpunkt datierbaren Geschehnisse einem übergreifenden Zusammenhang der immanenten Zeit eingeordnet werden, nur in einem solchen Erleben hat das Nicht-Geschehen die Gestalt der Lücke, des Ausfalls, der Hemmung, kann Tun und Nicht-Tun den Sinn des Erledigens und Nicht-Erledigens annehmen.« 5 Vgl. Schultz (1955, 18) zum Begriff des »Sinn-Bildes« und der anamnetischen SinnBild-Betrachtung. 6 Zu dieser Differenzierung durch H. Müller-Suur, siehe den letzten Abschnitt des Aufsatzes.
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Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung
Phänomenologisch 7 orientiert suchten diese anthropologischpsychopathologischen Ansätze »zu den Sachen selbst«, zu den Phänomenen des Erlebens, d. h. zu der unmittelbaren bzw. der intuitiven Erfahrung selbst zurückzukehren, 8 womit sie sich auch – mehr oder weniger fundierte – Kritik zuzogen. Vor allem Karl Jaspers forderte sie, nicht nur von einem philosophischen Anspruch ausgehend, sondern auch unter dem Gesichtspunkt diagnostischer Fragestellungen heraus: Ihr Zeitbegriff, rückgebunden an einen élan vital, an ein gelebtes Werden, das stets in Gefahr steht, gehemmt zu werden, sei für die psychopathologische Anwendung nur mangelhaft differenziert. Nicht allein hinsichtlich empirischer Verifizierbarkeit, sondern auch hinsichtlich der anthropologischen Implikationen, eine Einheit des Menschen in einem vitalen Grund von Leben und Erleben anzusetzen, öffne dieser Ansatz der Beliebigkeit Tür und Tor. Der Begriff des Werdens bleibe […] so vielfach an Bedeutung – vom außerbewußten vitalen Vorgang bis zum Zeiterleben, von einem innerlich nicht zu vergegenwärtigenden Vorgang bis zu einem psychologisch anschaulichen Zustand – so unbestimmt in [seinem] außerbewußten Wesen, das biologisch genannt wird, aber jeder Zugänglichkeit auf biologischem Forschungswege entbehrt, so unanschaulich, daß [es] am Ende nur das rätselhafte Ganze, das Leben selbst, ist, das auf keinem Wege der Erkenntnis zugänglich, weil niemals ein bestimmt faßlicher Gegenstand werden kann (Jaspers 1948, 456). 9
7 Mit unterschiedlicher Ausrichtung: So griff Binswanger zunächst in seiner Daseinsanalyse in den 1930er bis 50er Jahren v. a. auf Heidegger zurück, wandte sich dann verstärkt den Husserl’schen Überlegungen zur Intersubjektivität zu (Binswanger 1960). Erwin Straus griff auf Heideggers In-der-Welt-Sein zurück, Minkowski verwarf den seines Erachtens für Fragen der Psychopathologie zu generellen Husserl’schen Ansatz und entwickelte Bergsons Auffassung vom élan vital weiter und griff auch auf M. Blondel zurück (Minkowski 1971, 15, 29, 31, 58). Von Gebsattel hingegen orientierte sich – neben Kierkegaards Existenzphilosophie – v. a. an Max Schelers Philosophie der Person, vgl. hierzu auch Passie (1995, 169–192). 8 Straus formulierte dies in Anlehnung an Husserl als philosophische epoché, durch die nicht die natürliche Einstellung außer Spiel gesetzt wird, sondern vielmehr »all philosophical teachings« (Straus 1966, 274) – der psychiatrischen Situation, dem kranken Menschen begegnend, der eigenen Erfahrung in der Situation ausgesetzt, »I shall expose myself to philosophical adventures« (ebd.). 9 Kupke (2009) zeigt, wie sich dieser nomothetische Ansatz, psychiatrische Phänomene auf Abwandlungen einer Grundform des Zeitlebens zurückzuführen, in einer zweiten Generation der »Zeit-Psychopathologie« (Hubertus Tellenbach, Alfred Kraus und Wolfgang Blankenburg) herausbildet. Kupke selbst entwirft, mit Blick auf eine
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Nichtsdestotrotz: Dieser Neuansatz der Anthropologischen Psychiatrie stellt gerade diejenigen subjektiven Erlebnisqualitäten psychischer Störungen in der Selbst- und Welterfahrung von Patienten ins Zentrum, die sich im Jaspers’schen Sinne nicht erklären, sondern allerhöchstens verstehen lassen können, indem wir im Ausgang von ihnen nach jener »Norm« des Erlebens suchen, die festlegt, wie sich unsere Erfahrungen unserer anthropologischen Kondition entsprechend konstituieren. Wie sich Abweichungen von dieser Norm zeigen, kann dann Grundlage dafür sein, sich diagnostisch über diese zu verständigen. Der kranke Mensch ist als leib-seelische Ganzheit in seinem Erleben von seinem Leiden betroffen; dies lasse sich indes nicht über theoretische Betrachtung und deren Modelle fassen, sondern vielmehr durch eine möglichst unmittelbare Beschäftigung mit den Phänomenen des Krankheitserlebens: In der Praxis der therapeutischen Interaktion, die von der konkreten, von der werdenden personalen Begegnung lebt und zum exemplarischen Phänomen für die philosophische Reflexion wird. Hier transformiert die Anthropologische Psychiatrie eine rein erkenntnistheoretische Phänomenologie, die die Sachverhalte des Erlebens und den Ort ihrer Konstitution in der Subjektivität zwar unter der Einklammerung jeglicher dogmatischer Realitätssetzung auszuloten suchte, dabei jedoch die methodische Reduktion auf grundlegende Erfahrungsschichten allzu schnell von den konkreten Erlebensund eben auch Leidensbedingungen abkoppelt: Das transzendentale Subjekt ist nicht »der kranke Mensch«, ist nicht der konkrete Mensch, wie er in seinen sozialen und biographischen Kontexten leibt und lebt. Die phänomenologische Philosophie hat dies ihrerseits aufgegriffen, so v. a. Maurice Merleau-Ponty (1965), der in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung eine Fülle an psychopathologischen und psychiatrischen Erkenntnissen aufgreift, und Eugen Fink (1979), der in seinen Grundphänomenen des menschlichen Daseins nicht mehr die eine Grundschicht des Erlebens, sondern eine Vielzahl an Kategorien des Wirklichkeitskontaktes herausarbeitet. In diesem Sinne gilt es, das Erleben der Patienten in seinem unmittelbaren Erscheinen, d. h. vor der Frage nach seiner Realität oder Irrealität und somit in der Wirklichkeitsgeltung für den Erleidenden zu beschreiben, zu verstehen
psychiatrische Heuristik, einen polythetischen Ansatz unterschiedlicher Zeiten, in denen sich Existenzerfahrung und Handeln ausdrücken.
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Erwin Straus’ Phänomenologie der Erfahrung
und zu begreifen, 10 und zwar in der jeweiligen Besonderheit eines individuellen, subjektiven Gesetzes und dessen Norm und demnach vor jeglicher kausalen, ätiologischen Erklärung. 11
Sinnliche Erfahrungsbildung oder ein archimedischer Punkt im Sinn der Sinne Sinnliche Erfahrung »ist die Erfahrung beweglicher Geschöpfe. Beweglichkeit stellt uns allem anderen gegenüber. Im Gegenüber-sein erst ist sinnliche Erfahrung möglich« (Straus 1960a, 394), indes ist dieses Gegenüber-sein stets schon an eine Genese unserer Erfahrungen gebunden; der archimedische Punkt unserer Erfahrung, von dem aus wir sie und uns selbst situieren können, bildet sich erst in der Sinnlichkeit selbst und über deren spezifisch anthropomorphe Qualitäten; für Straus ist dies v. a. der aufrechte Gang, welcher der Schwerkraft trotzt und der Hindernisse in Form eingeschränkter Perspektiven überwinden kann (Straus 1969, 34). 12 Sinnliche Erfahrung ist conditio unserer komplexen Erfahrungsstrukturen und -ordnungen, die wir selbst in unserem Verhältnis zur Wirklichkeit ausdifferenzieren; aus den Strukturen sinnlicher Erfahrungen in ihren Modifikationsmöglichkeiten kann schließlich auch ein Modell für die Erfahrungsbildung – also die genetische Ordnung dieser Erfahrungsbildung – gewonnen werden. 13 Die unterschiedlichen Qualitäten, in denen sich sinnliche Vgl. Hilt (2009) zu dieser von V. v. Weizsäcker geprägten Trias. Von Gebsattel spricht von einer »übermedizinischen Orientierung, die sich selber als die eigentlich ›ärztliche‹ Einstellung zu erkennen« glaubt (von Gebsattel 2014, 53). 12 So stellt sich für Straus zwar bereits die Architektonik pflanzlichen Lebens, ihr Wachstum von den Wurzeln in die Höhe, als Überwindung der Schwerkraft dar, doch zeichnet sich die animalische und schließlich die menschliche aufrechte Positur dadurch aus, dass sie mehr als nur Bewegung in eine dem Boden entgegengesetzte Richtung ist, sondern ein »Auf-Stehen«, das sich des Spielraums der Bewegungsmöglichkeiten gegen Widerstände bewusst wird und einem konstanten Antrieb geschuldet ist. Das Auf-Stehen, das aktive Mühen gegen die Schwerkraft ist Bedingung für das Bewegen-können, darüber hinaus ist es Ausdruck der »Selbstaffirmation« eines Lebewesens (Straus 1969, 9). Für den Menschen stellt sich diese Situation noch einmal differenzierter und in erweiterter Form dar, insofern er in dem Horizont seines Könnens zu sich selbst exzentrisch wird, seine Erfahrung eine bipolare Struktur besitzt, er sich selbst und die Welt als das »Andere« dazu in ein Verhältnis setzen, in seiner aufrechten Positur unterschiedliche Standpunkte einnehmen (ebd., 71 ff.), sich selbst in seiner Position in der Welt reflektieren kann. 13 Straus geht in seinem Aufsatz Der Archimedische Punkt von der wohlbekannten 10 11
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Erfahrung darbietet, verkörpern Werte, die diese Qualitäten für unsere auf die Zukunft bezogene Erfahrung – unser Erleben des persönlichen Werdens – annehmen und die auch unsere gemachten Erfahrungen, unseren Bezug zur Vergangenheit, tönen. Als werthafte fungieren diese Strukturen und Ordnungen der Erfahrung als konstitutive Normen – als Voraussetzungen dafür, dass wir uns durch das Erleben unserer eigenen Fähigkeiten nicht nur in die Zukunft entwerfen, die Zukunft antizipieren können, sondern auch hinsichtlich unserer Möglichkeiten, mit anderen Menschen zu sein. Straus entwickelt diese »Norm« der natürlichen Einstellung, mit der wir uns unserer Wirklichkeit stetig versichern, zum einen aus der Kommunikationsstruktur von Ich und Welt, die über unsere unterschiedlichen Sinne, aber eben auch die ihnen gemeinsam gegebene Struktur des Empfindens ermöglicht wird, zum anderen entlang der Strukturierung des Erlebens über die Synchronisierung der äußeren Ereignisse mit unserem inneren Zeiterleben, wodurch erst die Sedimentierung von Erfahrungen aus dem Erleben möglich wird. Charakteristisch für das Empfinden ist, nicht nur auf eine leibliche Funktion begrenzt zu sein, sondern einen Beziehungsspielraum zu öffnen, der in der Sinnlichkeit auf unterschiedliche Beziehungsformen angelegt ist: Empfinden ist zum einen auf eine Welt in einem offenen Horizont gerichtet – geprägt durch die »Leerform« bzw. den Leerhorizont der Ferne –, zum anderen ist es eine Weise des Zur-Welt-Seins, die strukturell auf Transzendenz hinzielt, nämlich auf die Gestaltung eines Bildes mit Vorder- und Hintergrund, auf einen dreidimensionalen Aktionsraum. Empfinden drängt zum Wahrnehmen, zum Erkennen, zum Urteilen, zu einem erfahrenden und erfahrenen Umgang mit der Welt, aus dem heraus sich Normen unserer subjektiv empfundenen Wirklichkeit konstituieren, um die Ferne, die Neutralität eines bloß zufälligen Vorfindens von uns, den Dingen und den andeModellbildung der Neurophysiologie aus: »Viel Eifer ist darauf verwandt worden, Gehirnmodelle zu ersinnen, die, wie man hoffte, eine Nachbildung und Erklärung des Verhaltens und Erlebens ermöglichen sollten. Man beginnt mit einer Re-construktion, ohne sich viel um die Struktur des Originals zu sorgen. Dieser gewaltsame Versuch, das Verhalten und Erleben in der Begriffs-Sprache der cerebralen Mechanismen auszudrücken, wird durch zwei uns natürliche Täuschungsrichtungen gefördert. Wir neigen dazu, unsere Vertrautheit mit der Alltagswelt als Erkenntnis zu deuten und in der Mühelosigkeit unserer seelischen Leistungen ein Anzeichen für die Einfachheit ihres Aufbaus zu finden. Wir übersehen die komplexe Struktur scheinbar einfacher Erlebnisse« (Straus 1960a, 378).
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ren Menschen im Raum, zu ent-fernen, ihr unterschiedliche Qualitäten zu geben, sodass bestimmt wird, wie und welche Bedeutung Wirklichkeit für uns hat. Aus diesen Normen lassen sich dann auch ihre exzentrischen 14 – reflexiven – und für Straus v. a. auch pathologischen Abweichungen bestimmen. Sinnliche Erfahrung als subjektive, d. h. von uns erlebte, uns betreffende und darin ihre unmittelbare Geltung besitzende, hat – empfindet – ihre Wirklichkeit vor jedem Zweifel, ob sie überhaupt in einem Verhältnis zu einer von ihr geschiedenen Außenwelt stünde: Dies ist die »natürliche« bzw. »alltägliche Einstellung« unserer sinnlichen Gewissheit, wie wir uns selbst und uns Welt vor-reflexiv gegeben sind. Empfinden weiß um sich und was empfunden wird; es ist noch nicht perfektiv ein Erkannt-haben, das um alternative Perspektiven auf sich, seine Inhalte und Gegenstände, um alternative Deutungen weiß. So ist Empfinden einerseits vom Erkennen – der gnostischen Einstellung – zu trennen, andererseits aber auch von der explizit objektivierenden Einstellung des Wahrnehmens, das bereits die Ferne zu dem sinnlich Gegebenen er- und durchmisst, sich in Stellung bringt sowie bewusst die eigene Exzentrik vollzieht und simuliert. Sinnliche Erfahrung ist im Empfinden wirklich und geht der Wahrnehmung von etwas Singulärem, verstanden als prädikativer Gegebenheit, stets voraus; Wahrnehmung schöpft ihre Wirklichkeit und ihren Objektivitätsanspruch aus dieser sinnlichen Gewissheit, mit der der Empfindende sein Jetzt und sein Hier in und zu einer Welt hat – sich selbst in ihr weiß. Ich und Welt sind in der subjektiven Realität wechselseitig aufeinander bezogen, Subjekt und Objekt befinden sich im Erlebnis dieser kommunikativen Beziehung von Ich und Allon in wechselseitiger Abhängigkeit, 15 sodass hierin nicht nur ihr Bezug aus einer externen Perspektive, sondern auch ihr Gegenüber-sein, wie es aus der subjektiven Situation heraus erfahrbar ist, bestimmt wird. Erst die subjektive Realität des Empfindens macht die gegenständliche Qualität der Welt als mit uns kommunizierender aus, dies freilich in vor-reflexiver und vorbegrifflicher Weise, kennt Vgl. Fußnote 13. Dieser Begriff bezeichnet das für die sinnliche Kommunikation konstitutive Andere: Das Allon ist nicht nur Objekt für ein Subjekt, sondern Teil einer Welt, zu der ich und andere gehören und es kann mir und anderen in der Wahrnehmung insofern gemeinsam sein, als dass es mit ganz unterschiedlichen sinnlichen Lebewesen in Kommunikation treten kann (Straus 1969, 25).
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sie doch weder Urteil noch Begriff von dieser Realität; gleichwohl fällt das Empfinden nicht mit der subjektiven Wirklichkeit zusammen, sondern hat bereits eine Dimensioniertheit mit ihr umzugehen, denn die Form des Raum-Zeitlichen unseres Empfindens ermöglicht die Richtung: »Die Ferne ist die raumzeitliche Form des Empfindens« (Straus 1956, 405), formuliert Straus als strukturierende These und Abschluss seiner deskriptiven Erkundungen der Sinnlichkeit, des Empfindens gegenüber den Aporien der unterschiedlichen Theorien seiner Zeit, deren Cartesianismus und der Trennung von Zeit und Raum in den psycho-physischen Modellen von Wahrnehmen und Erkennen. Die Beziehung von Nähe und Ferne ist selbst nicht räumlich im Sinne eines Nebeneinanders, sondern hat eine zeitliche Dimension, die sich aus unserer Beweglichkeit ergibt: Das Verhältnis von Nähe und Ferne ist eines der Ent-fernung, die dynamisch – in der Zeit – durchmessen und verändert werden kann. Diese Kategorienlehre des Empfindens darf nun nicht im Horizont der physikalischen Raumund Zeitbegriffe gedeutet werden, die durch die Vergegenständlichung des Raumes als eines Wahrnehmungsraums bestimmt sind, von dem der Wahrnehmende in der Wahrnehmung selbst kein Teil ist, der ein abstrakter, idealer, geometrischer Raum unabhängig von leiblicher Gestalt ist. Neben der Abstraktion werden weiterhin in diesen kategorialen Systemen Raum und Zeit voneinander getrennt und erst in Vorstellungen urteilend aufeinander bezogen, die nach dem sinnlichen Empfinden einsetzen, wobei dieses selbst weder räumliche noch zeitliche Qualitäten kennt. Schließlich legen diese nicht-integrativen Raum- und Zeitvorstellungen jeweils einen homogenen, metrischen Raum und eine quantitative, atomistische Ordnung von zählbaren Zeit-Einheiten zugrunde, auf die die Sinnesempfindungen bezogen werden. (Ebd., 404) Nähe und Ferne sind hingegen keine Bestimmungen in einem metrischen Raum oder auf einem gleichmäßigen Zeitstrahl, sondern stehen in einer Konstitutionsbeziehung zueinander: »Ferne« schließt die Unterscheidung von »nah« und »fern« in sich ein, die sich wiederum gegenseitig bestimmen; das Ferne steht immer im Kontrast zur Nähe wie auch die Nähe zwar über ihren begrenzten Horizont alles Fernerliegende vergessen kann, gleichwohl die Nahbeziehung jedoch stets wieder an Grenzen stößt, die erst auf Ferne hin überwindbar werden. Insofern Empfinden als gerichtet und gerichtetes durch Ferne ermöglicht ist, kann sie nicht auf spezifische Leistungen von Fernsinnen 186 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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bezogen werden. »Ferne« meint nicht metrischen Abstand zwischen einem Wahrnehmendem und seinem Gegenstand (ebd., 406), sondern vielmehr die nähernde Bewegungsrichtung auf Fernes, indem ich mich einem Gegenstand bzw. mir jenen in meiner Aufmerksamkeit annähere. Exemplarisch nähere ich mich im Tasten dem Tastbaren aus einer Leere, sodass jenes im Tasten zunächst durch einen Widerstand gegen meine Bewegung begrenzt wird. Im Tasten scheide ich den Gegenstand von der Leere. Ferne ist Leerform einer Sinnes-Sphäre (ebd., 407) und von jeder erfüllten Form öffnet sich wieder Ferne der Welt zu mir als kinästhetisch verortet Empfindenden. Im Empfinden gliedert sich Ferne in Hier und Dort, als ein zukünftig zu erreichendes, vor mir liegendes Ziel oder als ein nur noch erinnertes, vergangenes Ziel, das ich mir wieder vergegenwärtigen kann. Wir befinden uns nicht nur im Raum, sondern, insofern wir im Raum immer schon physiologisch ausgerichtet sind, aufrecht zum Boden. Indem unser leibliches Können den Widerstand überwindend einen Standpunkt einnimmt, können wir uns im Raum als den Dingen gegenüber positioniert verstehen. »Das Gegenüber-sein ist für den Erlebenden ein unaufhebbares Verhältnis. Es ist in der Beweglichkeit fundiert«, die wiederum in der Standortnahme fundiert ist, »in der mit der Möglichkeit übernommenen Notwendigkeit, die Schwere zu überwinden, dich vom Grund zu lösen und sich in der Geschlossenheit der leiblichen Existenz […] zu verhalten« (Straus 1960a, 383). In der Bewegung bleibt unser Leib immer im Zentrum des Raumes, bleibt wahrnehmender Nullpunkt; aus der auf die Ferne ausgerichteten Struktur des Empfindens wird indes Exzentrierung möglich: Das Raum-Ganze können wir nicht greifen, aber wir können es be-greifen […]. Obwohl der Beobachter immer im Zentrum seines Blickfeldes bleibt, kann er sich doch gleichsam von dieser Position emanzipieren […]. Der Aktionsraum wird in einen Raum verwandelt, auf den der Beobachter wie von einem Turm her hinblickt (ebd., 386).
Eine kommunikative Beziehung setzt insofern Ferne voraus, als dass sie Trennung ermöglicht: Communication requires the separateness of those who arrive at an understanding just as it requires something shared to mediate the mutual understanding. The fact of mutual understanding implies spatial distance between me and you and, likewise, spatial distance from such and such a mediating visible thing (Straus 1969, 28).
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Nicht als radikale Trennung, sondern eher in Form einer zu überschreitenden Schwelle ermöglicht die Ferne die Scheidung von Ich und Allon: »Since our relation to the world takes the form of contraposition, of dehiscence rather than a radical break, there is no radical separation of subject and object. Both, complete belonging and complete distance, suspend the relationship to the Allon« (ebd., 46). Ich und Allon bewegen sich zueinander; sensomotorische Kommunikation mit der Welt ist synkinesis: Der Gegenstand sinnlicher Erfahrung, der mich zugleich anspricht, nähert sich mir; ich ent-ferne ihn über die Variation meiner sensomotorischen Ausrichtung im Empfinden. In dieser Struktur des Empfindens verkörpert sich unsere Leiblichkeit: Unser Leibsein ist uns gegeben durch unser Körperschema und somit ausdrücklich nicht als Konfiguration, sondern als ein »Schema« möglicher Aktion (Straus 1960a, 266), nämlich der Kommunikation mit der Welt, in und zu der ich mich befinde. Diese Welt besitzt Kontinuität, setzt sich also nicht Stück für Stück aus unseren Empfindungen zusammen, sondern umgibt uns: Welt ist uns als empfindenden Menschen sinnlich als werthaft erfüllter Horizont gegeben, in dem uns Dinge ansprechen, in dem wir uns mit den Dingen im Wandel erleben. Der Empfindende hat nicht einfach nur Empfindungen, sondern erlebt »empfindend sich und die Welt im Wandel des Werdens« (Straus 1956, 367). Die umfassende Räumlichkeit unseres Empfindens ist zugleich zeitlich als Erleben von Dauer im Einklang unserer Kommunikation mit der Welt gegeben, unseren Veränderungen mit der Zeit, 16 die sich als gelebte Zeit nicht auf die Zeit, einen allgemeinen Zeitstrahl, reduzieren lässt. Vielmehr ist sie retentional und protentional um unser Leben dimensioniert und hat für uns eine Richtung; darin folgt Straus, wie auch seine Kollegen des »Wengener Kreises« Binswanger, Minkowski und von Gebsattel (Passie 1995), der phänomenologischen Konstitution von Zeit. Zeiträumlich ist diese Empfindungswelt als Aktionsraum, als Spielraum (Straus 1956, 373), offen für die Fortsetzbarkeit von Empfindungen
Vgl. Minkowski (1971, 27): »Und wenn wir dem Werden unbedingt irgend ein konkretes Phänomen gegenüberstellen müßten, so würden wir nicht zuerst an die Aufeinanderfolge von Gefühlszuständen und von Vorstellungen oder an die Bewegung unorganisierter Körper denken, d. h. an Veränderungen in der Zeit, sondern an Veränderungen mit der Zeit oder in Beziehung zur Zeit. Dem entsprechen einerseits die persönliche Entfaltung und die schöpferische Tätigkeit und andererseits die ›Abnützung‹ der Zeit: das Alter, der Tod.« 16
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in ihrer ursprünglichen Gerichtetheit, für die Anschlussfähigkeit neuer an gemachte Erfahrungen. [Das] Empfinden gibt mir die Welt für mich, jetzt, jeweilig, nicht wiederholbar, an meine Aktion und meine Zuständlichkeit gebunden. Will ich erkennen, will ich zu den Dingen gelangen, wie sie an sich sind, so muß ich diese perspektivische Bindung durchbrechen. Ich muß Distanz zu mir gewinnen, das Jetzt auflösen, mir selbst in einer allgemeinen Ordnung identifizierbar werden, also gleichsam aus der Mitte, in die ich beim Empfinden gestellt bin, heraustreten, mir selbst fremd werden. Alles Denken und Erkennen, ja schon alles Sprechen ist von Anfang an reflexiv (ebd., 331).
Jenes Denken, Erkennen und Sprechen steht in einem Selbstverhältnis. Voraussetzung dafür ist der Vollzug einer Negation, der existentiellen Verneinung der Unmittelbarkeit unseres Daseins im Empfinden, in jener Perspektive des Augenblicks, die wir durch einen Wandel der Einstellung zur Welt gewinnen: Wir stellen uns fragend zur Welt und zu uns selbst. Im Wechsel von Empfinden, Wahrnehmen und Erkennen wandelt sich die Kommunikation mit der Welt und mit ihr das Subjekt dieser Kommunikation. Empfinden ermöglicht dem sinnlichen Individuum Affirmation und Orientierung. Zugleich ist im sinnlichen Empfinden bereits die Transzendenz dieser Beziehung angelegt. So ist zwar die Welt in ihren sinnlichen Qualitäten für mich, jedoch nicht für ein in sich ruhendes Subjekt der Erkenntnis da, also für eines, das sich mit dem Wandel des Erscheinenden selbst wandelt und auf ganz unterschiedliche Kommunikationsformen – kinästhetisch, wahrnehmend und erkennend – in einem Spektrum der Sinne zurückgreifen kann; hier ist der Sehsinn für Straus prototypisch für die »Gegen-Standstellung« von Ich und Welt und wird zum Sinnbild der Exzentrik im Erleben, des Wechsels von empfindender zu wahrnehmender Kommunikation. 17 Im Sehen habe ich nicht nur Welt, sondern auch meinen sinnlichen Leib als Körper, habe ihn als Gegenstand: »[U]nter allen Sinnen [dient] der Gesichtssinn am vollkommensten der erkennenden Einsicht« (Straus 1956, 393). Im Sehen sind wir zuvorderst dem Gegenstand zugewandt, denn anders als beim Tasten habe ich im Sehen keine unmittelbare Doppelempfindung von Tastendem und Getastetem. Der Sehende ist nicht im Blick des Sehens. Die sichtbaren Qualitäten haften am Gegenstand, sind gleichsam Attribute der Dinge und werden zumeist adjektivisch benannt (»Das Meer ist grün«), wohingegen die auditiven Qualitäten eher die expressive Qualität der Welt wiedergeben, der Klang verbal benannt wird (»Das Meer rauscht«) und darüber hinaus auch von der
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In der Vergegenständlichung schwindet das Elementare des Mit-Seins. Die Axiomatik des Alltags läßt keinen Zweifel, daß ich das Mein-Sein meines Leibes im Berührtwerden unmittelbar, d. h. nicht gegenständlich erfahre. […] Im Spiegel allerdings kann ich »mich« sehen; jedoch was mir da erscheint, ist ein Bild, von dem ich weiß, daß es mich darstellt. Seine Zugehörigkeit zu mir weist sich nicht unmittelbar aus (ebd., 391).
Erst über einen reflexiven Akt erfasse ich »mich« im Spiegel, wobei zu diesem Bild auch der meiner Sicht entzogene Rücken gehört (ebd.). Die Empfindungswelt lässt sich in eine Wahrnehmungswelt transformieren – zu einer neuen Kommunikationsform unserer Sinnlichkeit. Die Wahrnehmungswelt »ist eine Welt von Dingen mit festen und veränderlichen Eigenschaften in einem allgemeinen, objektiven Raum und einer allgemeinen, objektiven Zeit« (ebd., 334). Dieser Raum ist aber erst durch die Empfindung konstituiert, sodass er eine Darstellung, ein Bild ist. »[D]er Raum der Empfindungswelt verhält sich […] zu dem Raum der Wahrnehmungswelt wie die Landschaft zur Geographie« (ebd.). Wahrnehmungen müssen allgemein darstellbar sein, ihre Darstellung lässt sich beliebig wiederholen: »Dazu fordert die Wahrnehmung ein allgemeines, objektives, systematisch geordnetes, konstruierbares von der Zahl beherrschtes Medium« (ebd. 347), d. h. ein Koordinatensystem, in das sich jeder Ort und jede Zeit, jedes Ding und schließlich ich mich selbst eintragen kann (ebd.). Ein solches Medium hat keine bestimmte Perspektive, sondern entsteht vielmehr durch die Loslösung von der Perspektive des Empfindens. Dies wird ermöglicht durch die Art unseres Zeiterlebens, in der Strukturierung unseres Zeiterlebens über zwei Dimensionen: die Ich- und die Weltzeit bzw. die erlebnisimmanente und die erlebnistranseunte Zeit. 18 Darüber und im Ausgang von der Norm sinnlicher Klangquelle abgelöst werden kann (ebd., 398 f.). Schließlich ist uns Sichtbares synchron in einem Raumhorizont, Hörbares diachron in einem Zeithorizont gegeben, so Straus (ebd.), der den Gesichtssinn als einen analytischen, den auditiven als synthetischen Sinn charakterisiert, hier allerdings nicht die phänomenologische Einsicht in das innere Zeitbewusstsein und die re- und protentionalen Leistungen in der Gegenwärtigkeit eines Erlebenshorizontes mitberücksichtigt. Erfahre ich mich zwar auch im Sehen von etwas als Sehenden, dessen visuelle Kommunikation mit der Welt durch blendendes Licht oder organische Defekte gestört werden kann, so wird doch im Sehen die empfindende Kommunikation und die unmittelbare Beteiligung des Empfindenden in ihr am ehesten ausgeblendet. 18 Straus nimmt hier die Hönigswald’sche Begriffsprägung auf (Straus 1960b, 126). Wenngleich der Aufsatz Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung bereits 1926 erschien, so bleibt diese Begrenzung
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Gewissheit, als der grundlegenden kommunikativen Beziehung zwischen Mensch und Welt, lassen sich nun auch deformierte Formen des Bezugs zwischen Ich und Welt bestimmen.
Normen der Erfahrung und ihre pathologischen Abwandlungen im Zeiterleben Wie bis hierhin gesehen, entwickelt Straus eine Norm der sinnlichen Erfahrung, die sich in der Kommunikation von Ich und Welt zeigt und immer wieder auf ein Neues bestätigt als ein Ausgreifen-können auf den Spiel- und Bewegungsraum unserer Sinnlichkeit; der gewohnte Umgang mit dieser Norm ist die Voraussetzung dafür, dass wir Erfahrungen machen können, die weitere Erfahrungsbildung möglich macht (Straus 1966, 277). Die Norm bestimmt nun die Konzeption pathologischer Phänomene, insofern die Norm das Scheitern des Erlebens und Empfindens in der Kommunikation mit einer Welt, die als Umfassende erlebt wird, erst ermöglicht. 1928 erscheint von von Gebsattel die Studie Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie, mit der von Gebsattel an Straus’ Studie zum Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung aus demselben Jahr anknüpft (Straus 1960b). Beide Studien lassen sich durch die Differenzierung, die Minkowski bereits in den 1910er Jahren in Die gelebte Zeit vollzog, charakterisieren: Ich- und Welt- bzw. Eigen- und Fremdzeit. Ich- und Weltzeit sind im Werden der Person, d. h. in ihrer persönlichen Geschichte und den Bedeutungen, die Ereignisse in dieser Geschichte erhalten, miteinander korreliert, werden syntonisch gelebt und dann in der Zeit als Ereignisse, Prozesse, Lebensabschnitte etc. gegliedert. Ich- und Weltzeit können entweder miteinander harmonieren oder in Kontrast treten: Ereignisse und Begebenheiten werden für unser Erleben werthaft, können aber auch wertindifferent bleiben, solange sie nicht für das sich stets an dem Weiterschreiten in die Zukunft orientierenden Wirken-können bedeutsam werden. auf die frühe Phänomenologie, so z. B. Scheler, nicht aber Husserl oder Heidegger, auch in den späteren Arbeiten Straus’ bestehen. Nichtsdestotrotz entwickelt er seine Thesen über die Beschreibung des modifizierten pathologischen Zeiterlebens und entwickelt hieran eine sich vorauslaufende Erlebenszeit wie auch eine durch die Synchronisierung von Ich- und Weltzeit re- und protentionale Struktur des inneren Zeiterlebens.
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Weltzeit vergeht in der Folge von Ereignissen, Ich-Zeit wächst als persönliche Geschichte (ebd., 129), die das singuläre Erleben transzendiert; 19 sie wächst insofern an das Zeiterleben die Ausgestaltung des eigenen Lebens geknüpft ist. Die werthafte Bedeutung, die erlebnistranseunte Ereignisse für die Ich-Zeit erhalten, bestätigt oder hemmt die Richtung, die im Erleben für das Werden der eigenen Geschichte, die Fortsetzbarkeit, die Bestätigung und Erfahrung impliziert ist: Für das Zeiterleben ist stets die Zukunft als Wirken-können und Sichentfalten wesentlich. Umgekehrt prägt die Verknüpfung des Zeiterlebens mit der persönlichen Geschichte auch die retentionale Präsenz von Vergangenem, sie prägt unser vitales Erleben, d. h. das, was überhaupt von einer wertindifferenten Begebenheit für uns zu einem werthaften Ereignis werden kann. Das Zeitleben als Werden, das in die Zukunft und zur Verwirklichung von etwas strebt, ist »die Erfahrung, die uns Misserfolge kennen lehrt, um unsere Kräfte einzuteilen und unsere Anstrengungen zu messen« (Minkowski 1971, 51); sie fundiert unser konstitutives Vertrauen in die Welt. Zeiterleben setzt bereits bei der biologischen Entwicklung an – an die »Zeitentfaltung«, die noch nicht in Abschnitte bzw. als eine Geschichte gegliedert ist: Solange die biologische Entwicklung ungestört ist und damit die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung gegeben ist, ist auch die Zukunft als antezipiertes [sic!] Wirken mitgegeben. […] Jede Veränderung, die das Zukunftserlebnis von außen oder innen erleidet, wirkt sogleich auf das gegenwärtige Erleben und sogar umgestaltend auf die Vergangenheit ein, die in keinem Fall als erstarrtes Gebilde hinter uns liegt. Auch vergangene Erlebnisse empfangen ihr Licht erst von dem zukünftigen Geschehen. Die Vergangenheit trägt und stützt uns nur, wenn der Weg in die Zukunft offen steht (Straus 1960b, 131 f.).
Können Erlebnisse nicht mehr erledigt werden, vergehen sie nicht, sodass an sie nicht mehr angeknüpft werden kann mit einem Erleben der Ich-Zeit, die wächst und neue Impulse über dieses eine Erlebnis hinaus als werthafte aufnehmen kann. Das Werden in der Zeit wird gehemmt, das antizipierte Wirken in die Zukunft wird allein als Ereignis in der Weltzeit erwartet und nicht mehr als eines, das in der Straus beschreibt dies anhand mehrerer Fallstudien bereits in seiner Untersuchung Geschehnis und Erlebnis von 1930 (Straus 1978) für die traumatische Umgestaltung von Erlebnissen, ohne jedoch explizit eine komplexe Struktur des Zeiterlebens zu entwickeln.
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Ich-Zeit werthaft angenommen, begrüßt oder auf sich genommen werden kann: Zeit geschieht nur noch, entfaltet sich indes nicht als eigene, wie dies Straus in seiner Studie von 1928 für die endogene Depression entwickelt. Das Zeiterleben selbst verliert seinen Aktionsund Spielraum, die Syntonie von Ich- und Weltzeit wandelt sich zur Hemmung der Ich-Zeit durch die Weltzeit. Die Hemmung stellt den Kontrast zu dem vertrauten Können, als unproblematische Fähigkeit des Bezugs zu sich selbst im Werden und in der eigenen Geschichte, dar, sie bildet einen Kontrast zur Norm. Vom Erleben zur Erfahrung und ihrer Norm einer habitualisierten Sicherheit aus, in der Welt mit sich selbst und mit anderen zu sein und zu werden, entwickelt Straus seine phänomenologische Methode: Nicht allein das abweichende Verhalten über physiologische Hypothesen zu erklären und dabei die Ich-Welt-Beziehung auf einzelne Aspekte in einem isolierten Organismus zu beziehen, sondern vielmehr den kranken Menschen über die Norm des Menschen als eines Lebewesens in Kommunikation mit der Welt zu verstehen. Pathologische Auffälligkeiten sind gestörte Modalitäten dieser Einstellung zur Welt (Straus 1966, 288). Die Norm entspringt einer existenzialen Struktur, nämlich der menschlichen Erfahrungsstruktur, die keinen Zweifel an der Gegebenheit von Welt, Menschen und Dingen, wie er sie empfindet, hat und die sich als Erfahrungsstruktur aus dem unproblematischen Vermögen, als Erfahrung zu wachsen, speist; in der Abwandlung der Norm wird dieses Vermögen, das Werden- und SichWandeln-können, problematisch. Der Verlust dieser Norm ist nicht nur einmalig, sondern tönt das ganze weitere Erleben und dessen Fähigkeit, sich überhaupt in einer Welt mit anderen zu verwurzeln. Es ist dies die Werdensnorm, die auf die prospektiven Entwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten eines Menschen bezogen ist. Der Begriff der Werdensnorm wurde durch den Psychopathologen Hemmo Müller-Suur seit den 1950er Jahren unter dem Aspekt einer anthropologisch begründbaren, individuellen Werdensnorm geprägt, die in die Beurteilung einer pathologischen Abweichung von der (kollektiven) Norm einfließen muss. Der prospektive Erwartungsbezug auf das Sich-selbst-Verwirklichen lässt sich nur über die erlebnisgegebene, subjektive – persönliche – Wertorientierung erschließen: [I]n der Natur des Menschen liegt es, dass sein Sein immer auch ein Nochnicht-Sein ist, das es zu verwirklichen gilt. So dass alles Faktische doch
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letztlich nur den Wert eines Schon-nicht-mehr-Seins haben kann, dem gegenüber wir uns in einer spannungshaften Situation des imaginären Vorausseins befinden (Müller-Suur 1966, 141).
Das imaginäre Voraussein ist es, was im Erleben wie auch im Erfahren allein durch den Betroffenen zu leisten ist, das erst erschlossen werden muss, bevor der Maßstab einer statistisch gewonnenen Durchschnittsnorm an die individuelle Norm des eigenen Könnens gelegt wird. Die kollektive Norm, das ist jene Norm, mit anderen umzugehen, mit ihnen zusammen Erfahrungen zu machen, diese zu wandeln und zu erweitern, im Austausch mit ihnen die Ich-Zeit zu entwickeln; diese kollektive Norm wird ebenfalls als werthaft erfahren. Doch auch sie ist wiederum eine Größe, die zuallererst im subjektiven Erleben erscheint und von hier allein aufgegriffen werden kann, insofern das Empfinden durch Ferne, als raum-zeitliche Form des Empfindens, ausgerichtet wird, sich auf die Welt richtet und schließlich Distanz zum Erleben ermöglicht, um einen Spielraum für die eigene Erfahrung und ihre Modifikationen zu gewinnen, die nun nicht einfach als Ereignis begegnen, sondern ausgestaltet und werthaft gewichtet werden können. Die Norm, die sich im subjektiven Empfinden gestaltet, kann als der archimedische Punkt dienen, den wir brauchen, um aus dem Empfinden unsere Erfahrungen zu bilden. Die Legende erzählt, daß Archimedes nach der Entdeckung der Hebelgesetze sich rühmend einen Standort gewünscht habe, von dem aus er die Welt aus den Angeln heben könnte. Es entging ihm, daß dem betrachtenden, entdeckenden, erfindenden Menschen dieser Wunsch schon lange erfüllt war (Straus 1960a, 397).
Indes ist die (Wieder-)Gewinnung dieses Punktes Aufgabe und insbesondere auch ärztliche Aufgabe; so führen Straus’ Betrachtungen zu der Aufgabe, die Abwandlung der Norm des Empfindens und des Zeiterlebens aus der eigens zu gestaltenden Norm abzuleiten, jener konstitutiven Norm des sich im Empfinden Verwirklichen-könnens, durch die wir Vertrauen haben in die synkinesis von Ich und Welt, die wir mit anderen Menschen teilen und die nicht ohne die Wir-Zeit, dem Zeiterleben, das durch andere Menschen vermittelt ist, möglich ist. Hier wäre eigens fortzufahren bei dem, was weniger Straus 20 Vgl. Zaner (2004) zu der bei Straus implizit bleibenden Frage der Intersubjektivität in der Arzt-Patient-Beziehung.
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denn sein Kollege von Gebsattel als die Aufgabe des Umgangs im gemeinsamen Werden von Arzt und Patient entwickelt hat (Hilt 2014). Indes ist auch diese gemeinsame Aufgabe einer therapeutischen synkinesis durch die raum-zeitliche Struktur des Erlebens und Straus’ Phänomenologie der Erfahrung geprägt, wenngleich sich für dieses intersubjektive Erleben der archimedische Punkt der Kommunikation mit und der Responsivität für den anderen Menschen noch einmal anders darstellen könnte, nämlich als gemeinsames Erleben und der Frage danach, wie sich hier Kommunikation in einem Resonanzraum der Ferne, einem Spielraum von Not und Hilfe, in der Hemmung des Ausdrucks eigenen Leidens und dem Versuch, diese Hemmung zu lösen, gestaltet.
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Zeit, Unmittelbarkeit und Geist: Straus’ und Theunissens Deutung des Zeiterlebens in der endogenen Depression Oliver Florig
Manche Aussagen schwer psychisch kranker Menschen sind so eindeutig krankheitsspezifisch oder so ausschließlich Ausdruck der individuellen Lage und Biographie des Patienten, dass sie andere Menschen nicht zu betreffen scheinen. Andere Aussagen hingegen sind bei aller Fremdheit ihrem Gehalt nach doch so verstörend vertraut und allgemein treffend, dass wir sie nicht so leicht objektivieren und damit existentiell neutralisieren können. Die folgenden Sätze einer unter Melancholie bzw. einer endogenen Depression leidenden Patientin des Psychiaters Gebsattel, die sicher vielen Lesern als Ilse K. wohlbekannt ist, gehören in die zweite Kategorie: Jetzt rede ich, das dauert so und so lange, dann tue ich das, dann jenes, und das alles dauert 60 Jahre, dann sterbe ich, dann kommen andere, die leben auch ungefähr so lange und essen und schlafen wie ich, und dann kommen wieder andere, und so geht es weiter, ohne Sinn, Tausende von Jahren (Gebsattel 1954, 2).
Ilse K. formuliert diesen Gedanken freilich nicht in einem stillen, vielleicht etwas melancholischen, vielleicht aber auch nüchternen Moment der Nachdenklichkeit. 1 Sie ist vielmehr von Angst erfüllt und leidet unter einem Registrierzwang, d. h. sie fragmentiert die Zeit in ihre kleinsten Einheiten und registriert bewusst deren Vergehen: »Ich muß unaufhörlich denken, daß die Zeit vergeht. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich bei jedem Wort: ›vorbei‹, ›vorbei‹, ›vorbei‹« (ebd.). Das ihr Leben dominierende Zeitbewusstsein redu-
So finden sich im Alten Testament ganz ähnliche Passagen, die freilich mit einer anderen Stimmung einhergehen: »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. […] Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. […] Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne« (Prediger 1, die Verse 2, 4 und 9, zitiert nach der Lutherbibel (LUT 1985)).
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ziert Zeit also auf die Wiederholung immer gleicher, letztlich inhaltsleerer Abschnitte. Existentiell ist damit das Gefühl bzw. der Gedanke der Sinnlosigkeit unseres Lebens verknüpft. Hinzu kommt ein deutliches Bewusstsein der Vergänglichkeit: »Mit allem, was ich tue, wird die Strecke, die mich vom Tod trennt, kürzer. […] Dabei fürchte ich mich gar nicht vor dem Tod […], aber der Gedanke, daß alles vergeht und daß das Leben immer kürzer wird, macht mir Angst« (ebd., 3). Psychiatrisch gesehen ist klar, dass es sich hier um Symptome einer endogenen Depression handelt, die bei richtiger Therapie unter Umständen verschwinden. 2 Philosophisch aber scheint in den Aussagen der Ilse K. bei aller Fremdheit, die vorderhand vor allem in der Zwanghaftigkeit und Permanenz aufscheint, mit der sie die einzelnen Zeitmomente registrieren muss, eine grundlegende, uns alle betreffende Verstörung auf. Dass sie hier etwas Grundsätzliches gesehen haben könnte, deutet Ilse K. selbst an: »Ich denke oft, daß ich gar nicht krank bin, sondern, daß ich etwas erkannt habe, was andere nicht erkannt haben« (ebd., 2). Für den Philosophen Michael Theunissen ist klar, dass Ilse K. unter etwas leidet, das unser aller Leben charakterisiert: Die »Herrschaft der Zeit« (Theunissen 1991, 45 ff.). Ausgehend von dieser These will er das Zeiterleben in der Melancholie gleichsam als »Vergrößerungsglas« nutzen, in dem uns unser aller Leiden unter der Herrschaft der Zeit klar vor Augen steht (ebd., 46). 3 Aus dieser Darstellung misslingenden Lebens will er dann ableiten, wie ein Gelingen aussehen könnte (ebd., 55). 4 In seiner Analyse des klinischen Leidens unter der Zeit greift er vor allem auch auf die Schriften von Erwin Straus zum Zeiterleben in der endogenen Depression zurück. 5 Theunissen teilt den inhaltlichen Befund von Straus, will diesen aber on-
Gebsattel erklärt dann auch, Frau K. sei inzwischen geheilt (Gebsattel 1954, 2). Theunissen geht auch auf die Schizophrenie ein. Ich werde mich im Folgenden aber auf die endogene Depression beschränken. 4 Dieses Vorgehen kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Ein wenig erinnert es an das theologische Motiv der miseria hominis, auf das dann traditionell Ausführungen zur eigentlichen menschlichen Bestimmung folgen. Die miseria, das Elend, wäre das Leben unter der Herrschaft der Zeit, das in der endogenen Depression nur allzu deutlich vor Augen stünde. Die eigentliche Bestimmung aber schiene in Phänomenen wie Verweilen und Hoffnung auf, die unten kurz skizziert werden. 5 Hier zu nennen wäre vor allem der Aufsatz Das Zeiterlebenis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung (Straus 1960), aber auch der Text Disorders of personal time in depressive states (Straus 1966). 2 3
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tologisch anders fundieren. Genauer gesagt kritisiert er das lebensphilosophisch geprägte Denkmodell, in dessen Rahmen Straus seine Ergebnisse artikuliert. Im Folgenden möchte ich klären, inwiefern Theunissens Kritik an Straus gerechtfertigt ist. Dabei werde ich zeigen, dass Theunissen letztlich eine Dimension menschlichen Lebens einklagt, die jenseits des Fokus der Straus’schen Untersuchungen bleibt, nämlich diejenige Dimension, die wir in der philosophischen Tradition als Geist bezeichnen. Abschließend werde ich mich dann der Frage zuwenden, was die Berücksichtigung einer solchen Dimension für die Beschreibung der endogenen Depression bedeuten könnte. Dabei greife ich auf Viktor Frankls entsprechende Ausführungen zurück. Bevor ich zunächst Straus’ Deutung der endogenen Depression erörtere, um dann Theunissens Kritik an Straus und der lebensphilosophisch inspirierten Psychopathologie zu diskutieren, sei daran erinnert, dass die Differenzen zwischen Theunissen und Straus möglicherweise auf das unterschiedliche Erkenntnisinteresse der durch die beiden Autoren jeweils vertretenen Disziplinen zurückgehen. Während für Theunissen eine letztlich philosophisch-praktische Frage nach dem möglichen Gelingen menschlichen Lebens in der Zeit im Vordergrund steht, geht es Straus – und Gebsattel – vor allem um das Verstehen einer psychiatrischen Krankheit, eben der endogenen Depression. Im Detail möchte Straus »aus dem Zeiterlebnis in der endogenen Depression den Zusammenhang akzessorischer psychotischer Symptome mit dem biologischen Kardinalsymptom der Krankheit begreiflich […] machen« (Straus 1960, 127). Er setzt also ein als biologisch verstandenes Symptom an, die vitale Hemmung, die neben anderen Symptomen auch ein charakteristisch verändertes Zeiterleben bedingen soll. Die krankhafte Veränderung des Zeiterlebens wiederum soll für die endogene Depression so zentral sein, dass sich andere Symptome von ihr her erschließen lassen. Zudem soll »aus dem Zeiterlebnis ein in gewissen Grenzen brauchbares neues differentialdiagnostisches Kriterium zur Unterscheidung endogener und psychopathischer [also psychogener] Verstimmungen« gewonnen werden (ebd., 127 f.).
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Straus’ Deutung des Zeiterlebens in der endogenen Depression In seinem Aufsatz Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung unterscheidet Straus in Anlehnung an Hönigswald zwei Formen der Zeit, nämlich die Ich-Zeit und die Welt-Zeit (Straus 1960, 126). Die Weltzeit stellt die von uns allen geteilte Zeit dar, die wir in Tage, Wochen oder Jahre unterteilen und in der wir die Ereignisse der von uns gemeinsam bewohnten Welt verorten. Sie hat also intersubjektiven Charakter und ist von der theoretisch konstruierten, homogenen und objektiven Zeit der Physik noch einmal zu unterscheiden. Im Gegensatz zu dieser ist sie in ein Heute, ein Gestern und ein Morgen dimensioniert. (Ebd., 126 ff.) Anders als die Zeit der Physik ist die Weltzeit nämlich perspektivisch, d. h., sie ist das Medium, in dem wir leben und in dem wir von unserem Standpunkt aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden (Straus 1966, 293). Zwar wird die Welt-Zeit von jedem von uns in je individueller Weise erfahren, aber sie stellt dennoch eine allgemein geteilte Zeit dar. Sie ist also »erlebnistranseunt« (Straus 1960, 126). Die Ich-Zeit hingegen ist unserem persönlichen Erleben immanent. Sie wird – rückblickend wie vorausschauend – gemessen an der »Entfaltung unserer Persönlichkeit« (ebd., 129). Entsprechend kann Straus sagen, dass sie anders als die Welt-Zeit nicht vergeht, sondern mit unserer Lebensgeschichte wächst. In unserem alltäglichen Zeiterleben sind nun, so Straus, diese beiden Zeiten verbunden. Genauer gesagt wird nach Straus eine Beziehung der beiden Zeitformen im unmittelbaren Erleben erfasst. Er verdeutlicht dies an der Langeweile, in welcher nach Straus der Gegensatz von Ich-Zeit und Welt-Zeit erfahrbar wird (ebd., 128 f.). In der Langeweile erleben wir nämlich die Unmöglichkeit, der transeunten Zeit Inhalt zu geben, und zugleich den Drang, dies zu tun. Die Erfahrung der Langeweile ist daher als ein Zurückbleiben der Ich-Zeit gegenüber der Welt-Zeit zu charakterisieren. Damit ist hier schon angedeutet, dass unsere Gestimmtheit Straus zufolge aufs Engste mit der Relation der beiden Zeiten in unserem Erleben verbunden ist: Bleibt die Ich-Zeit gegenüber der Welt-Zeit zurück, stellen sich depressive Gemütslagen ein. Eilt sie hingegen voraus, sind wir auf die eine oder andere Weise euphorisch gestimmt. Straus bemerkt in diesem Zusammenhang: »Zeiterlebnis und diese vitalen Stimmungen wurzeln beide in dem gleichen biologischen Geschehen«. (Ebd., 131) 200 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Im Begriff des »biologischen Geschehen[s]« – ähnlich dem in Straus’ Bemerkungen über die Langeweile nur ganz beiläufig erwähnten Ausdruck des Dranges – ist jenes bereits erwähnte biologische Element angesprochen, welches sowohl die gesunden wie die pathologischen Gestalten des Zeiterlebens fundiert. Zugleich soll dieses in Anlehnung an Bergsons élan vital konzipierte Element den wesentlichen Zukunftsbezug der erlebnisimmanenten Zeit – und des menschlichen Lebens überhaupt – begründen. Dementsprechend ist Straus der Auffassung, dass »das gesunde Erleben auf die Zukunft gerichtet ist«, wobei der Zukunftsbezug nicht bewusst gegeben sein muss, sondern als »antizipiertes Wirken mitgegeben« sein könne (ebd., 131). In dieser Vorwegnahme der Zukunft als Wirkenkönnen antizipieren wir zugleich die »in der Zukunft durch Aktualisierung biologischer Potenzen mögliche Entfaltung der Persönlichkeit« (ebd., 130). Die als vitale Hemmung bezeichnete Blockade dieses Dranges bedingt zunächst eine mehr oder minder ausgeprägte Einschränkung des antizipierten Wirkenkönnens. Damit aber verschließt sich dem Kranken die Zukunft und das Wachsen der Ich-Zeit stockt. 6 Die vitale Hemmung bedingt außerdem eine Veränderung des Bezugs zur Vergangenheit: Sie beeinträchtigt unsere Fähigkeit, Vergangenes hinter sich zu lassen, indem wir uns Neuem zuwenden – unter Umständen ohne das Bisherige vollständig zu Ende gebracht zu haben (ebd., 132 f.). Ist dieses Weiterschreiten in die Zukunft gehemmt, erleben wir uns als durch die Vergangenheit determiniert. Straus schreibt: »Je mehr sich die Hemmung verstärkt, das Tempo der inneren Zeit verlangsamt, umso deutlicher wird die determinierende Gewalt der Vergangenheit erlebt. Je fester dem Depressiven die Zukunft verschlossen ist, desto stärker fühlt er sich durch das Vergangene überwältigt und gebunden«. (Ebd., 139) Im Rahmen eines ganz anderen Theoriegebäudes drückt Schelling eine ähnliche Erfahrung aus: »Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr« (Schelling 1993, 11).
Gebsattel teilt diese Sichtweise, wenn er über Ilse K. sagt: »Die Zukunft ist ihr versperrt, weil die Zukunftsrichtung ihrer gesamten Triebe, Energien, Strebungen durch die Hemmung ausgelöscht ist« (Gebsattel 1954, 8).
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Das Stocken der Ich-Zeit verändert nicht nur die erlebnisimmanente Zeit, sondern auch das Erleben der Welt-Zeit. Zunächst verliert der Melancholiker die Fähigkeit, die transeunte Zeit in die persönliche Zeit zu integrieren (Straus 1960, 132). Die Folge dessen beschreibt Straus in Disorders of personal time wie folgt: »With the standstill of personal becoming, world time is transformed into a mere sequence of events, that, finally, being meaningless, loses even the character of temporality« (Straus 1966, 294). Einige Patienten erleben dies als Verschwinden, andere als Unwirklichkeit der Zeit. Diese Veränderung des Zeiterlebens wiederum zeigt sich in unterschiedlicher Weise in verschiedenen möglichen Symptomen einer endogenen Depression. Der bei Ilse K. zu beobachtende Zwang etwa, die einzelnen Zeitmomente registrieren und sich des Vergehens der Zeit bewusst sein zu müssen, könnte man mit Straus als Versuch deuten, die Zeit anzutreiben (Straus 1960, 135 f.). 7 Auch das von Straus nur am Rande beachtete Symptom eines Gefühls von Sinnlosigkeit lässt sich so erklären: Die der Welt-Zeit zugehörenden Ereignisse werden Straus zufolge im Fortschreiten als Momente der Lebensgeschichte bedeutsam, durch die also ein Wertmoment in die transeunte Zeit hineingetragen wird (ebd., 129). 8 Dieses Moment der Wertung wertindifferenter Ereignisse ist aufgehoben, wenn die Integration dieser Ereignisse in die intentional verfasste, erlebnisimmanente Zeit zum Stillstand kommt. Ist das Sich-entwickeln- und Fortschreiten-Können wie bei Ilse K. gehemmt, werden die äußeren Umstände des Lebens als bedeutungslos erlebt bzw. sie werden in jener Bedeutungslosigkeit erlebt, die sie für uns haben, wenn wir sie nicht mehr in unsere Lebensgeschichte integrieren können. Damit hätte Straus sein erstes Untersuchungsziel erreicht, nämlich bestimmte Symptome der endogenen Depression von der Störung des Zeiterlebens her zu begreifen. Das zweite Ziel seiner AusAuch bestimmte, im Rahmen endogener Depressionen bisweilen auftretende psychotische Symptome wie etwa der Versündigungswahn oder der hypochondrische Wahn lassen sich nach Straus durch das Gefühl eines Bestimmtseins durch die Vergangenheit verstehen (Straus 1960, 137). 8 Diese Deutung ist natürlich phänomenologisch unzureichend. In vielen Fällen wird etwas nicht deswegen für uns bedeutsam, weil es sich in unsere Lebensgeschichte integrieren lässt. Im Gegenteil wird unsere Lebensgeschichte oft dadurch bestimmt, dass wir uns an etwas ausrichten, das sich uns von sich her als bedeutsam zeigt. Die uns begegnenden Dinge sind nämlich in der Regel nicht Gegenstand einer nachträglichen Wertung, sondern zeigen sich uns als wertvoll oder wertlos. 7
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führungen, vom Zeiterleben aus ein diagnostisches Kriterium zur Unterscheidung endogener und psychogener Depressionen zu gewinnen, sieht Straus ebenfalls gelöst: Derjenige, der an einer psychogenen Depression erkrankt ist, leide nicht an einer Verschließung der Zukunft, sondern daran, dass ihm diese bedrohlich erscheine. Von einer Hemmung des Zeiterlebens könne nicht die Rede sein. Überhaupt seien psychogene Depressionen nicht durch eine vitale Hemmung verursacht. (Ebd., 139) Sie seien rein reaktiv auf äußere Umstände.
Theunissens philosophische Deutung des Zeiterlebens in der endogenen Depression Wie eingangs erwähnt, hält Theunissen diese von Straus vertretene Deutung des Zeiterlebens in der endogenen Depression insofern für unzureichend, als dass sie dieses Erleben als rein pathologisch verstehe. Zwar sei die Zeiterfahrung des Melancholikers in der Tat qualitativ von jener anderer Menschen verschieden. Gleichwohl drücke sie aber »eine Wahrheit über das allgemeinmenschliche In-der-Zeitsein« aus (Theunissen 1993, 336). Diese Wahrheit aber stecke in der, wie Theunissen schreibt, »melancholischen Erfahrung der Zeit als einer herrschenden« (ebd.). Gemeinsamkeit und Differenz der Herrschaftserfahrung beim Gesunden und beim Melancholiker drückt Theunissen wie folgt aus: Darin, daß wir von der Zeit fortgerissen und zugleich dem Vergängnis überantwortet werden, wird uns die Herrschaft der Zeit schon vor aller seelischen Krankheit spürbar. Hingegen gewinnt die Zeitherrschaft in der Tat eine andere Qualität, wenn der Melancholiker das zeitliche Werden zu Stunden, Minuten und letztlich Sekunden atomisiert. (Ebd., 338)
Der Grund für diese Atomisierung liege darin, dass ihm die Dimensionierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr gelinge. In Folge dessen verfalle er der linearen, bloß vergehenden Zeit, die sich, wie Theunissen schreibt, »auf ihr bloß formales Schema, auf die endlose Wiederkehr des Gleichen im Sinne gleicher Zeiteinheiten« reduziert (ebd., 339). Da er die Zeit nicht mehr mit Leben erfüllen könne, sei der Melancholiker der Zeit außerdem ausgeliefert, während der Gesunde ihr lediglich unterworfen sei (Theunissen 1991, 49). Die Folge dieses Ausgeliefertseins sei Angst: Ilse K. 203 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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»ängstigt sich vor einer Zeit, die so vergeht, daß sie über sie hinweggeht« (ebd., 223). Seine These von der Allgemeinheit der Erfahrung der Herrschaft der Zeit sowie den hier skizzierten Vergleich der Ausprägung dieser Erfahrung beim Melancholiker und beim Nicht-Melancholiker verteidigt Theunissen gegen bestimmte von Straus und Gebsattel vorgenommene theoretische Weichenstellungen. Den Kern seiner Kritik fasst er in folgendem Zitat bündig zusammen: In meiner Sicht liegt die fragwürdigste ontologische Implikation der lebensphilosophisch informierten Psychopathologie in der Annahme, daß die Gesundheit menschlichen Lebens, als eines dranghaften Nach-vorn-Lebens, in einer unreflektierten Unmittelbarkeit bestehe, vor deren Hintergrund eine Bewußtseinslage wie die der Melancholie als eine psychische Krankheit erscheint, die aus dem gesunden Leben völlig herausfällt. (Theunissen 1993, 336)
Diese Gleichsetzung führe dann zwangsläufig dazu, dass die lebensphilosophisch informierte Psychopathologie die Tendenz aufweise, das Bewusstsein von der Herrschaft der Zeit per se schon als morbide zu betrachten, den Unterschied zwischen gesundem und krankem Bewusstsein derselben also zu verwischen. (Ebd.) Beide Vorwürfe aber scheinen mir zu stark zu sein. Zwar geben weder Straus noch Gebsattel einen positiven Begriff von Gesundheit, der eine reflexive Haltung und ein Bewusstsein der Herrschaft der Zeit im Sinne Theunissens einschlösse. Richtig ist auch, dass beide die Bedeutung der Unmittelbarkeit für Gesundheit betonen – und das sicher zu recht. Eine plane Gleichsetzung aber findet sich nicht. Was etwa das Bewusstsein des Vergehens der Zeit angeht, liegt das Krankhafte im Erleben der Ilse K. für Gebsattel nicht in der Tatsache dieses Bewusstseins, sondern in seinem »Ausmaß« (Gebsattel 1954, 4). Auch Straus beschreibt in der Gestalt der Langeweile ein Erleben des Gesunden, in dem das Vergehen der Zeit mehr oder minder stark bewusst wird. Die Langeweile ist also ein Phänomen, in dem die Unmittelbarkeit des Nach-vorne-Lebens auch im Leben des Gesunden brüchig wird (Straus 1960, 128 f.). Gesundheit hängt also für beide anscheinend daran, ob uns dieses Bewusstsein dauerhaft dominiert und ob es im Voran-schreiten in die Zukunft überwunden werden kann. Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen den Begriff der vitalen Hemmung: Theunissen räumt ein, dass der Begriff der vitalen 204 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Hemmung eine Theoriestelle besetzt, die im Rahmen einer Psychopathologie der Melancholie in irgendeiner Weise gefüllt werden muss. Für die Besetzung dieser Stelle schlägt er jedoch einen Ausdruck vor, der in gewissem Sinne enger ist als der der vitalen Hemmung. Theunissen möchte von einem »Abbau der Kraft zum Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit« sprechen (Theunissen 1991, 221). 9 In einem anderen Sinne ist dieser Ausdruck jedoch auch weiter gefasst. Die genannte Kraft soll nämlich nicht einfach als biologisch verstandener Drang gedacht werden. Theunissen schlägt entsprechend vor, den Ausdruck »vital« fallen zu lassen und damit die durch die Psychopathologie seiner Ansicht nach vorgenommene Einengung des Lebensbegriffs auf die biologische Sphäre aufzuheben. (Ebd.) Theunissen gibt an dieser Stelle nicht an, wie ein umfassenderer Lebensbegriff aussehen würde. Zu berücksichtigen hätte ein solcher Lebensbegriff aber in jedem Falle, wie wir Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dimensionieren. Nach Straus tun wir dies, indem wir die Vergangenheit als unfertig hinter uns lassen und in eine Zukunft fortschreiten, die unter anderem auch als Wirken-können antizipiert wird (Straus 1960, 129 ff.). Dabei wird nicht deutlich, welche Rolle für Straus Reflexion und bewusste, aus Gründen motivierte Entscheidungen für den Zukunftsbezug des Menschen spielen. Theunissen jedenfalls hegt wohl den Verdacht, dass diese charakteristisch menschlichen Formen des Zukunftsbezugs in Straus’ Bild nicht ausreichend berücksichtigt sind. Seine entsprechende Kritik drückt er wie folgt aus: Wir bekommen es [das Leben] nicht nur als das dranghafte Nach-vornLeben zu Gesicht, das es als vitale Entfaltung eines biotischen Prozesses ist, sondern darüber hinaus und vor allem als Von-vorn-Leben, als Existieren. Existieren wir doch so, daß wir je und je von der Zukunft her auf unser faktisches Dasein zurückkommen (Theunissen 1991, 224).
Theunissen hat jedoch sicher noch weitere Phänomene im Blick, die er unter die gelingenden Formen des Umgangs mit der Zeit rechnet und die sich ebenfalls nicht ganz zwanglos in die von Straus angedeu-
Dass dieser Begriff sicher zu eng ist, weil er damit nur das Sich-Verhalten des Menschen zur Zeit in den Blick nimmt und nicht all die anderen Äußerungen, die man im Rahmen einer lebensphilosophischen Denkweise im élan vital fundiert sieht, sei hier nur am Rande erwähnt.
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tete Anthropologie fügen wollen. Hierzu zählt das »Glück des Verweilens« (ebd., 57), das sich in der ästhetischen Anschauung realisiert. In einer solchen Anschauung, so Theunissen, reißen wir uns von der Zeit los. Zugleich entreißen wir der Zeit etwas und verbinden uns damit gegen die Zeit. Letztlich, so Theunissen, scheine hier etwas auf, das man unter modernen philosophischen Prämissen kaum noch explizieren kann, nämlich dass die Gegenwart in ihrer Tiefe anderes sei als Zeit. (Ebd., 57 ff.) Ähnlich schwer explizierbar ist ein weiteres Phänomen, das er als eine Gestalt von Versöhnung mit der Zeit beschreibt, nämlich die Hoffnung im eigentlichen Sinne. Gemeint ist nicht die Hoffnung auf dieses oder jenes mögliche Ereignis in der Zukunft, sondern vielmehr eine Hoffnung im starken, im utopischen oder religiösen Sinn, nämlich die, dass die Zeit eine andere werde (ebd., 64 ff.). In beiden Fällen bezeichnen wir das andere der jetzigen Zeit, das wir verweilend aufschließen oder auf das wir hoffen, in der philosophischen Tradition als »Ewigkeit« (ebd., 65). 10 Insofern der Melancholiker nicht nur am Fortschreiten in die Zukunft gehindert wird, sondern auch am Glück des Verweilens und am Hoffen, könnte man sagen, dass für ihn die Zeit der ewigen Wiederholung des Gleichen total geworden ist. Diese Totalität der linearen Zeit aber, so wohl letztlich Theunissens Verdacht, trifft auch denjenigen, der voller Kraft sein Leben gestaltet – mit Blick auf Ziele, die wiederum in die Zeit fallen und vergänglich sind. Zwar würde ein solcher, im psychiatrischen Sinne gesunder Mensch nichts davon merken, aber letztlich bliebe sein Leben eingespannt in die endlose Repetition sich wiederholender Lebensvorgänge, in denen nichts aufscheint, das sie transzendiert. Theunissens Ziel aber besteht letztlich darin, auf die Aussichtslosigkeit unserer Lage unter der Herrschaft der Zeit – und der Vergänglichkeit – aufmerksam zu machen und zugleich einem Denken den Weg zu bereiten, das spekulativ genug ist, die feinen Spuren eines Jenseits der Zeit aufzugreifen, die sich innerhalb der Vergänglichkeit etwa in der ästhetischen Anschauung oder in der Hoffnung andeuten. Man könnte sagen, dass sich diese Spuren des Gelingens menschlichen Lebens innerhalb der stark bio-
In dieser Tradition steht beispielsweise Schelling. Wenn es denn stimme, so schreibt Schelling in den Weltaltern, »daß nichts Neues in der Welt geschehe«, dann bedeute dies nur, dass die eigentliche Zukunft eine nachweltliche sein müsse (Schelling 1993, 11). Diese nachweltliche Zukunft aber sei als der Ewigkeit gleiche Fülle der Zeit zu verstehen. (Ebd., 87)
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logisch geprägten Beschreibungsebene, die Straus für die Deutung der endogenen Depression wählt, nicht angemessen explizieren lassen. Ob Straus’ Ontologie entsprechend modifizierbar wäre, kann hier nicht beantwortet werden. 11
Abschließende Betrachtungen – die Sinndimension menschlichen Lebens Damit hätten wir einen doppelten Befund: Zum einen scheint mir eindeutig, dass Straus’ theoretischer bzw. anthropologischer Rahmen für seine Zwecke ausreichend ist. Sein Ziel, die Symptome der endogenen Depression mit Hilfe eines biologischen Kernsymptoms und im Ausgang von charakteristischen Veränderungen des Zeiterlebens zu beschreiben, ist in sich schlüssig. Diese Anthropologie scheint aber zumindest einer Ergänzung und Modifikation bedürftig, wenn es darum ginge, von ihr her andere Störungen oder das Handeln von Mensch zu beschreiben, die nicht an einer irgendwie gearteten psychischen Störung leiden. Die Fragen, die Theunissen an die lebensphilosophisch inspirierte Psychopathologie heranträgt, sind zunächst philosophischer Natur. Sein Anliegen, die Befunde dieser Psychopathologie zu nutzen, um das Leben des Menschen unter der Herrschaft der Zeit quasi im Vergrößerungsglas sichtbar werden zu lassen, erfordert wenigstens eine Modifikation des von Straus angesetzten Theorierahmens. Und es erfordert eine anders akzentuierte Beschreibung dessen, was ein gelingendes menschliches Leben, ja selbst psychische Gesundheit, ausmacht. Eine solche Beschreibung müsste diejenige Dimension menschlicher Existenz explizit berücksichtigen, der wir Fragen nach dem Gelingen und dem Sinn menschlichen Lebens unter den Bedingungen von Zeit und Vergänglichkeit gemeinhin zurechnen. Ich meine diejenige Dimension, die von der philosophischen Tradition als Geist bezeichnet wird. Mit der Aussage, der Mensch sei Geist, meinen wir nämlich, dass es zu seinem Wesen gehört, sich für das Sinnganze In jedem Falle sticht eine Überbetonung des Biologischen ins Auge, die sich auch in einer Reihe von beiläufigen Bemerkungen zeigt. So deutet er z. B. die Entfaltung des Menschen als Entwicklung biologischer Potenzen. Das ist sie sicher auch, aber eben nicht wesentlich. Wesentlich ist unsere Entwicklung eine soziale und personale, um nicht zu sagen eine geistige Angelegenheit.
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seines Lebens verantwortlich zu sehen und sich zu der Frage nach seiner Bestimmung zu verhalten. In diesen Zusammenhang gehört dann natürlich auch die Aufmerksamkeit für die mögliche Tiefendimension der Zeit bzw. die Frage, ob das Leben des Menschen im Zeitlichen und Vergänglichen aufgehe oder nicht. Dass die Einbeziehung dieser Ebene nicht nur im Rahmen einer philosophischen Anthropologie unumgänglich ist, sondern auch für die Psychopathologie selbst fruchtbar sein kann, zeigt Viktor Frankls alternative Deutung der Symptomatik der endogenen Depression. Einerseits macht Frankl nämlich deutlich, dass die Ursache endogener Depressionen im Somatischen in einer »vitalen Baisse« liege (Frankl 2007, 266). Andererseits aber betont er: »Was das melancholische Erleben erst möglich macht, ist ein Transmorbides: erst das Menschliche macht aus der primär nur vitalen Baisse die melancholische Weise des Erlebens, die eben eine Weise des Menschseins ist.« (Ebd.) Als solche enthalte sie, so Frankl, neben dem somatischen Symptom, das für sich genommen lediglich zu einem Insuffizienzgefühl führe, eine Stellungnahme des Menschen zu diesem Symptom. Das Insuffizienzgefühl werde im Menschen nämlich in eigentümlicher Weise erfahren, und zwar als Spannung zwischen den Aufgaben, die sich uns stellen, bzw. dem Ideal, das wir für unser Leben anerkennen, einerseits, und unseren Fähigkeiten, diesen Aufgaben bzw. diesem Ideal gerecht zu werden, andererseits. Anders gesagt, die für den Menschen charakteristische Daseinsspannung zwischen Sollen und Sein werde als übergroß erlebt. Die Folge hiervon könne z. B. Verarmungs- oder Gewissensangst sein, je nachdem, welche Aufgaben und Ziele der jeweilige Mensch prämorbid in den Vordergrund gerückt habe. (Ebd., 267 f.) Werde diese Daseinsspannung so groß, dass die Lebensziele unerreichbar scheinen, dann verschließe sich dem Patienten die Zukunft. Zugleich bestehe die Möglichkeit, dass die Wertblindheit des endogen Depressiven, die zunächst den Eigenwert des Patienten betreffe und zu einem Gefühl von Sinnlosigkeit führe, auf das Nicht-Ich übergreife, sodass ihm etwa im nihilistischen Wahn alles nichtig erscheine (ebd., 269). Wenn auch Frankls Deutung der endogenen Depression nur einen Teil der von Gebsattel mit Bezug auf Ilse K. berichteten Symptome erklärt, so zeigt sie doch, dass auch das Leiden der Ilse K. eine geistige oder existentielle Dimension aufweist. Ihr Zweifel am Sinn menschlichen Lebens etwa setzt voraus, dass wir als Menschen in 208 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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unserem Leben nach Sinn suchen. Ihr Klagen über das Vergehen der Zeit wird dann verständlich als Klagen über ihre Unfähigkeit, in der Zeit etwas auszurichten, das sie als sinn- und wertvoll anerkennen könnte. Wenn also eine medikamentöse Therapie ihr diese Fähigkeit wiedergeben könnte, so wäre sie doch der Aufgabe, Gegenwart und Zukunft sinnvoll zu gestalten, nicht enthoben. Zwar setzt eine solche Sinnfindung, die zugleich auch Gestaltung der Zeit sein wird, eine tiefe, reflexiv nicht einholbare Verbundenheit mit den Vollzügen und Ereignissen des eigenen Lebens voraus. 12 Aber dennoch gehen Sinnfindung und Gestaltung des eigenen Lebens in Unmittelbarkeit nicht auf. Ein bloßes Sich-fallen-lassen in ein ungebrochenes Nachvorne-Leben, das nicht bewusst nach dem Sinn des eigenen Handelns und Erlebens fragt, bliebe sozusagen hinter ihrem eigenen Zweifel zurück. Und mit Blick auf Theunissen müsste hinzugefügt werden: Ein unmittelbares Leben, das nicht nach Vergänglichkeit und Zeit fragt, noch nach einer Hoffnung verlangt, die mehr will als dies oder jenes Gut, das Menschen sich mit Geschicklichkeit und Glück beschaffen könnten, nimmt uns wie Ilse K. das, was uns vordringlich ausmacht, nämlich eben unsere Geistigkeit.
Literatur Frankl, V. E. (2007). Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Gebsattel, V. E. v. (1954). Zeitbezogenes Zwangsdenken in der Melancholie. Versuch einer konstruktiv-genetischen Betrachtung der Melancholiesymptome. In ders., Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Ausgewählte Aufsätze von V. E. Freiherr von Gebsattel. Berlin Göttingen Heidelberg: Springer. (Zuerst abgedruckt 1928 in: Der Nervenarzt, 1) Evangelische Kirche in Deutschland und Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (1985) (Hrsg.), Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Schelling, F. W. J. (1993). Die Weltalter – Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 herausgegeben von M. Schröter. Erste Veröffentlichung 1946. München: Beck’sche Verlagsbuchhandlung. Straus, E. (1960). Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung. In ders., Psychologie der menschlichen Welt. Überhaupt wird sich Sinnfindung, soweit sie sich bewusst vollzieht, von der Explikation der zunächst unreflektierten Sinnerfahrung ausgehen müssen, d. h., sie wird sich an das halten, was im unmittelbaren Leben schon als sinnhaft gegeben ist.
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Oliver Florig Berlin Göttingen Heidelberg: Springer. (Zuerst abgedruckt 1928 in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. 28.) Straus, E. (1966). Disorders of personal time in depressive states, In ders., The selected papers of Erwin W. Straus – Phenomenological Psychology, London Syndey Welllington: Tavistock Publications. (Zuerst abgedruckt 1947 in: Southern Medical Journal 40.) Theunissen, M. (1991). Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Theunissen, M. (1993). Melancholische Zeiterfahrung und psychotische Angst. In H. Fink-Eitel & G. Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Hegels Anthropologie des Empfindens und die Phänomenologie von Erwin Straus 1 Remy Rizzo
Bewusst sein heißt, durch die Interaktion des Empfindens und des Bewegens zu entdecken, dass die Existenz meiner Haut eine absolute Grenze darstellt, die sich in die Ursprungsphantasie der Einheit von Innen und Außen einschneidet. Die Haut trennt diese Phantasie ab; der Leib zieht sich passiv und aktiv von dem imaginären Ganzen zurück (Seba 2006, 179, Übers. R. R.).
Einleitung Das Hauptanliegen dieser Studie ist es, den Entwurf einer kritischen Konfrontation zwischen zwei besonderen Theorien des Empfindens zu entwickeln, derjenigen von Hegel einerseits und der von Straus andererseits. In beiden Fällen wird die Entstehung des Bewusstseins im Ausgang von der Empfindung beschrieben. Daher stimmen die beiden Denker trotz ihres konzeptuell verschiedenen Rahmens bei einer Vielfalt von Themen überein. Um die Weichen für diesen Vergleich zu stellen, werden wir zuerst eine historische Problemstellung ausarbeiten, die in einer Überprüfung der vornehmlich cartesianischen Grundannahmen der objektiven Psychologie bestehen wird, wie sie von Straus dargestellt werden. Wir werden gleichwohl einige kritische Punkte zu dieser Interpretation von Descartes anmerken: Denn auch wenn Straus’ Lektüre sich dadurch auszeichnet, dass sie sich von der allgemein üblichen Interpretation Descartes’ absetzt (Straus zeigt mit Subtilität, dass die Kritiker Descartes’, wie beispielsweise Locke oder Hume,
Aus dem Französischen übersetzt von Lukas Iwer. Vielen Dank für seine Mithilfe an Daniel Vespermann.
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ebenfalls an der Entwicklung der objektiven Psychologie beteiligt sind), ist es fraglich, ob der Dualismus Descartes’ notwendigerweise zu einer reduktionistischen Lesart führen muss. Descartes selbst lässt dies unserer Ansicht nach nicht zu. Gleichwohl bleibt Straus’ phänomenologisches Projekt trotz mancher Schwächen seiner DescartesLektüre davon unberührt. Man muss allerdings sogleich anmerken, dass Straus in seiner Geschichte der Psychologie Hegels Theorie des Empfindens nicht anführt, obwohl wir doch wissen, dass Straus das Werk des Philosophen aus Stuttgart mindestens seit Vom Sinn der Sinne kennt und zitiert. 2 Dennoch offenbart Hegel in seiner Anthropologie (erstes Moment des subjektiven Geistes) bemerkenswerte Ansatzpunkte für eine Annäherung an die Straus’sche Theorie des Empfindens. Die historische Problematik führt somit in einem zweiten Schritt zu einer philosophischen Problematik, die, ausgehend von den Theorien Straus’ und Hegels, die ontologische Genese des Bewusstseins zum Gegenstand hat. Wir werden untersuchen, inwieweit Hegel, der in der Anthropologie eine neue empirische Wissenschaft konzipiert, die physiologische Psychologie, Straus’ Kritik an der zeitgenössischen Psychologie, antizipiert. Wir werden zudem sehen, wie Hegel die Besonderheit der Leiblichkeit gegenüber der Körperlichkeit versteht. Hiernach wird auf Straus’ Phänomenologie eingegangen, wobei wir uns auf das Konzept des symbiotischen Verstehens fokussieren werden, was zudem die große Aktualität Hegels bezüglich dieser Frage aufzeigen wird. In einem dritten und letzten Schritt werden wir abschließend auf die Gründe eingehen, aufgrund derer wir der Überzeugung sind, dass sich die Anthropologie Hegels und die Phänomenologie Straus’ grundlegend von allen Formen der Phänomenologie unterscheiden, welche strikt auf dem Primat der Intentionalität beruhen und von einem konstituierendem, aber nicht konstituierten Ich denke ausgehen.
Straus selbst weist auf Überschneidungen der eigenen Theorie mit Hegels Theorie der sinnlichen Gewissheit in der Phänomenologie des Geistes hin (vgl. Straus 1978, 257).
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Geschichte der Voraussetzungen der objektiven Psychologie nach Straus Was ist die Hauptthese, die Erwin Straus in Vom Sinn der Sinne vertritt? Zuerst in negativer Formulierung schreibt der deutsche Neuropsychiater in den ersten Zeilen seines Werks, dass »das sinnliche Empfinden keine Form des Erkennens« ist (Straus 1978, 1). Diese erste These impliziert ipso facto die Radikalität einer zweiten: Die Empfindungen konstituieren nicht die sinnlichen Bestandteile des Bewusstseins, da diese keine elementaren Grundeinheiten sind, die eine atomistische Einheit implizieren, in der es möglich wäre, die einen von den anderen zu trennen. In keinem Fall können die Empfindungen als atomistische Grundeinheiten des Bewusstseins verstanden werden. Die Kritik von Straus ist also ganz klar gegen die objektive Psychologie gerichtet, die sich in der zweiten Hälfte des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Um es kurz zu sagen: Jene behandelt Straus zufolge die Empfindungen, als wären sie Objekte, die aus einem physiologischen oder psychophysischen Prozess resultieren. Damit wird, wie Straus sagt, das »Wer« des Empfindens im Inneren dieser massiven Reduktion des Empfindens auf einen senso-motorischen Prozess schlichtweg außer Acht gelassen. Er führt den Ursprung dieser Vernachlässigung auf Descartes zurück. Somit findet das Anliegen von Vom Sinn der Sinne seine Originalität in einer radikalen Umkehr von Descartes’ Paradigma, was notwendigerweise zu einer neuen Ontologie und Epistemologie der Natur des Subjekts des Empfindens sowie des Empfindens selbst führt. 3 Wir streifen kurz diese Geschichte über die Ursprünge der zeitgenössischen Psychologie, die, wie Straus sie entwirft, eine Geschichte der Vergessenheit der gelebten Erfahrung ist, die auf zwei eklatanten Fehlern beruht: Der Herabsetzung der Empfindung zu einem mangelhaften Bewusstsein und der Reduktion des Körpers auf eine Maschine. Straus zufolge hat die von Descartes eingeführte Trennung der Substanzen, der res extensa und der res cogitans, dem Lauf der Zeit standgehalten, sodass die moderne Psychologie immer noch völlig von Descartes abhängig geblieben ist. Es ist letztlich Descartes, der »Das Empfinden zu beschreiben, sein Wesen zu bestimmen, ist das eine Ziel dieser Untersuchung. Von dem Empfinden also, nicht von den Empfindungen wird die Rede sein.« (Straus 1978, 2)
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laut Straus zur Entwertung der Empfindung beigetragen hat, indem er sie einerseits zu einem mangelhaften Modus des Bewusstseins abwertete und er andererseits die lebendigen animalischen und menschlichen Körper zu einer reinen res extensa machte. Doch hier existiert bei Descartes eine Zweideutigkeit: Zum einen sollten die Empfindungen von der Einheit der ausgedehnten Materie und des Denkens zeugen, da sie zu beiden Substanzen gehören, das heißt zur res cogitans als verworrene Gedanken und zur res extensa als motorische Prozesse. Zum anderen birgt Straus zufolge der Dualismus in sich einen gravierenden und nicht zu überwindenden Widerspruch: Das Ego fühlt insofern bei Descartes, als dass das Empfinden eine eigene Modalität des Ichs ist, aber zugleich soll die Empfindung ein rein körperlicher und mechanischer Vorgang sein, der ohne subjektives Eingreifen des Geistes geschieht. In den Meditationen über die Erste Philosophie ist Descartes der Auffassung, dass die Empfindungen einen Modus des cogito 4 neben der sicheren Erkenntnis, dem Urteilen, der Einbildung, dem Wollen, etc. bilden (Descartes 1992/2009, 39, fr. AT, IX, 27). Dennoch ist der epistemologische Wert der Empfindungen eher durch deren Mangelhaftigkeit gekennzeichnet. Die empfindende Erkenntnis unterscheidet sich von der wahren Erkenntnis durch die Tatsache, dass sie eine ungenaue Art des Wissens darstellt, während die eigentliche Erkenntnis im Vergleich zu jener klar und deutlich ist. So merkt Descartes in der sechsten Meditation an, dass »ein solches Verständnis aufgrund der Sinne vielfach äußerst dunkel und verworren ist« (ebd., 87, fr. AT, IX, 63). Letztlich bekommt der Zweifel eine solche Radikalität, dass sein hyperbolischer und metaphysischer Charakter Descartes dazu drängt, den Bezug auf die sinnliche Erfahrung gänzlich aufzugeben (ebd., 39, fr. AT, IX, 27). All dies geschieht für Straus mit einem solchen Misstrauen, dass Descartes im cogito das metaphysische Fundament seiner mathematischen Physik findet, gänzlich zurückgezogen von der Welt und in einer ganz und gar körperlosen Substanz. Dennoch versteht Descartes die Einheit von Körper und Seele nicht wie eine natürliche Einheit, sondern im Gegenteil wie eine zu»Sicherlich aber scheine ich zu sehen, zu hören, warm zu werden. Es ist nicht möglich, dass dies falsch ist; dies ist in eigentlichem Sinne das, was in mir Sinnliches Wahrnehmen genannt wird; und dies genau so aufgefaßt ist nichts anderes als Denken.« (Descartes 1992/2009, 32 f., fr. AT, IX, 23)
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sammengesetzte Einheit (ebd., fr. AT, IX, 73). Diese Konzeption ist für Descartes deshalb notwendig, da sie ihm in der sechsten Meditation erlaubt, die eigentliche Unterscheidung von Seele und Körper zu beweisen. Angesichts dieser ontologischen Unterscheidung merkt Descartes an, dass »obwohl ich möglicherweise […] einen Körper besitze, der mir äußerst eng verbunden ist […] ist es sicher, daß ich von meinem Körper tatsächlich unterschieden bin, und ohne ihn existieren kann.« (Ebd., 85, fr. AT, IX, 62) Nichtsdestotrotz haben wir gesehen, dass Descartes das Empfinden dem Geist zuordnet. Wenn die Empfindung also eine Modalität des cogito ist und wenn zugleich mein cogito potentiell unabhängig von meinem eigenen Körper existieren kann, dann muss man schlussfolgern, dass ich ohne Hilfe meines Körpers empfinden kann. Allerdings wird Descartes einige Jahre später in den Passionen der Seele (1649) und in Über den Menschen (1648) eine mechanistische Psychologie entwickeln, die Straus zufolge die Theorie der Reflexe, besonders jene von Pawlow, ermöglichen wird. Straus zitiert hier selbstverständlich den Artikel 16 der Passionen der Seele (Descartes 2010/2014, 13 f., fr. AT, XI, 341 f.). Wir bemerken vor allem die entscheidende Umkehrung, die Descartes beispielsweise in den Artikeln 5 und 6 vollzieht: »So glaubte man ohne Grund, daß unsere natürliche Wärme und alle Bewegungen unseres Körpers von der Seele abhängen.« Stattdessen ist es für Descartes aber so, dass »der Tod niemals durch einen Fehler der Seele geschieht, sondern allein, weil sich irgendein Hauptkörperteil zersetzt.« (Ebd., 5, fr. AT, XI, 330 f.) Deutete die Position der Meditationen die Möglichkeit eines Überdauerns der Seele in Abwesenheit des Körpers an, und somit der Gesamtheit ihrer Fähigkeiten wie jener des Empfindens (Descartes hatte dabei den Anspruch, die Unsterblichkeit der Seele nachzuweisen), scheint der Standpunkt der Mechanik der Leidenschaften jene Ontologie zugunsten einer anderen Konzeption verdrängt zu haben, in der nunmehr die essentielle Lebendigkeit der Seele durch den Körper realisiert wird, sodass dieser das Empfinden der Seele bedingt. Wie könnte die Seele also noch etwas fühlen, wenn sie nicht die Tatsache ihres Körpers berücksichtigt? Das Problem ist also das folgende: Die Konsequenzen der Unterscheidung von Seele und Körper in den Meditationen über die Erste Philosophie, nämlich dass die Seele ohne den Körper existieren kann, widersprechen für Straus gänzlich der Abhandlung über die Einheit von Seele und Körper in den Passionen der Seele, wo ihm zufolge der 215 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Seele zugeschrieben wird, dass sie notwendigerweise des Körpers bedarf, um zu empfinden. Im Zuge dessen glaubte die physiologische Psychologie der Empfindungen, sie hätte den cartesianischen Substanzdualismus überwunden, indem sie den empfindsamen Charakter des Ego verschweigt, um sich bei der Erforschung des Empfindens allein mit physiologischen Fragestellungen hinsichtlich des Körpers zu beschäftigen. Sie hat also den metaphysischen Standpunkt und als logische Konsequenz auch den der Subjektivität verlassen. Auch wenn Descartes den Bezug auf die sinnliche Erfahrung in Klammern gesetzt hat, um ein unbezweifelbares Wissen im Rahmen seiner Untersuchung über das Fundament eines cogito frei von Sinnesempfindungen zu erlangen – ein cogito, das dennoch diese Sinnlichkeit am Ende der sechsten Meditation wiedergewinnt, da es doch der Sinne bedarf, wenn Descartes einräumt, dass der Körper außerhalb seines Geistes existiert – wovon Straus im Übrigen keine Notiz nimmt –, verschmäht die objektive Psychologie a contrario die Verwendung jeglicher subjektiven Quelle, um sich allein auf die für sie außer Frage stehenden objektiven und quantitativen Aktivitäten jener kunstvollen Maschine zu konzentrieren, die der Körper sei. Dennoch kann man sich fragen, ob nicht auch die Straus’sche Interpretation von Descartes selbst wieder auf eine bestimmte Vulgata der Auslegung von Descartes’ Philosophie zurückfällt. Tatsächlich erscheint es nämlich eher so, dass Straus’ Hauptvorwürfe an Descartes weniger die Essenz von Descartes’ Denkens betreffen, als vielmehr bestimmte, nicht hinterfragte Annahmen, die bis heute noch in Bezug auf die Philosophie des französischen Denkers bestehen. Man kann also Descartes’ Verantwortung für die Entwicklung der objektiven Psychologie durchaus in Frage stellen. Man kann nämlich zeigen, wie sich Descartes noch stärker gegen jede Art von reduktionistischer Interpretation der Empfindung gewehrt hat; eine Interpretation, welche die Empfindung auf einfache und quantifizierbare senso-motorische Prozesse reduziert. Wir werden kurz darauf eingehen, indem wir die beiden Kritikpunkte aufgreifen, die Straus an Descartes richtet. Was den Vorwurf betrifft, der auf die Behauptung abzielt, dass das Empfinden eine mangelhafte Modalität der Erkenntnis sei, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass die Idee bei Descartes einen ambivalenten Status hat. Denn bereits in seinem Vorwort an den Leser der Meditationen unterscheidet Descartes zwei Bedeutungen des Konzepts der Idee:
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Aber ich erwidere, daß hier im Ausdruck der Idee eine Äquivokation vorliegt: Dieser Ausdruck kann nämlich entweder materiell aufgefaßt werden, d. h. als Operation des Verstandes, und in diesem Sinne kann man nicht sagen, er sei vollkommener als ich; oder objektiv, d. h. als das durch diese Operation repräsentierte Ding, und dieses Ding kann im Hinblick auf sein Wesen vollkommener sein als ich, auch wenn man gar nicht einmal voraussetzt, daß es außerhalb des Verstandes existiert (Descartes 1992/2009, 10, fr. AT, VII, 8).
Diese Unterscheidung zwischen dem materiellen Sinn der Idee als Operation meines Verstandes und dem objektiven Sinn als Objekt, das meinem Denken immanent ist, wird erhebliche Konsequenzen für das Vorgehen der cartesianischen Meditationen bei der Erforschung des Wahren haben. Wendet Descartes diese Unterscheidung des Konzepts Idee ebenfalls in Bezug auf diejenigen Ideen an, die von den Sinnesorganen empfangen werden? Ganz eindeutig ja. Gewiss gehört das Empfinden zum cogito. Dennoch ist es als Akt des cogito ebenso sicher, dass der Akt des Fühlens durch das natürliche Erkenntnisvermögen auf eine gewisse Art und Weise ebenfalls wahr ist und nicht in Zweifel gezogen werden kann. Es ist nur der Inhalt des Aktes, der bezüglich seiner Wahrhaftigkeit und Existenz infrage gestellt werden kann, nicht jedoch der Akt selbst. Der Akt des Fühlens existiert ebenso wie das Ich denke. Somit ist das Sein des Aktes unzweifelhaft und nur seine Resultate lassen noch Raum für Zweifel. In der zweiten Meditation interessiert Descartes jedoch nicht der epistemologische Wert des Aktes der denkenden Seele, sondern der Wert der unbezweifelbaren Existenz dieser Akte. Von diesem Stadium der zweiten Meditation an ist das Empfinden klar und deutlich – wenn man sich an das Konzept der Idee im Sinne einer Produktion der Seele hält – ebenso wie das Wollen, Vorstellen etc. Wie Descartes in seiner dritten Meditation schreibt: »Denn wenn ich die Ideen selbst lediglich als bestimmte Modi meines Denkens betrachte und sie nicht auf irgendetwas anderes beziehen würde, könnten sie mir jedenfalls kaum irgendein Material zum Irren geben« (ebd., 42, fr. AT, VII, 29). An dieser Stelle versuchen wir nun die Frage zu beantworten, ob die Mechanik in den Passionen der Seele die gelebte Erfahrung gänzlich außer Acht lässt. Die Passionen der Seele bilden eine Abhandlung, deren Inhalt nichts anderes als die Einheit von Seele und Körper ist. Allerdings ist die Einheit von Körper und Seele Descartes zufolge das Resultat einer erlebten Erfahrung dieser Einheit. Was diese Erfahrung der Einheit von Körper und Seele betrifft, so schreibt Des217 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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cartes, beispielsweise in den Vierten Erwiderungen gegen die Einwände von Arnauld, dass wir diese Verbindung von Seele und Körper »unablässig durch die Sinne erfahren« (ebd., 236, fr. AT, IX, 177). Aber ich möchte besonders den Brief vom 28. Juni 1643 erwähnen, den Descartes an Elizabeth verfasst. In diesem Brief weist Descartes ganz eindeutig darauf hin, dass die Einheit von Seele und Körper zur alltäglichen Erfahrung gehört. Er erklärt Elizabeth, dass wir vor allem aufgrund der Sinne ein sehr klares Wissen von dieser Einheit haben, während eine Erkenntnis der Seele nur mit reinem Verstand und des Körpers mittels Verstand und Einbildungskraft möglich ist. Descartes zufolge existieren also im Hinblick auf den Erkenntnisgegenstand jeweils gültige Vermögen des cogito, die in einer Untersuchung legitimerweise angewendet werden dürfen: 5 Erstens stelle ich also einen großen Unterscheid zwischen diesen drei Arten von Begriffen fest, insofern die Seele sich nur durch den reinen Verstand begreifen läßt; der Körper, das heißt die Ausdehnung, die Gestalten und die Bewegungen lassen sich ebenfalls durch den Verstand allein erkennen, aber viel besser durch den Verstand mit Hilfe der Einbildungskraft; und schließlich lassen sich die Sachen, die der Vereinigung der Seele mit dem Körper zugehören, nur dunkel durch den Verstand allein erkennen, nicht einmal durch den Verstand mit Hilfe der Einbildungskraft; vielmehr lassen sie sich sehr klar durch die Sinne erkennen. […] Die metaphysischen Gedanken aber, welche den reinen Verstand schulen, dienen dazu, uns mit dem Begriff der Seele vertraut zu machen; und das Studium der Mathematik, das hauptsächlich die Einbildungskraft durch die Betrachtung der Gestalten und der Bewegungen schult, gewöhnt uns daran, recht deutliche Begriffe des Körpers zu bilden; und schließlich lernt man die Vereinigung der Seele mit dem Körper zu begreifen nur durch das Leben und alltägliche Gespräche sowie durch den Verzicht auf die Meditation und auf das Studium jener Sachen, welche die Einbildungskraft schulen (Descartes 2013/2015, 22 f., fr. AT, III, 691 f.).
Es gilt also festzuhalten, dass die Erforschung der Seele als ihr Fundament die gelebte Erfahrung der Einheit der Seele mit ihrem Körper hat. Wobei dies zweifellos leider nicht das letzte Wort Descartes’ sein wird, denn letztlich wird es in der wissenschaftlichen Erforschung der Leidenschaften notwendigerweise zu einer Vergegenständlichung Descartes selbst verwendet hierfür den Begriff der »juridiction«, wenn er in seinen Fünften Erwiderungen auf die Einwände Gassendis bekräftigt, jener wolle »das, was von seiner Natur her nicht unter die Anschauung fällt [juridiction], dennoch der Untersuchung durch sie unterziehen« (Descartes 1992/2009, 391, fr. AT, IX, 390).
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dieses Dualismus kommen müssen, um zu begreifen, was sich hinsichtlich der Leidenschaften auf die Seele und was auf den Körper bezieht. Dennoch muss es Descartes zufolge möglich sein, eine physikalische Theorie der Leidenschaften zu erschaffen, in der das Erlebte nicht wegfällt, da dies der adäquateste Weg wäre, ein Wissen von ihnen zu erlangen. Die Trennung der Substanzen scheint letzten Endes nicht in ihre Einheit zu münden. Eher lässt sich in der Bestimmung der legitimen Erkenntnisbereiche der Seelenvermögen (der reine Verstand für die Seele, der Verstand und die Einbildungskraft für die Mathematik, die Sinne für die Einheit von Seele und Körper) eine gültige Anwendung der Vermögen herstellen, um so ein dem Inhalt entsprechendes, valides Wissen zu gewährleisten.
Hegel anthropologische Lehre des Empfindens Wir möchten uns nun einem anderen Abschnitt der Geschichte des Denkens zuwenden, dem Werk Hegels, um zu zeigen, dass zumindest eine Theorie der Empfindung als reine subjektive Erfahrung nach Descartes und vor Straus entwickelt wurde. Etwa ein Jahrhundert vor Straus hatte Hegel bereits gesehen, dass ein reduktionistisches Verständnis zu einem Absinken des Komplexitätsgrads führt. Dabei bemängelt er ganz klar die rein quantitative Objektivierung der Empfindung, wenn er erklärt: »Die quantitative Seite der Empfindung bietet aber der philosophischen Betrachtung, selbst in sofern kein Interesse dar, als jene quantitative Bestimmung auch qualitativ wird« (Hegel GW 25.2, 995, Zus. § 401), womit in der Folge Kants 6 die Empfindung als allein intensive Größe aufgefasst wird. In der Anthropologie, dem ersten Moment des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, untersucht Hegel den Geist in seiner unmittelbaren Form, das heißt so, wie er sich in der noch differenzlosen Einheit von menschlicher Seele und ihrem Leib zeigt. Die Anthropologie verdeutlicht ein entscheidendes Moment in der Entwicklung der Idee, weil diese dank der menschlichen Seele als Natur aufgehoben wird und die Idee schrittweise ihr Zurückkommen auf sich selbst vorbereitet, erweitert durch die Äußerlichkeit der Natur, ohne ihr dabei erlegen zu sein. Dennoch muss »In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad« (Kant 1998, 151).
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die Seele auf der anthropologischen Ebene mit ihren natürlichen Bestimmungen »ringen«, nicht indem sie diese einfach während dieses Prozesses aufhebt, sondern eher indem sie lernt, jene zu beherrschen. In diesem Sinne versteht Hegel die Seele in § 387 als Naturgeist und damit als anthropologische Grundlage des Menschen (Hegel GW 20, 386). Die Hegel’sche Anthropologie beruht also auf der Lehre vom Menschen, insofern er zunächst eine Seele und nicht ein Bewusstsein besitzt; das Bewusstsein seinerseits wird später in der Lage sein, die Welt zu objektivieren, indem es sich diese entäußernd gegenüberstellt. Diese Seele ist für ihn Bewußtlosigkeit und wir sollten dies nicht mit dem Konzept des Unbewussten bei Freud verwechseln. Die Anthropologie Hegels ist auf eine strukturale und dialektische Weise dargelegt, das heißt im doppelten Element von Identität und Unterschied zwischen dem menschlichen Empfinden und dem des Tieres. In diesem Sinne bietet die Anthropologie neue Erkenntnisse hinsichtlich des animalischen Empfindens. Zur Erinnerung, Hegel unterteilt seine Anthropologie in drei große Momente: Die natürliche Seele (§§ 391– 402), Die fühlende Seele (§§ 403–410) und Die wirkliche Seele (§§ 411–412). Wir werden uns allein auf das erste Moment beschränken und genauer noch auf den letzten Abschnitt der natürlichen Seele, in dem Hegel seine Lehre des Empfindens entwickelt. In der Anmerkung zu § 400 schreibt Hegel, der Inhalt der menschlichen Empfindung sei […] als mein eigenstes gesetzt. Das Eigene ist das vom wirklichen concreten Ich ungetrennte, und diese unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer Substanz und dem bestimmten Inhalte derselben ist eben diß Ungetrenntseyn, insofern es nicht zum Ich des Bewußtseyns, noch weniger zur Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt ist (Hegel GW 20, 397, § 400).
Die unmittelbare Einheit des Selbst und seines Inhalts ist das Wesen der Empfindung und bildet die Grundlage des Ichs des Bewusstseins. Für Hegel erweist sich der Akt des Empfindens ursprünglich als eine lebendige Beziehung zwischen Seele und Leib, ohne eine Unterscheidung zwischen dem Empfindenden und dem Empfinden. Der Empfindende ist Eins mit dem Objekt seiner Empfindung und in dieser Einheit noch nicht Bewusstsein. In diesem Sinne definiert Hegel das Empfinden als »das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit« (ebd., 399, §401). An diesem Punkt bemerken wir, dass Hegel das Empfinden als ein gesundes Verhältnis zwischen 220 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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dem Geist und seiner Leiblichkeit definiert, nicht aber seiner Körperlichkeit. Ich werde hier eine andere Interpretation vortragen als der französische Kommentator Bernard Bourgeois. Ihm zufolge macht Hegel hier keine Unterscheidung zwischen dem Begriff der Körperlichkeit und dem der Leiblichkeit. 7 Dennoch ist diese Unterscheidung sehr deutlich und von großer Bedeutung sowohl für das Hegel’sche Werk als solches sowie für unseren Vergleich zwischen Hegel und Straus. Letztlich führt diese Unterscheidung dazu, dass Hegel jener Forderung von Straus entspricht und sie sogar vorwegnimmt, derzufolge das Empfinden nur einer Analyse zugänglich ist, in der der Organismus als lebendig aufgefasst und in einem spekulativen, aber dennoch empirischen Prozess der Einheit des Innen und Außens verstanden wird, einer Einheit des Fühlenden und des Gefühlten, des Selbst und der Welt. Die Hypothese unserer Darstellung ist also die folgende: Für Hegel kann jedes als unabhängig voneinander gedachte Sinnesorgan mit einem Körperteil gleichgesetzt werden, d. h. mit einer natürlichen Körpermaterie. Die Verbindung zwischen den Sinnen und ihrer Empfindung kann also berechtigterweise als Körperlichkeit aufgefasst werden. Diese Verbindung entstammt direkt aus der Bestimmung der Naturphilosophie: Der Äußerlichkeit der Idee in Bezug auf sich selbst. Dennoch organisieren sich die Sinne, in Anbetracht der Idealität des Lebendigen sowie von der Totalität des Tieres ausgehend, wie ein System dieser Körperlichkeit. Durch diese Systematisierung auf die Lebendigkeit des Ganzen zurückgeführt, wird der Körper fortschreitend ein Leib. In der Idealität der Seele erfasst, werden die Sinnesorgane in der Gesamtheit des Seelenlebens aufgehoben. Hegel verwendet den Begriff der Körperlichkeit, da die Empfindung zuerst einen Bezug zum Körper hat, d. h. den Inhalten der Sinnesorgane. Sie sind somit Untersuchungsgegenstände der Physiologie. Dennoch verwendet er den Begriff der Leiblichkeit, wenn sich mit der Zeit Veränderungen der Sinnesinhalte ergeben, insofern nämlich, als dass diese von einer Äußerlichkeit für das empfindende Subjekt zu einer Innerlichkeit umgebildet werden. Der Leib ist nicht mehr ein Objekt der Physiologie oder einer anderen Wissenschaft, die ebenfalls keine Abstraktion des Lebendigen herstellen kann, sondern der MeVgl. dessen Anmerkung zu § 379: »Hegel unterscheidet in Bezug auf die Philosophie des Geistes kaum, wenn es um den Geist geht, zwischen Körper und Leib, Körperlichkeit und Leiblichkeit« (Hegel 2006, 176; Übers. R. R.).
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dizin. Das Hegel’sche Konzept des Leibes hängt deshalb stark mit seinem Verständnis der Gesundheit und infolgedessen auch der Medizin zusammen: »Mens sana in corpore sano, sie [die Seele] ist hier die gesunde Seele, aber nicht im gesunden Körper, sie ist leiblich« (Hegel GW 25.1, 372). Um zu verstehen, wie Hegel die Unterscheidung zwischen den Konzepten von Leiblichkeit und Körperlichkeit verwendet, gilt es, mit der Analyse seiner Lehre der Empfindung zu beginnen. 8 In ihr macht die Idee eine große Wendung in ihrer Entwicklung, insofern sie an sich hält, um eine neue geistige Gestalt anzunehmen: Sie idealisiert ihre eigene natürliche Form. Eine der Eigenheiten der Hegel’schen Theorie der Empfindungen ist, dass diese in zwei Sphären unterteilt sind, nämlich einerseits in die äußeren Empfindungen und andererseits in die inneren Empfindungen. Die äußeren Empfindungen gehen von einem äußerlichen Inhalt, aus dem Universum der Natur stammend, zur Seele. Dieser Inhalt trifft auf die Sinnesorgane (das Sehen, das Hören, das Riechen, der Geschmack, der Tastsinn). Allerdings merkt Hegel an, dass die Empfindung erst dann vollständig empfunden wird, wenn sie »im Fürsichseyn der Seele innerlich gemacht, erinnert wird« (Hegel GW 20, 398, § 401). Infolgedessen reicht der simple Kontakt eines Sinnesorgans mit einem äußeren Objekt nicht aus, um zu behaupten, dass das fühlende Subjekt tatsächlich empfindet. Wenn man bei einer Analyse der Organe diese als unabhängig voneinander versteht, gibt es tatsächlich einen Platz für die Körperlichkeit, das heißt für eine Beschreibung des Körpers als rein chemisch-mechanische Materie. Somit sind die Sinnesorgane Teile des Körpers, wenn sie Naturobjekte sind. Dennoch ist es, um zur Leiblichkeit zu gelangen, nötig, dass hier durch den Empfindenden der empfundenen Äußerlichkeit ein Akt der Idealisierung hinzugefügt wird, der ihm die Singularisierung jeder Empfindung ermöglicht: Dies ist die Rolle der inneren Empfindungen. Das entscheidende Element der Körperlichkeit besteht darin, dass die in der Innerlichkeit des empfindenden Subjekts gegebene Selbstgegenwärtigkeit abwesend ist und sie, die Körperlichkeit, in diesem Sinn Objekt der Physiologie sein kann. Allerdings ist es nicht dieser mechanische Vorgang der Sinne, Eine ausführliche Darstellung würde erfordern, die Konzepte der Gewohnheit, des Triebs, der wirklichen Seele innerhalb der sich wandelnden Leiblichkeit zu untersuchen.
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der für Hegel den Ausgangspunkt der philosophischen Anthropologie bildet, sondern das Verhältnis der äußeren Empfindungen in der Innerlichkeit der Empfindung (Hegel GW 25.1, 289). In diesem Prozess der Verinnerlichung vereinigt sich der Körper in einem Subjekt und wird, was dieses Subjekt als das Eigene besitzt. Der Begriff der Innerlichkeit verwandelt und erschüttert das Verhältnis des Lebewesens zum Körper. Jedoch muss der Akt der Verinnerlichung auf eine der Seele übergeordnete Fähigkeit zurückgeführt werden, nämlich auf das universell idealisierende Vermögen ihres Körpers, der sich vom Materiellen zum Ideellen wandelt. Die Seele existiert nicht in einem Verhältnis der Äußerlichkeit zu einem physischen, unbelebten Körper, sondern sie wird ermöglicht im Inneren des Prozesses, den sie in der Einheit mit ihrem Leib vollzieht – um es genau zu sagen, die Seele ist Leib, wodurch die Seele sich in der Äußerlichkeit bewahrt und sich zugleich eine konkrete, wirkliche Gestalt gibt. Die zweite Sphäre behandelt die Aufhebung der Körperlichkeit in der Leiblichkeit. Diese Aufhebung ist eine Besonderheit des Menschen, die das Tier nicht besitzt. Dieser zweite Teil beschäftigt sich mit den inneren Empfindungen, die ursprünglich zur Seele gehören, die aber, um wirkliche Empfindungen sein zu können, veräußerlicht werden müssen, was Hegel eine Verleiblichung nennt – ein fundamentales Konzept, das zum Wortfeld des Leibes gehört – und einen empfindenden Ausdruck der Seele in der Hülle des Leibes bedeutet. Hegel beschäftigt sich an verschiedenen Stellen in seinen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes mit den Gründen, warum der Mut oder die Wut im Herzen gefühlt werden, warum sich schallendes Gelächter im Gesicht zeigt, der Schmerz sich in den Tränen andeutet usw. Indem er diese Schicht des Empfindens untersucht, entwickelt Hegel die Grundzüge für eine neue empirische Wissenschaft namens psychische Physiologie. Diese neue Wissenschaft der inneren Empfindungen unterteilt sich nochmals in zwei Teile: Den Teil, der sich mit meiner unmittelbaren Einzigartigkeit beschäftigt (Wut, Rachewunsch, Neid, Scham, Bedauern, etc.) und den Teil, der das an-sich und universelle für-sich zum Objekt hat (das Recht, die Sittlichkeit, das Schöne und das Wahre etc.). Dennoch sind wir in der Anthropologie auf die Untersuchung des ersten Teils beschränkt, da sie die inneren Empfindungen noch unabhängig vom Willen und vom Bewusstsein beinhaltet. Auf einer anthropologischen Ebene hebt die Seele ihre Körperlichkeit durch die Idealisierung ihres Körpers auf. 223 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Die körperliche Materie macht somit Platz für eine idealisierte Materie. Sicherlich bedingt die anorganische Materie ein höheres Niveau der Organisation, das des lebendigen Organismus und des Menschen, aber die Seele zeigt sich vor allem in einer engen Beziehung zu ihrer Leiblichkeit. Es fußt auf meiner Leiblichkeit, dass ich in einem zweiten Schritt und mittels meiner Reflexion meine Glieder als leblos erleben kann. Somit ist es offenkundig, dass mein eigener Körper einen trägen Körper umfasst, ich fühle mich dort aber nicht so vereint, wie ich mich eins mit dem Körper fühle, welcher der meine ist; eine Einheit dank der ich fortwährend erlebe, was die Sprache nur gelegentlich sagen kann, wenn ich z. B. statt »die Hand« »meine Hand« sage, was ich dann auf die Totalität meiner Existenz beziehe. Dennoch existieren bis zum einem gewissen Punkt bei Tier und Mensch Ähnlichkeiten hinsichtlich des Empfindens. Welches sind die Elemente, an denen die Identität zwischen dem menschlichen Empfinden und dem animalischen sichtbar wird? Das Konzept der Glieder stellt sich hier als fundamental heraus. Damit eine individualisierte Subjektivität existieren kann, ist es vor allem notwendig, dass die Äußerlichkeit das Objekt in einem Prozess der Idealisierung bilden kann. Diese Idealisierung des Äußeren spielt sich auf der Ebene der Glieder ab, was sowohl dem tierischen Organismus als auch der menschlichen Seele ermöglicht, sich dadurch zu erhalten und zu entäußern, d. h. für die Seele, ihre eigene Idealität mit der objektiven Realität abzugleichen. Aufgrund der Empfindung besitzt das Tier wesentlich das »Gefühl, als die in der Bestimmtheit sich unmittelbar allgemeine, einfach bei sich bleibende und erhaltende Individualität« (Hegel GW 20, 353, § 351). Die Empfindung verhilft dem Tier zu einer Form der Äußerlichkeit in seiner Innerlichkeit. Durch sein Vermögen zu empfinden ist das Tier der Prozess, der die Natur der Innerlichkeit aufhebt; es ist die physische Idealität dieser dahingehend, dass die Natur im Empfinden des Äußeren Gegenstand eines Prozesses der Idealisierung ist, der fortwährend in Richtung des Geistes führt. Zusätzlich ist der tierische Organismus die Verkörperung des Syllogismus der inneren Zweckmäßigkeit (ebd., 365, § 365), d. h. des konkreten Moments der logischen Idee des Lebens. Die Leiblichkeit ist der konkrete Prozess der inneren Zweckmäßigkeit, die mit dem Tier begonnen hat, d. i. der reelle Prozess der Einheit von Seele und ihrem Leib. Anders gesagt, das Tier vollzieht die Aufhebung der Kör224 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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perlichkeit durch seine Leiblichkeit. Somit erfordert das Tier eine Beschreibung, die über eine physiologische Analyse hinausgeht. Die Ernährung ist beispielsweise ein reeller Prozess, der empirisch die Existenz eines Konzepts bestätigt, das jede Form eines chemischmechanischen Verhältnisses aufhebt. 9 Hegel verwendet also das Vokabular der Leiblichkeit, um die lebendige Dialektik des Lebens des animalischen Organismus zu beschreiben, da letzterer sich als ein Subjekt erweist, das seine Identität in der Äußerlichkeit des durch seine Glieder bestimmten Seins bewahren kann. Dennoch kann das Tier zu jedem Moment in seine früheren objektiven Konfigurationen zurückfallen, die als seine materiellen Bedingungen der Möglichkeit fungieren. Prototypisch ist dies in der Krankheit der Fall, da hier »das Thier mit einer unorganischen Potenz verwickelt und in einem seiner besondern Systeme oder Organe gegen die Einheit seiner Lebendigkeit festgehalten« wird (ebd., 374, § 374). In der Krankheit geht das leidende Glied letztlich in einem chemisch-mechanischen Prozess unter. In der Gesundheit ist das Lebendige darauf bedacht, dass der Leib eine Distanz zu seinem Körper behält und somit die freie Dialektik der Leiblichkeit beibehält, anstatt sich von ihr in einem chemisch-mechanischen Prozess zu entfremden. Somit kann der Organismus, im Ganzen oder in Teilen, nur im Falle des Todes oder der Krankheit mit einem Körper gleichgesetzt werden. Ob in Krankheit oder Tod, der Organismus ist in seinem Nicht-Leben bestimmt als »der Leichnam des Lebensprocesses«, wie Hegel sagt (ebd., 344, § 377). Im Übrigen wird die Phänomenologie von Straus diese Konzeption der Krankheit als Entfremdung eines Teils von sich, der sich im Element der Besonderheit verliert, beibehalten. 10 Der Tod bedeutet den totalen Verlust der Selbsterhaltung von sich selbst im Anders-Sein zugunsten einer unwiderruflichen Beherrschung durch die kontingente Äußerlichkeit, der mein Körper nunmehr angehört. »Der Ernährungsprozeß ist hier die Hauptsache; das Organische ist mit der unorganischen Natur gespannt, negiert sie und setzt sie mit sich identisch. […] Der Ernährungsprozeß ist nur diese Verwandlung der unorganischen Natur in eine Leiblichkeit, die dem Subjekte angehört […]. Dieses unmittelbare Übergehen und Verwandeln ist es, woran alle Chemie, alle Mechanik scheitert und ihre Grenze findet« (Hegel SW 9, 645 f., Zus. § 365). 10 »Gerade indem ich erst mit der Krankheit und mit dem Schmerz meinen Leib vergegenständlicht erlebe, wird er mir zu einem Äußeren, von dem ich selbst ausgeschlossen bin« (Straus 1978, 252). 9
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Remy Rizzo
Allerdings begründet das menschliche Empfinden für Hegel ein höheres Niveau und ist demnach komplexer als das tierische Empfinden. Sicherlich, Hegel räumt ein, dass das Denken ein Unterscheidungsmerkmal par excellence zwischen Mensch und Tier darstellt, da das Denken nur dem Menschen gegeben ist; es ist, »wodurch der Mensch sich vom Vieh unterscheidet, und daß er das Empfinden mit diesem gemein hat« (ebd., 398, § 400). Trotzdem muss man das Denken als eine letzte Unterscheidung begreifen, und zwar in dem Sinne, dass sich der Mensch schon im Empfinden selbst vom Tier unterscheidet. Sobald er die Auswirkungen der äußerlichen Empfindungen auf die Innerlichkeit des Geistes analysiert, bekräftigt Hegel: »Durch diese innerliche Bestimmtheit des Subjects unterscheidet sich bereits das äußere Empfinden des Menschen mehr oder weniger von dem Thiere« (Hegel GW 25.2, 995, Zus. § 401), da die äußerliche Empfindung beim Menschen mit der geistigen Innerlichkeit der Seele verbunden ist. Vom Faktum dieses idealisierenden Vermögens ausgehend, gehört die menschliche äußere Empfindung nicht mehr zu einer einfachen, tierischen Empfindung, sondern sie konstituiert einen der Gegenstände der Anthropologie, da die innere Empfindung, durch ihr universell idealisierendes Vermögen und trotz der Abwesenheit von Bewusstsein, bereits eine symbolische Seite hat, was dem Tier fehlt, da es keine Gewohnheit besitzt, die ihm erlauben würde, jene Empfindungen, die es selbst hat, zu verallgemeinern. 11 Es ist sehr gut möglich, dass die geistigen Erben dieser Wissenschaft, der psychischen Physiologie, absolut nicht die sind, die Hegel erwartet hätte und dass eben jene Nachwelt mit großer Sicherheit das Ziel der Kritik ist, die Straus an die Psychologie richtet. Hegel weist der Physiologie des Körpers zwar einen Platz zu, aber er reduziert die Erfassung des körperlichen Elements nicht auf seine mechanische oder chemische Dimension. Wir haben gesehen, dass der Leib die lebendige und spekulative Aufhebung des Körpers ermöglicht. Können wir also nicht einfach meinen, dass die objektive Psychologie die Unterscheidung zwischen Leiblichkeit und Körperlichkeit vernachlässigt, wenn sie allein mit den Empfindungen eines unbelebten Körpers
Hegel erklärt in seinen Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes des Sommersemesters 1825: »Der Hauptunterschied [zwischen Mensch und Tier] ist das was die Seele an dem Körper thut, die Einbildung der Seele in den Körper, so daß er ein Zeichen der Seele ist und dieß ist was der äußeren menschlichen Bildung das Ausgezeichnete giebt« (Hegel GW 25.1, 407).
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Hegels Anthropologie des Empfindens
arbeitet? Denn für Hegel (und Straus würde dies nicht verneinen) macht die Leiblichkeit die Besonderheit des Empfindens aus. Straus’ Kritik entspricht dabei genau dem, was Hegel anführt, wenn er die Empfindung vom Standpunkt der Innerlichkeit und ihrer engen Verbindung mit ihrem Leib beschreibt. In beiden Fällen vernachlässigt die rein quantitative Betrachtungsweise der Physiologie den Standpunkt des Lebendigen.
Überschneidungen von Hegels Anthropologie und Straus’ Phänomenologie Wir haben unsere Darstellung mit der Überprüfung der Kritik begonnen, die Straus an der Psychologie seiner Zeit übt, wenn er ihren ihm zufolge cartesianischen Ursprung aufdeckt. Zugleich haben wir versucht, diese Kritik an Descartes zu relativieren. Dann haben wir anhand von Hegel gesehen, dass die Erforschung des Empfindens nicht notwendigerweise dazu führt, dass das Feld der gelebten, prä-intentionalen Erfahrung außer Acht gelassen werden muss. Der Prozess der gelebten Erfahrung äußert sich zum einen in der Aneignung des Körpers durch die Seele und lässt zum anderen das Bewusstsein einer Welt entstehen, die das Bewusstsein sich selbst gibt (auch wenn die Welt für das Bewusstsein als ein Gegebenes erscheint). Jetzt möchten wir zeigen, wie Hegels durch und durch spekulative Anthropologie des Empfindens, die aber zugleich auf den Wissenschaften ihrer Zeit (vornehmlich der Physiologie und Medizin) aufbaut, im Rahmen von Straus’ Phänomenologie eine neue Aktualität gewinnt. Das Interesse an einer solchen Konfrontation gründet sich einerseits darauf, dass die Hegel’sche Konzeption sich nicht als überholt erweist, um dem ursprünglich Erlebten als Grundlage des Bewusstseins Bedeutung zu verleihen, und andererseits darauf, dass es interessant ist zu beobachten, wie sich in der psychiatrischen Praxis von Straus beziehungsweise in der Theoretisierung dieser Praxis eine Form von spekulativer Dialektik wiederfindet. Zuerst jedoch entsteht das Bewusstsein, sowohl für Hegel als auch für Straus, nur in einem vorhergehenden, fundierenden Rahmen des Empfindens. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden Gelehrten in ihren Vorhaben, den Jahren, die sie trennen und der jeweiligen konzeptuellen Besonderheiten können wir dennoch einige gemeinsame Thesen im Hinblick auf die Ontogenese des Bewusst227 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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seins ausmachen. Es geht weniger um ein »Nichts an Welt und Bewusstsein«, um einen Ausdruck Sartres zu verwenden, das den Hintergrund bildet, vor dem das Sein plötzlich in der Welt »zerberstet« (Sartre 1990/1982, 35, fr. 11). Ganz im Gegenteil, für Straus wie für Hegel geht es um ein Vor-Bewusstsein, das in seinem Entstehen eng mit der Natur vereint ist und das fortwährend versucht, sich von ihr loszulösen. Somit findet sich das Sein, in einer Schicht, die dem Bewusstsein vorangeht und es bedingt, zunächst nicht unmittelbar dem Bewusstsein gegenüber; stattdessen erweist sich die Gegenüberstellung selbst als Ergebnis einer prä-intentionalen und präreflexiven Entwicklung. Es ist vielmehr die Aufgabe jeder Anthropologie, zumindest im Hegel’schen Sinne des Begriffes, die Schritte des Prozesses zu beschreiben, durch den sich die Idealität vor-bewusst allmählich eine Welt gibt, anstatt ein Bewusstsein zu postulieren, das urplötzlich aus dem Nichts (der Welt) in die Welt »zerberstet«. Wie wir bei Straus und Hegel gezeigt haben, ist es unmöglich, die ursprüngliche und unmittelbare Einheit des Selbst im Sein aus dem Nicht-Sein des Selbst und der Welt zu denken. Das einzige Nicht-Sein bzw. die reine Negation des Selbst ist, was man im Allgemeinen den Tod nennt. Dennoch ist der Mensch das einzige Sein, das nicht zu seinem Tod hin bestimmt ist. Selbstverständlich hat der Mensch volles Bewusstsein von seinem Tod, der sich auf die eine oder andere Art ereignen wird, aber der Tod ist für ihn nur das Ende eines natürlichen Zustandes. Im Gegensatz dazu entspricht der Einzelheit beim Tier keine Allgemeinheit, sodass dessen natürlicher Tod seine einzige Bestimmung ist. Dabei ist es eine Besonderheit des Menschen, dass er in der Menschlichkeit kontinuierlich sein Fortleben vollzieht. Das Grundelement des Denkens ist das Universelle und die Unsterblichkeit selbst; wobei die Unsterblichkeit nicht in der Luft herumschwirrt, sondern sich in die Geschichte einschreibt: Derart ist die Kultur, die konkrete Einzigartigkeit der Unsterblichkeit der Universalität des Denkens. Diese Unsterblichkeit macht das menschliche Leben aus, in welchem der natürliche Tod des Körpers überhaupt keinen Einfluss mehr hat und der Mensch sich kontinuierlich von seinem Körper loslöst. Die ontologische Endlichkeit meines Körpers ist in dem zugleich historischen und transhistorischen Element der Unendlichkeit meiner Freiheit aufgehoben. Um von hier zu Straus zu gelangen, lautet die erste Frage, die es zu stellen gilt: »Was ist das Empfinden?« Empfinden ist, wie uns Straus sagt, eine grundlegend sympathetische Erfahrung, das Sym228 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Hegels Anthropologie des Empfindens
pathetische hierbei verstanden als »der weitere Begriff, der beides, das Trennen und das Einigen, das Fliehen und das Folgen, das Schrecken und das Locken, also das Sympathische und das Antipathische umfasst« (Straus 1978, 207). Somit ist das Empfinden als eine Bewegung und als ein Werden charakterisiert. Nach Straus muss das fühlende Sein als ursprünglich Lebendiges aufgefasst werden. Dies ist im Übrigen der Grund, weswegen Straus den Begriff der Empfindung, der den Zustand, die Unveränderlichkeit und die Vorstellung eines Objektes suggeriert, das man geradezu zwischen seinen Händen festhalten könnte, durch den Begriff des Empfindens ersetzt, um auf das kontinuierliche Werden hinzuweisen, d. h. auf eine besondere zeitliche Struktur, die rein subjektiv ist und ihrem Wesen nach einer Quantifizierung widerspricht. Dieser Widerstand ergibt sich aus der rein subjektiven Erfahrung des Seins, die fühlt und die niemals mit einem Verständnis der Empfindung in Begriffen von zähl- und messbaren Einheiten übereinstimmt. Der Wirklichkeit kann keine Unveränderlichkeit aufgezwungen werden, die dann immer auch die Möglichkeit des Sprechens, oder zumindest die Verwendung einer symbolischen Sprache, beansprucht. Aus diesem Grund hat die empfindende Sprache ihre Sphäre im Vor-sprachlichen und ist dem animalischen Empfinden im Verhältnis des sich Einigen mit und sich Trennen von untergeordnet. Für Straus manifestiert sich diese ursprüngliche, gelebte Erfahrung des animalischen Lebens in Form von nicht-symbolischen Äußerungen des Selbst. Dieses Verhältnis zwischen dem Selbst und seiner Welt ist formgebend für ein symbiotisches Verstehen, dem ersten Stadium der sinnlichen Erfahrung, das wesentlich den Phänomenen der Ernährung und der Reproduktion entspricht. Allerdings ist dieses Verständnis, trotz der Abwesenheit der Universalität von Sprache, nicht allein die Eigenschaft der animalischen Erfahrung. Sie gehört, aber nur in einer bestimmten Art und Weise, auch zur menschlichen Erfahrung. Nämlich so, und zu diesem Schluss kommt Straus, dass es für das sprachliche Sein unmöglich ist, eine vollständige Erfahrung jener Schicht zu machen. Es bleiben uns nur Relikte, so Straus: »Das Paradies ist dem Menschen verschlossen, es gibt für ihn nur künstliche Paradiese. Wir erreichen die sprachlose Welt nicht vollständig und nur in einer Abkehr von der eigentlichen Menschenwelt.« (Ebd., 203) Diese Teilung in der Ordnung der prä-phänomenologischen Erfahrung eröffnet ein wechselseitiges Verständnis, das berühmte symbio229 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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tische Verständnis zwischen dem Menschen und dem Tier. So erklärt Erwin Straus, dass sobald ich nach meinem Hund pfeife, dieser den Ruf versteht, aber nicht so, dass er die Bedeutung eines Namens begreifen würde, sondern so, dass er auf die akustische Struktur und die tonale Organisation reagiert, die ihm als Signal dient. Die Stimme spielt also eine bedeutende Rolle. Diesbezüglich versteht Hegel die Stimme ebenfalls als eine fundamentale Modalität des eigenen Ausdrucks. Im Hinblick auf die menschlichen Stimme betont er, sie sei »die Hauptweise, wie der Mensch sein Inneres kund thut; was er ist, das legt er in seine Stimme« (Hegel GW 25.2, 997, Zus. § 401). In Bezug auf das Tier weist er an verschiedenen Stellen darauf hin, dass die Stimme die äußere Ausdrucksform par excellence des Tieres ist. In diesem Sinne ist die Stimme »ein hohes Vorrecht des Thiers, das wunderbar erscheinen kann, sie ist Äußerung der Empfindung, des Selbstgefühls. Daß das Tier in sich und für sich selbst ist, stellt es dar, und diese Darstellung ist die Stimme« (Hegel SW 9, 580, Zus. §351). Des Weiteren hat der Prozess des sich Einigens und sich Trennens ein offensichtlich dialektisches Wesen, selbst wenn Straus dies nicht auf diese Weise sagt. Warum? Dieses spezifische Phänomen des symbiotischen Verständnisses manifestiert sich in einer Einheit, die nicht auf eine rein abstrakte Identität reduziert werden kann. Ganz im Gegenteil, sie nimmt die Form einer immanenten Differenzierung in der Einheit an. Letztlich fern davon, eine Struktur der Opposition zwischen der ursprünglichen subjektiven Erfahrung und der Welt darzustellen, die jener gegenüber steht, schreibt Straus: »das Verschiedene muß in sich die Möglichkeit der Vereinigung besitzen; das Prinzip der Scheidung ist im Grund identisch mit dem Prinzip der Vereinigung« (Straus 1978, 208). Nichtsdestotrotz, so wie die rein sinnliche Erfahrung keine Form des Bewusstseins darstellt, ist auch das Empfinden nicht dem Ich denke unterworfen, wenngleich es dieses empirisch bedingt. Es existieren somit empirische Bedingungen des Ich denke, die Straus auf der Ebene des Empfindens erforscht. Straus findet hier die fundamental hegelianische These aus der Anthropologie wieder: Das Empfinden konstituiert eine Ebene der Komplexität, auf der das Bewusstsein noch nicht in der Lage ist, in diesem einheitlichen und dialektischen Phänomen der Empfindung den Gegensatz zwischen ihm, dem Bewusstsein, und der objektiven Welt zu beschreiben. Auch für Straus widerspricht der einheitliche Charakter der Empfindung – wobei dieser Charakter eigentlich den Prozess der Entwicklung jenes Widerspruchs zeigt – dem Phänomen einer zwi230 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Hegels Anthropologie des Empfindens
schen dem Ich und der Welt in den Sphären des Bewusstseins und der Erkenntnis vollzogenen Trennung: Darum müssen wir es auch verwerfen, zum Subjekt des Empfindens ein Bewußtsein zu machen, das Empfindungen als vereinzelte in sich hat, die vereinzelten durch einen Prozeß des Denkens vereinigt oder das Getrennte durch das Bindemittel der Gewohnheit (custom and habit) zusammenkittet und schließlich so das Vereinigte denkend aus sich heraussetzt (ebd.).
Was bleibt also von einer Psychologie, die auf ihren physiologischen Zugang reduziert ist und die die entscheidende Rolle der gelebten Erfahrung außer Acht lässt? Die Sinnesdaten erweisen sich als unfähig, jene Erfahrung verständlich zu machen, die das Empfinden charakterisiert, da jene den einheitlichen und spekulativen Charakterzug des Gelebten nicht berücksichtigen. Für Straus ist das Tier nicht einfach ein physiologischer Apparat, der mit dem luxuriösen Accessoire der gelebten Erfahrung ausgestattet ist. So schreibt der Neuropsychiater: Mit der Beseelung geschieht eine radikale Änderung: von nun an gibt es ein Verhältnis zur Welt. Das Tier, der Mensch ist in einem solchen Verhältnis; im Empfinden habe ich mehr als ein bloßes sinnliches Quale; im Empfinden habe ich mich, mich und das Andere, die Welt (ebd., 254).
Somit führt diese rein subjektive, vorsprachliche Struktur des Hier und Jetzt, eines Werdens, welches erlebt wird, das raum-zeitliche Verhältnis des wesentlich Gelebten ein, welches sich jeder objektiven Quantifizierung entzieht. Jedes Hier und Jetzt ist mein Hier und Jetzt, und nur im Inneren der Beziehung von Ich und Welt können alle Hier und Jetzt als spezifische Grenzen dieser Beziehung entstehen. Bei beiden Autoren ist die Untersuchung des Empfindens vom Standpunkt einer gelebten Erfahrung des lebendigen Seins her gedacht: Die Leiblichkeit bei Hegel und das symbiotische Verstehen bei Straus. Die Empfindung ist keine quantifizierbare, diskrete Einheit und das Empfinden darf nicht zum Gegenstand einer Beschreibung in Begriffen der Physiologie werden, sondern sollte im Gegenteil in den Begriffen einer Phänomenologie des nicht-intentional Erlebten beschrieben werden, um damit dann dem Prozesscharakter der unterscheidenden Einheit der Seele und ihrer Leiblichkeit gerecht zu werden, oder, um ein allzu dualistisches Vokabular zu vermeiden, der Seele als eigenem Leib. Aber dort, wo Hegel explizit den dialektischen Prozess der Herrschaft der Seele über ihre Leiblichkeit darstellt, welcher ein objektives Bewusstsein erwachsen lässt, liefert Straus Ele231 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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mente für eine Phänomenologie, in der sich der Mensch und das Tier als lebende und fühlende Lebewesen wiederfinden. In diesem Kontext nimmt ein Autor wie Merleau-Ponty eine vermittelnde Position ein, die das Prinzip einer methodologischen Vorsicht einbringt. Es ginge nicht allein darum, das Konzept der Sinnesdaten aus der Psychologie zu entfernen, sondern noch viel radikaler, sich loszumachen von jeder Psychologie – sei sie auch transzendental –, die auf Konzepten beruht, die eine Trennung zwischen dem Ich und der Welt voraussetzen. 12 Sowohl für Hegel wie auch für Straus beruht das Empfinden nicht auf einem Ich denke; und wenn dieses auftaucht, dann ist das Empfinden keine unvollkommene Form des Bewusstseins, 13 sondern eher eine empirische Bedingung der Möglichkeit der Entstehung des denkenden Ichs und somit nicht einfach ein unvollkommenes Erkenntnisvermögen des Ichs, da es schlichtweg in erster Linie keine Modalität dieses Ichs ist. Es ist dessen empirisch konstitutives Element. In diesem Rahmen sollte man noch die Möglichkeit erwähnen, dass über die Kritik, die Merleau-Ponty an Husserl übt, eine Brücke zwischen Hegel und Straus geschlagen werden kann. Merleau-Ponty, der der ursprünglichsten Erfahrung der erlebten Welt Rechnung tragen wollte, räumte ebenso ein, dass diese Erfahrung dem intentionalen Bewusstsein vorausgeht, wenn es darum geht, diesseits eines jeden Bewusstseinsaktes zurückzukehren: Husserls Analyse ist blockiert durch den Rahmen der Akte, die ihm die Philosophie des Bewusstseins aufdrängt. Die fungierende oder latente Intentionalität, die Intentionalität im Inneren des Seins ist, muß wiederaufgegriffen und weiterentwickelt werden […]. Nicht das Bewußtsein und sein Ablaufsphänomen mit seinen unterschiedlichen intentionalen Fäden darf am Anfang stehen, sondern der Wirbel, den dieses Ablaufsphänomen schematisiert. Der verräumlichende-zeitigende Wirbel (der Fleisch ist und nicht Bewußtsein mit einem Noema vor sich) (Merleau-Ponty 1964/1986, 308 f., fr. 293).
»Im Übrigen versagen wir uns in unserer Beschreibung auch Begriffe, die der Reflexion entstammen, sei es der psychologischen oder der transzendentalen: sehr oft sind sie nur Korrelate oder Gegenstücke zur objektiven Welt. Zu Beginn müssen wir auf Begriffe wie ›Bewusstseinsakte‹, ›Bewusstseinszustände‹, ›Materie‹, ›Form‹ und selbst ›Bild‹ und ›Wahrnehmung‹ verzichten« (Merleau-Ponty 1964/1986, 206, fr. 207). 13 Hegel schreibt: »Die Empfindung hat keine Criterien von dem rechten und Wahren in sich« (Hegel GW 25.2, 651). 12
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Hegels Anthropologie des Empfindens
Während Husserl den Horizont einer jeden Erfahrung an ein Vermögen des Ichs band, versuchte Merleau-Ponty die dynamische Struktur der Empfindungen hinter jedem intentionalen Akt offenzulegen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Bewusstsein bei Hegel und Straus eng mit dem Faktum der Sprache verbunden ist. Daher sind beide der Überzeugung, dass das Bewusstsein unmittelbar intentional und reflexiv ist. Jedes Bewusstsein, das die Schicht der Empfindungen hinter sich lässt, erweist sich als sprachlich. Umso mehr ist der Mensch aufgrund dieser Struktur aus dem Paradies des Empfindens verbannt: Eine Verbannung, die dennoch nicht zu irgendeiner Form der Nostalgie oder der Apologie eines verlorenen Zustands führen soll, der viel authentischer wäre. Für Hegel kündigt sich das Ende der Anthropologie mit dem Aufkommen des Bewusstseins in und durch die Sprache an. Das Ich entsteht nur dank einer unmittelbaren Bewegung des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins. Diese Vorstellung steht ohne Zweifel in Opposition zur Husserl’schen Phänomenologie. Man liest in § 84 der Ideen I: »Die Intentionalität ist es, die Bewußtsein im prägnanten Sinne charakterisiert, und die es rechtfertigt, zugleich den ganzen Erlebnisstrom als Bewußtseinsstrom und als Einheit eines Bewußtseins zu bezeichnen« (Husserl 1913/1950, 203, § 84). Im Gegensatz dazu bei Straus: »Alles Denken und Erkennen, ja schon alles Sprechen ist von Anfang an reflexiv« (Straus 1978, 331). Um einen Ausdruck des französischen Linguisten Émile Benveniste zu gebrauchen: »›Ego‹ ist derjenige, der ›ego‹ sagt« (Benveniste 1966/1977, 289, fr. 260). Es existiert nur dann ein Bewusstsein von einer mir äußerlichen Welt, wenn ich mich selbst von meiner eigenen Leiblichkeit abtrenne, wenn ich eine Bestimmung außerhalb von mir hergestellt habe, anders gesagt, wenn ich meinem Leib eine Bedeutung zusprechen und geben kann.
Literatur Benveniste, E. (1966/1977). Problèmes de linguistique générale – 1. Paris: Gallimard; dt. Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (übers. v. W. Bolle). München: Syndikat. Descartes, R. (1992/2009). Méditations métaphysiques (hrsg. v. M. et J.-M. Beyssade). Paris: GF Flammarion; dt. Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (hrsg. u. übers. v. C. Wohlers). Hamburg: Meiner.
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Remy Rizzo Descartes, R. (2010/2014). Les passions de l’âme (Hrsg. v. G. Rode-Lewis). Paris: Vrin; dt. Die Passionen der Seele (hrsg. u. übers. v. C. Wohlers). Hamburg: Meiner. Descartes, R. (2013/2015). Correspondance, 2. Œuvres complètes VIII (Hrsg. v. J.-M. Beyssade, D. Kambouchner). Paris: Gallimard; dt. Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz (hrsg. u. übers. v. von I. Wienand, O. Ribordy, B. Wirz). Hamburg: Meiner. Hegel, G. W. F. (1830/1992). Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in ders., Gesammelte Werke 20 (hrsg. v. W. Bonsiepen u. H.-C. Lucas). Hamburg: Meiner. [GW 20] Hegel, G. W. F. (1822–25/2008). Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes I. in ders., Gesammelte Werke 25,1 (hrsg. v. C. J. Bauer). Hamburg: Meiner. [GW 25.1], Hegel, G. W. F. (1827–28/2011). Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes II. in ders., Gesammelte Werke 25,2 (hrsg. v. C. J. Bauer). Hamburg: Meiner. [GW 25.2] Hegel, G. W. F. (1929). System der Philosophie. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie, in ders., Sämtliche Werke 9. Stuttgart: Frommann. [SW 9] Hegel, G. W. F. (1817/2006). Encyclopédie des sciences philosophiques, 3: Philosophie de l’esprit (übers. v. B. Bourgeois). Paris: Vrin. Husserl, E. (1913/1950). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana III/1, hrsg. v. W. Biemel). Den Haag: Nijhoff. Kant, I. (1998). Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner. Merleau-Ponty, M. (1964/1986). Le visible et l’invisible (hrsg. v. C. Lefort). Paris: Gallimard; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare (übers. v. R. Giuliani u. B. Waldenfels). München: Fink. Sartre, J.-P. (1990/1982). Une idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: l’intentionnalité, in ders., Situations philosophiques. Paris: Gallimard; dt. Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität. In ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939 (hrsg. v. B. Schuppener, übers. v. U. Aumüller, T. König, B. Schuppener), S. 33–38. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Seba, J.-R. (2006). Le partage de l’empirique et du transcendantal. Essai sur la normativité de la raison: Kant, Hegel, Husserl. Brüssel: Ousia. Straus, E. (1978). Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie (2. Aufl.). Berlin: Springer.
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Von Hunden und Menschen Zur anthropologischen Differenz bei Heidegger, Lévinas und Straus Mădălina Diaconu
»Von Hunden und Menschen« ist eine Abwandlung von John Steinbecks Romantitel Of Mice and Men, der seinerseits dem Gedicht To a Mouse des schottischen Romantikers Robert Burns zu verdanken ist (Burns 1974, 73 f.). Burns’ Elegie ist als die Rede eines Bauern an eine Maus komponiert, die er mit ihrem Nest versehentlich auf seinem Acker umgepflügt hat. In dieser Rede an das »kleine Ding, so furchtsam«, das vor dem Menschen flüchtet, versichert der Mensch dem Tier, es am Leben zu lassen, und zeigt sich »sehr betrübt« darüber, dass »man’s dominion / Has broken Nature’s social union«, d. h. über die Differenz zwischen Tier und Mensch. Diese Trennung des ursprünglichen, natürlichen Verbandes zeigt sich als Furcht und Misstrauen des Tieres gegenüber dem Menschen, obschon beide sterblich sind und die Maus ein »earth-born companion« des Menschen ist. Der sensible Romantiker rekonstruiert gewissermaßen einfühlsam die Überlegungen der Maus, die ein Nest gebaut hatte, um sich darin vor dem kommenden Winter zu schützen und zu wohnen (»dwell«). Die Handlung des Bauern hat die arme »tim’rous beastie« nun aus dem »kleinen Haus« »vertrieben« (»past / Out thro’ thy cell«), was den Dichter schließlich zu philosophischen Reflexionen über die anthropologische Differenz veranlasst. Beide – Tiere und Menschen – scheitern häufig in ihrer Zukunftsplanung aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse: »The best laid schemes o’ Mice an’ Men, / Gang aft agley«. Nichtsdestoweniger darf sich die Maus letztendlich glücklicher als der Mensch schätzen, denn sie kümmert sich allein um die Gegenwart, während der Mensch »auf trübe Tage« zurückschaut und die vage Angst um eine bedrohliche Zukunft kennt. Zwar leidet auch ein Tier wie ein Mensch, wenn es aus seinem Haus vertrieben wird, aber letztlich gilt die Tragik allein für die conditio humana. Burns’ Gedicht beschreibt eine typische Situation für das Verhältnis zwischen Tier und Mensch in den traditionellen Gesellschaften. Das Wohnen mit den Tieren hat sich im 20. Jahrhundert deutlich 235 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Mădălina Diaconu
verändert – durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, durch die Einschränkung des unmittelbaren Kontaktes mit wilden Tieren innerhalb eingezäunter zoologischer Gärten und Naturreservate und nicht zuletzt durch den rasanten Anstieg der Anzahl von Haustieren in den letzten Jahrzehnten. Hinzu kommen widersprüchliche historische Entwicklungen: Zwar wurde die Sklaverei abgeschafft und völkerrechtlich verboten, aber zugleich entstanden Formen politischer Unterdrückung etwa in Arbeitslagern, in denen Menschen wieder wie Tiere behandelt wurden, worauf später am Beispiel Lévinas’ zurückzukommen sein wird. Das Aufkommen der sogenannten »Tierphilosophie« als eigenständige Disziplin und die Diskussionen rund um die Zoophobie des rationalistischen modernen Humanismus haben die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier (sowie auch Maschine) erneut entfacht. Die theoretischen Stellungnahmen variieren derzeit zwischen einem militanten Antispeziesismus und der Ankündigung des Eintritts in ein posthumanistisches Zeitalter einerseits und dem Plädoyer für einen nicht-cartesianischen Humanismus (Ferry 1992) bzw. für einen »erweiterten«, von der Ethik bestimmten Humanismus (Ingensiep & Baranzke 2008) andererseits. In diesem Kontext scheint die Tierphilosophie ihr letztes Wort zum möglichen Beitrag der Phänomenologie noch nicht gesprochen zu haben: So ignoriert Markus Wild (2008) die Phänomenologie vermutlich aufgrund ihrer eindeutigen Zuordnung zu dem, was er als das »differentialistische Paradigma« in der Auslegung der anthropologischen Differenz bezeichnet und das eine radikale Differenz zwischen dem Wesen des Tiers und jenem des Menschen postuliert. Hans Werner Ingensiep und Heike Baranzke rechnen hingegen der Phänomenologie nahestehende Denker wie Jakob von Uexküll, Helmuth Plessner und Hans Jonas der Avantgarde der Tierphilosophie zu, die dem Tier Eigenschaften eines Subjektes zuschreibt (Ingensiep & Baranzke 2008, 30 ff.). Die Frage nach dem Menschenwesen in seinem Verhältnis zum Tier durchzieht die Geschichte der Phänomenologie von Husserl bis zu Derrida, der sich ausführlich mit den Positionen Heideggers und Lévinas’ auseinandersetzt. Als Leitfaden der folgenden Ausführungen dient die Frage nach dem Wohnen mit den Tieren bei Heidegger, Lévinas und Straus. Dabei handelt es sich um eine alltägliche (und somit typisch phänomenologische) Situation, aus der sich die anthropologische Differenz am besten erschließen lässt; und welches Tier meinen wir Menschen besser zu kennen als den (eigenen) Hund? 236 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
Von Hunden und Menschen
Heideggers Hund: Weltarmut und Mitgehen mit dem Menschen In seiner Wintervorlesung von 1929/30, Die Grundbegriffe der Metaphysik, argumentiert Heidegger (1983), dass die Phänomenologie das Wesen des Tiers allein privativ, im Ausgang vom Menschen bestimmen kann. Damit aber kehrt er sich von Beginn an gegen die metaphysische Definition des Menschen als animal rationale, gegen die er Folgendes einwendet: Erstens ist die Bedeutung der Vernunft unklar, zweitens gibt es keinen ausreichenden Beweis dafür, dass ausgerechnet der Logos den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier darstellt 1 und drittens hat die Frage nach der anthropologischen Differenz für Heidegger primär einen metaphysischen und keinen wissenschaftlichen Charakter, da das Wesen des Tieres ebenso wie jenes des Menschen nicht induktiv erfahren werden kann, was der philosophischen die Priorität vor der »positiven«, naturwissenschaftlichen Untersuchung dieses Themas gewährt. Trotz des Verdienstes Heideggers, sich in zeitgenössische biologische Theorien vertieft zu haben (vgl. Derrida 2010, 206), weist dieser die Relevanz anatomischer, physiologischer und ethologischer Kenntnisse für die Klärung der anthropologischen Differenz zurück und behauptet, dass diese Wissenschaften selbst mit einem impliziten Vorverständnis der »Tierheit des Tiers« (Heidegger 1983, 278) operieren, das es zuerst zu klären gilt, um überhaupt Individuen unter die Begriffe von »Tier« bzw. »Mensch« subsumieren zu können. Die Lebenswissenschaften selbst neigen entweder zu einer materialistischen Deutung der Tierheit oder verfälschen diese durch die Anthropomorphisierung des Tiers, wie in der »Tierpsychologie«. Leider bestand für Heidegger keine Bereitschaft für einen echten Dialog zwischen der Zoologie und Philosophie seiner Zeit aufgrund des engstirnigen Positivismus der Naturwissenschaftler, die unter »Verstocktheit« litten, sowie wegen der Arroganz (»Überklugkeit«) der Philosophen (ebd., 281). Nach wiederholten, vorsichtigen Warnungen, wie »unendlich schwer faßbar« die Beziehung des Tiers zu seiner Umwelt sei und
Dabei sollte diese Diskussion vermutlich mit einer Begriffsklärung beginnen, die auch zwischen Vernunft und Intelligenz unterscheidet; so tut es zum Beispiel Plessner, der die Intelligenz auch den Tieren zuschreibt, jedoch die Vernunft als Monopol des Menschen gelten lässt, vgl. Plessner (1946/1983, 56).
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Mădălina Diaconu
welches »große Maß von methodischer Vorsicht« dafür erforderlich sei (ebd., 292), entscheidet sich Heidegger methodisch für den phänomenologischen Zugriff auf die eigene Erfahrung, der sich im ersten Teil auch mit einem hermeneutischen Zirkel in Bezug auf die Definition der Welt überschneidet. Im Laufe der Argumentation wird die Welt zunehmend auf das Menschenwesen eingeschränkt, um schließlich zur bekannten begrifflichen Differenzierung zwischen der Welthaftigkeit des Menschen, der Weltarmut des Tiers und der Weltlosigkeit des Leblosen zu kommen, in der wohlgemerkt das Pflanzliche keinen Platz findet. So bezieht sich der natürliche Weltbegriff zunächst auf »die Summe des zugänglichen Seienden, sei es für das Tier oder für den Menschen, veränderlich nach Umfang und Tiefe der Durchdringung«, mit anderen Worten auf die Gesamtheit des Seienden (ebd., 405). Die Differenz zwischen Mensch und Tier scheint lediglich graduell zu sein (»veränderlich nach Umfang und Tiefe der Durchdringung«); dementsprechend dürften die Tiere auch ihre Welten haben, zumindest im Sinne des von Jakob von Uexküll eingeführten Begriffs der »Umwelt«. Und doch weist bereits die Umwelt auf eine qualitative Unterscheidung der Welten verschiedener Tierarten hin. Das ermöglicht Heidegger den zweiten Schritt, in dem er die Welt relational definiert und auf die »Zugänglichkeit von Seiendem« einschränkt (ebd., 292). Damit wird die Hypothese einer graduellen Differenz zwischen Mensch und Tier entkräftet, insofern sich beide durch ein qualitativ anderes Verhältnis zur Welt unterscheiden: nämlich als Beziehung zur Umgebung (das Tier) bzw. als ein »sich verhalten zu« der Welt im Falle des Menschen. Diese zweite Definition der Welt als Zugänglichkeit von Seiendem rechtfertigt allerdings noch nicht den begrifflichen Unterschied zwischen dem Verhalten des Menschen und der Beziehung des Tiers zu seiner Umwelt – und auch nicht, warum die Umwelt noch keine eigentliche Welt darstellt. Ein Nachhall der nietzscheanischen Definition des Menschen als »nicht festgestelltes Tier« ist jedenfalls spürbar in der Aussage Heideggers: »Das Tier ist in seiner Umwelt in der Dauer seines Lebens wie in einem Rohr, das sich nicht erweitert und verengt, eingesperrt« (ebd., 292). Der Anspruch, die philosophische Sprache radikal zu erneuern, erspart Heidegger die Präzisierung, ob er damit die animalische Triebhaftigkeit meint. Es lässt sich daher nur spekulieren, dass für Heidegger dem Tier von Beginn an eine Umwelt vorgegeben ist, deren Charakteristika artspezifisch und unveränderlich sind. Diese 238 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Umwelt ist nicht weniger »Welt« als jene des Menschen, allerdings erreicht sie nie die Diversität der Welten, die der Mensch – als Art, aber auch als Individuum – zu bilden und vervielfältigen vermag. Das relationale Verständnis der Welt eröffnet die Perspektive einer Art Angleichung des Tiers und des Menschen in Form der Unvergleichbarkeit: »jedes Tier und jede Tierart ist als solche gleich vollkommen wie die andere« (ebd., 287). Eine graduelle Rangordnung innerhalb des Tierreichs, die durch den Menschen gekrönt würde, ist in diesem Sinne unmöglich. Auch die Weltarmut des Tiers würde in dieser Hinsicht keineswegs auf einen Mangel des Tieres, das weniger als ein Mensch wäre, hinweisen, sondern einen andersartigen Bezug auf die Welt bedeuten, was schließlich die deskriptive Dimension der Phänomenologie verstärken würde. Daraufhin führt Heidegger allerdings durch die Hintertür wieder eine bewertende Perspektive ein, wenn er die Armut allgemein als ein »Entbehren« (ebd., 287), »Nichthaben im Habenkönnen« (ebd., 309) und als »das Fehlen und Ausbleiben von solchem, was vorhanden sein könnte und gemeinhin vorhanden sein sollte« (ebd., 288) deutet. Die Tierheit wird demnach von Heidegger schließlich doch nach dem Kriterium des Menschseins beurteilt. Anders der Stein, der nicht mit dem Imperativ der Weltbildung konfrontiert werden kann und dessen Nichthaben (von Welt), im Sinne von Weltlosigkeit, nicht durch den ambivalenten Zusatz »im Habenkönnen [Herv. d. Verf.]« ergänzt wird. Die Eidechse befindet sich auf dem Stein, anders als der Stein selbst auf dem Boden: Sie vermag den Stein zu berühren, zu spüren, auf ihm zu liegen oder diesen absichtsvoll zu verlassen. Der Zugang des Tiers zu seiner Welt besteht in Sensibilität und Mobilität und setzt Intentionalität voraus. Im Unterschied zu den Dingen, deren Räumlichkeit ein bloßes Nebeneinander ist, steht ein Lebewesen in Beziehung zu anderen Dingen im Raum. Hinter den sprachlichen Besonderheiten leben hier tradierte Merkmale der Tierheit in der Metaphysik und in der philosophischen Anthropologie wieder auf. In einem dritten Schritt wird die Welt noch restriktiver zur »Offenbarkeit des je faktisch offenbaren Seienden« (ebd., 405), eine Definition, die weitere stillschweigend vollzogene Sinnverschiebungen als »Zugänglichkeit des Seienden als solchen« und als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« (ebd., 412) erfährt. Der Weltbegriff nähert sich somit jenem aus Sein und Zeit (Heidegger 1927/2006), wo er auf den Menschen zugeschnitten war, und ver239 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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unmöglicht es letztlich, dem Tier eine Welt zuzuschreiben, insofern die Als-Struktur allein dem Menschen zukommt. Ein Tier kann aber nicht nur Dinge, sondern auch Lebewesen im Raum (bzw. innerhalb seines Lebensraums) wahrnehmen und sich mit ihnen zusammen bewegen, das heißt: sich auf diese beziehen. Und somit gelangen wir indirekt zum Phänomen des Wohnens. Zwar avanciert das Wohnen erst im Spätwerk Heideggers zu einem Grundbegriff, aber das bei der Besprechung der zweiten Definition der Welt eingeführte Beispiel des Hundes, der mit »uns« im Haus lebt, wirft gerade die Frage nach der Möglichkeit eines interspezifischen Wohnens auf. Anders als die Ethologie und der Gemeinsinn spricht Heidegger dem Tier ein Verhalten ab und wertet dieses als ein bloßes Sich-auf-etwas-Beziehen ab; und damit geht auch die weitere Herabsetzung des Wohnens des Tieres zum bloßen Leben einher (womit sich wiederum die Frage nach dem Unterschied zum Vegetieren der Pflanzen stellt). Für Heidegger wohnen die sogenannten »Haustiere« nicht mit den Menschen, denn sie existieren nicht mit uns, sondern »sie ›leben‹ mit uns« (ebd., 308). Die Haustiere gehören zwar zum Haus, wenngleich auch anders als das Dach oder andere Bestandteile und Räume, doch sind sie nicht zu einem Mitexistieren fähig. Die Beziehung des Hundes zum Menschen besteht für Heidegger im Mitgehen, anders gesagt im Begleiten: Der Hund »geht […] mit uns die Treppe hinauf« (ebd., 308). Die bereits der Eidechse zugesprochene Mobilität wird hier wieder aufgenommen, die Empfindlichkeit allerdings erstaunlicherweise vergessen: »Der Hund liegt unter dem Tisch, er springt die Treppe herauf« oder »frißt mit uns«, gleichsam ohne uns wahrzunehmen und vor allem ohne uns anzublicken. Wir selbst begnügen uns für Heidegger damit, »daß wir die Tiere in unserer Welt sich bewegen lassen« (ebd., 308), wobei »unsere Welt« explizit ausschließlich die Welt der Menschen und nicht die gemeinsame Welt der Menschen und der Tiere ist. Eine solche Welt, könnte man sagen, unterscheidet sich von einer Auffassung wie etwa jener Montaignes, in der sich der Mensch und seine Katze die gemeinsame Welt des Spiels als gleichrangige Partner teilen: Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir? Die närrischen Spiele, mit denen wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebensooft wie ich bestimmt sie, wann es losgehn oder aufhörn soll (Montaigne 2002, 187).
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Für Montaigne bestand kein Zweifel daran, dass die Katze die Spielregeln und das Spiel als Spiel verstünde. Bei Heidegger ist die Relation so asymmetrisch wie gerade jene zwischen einem Hund und seinem Herrchen sein kann: Aus der Perspektive des Menschen zeigt sie sich als Mitsein und als empathische Versetztheit ins Tier; aus der Perspektive des Tiers (die, phänomenologisch betrachtet, grundsätzlich bloß wahrscheinlich ist) besteht sie allein aus einem Mitgehen im physischen Sinne. Das Haustier gehört zum Haus, zwar nicht wie einer seiner leblosen Bestandteile, jedoch auch ohne es zu bewohnen und ohne sich zu seinen menschlichen Mitbewohnern als seinen compagnons zu verhalten: Der Hund frisst mit uns (vielleicht sogar dasselbe Brot), aber wir essen mit ihm (Heidegger 1983, 308). 2 Von einer sprachlichen Spitzfindigkeit Heideggers zeugt auch seine Deutung des Mitgehens, das sowohl die Mobilität (des Tiers und des Menschen) als auch das Einfühlungsvermögen (allein des Menschen) bezeichnet. In diesem asymmetrischen Verhältnis gewährt Heidegger dem Tier als höchste »Initiative« das Zulassen, wie in der Frage: »Was ist es am Tier, was diese Versetztheit des Menschen in es zuläßt und fordert [Herv. d. Verf.] und was gleichwohl doch wieder dem Menschen ein Mitgehen mit dem Tier versagt?« Letztlich bedeuten das »Gewährenkönnen einer Versetztheit und das Versagenmüssen eines Mitgehens seitens des Tiers« (ebd., 308) nichts anderes als das Haben und Nichthaben von Welt bzw. die Weltarmut als das Wesen des Tieres. Fassen wir zusammen: Der Mensch kann sich in den Hund versetzen (ob und inwieweit ihm dies auch gegenüber »niederen« Arten wie der Eidechse gelingt, erfahren wir nicht); der Hund kann aber wiederum keine Einfühlung in den Menschen entwickeln, sondern diese allein »zulassen und fordern«, und zwar auf eine unklare oder jedenfalls ungeklärte Art und Weise angesichts dessen, dass Heidegger nicht bei den Gemeinsamkeiten zwischen Tier und Mensch verweilt. Ebenso merkwürdig wirken die Übersetzung der Empathie für das Tier in Bilder physischer Bewegung und ihre Abkoppelung von Emotionen wenn etwa Heidegger fragt: »Wohin [statt ›in wen‹] sind wir bei der Versetztheit in das Tier versetzt? Womit [statt ›mit wem‹] In diesem Kontext wäre es interessant, auch der Sprache Aufmerksamkeit zu schenken: Die »Haustiere« heißen auf Französisch animaux de compagnie, wobei die compagnons etymologisch gerade die »Personen sind, die das Brot teilen«; diese Gemeinschaft tritt bei Heidegger zugunsten einer anderen Art des Zugangs zurück.
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gehen wir mit, und was heißt dieses ›Mit‹ ? Was ist es für eine Art des Gehens?« (Ebd., 308) Die Einfühlung in die Wesensart des Tieres – und das heißt im Kontext der Heidegger’schen Analyse: in den Zugang des Tieres zu seiner Umwelt – wird somit zu einem »Mitgang mit dem Zugang und Umgang des Tieres in seiner Welt« (ebd., 299). Es geht Heidegger letztlich nicht um eine Interaktion mit dem Tier, wie beim gemeinsamen Spiel Montaignes mit seiner Katze, sondern um den »Blick auf die Tierheit selbst« (ebd., 288), der allein dem Menschen zugesprochen wird (Tiere haben Augen und sehen, wie in der Analyse der Phototropismus der Bienen, aber nicht einmal der Hund blickt uns an). Der Mensch sieht sich somit von vornherein in einer Position der Überlegenheit: Die Einfühlung dient dem Menschen als Erkenntnis, um zu »erfahren, wie es mit ihm [dem Tier] steht«, und dem Tier, um »ihm zu ihm selbst [zu] verhelfen« (ebd., 297), vermutlich um sich fürsorglich dem Tier gegenüber zu verhalten, auch wenn sich daraus nur indirekt ein ethischer Bezug ableiten lässt. Die Einfühlung des Menschen selbst wird zunächst behauptet und daraufhin zurückgenommen: »Ein Mitgehen, eine Versetztheit – und doch nicht« (ebd.). Das Sichversetzen in ein Tier ist zwar grundsätzlich möglich, doch faktisch begrenzt. Etwaige Erwartungen konkreter Beispiele werden hier enttäuscht: Wenn Heidegger behauptet, dass der Mensch »auch schon in gewisser Weise in das Tier versetzt ist« (ebd., 309), so verlässt die Erörterung nicht die Ebene allgemeiner Aussagen. Trotz ihrer Subtilität und dem vermeintlichen Bezug auf die Alltagserfahrung vermag die Heidegger’sche Analyse keiner konkreten Überprüfung standzuhalten. Am Ende dieses Versuchs, die Tierheit als Weltarmut und die Einfühlung als Mitgehen zu deuten, gesteht Heidegger seine Ratlosigkeit ein und ebenso befällt den Leser selbst eine Ratlosigkeit angesichts des von Heidegger gezeigten Missverständnisses oder vielleicht Mangels an Sensibilität für einen Hund. Im Grunde genommen ist diese Untersuchung ein gutes Beispiel dafür, dass (manche) Menschen weniger empathisch als (die meisten) Hunde sein können und unterminiert somit von innen heraus die Heidegger’sche These vom asymmetrischen Verhältnis zwischen Mensch und Hund. Darüber hinaus hob die Ethologie die Existenz von Vorstufen von Sozialgefühlen in der Tierwelt hervor. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs »Versetzen« eröffnet zwar eine Bandbreite möglicher Auslegungen, in dem Sinne, dass sich der Mensch in das Tier einfühlen bzw. sich hineindenken kann, die Tierheit 242 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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gleichsam auf eine andere Ebene »verschiebt« oder »verlegt«, im Tier eine Art »Entgegnung« findet usw., aber er bringt keine Klarheit in dieser Frage. Die explizite Ratlosigkeit Heideggers veranlasst ihn, das Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, und zwar im Ausgang von der Unterscheidung zwischen (dem lebendigen) Organ und (dem leblosen, fertiggestellten) Zeug wie auch vom Begriff des Triebes. Die bereits angeführte Bestimmung der Tierheit als Nichthaben von Welt wird positiv durch das Haben der Offenheit des Enthemmenden ergänzt, womit im Grunde genommen der Zusammenhang von Empfindung und Bewegung gemeint ist. Die tierische »Enthemmung« als Reaktion auf äußere Stimuli zeigt in gewisser Weise Offenheit, allerdings innerhalb eines Rings, aus dem das Tier – anders als der Mensch – nicht auszubrechen vermag. Letztlich betont Heidegger nach einer beeindruckenden Reihe von Umformulierungen biologischer Begriffe die (qualitativen) Unterschiede zwischen Mensch und Tier, wie etwa zwischen dem Selbstbewusstsein des menschlichen Ich und dem Sich-zu-eigen-sein des Tieres, das noch keine (menschliche) Selbstheit ist; zwischen dem Tun und Handeln des Menschen als Sichverhalten zu und dem Treiben des Tieres als Sichbenehmen in einer Umgebung; zwischen der menschlichen Reflexion als feststellendem Sichrichten nach objektiven Dingen einerseits und der Benommenheit bzw. Hingenommenheit des Tieres andererseits; zwischen der Erschlossenheit bzw. Offenbarkeit von Seiendem im Falle des Menschen und der Bezogenheit des Tiers auf das Andere gewissermaßen als Offenheit (ebd., 368); zwischen dem eigentlichen Bei-sich-sein des Menschen und dem von Heidegger unter Anführungszeichen gesetzten »Bei-sich-sein« des Tieres usw. Der Mensch vermag Abstand zu den Dingen zu nehmen, das Tier hingegen wird von den anderen hingenommen und ihnen zugetrieben, und somit heißt das tierische Leben Umtreiben und Umgetriebensein. Das Tier reagiert nur auf das, was es angeht, kann aber nicht etwas als etwas betrachten. Der Mensch verfügt über Selbstbewusstsein und kann sich zu einer Persönlichkeit entwickeln, der tierische Organismus bewahrt seine spezifische Einheit und kann sich – anders als ein mechanisches Zeug – regenerieren; auch zeigt es ein Sich-zu-eigensein (so sind seine Organe »seine eigenen«), doch bildet es noch keine Selbstheit. Die Reaktion des Tieres auf das ihm Zustoßende besteht meistens in dessen Beseitigung (womit zwar die Bekämpfung des Feindes und die Ernährung, wohl aber nicht die Sexualität erklärt 243 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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wird); die Erschlossenheit des Menschen zeigt sich vielmehr auch als Sicheinlassen auf das Andere (als solches) und allen voran als Seinlassen des Seienden (als solchen). Nicht zuletzt in Bezug auf Zeit und Zeitlichkeit geht die Bewegtheit des Tieres, als Geschehen in der Zeit, über die mechanische Bewegung, als Vorgang des Zeugs, hinaus. Auch sind die animalischen Organe – im Unterschied zu den Werkzeugen, die hergestellt und zerstört werden – an eine Lebensdauer gebunden, die nie auf die objektive Zeit zurückgeführt werden kann. Und dennoch erreicht das Leben des Tieres nie das Sein zum Tode des Menschen, sondern ist allein ein Zum-Tode-kommen, und das Tier kann laut Heidegger nie sterben wie der Mensch, sondern bloß verenden. Es würde aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, auf alle diese Unterschiede im Detail einzugehen. Manchmal verwendet Heidegger dieselben Begriffe für das Tier und den Menschen, aber er setzt sie im Falle des Tieres unter Anführungszeichen, als ob das Tier ein Para-Mensch oder ein QuasiMensch wäre, eine unvollkommene Nachbildung oder Erwiderung des Menschen – schließlich ist der Mensch »auch schon in gewisser Weise in das Tier versetzt« (ebd., 309). Andere Male betrachtet er die Frage, ob das Tier der Als-Struktur fähig ist und etwas als etwas vernehmen kann oder nicht, als entscheidend: »Wenn nicht, dann ist das Tier durch einen Abgrund vom Menschen getrennt« (ebd., 384). Und das ist dann auch Heideggers letzte Antwort: Die radikale Differenz zwischen Mensch und Tier beruht auf einem kognitiven Mangel des Tieres und ist gekoppelt an die Verwendung von Sprache – und all das, nachdem Heidegger am Beginn seiner Analyse zurückgewiesen hatte, dass sich das Tier vom Menschen wesentlich durch den Logos unterscheidet! Die fehlende Als-Struktur gilt schließlich als ausschlaggebend, auch um dem Tier den Weltbegriff abzusprechen: Ohne Als-Struktur besteht keine Welt und ohne Welt lassen sich auch die »Innenwelt« und die »Umwelt« des Tieres nicht mehr als »Welten« bezeichnen. Die »Umwelt« wird daher im Weiteren zu »Umring« umformuliert. Um zum Hund zurückzukehren, der nach Heidegger mit dem Menschen lebt, aber nicht mit ihm wohnen kann, weil er nicht existiert, lassen sich in diesen späteren Ausführungen doch mindestens zwei Stellen identifizieren, die – vielleicht gegen Heidegger selbst – die Möglichkeit eröffnen, auch dem Tier ein »Wohnen« im weiten Sinne des Wortes zuzuschreiben: »Jedes Tier und jede Tierart erringt sich in eigener Weise den Umring, mit dem es einen Bezirk umringt 244 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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und sich einpaßt«, heißt es bei Heidegger (ebd., 401). Ebenso bedeutet das Sich-Einringen des Tiers »keine Einkapselung, sondern gerade ein öffnendes Ziehen eines Umrings, innerhalb dessen dieses oder jenes Enthemmende enthemmen kann« (ebd., 370). Diese Eroberung eines »Umrings«, innerhalb dessen das Tier auf das ihm Begegnende reagiert, und die Gestaltung des Territoriums gemäß den eigenen Bedürfnissen stellen unverkennbar Merkmale des Wohnens dar. Heideggers »differentialistische« Position, mit dem Ausdruck von Markus Wild, war jedenfalls gängig in der philosophischen Anthropologie jener Zeit, in der Max Scheler (1995) und Helmuth Plessner letztlich ähnlich wie Heidegger argumentiert haben. Von Interesse wäre insbesondere ein Vergleich mit einem Aufsatz Plessners aus dem Jahr 1946 (die Überarbeitung eines früheren Aufsatzes von 1938) in Bezug auf das Verhältnis des Menschen bzw. des Tiers zum Raum. Auch für Plessner genießt der Mensch eine höhere Freiheit von der physischen Umwelt durch die von ihm gebildeten Welten, zu denen er reflexiv und gestalterisch Abstand nehmen kann, während das Tier gewissermaßen geschlossen in seiner Umwelt zu sein scheint. Zu diesen künstlichen Welten gehören auch die Wohnstätte und das Vaterland, die der Mensch »schafft«, weil er, anders als das Tier, nicht fest an einen Boden gebunden ist (Plessner 1946/1983, 63). Der Mensch vermag physische Umwelten zu durchbrechen, sich von der Abhängigkeit von Klima und Milieu zu »emanzipieren« und wieder anderswo Wurzeln zu schlagen. 1946 schrieb Plessner: Gerade diese Wurzellosigkeit, dieses sich überall von neuem Verwandeln und seine Wurzeln, wenn er sie einmal geschlagen hat, stets wieder ausreißen können, ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Man hat uns lange genug vorspiegeln wollen, das Höchste, was der Mensch erstreben und bewahren müsse, sei das Festgegründetsein in einer bestimmten heimatlichen Landschaft, in Blut und Boden (Plessner 1946/1983, 63).
Der Mensch ist für Plessner vielmehr gleichsam »der Emigrant der Natur, der keine Heimat von Natur hat«, sondern nur insofern er sie sich aneignet und sich mit ihr identifiziert (ebd., 64). Aus dieser Perspektive steht nicht das Wohnen des Menschen im Vordergrund, sondern gerade die Möglichkeit, weiterzuziehen und dennoch selbst zu bleiben; und dieses »eigentümliche Nichtfestsitzen des Menschen« (ebd.) wird explizit mit dem Geist und mit der Freiheit als Weltbildung bzw. Abstandnehmen zur Umwelt assoziiert. Die von Plessner behauptete grundsätzliche Mobilität des Menschen bedeutet aller245 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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dings nicht, dass der Mensch unter allen Bedingungen an jedem Ort Wurzeln schlagen kann, ebenso wie die wesentliche Gebundenheit des Tieres an eine physische Umgebung dieses nicht daran hindern kann, sich anderswohin zu begeben. Und das führt uns zu Lévinas’ Hund in einer prekären Situation in einer unsäglichen Zeit, auf die auch Plessner anspielte.
Lévinas’ Hund: die fragwürdige Menschlichkeit der Tiere Die von Plessner angedeuteten politischen Implikationen einer philosophischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier gewinnen ihre volle Aktualität in einem kurzen Text von Emmanuel Lévinas, Nom d’un chien ou le droit naturel, der zunächst 1975 in der Anthologie Celui qui ne peut se servir de mots veröffentlicht und daraufhin in seinem Band Difficile liberté (1976) wieder aufgenommen wurde. Das allgemeine Schweigen Lévinas’ über die Tierfrage könne nur erstaunen angesichts der Heiligkeit des Lebens in der jüdischen Tradition, so Elisabeth de Fontenay, wenn man nicht die starke Rezeption der europäischen Philosophie durch Lévinas in Betracht zöge, die dem Tier aufgrund seiner Sprachlosigkeit den Status eines Subjektes abspricht (vgl. Derrida 2010, 157). Umso bemerkenswerter ist Lévinas’ Essay über den Hund. Dabei geht es ihm nicht um einen metaphorischen Hund wie in den Ausdrücken »métier de chien« oder »temps de chien«, sondern um einen wirklichen Hund eigener Lebenserfahrung. Und dennoch beginnt er mit zwei mythischen Beispielen: Zunächst kommentiert Lévinas zwei Passagen aus dem Exodus zu den Hunden. Die erste bezieht sich auf das an die »heiligen Männer« ergangene Verbot Jahwes, von einem Tier, das auf dem Feld gerissen wurde, zu essen (Ex 22, 30); dieses Fleisch sollen sie den Hunden vorwerfen. Der Hund hat somit das »Naturrecht« von dem Fleisch zu fressen, das für die Menschen als unrein gilt. Die zweite Episode aus dem Buch Exodus handelt von der Reaktion der Hunde auf die Israeliten, die Ägypten verlassen: »Doch gegen keinen der Israeliten wird auch nur ein Hund die Zähne fletschen, weder gegen Mensch noch Vieh; denn ihr sollt wissen, daß Jahwe zwischen Ägypten und Israel einen Unterschied macht« (Ex 11, 7). Diese ad litteram stillschweigende Unterstützung der Hunde bei der Flucht der Israeliten aus Ägypten bringt Lévinas in Verlegenheit: Die Hunde kennen weder Logos noch Moral und den246 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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noch kündet ihr Verhalten von Respekt für die Würde der Menschen, die auf Gottes Befehl hören – und diese Geste ist es, die folglich die Hunde zu Menschenfreunden macht. Die Bedeutung und die Überraschung dieser Episode lassen Lévinas ausrufen: »Une transcendance dans l’animal!« (Lévinas 1976, 201) Bereits in dieser Situation erscheinen die Hunde aber auch als jene, die Ägypten »bewohnen« und an diesem Ort bleiben, während sich die Israeliten erst in das Land der Verheißungen begeben müssen und als Menschen neue Wurzeln schlagen können. Das Wohnen von Tieren bzw. der Menschen mit Tieren wird dann explizit in Lévinas’ Erinnerung an seine Gefangenschaft in Deutschland. Die Einheimischen, die in der Nähe des Arbeitslagers als sogenannte »freie Menschen« wohnten, betrachteten die Insassen als eine »quasi-humanité, une bande de singes« (ebd., 201). Ausgeschlossen aus der Welt sind die Häftlinge »enfermés dans leur espèce; malgré tout leur vocabulaire, êtres sans langage« (ebd.). Der Vergleich der Gefangenen mit Tieren entspricht ihrer entwürdigenden und entmenschlichenden Behandlung. Unter diesen Umständen kommt die Bestätigung ihres Menschseins ausgerechnet von einem herumstreunenden Hund, der in einem zurückgezogenen Eck (sauvage) des Lagers überlebte (vivotait) und der für ein paar Wochen, bevor ihn die Wächter vertrieben, regelmäßig die Häftlinge bei ihrer Rückkehr von der Arbeit »sautillant et aboyant gaiement« empfing (ebd.). Bobby, wie ihn die Gefangenen riefen, war ein »dernier kantien de l’Allemagne nazie, n’ayant pas le cerveau qu’il faut pour universaliser les maximes de ses pulsions«, ein Nachfahre der ägyptischen Hunde (ebd., 202). Die Hierarchie zwischen Mensch und Tier wird gleichsam umgekehrt, indem sich ein Hund menschlicher gegenüber Menschen verhält als manche sogenannte »Menschen« ihren eigenen Artgenossen gegenüber; die Biologie kollidiert hier mit der Ethik. Welche aber der drei genannten Gruppen »wohnt« hier im eigentlichen Sinne des Wortes? Sind es die Wächter und die Bewohner der Region, die frei sind, aber im Zeichen der blinden Gewalt leben? Sind es die Gefangenen, die als unfreie Sklaven behandelt werden? Oder vielleicht Bobby, ein Hund ohne feste Wohnstätte, der sich frei entscheidet, den Ort mit den »Bewohnern« des Lagers zu teilen, der durch »Rituale« eine emotionale Beziehung zu diesen entwickelt und der letztlich durch die Vertreibung aus dem Lager das zurückgewinnt, was aus der Perspektive der Gefangenen die Freiheit bedeutet? Und 247 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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um auf die Situation der Israeliten aus dem Buch Exodus zurückzukommen: Entsprechen sie den zur Arbeit verdammten Gefangenen, die das Lager nicht verlassen dürfen, oder nicht vielmehr dem streunenden Hund, den Lévinas ausgerechnet als »chien errant« bezeichnet, was Peter Atterton an den »wandernden Juden« (fr. »Juif errant«) erinnert (Atterton 2004, 55)? Im Grunde genommen »wohnt« keine dieser Kategorien im vollen Wortsinne und keine ist wirklich frei: Die Unterdrücker sind nur dem Anschein nach frei, aber im Grunde sind sie Verbrecher gegen den Kant’schen kategorischen Imperativ; Bobby übernimmt zwar die Initiative der Kommunikation mit den Menschen und wählt sich die Gefangenen als seine Freunde 3 , aber er ist trotzdem ohne festes Domizil und ohne ein Herrchen; schließlich wurden die Gefangenen ihrer Freiheit beraubt und können weder die Entscheidungen der Wächter, noch (nicht einmal) Bobbys Schicksal beeinflussen. Was die Kommunikation zwischen diesen drei Kategorien anbelangt, so drücken sich die »freien« Menschen meistens durch Befehle und Verbote, selten durch ein Lächeln oder einen wohlwollenden Blick aus, und falls doch, dann auch nur Frauen und Kinder, die in der traditionellen europäischen Anthropologie nicht als Menschen im vollen Sinne des Wortes galten. Der Hund drückt sich auf seine Art und Weise, non-verbal, aus, indem er die Gefangenen beim Morgenappell begleitet und ihnen fröhlich bellend bei ihrer Rückkehr von der Arbeit entgegenkommt. Schließlich sind es die Gefangenen, die trotz der widrigen Umstände ihre Humanität am komplexesten äußern, indem sie Briefe schreiben und lesen, ihre Gefühle zeigen und nach »ihrem« Hund rufen. Während es den »freien Menschen« an wahrhaftem Wohnen mangelt, praktizieren die Gefangenen das Wohnen gezwungenermaßen in Form des Mangels. Die Paradoxien häufen sich. Bobbys »foi d’animal« (ebd.) macht ihn zu einem Rebellen, der die menschliche Ordnung missachtet, solange diese (wie im Buch Exodus) der göttlichen Ordnung widerspricht. In dieser Episode, in der ausgerechnet die Wächterhunde fehlen, erscheint der Hund nicht mehr unterwürfig, wie so häufig in Märchen und Sprüchen, sondern vielmehr als eine Art Held, der seine menschlichen Freunde frei wählt. Es entspringt seiner eigenen Initiative, mit den Menschen den Ort ihrer Gefangenschaft zu teilen, Lévinas nennt ihn »chien chéri« und sogar »ami« und bedauert, dass er im Lager »pour quelques courtes semaines« bleiben konnte (Lévinas 1976, 202).
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und es ist die Entscheidung der sogenannten »Menschen«, den Hund zu vertreiben, weil er die Berechtigung einer unterdrückenden und ausbeuterischen Herrschaftsordnung in Frage gestellt hat und durch sein »humanitäres« Verhalten zeitweilig die wahre Ordnung wiederhergestellt hat: »Pour lui – c’était incontestable – nous fûmes des hommes« (ebd.). Reicht aber diese Episode aus, um dem Tier den Status eines moralischen Subjekts zu verleihen? Wie ist es letztlich mit der Transzendenz des Tieres bestellt? In einem Interview aus dem Jahr 1986 beantwortet Lévinas die Frage, ob auch der Hund ein Antlitz (visage) hat, ambivalent: One cannot entirely refuse the face of an animal. It is via the face that one understands, for example, a dog. […] We understand the animal, the face of an animal, in accordance with Dasein. The phenomenon of the face is not in its purest form in the dog (Lévinas 2004, 49).
Von den Interviewern gezwungen seine Position näher zu klären, verfängt sich Lévinas in weiteren Schwierigkeiten: »I cannot say at what moment you have the right to be called ›face‹. […] I don’t know if a snake has a face. I can’t answer that question. A more specific analysis is needed. In any case, there is here the possibility of a specific phenomenological analysis« (ebd.)
– wohlgemerkt, eine Untersuchung, die er niemals unternommen hat, so dass Nom d’un chien ein hapaxlegomenon, eine Ausnahme, in seinem Werk darstellt (vgl. Derrida 2010, 168). Was die anthropologische Differenz anbelangt, so wird sie in Nom d’un chien einerseits relativiert, insofern sich die Menschen entweder bestialisch verhalten oder aber ein Hundeleben führen, während die Hunde selbst zu einem quasi-moralischen Benehmen fähig sind. Andererseits besteht sowohl die von den ägyptischen Hunden im Buch Exodus als auch die von Bobby wiederhergestellte Ordnung paradoxerweise gerade in einer unüberbrückbaren Differenz zwischen Mensch und Tier. Aus solchen Paradoxien lässt sich folglich nicht eine Angleichung von Mensch und Tier im Sinne des Naturalismus schließen, sondern das Verhalten des Hundes beweist à rebours, dass die Menschen auch dann Menschen bleiben, wenn sie als bloße Tiere handeln oder als solche behandelt werden, so Lévinas in einem Interview:
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Mădălina Diaconu
The widespread thesis that the ethical is biological amounts to saying that, ultimately the human is only the last stage of the evolution of the animal. I would say, on the contrary, that in relation to the animal, the human is a new phenomenon. […] the human breaks with pure being, which is always a persistence in being. This is my principal thesis. A being is something that is attached to being, to its own being. That is Darwin’s idea (Lévinas 2004, 50).
Mit anderen Worten unterscheidet sich der Mensch vom Rest des Tierreichs, indem er mittels Moralität und durch die »Diakonie« über den Kampf ums Überleben hinausgehen kann, d. h. indem er sich in den Dienst der anderen stellt. Woran letztlich Lévinas interessiert ist, sind weder die Tierrechte noch das Leiden der Tiere und die daraus folgende Rechtfertigung des Veganismus. Diesbezüglich behauptet Lévinas relativ plump, dass der Veganismus das Ergebnis einer Übertragung der Idee von Leid auf die Tiere sei, anders gesagt, dass Tiere nur deswegen ein Antlitz haben könnten, weil der Mensch ein moralisches Wesen ist, das das Leid kennt – und nicht umgekehrt, dass der Mensch erkennt, wenn das Tier leidet, gerade weil er selbst ein Tier ist, wie es ihm Atterton vorwirft (Atterton 2004, 59). Und auch Derrida zeigt sich skeptisch, was die Möglichkeit der Begründung einer Tierethik im Ausgang von Lévinas betrifft. Sogar auch in Nom d’un chien sucht Lévinas allein das menschliche Antlitz, das der Hund auch dann sehen kann, wenn der andere Mensch blind für dessen Ausdruck und Appell bleibt. Sowohl Atterton als auch Derrida sind davon überzeugt, dass Lévinas nicht den Rahmen einer antinaturalistischen Moral verlässt. Lévinas behält Merkmale des Humanismus in der Auffassung der anthropologischen Differenz und bleibt letztlich entweder in der jüdisch-christlichen Tradition (ebd., 58) oder in der cartesianischen Tradition der Tierphilosophie verankert (Derrida 2010, 157 ff.). Nach Derrida spricht Lévinas dem Tier die Fähigkeit ab, dem Menschen eine Antwort zu geben, und dadurch ebenso seine moralische Verantwortlichkeit; Lévinas aber entzieht sich ja selbst einer Beantwortung der insistierenden Fragen der Interviewer. Eine mögliche Entgegnung Lévinas’ läge jedenfalls auf der Hand: Die prinzipielle Unmöglichkeit des Tieres, eine Antwort zu geben, unterscheidet sich wesentlich vom Verschweigen oder Umgehen einer Antwort durch den Menschen.
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Pawlows Hund und Straus’ Hund: objektive Psychologie und ästhesiologische Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat in unheilvollen Zeiten auf schmerzliche Art und Weise gezeigt, dass Menschen nicht nur mit Tieren, sondern ebenso mit ihren Mitmenschen unter dem Vorwand der Wissenschaft experimentieren können. Doch auch die Tierforschung hat, trotz gewisser Selbstbeschränkungen dank der Tierrechtsbewegung, noch immer nicht auf Versuchstiere verzichtet. Und immer noch stellt sich die Frage, ob ein Hund in einem Labor, unter normalen Bedingungen, wie bei Heidegger, oder in einem Ausnahmezustand, wie bei Lévinas, lebt. Und wohnen die Versuchstiere überhaupt in einem Labor, in einer Zuchtstation oder in den Stätten industrieller Tierhaltung? Die Antwort auf das »Wohnen« in der Massentierhaltung steht uns noch bevor, das Leben eines Hundes in einem Labor beschäftigte allerdings bereits Erwin Straus. In seiner erstmals 1935 veröffentlichten Abhandlung Vom Sinn der Sinne (eine revidierte Fassung erschien 1956) weist er die objektive Wahrnehmungspsychologie, unter anderem am Beispiel Pawlows, zurück und unterscheidet zwischen der Tieren und Menschen gemeinsamen Empfindlichkeit und der spezifisch menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. »Die Welt des Empfindens – in ihr begegnen wir uns mit den Tieren. Sie ist die Mensch und Tier gemeinsame Welt. In ihr verstehen wir das Tier und, was noch viel bedeutsamer ist, verstehen die Tiere uns«, so Straus (1956, 200). In diesem Sinne ist es durchaus verständlich, warum sich ästhesiologische Beispiele aus der Menschenwelt und aus den Tierwelten in Vom Sinn der Sinne beständig abwechseln. Dabei handelt es sich in seinem Buch, wie im Übrigen auch bei Derrida, um eine ganze Menagerie von Haustieren, Hofund Wildtieren: Kaninchen und Rehe, Schnecken und Schmetterlinge, Hühner, Hunde und Ratten, Löwen im Zoo und Maultiere, im Käfig gehaltene Vögel, Zugvögel, Singvögel und sogar Elefanten teilen sich die Welt mit den Menschen. Die Diversität der Situationen, in denen diese dargestellt werden, beweist Straus’ Beobachtungsgabe und nicht zuletzt seine Sensibilität für Tiere, die er nicht bloß aus Büchern kennt (wie das bei Heidegger der Fall zu sein scheint) oder aufgrund einer einmaligen Begegnung in einer für den Menschen außerordentlichen Situation (wie Lévinas). Sein scharfer Blick richtet sich vielmehr auf Tiere im Alltag: Käfigtiere werden gefüttert oder 251 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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aber geneckt, Störche »reisen« weit weg, Schwalben bauen ihre Nester, Hühner scharren am Boden, Vögel singen und Esel besteigen Bergpfade. Nicht selten handeln seine Beispiele von Hunden: »Ein junger Hund spielt lustig auf der Straße« und flüchtet augenblicklich vor einem Auto (ebd., 272 f.), ein anderer wird zum Graben verlockt (ebd., 258 f.), ein dritter kommt auf Ruf seines Herrchens herbei (ebd., 200). Solche Situationen werden in ihrer Bandbreite und ihrem Detailreichtum der Eintönigkeit an Reizen und Reaktionsmöglichkeiten eines Versuchstieres in einem Labor gegenübergestellt. Im Mittelpunkt von Straus’ Abhandlung stehen die Zurückweisung der Lehre von den bedingten Reflexen und der sog. »objektiven Psychologie« sowie der Entwurf einer alternativen, phänomenologisch angelegten Ästhesiologie. Im Grunde genommen wirft Straus den Vertretern des Physikalismus vor, das Phänomen des Lebens an das Leblose anzugleichen und somit dem cartesianischen Paradigma des Tieres als Maschine verhaftet zu bleiben. Die objektive Psychologie fasst die Stimuli als bloß physikalische Reize auf, die Reaktion darauf – das Erleben – als einen physiologischen Vorgang im Organismus und den Organismus selbst als ein Konglomerat von physischen und chemischen Prozessen. Zwar sind Pawlows Experimente fast hundert Jahre alt, aber die Kritik an seiner Lokalisationslehre durch Straus ist angesichts des starken Auftritts der Neurowissenschaften in unserer heutigen Zeit immer noch aktuell. Dabei stellt Straus nicht die Befunde Pawlows, sondern sein Experimentdesign und seine Deutung der Ergebnisse in Frage.
Experimentelle Wissenschaft und Machtdispositive So zeigt sich Straus bereits unzufrieden mit dem experimentellen Charakter der Untersuchung: Pawlows Versuche produzierten »Laboratoriums-Artefakte, die das natürliche Leben von Tier und Mensch nicht nachzubilden vermöchten« (ebd., 28) und können daher auch keinen Gewinn für die Psychologie bringen. Straus stellt nämlich die Art selbst in Frage, wie die bedingten Reflexe zustande kommen: Während der Experimente befinden sich die Versuchshunde, nachdem ihnen künstlich eine Speichelfistel angelegt wurde, in einer für sie ungewöhnlichen Umgebung:
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Das Laboratorium ist von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen. Da hinein fällt von außen kein Licht, dringt kein Geräusch, weht kein Duft, nichts ereignet sich hier. Das Tier ist eingefangen in einer Atmosphäre gleichmäßiger, unveränderlicher Stille. Nach einigen Tagen der Gewöhnung werden die Versuche begonnen. Die Tiere werden auf einem Tisch in einem Gestell eingespannt, die Registrierapparate werden ihnen angelegt, und dann bleibt ein so vorbereiteter Hund in der Stille des Laboratoriums allein und sich selbst überlassen. Der Versuchsleiter beobachtet die Tiere unbemerkt von einem Nebenraum. Alle »Reize« werden auf einem mechanischen Wege an die Tiere herangebracht (ebd., 32 f.).
Die Stimuli werden streng kontrolliert und das Tier interagiert nicht mehr mit vertrauten Personen, sondern wird von unsichtbaren und unpersönlich agierenden Wissenschaftlern observiert; darüber hinaus kann es sich nicht mehr bewegen und sich auch nicht gegen unangenehme Handlungen wehren. Straus scheut nicht davor zurück, diese Atmosphäre des Labors als »Öde« und die Leistungen des Hundes als »Dressurleistungen« zu bezeichnen (ebd., 33). Diese sterile Welt vermag nur noch bedeutungslos gewordene Einzelreize anzubieten und wirkt als Sinneslandschaft eindeutig verarmt im Vergleich zu jeder natürlichen Umgebung. Die Physik – damals das Paradigma aller Wissenschaften – beruht »auf einer radikalen Umformung und Nivellierung der Mannigfaltigkeit der phänomenalen Welt« (ebd., 57). Die Rahmenbedingungen des Experimentes sind aber nicht neutral, sondern stellen sich bei näherer Betrachtung als von »ungeprüften metaphysischen, erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Annahmen« durchsetzt heraus, die alles andere als eine »objektive«, rein empirische Psychologie begründen können (ebd., 36). Den Versuchen liegt nämlich laut Straus eine materialistische Philosophie zugrunde, die ihrerseits auf einem metaphysischen Rationalismus basiert. Dementsprechend wird das Tier objektiviert; zwar spricht Pawlow weiter von einem Hund, meint aber im Grunde genommen allein seinen biologischen Apparat – und steht damit im drastischen Widerspruch zur alltäglichen Situation. Solche wissenschaftlichen Praktiken haben nicht nur für unseren Umgang mit Tieren Folgen, wie die folgende Anmerkung von Straus in aller Deutlichkeit hervorhebt: Pawlow bemerkt anscheinend nicht, daß er die bisherige Brutalität der zwischenmenschlichen Beziehungen durch eine ärgere Brutalität zu bessern sucht, durch die Dressur nämlich, durch die mit der Freiheit und mit der sittlichen Entscheidung die Humanität überhaupt vernichtet wäre.
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Hoffen wir also, daß wir von diesen Wundern der Dressur verschont bleiben (ebd., 40).
Straus warnt in diesem Kontext explizit, dass die »Dressur« der Hunde durch die Wissenschaftler den Weg ebnet für die Betrachtung des Menschen selbst als »ein kompliziertes Gefüge von Mechanismen, ein Ding unter Dingen« (ebd.) – was Lévinas im Krieg zu spüren bekam (als nur ein Hund rebellierte) und andere Menschen auf noch brutalere Art und Weise im »Labor« eines KZ. Die Metapher des Kriegs legt Straus selbst dem Leser nahe, wenn er die Objektivierung der tierischen Leiber mit Dschingis Khan in Analogie setzt, »als er Kriegsgefangene in die Umwallungen seines Lagers lebendig eingraben ließ« (ebd., 54). Im selben Sinne vergleicht Straus später Hume und seine positivistischen Nachfolger mit dem »Scharfrichter, der darüber erstaunen wollte, daß er an dem Rumpf des von ihm Guillotinierten keinen Kopf mehr entdecken kann« (ebd., 392). Hinter solchen Bildern versteckt sich der Vorwurf, dass der Physikalismus einen antihumanistischen Grundzug, ja ein Gewaltpotential enthält. Was hier eigentlich auf dem Spiel steht, ist die Ethik der Wissenschaft, wenn Straus von der Psychologie fordert, auch das Verhalten des Wissenschaftlers selbst als Beobachter zu thematisieren. Nicht nur sind die Behavioristen bei ihrer Begründung der methodischen Postulate der Objektivität gescheitert und haben das Prinzip des Physikalismus als ein »unantastbares Dogma« übernommen (ebd., 118), sondern darüber hinaus bildet das Verhalten des Wissenschaftlers einen blinden Fleck in der sogenannten »objektiven Psychologie«. Dabei bemerkt der Wissenschaftler nicht, dass sein sachliches Verhalten während der Forschung seinem sonstigen beruflichen und alltäglichen Verhalten, etwa bei der Präsentation der Forschungsergebnisse oder als Familienvater (vielleicht sogar als Freund von Hunden), durchaus widerspricht. Das Programm der objektiven Psychologie lässt sich nicht konsequent durchführen, ohne – so Straus – einem »vollendeten Autismus« zu verfallen (ebd., 119) oder »bei einer radikal solipsistischen Auffassung des Menschen« zu enden (ebd., 58). Der Wissenschaftler kann einen solchen radikalen Reduktionismus der natürlichen Erfahrung gar nicht konsequent praktizieren, sondern verwendet im Alltag gerade die Sprache (der Emotionen, der psychischen Erlebnisse usw.) weiter, die er sich in der Forschung verbietet. Zudem ist sich der positivistische Wissenschaftler der Motivationen der eigenen Forschung nicht vollständig bewusst: Vermeint254 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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lich ist er allein an Wahrheiten interessiert, die sich am Ideal der Sachlichkeit und Exaktheit orientieren, aber im Grunde sind Machtwünsche mit im Spiel: Der Positivist wünscht den Tag herbei, an dem er menschliches Verhalten so voraus berechnen und lenken kann, wie ein Billardspieler die Billardkugel. […] Sich selbst muß er in diesem zukünftigen Welt-Marionettentheater eine Ausnahmestellung vorbehalten. Er ist der Lenker, alle anderen die Kontrollierten und Gelenkten (ebd., 131).
Daher lässt er sein eigenes Verhalten unerforscht und betrachtet alle anderen als seine potentiellen »Billardkugeln« und allein sich selbst als »den Spieler«. Für Straus steht vielmehr ein Tier, genauso wie ein Mensch, auf der Seite der Spieler, insofern sie sich intentional und nicht mechanisch bewegen. Und das bringt uns zu den inhaltlichen Unterschieden zwischen der phänomenologischen und der objektiven Psychologie.
Objektive Psychologie und phänomenologische Ästhesiologie Die objektive Psychologie führt allgemein das Psychische auf das Physiologische und die tierische Bewegung auf die mechanische Bewegung zurück. Sie leugnet die objektive Existenz der »sekundären Qualitäten« und übersetzt sie in physikalische Signale mit messbaren Intensitäten, was nicht mehr und nicht weniger als eine »Ausmerzung des Phänomenalen« zur Folge hat (ebd., 40). Überhaupt ist die Umwelt des Tieres im Laboratorium »wesentlich eingeengt, an Mannigfaltigkeit verarmt« im Vergleich zu seiner natürlichen Umwelt (ebd., 106). Auch werden die Aktionen des Tieres, etwa das Fressen, als eine Summe von Reflexbewegungen aufgefasst. Dabei reagiert der Hund bloß passiv auf Einzelreize und zeigt keine Initiative; die Intentionalität wird somit auf Kausalität reduziert. Die räumliche Ordnung löst sich in ein Nebeneinander von neutralen Stellen auf, die für das Tier keine Bedeutung mehr haben können, und ebenso zerfällt die Einheit der Zeit als Werden in ein Nacheinander von atomisierten Zeitpunkten. Nach der Lokalisationslehre befinden sich die Empfindungen »in den Sinnesorganen, in den Nervenbahnen und Rindenfeldern« und das Bewusstsein wird im Gehirn lokalisiert (ebd., 54). Dadurch fällt auch die Einheit des Bewusstseins auseinander, die nur noch als eine Menge einzelner Vorgänge erklärt wird, das Selbst ver255 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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schwindet und mit ihm auch alle reflexiven Handlungen: Das Tier kann sich nicht mehr spontan bewegen und sich nicht zur Umgebung als zu seiner Umwelt verhalten. Auch der Zugehörigkeit der Glieder und Organe zu einem lebendigen Leib wird dadurch jeglicher Boden entzogen, und es lässt sich nicht mehr erklären, inwiefern die Zugehörigkeit des Leibes zu einem Ich oder eines Beins zu einem Leib etwas anderes als z. B. die »Zugehörigkeit eines Tischbeins zum Tisch oder eines Schlüssels zum Schloß« (ebd., 57) – oder des Dachs zum Haus (mit Heidegger) – sein kann. Allein ein Lebewesen vermag aber possessive Beziehungen zu entwickeln. Und nicht zuletzt verkennt der Positivismus die Spontaneität der lebendigen Bewegung und die Verbindung zwischen Empfindung und Bewegung, die bei Straus zu einer Grundthese avanciert. Eine solche physikalistische Lehre ist kontraintuitiv und kennt keinen »Respekt vor den Tatsachen« (ebd., 57); darüber hinaus verfängt sie sich in Schwierigkeiten, die eine Lösung nur in der Rückkehr zur Beobachtung des »zunächst und zumeist« und damit sozusagen »zu den Sachen selbst« finden. Straus’ phänomenologische Ästhesiologie setzt hingegen das Tier wieder in seine Rechte als Lebewesen ein und legt sein Empfinden als subjektives Erleben aus. Den Experimenten der objektiven Psychologie bleiben »die Natur des Empfindens als einer besonderen Kommunikationsweise, sein sympathetischer Charakter, die Momente der Jeweiligkeit, der Richtung, der Grenze, der sinnlichen Gewißheit, der Beziehung zum Trennen und Vereinen, zum Locken und Schrecken, zum Können und Versagen eines werdenden Individuums« (ebd., 385) verborgen, ebenso wie »der Zusammenhang von Empfindung und Bewegung«, schreibt Straus (ebd.) und fasst damit die Hauptmerkmale des Empfindens zusammen. Das Empfinden wird folglich von Straus relational definiert, allerdings nicht im Sinne der Beziehung eines Organismus zu einem Reiz, sondern als »das Verhältnis eines erlebenden Wesens zur Welt« (ebd., 175). So kann der Hund etwa auch auf Stille reagieren (eine der Schwierigkeiten der Pawlow’schen Reflexlehre, die die Leere physikalisch als ein Nichts betrachtete), gerade weil dieses Nichts als eine Leere erlebt wird. Die Tiere sind grundsätzlich »auf die Welt gerichtet« (ebd., 111), verfügen über eine Intentionalität und kennen die Leere als Erwartung, das heißt als Moment, in dem ein Wunsch noch nicht in Erfüllung gegangen ist und ein Bedürfnis noch nicht gestillt wurde. Die Zeit des Lebewesens ist als Werden ein Kontinuum, inner256 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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halb dessen sich die Momente in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilen und das subjektiv als Dauer erlebt wird. Und ebenso heterogen ist auch der Raum, der sich vor einem Tier nicht neutral wie vor einer von außen gelenkten Billardkugel erstreckt, sondern einen möglichen Weg zu einem Ziel darstellt: »Die Tiere erfassen die Umgebung, erfassen ihr eigenes Wo und Wohin, sie sind orientiert, kurz, sie bewegen sich als erlebende Wesen in ihrer Umwelt« (ebd. 140). Eine Ratte vermag den Ausgang aus einem Irrgarten zu finden, nicht weil sie einfach »unendlich viel komplizierter gebaut als eine Billardkugel« ist (ebd., 134), wie die objektive Psychologie meint, sondern weil sie sich zweckentsprechend zu ihrer Umgebung verhalten kann. Im Unterschied zu einem Mechanismus sind Tiere lernfähig (wieder eine schwierig erklärbare Tatsache für die objektive Psychologie) aufgrund ihres zweckmäßigen Verhaltens, auch wenn ihnen – anders als dem Menschen – der Begriff von Zweckmäßigkeit fehlt (ebd., 146). Das Empfinden ist in Straus’ Sicht überhaupt eng mit der Bewegung verbunden, weil beiden Lebensvollzügen eine vitale Funktion zukommt. In natürlichen Umgebungen reagiert das Tier nicht ähnlich auf ähnliche Reize, sondern es »paßt sich den jeweils wechselnden spezifischen Situationen mit genau entsprechenden spezifischen Aktionen an« (ebd., 139), anders gesagt: Seine Reaktionen entsprechen der Bedeutung der jeweiligen Situation für sein Leben. Die Reize stellen bedeutungsvolle Signale dar, auf die Tiere gemäß ihren Interessen und Bedürfnissen spontan reagieren, und zwar meistens kinästhetisch. Wie Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos, auf den sich Straus beruft (ebd., 207), unterscheidet Straus das Tier von der Pflanze durch seine »Wurzellosigkeit«: »Die Tiere sind wurzellos, die Nahrung fließt ihnen nicht zu, die Mutter Erde hat sie freigegeben. Von der Gebundenheit des vegetativen Daseins befreit, müssen sie für sich selber sorgen« (ebd., 238). Und das verwandelt ihre Umwelt in einen »Aktionsraum mit zoomorpher Gestaltung« (ebd.), innerhalb dessen sich das Tier meistens durch Folgen (infolge einer Verlockung) und Fliehen (infolge eines Schreckens) bewegt. Weitere Formen der Mobilität beziehen sich auf Lokomotion, Angriff und Verteidigung, Äußern und Vernehmen, Nahrung einverleiben und ausstoßen, Begatten, Zeugung, Spielen und produktive Bewegungen. Die tierische Umwelt ist – wie auch der Raum des Menschen bei Husserl – in einem Hier des eigenen Leibs zentriert, »von appetitiven Vektoren durchzogen« und in »Wertregionen«, d. h. in mehr 257 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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oder weniger umfangreiche, freundliche und wirtliche Areale, in »gute und schlechte Quartiere«, gegliedert (ebd.). Die motorische Reaktion auf das Empfundene ist der Beweis dafür, dass das Tier die jeweilige Situation verstanden hat, so Straus, der in diesem Kontext von einem »symbiotischen Verstehen« spricht. Und dieses Verstehen gilt über die Grenzen der Spezies hinweg, wie die Kommunikation zwischen Mensch und Hund beweist. Konkret analysiert Straus die Situation, in der ich nach meinem Hund pfeife. Der Hund kommt auf den Ruf seines Herrchens herbei – sei es dass dieses nach ihm pfeift oder ihn namentlich ruft – ohne allerdings dessen Sprache zu verstehen, sondern allein aufgrund des Tonfalls. Anstelle des irgendwie abstrakten »Mitgehens« des Hundes bei Heidegger und der spezifischen Situation bei Lévinas, in der ein Hund aus eigenem Antrieb manchen Menschen entgegenkommt und vor anderen flüchtet, hebt Straus allgemein und trotzdem erfahrungsbezogen die Polarität des Hin-zu und Von-weg hervor: »Das tierische Verstehen ist ein Folgen und Fliehen, ein Verstehen des Lockenden und Schreckenden« (ebd., 200). Anders ausgedrückt: Trennen und Einigen bilden die primäre Stufe des sinnlichen Erlebens und dienen biologischen Funktionen. Das Empfinden ist zwar ein symbiotisches Verstehen, allerdings kein Erkennen. Auch ist sich Straus, wie auch Heidegger vor ihm, der Grenzen der Einfühlung in das Tier bewusst: »Wir erreichen die sprachlose Welt nicht vollständig und nur in einer Abkehr von der eigentlichen Menschenwelt«. (Ebd., 203) Die höhere Freiheit des Menschen im Vergleich zum Tier wird mit der Tragik der conditio humana bezahlt. Dabei ist die Ähnlichkeit zum bei Robert Burns’ impliziten, am Anfang erwähnten Verhältnis zwischen Mensch und Tier unübersehbar; denn auch bei Straus hat sich der Mensch von der ursprünglichen Bindung an die Tierwelt befreit, und doch wünscht er sich manchmal, diese »schmerzliche« Freiheit rückgängig zu machen, »in der sprachlosen Welt versinken zu können«, und sehnt sich »nach dem Glück, von Augenblick zu Augenblick zu leben« (ebd.). Solche Wünsche können jedoch nie in Erfüllung gehen: »Aber das Paradies ist dem Menschen verschlossen, es gibt für ihn nur künstliche Paradiese. Wir erreichen die sprachlose Welt nicht vollständig und nur in einer Abkehr von der eigentlichen Menschenwelt.« (Ebd.)
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Die minimale anthropologische Differenz Der Schwerpunkt in Vom Sinn der Sinne (Straus 1956) liegt auf der Auseinandersetzung mit der Auffassung der Wahrnehmung der Tiere in der objektiven Psychologie und somit auf den Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier. Nichtsdestoweniger verzichtet auch Straus nicht, genauso wenig wie die zeitgenössischen Phänomenologen oder auch Plessner, auf die qualitative Differenz zwischen Mensch und Tier. Beide – die er manchmal in einem Zug »wir« nennt – haben als Lebewesen dieselben Merkmale, die sich im Zusammenhang mit der Empfindlichkeit und Mobilität ergeben, aber das Tier verbleibt auf der Stufe des Empfindens und vollzieht nicht den Übergang zum Wahrnehmen und somit zum Erkennen. Im Empfinden ist das Lebewesen Teil der (Um-)Welt, und dieses sympathetische Erleben gestattet es ihm nicht, Abstand zur Welt zu nehmen. Das Objekt ist ihm ein Begegnendes, mit dem sich das Lebewesen zu einigen oder von dem es sich zu trennen versucht, jedoch noch kein Gegenstand wie in der Wahrnehmung. Der Empfindende ist ein »endliches werdendes Subjekt, Teil der Welt« und »in der Welt«, »auf sie gerichtet und ihre Gegenrichtung empfangend«, wobei das In-der-Welt-Sein von Straus (nicht ganz im Sinne Heideggers) als ein Im-Raum-Sein gemeint ist (ebd., 373). Während der Empfindende »sich als Teil der Welt [erlebt], in die er hineingestellt ist«, sind die Menschen »Teil der Welt und haben doch eine Beziehung zum Ganzen, wir sind in der Welt und sind zugleich ihr gegenüber« (ebd., 208). Ein Hauptmerkmal der Empfindungen ist ihre Dynamik oder das, was Husserl den »Bewusstseinsstrom« nannte, auch wenn sich Straus in seiner Abhandlung auf Bergson und nicht auf Husserl bezieht: »›Empfindungen‹ sind Abwandlungen der kontinuierlichen Beziehungen des Ich zu seiner Welt, sind Phänomene des erlebten Werdens« (ebd., 389). Die sinnliche Gewissheit des Empfindens kann allerdings keinen Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit erheben und die Beziehung zum Objekt bleibt jeweilig und individuell. Das Erkennen beginnt erst auf der Stufe des Wahrnehmens, wenn das im Empfinden »Begegnende« als ein »Gegenstand« objektiviert wird (ebd., 387) und der Strom der Empfindungen durch Feststellungen von Fakten unterbrochen wird: »Das Faktische ist das Thema der Wahrnehmung« (ebd., 347). Erst in der Wahrnehmung werden die Empfindungen sprachlich geäußert und dadurch allgemein darstellbar, erst ab diesem Moment lassen sich Wiederholungen und Regel259 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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mäßigkeiten des Erlebens derselben Dinge identifizieren und beobachten. Die von der objektiven, experimentellen Psychologie gesuchten Konstanten und Gesetze betreffen im Grunde genommen die Wahrnehmung und nicht das Erleben: Dem Experiment untersteht das beliebig Wiederholbare, d. h. also Vorgänge, die indifferent sind gegen die Zeit des seelischen Werdens. In dieser Indifferenz ist ihre Allgemeinheit begründet. […] Mit Hilfe des Experiments, der Aussagen von Versuchspersonen können die Leistungen der Sinnesorgane für den Aufbau unserer Gegenstandswelt, die subjektiven und objektiven Bedingungen ihres Funktionierens bestimmt werden. Das Thema solcher Untersuchungen sind Wahrnehmungen, nicht Empfindungen, […] Subjekt der Aussagen ist eine über ihre »Empfindungen« urteilende Versuchsperson, demnach ein erkennender Mensch, genauer ein Mensch, sofern er erkannt hat (ebd., 385).
Im Empfinden werden die Erscheinungen »nicht zu Dingen mit festen Eigenschaften umgedacht, die an verschiedenen, aber gleichartigen und darum vertauschbaren Raumpunkten zu verschiedenen Zeiten vorkommen« (ebd., 207), so Straus. Wenn das sympathetische Verstehen der Tiere rein situativ ist, wie konnte dann aber Odysseus’ Hund den lange Vermissten nach all den Jahren wiedererkennen? Zwischen dem »Empfinden« und dem »Wahrnehmen« im Sinne Straus’ müsste eine Zwischenstufe angenommen werden, die die Konstitution von Gegenständen zulässt und über die bloß passive Rezeption von Empfindungskonglomeraten hinausgeht, ohne aber die begriffliche Allgemeinheit zu erreichen. Durch die Wahrnehmung wird nach Straus die elementare Perspektivität des Empfindenden überwunden und der Weg zu einer allgemeinen Verständigung über die Inhalte der Wahrnehmung eröffnet. Lambert Wiesing wird später im selben Sinne zwischen dem »öffentlichen«, d. h. intersubjektiv verifizierbaren Charakter der Wahrnehmungen und den »privaten« Empfindungen unterscheiden (Wiesing 2009, 182 ff.); und auch für Straus erhebt die sinnliche Gewissheit allein Anspruch auf »Privatgültigkeit« (Straus 1956, 378). (Lebendiges) Empfinden und (menschliches) Wahrnehmen stellen gemäß Straus auch keinen bloßen Wechsel von Funktionen dar, sondern sie sind qualitativ andere Kommunikationsweisen mit der Welt – und dementsprechend ist auch ihr Subjekt ein anderes. Das Empfinden ist jedenfalls keine Vorstufe des Wahrnehmens bzw. des Erkennens. Um eine Grenze zwischen dem Menschen und dem Tier zu zie260 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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hen, greift Straus letztlich nicht einfach auf die klassischen Unterschiede des Denkens, der Sprache oder der Moralität zurück, sondern sucht »die untere Grenze des menschlichen Seins«, und zwar »im Umgang mit den alltäglichen Dingen« (ebd., 339), und meint damit, dass sich das Aufgehen der Empfindung in der Wahrnehmung bereits in der menschlichen Materialkultur feststellen lässt. Genauer erläutert er die anthropologische Differenz im letzten Teil seines Buchs am Beispiel des Raums (Geographie), der Zeit (Musik) und der intraspezifischen Beziehungen (Familie) (ebd., 335 ff.). In den Korrespondenzen zwischen diesen drei anscheinend kaum miteinander verbundenen Bereichen sieht Straus »ein gewichtiges Zeugnis dafür, daß die menschliche Welt der Wahrnehmung von der tierischen Welt der Empfindung radikal verschieden ist« (ebd., 345). Nehmen wir das Beispiel des Raums: »Der Raum des Empfindens verhält sich zum Raum der Wahrnehmung wie die Landschaft zur Geographie« (ebd., 335), so Straus. Der landschaftliche Raum ist im Leib zentriert, von einem Horizont begrenzt bzw. »umschlossen« (wobei Straus die »Grenze« allgemein zu den Merkmalen des Empfindens zählt) und daher grundsätzlich perspektivisch. Der geographische Raum ist dagegen »geschlossen« und als ein menschliches Konstrukt »systematisiert«. Zwar ist der geographische Raum nicht ipso facto ein physikalischer Raum, aber er nähert sich diesem durch seine im Vergleich zur Landschaft höhere Objektivität an. Während sich der landschaftliche Raum durch topologische Begriffe wie »Ort«, »Nachbarschaft« und die Lage in Bezug auf meinen Leib als Zentrum beschreiben lässt, so werden im geographischen Raumsystem alle Orte auf einen willkürlich festgelegten Nullpunkt bezogen. Erst in einem solchen geographischen Raum – heutzutage würden wir ihn kartographisch nennen – lässt sich die Frage nach meinem »Wo« durch eine Bestimmung beantworten, die nicht mehr das absolute Hier des Leibes wie bei Husserl ist. Nicht nur der geographische Raum, sondern dementsprechend auch die Reise, als eine Bewegung von einem geographischen Punkt zum anderen, stellt »eine menschliche Angelegenheit« dar (ebd., 337): »Ein Elefant reist nicht von Berlin nach Rom; und wenn er es tut, dann hat er doch nicht die Absicht, es zu tun und weiß nicht, daß er es tut« (ebd.). In diesem Sinne kann der Mensch über die »Reise« der Zugvögel nur staunen. Beim Wandern und bei den Reisen früherer Zeiten war dieser Unterschied zwischen dem landschaftlichen und dem geographischen Raum verschwommener als bei der modernen Reise, »in der ein Zwi261 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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schenraum gleichsam übersprungen, durchfahren oder gar verschlafen wird« (ebd.). Die von Straus wiederholt hervorgehobene Subjektivität des Empfindens wirft die Frage auf, ob das Tier ein Subjekt ist. Aussagen wie »das Subjekt gewinnt sich selbst erst im Empfinden« oder die These vom subjektiven Charakter der Realität im Empfinden (ebd., 378) könnten dazu anregen, Straus in Ingensieps und Baranzkes Liste (2008, 30 ff.) der Pioniere im Hinblick auf die Betrachtung des Tieres als eines Subjekts aufzunehmen. Und dennoch ist das empfindende Subjekt als erlebendes Wesen durch »Leiden und Taten« und nicht durch Reflexion gekennzeichnet. Im sinnlichen Empfinden bleibt das Subjekt-Objekt-Verhältnis vom (tierischen) Subjekt unreflektiert; die sympathetische Beziehung zur Welt ist ein »Mit-Werden« (Straus 1956, 409), das keinen Abstand zu dieser nimmt. Darüber hinaus aber hat der Mensch sogar im sinnlichen Umgang mit dem Anderen allgemeine Regeln und Konventionen eingeführt, die das spontane Nachgehen, die appetitiven Faktoren, inhibieren: Mohammedanische Frauen hatten sich vor jedem Fremden zu verschleiern. Im Abendland ist es einem Mann nicht verwehrt, eine fremde Frau anzuschauen und Gefallen an ihr zu finden. Es ist ihm aber nicht erlaubt, seinem Blick folgend, auf sie loszugehen und sie […] zu berühren und umarmen (ebd., 395).
Die Regelung der Erotik im menschlichen Bereich, auf die Straus im Zusammenhang mit dem Tastsinn eingeht, entspricht seiner Unterscheidung zwischen der »natürlichen« und der menschlichen Familie. Wie auch Lévinas kapituliert Straus letztlich nicht vor den sich häufenden Beweisen der evolutionistischen Lehre, dass Sozialgefühle auch in der Tierwelt existieren. Doch allein in der menschlichen Familie sieht Straus Beziehungen auch zu den Verstorbenen, während sich die tierische Familie auf die unmittelbaren Beziehungen von Tieren untereinander beschränkt. Es fällt nicht schwer, hier die Elefanten als Gegenbeweis einzubringen. Zwar hat auch das Tier nach Straus eine Abstammung, die vom Züchter bestimmt wurde (wiederum eine unzulässige Verallgemeinerung); das menschliche Individuum ist vielmehr, was es ist, durch seine Familienzugehörigkeit (wobei der konservative Charakter dieser Ansicht keines Kommentars bedarf). Ein Kind löst sich, so Straus, aus der natürlichen Familie mit der Konfirmation und wird dadurch endgültig in die »menschliche Familie« aufgenommen, ein Anlass bei dem auch die spezifische »Tracht der 262 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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Erwachsenen« zum ersten Mal getragen wird (ebd., 343). Die Zugehörigkeit zur menschlichen Familie vermittelt nach Straus dem Individuum auch den Eintritt in die Geschichte, und zwar zunächst in die Familiengeschichte, denn »die Familie ist gewordene, bleibende Geschichte« (ebd., 344). Aber anders als die natürliche Familie ist die menschliche Familie eine gesellschaftliche Institution, ein »Werk des Menschen« (ebd.); hier gelten spezifische Regeln, die nicht in der natürlichen Familie anzutreffen sind, wie etwa die Verehrung der Älteren, gesellschaftliche Pflichten und die Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft bis hin zu Selbstaufopferung und Heroismus. Im Vergleich zur Auseinandersetzung mit der objektiven Psychologie wirken diese konventionellen und zum Teil zeitbedingten Ausführungen Straus’ mit ihrer schwachen und allzu knappen Argumentation eher enttäuschend. Der wichtigste Beitrag von Straus zur Tierphilosophie ist wohl auf dem Gebiet der Psychologie und nicht auf dem der Anthropologie oder der Soziologie zu finden. Im Grunde genommen lässt sich Robert Burns’ Gedicht To a Mouse hervorragend mit Straus deuten: Die Tiere leben nur in der Gegenwart, die Menschen trauern der Vergangenheit nach und bangen vor der Zukunft. Die Maus vermag nicht die Perspektive des Menschen einzunehmen, während der Mensch zumindest versucht, sich in sein animalisches Anderes hineinzudenken. Das Erfassen von Welt bleibt für die Maus perspektivisch, der Mensch kann dagegen sehr wohl über die eigene Perspektive hinausgehen und sich Gedanken über den Lauf der Welt, sozusagen über das Schicksal allgemein »o’ Mice an’ Men« machen. Konflikte zwischen Tieren und Menschen lauern überall, auch in den hier besprochenen Texten: Der Landwirt zerstört den Lebensraum einer Feldmaus, der Philosoph zeigt sich unsensibel gegenüber dem Haushund und sieht in ihm allein den Inbegriff einer abstrakten »Weltarmut«, die Wächter eines Arbeitslagers betrachten das Verhalten eines streunenden Hundes als Unterminierung ihrer Autorität, und nicht zuletzt objektiviert ihn auch der Naturwissenschaftler, der mit ihm nicht selten schmerzhafte Experimente anstellt (vgl. Straus 1956, 98). Alle drei besprochenen Philosophen sind weiterhin um eine radikale Grenzziehung zwischen Mensch und Tier bemüht, ohne jedoch der symbolischen »Gewalt« einer positivistischen Objektivierung zu verfallen. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht – dem Programm der Phänomenologie folgend – die Erfahrung, das Erleben des Tieres. Die phänomenologische Methode als Beschreibung in der ersten Person 263 https://doi.org/10.5771/9783495808184 .
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erschwert allerdings den Zugang zum Erleben des Tieres, sodass der Philosoph letztlich immer nur aus seiner Perspektive über das Tier sprechen kann. Weitere Schwierigkeiten bei der Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier ergeben sich entweder aus einer anscheinend mangelnden unmittelbaren Erfahrung mit Tieren, wie eindeutig bei Heidegger und vermutlich auch bei Lévinas, oder aus der bei Straus zuweilen festzustellenden Ungenauigkeit der philosophischen Terminologie: Was ist überhaupt ein »Subjekt«, wenn entschieden werden soll, ob das Tier ein Subjekt ist? Und wäre es nicht besser, überhaupt eine neue Terminologie einzuführen? Worin besteht die Differenz zwischen Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung, zwischen der nicht-verbalen Äußerung des Tieres und der Sprache des Menschen? Letztlich vervielfältigen die angeführten Untersuchungen die Fragen in Bezug auf das Tier: Leben Tiere wirklich allein in der Gegenwart und im Noch-nicht der Erwartung und Nicht-mehr des unmittelbaren Erlebten, ohne jegliches Gedächtnis? Haben nicht manche Tiere häufig bewiesen, über eine bessere »Vorschau« und Ahnung als wir Menschen zu verfügen, wie schon Montaigne meinte? Wenn die Tiere allein natürliche Familien kennen, wie steht es dann um die Treue der Hunde zu den Menschen, d. h. gerade zu Mitgliedern einer anderen Spezies? Und leben Menschen und Hunde, die ihren Wohnraum miteinander teilen, in absolut parallelen Welten? Schließlich können die angeführten Auslegungen des Wesens der Tiere zumindest einen kulturellen Mythos dekonstruieren: nämlich dass Tiere grundsätzlich glücklicher als Menschen wären.
Literatur Atterton, P. (2004). Ethical Cynicism. In M. Calarco & P. Atterton (Hrsg.), Animal Philosophy. Essential Readings in Continental Thought (S. 51–61). London: Continuum. Burns, R. (1974). To a Mouse. Online verfügbar unter: https://en.wikisource. org/wiki/To_a_Mouse. Dt. Übersetzung: Burns, R. (1974). An eine Maus – als ich sie November 1785 mit ihrem Nest aufpflügte. In ders. Gedichte und Lieder (S. 73 f.). Berlin: Aufbau-Verlag. Derrida, J. (2010). Das Tier, das ich also bin. Wien: Passagen. Ferry, L. (1992). Le nouvel ordre écologique. Paris: Grasset & Fasquelle. Heidegger, M. (1927/2006). Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Heidegger, M. (1983). Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Wintersemester 1929/30 (Gesamtausgabe Bd. 29/30, hrsg. v. F. W. v. Herrmann). Frankfurt am Main: Klostermann.
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Von Hunden und Menschen Ingensiep, H. W. & Baranzke, H. (2008). Das Tier. Stuttgart: Reclam. Lévinas, E. (1976). Nom d’un chien ou le droit naturel. In ders., Difficile liberté (2. Aufl.) (S. 199–202). Paris: Albin Michel. Lévinas, E. (2004). The Name of a Dog or Natural Rights. In: M. Calarco & P. Atterton (Hrsg.), Animal Philosophy. Essential Readings in Continental Thought (S. 47–50). London: Continuum. Montaigne, M. (2002). Essais. München: Goldmann (Random House). Plessner, H. (1946/1983). Mensch und Tier. In: ders., Gesammelte Schriften VIII. Conditio humana (S. 52–65). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Scheler, M. (1995). Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn: Bouvier. Straus, E. (1956). Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Berlin Göttingen Heidelberg: Springer. Wiesing, L. (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wild, M. (2008). Tierphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Elisabetta Basso Lorini, Dr. phil., Stipendiatin der Alexander-vonHumboldt-Stiftung am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin Benjamin Bühler, PD Dr. phil., Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin Karl-Ernst Bühler, Prof. Dr. med., Lehrbeauftragter für Medizinische Psychologie und Psychotherapie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Mădălina Diaconu, Univ.-Doz. Dr. phil., Lektorin am Institut für Romanistik der Universität Wien Oliver Florig, Dr. phil., Psychotherapeut und Logotherapeut in eigener Praxis sowie Lehrbeauftragter für Philosophie an der LudwigMaximilians-Universität München Thomas Fuchs, Prof. Dr. med. Dr. phil., Karl-Jaspers-Professor für Philosophie und Psychiatrie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Annette Hilt, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Eugen Fink-Forschungsstelle am Philosophischen Seminar der JohannesGutenberg-Universität Mainz Alice Holzhey-Kunz, Dr. phil., Ko-Direktorin des Daseinsanalytischen Seminars Zürich
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Jann E. Schlimme, PD Dr. med. Dr. phil., stellvertretender ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Institutsambulanz Tiergarten, St. HedwigKrankenhaus Berlin Frank Töpfer, Dr. phil., Lehrbeauftragter für Philosophie an den Universitäten Tübingen und Freiburg Remy Rizzo, Doktorand am Département de philosophie der Université de Liège Boris Wandruszka, Dr. med. Dr. phil., Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatik in eigener Praxis sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sektion »Phänomenologie« der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg
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