Erwin Levy: Gestalttheoretische Beiträge zur Schizophrenieforschung [1 ed.] 9783737008631, 9783847108634


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Erwin Levy: Gestalttheoretische Beiträge zur Schizophrenieforschung [1 ed.]
 9783737008631, 9783847108634

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Karl Haller

Erwin Levy Gestalttheoretische Beiträge zur Schizophrenieforschung

Mit 8 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0863-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Portrait von Erwin Levy, freundlicherweise von seiner Schwester Irmgard Schwarz zur Verfþgung gestellt.

Inhalt

Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Begründung und Zielbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Fragestellung und grundsätzliches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . .

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3. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Problemformulierung und Fragestellungen . . . . . 3.2 Auswahl der Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Zitationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Evaluation der Artikel auf ihre Wissenschaftlichkeit 3.4 Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Verbreitung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Psychobiographieforschung . . . . . . . . . . . . .

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4. Einflüsse auf Erwin Levy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Biographie von Erwin Levy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Erwin Levys Herkunft und Leben in Europa . . . . . . . 4.1.2 Exkurs: Max Wertheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Erwin Levy in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Anfänge der Gestalttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Wolfgang Köhler : Gestaltpsychologie und Problemlösen 4.2.2 Max Wertheimer : Gestaltpsychologie und Denken . . . 4.2.3 Kurt Lewin: Gestaltpsychologie und Feldtheorie . . . . 4.2.4 Solomon Asch: Gestalt- und Sozialpsychologie . . . . .

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Inhalt

4.3 Anfänge der Schizophrenieforschung bis 1930 . . . . . . . . . . . 4.3.1 Psychiatrische Beiträge zur Schizophrenieforschung . . . . 4.3.1.1 Emil Kraepelin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Eugen Bleuler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2.1 Bleulers Konzepte zur schizophrenen Denkstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2.2 Bleulers Konzepte zum Wahn – als spezielle Form der Denkstörung . . . . . . 4.3.2 Tiefenpsychologische Beiträge zur Schizophrenieforschung 4.3.2.1 Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Carl Gustav Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Alfred Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Hermeneutische Beiträge zur Schizophrenieforschung . . . 4.3.3.1 Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung . . . . . . . . . . . . . . 5.1 »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« (1936) . 5.2 »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Einführung, Kommentar und Übersetzung von Heinrich Schulte« (1986) . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Der Wertheimer-Schulte-Artikel . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Levys Kommentar zu den Wertheimer-Schulte-Thesen . . 5.4 Levys Buchrezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Karen Horney : »The Neurotic Personality of Our Time« . 5.4.2 Karen Horney : »New Ways in Psychoanalysis« . . . . . . 5.4.3 Karen Horney : »Self-Analysis« . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Ellis Freeman: Social Psychology . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Abel & Kinder : »The Subnormal Adolescent Girl« . . . . 5.5 Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys . 5.5.1 Phänomenologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Dimensionalität von Krankheit und Gesundheit . . . . . 5.5.3 Dimensionalität psychischer Erkrankungen . . . . . . . . 5.5.4 Berücksichtigung der konkreten Situation des Patienten . 5.5.5 Systemisch-dynamisches Verständnis von Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.6 Symptome als Kompromisslösung und Kommunikationsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.7 Suche nach Sinnhaftigkeit im Erleben und in den Äußerungen von Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Finalität statt Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . Das Denken in seiner Beziehung zur Welt . . . . . Berücksichtigung der Arzt-Patient-Beziehung . . . Die Wir-Haftigkeit des Menschen . . . . . . . . . Psychiatrische und psychotherapeutische Haltung Position zur Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . .

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6. Rezeption von Levys Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse . . . . . . . . . . 6.1.1 »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« . . 6.1.2 »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen ins Englische« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Analyse der historischen Kontexte der Rezeption . . . . . . . . . . 6.3.1 Rezeption der Gestalttheorie in Deutschland bis 1933 . . . 6.3.2 Die internationale Rezeption der Gestalttheorie bis 1933 . . 6.3.3 Die Rezeption der Gestalttheorie in den USA nach 1933 . . 6.3.4 Die Rezeption der Gestalttheorie im Nachkriegs-Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5 Die Rezeption der Gestalttheorie in der Schizophrenieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5.1 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Gestalttheorie und Gestalttherapie . . . . . . . . . . 6.3.5.2 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Der Bender-Gestalt-Test . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5.3 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Der Rorschach-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5.4 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5.5 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5.5.1 Gestalttheoretische Psychotherapie . . . . . 6.3.5.5.2 Die humanistischen Psychotherapieansätze 6.3.5.5.3 Die systemischen Psychotherapieansätze . 6.4 Abschließende Bewertung: Einordnung von Levys Konzepten in die Schizophrenieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.5.8 5.5.9 5.5.10 5.5.11 5.5.12 5.5.13

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7. Aktuelle Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

8. Psychobiographieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . 9.1 Erwin Levys Artikel . . . . . . 9.2 Erwin Levys Buchrezensionen 9.3 Literatur . . . . . . . . . . . .

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9:

Chronologischer Lebenslauf 31f. Primär- und Sekundärsymptome der Schizophrenie nach Bleuler 65 Grund- und Akzessorische Symptome der Schizophrenie nach Bleuler 65 Zeitschriftenartikel in denen »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« zitiert wurde 112f. Bücher in denen »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« zitiert wurde 113 Zeitschriftenartikel in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde 114–116 Bücher in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde 117 Notizen (Archives University of Akron) in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde 118 Zeitschriftenartikel in denen »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-SchulteThesen ins Englische« zitiert wurde 119

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Familienstammbaum von Erwin Levy Abbildung 2: Berechnung der Fläche eines rechtwinkligen, gleichschenkligen Dreiecks Abbildung 3: Gestaltprinzipien von Frage und Antwort Abbildung 4: Feldsituation von Frage und Antwort Abbildung 5: Kreise mit unterschiedlich starkem Gestalt-Druck Abbildung 6: Chronologische Darstellung der Zitationen der drei Artikel Levys Abbildung 7: Anzahl der Publikationen mit den Schlagwörtern »Gestalt« und »Schizophrenia« im Abstract Abbildung 8: Kippfigur

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Vorwort

Eine wissenschaftliche Arbeit wird zwar meist letztlich einem Einzelnen zugeschrieben, ist aber das Ergebnis sozialer Prozesse. Sie entsteht aus persönlichen Erfahrungen, menschlichen Begegnungen, politischen Gegebenheiten, gesellschaftlichen Veränderungen und nicht zuletzt aus Zufällen heraus. In der modernen Psychologie, die sich fast immer als objektiv-naturwissenschaftliche Disziplin zur Erforschung der Welt des Erlebens und Verhaltens begreift, fehlt der narrative Anteil erzählbarer Geschichten. Im Sinne der Objektivierung und Operationalisierung werden Variablen untersucht anstatt sich direkt auf das Erleben von Menschen einzulassen und einen Versuch zu wagen, dieses in seiner phänomenologischen Komplexität verstehen zu wollen. In dem vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen sich diesen Prozessen zu nähern. Dabei gelten die zuvor ausgeführten Überlegungen sowohl für das Werk von Erwin Levy, als auch für diese Arbeit selbst. Sie ist die geringfügig überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Jahr 2017 von der Alpen-Adria Universität Klagenfurt angenommen wurde. Ich bin mir des Privilegs bewusst, die nötige Zeit, den Raum und die Ressourcen gehabt zu haben, um mich diesem Projekt widmen zu können. Besonders dankbar bin ich für die persönliche und fachliche Unterstützung, die ich im Rahmen meiner Arbeit in so vielfältiger und herzlicher Form erhalten habe und erfahren durfte. Ich danke Frau Professorin Jutta Menschik-Bendele und Herrn Professor Gerhard Danzer für ihre wertvolle Hilfe. Auch danke ich der Medizinischen Hochschule Brandenburg für die finanzielle Förderung, die u. a. meine Forschungsreise in die USA ermöglichte. Nachhaltig beeindruckt und dankbar bin ich auch für die schönen Begegnungen und die Hilfe, die ich durch Dr. Gerhard Stemberger, Prof. Michael Wertheimer, Prof. Karen Watkins, Prof. Henry Zvi Lothane, Charles Schroth, Anett Grest, Dr. Alexandra Hünsche, Christina Minaew, Lisa Rösch, Doris, Michael und Martin Haller sowie durch die Mitarbeiter der New School, der New York Public Library, der Archive der University of Akron, der Sigmund Freud Archive und der Library of Congress erhalten habe.

1.

Begründung und Zielbestimmung

Die Begründung der vorliegenden Forschungsarbeit besteht im Wesentlichen aus zwei Punkten. Zum einen dient die Arbeit der Erforschung gestalttheoretischer Konzepte, um sie damit der aktuellen Schizophrenieforschung zugänglich zu machen. Zum anderen soll sie die Bedeutung der wissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte der Psychologie für das Fach sowie für ein vertieftes Verständnis von Konzepten und Theorien aufzeigen. Zum Verständnis der Ätiologie und des Verlaufes der Schizophrenie sind zwar aktuell einige wenige Punkte weitgehend geklärt, jedoch noch immer viele Fragen offen (MacDonald & Schulz, 2009). Es wurden und werden vielfältige Versuche unternommen, Ätiologie, Verlauf und Therapiemöglichkeiten der Schizophrenie zu untersuchen und zu verstehen (vgl. Kringlen, 1996). Phänomenologische Aspekte der Schizophrenie sind bisher nur wenig erforscht, bilden aber einen zentralen Aspekt dieser Störung ab (Davidson, 1994; Parnas & Handest, 2003). Die phänomenologische Perspektive ermöglicht eine gezielte Erforschung der Erlebenswelt schizophren erkrankter Menschen. Dabei werden vor allem das Erleben des Selbst in seiner Umwelt sowie mit der Erkrankung in Verbindung stehende Störungen dieses Verhältnisses näher betrachtet. Damit ist die phänomenologische Perspektive sowohl für das Verständnis des Verlaufes der Erkrankung als auch deren Therapie von großer Wichtigkeit (Bürgy, 2010; P8rez-]lvarez, Garc&a-Montes & Sass, 2010). Lysaker und Lysaker (2008) sowie Rulf (2003) haben die phänomenologische Literatur zur Schizophrenie kritisch aufgearbeitet. Gestalttheoretische Beiträge wurden dabei jedoch kaum mit einbezogen (Silverstein & Uhlhaas, 2004). Dies mag auch mit der historischen Entwicklung dieser Schulrichtung der Psychologie zusammenhängen. Die Gestaltpsychologie wurde durch die Verfolgung ihrer jüdischen Wegbereiter und die damit verbundene erzwungene Immigration vieler Forscher in die USA nachhaltig beeinflusst. Es ist ungewiss, inwiefern sich die Gestalttheorie anders entwickelt hätte, wäre es nicht zur systematischen Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus und der Shoah gekommen. Jedoch ist sicher, dass diese Verbrechen sowohl für die Vertreter der Gestalttheorie als

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Begründung und Zielbestimmung

auch für deren Konzepte nachhaltige Folgen hatten (Ash, 1985). Die Judenverfolgung und der totale Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Nationalsozialisten stellen einen deutlichen Bruch in der psychologischen Forschung in Deutschland dar (Bruch & Kaderas, 2002). Ziel dieser Arbeit ist deshalb auch die nachträgliche Würdigung der wissenschaftlichen Errungenschaften der ins Exil gezwungenen Gestaltpsychologen sowie eine Reintegration dieser in die deutsche Forschungslandschaft. Einige wenige Wissenschaftler beschäftigen sich auch heute noch mit der Gestalttheorie – auch im Bereich der Schizophrenieforschung (vgl. Uhlhaas, & Mishara, 2007). Insbesondere in den Neurowissenschaften hat der Rückgriff auf gestalttheoretische Konzepte an Bedeutung gewonnen (Wörgötter & Eysel, 2000; Gilbert, 2000). Sie können helfen funktionale Aspekte der neuroanatomischen Prozesse besser theoretisch zu fassen und zu verstehen. Dies gilt sowohl für allgemeine psychophysiologische Abläufe, als auch für psychopathologische Prozesse. Silverstein und Uhlhaas (2004, 2005) gehen sogar so weit zu sagen, dass frühe gestalttheoretische Konzepte besser als moderne kognitive Theorien geeignet sind, zentrale Anomalien der Schizophrenie zu erklären. Die beiden Wissenschaftler zeigen in ihren Arbeiten auf, wie sich die Wahrnehmung von »Gestalten« bei schizophrenen und gesunden Menschen unterscheidet. Auch auf das Werk von Erwin Levy (1943) wird in Silverstein und Uhlhaas Artikel von 2004 Bezug genommen und dessen Beiträge zum Verständnis der Schizophrenie gewürdigt. Allerdings konzentrieren sich die Autoren auf die Gestalttheorie der Wahrnehmung und behandeln Levys Konzepte zur Denkstörung nur marginal. Levys Arbeiten bieten jedoch einen weiteren Beitrag zur Schizophrenieforschung, der bisher kaum näher betrachtet wurde. Besonders die Autoren Silverstein und Uhlhaas (2004), Uhlhaas und Mishara (2007) sowie Stemberger (2000, 2011a, 2011b, 2010) zeigen mit ihren Rückbezügen auf erste Arbeiten der Gestalttheorie, wie hilfreich und wichtig die Beschäftigung mit frühen Konzepten sein kann. In diesem Sinne geht die Erforschung von Levys Konzepten auch mit einer Kritik der aktuellen Forschungspraxis einher, in der scheinbar veraltete Konzepte kaum Beachtung finden. Wer in der Psychologie wissenschaftlichen Erfolg haben will, muss neue Konzepte und Theorien aufstellen. Damit entsteht eine stellenweise bruchstückhafte und redundante Theorienlandschaft. Übergeordnete Theorien und Modelle werden zur Seltenheit (Cannon, 2009). Dabei lohnt ein Blick in die Wissenschafts- und Theoriegeschichte, um scheinbar veraltete Konzepte auf ihre aktuelle Gültigkeit und Nutzbarkeit hin zu prüfen. Der Forschungsbereich der Psychologiegeschichte ist immer noch wenig entwickelt, bietet aber wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung von Theorien und für das Fach insgesamt (vgl. Lück, 2009, S. 11–13). Zudem ermöglicht er eine fundierte Auseinandersetzung mit Entwicklungen und Fehlentwicklungen des Faches. Auch werden Forscherinnen

Begründung und Zielbestimmung

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und Forscher sowie deren Konzepte in einen Bedeutungszusammenhang gestellt, der neue Einsichten, sowohl in die Prozesse der Wissenschaft als auch in die Forschungsinhalte selbst, schafft. Anspruch dieser Arbeit ist die Aufarbeitung und wissenschaftliche Einordnung Levys bisher kaum wahrgenommener und wenig beachteter gestalttheoretischer Konzepte und Ansätze zum Verständnis der Schizophrenie. Ziel ist es, die wissenschaftliche Rezeption dieser Konzepte nachzuzeichnen und zu analysieren. Dabei sollen die Konzepte in ihren personalen, sozialen und historischen Zusammenhängen dargestellt und in ihrer Bedeutung für die vergangene und aktuelle Schizophrenieforschung untersucht und eingeordnet werden.

2.

Fragestellung und grundsätzliches Vorgehen

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll den folgenden Fragestellungen nachgegangen werden. 1. Welche Konzepte entwickelte Levy bezogen auf die Pathologie der Schizophrenie? 2. Welche Aspekte dieser Konzepte wurden in nachfolgende Psychopathologietheorien der Schizophrenie integriert? 3. Welche Aspekte dieser Konzepte sind verloren gegangen jedoch relevant für die heutige klinische Theorie, Praxis und Forschung? 4. Inwiefern sind Levys Konzepte zur Schizophrenie auf seine biographischen Hintergründe zurückzuführen? In einem ersten Schritt sollen die diversen Einflüsse auf Erwin Levy und sein Werk erforscht werden. Dies soll zum einen durch die Darstellung seiner Biographie im Lichte der Zeitgeschichte, kollektiver und persönlicher Lebensereignisse, privater und professioneller Beziehungen sowie beruflicher Entwicklungen geschehen. Die Biographie Levys wurde anhand von umfangreichen Recherchen und Analysen erforscht. Als Quellen dienen hierbei Briefwechsel, Zeitzeugenberichte, wissenschaftliche Publikationen sowie Archivfunde. Ein Teil der biographischen Forschung bestand aus einer Forschungsreise in die USA. Weiterhin werden die Einflüsse auf Levy durch eine Darstellung und Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gestalttheorie untersucht. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf theoretische Einflüsse und Voraussetzungen für seine Forschung gelegt. Zusätzlich wird die Entwicklung der Schizophrenieforschung, beginnend bei Bleuler und Kraepelin, überblicksartig dargestellt. Das psychiatrische Wissen und die zeitgeschichtliche Denkweise werden hierbei in den Fokus gerückt. Ziel ist es aufzuzeigen, welche psychiatrische Weltanschauung und welches Schizophrenieverständnis zu Levys Zeit vorlagen. In einem weiteren Schritt werden die zentralen Konzepte Levys dargestellt. Dies geschieht anhand einer Auswahl seiner klinischen Schriften zu den Themen

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Fragestellung und grundsätzliches Vorgehen

Schizophrenie und Psychopathologie (Levy, 1936; 1943, 1986) sowie anhand seiner Rezensionen zu psychologischen Neuerscheinungen seiner Zeit (Levy, 1937; 1938; 1940; 1943a; 1943b). Anschließend erfolgt die Analyse des Einflusses seiner Konzepte auf die Forschungslandschaft. Dabei wird den Fragen nachgegangen, wer seine Schriften zitiert hat, wie seine Konzepte wahrgenommen wurden und wie sich die Rezeption über die Zeit entwickelt hat. Weiterhin werden alternative Theorien der Schizophrenie dargestellt und auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Levys Ansichten hin untersucht. Danach wird exploriert, inwiefern seine Konzepte für aktuelle Fragen der Schizophrenieforschung noch relevant sind. Hierbei stellt die Analyse der Themen Früherkennung, Prävention und Psychotherapie einen Schwerpunkt dar. In einem letzten Schritt wird der Versuch unternommen, zentrale biographische Momente Levys in Verbindung zu seinen Konzepten zu setzen. Dabei soll untersucht werden, inwiefern sich Leben und Werk gegenseitig beeinflusst haben könnten.

3.

Methoden

Durch die breit gefächerten Fragestellungen wird in dieser Arbeit eine Kombination verschiedener psychologischer und psychologiehistorischer Forschungsmethoden verwendet. Zudem gibt es im Bereich der psychologischen Theorie- und Geschichtsforschung bisher keine einheitlichen Forschungsmethoden (Benjamin, 2009, S. 4ff). Vielmehr wird aktuell von verschiedenen Autoren eine Kombination aus klassisch-interpretativer Quellenanalyse und modernen softwaregestützten histographischen Forschungsmethoden vorgeschlagen (Cohen et al., 2008; Green, 2016; Fox Lee & Fox Lee, 2016). Diesem kombinierenden Ansatz wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Übergeordnet orientiert sich die methodische Konzeption der Arbeit sowohl nach den Empfehlungen für psychologiehistorische Forschungsmethoden von Helmut Lück (2009, S. 23–30) als auch den Empfehlungen von Cooper (1998) zur Theorieforschung. Lück (2009) empfiehlt auch für die Forschung zur Geschichte der Psychologie allgemeine historische Forschungsmethoden zu verwenden (siehe hierzu Borowsky, 1989; Brandt, 2007). Vorangestellt ist dabei die Methode der Hermeneutik bzw. des hermeneutischen Zirkels. Hermeneutik ist eine Theorie der Textinterpretation und des Verstehens, genauer gesagt des Verstehens von Sinnzusammenhängen in Texten (vgl. Grondin, 2009). Das Werk Levys wird also im Zusammenhang zu den ihn umgebenden und möglicherweise prägenden Situationen und Einflüssen analysiert. Dabei gilt der hermeneutische Zirkel als wesentliche Methode, wobei das Verstehen einer Kreisbewegung gleichkommt. Dies bedeutet, dass ein Teil nur in seinem Zusammenhang zum Ganzen verstanden werden kann und umgekehrt. Ganzheit und Teil stehen damit zueinander in einem Zirkelverhältnis: Sie bedingen sich gegenseitig. Die Schriften können nur verstanden werden, wenn man das Werk kennt und das Werk kann nur verstanden werden, wenn man die einzelnen Teile kennt. Weiterhin ist ein Verständnis nur unter Berücksichtigung der biographischen, sozialen, historischen und psychologischen Kontexte möglich. Es gibt bei dieser Form der Quellenanalyse keinen festen Anfang und kein definiertes

22

Methoden

Ende. Vielmehr fängt man mit einem Teil an, betrachtet diesen Teil in seinem Gesamtzusammenhang, wobei sich dieser durch die spezifische Analyse des Teils wieder verändert und erweitert. Dann schreitet man mit dem nächsten Teil fort. So entsteht bei der Analyse eine kreisförmige Bewegung, in der das Verständnis immer wieder erweitert und vertieft wird (vgl. Gadamer, 1986). Interessanterweise zeigt diese Methode Ähnlichkeiten zur gestalttheoretischen Auffassung der Beziehung von Teilen zum Ganzen. Die Konzepte der Gestalttheorie werden an späterer Stelle genauer beschrieben und erläutert. Die Konzepte Levys werden im Zusammenhang mit seiner Biographie, zeitgeschichtlichen Verbindungen und konzeptionellen Vorläufern dargestellt. Weiterhin empfiehlt Lück (2009, S. 28) eine kritische Betrachtung von Quellen. Einerseits sind Primärquellen gegenüber Sekundärquellen meist vorzuziehen, da diese weniger stark durch nachträgliche Interpretationen verfälscht sind. Andererseits haben Sekundärquellen, vor allem im Bereich der Biographien den Vorteil, dass der Verfasser einen kritischen, persönlichen und zeitlichen Abstand zum Thema einnehmen kann. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein von Quellen nicht dem Zufall geschuldet ist. Es gibt systematische Verzerrungen, da bestimmte unangenehme oder belastende Quellen verschwunden sein können, während andere sorgfältig archiviert wurden. Auch haben technische Möglichkeiten der Kommunikation einen Einfluss auf die Verfügbarkeit von Quellen. Briefwechsel lassen sich leichter klassisch archivieren als elektronisch übermittelte Nachrichten (vgl. Lück, 1991). Zusätzlich werden Zeitzeugeninterviews als Methode zur Gewinnung von Datenmaterial für die psychologiehistorische Forschung nahegelegt (Lück, 2009, S. 33 f). Diese Methode hat den Vorteil, dass Datenquellen selbst geschaffen werden. Dies ermöglicht bereits bei der Entstehung der Daten eine kritische Rolle einnehmen zu können (vgl. Lück, 1991). Lück (2009, S. 24–27) weist darauf hin, dass historische Forschung sich meist auf vier verschiedenen Ebenen bewegt. Zum einen wird Geschichtsschreibung als »Geschichte großer Männer« dargestellt. Dabei wird ein Fokus auf für die Geschichte bedeutende Personen gelegt und die Forschung folgt einem Muster, welches nahelegt, dass bestimmte Entwicklungen durch die Leistung einzelner Personen gelenkt wurden. Hier stellt sich die Frage ob andere Menschen in ähnlichen Situationen nicht auch ähnliche Veränderungen bewirkt hätten. Eine zweite Ebene stellt die Geschichtsforschung als Untersuchung von »Ideengeschichte« dar. Dabei werden eher Denkrichtungen und Schulmeinungen in ihrer historischen Entwicklung analysiert. Einzelne Personen, die den Ideen anhaften, werden vernachlässigt. Eine dritte Ebene bildet die »Problemgeschichte«. Die Psychologiegeschichte beschäftigt sich hierbei mit den großen Problemen und Fragestellungen des Faches und damit, welche Antworten und Umgangsweisen in der Psychologie entwickelt wurden. Bei dieser Form der Historiographie wird

Problemformulierung und Fragestellungen

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Geschichte eher als zirkuläres Geschehen verstanden, bei dem immer wieder auf Ausgangsfragen rekurriert wird. Die vierte und letzte Ebene ist die Geschichtsforschung als Untersuchung der »Sozialgeschichte«. Hierbei wird nach Lück (2009, S. 26) ähnlich wie bei der Ideengeschichte vorgegangen, jedoch mit dem Unterschied, dass soziale, gesellschaftliche, politische und institutionelle Bedingungen, die zu bestimmten Entwicklungen der Psychologie führten, stärker betrachtet und analysiert werden. Im Grunde ist Geschichtsforschung nie eine objektive Sammlung und Bewertung von Quellen und Fakten, sondern immer eine Rekonstruktion und damit Konstruktion von Vergangenem. Somit besteht die Wissenschaftlichkeit einer Geschichtsforschung der Psychologie darin, stringent nachzuweisen woher welche Quellen stammen, sowie Zielsetzung, Vorgehen und Schlussfolgerungen genau zu erläutern und alle vier genannten Ebenen der Geschichtsrekonstruktion kritisch zu reflektieren. Neben den allgemeinen Methoden der Geschichtsforschung der Psychologie stellt die Theorieforschung – im Sinne eines Literatur-Reviews – eine, für die Beantwortung der in dieser Arbeit aufgestellten Forschungsfragen, wichtige Methode dar. Cooper (1998) empfiehlt die folgenden Schritte bei der systematischen Aufarbeitung wissenschaftlicher Literatur : 1. Problemformulierung und Fragestellungen 2. Auswahl von Artikeln 3. Evaluation der Artikel auf ihre Wissenschaftlichkeit 4. Analyse und Interpretation 5. Verbreitung der Ergebnisse Anhand dieser Systematisierung soll im Folgenden vorgegangen werden.

3.1

Problemformulierung und Fragestellungen

Die Problemformulierung und Fragestellungen erfolgten, wie in der Forschungsbegründung beschrieben (Kapitel 1). Es wurde eine systematische Analyse aktueller Forschungsfragen der Schizophrenieforschung durchgeführt, sowie deren Verbindungen zu gestalttheoretischen Konzepten im Sinne Levys dargestellt. Dabei wurden eine Forschungslücke aufgezeigt und die Ziele, bzw. Forschungsfragen für die vorliegende Arbeit entwickelt und formuliert. Zur Erforschung der ersten drei Forschungsfragen soll, auf der Basis von Lücks Konzeption (2009), entsprechend des Schemas von Cooper (1998) vorgegangen werden.

24

3.2

Methoden

Auswahl der Artikel

Die Auswahl der Artikel erfolgte zum einen durch die Sichtung des Gesamtwerkes von Levy. Daraus wurden seine klinischen Schriften zu Schizophrenie und Psychopathologie ausgewählt. Zum anderen wurde die Methode der Zitationsanalyse nach Garfield (1979) und Nacke (1980) verwendet.

3.2.1 Die Zitationsanalyse Die Zitationsanalyse ist eine bibliographische Forschungsmethode und dient meist dem Zweck, den Einfluss eines Wissenschaftlers oder einer wissenschaftlichen Arbeit zu untersuchen. Dabei wird die Vorannahme gemacht, dass bedeutende Publikationen von anderen Autoren zitiert werden (Nacke, 1980). Ziel ist es, Verbindungen zwischen verschiedenen Personen, Themen oder Forschungsrichtungen aufzuzeigen. Eine weitere Möglichkeit der Anwendung der Zitationsanalyse ist die Untersuchung von zeitlichen Verläufen bestimmter Konzepte und Themen. Damit stellt sie auch eine für die psychologiehistorische Forschung wichtige Methode dar. Garfield (1979) entwickelte den sogenannten »Impact Factor«, der auch heute noch von großer Relevanz für den Wissenschaftsbetrieb ist (Sonuga-Barke, 2012). Er wird wie folgt berechnet (Garfield, 1979): Zahl der Zitate des Bezugsjahres auf die Artikel der vergangenen zwei Jahre Zahl der Artikel der vergangenen zwei Jahre Beispiel: In den Jahren 2013 und 2014 hat eine Zeitschrift insgesamt 130 Artikel publiziert (A). Im Jahr 2015 wurden diese Artikel insgesamt 240-mal zitiert (B). Für das Jahr 2015 ergibt sich hieraus ein Impact Factor von 1,846 (B/A). Mit dem Impact Factor geben vor allem wissenschaftliche Journals an, in welchem Ausmaß die in ihnen veröffentlichen Artikel zitiert werden, also welchen Einfluss sie auf die Forschung haben. Das Ziel der Auswahl dieser Methodik besteht zum einem in der Quantifizierbarkeit des Einflusses von Levy und seiner Konzeption der Gestalttheorie auf die Schizophrenieforschung. Hierbei soll in einem ersten Schritt (mittels der Suchmaschinen »PsychInfo«, »Web of Science« und »Google Scholar«) überprüft werden, wie oft Levys Artikel von anderen Autoren zitiert wurden. In einem zweiten Schritt wird die zeitliche Entwicklung der Zitationen untersucht. Weiterhin soll quantitativ bestimmt werden, wie viele Arbeiten sich mit Konzepten der Gestalttheorie bezogen auf Schizophrenie beschäftigt haben und welche Veränderungen sich im zeitlichen Verlauf zeigen. Dies soll durch die

Auswahl der Artikel

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Suche nach den Schlagworten »Gestalt« und »Schizophrenia« bzw. »Gestalt« und »Schizophrenie« in den genannten Suchmaschinen erfolgen. Diese Methode der Bibliometrie hat den Vorteil der Objektivierbarkeit des Einflusses einer Person oder einer wissenschaftlichen Zeitschrift auf ein Forschungsgebiet. Jedoch bringt sie auch den Nachteil mit sich, dass die Zitationen nur dann angezeigt werden, wenn die zitierenden Artikel in den jeweiligen Datenbanken vorliegen. Gerade bei Artikeln, die vor 1950 publiziert wurden, kann dies eine Verzerrung verursachen. Auch wurden vor 1950 häufig wissenschaftliche Monographien geschrieben, die selten in den Datenbanken der Suchmaschinen auftauchen (Mattern, 2002). Aus diesen Gründen muss neben der elektronischen Suche auch eine Suche in Archiven erfolgen. Dabei können im Rahmen dieser Arbeit nicht alle Archive durchsucht werden. Das psychologiehistorische Archiv der Akron University (Ohio, USA) stellt eines der größten Archive zur Geschichte der Psychologie dar und wurde deshalb auf der Suche nach Zitationen und Referenzen mit in die Analyse eingeschlossen. Damit wird der Empfehlung von Lück (2013, S. 32) gefolgt. Weiterhin wurden die Archive der New School (New York City) und der New York Public Library zur Quellensuche genutzt. Ein weiterer Kritikpunkt an der Methode der Zitationsanalyse zur Bestimmung des Einflusses eines Wissenschaftlers ist, dass sich wissenschaftlicher Einfluss nicht nur in Zitationen zeigt (Fooladi, 2013; Mattern, 2002). Vielmehr kann es zu einer Verzerrung kommen, wenn Wissenschaftler ihre Forschung sehr stark danach ausrichten, dass sie häufig zitiert werden. Weiterhin können sich Zitationszirkel bilden, wobei befreundete Forscher sich gegenseitig zitieren und Forschungskonkurrenten sich systematisch nicht zitieren (Vinkler, 1987). Vinkler (1987) untersuchte Motive von Wissenschaftlern andere Forschungsarbeiten zu zitieren, bzw. nicht zu zitieren. Ein bedeutender Grund warum Artikel nicht zitiert werden (26 %) stellt dar, dass die Theorie oder Hypothese so bekannt sei, dass sie nicht mehr zitiert werden müsse. Dies wird auch »Eingemeindung« genannt (Vinkler, 1987). In der Studie wird nicht genannt, dass Review-Artikel gegenüber einzelnen Forschungsarbeiten häufig bevorzugt werden. Insgesamt muss also bezweifelt werden, dass die Zitationsanalyse eine optimale Methode zur Bestimmung des Einflusses einer Arbeit oder eines Forschers ist. Wenn gleich sie nicht ausreicht, um den absoluten Grad der Verbreitung zu bestimmen, bietet sie jedoch zumindest einen Anhalt dafür, wie groß die Resonanz der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf ein Konzept ist. Weiterhin dient sie in dieser Arbeit als Instrument, um die Rezeption Levys abzuschätzen und Artikel zu finden, die sich auf ihn beziehen. Eine inhaltlichhistorische Analyse von Levys Einfluss schließt sich aus den oben genannten Gründen der Zitationsanalyse an.

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3.3

Methoden

Evaluation der Artikel auf ihre Wissenschaftlichkeit

Basierend auf Cooper (1987), Galvan (2006) und Fink (2013) werden folgende Kriterien zur Bewertung der Wissenschaftlichkeit der gefundenen Artikel angewendet: 1. Stringenter Quellenverweis (Aussagen werden mit wissenschaftlichen Artikeln eindeutig belegt.) 2. Impact Factor (Häufigkeit der Zitationen von wissenschaftlichen Artikeln eines Journals, proportional zu der Anzahl der publizierten Artikel.) 3. Publiziert durch Einzelperson oder Team (Es wird davon ausgegangen, dass ein Artikel der durch ein Team publiziert wurde, von höherer Qualität ist.) 4. Ausreichende Beschreibung der Methodik (Genaue Angabe der wissenschaftlichen Methoden die verwendet wurden, um zu dem dargestellten Ergebnis zu kommen.)

3.4

Analyse und Interpretation

Die Analyse und Interpretation erfolgt in Anlehnung an die Rezeptionsanalyse nach Jauß1 (1967). Der Kern der Rezeptionsanalyse liegt im Ansatz, bei der wissenschaftlichen Untersuchung eines Werks, nicht mehr so sehr auf die intendierte Aussage des Verfassers zu achten und diese zu erforschen, sondern sich mit der Geschichte der Wahrnehmung und Rezeption eines Werkes zu befassen (ebd.). Dabei ändert sich nach diesem Verständnis von Literaturrezeption die Wahrnehmung abhängig vom Zeitalter und den Kontexten in denen ein Werk rezipiert wird. Jauß befasste sich als Literaturwissenschaftler hauptsächlich mit der Rezeptionsästhetik. Mit Ästhetik meinte er, ob ein Werk beim Leser einen Horizontwandel hervorruft, also die »Erwartungen übertrifft, enttäuscht oder widerlegt« (Jauß, 1979, S. 131). Dies wäre nach seiner Auffassung ein Anzeichen dafür, dass ein Werk wertvoll und ästhetisch ist (ebd.). In dieser Arbeit liegt der Fokus auf der Analyse der Rezeption eines wissenschaftlichen und nicht eines belletristischen Werkes. Demnach ist auch die Frage nach der Ästhetik weniger von Bedeutung. Wohl aber interessiert, ob es dem Werk Levys in der Rezeption gelingt einen gewissen Horizontwandel zu 1 Hans Robert Jauß war ein bedeutender deutscher Literaturwissenschaftler, dem jedoch eine Mitgliedschaft in der Waffen-SS während der Zeit des Nationalsozialismus nachgewiesen werden konnte. Für eine ausführliche Aufarbeitung siehe Westemeier (2015).

Verbreitung der Ergebnisse

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bewirken. Die Evaluation erfolgt hierbei unter Berücksichtigung einer Kontextanalyse des zeitgenössischen Rezeptionshintergrunds. In der aktuellen Rezeptionsforschung finden sich im Wesentlichen drei verschiedene Methodendesigns (Mellmann & Willand, 2013). 1. Methode der Analyse der eigenen Rezeption Hierbei ist der Wissenschaftler gleichzeitig auch der Rezipient eines Werkes und untersucht seine eigene (oft vorbewusste) Reaktion (vgl. LeuzingerBohleber, 1996). 2. Methode der Analyse der aktuellen Rezeption – einer Einzelperson oder Gruppe – in einer Experimentalsituation Hierbei wird Versuchspersonen ein Werk gezeigt und die Rezeption dieses Werkes untersucht. Auch Ursachen für Unterschiede in der Rezeption wie Bildungshintergrund, soziale oder biographische Einflüsse finden Berücksichtigung (vgl. Gietz, Hoydt & Kuczera, 1994; Heuermann, Hühn & Röttger, 1982; Hutz, 1977). 3. Methode der Analyse der Rezeption anhand von historischen Quellen Hierbei werden historische Quellen und die Kontexte dieser Quellen untersucht, um die Rezeption zu einer bestimmten Zeit oder von bestimmten Personen zu analysieren (vgl. Füllner, 1982; Mae, 1980). In der vorliegenden Arbeit soll vor allem die Rezeption von Levys Konzepten in der Wissenschaft, insbesondere der Schizophrenieforschung, erforscht werden. Deshalb wird die dritte Methode gewählt. Die wissenschaftliche Rezeption wird anhand von Zitationen in veröffentlichten Artikeln sowie in Erwähnungen und Notizen untersucht. Die Analyse der Rezeption wird in der Untersuchung, der in der Zitationsanalyse gefundenen Verweise auf Levys Arbeiten liegen. Dabei steht die Auswertung der folgenden Punkte im Vordergrund: – Welche Forscher griffen Levys Konzepte auf ? – In welchem Forschungsbereich wurden sie aufgegriffen? – Welche Aspekte von Levys Konzepten wurden aufgegriffen? – In welchen Sinnzusammenhängen wurden diese verstanden? – Gibt es eine Veränderung der Rezeption im zeitlichen Verlauf ?

3.5

Verbreitung der Ergebnisse

Die Verbreitung der Erkenntnisse aus den Analysen wird in Form einer Veröffentlichung stattfinden.

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3.6

Methoden

Psychobiographieforschung

Die vierte und letzte Fragestellung »Inwiefern sind Levys Konzepte zur Schizophrenie auf biographische Hintergründe zurückzuführen?« soll anhand der wissenschaftlichen Methode der psychologischen Biographieforschung nach Schultz (2005) und Straub (1989) untersucht werden. Die Psychobiographieforschung widmet sich der Erkenntnisbildung durch die psychologische Analyse der Biographie von relevanten Personen (Schultz, 2005). Dies geschieht anhand einer Fallstudie, wobei im Zentrum die Bedeutung von konkreten Erfahrungen und Facetten einer Person in einem spezifischen Kontext stehen. Es wird empfohlen, unter Anwendung psychologischer Theorien und Befunde, eine bedeutende oder typische Situation, bzw. ein Thema aus dem Leben der ausgewählten Person, zu analysieren (Schulz, 2005, S. 42–63). Neben den psychologischen Theorien spielt auch die Berücksichtigung von politischen, geschichtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren eine wichtige Rolle. Laut den Grundsätzen der psychobiographischen Methode (Schultz, 2005, S. 67–80) soll dies anhand von mindestens drei der folgenden fünf Perspektiven erfolgen: 1. Unveränderbare Traitvariablen 2. Charakter (z. B. Ziele, Motive, Einstellungen, Abwehrmechanismen, internalisierte Objektbeziehungen) 3. Individuelle Erlebnisse 4. Biologie 5. Kultur Die vorliegende Arbeit wird sich primär den Punkten Charakter, individuelle Erlebnisse und Kultur widmen. Das zu analysierende Material besteht zum einen aus Informationen aus wissenschaftlichen Artikeln und zum anderen aus Archivdokumenten (University of Akron, New School, New York Public Library), Original-Briefwechseln und Zeitzeugeninterviews. Schultz empfiehlt ein zentrales Lebensmotiv oder eine repräsentative Szene aus dem Leben zu nutzen, um davon ausgehend die Biographie zu analysieren (2005, S. 49–51). Die folgenden Merkmale machen nach Schultz eine gelungene Psychobiographie aus: 1. Überzeugungskraft: Der Leser soll sich selbst ein Bild machen können und durch die Darstellung gewonnen werden. 2. Narrative Strukturen: Die Schlussfolgerungen sollen sich »natürlich« aus den Daten ergeben. 3. Verständlichkeit: Verschiedene Deutungsmöglichkeiten bieten, da Verhalten immer »überdeterminiert« ist, d. h. vielschichtige Bedeutungen hat. 4. Konvergenz der Daten: Vielfältige Daten und Datenquellen verwenden.

Psychobiographieforschung

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5. Plötzliche Kohärenz: Die besten Interpretationen machen das ursprünglich Inkohärente kohärent. 6. Logische Solidität: Freiheit von logischen Inkonsistenzen und Widersprüchen. 7. Konsistenz: Übereinstimmung mit der gesamten Bandbreite der verfügbaren Evidenz. 8. Tragfähigkeit: Fähigkeit, Widerlegungsversuchen Stand zu halten. (Schultz, 2005, S. 7)2 In der vorliegenden Arbeit stützt sich die Psychobiographieforschung auf die in Kapitel 4.1 dargestellte Biographie Erwin Levys.

2 Übersetzt durch den Autor.

4.

Einflüsse auf Erwin Levy

4.1

Biographie von Erwin Levy

Tabelle 1: Chronologischer Lebenslauf 11. 04. 1907 1925

Geburt in Graudenz (heute Grudzia˛dz, Polen) Abitur in Hamburg

bis 1931 1930–1931

Medizinstudium in Hamburg, München & Berlin Assistenzarzt an der Universitätsklinik Frankfurt

1931 1931–1933

Promotion zum Dr. med. Assistent von Max Wertheimer am psychologischen Institut der Universität Frankfurt

April 1933 1934

Emigration nach Paris Emigration nach New York

1934–1936 1934–1937

Assistenzarzt am Hastings Hillside Hospital, New York Regelmäßiger Gast in Wertheimers Seminaren

1935–1943 1936–1939

Forschungsassistent an der New School, New York Psychiatrische Facharztausbildung am Hastings Hillside Hospital, New York

1939–1941 1939

Senior Psychiater am Hastings Hillside Hospital, New York Heirat von Alice Wertheimer

16. 01. 1939 1941–1942

Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft Stellvertretender medizinischer Direktor am Hastings Hillside Hospital, New York

12. 10. 1943 1943–1946

Tod von Max Wertheimer Major im militärärztlichen Dienst der US Army

1950–1952 1968–1975

Medizinischer Direktor am Pinewood Sanatorium, Katonah, New York Professor für klinische Psychiatrie an der Mount Sinai Medical School, New York

ab 1977 1981

Konsiliartätigkeit am Beth Israel Hospital, New York Berentung

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Einflüsse auf Erwin Levy

((Fortsetzung)) ab 1981

Ehrenamtliches Engagement im Rahmen der Assistenzarztausbildung

10. 11. 1991

Tod im Alter von 84 Jahren in New York

4.1.1 Erwin Levys Herkunft und Leben in Europa Erwin Michael Levy wurde am 11. April 1907, sieben Jahre vor dem Beginn des ersten Weltkrieges, in der Stadt Graudenz geboren. Er war der älteste Sohn einer gutbürgerlichen jüdischen Familie (Wolfradt, Billmann-Mahecha & Stock, 2014, S. 274). Graudenz, die heutige polnische Großstadt Grudzia˛dz, liegt etwa 100 Kilometer südlich von Gdansk (Danzig) am Ostufer der Weichsel. Seit 1772 war sie preußisch und bis 1919 Teil des Regierungsbezirks Marienwerder in der Provinz Westpreußen. Somit gehörte die Stadt Graudenz dem deutschen Kaiserreich an und unterstand der Herrschaft der Hohenzollern. Sie war schon seit vielen Jahrhunderten eine wichtige Handelsstadt und verdoppelte ihre Einwohnerzahl zum Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung (Weise, 1981, S. 71–73). Nach Unterzeichnung der Versailler Friedensverträge im Jahre 1920 wurde Graudenz Teil des polnischen Staatsgebietes. Zur Zeit der Geburt von Erwin Levy lebten ca. 36. 000 Einwohner in Graudenz. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung war deutschsprachig. Unter ihnen lebten auch ungefähr 150 Juden. Die erste jüdische Gemeinde hatte sich dort erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts gebildet, da der Magistrat zuvor bestrebt gewesen war, die Ansiedlung von Juden zu verhindern. Die Juden Westpreußens orientierten sich eher in Richtung des Hauptgebietes des Deutschen Reiches und hatten häufig auch familiäre Kontakte nach Berlin und in andere wichtige deutsche Städte – so war es auch bei der Familie Levy. Levys Vater war der Augenarzt Erich Israel Levy. Er wurde im Mai 1871 in Mewe, dem heutigen Gniew in Polen, geboren (Stemberger, 2011a). Mewe liegt ca. 50 Kilometer nördlich von Graudenz, ebenfalls an der Weichsel. Er wurde 1933 von den Nationalsozialisten inhaftiert. Die genaueren Umstände seiner Inhaftierung sind nicht bekannt. Er sei ein patriotischer Deutscher gewesen und nach der erzwungenen Emigration in die USA so schwer deprimiert gewesen, dass er sich in Amerika das Leben nahm.3 Über den Vater ist – bis auf einige Mutmaßungen über den Verlauf seines Lebens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und seine erzwungene Emigration in die Vereinigten Staaten – leider nichts bekannt. 3 Mitteilung von Irmgard Schwarz (geb. Levy) an Gerhard Stemberger, Brief vom 03. 09. 2004.

Biographie von Erwin Levy

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Levys Mutter, Wally Sara Levy, wurde im März 1880 in Berlin in die Familie Josephy geboren. Somit war Erwin Levy auch Teil dieser bedeutenden deutschjüdischen Familie, deren Familiengeschichte bis ins Jahr 1749 im Mecklenburgischen Schwan zurückverfolgt werden kann. Es gab viele namhafte Mitglieder dieser Familie, von denen einige als Ärzte, Schriftsteller und Juristen berühmt wurden (vgl. z. B. Hermann Josephy, Carl Josephy und Franz Josephy). Beispielsweise war Erwin Levys Urgroßmutter eine Cousine von Heinrich Heine (Schröder & Katschke, 2012). Erwin Levy war der Neffe des berühmten Psychologen-Paares Clara und William Stern. Clara Stern, seine Tante, war die Schwester von Levys Mutter. Somit war er auch Cousin des Philosophen und Schriftstellers Günther Anders (Stern), der später die Philosophin Hannah Arendt heiratete. Diese Ehe hatte jedoch nur kurze Zeit Bestand. Auch war Levy Großcousin des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin, der sich vermutlich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou das Leben nahm (Fuld, 1990, S. 124). Die Cousine Levys, Eva Michaelis Stern, war die jüngste Tochter von William und Clara Stern und wurde später als Retterin tausender jüdischer Kinder bekannt. Sie half diesen Kindern aus Nazi-Deutschland nach Palästina überzusiedeln. Dabei stand sie unter strenger Beobachtung der Gestapo, die sie nur deshalb nicht verhaftete, weil zu Beginn der Naziherrschaft die freiwillige Emigration der Juden befürwortet wurde. Hilda Stern, die Schwester von Eva und Günther, wurde vorübergehend von den Nationalsozialisten inhaftiert, weil sie Aktivisten im Widerstand zu verstecken versuchte. Nach ihrer Freilassung 1937 gelang ihr die Flucht in die USA (Kadosh, 2009). William und Clara Stern stammten aus gutbürgerlichen, assimilierten jüdischen Familien in Berlin. Sie gelten als Begründer der Intelligenzforschung und prägten den Begriff des Intelligenzquotienten. William Stern war gegenüber der Freudschen Psychoanalyse kritisch eingestellt. Er vertrat eher ein personalistisches Wissenschafts- und Menschenbild, da er die Freiheit der Entscheidung und die Verantwortlichkeit des Einzelnen für das eigene Handeln als Grundprinzip des menschlichen Lebens voraussetzte (Tschechne, 2010). William und Clara Stern sollen auch im Hause der Familie Levy oft ein- und ausgegangen sein. Daher ist anzunehmen, dass Levy schon als Knabe mit der Psychologie in Berührung kam (Stemberger, persönliche Mitteilung, April 2015). Aus einem Antwortbrief Levys an Dr. K. R. Eissler, den ehemaligen Leiter des Sigmund Freud Archivs in New York (1982), ist zu entnehmen, dass Levys Mutter vor ihrer Eheschließung den Wunsch hatte, Sigmund Freud zu konsultieren. Sie soll 1906 nach Wien gereist sein um Freud aufzusuchen. Levy schrieb, dass sie sich allerdings nach ein oder zwei Sitzungen entschlossen habe, die Analyse bei Freud nicht fortzusetzen. Den genauen Grund für das Aufsuchen Freuds, bzw.

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Einflüsse auf Erwin Levy

für den Entschluss, die Behandlung nicht weiterzuführen, beschrieb Levy nicht. Anscheinend hatte Eissler Levy angeschrieben, um mehr über die näheren Umstände des Besuchs seiner Mutter bei Freud zu erfahren. Levy äußerte jedoch Eissler gegenüber Bedenken und wollte ihm keine weiteren Informationen über seine Mutter geben. Er verwies auf die ärztliche Schweigepflicht zwischen Freud und seiner Mutter. Erwin Levy hatte zwei jüngere Schwestern. Hella Sara wurde im August 1912 und Irmgard Sara im Februar 1914 geboren. Beide Schwestern kamen ebenfalls in Graudenz zur Welt. Hella wurde 1942 von den Nationalsozialisten ermordet4 ; Irmgard wurde später auch unter dem Künstlernamen Irmgard Andersen im Exil in den Niederlanden bekannt. Ihr gelang kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Flucht in die USA, wo sie in die Familie Schwarz einheiratete (Stemberger, 2011a).

Abbildung 1: Familienstammbaum von Erwin Levy (Eigene Darstellung)

Levy besuchte humanistische Gymnasien in Graudenz, Aachen und Hamburg (Stemberger, 2011a). Vermutlich erlebte er den ersten Weltkrieg, sieben bis elfjährig, in Graudenz. Anders als in Ostpreußen gab es in den westpreußischen Gebieten keine bedeutenden Kriegsschlachten (Boockmann, 1992). Es ist jedoch denkbar, dass die Bildung des polnischen Korridors 1920, in dessen Gebiet auch Graudenz fiel, zu dem Umzug der Familie Levy nach Aachen beigetragen haben könnte. Die polnischen Forderungen nach einem Zugang zum Meer bestanden 4 Mitteilung von Irmgard Schwarz (geb. Levy) an Gerhard Stemberger, Brief vom 03. 09. 2004.

Biographie von Erwin Levy

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schon seit Kriegsbeginn 1914. Bereits vor der Abtretung dieser Landstriche an Polen herrschte in den Gebieten des späteren polnischen Korridors eine deutliche antideutsche Stimmung. Tausende Deutsche verließen das Gebiet schon 1919, da der Verlust zuvor genossener Privilegien bevorstand. Wegen des, im alltäglichen Leben in Polen deutlich spürbareren Antisemitismus emigrierten auch insbesondere viele deutsche Juden aus dem Korridor nach Deutschland (Boockmann, 1992) – wie eben die Familie Levy. Über Levys Schulzeit ist sonst weiter nichts bekannt. Im Jahr 1925 bestand er 18-jährig das Abitur in Hamburg und begann wenig später ein Medizinstudium an der dortigen Universität. Anschließend studierte er in München und schließlich in Berlin, wo er 1931 promovierte (Stemberger, 2011a). Levy wählte also den Beruf seines Vaters und wurde ebenfalls Arzt. Er lebte in den sogenannten goldenen Zwanziger-Jahren in Berlin. 1920 stieg die Stadt sprunghaft auf 3,9 Millionen Einwohner und war flächenmäßig die drittgrößte Stadt der Welt (Büsch & Haus, 1987, S. 13f). Über den Verlauf seines Studiums dort ist im Einzelnen nichts bekannt. Während seiner Berliner Zeit war auch der Mediziner, Psychotherapeut und Anthropologe Dr. Victor Emil von Gebsattel an der Charit8 in Berlin tätig (Scheible, 2008), dessen Vorlesungen Levy besucht haben könnte. Außerdem ist anzunehmen, dass Levy Kontakte zur Berliner psychoanalytischen Gesellschaft gehabt haben könnte. Levy gab an, Bekanntschaft mit Max Wertheimer, einem der Begründer der Gestalttheorie, über den im Verlauf dieser Arbeit ausführlich gesprochen werden wird, erst in Frankfurt gemacht zu haben (Luchins, 1987). Wertheimer lehrte als außerordentlicher Professor für Psychologie von 1922 bis 1929 an der Berliner Universität. 1931 schloss Levy sein Studium in Berlin mit einer Promotion zum Thema »Arbeitsumsatz bei Myxödem und Magersucht« (Levy, 1931) ab, in der er sich mit dem menschlichen Stoffwechsel beschäftigte. Sein Praktisches Jahr absolvierte Levy von 1930 bis 1931 am Universitätsklinikum in Frankfurt. Max Wertheimer, der dort seit 1929 als Professor für Psychologie tätig war, stellte Levy als seinen Assistenten ein (Stemberger, 2011a). Levy, wie auch der zukünftige Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger, arbeitete bis 1933 bei ihm. Aus dem Brief von Levy an Luchins (Luchins, 1987, S. 75) geht hervor, dass er in Frankfurt vor allem mit dem türkischstämmigen Gestaltpsychologen Mümtaz Turhan zusammengearbeitet hat. Turhan kam aus der Türkei nach Frankfurt um bei Wertheimer zu promovieren. Da Wertheimer jedoch emigrieren musste, setzte Turhan seine Promotion bei Wolfgang Metzger fort (King & Wertheimer, 2005, S. 198f). Er ging später zurück in die Türkei und arbeitete dort an verschiedenen Universitäten als Psychologe (Gülerce, 2012, S. 560).

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Einflüsse auf Erwin Levy

Aus einem Brief von Levy an Wertheimer vom 20.06.19315 geht hervor, dass Levy zeitweise in einer Klinik als Arzt beschäftigt war und daneben mit Wertheimer zusammen Experimente durchführte. In dem genannten Brief berichtete Levy von einem geplanten Experiment, in dem es um Schmerzwahrnehmung und Erwartungsangst gehen sollte.6 Max Wertheimer gilt mit den genannten Personen als Gründer der Gestalttheorie, die sich zu Beginn vor allem mit der menschlichen Wahrnehmung und später auch den psychischen Prozessen des Denkens beschäftigte. Dabei lag der Fokus insbesondere auf der Entstehung von Ordnung im psychischen Geschehen. Als Leitspruch der Gestalttheorie können die Sätze: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile oder vielleicht genauer : das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile verstanden werden.7 Da Max Wertheimer eine der wichtigsten Personen für Erwin Levys berufliche Entwicklung darstellte, soll an dieser Stelle etwas genauer auf sein Leben eingegangen werden.

4.1.2 Exkurs: Max Wertheimer Max Wertheimer war ebenfalls deutscher Jude und entstammte einer angesehenen intellektuellen Familie. 1880 wurde er in Prag geboren, das damals noch zur Donaumonarchie gehörte. Dort studierte er zunächst Jura, belegte aber auch Kurse in Psychologie bei Christian von Ehrenfels. Christian von Ehrenfels gilt als Vordenker der Gestalttheorie und wurde vor allem durch sein Werk »Über Gestaltqualitäten« von 1890 bekannt (Meister, 1959). Um 1910 begann Wertheimer mit seinen grundlegenden psychologischen Studien und Forschungen, die ihn 5 Brief von Erwin Levy an Max Wertheimer, 20. 06. 1931, Wertheimer Papers, Archive der New York Public Library, New York City, USA. 6 Er beschrieb Bedenken gegenüber dem Experiment, in dem Versuchspersonen Angst und Schmerzen zugefügt werden sollten und meinte, die experimentelle Situation sei nicht mit der Wirklichkeit im Krankenhaus vergleichbar. Erstens wüssten die Versuchspersonen, dass sie an einem Experiment teilnehmen und hätten deshalb nicht die Angst, dass ihnen etwas Schlimmes angetan werde. Zweitens seien Patienten häufig so sehr an Rettung und Heilung interessiert, dass sie auch starke Schmerzen bei Untersuchungen und Behandlungen aushalten würden, ohne deutliche Angst zu empfinden. In seinem Brief schilderte er detailliert wie seiner Meinung nach der Versuchsaufbau zu gestalten sei und meinte, er würde sich um die Vorbereitungen selbst kümmern. Er wolle die Probanden einzeln in ein Zimmer holen, in dem er mit Messern und Scheren auf dem Tisch und im weißen Mantel warten würde. Dann würde er ihnen ungefährliche aber schmerzhafte Tropfen in die Augen verabreichen und unter Umständen eine Kehlkopfspiegelung durchführen, um den dadurch ausgelösten Brechreiz protokollieren zu können. Was bei diesem Experiment genau untersucht werden sollte, wer die Probanden sein würden und ob der Versuch in dieser Form durchgeführt wurde, geht aus dem Brief nicht hervor. 7 Siehe hierzu ausführlicher das Kapitel 4.2 (Anfänge der Gestalttheorie).

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dann für den Rest seines Lebens beschäftigen sollten. 1921 gründete er zusammen mit Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Kurt Goldstein und dem Psychiater Hans Gruhle die Zeitschrift »Psychologische Forschung«, die zum Haupt-Publikationsorgan der Gestalttheorie wurde. Nach seiner Tätigkeit in Berlin erhielt Wertheimer 1929 eine Berufung zum Professor an die Universität Frankfurt. An dieser Hochschule wurde fünf Jahre zuvor das Institut für Sozialforschung gegründet, welches Max Horkheimer ab 1930 leitete. In Frankfurt führte Wertheimer Experimente zu visuellen Scheinbewegungen durch. Diese Experimente bildeten die Grundlage zur späteren Gestalttheorie. Als einer der bedeutendsten Beiträge können hierbei die universellen Gestaltgesetze der Wahrnehmung verstanden werden (Lück, 2013, S. 85). Wertheimer beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Psychologie der Wahrnehmung. Er zeigte insbesondere auch großes Interesse an Zusammenhängen zwischen Psychologie und Philosophie. So diskutierte er zum Beispiel rege über das produktive Denken mit Albert Einstein, mit dem er bis zum Ende seines Lebens, auch im Exil, befreundet blieb. So geht aus einem Briefwechsel hervor, dass Wertheimer mit Einstein über den Begriff der »Axiome« diskutierte. Genauer gesagt darüber, ob Axiome in der Mathematik und in der Logik dieselbe Bedeutung haben und ob Axiome als Ganzeigenschaften von Systemen, also als strukturbildende Elemente von komplexen Netzwerken verstanden werden können.8 Auch geht aus den Archiven der New Yorker Public Library hervor, dass Wertheimer eine Ausgabe von William Sterns (dem Onkel Erwin Levys) Buch »Grundgedanken der personalistischen Philosophie« von 1918 besaß. Weiterhin wandte Wertheimer seine Erkenntnisse auf gesellschaftliche Prozesse an. Jeder sei als sinnvoll funktionierender Teil eines Ganzen und nicht nur als Individuum zu sehen (Wertheimer, 1924). Er förderte viele junge Wissenschaftler und ließ sie mit seinen Ideen und Vorarbeiten unter ihren eigenen Namen publizieren, auch ohne seinen Namen unter ihre Publikationen zu setzen (King & Wertheimer, 2005, S. 128). Levy beschrieb Wertheimers Lehrmethoden als unorthodox. Er soll zu lebhaften Diskussionen angeregt haben, die häufig auch nach den Seminaren im Kaffeehaus oder sogar bei ihm zu Hause weitergeführt worden seien (Luchins, 1987, S. 76). Levy beschrieb hier vor allem Seminare, die er »Truth Seminars« nannte. In diesen Seminaren diskutierte Wertheimer mit seinen Studenten und anderen führenden Forschern, wie Tillich, Riezler, Mannheim und Horkheimer, bedeutende Probleme der damaligen

8 Wertheimer Papers, Briefwechsel zwischen Wertheimer und Einstein, undatiert, Archive der New York Public Library, New York City, USA.

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Einflüsse auf Erwin Levy

Wissenschaft. Diese Form der Seminare sollten später auch in New York fortgeführt werden (Luchins, 1987, S. 76). Wertheimer konnte nur vier Jahre in Frankfurt tätig sein, da er 1933 fliehen musste. In diesem Jahr erhielt er ein Kündigungsschreiben von der Universität. Daraufhin emigrierte er mit seiner Familie nach Prag. Laut der Aussage seines Sohnes Michael Wertheimer9 wollte die Familie ursprünglich von Tschechien aus abwarten ob Hitler nur kurzzeitig an der Macht bleiben würde. Nachdem deutlich wurde, dass dem nicht so war, flüchtete die Familie über Österreich und die Schweiz (um Deutschland zu umgehen) nach Paris, von wo aus sie in die USA übersiedelte. Für Wertheimer stellten die Machtübernahme der Nationalsozialisten und seine erzwungene Emigration in die USA einen mehrfachen Bruch dar, da er in den USA nicht mehr experimentell arbeiten konnte, die meisten seiner Mitarbeiter verlor, auf Englisch arbeiten und publizieren musste und sich in einer schwierigen finanziellen Lage befand (Luchins, 1987). Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden deutschlandweit alle jüdischen und politisch unerwünschten Wissenschaftler und Studenten aus den Universitäten vertrieben. Auch die Universität Frankfurt, wo viele jüdische Mitarbeiter tätig waren, traf diese Veränderung sehr hart. 100 jüdische Wissenschaftler verloren dort 1933 ihre Anstellung, ca. ein Drittel aller Professoren wurden entlassen und zahlreiche Studenten exmatrikuliert (Hammerstein, 1995). Damit entstand eine nachhaltige Zerstörung der wissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Diese bezog sich auf fast alle Gebiete der Forschung, vor allem aber auch auf die Bereiche der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Diese wissenschaftlichen Disziplinen waren besonders durch jüdische Ärzte und Psychologen geprägt. Während einige der jüdischen Forscher im Ausland weiterarbeiteten, wurden diese Fächer im nationalsozialistischen Deutschland deutlich durch Rassenideologie, Euthanasie und militärische Forschung beeinflusst (Graumann, 1985). Levy half Wertheimer und dessen Familie bei der Flucht über Paris in die USA. Er organisierte in Paris ein Hotelzimmer für die Wertheimers (King & Wertheimer, 2005, S. 208) und sorgte dafür, dass der Besitz der Familie in die USA verschifft wurde. 10

9 Interview vom 04. 07. 2016. 10 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016.

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4.1.3 Erwin Levy in Amerika Auch Erwin Levy musste Deutschland verlassen. Er floh über Paris nach New York. Am 18. August 1934, einige Monate nach der Familie Wertheimer, erreichte er die Vereinigten Staaten von Amerika.11 Es lässt sich nur erahnen, was die massenhafte Emigration der europäischen Juden in die ganze Welt und zu einem großen Teil auch in die USA für jeden einzelnen von ihnen an persönlichen Schicksalsschlägen bedeutet haben mag. Das Verlassen der Heimat, das Zurücklassen von Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten in eine bedrohliche und ungewisse Zukunft sowie die erzwungene Anpassung an neue Lebensbedingungen und Sprachen ist sicherlich eine immense Herausforderung. Noch dazu war es für viele Juden keinesfalls sicher, ob sie in den Migrationsländern aufgenommen und akzeptiert werden würden. Selbst von den USA wurden Passagierdampfer, wie die »St. Louis«, voll jüdischer Flüchtlinge abgewiesen und auf die Rückfahrt nach Europa geschickt (Mautner Markhof, 2001). Besser erging es Wissenschaftlern, von denen einige, wie zum Beispiel auch Max Wertheimer, gleich zu Beginn der Naziherrschaft eine Einladung von amerikanischen Universitäten erhielten. Diese kümmerten sich dann auch um die Formalitäten der Immigration. So wie viele Millionen andere Migranten zuvor in der Geschichte der Vereinigen Staaten erreichte Levy im Sommer des Jahres 1934 die Stadt New York. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits eine der bedeutendsten Städte der Welt und umfasste eine Einwohnerzahl von knapp sieben Millionen Menschen. Im Jahre der Ankunft Levys wurde gerade der neue Bürgermeister Fiorello LaGuardia ins Amt gewählt. Nach den blühenden Zwanziger Jahren und der katastrophalen Wirtschaftskrise von 1929 war der neue Bürgermeister damit beschäftigt, die Arbeitslosigkeit und das damit verbundene soziale Elend in der Stadt mit Hilfsund Bauprogrammen zu lindern. Im Rahmen des Börsencrashes war die Arbeitslosigkeit in New York auf 25 % gestiegen und Tausende von Menschen hatten ihre Wohnungen verloren. Aus diesen Gründen wurden im Zuge der Wirtschaftskrise auch die Einwanderungsvorschriften der USA deutlich verschärft. Auch wurde die gesellschaftliche Stimmung zunehmend von antisemitischen Äußerungen und Fremdenhass geprägt (McWilliams, 1949). In New York traf Erwin Levy Max Wertheimer wieder, der dort seine Lehrtätigkeit an der New School of Social Research aufgenommen hatte und wurde erneut dessen Assistent. Die New School war 1919 in Greenwich Village, Manhattan, von amerikanischen Intellektuellen gegründet worden. Diese waren zuvor an der Columbia University beschäftigt und hatten die Entscheidung der US-amerikanischen Regierung, militärisch in den ersten Weltkrieg einzugreifen, 11 Ebd.

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kritisiert. Diese Kritik wurde durch den Präsidenten der Columbia University zensiert, was zu dem Entschluss unter den Intellektuellen führte, eine eigene Universität zu gründen. So entstand die New School, deren Ziel es war, einer breiten Bevölkerungsgruppe einen Zugang zu akademischer Bildung zu verschaffen. Mitten in Manhattan entstand ein Ort, an dem gewöhnliche Bürger sich mit Intellektuellen und Künstlern über drängende gesellschaftliche Fragen und Themen austauschen konnten. Besonders hervorzuheben sind hierbei die »General Seminars«, bei denen alle Professoren der New School anwesend waren und soziale sowie politische Themen diskutierten.12 Von Beginn an bestanden enge Verknüpfungen nach Europa und als das Ausmaß der faschistischen deutschen Regierungsmaßnahmen gegen Juden und kritisch Denkende deutlich wurde, begannen die Mitarbeiter der New School europäische und von der Verfolgung durch das NS-Regime bedrohte Wissenschaftler bei der Immigration in die USA zu unterstützen.13 Nach und nach fanden in der Fakultät für Politik und Sozialwissenschaften viele deutschsprachige und durch die Nationalsozialisten ins Exil gezwungene Psychologen, Psychoanalytiker, Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftler, wie beispielsweise Erich Fromm und Adolph Lowe, eine neue Heimat (Krohn, 1987). Insgesamt unterstützte die New School mehr als 180 Wissenschaftler mit ihren Familien bei der Übersiedlung, der Visabeschaffung und einer Anstellung. Der Vorsitzende der New School, Alvin Johnson, sammelte Spenden – vor allem auch bei der Rockefeller Foundation – um die Wissenschaftler aus den von den Nazis besetzten Gebieten zu retten.14 In dieser Zeit wurde sie auch als »Universität im Exil« bezeichnet und als Zufluchtsort für heimatlose Intellektuelle bekannt. Viele Wissenschaftler blieben an der New School, andere führten ihre Karriere an anderen universitären Einrichtungen in den USA fort (Lyman, 1994). Die Bedeutung der New School lässt sich in dem Zusammenschluss von progressivem amerikanischem Gedankengut und kritischer europäischer Philosophiegeschichte verstehen. In ihr hatte die Elite der europäischen Hochschullandschaft die Gelegenheit, fernab von Rassenideologie und politischen Zwängen, progressiv zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und Fragen zu forschen. Bereits 1935 erließ die New School in ihrer Konstitution, dass die Auswahl der Mitglieder rein aus wissenschaftlichen Gründen erfolgen sollte und Rasse, Re-

12 Graduate Faculty of Political and Social Science, General Seminar, 1942, Archive der New School, New York City, USA. 13 Constitution of the New School, 1935, Archive der New School, New York City, USA. S. 2. 14 Rede von Mary Henle über die Geschichte der psychologischen Fakultät der New School, 1979, Archive der New School, New York City, USA.

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ligion und politische Überzeugungen außer Acht zu lassen seien.15 Die New School wurde in dieser Zeit die »einzige freie deutsche Fakultät« genannt.16 Thomas Mann soll gesagt haben, dass der von der Universität Heidelberg – der ältesten deutschen Hochschule – durch die Nationalsozialisten entfernte Leitspruch »Dem lebendigen Geiste« jetzt der New School – der jüngsten amerikanischen Hochschule – zustehen würde. Aus diesem Grund wurde sie auch »Little Heidelberg on 12th Street« genannt. An der New School hielt Wertheimer viele Vorlesungen und Seminare ab (Metzger, 1976). Die ersten beiden Jahre las er sogar auf Deutsch, da er erhebliche Schwierigkeiten mit dem Englischen hatte. In seinen Vorlesungen und Seminaren warnte er vor ungenauem Denken und der Gefahr des Dilettantismus. Außerdem entwickelte er ein intensives gesellschaftliches und politisches Engagement. All dies führte dazu, dass er schnell viele neue Schüler anzog und sie zu begeistern wusste. Schließlich konnte er vielen seiner gefährdeten Kollegen aus Deutschland und Europa durch Rettungsaktionen die Einreise in die USA ermöglichen (King & Wertheimer, 2005, S. 293). Erwin Levy arbeitete zu dieser Zeit hauptsächlich als Psychiater (Stemberger, 2011a). Von 1934 bis 1937 war er jedoch immer wieder Gast in Wertheimers Seminaren und brachte Fallgeschichten von seinen Patienten ein (Luchins & Luchins, 1978a). Er wurde hierbei als durchaus diskussionsfreudiger Dozent beschrieben, der die Studenten mit unerwarteten Beispielen und kritischen Nachfragen zum Nachdenken anregen wollte. Dabei schien ihm vor allem wichtig, über den Prozess der Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu reflektieren und der Frage nach dem Sinnhaften in der vorgeblichen Psychopathologie seiner Patienten nachzugehen. Damit regte er die Studierenden an, sich mit neuen Möglichkeiten der Interpretation von scheinbar Verrücktem auseinanderzusetzen und sich in kritischer Weise zu sensibilisieren. Dies wird in seinem folgenden Kommentar deutlich: »Die scheinbare Sinnlosigkeit in der Aussage eines Patienten löst sich auf, wenn wir versuchen Situationen zu finden, in denen das Gesagte Sinn ergibt.«.17 Es ist davon auszugehen, dass Levy an der New School einen breiten intellektuellen Rahmen für seine wissenschaftliche Arbeit fand. In den »General Seminars« diskutierte Wertheimer mit anderen führenden Wissenschaftlern der Zeit. Levy betonte hierbei vor allem ein Seminar, in dem auch Karen Horney und der forensische Psychiater und Psychoanalytiker Bernard Glueck, Sr. anwesend waren, um über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gestalttheorie 15 Constitution of the New School, 1935, Archive der New School, New York City, USA. S. 1. 16 Rede von Mary Henle über die Geschichte der psychologischen Fakultät der New School, 1979, Archive der New School, New York City, USA. 17 Levy zitiert nach Luchins & Luchins, 1978b, S. 256; übersetzt durch den Autor.

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und Psychoanalyse zu diskutieren. Er bemerkte hierzu jedoch, dass dieses Seminar nicht wiederholt wurde, da Wertheimer selbst gegenüber der modifizierten Form der Psychoanalyse, wie sie Karen Horney vertrat, große Skepsis hegte. Laut Levy war Wertheimer ein erbitterter Gegner der Rolle der Sexualität in der Freudschen Psychoanalyse, hätte sich eventuell jedoch mit der Ich-Psychologie eher anfreunden können, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, diese näher kennenzulernen.18 Ab 1935 war Levy auch als Forschungsassistent in der psychologischen Graduiertenfakultät der New School tätig.19 Ein Jahr später veröffentlichte er seinen ersten Aufsatz »A Case of Mania with its Social Implications«, in dem er sich mit den psychologischen Anpassungsprozessen eines Geschäftsmannes in der Krise beschäftigte. Diesen verfasste Levy bereits auf Englisch. Der Inhalt des Aufsatzes ist sicherlich auch im Rahmen der weitreichenden Folgen der Wirtschaftskrise von 1929 zu verstehen. In den Jahren 1937, 1940 und 1943 schrieb Levy eine Reihe von Buchrezensionen über Neuerscheinungen von Karen Horney. Horney war eine bedeutende Psychoanalytikerin, die bereits 1932 in die USA emigriert war, um bei Franz Alexander in Chicago zu arbeiten (Garrison, 1981). Franz Alexander war ein Psychoanalytiker und Arzt, der sich insbesondere im Bereich der Psychosomatik einen Namen machte. Er entwickelte die »Holy Seven« als die wichtigsten sieben psychosomatischen Erkrankungen (Alexander, 1950). Karen Horney wurde vor allem für ihre Form der Neopsychoanalyse bekannt und gründete, nach verschiedenen Auseinandersetzungen in der amerikanischen psychoanalytischen Gesellschaft, gemeinsam mit anderen Neopsychoanalytikern wie Erich Fromm und Harry Stack Sullivan eine neue Gesellschaft, die »Association for the Advancement of Psychoanalysis« sowie nach weiteren Auseinandersetzungen ein eigenes neopsychoanalytisches Institut. In vielen ihrer Schriften kritisierte sie Freuds Konzepte, vor allem hinsichtlich seiner Triebtheorie und seiner Auffassung über die Frau. Die Rezensionen von Levy werden in dem Kapitel 5 (Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung) näher dargestellt. Levys Eltern hatten ebenfalls in den USA Zuflucht gefunden und lebten, wie er, in der Stadt New York (laut amerikanischer Volkszählung aus dem Jahr 1940 im nördlichen Manhattan in der Seaman Avenue). Nach dem Tod von William Stern im Jahr 1938 siedelte auch Clara Stern nach New York um und lebte fortan bei ihrer Schwester Wally. William Stern war 1934 mit seiner Familie zuerst in die Niederlande geflohen, um von dort aus 1936 in die USA zu emigrieren. Er arbeitete als Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie an der Duke University in 18 Brief von Levy an Abraham Luchins von 1969, zitiert aus Luchins, 1987. 19 Protokoll der Hochschulprofessoren-Konferenz vom 02. November 1938, Archive der New School, New York City, USA.

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North Carolina, den er bis zu seinem Tod 1938 inne hatte (Tschechne, 2010, 140ff). Levys Schwester Irmgard flüchtete ebenfalls nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. Zuerst ging sie nach Amsterdam, wo sie einige Zeit als Schauspielerin und Sängerin, vor allem in Kabarettaufführungen, tätig war. 1935 emigrierte sie ebenfalls in die USA und lebte bis zu ihrem Tod in Florida (Stemberger, 2011a). Wie alle emigrierten Ärzte musste Levy zunächst in den USA seine ärztliche Zulassung erlangen. Er arbeitete von 1934 bis 1936 am Hillside Hospital in Hastins-on-Hudson, im Bundesstaat New York. Anschließend absolvierte er dort bis 1939 auch seine psychiatrische Facharztausbildung (Stemberger, 2011a). Das Hillside Hospital wurde von der Föderation jüdischer Philanthropen gegründet und bot vor allem jüdischen Immigranten Arbeit und jüdischen Patienten eine psychologische bzw. psychiatrische Behandlung. Weiterhin war es eines der ersten psychiatrischen Krankenhäuser, das Patienten auf der Grundlage psychoanalytischer Theorien behandelte (Goldstein, 2006, S. 126). Auch heute noch ist es eines der führenden wissenschaftlichen Zentren für die Erforschung und Behandlung der Schizophrenie (ebd.). Im Hillside Hospital kam Levy auch mit neuen medikamentösen Therapieformen von psychischen Störungen, insbesondere der Schizophrenie, in Kontakt. Die von Manfred Joshua Sakel, dem Onkel des berühmten Psychotherapeuten Otto Kernberg, entwickelte Insulin-Schock-Therapie verbreitete sich ab 1936 auch in amerikanischen Psychiatrien. Sie wurde zur Behandlung von Psychosen, Depression und Drogenabhängigkeit eingesetzt und häufig auch in Kombination mit der Metrazol-Schock- und der Elektroschock-Therapie angewendet. Auch mit diesen Verfahren kam Levy dort in Kontakt (Shorter & Healy, 2007, S. 50ff), da es zu einer der ersten Anwendungen in den USA im Hillside Hospital kam. Es existiert sogar ein Behandlungsprotokoll über eine junge Lehrerin, die am 30. November 1937 mit der Diagnose Schizophrenie eingeliefert worden war. Darin wird u. a. von Levys Freundlichkeit gegenüber der Patientin berichtet. Es ist beschrieben, wie Levy die Insulintherapie durchführte und bemerkte, dass die Patientin weiterhin psychotisch blieb. Deshalb unterbrach er die Behandlung. Erst nach der Durchführung der Metrazoltherapie besserte sich ihr Zustand. Dies ließ ihn zu der Erkenntnis kommen, dass diese Therapie besser zur Linderung der Symptomatik geeignet sei. Hieraus geht auch Levys Skepsis gegenüber der Insulin-Schock-Therapie hervor (ebd.). Insgesamt lässt sich daraus ableiten, dass Levy neben dem psychologischen und phänomenologischen Verständnis seiner Patienten auch einer biomedizinisch orientierten Behandlung nicht abgeneigt war. Michael Wertheimer, Max Wertheimers Sohn, der Levy im Haus seiner Eltern oftmals erlebt hatte, beschrieb Levy als herzlichen, sehr freundlichen Mann. »Er schien weder besonders introvertiert, noch besonders extravertiert. Er wirkte

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sehr normal, nicht angespannt und zufrieden mit seinem Leben«. Michael Wertheimer schätzte ihn als einen Arzt ein, der sehr mitfühlend und respektvoll mit seinen Patienten umging – »vermutlich mehr als die meisten anderen psychiatrischen Kollegen«.20 Von 1939 bis 1941 war Levy am Hillside Hospital als Senior Psychiater tätig (Stemberger, 2011a); von 1941 bis 1942 arbeitete er dort bereits als stellvertretender medizinischer Direktor (ebd.). Levy schaffte es also an diesem Krankenhaus relativ schnell Fuß zu fassen. Aufgrund seiner Beförderungen ist davon auszugehen, dass seine Arbeit dort wertgeschätzt wurde. 1939 heiratete Levy Alice Wertheimer. Laut Aussage von Michael Wertheimer21 war Alice jedoch nicht mit der Familie von Max Wertheimer verwandt. Sie kam ebenfalls ursprünglich aus Deutschland, weshalb im Hause der Levys Deutsch gesprochen wurde. Michael Wertheimer beschrieb Alice als schlanke zierlich Frau mit einem guten Sinn für Humor. Die Ehe der beiden sei harmonisch, liebevoll und mit viel »Witz« gewesen. Alice soll ihren Mann häufig »Professorchen« genannt haben (ebd.). Levy verfasste kurz vor seiner Hochzeit einen Brief an Michael Wertheimer – der als elfjähriger Junge eine Familien-Zeitung – »The Wertheimer Times« – schrieb, in der er bedeutende Ereignisse der Familie als Zeitungsartikel aufzeichnete. In dem Brief an Michael Wertheimer schrieb Levy, dass er Alice heiraten würde, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Laut Michael Wertheimer sei diese Aussage jedoch als Witz zu verstehen (ebd.). Die Eheschließung mit Alice fand am 16. Januar 1939 in der New York City Hall statt. Knapp einen Monat zuvor hatten sich die beiden verlobt. Die Eheleute verreisten am Tag nach der Hochzeit nach Paterson, New York und verbrachten dort ihre Flitterwochen. Wohnhaft waren die Levys zu dieser Zeit in einem Cottage in der Nähe des Hillside Hospitals (ebd.). Zu seiner Frau Alice Levy ist sonst weiter nichts bekannt. Am 13. Juli 1939 erlangte Erwin Levy die amerikanische Staatsbürgschaft. Auch von diesem Ereignis berichtete er Michael Wertheimer in einem Brief. Anwesend gewesen seien ein Richter, ein Würdenträger, der eine schöne Rede über die Privilegien und Verpflichtungen eines amerikanischen Bürgers gehalten habe und zwei Zeugen, bei denen es sich um Kollegen aus dem Hillside Hospital gehandelt habe.22 Michael Wertheimer erinnerte, dass Levy sehr stolz auf die Erlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft gewesen sei. Bis zum Tod Levys unterhielten die Kinder der Wertheimers eine enge Beziehung zu ihm. Der Kontakt zu seiner Frau Alice bestand sogar über Levys Tod hinaus (ebd.). 20 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016; übersetzt durch den Autor. 21 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016. 22 Brief von Erwin Levy an Michael Wertheimer, 1939.

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Die darauffolgenden drei Jahre war Erwin Levy im militärärztlichen Dienst der US Army (medical corps) im Rang eines Majors tätig.23 Mit welchen Aufgaben er dort genau betraut wurde ist nicht bekannt. Die medical corps sind eine Institution der US-Armee bei der, vom Militär ausgebildete Ärzte, aber auch vormals zivile Ärzte in speziellen medizinischen Zentren oder Krankenhäusern Angehörige des Militärs ärztlich versorgen (Ginn, 1997). Es ist anzunehmen, dass Levy US-Soldaten psychiatrisch betreute und behandelte. Am 12. Oktober 1943 verstarb sein Mentor und Förderer Max Wertheimer im Alter von nur 63 Jahren plötzlich. Laut der Mitteilung seines Sohnes Michael Wertheimer stand Levy bis zu Wertheimers Tod in gutem, auch privatem Kontakt zu Max Wertheimer.24 Mit Max Wertheimers Frau, Anna Wertheimer, bliebt Levy bis zu deren Tod über 45 Jahre in persönlichem Kontakt.25 Nach dem Tod Wertheimers war Levy vermutlich nicht mehr an der New School tätig.26 In dieser Zeit veröffentlichte Levy seine zweite Publikation in den USA »Some Aspects of the Schizophrenie Formal Disturbance of Thougth« (1943), in der er sich mit den Denkprozessen von schizophrenen Patienten in Bezug auf die GanzBeziehung zur phänomenalen Umwelt befasste. Er stellte die These auf, dass auch psychopathologisch gestörtes Denken von Menschen immer in Bezug zu deren Umfeld steht. Der Fokus der Arbeit liegt darauf, Sinn und Sinnhaftigkeit im Erleben von Patienten zu erkunden. Bezogen auf das Verständnis der Psychopathologie von schizophren Erkrankten hat diese Arbeit die größte Bedeutsamkeit. Aus diesem Grund wird hierauf an anderer Stelle näher eingegangen. Nach der Erlangung seines Facharzttitels in den USA arbeitete Levy in seiner Privatpraxis, die als Hauptquelle seiner Einkünfte diente. Parallel dazu hatte er diverse Anstellungsverhältnisse. 1950 trat er eine Stelle als klinischer Direktor am Pinewood Sanatorium, Katonah, NY, an, die er zwei Jahre lang innehatte (Stemberger, 2011a). Katonah ist eine Kleinstadt im Bundesstaat New York und liegt ca. 65 Kilometer nördlich von Manhattan. Ob Levy in dieser Zeit in Manhattan wohnhaft blieb ist nicht bekannt. Mindestens seit 1956 lebte er mit seiner Frau in einem kleinen, fünfgeschossigen Haus in der Upper East Side, Manhattan. Seine Adresse war 68 East 79th Street, New York. Er lebte also in einem eher wohlhabenden Bezirk New Yorks, in dem auch viele Bürgerliche, Intellektuelle und Psychoanalytiker lebten 23 Angaben zu Levys bisherigen Beschäftigungsverhältnissen in: For the Relief of Certain Aliens, 1956, Congressional Serial Set, House of Representatives, 864, 85 1–5, S. 34. 24 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016. 25 Brief von Levy an Karen Watkins (Tochter von Michael Wertheimer), 1981. 26 Protokoll der Hochschulprofessoren-Konferenz 30. Oktober 1943, New School Archives, New York City, USA. Nach dem Tod von Max Wertheimer wird Erwin Levy nicht mehr in den Protokollen erwähnt.

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und arbeiteten.27 Seine Wohnung befand sich in unmittelbarer Nähe zum Central Park, zwischen Park Avenue und Madison Avenue. 1956 veröffentlichte Levy den Aufsatz »Some Problems Concerning Ethics and the Superego«, in dem er der Entwicklung des Gewissens auf den Grund ging und dieses von der Freudschen Auffassung des Über-Ich abgrenzte. 1968 veröffentlichte er »Is Scientific Treatment of Goal-Directed Behavior Possible?«. In diesem Aufsatz beschäftigte er sich mit der Frage der wissenschaftlichen Erklärbarkeit von zielgerichtetem Handeln im Vergleich zur klassischen Auffassung des Kausalprinzips. Im gleichen Jahr wurde Levy von dem »National Council of Jewish Women« um Hilfe gebeten.28 Diese Organisation jüdischer Frauen engagierte sich seit Beginn der Judenverfolgung in Europa u. a. im Bereich der Hilfe für jüdische Frauen und Kinder, die vor dem Holocaust geflohen waren oder diesen überlebt hatten. Sie bat um eine psychiatrische Stellungnahme zur Person, zum Krankheitsbild und zur Prognose einer jüdischen Immigrantin, die abgeschoben zu werden drohte.29 Von 1968 bis 1975 war Levy als Berater an der Mount Sinai Medical School in Manhattan tätig (Stemberger, 2011a). Die medizinische Hochschule war zehn Jahre zuvor, im Jahre 1958, gegründet worden. Sie war von Beginn an eng mit 27 Henry Zvi Lothane (In New York lebender Psychoanalytiker und Zeitgenosse von Levy) Interview vom 28. 06. 2016. 28 For the Relief of Certain Aliens, 1956, Congressional Serial Set, House of Representatives, 864, 85 1–5, S. 33. 29 Frau Grunbaum war im Juli 1949 zusammen mit ihrem Sohn in die USA eingereist. Ursprünglich kam sie aus Polen, lebte in Wien und später als Flüchtling in der Schweiz. Große Teile ihrer Familie sowie auch ihr Sohn waren bereits amerikanische Staatsbürger. Nach ihrer Ankunft in den USA wurde sie jedoch psychisch krank. 1951, während sie sich in psychiatrischer Behandlung befand, wurde sie von der amerikanischen Einwanderungsbehörde wegen des Vorwurfes, durch ihre Erkrankung das öffentliche Gesundheitssystem zu belasten, festgenommen – mit dem Ziel sie auszuweisen. Weiter wurde ihr vorgeworfen, schon vor der Einreise in die USA Anfälle von Wahnsinn gehabt zu haben. Das Komitee zur Hilfe von im Ausland Geborenen, eine Unterabteilung des National Council for Jewish Women, reichte beim US-Kongress eine Beschreibung der Situation von Frau Grunbaum, Beweise, dass sie ihre Krankenhausrechnungen selbst zahlen würde, sowie die psychiatrische Stellungnahme von Erwin Levy, ein. Er schrieb hierin, dass Frau Grunbaum zwar wiederholt unter Anfällen emotionaler Störungen gelitten habe, sie deshalb jedoch nicht als chronisch und durchgängig psychisch krank beschrieben werden könne. Sie habe zu jener Zeit emotionaler Schwierigkeiten, professionelle Hilfe aufgesucht und sich behandeln lassen. Zwischen den Ausbrüchen ihrer Erkrankung sei sie gesund gewesen und habe sich selbst versorgen können. Weiter betonte Levy, dass ihre gesamte Familie in der Stadt New York wohnen würde und dass sich die Abschiebung sowie die damit erzwungene Isolierung von ihrer Familie, von einem medizinischen Standpunkt aus, desaströs auf ihren psychischen Zustand und ihre Genesung auswirken würde. Es wäre aus seiner Sicht unmenschlich und würde ihre allgemeine Prognose sehr verschlechtern (For the Relief of Certain Aliens, 1956, Congressional Serial Set, House of Representatives, 864, 85 1–5, S. 35).

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dem 1852 gegründeten Mount Sinai Hospital verbunden. Bereits kurz nach der Gründung erlangte die Medical School in den gesamten USA einen exzellenten Ruf als medizinische Hochschule und wurde als eine der führenden ärztlichen Einrichtungen bekannt. Ab 1977 war Levy als Berater am Beth Israel Hospital in der Stadt New York tätig (Stemberger, 2011a). Beth Israel ist Hebräisch und bedeutet »Haus Israel«. Das Krankenhaus wurde 1890 von einer Gruppe orthodoxer Juden im südlichen Manhattan gegründet. Ursprüngliches Ziel war vor allem die Versorgung jüdischer Immigranten. In den Krankenhäusern New Yorks wurden zu dieser Zeit nur Patienten behandelt, die bereits länger als ein Jahr in der Stadt waren (Kraut & Kraut, 2006). Als Levy 1977 seine Tätigkeit als Psychiater aufnahm, war das Krankenhaus jedoch schon in die Regelversorgung aller Patienten eingegliedert. 1988 hatte das Beth Israel das größte Netzwerk zur Versorgung Heroinabhängiger der gesamten Vereinigten Staaten. In insgesamt 23 Einrichtungen versorgte das Beth Israel zu dieser Zeit ca. 7.500 Heroinabhängige (Halasz, 1989, S. 98ff). Neben diesen institutionellen Tätigkeiten führte Levy weiterhin seine psychoanalytische Privatpraxis, mit der er seinen Lebensunterhalt über die Jahre hauptsächlich bestritt. Allerdings absolvierte er keine klassische Ausbildung zum Psychoanalytiker, sondern lediglich eine sechsjährige Lehranalyse bei einem Analytiker in New York, der leider unbekannt geblieben ist (Stemberger, 2011a). Beim New York Psychoanalytic Institute ist Erwin Levy nicht bekannt.30 Im Rahmen seiner Tätigkeit als Psychotherapeut erarbeitete Levy sich eine eigene Verbindung von Gestalttheorie und Psychoanalyse (vgl. Waldvogel, 1992, S. 52; Levy, 1936, 1943, 1956). Ähnlich wie Erika Oppenheimer-Fromm, Mitbegründerin der Hypnoanalyse, ließ sich auch Levy nicht von Max Wertheimers Skepsis gegenüber der Psychoanalyse abschrecken und beschäftigte sich mit diesem Bereich der Psychologie (Waldvogel, 1992, S. 52f). OppenheimerFromm soll Levy zu seiner Anfangszeit in Amerika mit der Psychoanalyse in Kontakt gebracht haben. Er habe viel psychoanalytische Literatur gelesen und in seiner psychotherapeutischen Tätigkeit das angewandt, was ihm »zusagte und auf den gegebenen Fall passend schien«.31 Es ist davon auszugehen, dass Levy in diesem Punkt eine etwas konflikthafte Beziehung zu Wertheimer hatte. Wie bereits erwähnt, machte Wertheimer seine Skepsis gegenüber der Psychoanalyse mehrfach deutlich (vgl. Waldvogel, 1992). Sein Menschenbild war von der Auffassung eines zielgerichteten Handelns geprägt. Er fragte also weniger nach den determinierenden Faktoren, die zu bestimmtem Verhalten führen, sondern versuchte das Handeln anhand der Ziel30 Henry Zvi Lothane, Interview vom 28. 06. 2016. 31 Levy, 1990, persönliche Mitteilung an Waldvogel, zitiert nach Waldvogel, 1992, S. 52.

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bestimmung zu verstehen. Er kritisierte vor allem die Freudsche Triebtheorie als biologistisch (Luchins & Luchins, 1997). Ähnlich wie die Psychoanalyse betrachtete die Gestalttheorie sich als eine, über das Fachgebiet der Psychologie hinausgehende, Metatheorie für die Erkenntnis über die Welt und den Menschen. Levy berichtete, er habe das Gefühl gehabt, Wertheimer sei nie wirklich offen für die Psychoanalyse gewesen. Diesem habe es an praktischer Erfahrung gefehlt, die nötig gewesen wäre um diese Theorie wirklich zu verstehen. Seine oft leidenschaftlichen Gegenargumente seien eher methodologischer Natur gewesen.32 Im Gegensatz zu Wertheimer arbeitete Levy hauptsächlich als praktisch tätiger Psychiater und Psychotherapeut. Er war jeden Tag mit psychisch kranken Menschen konfrontiert, denen er eine angemessene Behandlung zukommen lassen wollte. Wertheimer hingegen war Zeit seines Lebens Grundlagenforscher und hatte als wichtigster Vertreter der Gestalttheorie seiner Zeit sicherlich eine andere Einstellung zu Fragen der Integration von Theorien in der klinischen Praxis. Da er vor allem in der beruflichen Anfangszeit von Levy und auch in den ersten Jahren nach dessen Emigration in die USA ein Wegbegleiter und Mentor für Levy war, ist anzunehmen, dass die Zuwendung Levys zur Psychoanalyse ein, eventuell etwas heikler Punkt in der Beziehung der beiden Wissenschaftler gewesen sein mochte. Vermutlich durch seine intensive berufliche Arbeit in eigener Praxis und an den genannten Institutionen, veröffentlichte Levy zu Beginn seiner Karriere nur relativ wenige Schriften. Erst ab seinem 73. Lebensjahr bis zu seinem Tod begann er sich nochmals intensiv schriftlich mit der Gestaltpsychologie auseinanderzusetzen (siehe hierzu auch Stemberger, 2011a). Seine Frau Alice soll ihn darin bestärkt haben seine Gedanken zur Gestalttheorie zu Papier zu bringen.33 Aus dieser Zeit stammen die meisten seiner Werke, in denen er sich vor allem dem »Leib-Seele-Problem« zuwandte, also der Frage nach dem Verhältnis von physiologischer und mentaler Entität (»Some Thoughts on the Mind-Body Problem«, 1980); »A Note on the Mind-Brain Problem«, 1988); »Psychobiology and the Brain-Mind-Problem«, 1990b); »Some Further Thoughts about the BrainMind-Problem«, 1991). Hierbei beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Frage ob und in welcher Form physiologische Energie (des Gehirns) in mentale Energie (des Psychischen) umgewandelt werden könnte. Das Thema der Verarbeitung und Umwandlung physischer Energie tauchte bereits in Levys Promotion auf, wobei er sich damals vor allem auf Stoffwechselprozesse in Muskeln beschränkte. Levy beschrieb sich selbst als extrem langsamen Denker und Formulierer. 32 Brief von Levy an Luchins, 1969, zitiert aus Luchins, 1987, S. 75f. 33 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016.

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Alles was er schreibe gehe durch viele Entwürfe und Revisionen. Er meinte: »Ich könnte vermutlich nicht einfach ein Mikrofon nehmen und einige Ideen hineinsprechen; das Ergebnis wäre irgendetwas zwischen inadäquat und Unsinn. Ich muss erst schreiben, dann umschreiben et cetera. Aus dem gleichen Grund vermeide ich es an Diskussionen teilzunehmen. Ich kann nicht aus dem Stand heraus denken.«.34 Nach seiner Berentung 1981 habe Levy noch einige Jahre bei der Ausbildung von Assistenzärzten mitgearbeitet. Somit sei er auf diesem Wege mit dem Krankenhaus in Verbindung geblieben. Weiterhin habe er sich einigen Publikationen gewidmet. Seine Frau Alice habe seit 1972 ehrenamtlich in einer öffentlichen Schule Erstklässler unterstützt.35 Die Eheleute berichteten in humorvoller Weise über ihr Leben: »Wir sind in guter geistiger Verfassung und lachen ein bisschen über die kleineren Handicaps des Älterwerdens«.36 Fünf Jahre später beschrieben sie sich als: »Zwei ältere Menschen, die oft an die Vergangenheit denken und sich drüber wundern, wie sich die Dinge verändern«.37 Von 1981 bis 1987 korrespondierte Levy auch mit dem gestalttheoretischorientierten amerikanischen Sozialpsychologen Solomon Asch, zumindest anfänglich bezogen auf die Übersetzung der Werke Wertheimers. Diese Briefe liegen im Archiv der University of Akron in Ohio vor und werden im Laufe dieser Arbeit erläutert. Am 10. 11. 1991 starb Erwin Levy im Alter von 84 Jahren in der Stadt New York (Zimmer, 1991). In dem Briefwechsel zwischen Asch und Levy ist von einer Bypass-Operation am Herzen im November 1986 die Rede.38 Woran Levy jedoch letztlich starb ist nicht bekannt. Bis zu seinem Tode blieb er in der Upper East Side, Manhattan wohnen. Die Levys wohnten mindestens seit 1989 in der 120 East 81th Street. Er hinterließ seine Frau Alice Levy, die nach seinem Tod sehr ernst geworden sein soll.39 Ob die Eheleute Kinder hatten ist nicht bekannt. Nach umfangreicher Recherche, die keinerlei Hinweis auf Kinder erkennen ließ, scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass dem so war. 34 Levy, 24. 01. 1983, Brief an Solomon Asch [Box No. M2868, Folder No. 7, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor. 35 Briefe von Erwin und Alice Levy an Karen Watkins (Tochter von Michael Wertheimer), 1981, 1983. 36 Ebd., 1983; übersetzt durch den Autor. 37 Ebd., 1988; übersetzt durch den Autor. 38 Levy, 17. 11. 1986, Brief an Solomon Asch [Box No. M2879, Folder No. 21, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor. 39 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016.

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Anfänge der Gestalttheorie

Die Gestalttheorie entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin. Wichtigster Schöpfer dieser – zur damaligen Zeit – neuen und provokanten Theorie war Max Wertheimer. Weitere Mitbegründer waren seine Schüler Wolfgang Köhler und Kurt Koffka sowie Kurt Lewin, einer der einflussreichsten Pioniere der Psychologie und einer der Urheber der modernen experimentellen Sozialpsychologie. Die Gestalttheorie basiert auf der Grundannahme, dass es eine Gesamtheit gibt, die sich nicht allein durch ihre Einzelteile bestimmen oder erklären lässt. Anders gesagt, bedeutet dies, dass Entitäten eine innere Struktur beherbergen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Damit wandte sich diese psychologische Theorie vor allem vehement gegen die Theorien der Assoziationspsychologie (Lüer & Spada, 1990). Die Assoziationstheorie besagt hauptsächlich, dass sich Begriffe, aber auch Gedanken, aus einzelnen Sinneseindrücken und Formen zusammensetzen. Max Wertheimer definierte die Gestalttheorie auf einem Vortrag vor der KantGesellschaft am 17. Dezember 1924 in Berlin wie folgt: »Man könnte das Grundproblem der Gestalttheorie etwa so zu formulieren suchen: Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen. Ich habe Ihnen hier eine Formel gesagt und könnte nun eigentlich enden. Denn Gestalttheorie ist dieses, nichts mehr und nichts weniger.« (Wertheimer, 1924, S. 5).

Über die Gründungszeit und den Zeitgeist dieser Schule der Psychologie berichtete Köhler im Jahre 1959 in seiner Rede vor der American Psychological Association: »Es gab […] eine große Welle der Erleichterung – als ob wir aus einem Gefängnis entflohen wären. Das Gefängnis war die Psychologie, so wie sie zu der Zeit an den Universitäten gelehrt wurde, als wir noch studierten. Gleichzeitig waren wir schockiert von der These, dass alle psychologischen Fakten […] auf beziehungslosen, trägen Atomen beruhen sollten und dass die einzigen Faktoren, die diese Atome miteinander kombinierten und dadurch Handlungen hervorriefen, Assoziationen waren, die durch bloße Nachbarschaft entstanden.« (Köhler, 1959, zitiert nach Harrington, 2002, S. 197).

In diesem Zitat zeigen sich die Neuartigkeit der Theorie und die Begeisterung der frühen Gestalttheoretiker. Der Erfolg dieser neuen Schule der Psychologie lässt sich eventuell aber auch im Lichte der damaligen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Situation erklären. Schon in der deutschen Romantik bestand ein großes Interesse darin, Sinn und Ordnung in der Natur und

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im Menschen zu suchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die Maschine als Errungenschaft, die sich mehr und mehr in der gesamten Gesellschaft ausbreitete und an Bedeutung gewann, eine Gefahr für die romantische innere Ordnung der Welt und der Dinge dar. Sie verkörperte eine Art »unnatürliche Pseudo-Ordnung«. Die Gestalt erschien als das Gegenteil des bedrohlichen Chaos, das durch den bevorstehenden ersten Weltkrieg drohte (vgl. hierzu ausführlich Harrington, 2002, S. 199–205). Dies lässt vielleicht besser verstehen weshalb diese Form der Psychologie schnell großen Anklang fand. Max Wertheimer hatte u. a. bei Christian von Ehrenfels in Prag Philosophie studiert. Dieser österreichische Philosoph, der als einer der Vordenker und Vorläufer der Gestaltpsychologie bzw. der Gestalttheorie gilt, hatte bereits 1890 einen bedeutenden Aufsatz über die Gestaltqualitäten veröffentlicht (Ehrenfels, 1890). Ehrenfels beschrieb darin, dass Elemente der Welt immer in Beziehung zueinander wahrgenommen werden. Ein Bild wird nach dieser Auffassung also nicht als Summe von einzelnen Farbpunkten gesehen, sondern die Beziehung der Farbpunkte zueinander ergibt den Gesamteindruck – die Gestalt. So kann ein Farbpunkt in einem Bild völlig anders wirken als in einem anderen Bild. Wertheimer entwickelte diese Idee weiter und untersuchte psychologische Phänomene und Gesetzmäßigkeiten mittels experimenteller Methoden. Damit wurde in Form der Gestalttheorie eine Schule der psychologischen Forschung geschaffen, in der sowohl philosophische Denktraditionen als auch naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden ihren Platz hatten. Max Wertheimers Sohn, Michael Wertheimer, beschreibt die Entwicklung der Gestalttheorie in der Biographie über seinen Vater so, dass die Assoziationisten angenommen hätten, das Ganze sei das Gleiche wie die Summe seiner Teile. Ehrenfels habe entgegnet, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile – das Ganze ist die Summe seiner Teile, plus ein weiteres Element, die Gestalt. Wertheimer hingegen habe festgestellt, dass das Ganze etwas völlig anderes sei, als die Summe seiner Teile (King & Wertheimer, 2005, S. 96). Wertheimer fasste die Gestalt als etwas auf, das seine ganz eigene Struktur besitzt. Es sei nicht möglich die Gestalt aus ihren Teilen heraus zu verstehen oder zu fassen. Im Gegenteil, er meinte, dass die Einzelteile sich nur verstehen und erklären lassen, wenn man sie als Teil der Gestalt betrachtet. Sie würden durch die Struktur der Gestalt bestimmt (Wertheimer, 1922, 1925). Zum besseren Verständnis dieser Annahme wird häufig das von Ehrenfels (1890) beschriebene Beispiel einer Melodie genannt. Demnach kann eine Melodie nicht durch die einzelnen Noten und auch nicht durch die Intervalle zwischen den Noten, aus der sie besteht, erklärt werden. Ändert man einzelne Noten oder überführt sie in eine andere Tonlage, bleibt die Melodie doch gleich. Auch bleibt sie gleich, egal ob sie mit einem Klavier, einer Trompete oder einer Geige gespielt wird. Somit ist die Melodie nach Ehrenfels (ebd.) eine Gestalt und

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auch etwas grundlegend anderes als die bloße Summe ihrer Noten (Teile). Weiterhin kann eine Melodie traurig, fröhlich oder majestätisch klingen, ohne dass es traurige, fröhliche oder majestätische Einzeltöne gibt. Ein Gesicht kann freundlich aussehen, ohne dass es freundliche Nasen, Ohren oder Haut gibt (Metzger, 1976, S. 666). Die Entwicklung und Erforschung der Berliner Schule der Gestalttheorie begann mit Wertheimers Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung. Er kreierte eine experimentelle Situation, in der links im Bild eine senkrechte Linie und rechts im Bild eine waagrechte gleichlange Linie zu sehen waren. Nun ließ er beide Stimuli abwechselnd in einem Zeitraum von ca. 60 Millisekunden aufscheinen. Die Versuchsprobanden berichteten, sie hätten eine Bewegung wahrgenommen, die in etwa einem sich bewegenden Scheibenwischer gleiche. Wertheimer nannte dieses Phänomen »Scheinbewegung« und gab ihm später die Bezeichnung »Phi-Phänomen« (Wertheimer, 1912). Das besondere an seiner Untersuchung war der Beweis, dass Bewegung unabhängig von den beobachteten Objekten wahrzunehmen war. Nicht die Objekte bewegten sich und wurden als Bewegung wahrgenommen, sondern die Relation der Objekte zueinander verursachte die Bewegung. Daraus leitete er ab, dass diese Scheinbewegung also als Gestalt verstanden werden könne. Sie sei nicht einfach nur die Summe der beiden Linien. Sie bilde eine vollkommen neue Qualität ab. Ein ähnliches Experiment bestand darin, zwei Lichtpunkte nacheinander aufleuchten zu lassen. Auch hier wurde das schnell hintereinander geschaltete Aufleuchten der beiden Punkte von den Probanden nicht als zwei Punkte, die leuchten, wahrgenommen, sondern als die Bewegung eines Punktes. Als Hinweis dafür, dass die Gestalt nicht einfach nur die direkte Sinneswahrnehmung repräsentiert, verstand Wertheimer die Beobachtung, dass sich das Phänomen der Scheinbewegung noch verstärkt, wenn die Probanden über die Funktionsweise der Bewegung aufgeklärt wurden. Dies sei auch der Grund warum Wertheimer nicht den Begriff der Wahrnehmungstäuschung verwendete (Lück, 2009). 1923 veröffentlichte Wertheimer einen Aufsatz, in dem er der Frage nachging, welche Organisationsprozesse mit der menschlichen Wahrnehmung einhergehen (Wertheimer, 1923). Seinen gestalttheoretischen Überlegungen stellte er die Frage voraus, wie man erklären könnte, dass er, wenn er aus dem Fenster schaue, Haus, Bäume und Himmel sehe. Er erläuterte, dass sein Auge 327 Helligkeiten (und Farbtöne) sehe, die wie folgt aufgeteilt seien (Haus: 190, Bäume: 90, Himmel: 117). Sein Auge würde die 327 Helligkeiten eben gerade so sehen und nicht beispielsweise in der Aufteilung 127, 100 und 100. Er nehme die Sicht aus dem Fenster in bestimmten Zusammenhängen und bestimmten Getrenntheiten wahr. Er stellte fest, dass diese Organisationsprozesse nicht seinem Belieben entsprechend herstellbar seien, sondern gewissen, unwillkürlichen Regeln folgen würden. Etwas abstrakter ausgedrückt stellt sich das Problem nach Wert-

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heimer beispielsweise wie folgt dar : Die Grundgesamtheit der Reize »a b c d e f« werde typischerweise als »a b c / d e f« und nicht als »a b / c d e f« oder »a b c d / e f« gruppiert. Die erste Gruppierungsart entspricht laut Wertheimer der natürlichen, während die zweite und dritte zwar auch realisierbar seien, jedoch nur unter bestimmten Umständen und dann mit einer Spannung einhergehend. Die Prozesse der Organisierung von Reizen untersuchte Wertheimer in empirischen Experimenten. Dabei entdeckte und entwickelte er sechs Gestaltgesetze nach denen die Wahrnehmungsorganisation abläuft. Das erste Gesetz, das Gesetz der Nähe, besagt, dass räumliche Nähe der Reize eine Zusammengehörigkeit bewirkt. Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammengehörig wahrgenommen. Das gleiche geschieht auch durch das zweite Gesetz, das Gesetz der Ähnlichkeit. Demnach werden einander ähnliche Elemente eher als zusammengehörig erlebt als einander unähnliche. Dem dritten und wichtigsten Gesetz, dem Gesetz der guten Gestalt (oder Einfachheits- bzw. Prägnanzgesetz) zufolge, werden Reize, die zusammen eine einfache (gute) Struktur ergeben, als zusammengehörig wahrgenommen. Ein Beispiel für dieses Gesetz wäre, dass die Gestalt eines Menschen in einem Baumstamm oder in einer Wolke wahrgenommen wird. Die Gestalt (der Mensch, der in dem Baumstamm oder in der Wolke gesehen wird) ist in einer einprägsamen und einfachen Struktur und trotzdem vielsagend. Das vierte Gesetz, das Gesetz der guten Fortsetzung (oder der durchgehenden Linie), besagt, dass Reize so wahrgenommen werden, dass sie eine gute Fortsetzung füreinander ergeben. Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Zwei sich kreuzende Linien werden als zwei gerade durchgehende Linien wahrgenommen und nicht als zwei Linien, die jeweils einen Knick machen, wenn sie sich berühren. Das fünfte Gesetze, das Gesetz der Geschlossenheit, gibt an, dass in Reizen Strukturen wahrgenommen werden, die eher geschlossen auf den Betrachter wirken. Der Mensch hat die Tendenz bei der Wahrnehmung Reize so zu gruppieren und zusammenzufassen, dass sie eine geschlossene Gestalt bilden. Ein Beispiel hierfür ist ein Kreis, der aus einzelnen Punkten besteht, aber als Kreis und nicht als eine Ansammlung von Punkten wahrgenommen wird. Dem sechsten und letzten Gesetz, dem Gesetz des gemeinsamen Schicksals zufolge werden Reize als zusammengehörig erlebt, die sich in eine gemeinsame Richtung bewegen. Beispielsweise werden zwei Punkte die beide nach rechts wandern als eine Einheit erlebt.40

40 Für eine genauere Erklärung der sechs Gestaltgesetze siehe z. B. Wertheimer, 1923.

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4.2.1 Wolfgang Köhler: Gestaltpsychologie und Problemlösen Wertheimers Assistent Wolfgang Köhler wandte die Erkenntnisse der Gestalttheorie auf die Bereiche des Denkens und des Problemlösens an. Interessanterweise dienten dabei nicht Menschen, sondern Affen als Probanden. Köhler wurde 1914 zum Leiter einer Forschungseinrichtung auf der Insel Teneriffa ernannt. Durch die Folgen des ersten Weltkrieges konnte dieser die Insel fast sieben Jahre lang nicht verlassen. In dieser Zeit forschte er sehr intensiv (King & Wertheimer, 2005). Wolfgang Köhler war vielleicht der naturwissenschaftlich geprägteste der drei Gestaltpsychologen. Er hatte u. a. Physik bei Max Planck in Berlin studiert und zeigte sich sehr interessiert an physikalischen Forschungsmethoden und -paradigmen (King & Wertheimer, 2005). So legte er bei seiner Arbeit in der Anthropoidenstation auf Teneriffa größten Wert auf ein durchdachtes Forschungsdesign. Er untersuchte u. a. das Lern- und Problemlöseverhalten von Schimpansen (Köhler, 1917). Dabei bestand die Experimentalsituation beispielsweise darin, dass eine Banane in einer für die Affen unerreichbaren Position befestigt wurde. Die Schimpansen bekamen zwei Stangen zu Verfügung gestellt, die jedoch einzeln nicht lang genug waren um die Banane zu erreichen. Er konnte beobachten, wie die Affen nach einigen missglückten Versuchen innehielten, bemerkten, dass man die Stangen ineinanderstecken und somit die Banane berühren und zu sich ziehen konnte. Aus dieser Beobachtung schloss Köhler, dass es sich beim Innehalten um einen Moment der Einsicht in das Problem und dessen Lösung handeln musste. Damit widersprach er deutlich der vom amerikanischen Psychologen und Begründer der instrumentellen Konditionierung, Edward Lee Thorndike, aufgestellten Theorie, dass sich Lernen und Problemlösen aus einem Prozess des Versuchs und Irrtums entwickeln (Thorndike & Gates, 1929).41 Seine Studienergebnisse widerlegten die behavioristischen Theorien. Köhler schlussfolgerte, dass die Schimpansen das Problem nicht durch ein blindes Ausprobieren lösten, sondern in der Lage waren, ein vertieftes Verständnis für das Problem zu entwickeln und es durch einen Prozess der Einsicht zu lösen (vgl. Köhler, 1917). Es 41 Thorndike war durch seine Untersuchungen mit Katzen berühmt geworden. Dabei hatte er jeweils eine hungrige Katze in einen »Problemkäfig« gesetzt, aus dem sie nur durch die Betätigung eines Mechanismus herausgelangen konnte. Die Katze zeigte scheinbar planloses Verhalten, bis sie zufällig den Hebel betätigte und so das Futter erreichen konnte. Wenn man die Katze erneut in den Problemkäfig setzte, dauerte es wieder eine Weile bis sie den Hebel betätigte. Daraus schloss Thorndike, dass es eine Lernkurve geben muss. Diese Lernkurve ist nach seiner Theorie durch das Assoziationslernen, also der Verknüpfung zwischen Reiz und Reaktion, beeinflusst. Die Stärke dieser Stimulus-Response-Verbindung wird theoriegemäß durch wiederholte Lernerfahrungen vergrößert (vgl. Thorndike & Gates, 1929).

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waren die ersten Versuche zu beweisen, dass intelligentes Handeln bereits bei Affen vorhanden ist. Damit wandte sich Köhler deutlich gegen das mechanistische und assoziationistische Menschenbild seiner Zeit. Seine experimentellen Befunde stellten einen wichtigen Erkenntnisgewinn für die Psychologie dar, was deren Menschenbild grundlegend änderte (vgl. King & Wertheimer, 2005, S. 117). Für die Fortschritte in der Entwicklung der Gestaltpsychologie hatten Köhlers Experimente große Bedeutung. Aus seinen Untersuchungen konnte auf theoretischer Ebene abgeleitet werden, dass ein Problem im Sinne der Versuchssituation als gestörte Gestalt verstanden werden kann. Das Ziel der Problemlösung, welches immanent aus dem Problem hervortritt, besteht in der Umgestaltung in eine gute Gestalt. Das Problem fordert also eine Umzentrierung und Umstrukturierung seiner Gestalt (Lüer & Spada, 1990, S. 193).

4.2.2 Max Wertheimer: Gestaltpsychologie und Denken Max Wertheimer beschäftigte sich mit ähnlichen Phänomenen wie Köhler, allerdings auf der Ebene von komplexeren Denkprozessen beim Menschen. Aus den Ergebnissen dieser Beschäftigung entstand sein bedeutendstes Werk »Productive Thinking«, das allerdings erst 1945, drei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Die wesentlichen Punkte hatte Wertheimer jedoch schon 1920 in seinem Artikel »Über Schlussprozesse im produktiven Denken« entwickelt (King & Wertheimer, 2005). Produktives Denken definierte Wertheimer als Denkprozess, der nicht ausschließlich aus der Reproduktion von bereits vorhandenem Wissen besteht. Hierbei kritisierte er die klassische formale Logik am Beispiel des so genannten Modus Barbara (»Alle Menschen sind sterblich«, »Caius ist ein Mensch« also: »Caius ist sterblich«) (vgl. Beckermann, 2003). Für ihn stellte sich die Frage, ob hierbei wirklich neues Wissen geschaffen wird – also produktives Denken vorliegt oder ob es sich lediglich um eine Wiederholung von bereits bekanntem Wissen handelt. Weiterhin kritisierte er die inhaltliche Leere dieser Theorie des Denkens und deren fehlende externe Validität. Nach seiner Sicht ist die formale Aussagenlogik nicht anwendbar auf reale Probleme der Welt und den Alltag der Menschen. Die Assoziationstheorie des Denkens kritisierte Wertheimer noch vehementer. Nach dieser Theorie entstehen gedankliche Neuheiten nur auf Grund von Zufällen. Er warf ihr vor, Denkprozesse ausschließlich als Form der gedanklichen Wiederholung oder mechanistischen Aneinanderknüpfung zu verstehen. Wertheimer selbst erklärte produktives Denken als einen Umzentrierungsprozess von vorhandenen Informationen. Dabei könnten sich manchmal in

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kurzen Augenblicken erstaunliche Fortschritte im Verständnis von Problemen entwickeln. Als Beispiel gab er die Geschichte von Carl Friedrich Gauß in der Grundschule an. Die Schüler wurden hierbei gefragt, wer dem Lehrer am schnellsten die Lösung für folgende Rechnung sagen könne: 1+2+3+4+5+6+ 7+8. Gauß soll, kaum sei die Frage beendet gewesen, seine Schreibtafel auf den Tisch gelegt haben und »Ligget se!« (»Da liegt sie!«) ausgerufen haben. Gefragt, wie er die Antwort so schnell habe errechnen können, soll er geantwortet haben: »Wenn ich alle Zahlen zusammengerechnet hätte (1+2+3 …+8), hätte es sehr lange gedauert. Aber : 1+8 = 9 und 2+7 sind auch 9 und 3+6 ebenfalls, und so weiter … Also kann man einfach 4x9 rechnen und erhält die Summe der Zahlenreihe.« (Wertheimer, 1920, S. 15). Ein weiteres Beispiel für den Prozess der Umzentrierung des Denkens aus der Geometrie, das Wertheimer anführt, ist die Berechnung der Fläche eines Dreiecks: Gegeben sei ein rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck und die Länge des Schenkels S. Nun stellt sich die Frage, wie kann die Fläche berechnet werden? Kippe man das Dreieck auf eine Seite, ließe sich leicht erkennen, dass das Dreieck der Hälfte eines Quadrates entspricht. Nun muss man nur die Länge des Schenkels quadrieren und anschließend durch 2 teilen, um die Fläche zu er2 rechnen S2 (Wertheimer, 1920, S. 14).

Abbildung 2: Berechnung der Fläche eines rechtwinkligen, gleichschenkligen Dreiecks. Anmerkungen: s = Länge des Schenkels; S2 = Fläche des Dreiecks (Eigene Darstellung) 2

Wertheimer zeigte an diesen und vielen weiteren Beispielen, dass produktives Denken immer dann geschieht, wenn die Struktur des Problems richtig erkannt, flexibel umgestaltet, umzentriert und dann neu organisiert wird. Damit dies geschehen kann, muss eine Situation, nach Wertheimer, als Ganzes wahrgenommen werden. Eine akribische Analyse der Einzelteile der Problemsituation ist nach Wertheimer nicht funktional, um das Problem zu lösen oder neue Einsichten im Sinne des produktiven Denkens zu gewinnen. Weiterhin sei es notwendig – ähnlich wie in den Gestaltgesetzen formuliert – die Gesamtsituation innerlich zu bewegen, Figur und Grund, bzw. Ganz- und Teilrelationen zu än-

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dern, um so auf neue Zusammenhänge und Lösungen kommen zu können. Durch diese Prozesse wird Wertheimers Auffassung nach, ein Problem häufig nicht einfach nur verändert oder angereichert, sondern es entsteht ein vertieftes und verbessertes Verständnis. Dies kann nach Wertheimer auch dadurch bewiesen werden, dass bei der Vorlage eines ähnlichen Problems schneller Lösungen gefunden werden (Wertheimer, 1920, 1945). Weiterhin führte er aus, dass die Umstrukturierung häufig plötzlich gelingt und mit einem »Aha-Erlebnis« verbunden ist. Dieser Prozess ist demnach vergleichbar mit dem Punkt des »Kippens« bei einer Kippfigur in der gestalttheoretischen Wahrnehmungspsychologie (ebd.). Die Umstrukturierung würde vor allem dann erfolgen, wenn die Spannung unterschiedlicher Kräfte in der Problemsituation besonders stark ist (Wertheimer, 1920, 1945). Sie führt nach Wertheimer zu der Herstellung eines Gleichgewichts der Kräfte. Mit Spannung meinte er hierbei ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Gestalten bzw. in den systemischen Beziehungen der Einzelteile einer Gestalt. Gestalten streben in diesem Verständnis immer nach Auflösung dieser Spannung. Allerdings seien sie wiederum so starr, dass diese Auflösung häufig nicht unmittelbar geschieht. Damit ähnelt Wertheimers Auffassung sehr den bereits beschriebenen Ideen von Wolfgang Köhler, bzw. seiner Kritik an Thorndike. Sowohl Wertheimer als auch Köhler gingen davon aus, dass Problemlösen und Denkprozesse nicht durch eine stetig steigende Lernkurve beschrieben werden können. Sowohl beim Menschen als auch bei Menschenaffen konnten sie sprunghafte Veränderungen und neue Einsichten in Problemsituationen nachweisen. Wertheimers Theorie des produktiven Denkens gilt in den Kreisen der Gestalttheoretiker als sein wichtigster Beitrag (Metzger, 1976, S. 670). In der übrigen psychologischen Forschungsgemeinschaft wurde jedoch das größte Interesse der Gestaltpsychologie der Wahrnehmung entgegengebracht. Darüber zeigte Wertheimer sich enttäuscht (King & Wertheimer, 2005, S. 325). Sukzessiv breitete sich nach seinem Tod die Gestalttheorie in verschiedensten psychologischen Arbeits- und Forschungsfeldern aus. Die Schüler Wertheimers führten seine Ansätze fort und entwickelten sie weiter. Karl Duncker, deutscher Psychologe und Mitbegründer der Gestalttheorie, veröffentlichte 1935 sein Buch »Zur Psychologie des Produktiven Denkens« (vgl. Duncker, 2013). Anhand zahlreicher Beispiele untersuchte er mit gestalttheoretischen Methoden komplexe Denkprozesse des Menschen. Kurt Lewin, Begründer der modernen experimentellen Sozialpsychologie und Mitbegründer der Berliner Schule der Gestaltpsychologie, (z. B. 1936, 1938) und Solomon Asch, polnisch-amerikanischer Gestaltpsychologe und Pionier der Sozialpsychologie, (z. B. 1987) entwickelten Wertheimers Ansätze weiter und wurden zu den wichtigsten Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts. Neben den

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bereits beschriebenen starken Einflüssen Wertheimers, prägten auch Kurt Lewins Forschungskonzepte und vor allem auch seine mathematisch-feldtheoretische Darstellungsform Levys Arbeiten deutlich. Zudem fand später in Levys Leben ein reger Briefaustausch zwischen ihm und Solomon Asch satt. Aus diesen Gründen soll noch näher auf die Arbeit der beiden Sozialpsychologen eingegangen werden.

4.2.3 Kurt Lewin: Gestaltpsychologie und Feldtheorie Kurt Lewin gilt als Begründer der sogenannten Feldtheorie. Lewin wurde wie Levy in Westpreußen geboren und musste auf Grund seiner jüdischen Abstammung ebenfalls in die USA emigrieren. Er lebte zuerst in New York und arbeitete später am Massachusetts Institute of Technology (Lück, 2009). Seine Konzeption der Feldtheorie kann als Versuch verstanden werden, die Gesetzmäßigkeiten und Wechselwirkungen einer Gestalt zu untersuchen. Anders gesagt, war es sein Anliegen, menschliches Erleben und Verhalten vor allem aus den Einflüssen der aktuellen Situation der Person heraus zu erklären. Dabei fokussierte er insbesondere auf die Gestaltprinzipien der psychologischen Situation. Nach Lewin ist es für das Verständnis einer Situation unerlässlich sie als Teil der psychologischen Welt eines Menschen zu begreifen: »Nie wird ein Lehrer ein Kind mit Erfolg angemessen leiten können, wenn er nicht die psychologische Welt verstehen lernt, in der das individuelle Kind lebt.« (Lewin, 1942, S. 4). Laut Lewin lassen sich durch seine psychologischen Konzepte die Kräfte erklären, die auf den Menschen in einer Situation wirken und damit schließlich auch seine Verhaltensweisen vorhersagen. Dabei empfahl Lewin bei der Analyse einer Situation immer zuerst die Gesamtsituation zu beschreiben, anstatt bei ihren Einzelheiten zu beginnen. Zum Verständnis einer aktuellen Situation nutzte Lewin sowohl die vergangene Situation als auch die zukünftige Situation. Sowohl das was soeben war, als auch das, was gleich sein wird, hat ihm nach, einen unmittelbaren Einfluss auf die aktuelle Situation. Das Gleiche gilt ebenso für längst Vergangenes und weit in der Zukunft Liegendes, auch wenn es hier vielleicht nicht sofort ersichtlich ist und einer näheren Analyse bedarf. Das psychologische Feld unterliegt einer ständigen Veränderung. Nach Lewin können frühere Ereignisse das Feld verändert haben, es muss aber auch in Betracht gezogen werden, dass neuere Faktoren diese Veränderung wiederum abgewandelt haben. Nach Lewin kann eine psychologische Situation einen so genannten »Aufforderungscharakter« haben (Lewin, 1946). Aufforderungscharakter oder »Valenz« bedeutet, dass eine Situation ein bestimmtes Verhalten nahelegt und damit beeinflusst – man fühlt sich zu einer Handlung hingezogen. Wenn jemand

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hungrig ist und einen leckeren Apfel vor sich liegen sieht, hat diese Situation den Aufforderungscharakter in den Apfel zu beißen, bzw. ihn zu essen. Der Aufforderungscharakter kann positiv (wie im Beispiel des Apfels) sein oder negativ – also eine abstoßende Wirkung haben (Lewin, 1946, S. 20). Ein Beispiel hierfür wäre eine verdorben riechende Speise – man fühlt sich von einer Handlung abgestoßen. Bezogen auf das wissenschaftliche Vorgehen zur Analyse einer Situation wies Lewin darauf hin, dass auch die Psychologie von den mathematischen Methoden profitieren könne (Lewin, 1944). Nicht nur quantitative Fragen wie die Statistik, sondern auch qualitative Fragen können nach seiner Auffassung mit mathematischen Mitteln angegangen werden. Psychologische Situationen stellte er mit Hilfe von topologischen und vektoriellen Begriffen dar und betonte, dass verschiedene Situationen nicht völlig unterschiedlich seien, sondern sich »als Folge bestimmter quantitativer Veränderungen oder als das Ergebnis wechselnder Verteilung von Kräften« ergeben würden (Lewin, 1944, S. 2). Damit sagte er, dass Situationen sich seiner Auffassung nach nicht grundlegend qualitativ voneinander unterscheiden, sondern sich durch die in ihnen wirkenden quantitativen Kräfte differenzieren lassen. Als universelle Verhaltensformel stellte er V = f(P, U) auf (V = Verhalten, f = Funktion, P = Person und U = Umwelt). Das Verhalten ist nach Lewin also eine Funktion der Person in ihrer Umwelt. Dies nannte Lewin auch »Lebensraum«. Der Lebensraum ist abhängig vom Zustand des Individuums, aber auch von sozialen und physikalischen Grenzbedingungen (Lewin, 1942, S. 3). Die Kräfte im Feld der psychologischen Situation werden nach Lewin maßgeblich durch den Aufforderungscharakter der Gegebenheiten bestimmt. Der Aufforderungscharakter wird wiederum durch die Bedürfnisse des Individuums beeinflusst. Durch die Veränderung der Bedürfnisse und der Gegebenheiten der Situation ändert sich das Feld stetig. Es kann also nicht als konstante Bedingung, sondern eher als sich wandelndes komplexes System verstanden werden (Lewin, 1944). In einem Feld können auch Konflikte auftreten, die sich aus sich widersprechenden Aufforderungscharakteren (Valenzen) ergeben. Lewin beschrieb drei Konflikte als grundlegend. Der Appetenz-Appetenz-Konflikt beinhaltet zwei sich widerstrebende positive Valenzen, die annähernd die gleiche Stärke aufweisen. Der Mensch kann sich in einer solchen Situation also nicht entscheiden, welchem der beiden Aufforderungscharaktere er sich annimmt. Der Aversions-Aversions-Konflikt beschreibt eine Situation, in der zwei gleichrangige negative Valenzen vorliegen und sich der Mensch nicht entscheiden kann, welche er vermeiden will. Der dritte Konflikt ist der Appetenz-Aversions-Konflikt. Hierbei wirken ein positiver und ein negativer Aufforderungscharakter in gleicher Weise auf eine Person ein. Nach Lewin reagieren Menschen bei be-

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Einflüsse auf Erwin Levy

sonders starken Konflikten, indem sie das Feld verlassen und somit den Konflikt umgehen (Lewin, 1938).

4.2.4 Solomon Asch: Gestalt- und Sozialpsychologie Solomon Asch wurde im selben Jahr wie Levy in Warschau geboren. Auch er war Jude und emigriere 1920 in die USA. Er arbeitete jahrelang am Swarthmore College u. a. zusammen mit Wolfgang Köhler (Lück, 2009). Asch wurde vor allem durch seine Experimente zu Konformität in Gruppen und zu Eindrucksbildung bei Personen bekannt. Er bat in seinen Experimenten Versuchspersonen, die Länge von Linien zu vergleichen. Diese Urteile sollten in einer Gruppensituation abgegeben werden. Während der Proband glaubte, die anderen Gruppenteilnehmer seien ebenfalls Probanden wie er selbst, waren es in Wirklichkeit vom Versuchsleiter instruierte Personen, die gezielt falsche Urteile abgaben. Asch konnte zeigen, dass sich die Versuchspersonen in einem nicht unerheblichen Maß von den falschen Urteilen der anderen Gruppenmitglieder zu einem inkorrekten Votum hinreißen ließen (Asch, 1951). Somit konnte Asch experimentell nachweisen, dass Menschen sich durch »Gruppendruck« zu offensichtlich unzutreffenden Urteilen bewegen lassen. In einem Experiment zur Eindrucksbildung von Personen über andere Menschen konnte Asch, ganz im Sinne der Gestalttheorie, zeigen, dass Eigenschaften einer Person in verschiedenen Kontexten den Eindruck sehr verändern können. Er zeigte den Probanden Eigenschaftswörter von einer fiktiven Person. In einer Bedingung wurde den Worten die Eigenschaft »kalt« hinzugefügt, in der anderen Bedingung die Eigenschaft »warm«. Danach sollten die Versuchspersonen diese fiktive Person in anderen Eigenschaften einschätzen. Es zeigte sich, dass die Wörter »kalt« und »warm« einen großen Einfluss auf den Eindruck hatten. Auch wurden die Eigenschaftswörter je nach Kontext unterschiedlich wahrgenommen (Asch, 1946). Zusammenfassend konnte Asch nachweisen, dass sich die Einschätzung, bzw. der Eindruck einer Person nicht summativ aus den Einzelteilen der verfügbaren Informationen zusammensetzt, sondern die Gestalt des Eindrucks mehr als die Summe seiner Teile ist.

4.3

Anfänge der Schizophrenieforschung bis 1930

Ziel dieses Kapitels ist nicht die Darstellung der gesamten Geschichte der Schizophrenieforschung, sondern lediglich der Versuch, die wesentlichen Konzepte und Ansätze aufzuzeigen, mit denen sich Erwin Levy konfrontiert sah

Anfänge der Schizophrenieforschung bis 1930

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und die sein Verständnis der Schizophrenie beeinflusst haben könnten. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Schizophreniebegriff wie er von Eugen Bleuler (1911) und Emil Kraepelin (1913) zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt wurde.42 Laut der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (Dilling, Mombour, Schmidt & World Health Organization, 2014) ist die Schizophrenie »durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmen sowie inadäquater oder verflachter Affektivität gekennzeichnet« (S. 127ff). Dabei können sich »gewisse kognitive Defizite entwickeln«. »Grundfunktionen, die dem normalen Menschen ein Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit geben«, können beeinträchtigt werden. »Die Betroffenen glauben oft, dass ihre innersten Gedanken, Gefühle und Handlungen« den Mitmenschen bekannt sind, dass diese daran teilhaben oder sie gar beeinflussen. Sie erleben sich »als Schlüsselfigur allen Geschehens«. Insbesondere akustische Halluzinationen sind häufig vorhanden. Auch die visuelle Wahrnehmung wird mit beeinflusst: »Farben oder Geräusche können ungewöhnlich lebhaft oder in ihrer Qualität verändert erlebt werden«. Unbedeutende Eigenschaften alltäglicher Dinge können wichtiger sein als die gesamte Lebenssituation. Die Betroffenen sind oft ratlos; für sie besitzen solche einzelnen Situationen eine immense Bedeutung, die sich einzig und allein auf sie bezieht. Das Denken wird »vage, schief und verschwommen«. »Nebensächliche und unwichtige Züge eines Gesamtkonzepts«, die normalerweise nur »eine geringe Rolle spielen«, rücken in den Vordergrund und werden anstelle wichtiger und situationsentsprechender Verhaltensweisen eingesetzt. Der sprachliche Ausdruck kann unverständlich sein. Brüche und Einschiebungen in den Gedankenfluss sind häufig. Gedanken scheinen wie von außen entzogen. Die Stimmung ist »flach, kapriziös oder unangemessen«. Ambivalenz und Antriebsstörungen können als Trägheit, Negativismus oder Stupor erscheinen. Katatonie kann auftreten. Solche Symptome können »akut mit schwerwiegend gestörtem Verhalten beginnen oder schleichend mit allmählicher Entwicklung seltsamer Gedanken und Verhaltensweisen« einhergehen. Der Verlauf kann unterschiedlich sein; er muss nicht unbedingt »chronisch oder sich verschlechternd« sein. Es kann auch »zur vollständigen oder fast vollständigen Heilung« kommen (ebd.). Frauen und Männer sind ungefähr gleich häufig betroffen. Die Symptome der Schizophrenie gibt es vermutlich schon seit es Menschen gibt. Auch scheinen diese Symptome in ihrer Heftigkeit und Bizarrheit die 42 Siehe Leibbrand und Wettley, 2005, »Der Wahnsinn – Geschichte der abendländischen Psychopathologie« für einen sehr ausführlichen Einblick in die Epochen der Geistesgeschichte und die jeweiligen Konzepte zu psychischen Erkrankungen.

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Einflüsse auf Erwin Levy

Menschen schon immer fasziniert zu haben. Sie wurden in der Vergangenheit häufig mit Dämonischem, Hexen und allgemein Übernatürlichem in Verbindung gebracht (vgl. Schott & Tölle, 2006, S. 19ff). Emil Kraepelin und Eugen Bleuler waren unter den ersten, die versuchten diese Symptome unter naturwissenschaftlich-psychiatrischen Gesichtspunkten zu erkunden und zu erfassen (siehe z. B. Bleuler, 1911; Kraepelin, 1920). Ausgehend von ihren Untersuchungsergebnissen und den daraus schlussfolgernden Konzepten entwickelte sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erstaunliche Breite an Theorien und Konzepten zur Schizophrenie und deren Symptomatik. Sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie und Philosophie begannen Wissenschaftler sich intensiv mit diesem Störungsbild zu beschäftigen. Im folgenden Teil sollen die wichtigsten Beiträge aus Psychiatrie, Tiefenpsychologie und Hermeneutik bis 1930 kurz dargestellt werden.

4.3.1 Psychiatrische Beiträge zur Schizophrenieforschung 4.3.1.1 Emil Kraepelin Emil Kraepelin gilt als Begründer der modernen Schizophrenieforschung, da er als einer der ersten Wissenschaftler die Schizophrenie, wie wir sie heute noch verstehen, beschrieb und als Krankheitseinheit konzipierte. Tätig war er vor allem in Heidelberg, München und Leipzig (Siefert, 1980, S. 639f). Kraepelin war sehr daran gelegen, die Symptomatik der Schizophrenie zu untersuchen und davon ausgehend verschiedene Formen der Schizophrenie zu unterscheiden. Er fasste diese klinischen Erscheinungen unter den Sammelbegriff Dementia praecox, dessen Hauptcharakteristikum die vorzeitige Demenz oder »Verblödung« sei. Aus seiner naturwissenschaftlichen Sicht heraus war für ihn die Dementia praecox eine organische Erkrankung, die durch eine »Selbstvergiftung des Organismus« bzw. durch »schwere und in der Regel höchstens teilweise rückbildungsfähige Schädigungen der Hirnrinde« zustande komme (Kraepelin, 1913, S. 43). Ausgehend von der Symptomatik unterschied Kraepelin verschiedene Formen der Schizophrenie. Er teilte sie in die paranoide, die hebephrene und die katatone Form, deren jeweiliges Wesen unverkennbar sei, da sie alle »ohne erkennbare äußere Anlässe aus inneren Ursachen entstehen […] und zu psychischem Siechtum führen«. (Kraepelin, 1919, S. 230). Die wahrscheinlich bedeutendste Errungenschaft Kraepelins bestand in der Auftrennung von Symptom und Grundstörung. Der Wahn war seiner Ansicht nach beispielsweise nun nicht mehr, wie zuvor häufig angenommen, eine Krankheitsentität, sondern lediglich ein Symptom der Dementia praecox (Kraepelin, 1919, S. 227). Für ihn

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stellte diese Störung eine biologisch begründete Krankheitseinheit dar, die zwar durch soziale Faktoren in ihrem Verlauf beeinflusst wird, aber nicht allein durch lebensgeschichtliche Bedingungen hervorgerufen werden kann (ebd.). Wohl noch bedeutsamer für die Entwicklung der Psychiatrie war seine Herangehensweise bei der Kategorisierung psychischer Erkrankungen. Anders als viele Wegbegleiter und Vordenker versuchte er nicht nur Symptome nach ihrer Ähnlichkeit zu ordnen, sondern berücksichtigte explizit Krankheitsverlauf, Krankheitsende und die damit einhergehenden Veränderungen der Symptomatik (Kraepelin, 1919, S. 226). Der Dementia praecox stellte er die Erkrankung des »manisch-depressiven Irreseins« gegenüber, bei der sich die Symptomatik wieder zurückbilde. Diese Dichotomisierung der psychiatrischen Krankheiten wird bis heute angewandt und diskutiert (Craddock & Owen, 2007). Der Unterschied der Dementia praecox zu anderen Formen der Demenz bestand für Kraepelin darin, dass die Dementia praecox bereits in einem sehr jungen Lebensalter auftrete (Kraepelin, 1920, S. 7). Interessanterweise wird behauptet, dass Kraepelin als naturwissenschaftlich orientierter Psychiater Gespräche, die Kollegen und Vorgänger mit ihren Patienten führen würden, bei seinen Patienten durch gesprächlose Beobachtungen der Symptome ersetzte (Ingenkamp, 2014, S. 129). Daher würde er diese nicht mehr als Mitmenschen erkennen, wie es nur durch Gespräche möglich wäre. Die beobachteten Symptome würden an die Stelle des Menschen mit seinen Ängsten, Erfahrungen und Gefühlen treten. Außerdem habe Kraepelin am Ende seiner psychiatrischen Laufbahn eine Degenerationslehre vorgelegt, die spätere Generationen von Psychiatern als »betont völkisch« bezeichneten (Kolle, 1956, S. 654; Maß, 2010, S. 11). So empfahl Kraepelin 1918 eine Massenzählung, um den Grad der »Entartung des deutschen Volkskörpers« abschätzen zu können. Dazu gehöre »die Feststellung der jeweils auftretenden geistigen Erkrankungen, […] Zählung der geistig Schwachen und Siechen, der Epileptischen und Taubstummen […], die Häufigkeit der Selbstmorde und Verbrechen, die Verbreitung der Landstreicherei und der Prostitution, des Alkoholismus und der Syphilis, das Ausmaß der Schulfähigkeit und Militärtauglichkeit [um] wertvolle Anhaltspunkte für die Beurteilung der Volksseele zu liefern.« (Kraepelin, 1918, S. 335). 4.3.1.2 Eugen Bleuler Eugen Bleuler entwickelte auf den Fundamenten der Ansichten Kraepelins eine ausführliche und breite Theorie dieser Erkrankung. Er war es auch, der den Begriff der »Schizophrenie« einführte, wörtlich »zerspaltene Seele« (Finzen, 2015, S. 89). Im Rahmen seiner klinischen Tätigkeit als Psychiater und als Leiter der damals als »Irrenanstalt« betitelten psychiatrischen Einrichtung Burghölzli

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in der Schweiz, befasste er sich ausführlich mit der Schizophrenie. Vor seiner Arbeit im Burghölzli lebte er zwölf Jahre lang mit psychisch Kranken im Rheingau (Leibbrand & Wettley, 2014, S. 597ff). Auch seine ältere Schwester soll noch während seiner Schulzeit an Schizophrenie erkrankt sein, was zu seinem Entschluss beigetragen haben könnte, sein Leben der Psychiatrie zu widmen.43 Seine Schizophrenielehre ist nicht nur durch einen bis zu jenem Zeitpunkt einmaligen empirischen Reichtum, sondern auch durch ihre Aufgeschlossenheit für kühne theoretische Verarbeitung gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den meisten Gelehrten seiner Zeit ging Bleuler nicht von einer klaren Trennung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit aus. Seine Arbeiten beruhten auf einer, um Details bemühten Betrachtung jedes einzelnen Patienten und dessen Entwicklung. Er beschäftigte sich vor allem mit der Wahnwelt jedes Einzelnen und der Auslegung dessen Äußerungen. Dabei vertrat Bleuler die Auffassung, dass derartige Krankheiten nicht mit blindem Aktionismus behandelt werden sollten; vielmehr sollte das Krankenhauspersonal den natürlichen Ablauf der Krankheit abwarten, wodurch seiner Meinung nach oft eine Heilung erreicht werden könnte. Nichtsdestotrotz schrieb Bleuler nach seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Direktor am Burghölzli und ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich 1911 in seinem Standardwerk »Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien«, schizophrene Menschen seien ihm fremder als die Vögel in seinem Garten. Bleulers Unterteilung der schizophrenen Symptome bestand in der Unterscheidung zwischen »Primärsymptomen« und »Sekundärsymptomen«.44 Die Idee dahinter war, dass durch die vermutlich neurologische Grunderkrankung gewisse Primärsymptome auftreten, die dann in Folge der Verarbeitung zu Sekundärsymptomen führen (Siehe Tabelle 2).

43 Vorwort von Manfred Bleuler, 1972, zur 12. Auflage von Lehrbuch der Psychiatrie, Hrsg. Manfred Bleuler, S. 5. 44 Bleuler, 2014, unveränderte Neuauflage der Ausgabe von 1911, S. 285ff und S. 288ff.

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Tabelle 2: Primär- und Sekundärsymptome der Schizophrenie nach Bleuler Primärsymptome – – – – – – –

Lockerung der Assoziation Benommenheitszustände Disposition zu Halluzinationen Tremor Pupillendifferenzierung Ödeme Katatone Anfälle

Sekundärsymptome – Zerfahrenheit, Symbolisierung, Affektstörungen – Störungen von Gedächtnis und Orientierung – Automatismen – »Blödsinn« – Wahnideen – Autismus – Unberechenbarkeit – Abulie – Negativismus – Halluzinationen, Stereotypien, Katalepsie

Später unterschied Bleuler dann zwischen Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen (Bleuler, 1916, S. 278ff und S. 286ff). Er beschrieb, dass die Grundsymptome immer und die akzessorischen Symptome nur gelegentlich auftreten würden. Weiterhin kommen sie laut Bleuler auch bei anderen Erkrankungen vor. Nach heutigem Verständnis können die Grundsymptome weitgehend als Minus- und die akzessorischen Symptome weitgehend als Positivsymptomatik verstanden werden (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Grund- und Akzessorische Symptome der Schizophrenie nach Bleuler Grundsymptome – Assoziationsstörungen (Zerfahrenheit, Gedankensperre) – Affektivitätsstörungen (Ängste, Parathymie, Affektinkontinenz) – Ambivalenz der Gefühle – Autismus (Verlust der Beziehung zur Realität) – Störungen des Willens und Handelns – Störungen der Person

Akzessorische Symptome – – – – – –

Sinnestäuschungen Wahnideen Gedächtnisstörungen Störungen der Person Störungen von Sprache und Schrift Körperliche Symptome

In Bleulers Schriften wird deutlich, dass Symptome gegliedert und geordnet werden. Damit vertrat er die schon damals weit verbreitete Auffassung, dass eine Erkrankung durch die Zerteilung in ihre Einzelteile besser verstanden werden kann. Aus heutiger Sicht scheinen Bleulers ätiologische Konzepte zur Schizophrenie mit den aktuellen Theorien zum Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Zubin & Spring, 1977) verwandt. Er schrieb schon 1911:

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»Wir müssen aber hinzufügen, dass die Voraussetzung eines physischen Krankheitsprozesses nicht absolut notwendig ist. Es ist denkbar, dass die ganze Symptomatologie psychisch bedingt sei, und dass sie sich entwickeln könne auf leichten qualitativen Abweichungen vom Normalen; etwa wie die Anlage zu hysterischen Symptomen zwar bei manchen Menschen so groß ist, dass sie bei den gewöhnlichsten Schwierigkeiten des Lebens hysterisch werden, während der Durchschnittsmensch es nur bei ganz besonderen psychischen Traumen werden kann.« (Bleuler, 1911, S. 373).

Dabei ist seine Sicht, die Schizophrenie nicht vollkommen als somatische Krankheitsentität zu verstehen, hervorzuheben. Bleuler war zudem einer der ersten Psychiater, der sich mit der Psychoanalyse auseinandersetzte und versuchte, die Theorien Sigmund Freuds in den psychiatrischen Krankenhäusern zu nutzen (vgl. Schröter, 2013, S. 50–140). Somit konnte es zu einer gewissen Synthese zwischen Schulpsychiatrie und Psychoanalyse kommen. Ungeachtet der hypothetisch-organischen Ätiologie, stellte Bleuler auch tiefenpsychologische Überlegungen an. Dabei ging er davon aus, dass ein wesentlicher Teil der schizophrenen Symptome aus »gefühlsbetonten Komplexen« abgeleitet werden könne. Damit lag es nahe, an die erstaunlichen Analogien zwischen Traum und Psychose zu denken (Bleuler, 1911, S. 375). Von der Neurosenlehre her kam die Anregung, im psychotischen Geschehen eventuell eine »Wunsch- oder Zweckreaktion« zu sehen (Bleuler, 1911, S. 347). Als ein zentrales Moment der schizophrenen Erkrankung postulierte Bleuler die Denkstörungen in Form von gestörten Assoziationen. 4.3.1.2.1 Bleulers Konzepte zur schizophrenen Denkstörung Bleuler stellte die Assoziationen als einen wesentlichen – wenn auch nicht den einzigen – Mechanismus des Denkens dar. Dabei können einfache, nicht reduzierbare Elemente, z. B. Sinneseindrücke oder psychische Inhalte wie Wahrnehmungen, Gefühle oder Ideen, unter bestimmten Bedingungen miteinander verknüpft werden. Den Assoziationsmechanismus verglich er mit der Schaltung einer elektrischen Anlage. Bestimmte Assoziationen (Schaltungen) werden aktiviert während andere gehemmt werden. So nahm er an, dass erst durch die spezifische Aktivierung von assoziativen Verbindungen und durch die Hemmung von Alternativen gesundes Denken möglich wird. Wenn jemand den Begriff Wasser im Rahmen der Chemie hört, wird er vermutlich eher an die Elemente des Wassers denken, als an einen Fluss, ein warmes Bad oder eine Überschwemmung. Der Begriff Chemie bahnt die Assoziationen zum Begriff Wasser und hemmt andere Assoziationen, die nicht in den Zusammenhang passen (Bleuler, 1916, S.15). Bleuler schrieb hierzu:

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»Das Bild der Schaltung erlaubt uns auch eine Menge anderer Phänomene, wie die Ideenflucht, die schizophrene Assoziationsstörung, die hypnotischen Erscheinungen, das Bestehen verschiedener Persönlichkeiten neben- oder miteinander in der nämlichen Psyche, die Erscheinungen des Unbewussten und eine Menge von pathologischen Symptomen, die sonst gerne geleugnet oder ungern zugegeben werden, zu erfassen.« (ebd., S. 16).

Nach Bleuler sind diese Verschaltungen bei der Schizophrenie gestört. Dies führt nach seiner Auffassung vor allem zu formalen sowie inhaltlichen Denkstörungen. Unter formalen Denkstörungen verstand er Störungen im Denkablauf (Bleuler, 1916, S. 51–70). Darunter subsumierte er : 1. Denkhemmungen: Das Denken wird gebremst, verlangsamt oder blockiert, als ob es gegen einen inneren Widerstand vollzogen werden müsse; 2. Denkverlangsamung: Das Denken verzögert sich und erscheint verlangsamt und stockend. Ein Gedanke kann nicht oder nicht sofort zu Ende gedacht werden; 3. umständliches Denken: Wesentliches kann nicht von Nebensächlichem getrennt werden; 4. eingeengtes Denken oder Gedankenarmut: Der Umfang des Denkens und die geistige Flexibilität sind eingeschränkt. Die Gedanken kreisen um nur wenige Themen, der Wortschatz ist verringert und Gedächtnisinhalte gehen verloren; 5. Perseveration: Die gleichen Gedanken werden wie in einer Schleife ständig wiederholt. Im Gespräch werden Worte und Angaben häufig wiederholt, selbst wenn sie nicht in den aktuellen Zusammenhang passen; 6. Grübeln: Ständig beschäftigt sich der Betroffene mit unangenehmen Themen – eine Beschäftigung, die zu nichts führt; 7. Gedankendrängen oder Gedankenjagen: Der Betroffene fühlt sich dem Druck vieler verschiedener Einfälle und Gedanken ausgeliefert; 8. Ideen- oder Gedankenflucht: Dem Betroffenen gehen sehr viele Gedanken in sehr kurzen Abständen oder gleichzeitig durch den Kopf, bzw. Themen werden ständig gewechselt, bzw. der Betroffene kann nicht bei einem Gedankengang bleiben; 9. Vorbeireden: Auf gestellte Fragen wird nicht eingegangen. Fragen bleiben unbeantwortet; 10. Gedankenabreißen oder gesperrtes Denken: Ein sonst flüssiger Gedankengang wird ohne erkennbare Ursache oder Motivation plötzlich unterbrochen, wobei dies vom Betroffenen selbst so empfunden wird; 11. inkohärentes oder zerfahrenes Denken: Gedanken und Teile eines Gespräches bleiben ohne Zusammenhang. Sie sind unlogisch, bruchstückhaft und zerfahren. Sie bestehen nur noch aus einzelnen Wörtern, Wortfetzen oder »Wortsalat« und bilden eine sogenannte »Schizophasie«;

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12. Neologismen: Hier kommt es zu Wortneubildungen und zu einer Privatsymbolik. Teilweise werden gegensätzliche oder ähnliche Wörter zu einem neuen Wort zusammengesetzt. Unter die inhaltlichen Denkstörungen zählte Bleuler den Wahn (1916, S. 65–70), die überwertige Idee und Zwangsgedanken (ebd., S. 62–65). Überwertige Ideen sind dauerhafte lebensbestimmende Leitgedanken, die Motivation, Antrieb und eine Willensbildung beim Betroffenen beeinflussen. Patienten sind subjektiv von diesen Leitgedanken überzeugt und handeln danach. Zwangsgedanken sind Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die sich wiederkehrend aufdrängen, als unsinnig oder unangebracht und als nicht eigentlich dem Betroffenen zugehörig wahrgenommen werden. Der Wahn wird im folgenden Kapitel gesondert behandelt. Bei der Schizophrenie verlieren hiernach die assoziativen Verbindungen an Bedeutung und zeitliche sowie örtliche Verknüpfungen lösen sich auf. Dadurch entsteht nach Bleuler der Eindruck von Bizarrheit in den Gedankengängen. Die einzelnen Assoziationen erscheinen beliebig oder zufällig. Als Beispiel führte Bleuler den nachstenographierten Gedankengang eines schizophrenen Patienten an: »Epaminondas war einer der namentlich zu Wasser und zu Lande mächtig war. Er hat große Flottenmanöver und offene Seeschlachten gegen Pelopidas geführt, war aber im zweiten punischen Krieg aufs Haupt geschlagen worden durch das Scheitern einer Panzerfregatte. Er ist mit Schiffen von Athen nach dem Hain Mamre gewandert, hat caledonische Trauben und Granatäpfel hingebracht und Beduinen überwunden. Die Akropolis hat er mit Kanonenbooten belagert und ließ die persische Besatzung als lebende Fackeln verbrennen. Der nachherige Papst Gregor VII –äh– Nero folgte seinem Beispiel u. durch ihn wurden alle Athener, alle romanisch-germanisch-keltischen Geschlechter, die den Priestern gegenüber keine günstige Stellung einnahmen, durch den Druiden verbrannt am Fronleichnamstag dem Sonnengott Baal. Das ist die Periode der Steinzeit. Speerspitzen aus Bronce.« (Bleuler, 1916, S. 53).

Nach Bleuler (1916) tauchen die assoziativen Verbindungen teils per Zufall, teils völlig ohne jeden Zusammenhang auf. Im Verlauf der Erkrankung gehen logische Zusammenhänge häufig ganz verloren. Ein einheitliches Denken wird den Patienten unmöglich. Wenn die Hemmung von Assoziationen sehr stark ist, kann es demnach zu einer Gedankensperrung kommen. Dann kann der Patient einen Gedanken nicht weiterdenken. Das Gegenteil hierzu ist das Gedankendrängen. Hierbei ist eine Hemmung von Assoziation sehr eingeschränkt (Bleuler, 1916, S. 54f). Er rechnete die Störungen der Assoziationen zu den besonders wichtigen Grundsymptomen der Schizophrenie. Er nahm an, dass sie auch Störungen in anderen Bereichen der Person mit sich ziehen würden. Die normalen Verbindungen von Gedanken lösen sich auf und stehen in keinem

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Zusammenhang zu ihrer Umwelt. Bezogen auf die Arzt-Patient-Interaktion stellt Bleuler dies wie folgt dar : »Die Beziehungslosigkeit drückt sich auch häufig in den Antworten auf die Fragen aus: Warum arbeiten Sie nicht […]? – Ich kann ja nicht Französisch. Hierbei ist nur die Form einer Antwort auf die Frage gewahrt; der Inhalt entbehrt jeder Beziehung zu der letzten.« (Bleuler, 1916, S. 279).

Ein weiteres Beispiel für die Loslösung von der Situation ist: »Haben Sie Kummer? – Nein. Ist es Ihnen schwer? – Ja, Eisen ist schwer. Schwer wird hier auf einmal im physischen Sinne gebraucht unter Außerachtlassung des aktuellen Zusammenhanges.« (ebd.).

Bleuler beschrieb auch »Denkfehler«, die dem Beobachter verständlicher sein können. Hierbei nannte er die Prozesse der Verdichtung und Verschiebung (Bleuler, 1916, S. 280), die auch schon in Freuds Traumdeutung Erwähnung fanden (Freud, 2010, S. 299–330). Ein Beispiel wäre »trauram – aus traurig und grausam« (Bleuler, 1916, S. 280). Bei der Verschiebung wird das Beispiel einer Patientin gegeben, die vor ihrer Erkrankung als »Stütze« einer Hausfrau gearbeitet habe. Während der Behandlung habe sie eine große Abneigung gegen alles was einer Stütze oder einem Stock ähnlich ist gezeigt (ebd.). Diese Formen des Denkens scheinen für Bleuler zwar teilweise verständlicher, wenn die Biographie und die Affekte der Patienten Berücksichtigung finden, jedoch bleiben sie für ihn durch die Erkrankung verursachte Fehler im Denken: »Durch alle diese Störungen wird das Denken unlogisch, unklar und, wenn viele solcher Fehler sich aneinanderreihen, zerfahren, inkohärent.« (Bleuler, 1916, S. 281). 4.3.1.2.2 Bleulers Konzepte zum Wahn – als spezielle Form der Denkstörung Für das Verständnis eines Wahns ging Bleuler zunächst vom Begriff der Affektivität aus. Für ihn bezeichnet dieser die Gesamtheit des Gefühls- und Gemütslebens und umfasst Affekte, Emotionen, Stimmungen und Triebhaftigkeit. Er steht in Beziehung zum Begriff der Ambivalenz und kennzeichnet den Gegensatz zwischen einer rationalen Beurteilung und einer affektiven Bewertung. Affekte werden nach Bleuler durch seelische Energiebeträge hervorgerufen und bedingt. Demnach entsteht ein Wahn häufig durch eine pathologisch veränderte »Affektwirkung« (Bleuler, 1916, S. 65). Bleuler nahm an, Wahnideen seien meist ich-syntone, unkorrigierbare Fehlwahrnehmungen bzw. Fehlbeurteilungen der Wirklichkeit, die einen persönlichen Bezug zum Patienten aufweisen. Das heißt, der Wahn gleicht einem unkorrigierbaren Glauben an etwas mit großer individueller Bedeutsamkeit. Die Unkorrigierbarkeit ergibt sich weder aus einem Unvermögen des Patienten die Realität zu verstehen, noch aus einem rein kognitiven Irrtum. Die Affektivität hemmt das seiner Richtung Entgegenstehende

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und lässt nicht zu, dass eine Einbildung in Frage gestellt wird. Diese Form des Wahns tritt also nach Bleuler vor allem bei affektiven Störungen auf. Bei Schizophrenen lassen sich Wahnideen nicht so leicht verstehen. Sie treten krankheitsbedingt plötzlich ins Bewusstsein. Erst darauf folgend wird ein Wahn ausgebaut und die Umwelt dem Wahn angepasst: »Es ist den Patienten z. B. so, wie wenn sie beobachtet würden, wie wenn sie gesündigt hätten, bis schließlich die Gewissheit eintritt« (Bleuler, 1916, S. 66). Allerdings gibt es nach Bleuler auch Formen des Wahns bei denen der Patient zunächst eine Information aus seiner Umwelt richtig versteht und einordnet, dann aber im Verlauf die Information so umdeutet, dass diese sich zu einem Wahn entwickelt. Diese Umdeutung findet laut Bleuler im Zusammenhang mit den innerpsychischen Komplexen des Patienten statt. Bei der Schizophrenie sind die Wahninhalte häufig bizarr. Sie haben zwar wie im Verfolgungs- oder Beziehungswahn einen engen Bezug zur eigenen Person, sind jedoch in ihrem Inhalt schwer verständlich. Dies liegt nach Bleuler vor allem auch in den gestörten assoziativen Prozessen des Denkens. Eine Besonderheit des schizophrenen Wahns besteht auch darin, dass stark widersprüchliche Vorstellungen nebeneinander existieren können: »der Patient ist schon längst tot, lebt aber in der Anstalt«; »eine Katatonica verschlang mit jedem Schluck die ganze Welt« (Bleuler, 1916, S. 291). Die einzelnen, häufig unzusammenhängenden Wahngedanken ordnen sich nach den affektiven Bedürfnissen der Patienten.

4.3.2 Tiefenpsychologische Beiträge zur Schizophrenieforschung 4.3.2.1 Sigmund Freud Sigmund Freud entwickelte einige wichtige Ideen zum Verständnis der Schizophrenie, auch wenn diese nicht sehr bekannt wurden. Er verstand einige zentrale Elemente der schizophrenen Symptomatik als Teil der dynamischen Interaktion verschiedener psychischer Anteile. So erklärte er in seiner Arbeit »Abwehrneuropsychosen« von 1894 halluzinatorische Phänomene als Abwehr von unerträglichen Vorstellungen und Affekten. Die Abwehr ist dabei so stark, dass sie eine deutliche Abkehr von der Realität bedingt. Dazu schrieb er : »Das Ich reißt sich von der unerträglichen Vorstellung los, diese hängt aber untrennbar mit einem Stück Realität zusammen, und indem das Ich diese Leistung vollbringt, hat es sich auch von der Realität ganz oder teilweise losgelöst. Letzteres ist nach meiner Meinung die Bedingung, unter der eigenen Vorstellungen halluzinatorische Lebhaftigkeit zuerkannt wird, und somit befindet sich die Person nach glücklich gelungener Abwehr in halluzinatorischer Verworrenheit.« (Ges. Werke, Bd. 1, S. 73).

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In einer kurzen Arbeit »Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychose« von 1896 unterzog Freud zum ersten Mal einen Patienten mit chronischer Paranoia einer Psychoanalyse. Dabei meinte er die wesentlichen Motive der Wahnbildung zu erkennen, indem er die Verdrängungsmechanismen aufdeckte und Halluzinationen und Wahnideen als Wiederkehr des Verdrängten bzw. als Kompromiss zwischen dem Verdrängten und dem Ich, welches verzweifelt Abwehrmaßnahmen gegen den Einbruch untragbarer Gedanken und Emotionen ergreift, interpretierte. Paranoia erklärte er mit den Worten: »Es dürfte sich ergeben, dass auch die Erinnerungsschwäche der Paranoiker eine tendenziöse, d. h. auf Verdrängung beruhende und ihren Absichten dienende ist. Es werden nachträglich jene gar nicht pathogenen Erinnerungen verdrängt und ersetzt, die mit der Ich-Veränderung im Widerspruch stehen, welche die Symptome der Wiederkehr gebieterisch erfordern.« (Ges. Werke, Bd. 1, S. 403).

Eine genauere Ausführung dieser Thesen erschien in Freuds Studie über die »Denkwürdigkeiten des sächsischen Senatspräsidenten Dr. jur. D. P. Schreber« aus dem Jahr 1911 (Ges. Werke, Bd. 7, S. 133–203). Freud behandelte Schreber nicht persönlich, sondern versuchte aus dessen Autobiographie eine Theorie der Paranoia zu entwickeln. Die Schrift Schrebers, die Freud für seine Untersuchungen nutzte, war im Zustand des Wahns entstanden. Freud meinte, dass die Paranoiker »die Eigentümlichkeit besäßen, allerdings in entstellter Form, gerade das zu verraten, was die anderen Neurotiker als Geheimnis verbergen.« (ebd., S. 139). Freud entwickelte die Krankengeschichte angefangen bei der präpsychotischen Äußerung Schrebers »[…] es [müsse] doch eigentlich recht schön sein [ ], ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege« (ebd., S. 142) und beschrieb dann ausführlich wie Schreber sich immer mehr ein Wahngebäude ausbaute, welches die Vorstellung beinhaltet, verfolgt zu werden, die Welt erlösen zu müssen und sich von einem Mann in eine Frau zu verwandeln. Freud sah den Ursprung der Paranoia in verdrängten homosexuellen Wünschen Schrebers, welche sich dann wiederum im Wahninhalt deutlich zeigten45. Das Muster des Wunsches, dessen Verkehrung und die darauffolgende Projektion auf die Außenwelt beschrieb Freud anhand mehrerer Beispiele. Für den Eifersuchtswahn führte er exemplarisch das Szenario eines enttäuschten Ehemannes an, der im Wirtshaus versucht seine Enttäuschung mit Alkohol zu bekämpfen, dann erotische Gefühle gegenüber den anderen anwesenden Männern entwickelt und sich gegen diese tabuisierten Wünsche wehrt. Daraus wird der Wahngedanke: »Nicht ich liebe den Mann – sie liebt ihn ja« und verdächtigt dann seine Frau ihm fremd zu gehen (Freud, 1911, S. 187).46 45 Zur Kritik hierzu und zu einer aktuellen psychoanalytischen Deutung des Falls Schreber siehe auch Lothane, 2004. 46 Auch Max Wertheimer soll eine eigene Interpretation des Falls Schreber entwickelt haben,

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Freud untersuchte weiterhin wichtige Unterschiede zwischen Neurosen und Psychosen. Dazu schrieb er in seiner Arbeit »Neurose und Psychose« (1924a): »die Neurose sei der Erfolg eines Konfliktes zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt.« (Ges. Werke, Bd. 3, S. 333). Grundsätzlich ist sein Psychoseverständnis also seinem Neuroseverständnis sehr ähnlich, nur, dass der Konflikt zwischen anderen Teilen stattfindet und somit auch die Lösung des Konfliktes unterschiedliche Symptome hervorruft. Grundsätzlich stehen in Freuds Theorie immer Kindheitswünsche, die durch eine rigide Außenwelt unerfüllt bleiben, im Mittelpunkt. Die Versagung dieser Wünsche ist durch äußere Gegebenheiten bestimmt, auch wenn diese äußeren Bedingungen teilweise durch innere Instanzen verkörpert werden, dem Über-Ich. Im gleichen Jahr veröffentlichte er den Artikel »Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose« (Freud, 1924b). Hierbei wird noch einmal Freuds Unterscheidung von Neurose und Psychose deutlich: »Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.« (Ges. Werke, Bd. 3, S. 359). Damit deutet Freud die psychotische Symptomatik als Versuch einen Konflikt zu lösen, quasi als Kompromisslösung, die jedoch so radikal ist, dass die Realität verleugnet werden muss. Hierin wird deutlich wie Freud die Psychose aus den dynamischen Prozessen des Innenlebens heraus begriff. Die Außenwelt wird hiernach zwar als versagender Moment sowie auch als Ort des innerpsychischen Umbaus mit einbezogen, jedoch wird die reale, aktuelle soziale Situation des Menschen wenig beachtet. Kindheitserfahrungen scheinen für Freud wichtiger als aktuelle Erfahrungen. Wahnideen und Halluzinationen stellen für Freud wiederkehrende verdrängte Wünsche dar (Ges. Werke, Bd. 3, S. 360f). 4.3.2.2 Carl Gustav Jung Carl Gustav Jung war im Burghölzli bei Eugen Bleuler beschäftigt und stand in regem Austausch mit Sigmund Freud. Somit ist nicht verwunderlich, dass sich in seinem Denken eine Kombination aus beiden Sichtweisen auf die Schizophrenie zu zeigen scheint. Auch für Jung standen die gestörten Assoziationen im Mittelpunkt seiner Theorie des schizophrenen Denkens: »Die Assoziation erfolgt zwar nach einem wagen Thema, aber ohne Richtungsvorstellung […]« (Jung, 1907, S. 173). »Zusammenhänge der Bedeutung [werden] meistens völlig aufgehoben […]« (ebd.).

die jedoch wohl nie verschriftlicht wurde (Brief von Levy an Luchins, 1969, zitiert aus Luchins, 1987).

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In seiner Arbeit »Über die Psychologie der Dementia praecox« von 1907, die er nach dreijähriger experimenteller Forschung veröffentlichte, schrieb er : »Die Kranke schildert uns in ihren Symptomen die Hoffnungen und Enttäuschungen ihres Lebens, ähnlich wie es ein Dichter tut, der wirklich aus innerem Drange schafft. Nur spricht der Dichter, auch in seinen Metaphern, die Sprache des normalen Gehirns […]. Unsere Kranke aber spricht im Traume […], die nächste Analogie zu ihrem Denken ist der Traum […].« (Jung, 1907, S. 171).

Jung untersuchte die Patienten im Burghölzi anhand deren Assoziationen und versuchte die innere Symbolik der psychotischen Symptome dadurch zu verstehen. Er interpretierte die schizophrene Symptomatik ähnlich wie er die Träume von Neurotikern untersuchte. Dies geschah in enger Anlehnung an Freuds »Traumdeutung« (Freud, 1900). Der Unterschied zwischen Neurotikern und Schizophrenen bestehe nach Jung nur darin, dass die Schizophrenen die traumähnlichen Ereignisse im wachen Zustand erlebten. Als Grund hierfür nahm er einen Ich-Komplex an. Das Ich werde demnach von Gefahren der Welt übermannt und zerbreche. Dadurch könnten die verdrängten Gedanken und Vorstellungen beinahe uneingeschränkt die Macht übernehmen und der Patient fühlt sich, als ob er Träume am helllichten Tag erleben würde (ebd.). Jung war sich unsicher ob ein psychischer Komplex am Beginn der Erkrankung stehe oder ob sich die Erkrankung initial aus einer Art Vergiftung des Organismus entwickele, aus dem sich dann die Komplexe ableiten würden. Er schrieb hierzu: »Man fühlt sich in solchen Fällen versucht, dem Komplex Kausalbedeutung beizumessen, immerhin mit der bereits erwähnten Einschränkung, dass der Komplex neben seinen psychologischen Wirkungen noch ein X (Toxin?) erzeugt, welches mit am Zerstörungswerke hilft. Dabei berücksichtige ich aber voll die Möglichkeit, dass primär das X entsteht.« (1907, S. 114).

4.3.2.3 Alfred Adler Auch Alfred Adler beschäftigte sich mit der Entstehung der Schizophrenie. Wie Freud unterschied er nicht grundsätzlich zwischen Neurose und Psychose. Alle Formen der seelischen Störung führte er letztendlich auf eine Fehlentwicklung des Gemeinschafts- und Minderwertigkeitsgefühls zurück (Adler, 1929). Für ihn war die conditio humana von einem Gefühl der Schwäche und Abhängigkeit geprägt: »Wahrscheinlich ist es die Schwäche und Minderwertigkeit des Menschen überhaupt, sein Wissen um den Tod und um drohende Gefahren, die als unumgängliche Ergänzung und Erlösung das Gemeinschaftsgefühl erzeugen.« (Adler, 1929, S. 1). Er ging davon aus, dass jeder Mensch seit der Geburt mit einer starken Abhängigkeit von anderen, sowie mit Hilfs- und Schutzbedürftigkeit konfrontiert sei. Bereits mit dem ersten Lebenstag beginnt somit die

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Auseinandersetzung mit diesem Gefühl. Aus den Interaktionen mit seiner sozialen Umwelt entwickelt das Kind einen Lebensstil, welcher der Kompensation der Minderwertigkeitsgefühle gilt. Ist die Kompensation sehr dysfunktional, steht sie, nach Adler einem Streben nach Gemeinschaft im Wege und erzeugt dadurch psychisches Leiden (ebd.). Bei der Psychose beobachtete Adler eine besonders starke Form der Abkehr von der Gemeinschaft: »In der Schizophrenie ist die Ausschaltung des andern auf die höchste Spitze getrieben. Gesellschaft, Beruf, Liebe, die drei großen Lebensfragen, werden mit Erbitterung ausgeschaltet, und mit ihnen geht aller Sinn für das Gemeinschaftsleben (Sprache, Verstand, Moral, sinnvolles Streben) verloren. Immer wieder fanden wir in diesen Erkrankungen den Ausdruck der Entgemeinschaftung, damit auch den Ausdruck der Entmutigung für ein selbstbewußtes Streben.« (Adler, 1929, S. 2).

Schizophrenie entsteht für Adler – ähnlich wie die Neurose – aus einem Spannungsverhältnis zwischen Organminderwertigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen und einem Streben nach Gemeinschaftsgefühl (siehe dazu ausführlicher Adler, 1907, »Studie über Minderwertigkeit von Organen«). Er postulierte, dass Schizophrenie nicht angeboren sei, sondern sich durch die sozialen Umstände, in die ein Kind hineingeboren wird, entwickele (Adler, 2010, S. 160). Jeder Mensch müsse sich den drei zentralen Lebensthemen stellen und diese für sich beantworten: die Gesellschaft, der Beruf und die Liebe. Adler schrieb hierzu: »Die drei Lebensprobleme, die ich bereits geschildert habe, müssen von jedem Menschen so oder so gelöst werden, denn das Individuum steht in einer dreifachen Beziehung zur Welt. Niemand kann sich vor einer definitiven Antwort zur Frage der Gemeinschaft, des Berufs oder der Sexualität drücken. Wer sich mit der Gesellschaft anfreundet, mit Zuversicht und Mut einer sinnvollen Beschäftigung nachgeht und sein Sexualleben im Einklang mit einem guten Gemeinschaftsgefühl einrichten kann, ist gegen die neurotische Infektion immun. Wer es aber versäumt, sich einer oder mehreren dieser unabdingbaren Fragen zu stellen, hüte sich vor Minderwertigkeitsgefühlen und der daraus resultierenden Neurose. Schizophrenie ist die Folge eines Versagens in allen drei Richtungen zugleich.« (Adler, 2010, S. 338f).

Ein weiterer Unterschied zwischen Neurose und Psychose bestand für Adler darin, dass bei der Psychose das Selbstwertgefühl so stark bedroht ist, dass der Erkrankte es nur noch dadurch zu schützen vermag, dass er die Realität verleugnet und sich in die Psychose zurückzieht (Alder, 1912). Hierin ähnelt seine Ansicht derjenigen von Sigmund Freud.

Anfänge der Schizophrenieforschung bis 1930

75

4.3.3 Hermeneutische Beiträge zur Schizophrenieforschung 4.3.3.1 Karl Jaspers In seinem psychiatrischen Hauptwerk »Allgemeine Psychopathologie« von 1913 entwickelte der Philosoph und Psychiater eine verstehende Psychologie der Psychose (Brückner, 2009). Dabei ergibt sich die Bedeutung Jaspers vor allem durch die methodologischen Überlegungen zur Untersuchung der Psychopathologie (Danzer, 2011). Er äußerte sich in einer Weise, die auch heute noch aktuell klingt: »Man klammert sich, um doch auch im Psychischen weiter zu kommen, an neu entdeckte körperliche Phänomene, oder man erwartet alles Heil von Experimenten, bei denen schließlich etwas Zählbares, Sichtbares, eine Kurve ans Licht kommt. Nur eines tun die Kritiker nicht: sie üben sich nicht in psychologischer Analyse und wenden nicht die immerhin beträchtliche Denkarbeit auf, die bei vorhandener psychologischer Beobachtungskunst noch erforderlich ist, um die genügend klaren und mitteilbaren Begriffe und Unterscheidungen zu gewinnen, die die Grundlage aller weiteren Erkenntnis sind.« (Jaspers, 1946, S. 5).

Sein Vorgehen bestand in der Kombination aus naturwissenschaftlich-erklärenden und phänomenologisch-verstehenden Ansätzen zur Erforschung der Psychopathologie. Im Sinne einer phänomenologischen Sichtweise, also auf das unmittelbar Erlebbare fokussierend, empfahl Jaspers über die somatische Beschäftigung mit Geisteskrankheiten hinauszugehen. Die Ursachen und Hintergründe von psychopathologischen Phänomenen waren jedoch auch Teil seiner Untersuchungen. »Der Gegenstand der Psychopathologie ist das wirkliche, bewusste Geschehen. Wir wollen wissen was und wie Menschen erleben, wir wollen die Spannweite der seelischen Wirklichkeiten kennenlernen. Und nicht nur das Erleben der Menschen, sondern auch die Bedingungen und Ursachen von denen es abhängt, die Beziehungen in denen es steht, und die Weisen, wie es sich irgendwie objektiv äußert, wollen wir untersuchen.« (Jaspers, 1946, S. 2).

Als Grundlage seiner Forschung nahm Jaspers vor allem schriftliche Äußerungen von Psychotikern (Jaspers, 1913, S. 21). Dabei beschäftigte er sich nicht mit der Genese der Schizophrenie, sondern beschränkte seine Analyse auf die Beschreibung der Lebensgeschichte und Symptomatik der Betroffenen. Er lehnte die Freudsche Form der tiefenpsychologischen Hermeneutik ab (Rattner, 1976). Jaspers unterschied in seinen Ausführungen zur Phänomenologie des Wahns zwischen Persönlichkeitsentwicklung und »Prozessen«. Im gesunden Falle könne ein Mensch Brüche und Schwierigkeiten in seiner Biographie in seine Person integrieren. Eventuell auftretende Wahnideen seien biographisch verstehbar. Im Falle der Schizophrenie zeichne sich der Wahn gerade dadurch

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Einflüsse auf Erwin Levy

aus, dass er eben nicht verstehbar sei. Diese Form des Wahns bezeichnete Jaspers als »primären Wahn« oder »Prozesspsychose« (Jaspers, 1946, S. 165). Der primäre Wahn sei das Erleben, welches direkt aus der Erkrankung resultiere. Er trete plötzlich auf und sei nicht durch äußere Ereignisse oder innerpsychische Dynamik verstehbar, sondern ergebe sich direkt aus der Erkrankung. Der sekundäre Wahn hingegen sei die nachvollziehbare Folge im Erleben der Wirklichkeit, die durch die Erkrankung hervortritt. Als Beispiel hierfür nannte er den depressiven Schuldwahn. Dieser sei zwar eine Fehleinschätzung der Realität, könne aber als Folge der gestörten Affektivität verstanden werden (Jaspers, 1946, S. 81). Den primären Wahn beschrieb er wie folgt: »Das Bedeutungsbewusstsein erfährt eine radikale Verwandlung. Das unmittelbar sich aufzwingende Wissen von den Bedeutungen ist das primäre Wahnerlebnis.« (Jaspers, 1946, S. 83). Es könne nach Jaspers nicht weiter zurückverfolgt werden, sondern sei direkt durch die Krankheit hervorgerufen. Bekannt wurde Jaspers durch die Definition des Wahns als unverständlich und unkorrigierbar. Er sah den Wahn nicht als kognitives Leistungsdefizit, sondern als Fehleinschätzung der Wirklichkeit. »Das Problem bestehe nicht in der intellektuellen Fähigkeit zur Beurteilung der Realität, sondern in einer inhaltlichen Realitätsverkennung« (Jaspers, 1946, S. 164).

4.3.4 Zusammenfassung Insgesamt wird deutlich, dass zu den grundlegenden Fragen nach der Genese der Symptome, der Einteilung in Kategorien, dem Verständnis des Erlebens der Patienten und den Ansätzen der Behandlung von Störungen verschiedene Konzepte entwickelt wurden. Die Versuche der Ergründung der Schizophrenie zeigen sich als vielschichtig und komplex. In den verschiedenen konzeptionellen Darstellungen finden vor allem die Aufgliederung der Störung in Form unterschiedlicher Symptome sowie Theorien zum Wirken biographisch relevanter Faktoren Berücksichtigung. Die aktuelle Situation des Menschen in seiner unmittelbaren Umwelt und die Gegebenheiten der Arzt-Patient-Interaktion wurden jedoch weitgehend vernachlässigt. Es ist anzunehmen, dass Erwin Levy als junger Psychiater einen Überblick über die beschriebenen Konzeptionen der Schizophrenie hatte. Explizit bezieht er sich in seiner Arbeit über die schizophrene Denkstörung auf das Werk Bleulers und kritisiert diesen in wesentlichen Punkten. Diese Kritik wird im nächsten Kapitel zu Levys Schizophreniekonzepten ausführlich dargestellt.

5.

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

5.1

»Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« (1936)

Erwin Levy veröffentlichte 1936 seinen Artikel »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« in der wissenschaftlichen Zeitschrift »Social Research« der New School of Social Research unter dem englischen Titel »A Case of Mania and its Social Implications«. Der Artikel ist wie ein Fallbericht abgefasst, in dem Levy anhand einer Patientengeschichte seine gestalttheoretisch-fundierten Überlegungen zum psychischen Geschehen eines Patienten darstellte. Er kann auch als Versuch verstanden werden, psychiatrische, psychologische und soziologische Aspekte von Krankheit miteinander zu verbinden. Levy beschrieb einen circa vierzigjährigen Mann, der mit der Diagnose manisch-depressive Psychose (manische Phase) in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert wurde. Er schilderte diesen Mann als »aufbrausend, laut und hochtrabend«,47 mit einem beträchtlichen Geltungsbedürfnis und einer Tendenz, sofort mit Angriff zu reagieren. In der Schilderung wird deutlich, wie Levy sich durch diesen Mann bedroht gefühlt haben muss und zu Beginn wenig Sympathien hegte. So schreibt er : »Erst durch den Versuch, seinen Fall zu verstehen, wurde die menschliche Seite der Vorgänge deutlicher.«. Der von Levy beschriebene Patient war im Ölgeschäft tätig gewesen und hatte einen mittelständischen Betrieb. Seine Mitarbeiter habe er schlecht bezahlt, da er nur so gegenüber größeren Firmen konkurrenzfähig habe sein können. Für sich selbst sei sein Anspruch auf ein gutes Gehalt völlig selbstverständlich gewesen; er arbeite ja hart. Sein ganzes Leben habe sich um seine Firma gedreht und er selbst habe sich in allen Lebenslagen als Geschäftsmann betrachtet. Er habe ein repräsentatives Apartment bewohnt, ein gutes Auto gefahren und sich gekleidet wie es Geschäftsmänner tun. Levy nannte ihn auch einen »Nichts-als-Geschäftsmann« (ebd., S. 51). Durch den 1933 als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise vom damaligen Präsidenten Roosevelt eingeführten sogenannten 47 Levy, 1936, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 49.

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

»New Deal«, der eine Anregung der Wirtschaft und eine Linderung der sozialen Not zum Ziel hatte, habe sich der Patient in seinem Geschäftsmodell bedroht gesehen. Er sei durch die Behörden gezwungen worden, seinen Mitarbeitern ein höheres Gehalt zu zahlen, um deren Existenzminimum zu sichern. Er habe zwar dagegen angekämpft, letztendlich hätten sich die Reformen jedoch nicht aufhalten lassen und sein Geschäft ging bankrott. Levy zeichnete in seinem Fallbericht die Prozesse nach, die zu einer psychischen Dekompensation des Patienten geführt haben könnten. Seiner Ansicht nach wurde der Mann »Opfer eines massiven Aufeinanderprallens zweier unterschiedlicher Bedeutungen des Begriffes Gleichheit« (ebd., S. 49). Levy betonte wie die psychische Welt des Patienten, durch sein Konzept von Gleichheit als die Freiheit, seinen eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu verfolgen, im Rahmen der Wirtschaftsreform erschüttert und zerstört wurde. Die Gleichheit im Sinne einer sozialen Gleichheit, in der die Mitarbeiter einen Anspruch auf einen existenzsichernden Lohn haben, konnte er nicht anerkennen. Levy benutzte hier den Begriff der »Verkrüppelung« der Welt des Patienten. Besonders beschäftigte ihn die Frage, warum es dem Patienten nicht gelang, die Veränderung zu akzeptieren und sein Leben in eine neue Richtung zu lenken – warum er stattdessen »verrückt« werden musste (ebd.). Levys Analyse nach gelang es ihm vor allem deshalb nicht, da »seine Zentrierung vollkommen durch diese seine Welt bestimmt war« (ebd.). Bei einer deutlichen Veränderung der Umweltbedingungen bedarf es nach Levy einer Umzentrierung der innerpsychischen Welt, um sich den Veränderungen der Außenwelt anzupassen. Bei dem beschriebenen Patienten gelingt diese Umzentrierung jedoch nicht, da die Veränderung den Kern seiner innerpsychischen Welt trifft und er seine ganze Person um diesen Kern zentriert hat. Demnach bleibt ihm nach Levy nichts übrig, als sich noch mehr auf seine Existenz als Geschäftsmann zu zentrieren und in einer wütenden und realitätsverleugnenden Art und Weise diesen Kern zu verteidigen. Levy bemerkte hierzu: »In dieser Hinsicht offenbarte und betonte die Psychose nur das, was schon da war, und fügte dem im Grunde nichts Neues hinzu.« (ebd., S. 51). Der Konstitution des Patienten vor dem Ausbruch der psychischen Erkrankung widmete Levy sich nur beiläufig: »Er wurde als gewöhnliches menschliches Leben geboren, mit den Bedürfnissen und Erfordernissen einer gewöhnlichen Person, die größer und vielfältiger sind als die, die er zur Kenntnis nahm. Er hatte nicht die Zeit, vielleicht auch nicht die erforderliche psychische und moralische Stärke und Intelligenz, um das Gefährdungspotential des modernen Geschäftslebens zu erkennen und ihm zu widerstehen. Es absorbierte ihn vollständig und alles andere wurde unwichtig und nebensächlich. Er wurde in einen Geschäfts-Menschen umgeformt.« (ebd., S. 52).

»Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« (1936)

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Levy legte den Fokus weniger auf die Entwicklung des Patienten oder die Frage, warum gerade er sein Leben so stark um das eines Geschäftsmannes organisierte. Für ihn scheint der Moment der Umorganisation, bzw. Dekompensation dieser Gestalt zentral. Die »Psychose« wie Levy sie nennt, ist keine unverstehbare »Verrücktheit« des Patienten, sondern ein Misslingen der Anpassung an sich verändernde Lebensumstände (ebd.). Der Mensch ist nach Levy darauf angewiesen sich einen inneren Bezugsrahmen in der Welt zu schaffen. Dieser Bezugsrahmen kann wie ein räumliches Bezugssystem verstanden werden. Levy nahm hierbei Bezug auf Koffkas Konzept des räumlichen Bezugsrahmens (Koffka, 1935, S. 389f). Koffka beschrieb einen Novizen, der auf einen Berg kletterte. Solange er ein visuelles Bezugssystem hatte, gelang es ihm schwindelfrei auf einem Felsen zu stehen. Wird das visuelle Bezugssystem durch etwas verdeckt, verliert er das Gleichgewicht und beginnt zu schwindeln. Levy setzte die von Koffka beschriebene Situation des Novizen analog zu seinem Patienten. Der Geschäftsmann verliert ebenso sein Bezugssystem: »[D]er manische Zustand unseres Mannes erinnert tatsächlich an das Verhalten eines schwindeligen Mannes, der verzweifelt einen Bezugsrahmen sucht, der ihm eine sichere Verankerung und Orientierung bietet.«.48 Nachdem der Patient im Herzen seines Bezugsrahmens getroffen wurde, wird ihm, nach Levy, eine Umzentrierung unmöglich und die manische Reaktion bleibt die einzige Reaktionsmöglichkeit. Darin wird Levys systemisches Verständnis von psychischen Prozessen deutlich. Sein Patient habe sich ein instabiles innerpsychisches Gleichgewicht geschaffen. Dieses Gleichgewicht war durch die Zentrierung auf das Sein eines Geschäftsmannes hergestellt. Diese extreme und unflexible Form der Zentrierung brachte jedoch eine besondere Gefahr der Destabilisierung hervor. Kleinere Angriffe auf das System, wie Unzufriedenheit der Angestellten oder vorwürfliche Blicke von Bekannten, hatte der Patient vermutlich gut umschiffen können. Dies könnte er durch ein schlichtes Ignorieren oder eine Zurückweisung getan haben. Den direkten »Angriff« der US-Behörden auf seine Vorstellung von wirtschaftsliberaler Gleichheit und dem damit verbundenen Recht seine Arbeitnehmer so zu bezahlen, wie er es für richtig hielt – und es die Angestellten akzeptierten – konnte er nicht mehr standhalten. Sein innerpsychisches System kollabierte. Nur noch durch die psychische Störung gelang es ihm in einem verzweifelten Versuch nicht ganz zu »fallen«, das System aufrecht zu halten (ebd.). In den Ausführungen Levys über seinen Patienten und dessen Situation wird auch seine eigene Haltung sichtbar. Es scheint, als ob die Auseinandersetzung 48 Levy, 1936, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 53.

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

mit dem zu Beginn unsympathischen und unmenschlichen Patienten auch für die Auseinandersetzung mit der Kultur seiner neuen Heimat stehen könnte. Der Patient repräsentiert die amerikanische Idee des freien Menschen, der sich im Rahmen der freien Wirtschaft selbst verwirklichen kann. Dabei wird Gleichheit als die Gleichheit der Möglichkeiten, wirtschaftlichen Profit zu schlagen, wahrgenommen. Jeder Mensch hat die Chance, durch harte Arbeit seinen sozialen Stand zu erhöhen und eventuell Millionär zu werden. Wenn Einzelne dies nicht schaffen, liegt das nicht in der Verantwortung des Erfolgreichen. Jeder muss selbst seine Chancen nutzen, wenn dies nicht gelingt, kann die Person nur sich selbst dafür die Schuld geben. Levy setzte dem, durch den New Deal repräsentierten Verständnis von Gleichheit, den Begriff einer Gleichheit der fairen Lebensbedingungen entgegen. Die Angestellten des Geschäftsmannes verdienen zu wenig um davon zu leben und müssen viele unbezahlte Überstunden machen. Levy beschrieb dies so: »Die zweite Bedeutung ist die des Rechts jedes Menschen, das zum Leben Notwendige zu erhalten, mit allen Konsequenzen für seine Mitmenschen und den Staat.« (ebd., S. 54). Levy führt noch ein drittes Verständnis von Gleichheit ein, das vermutlich auch seinem Menschenbild als Psychiater und Psychotherapeut entspricht. Hierbei handelt es sich um das Recht auf gleiche psychische Entwicklung »[…] nach dem in uns angelegten Gesetz aufzuwachsen und uns zu entwickeln, unsere menschlichen Möglichkeiten zu entfalten und jenen Zustand eines guten Gleichgewichts zu erreichen, den unser System und dessen grundlegende systemisch funktionellen Bedürfnisse erfordern.« (ebd., S. 54). Dieses Recht wurde nach Levy seinem Patienten genommen. Insofern wurde ihm erstens subjektiv Unrecht durch den New Deal getan und zweitens nach Levys psychotherapeutischer Ansicht, Unrecht hinsichtlich seiner Entwicklungschancen. Den Grund für diese Ungerechtigkeit gegenüber seinem Patienten sieht er weniger in dessen familiären Umständen, als vielmehr in den sozialen Umständen, in denen er lebt. Der Patient habe nie gelernt sich diesen Umständen so anzupassen, dass er nicht in solch starker Form durch sie »verkrüppelt« wird. Hierin wird auch eine Zuneigung zu dem Menschen, der in seinem Patienten steckt, sichtbar. Es gelingt Levy somit eine Sympathie für den Geschäftsmann herzustellen, die darin besteht, auch dessen Unfreiheit und Instabilität zu sehen. Levy nannte dies »[…] das Recht darauf, nicht ungebührlich der Gefahr der Verkrüppelung ausgesetzt zu werden, der Gefahr, in eine bloße Funktion einer verarmten, unnatürlichen und einseitigen Welt umgemodelt zu werden, wie sie die Geschäftswelt unseres Mannes darstellt und wohl noch viele andere Welten in unseren modernen Zeiten.« (ebd., S. 54). Die Prozesse der Zentrierung und Umzentrierung im Bereich der Psychopathologie werden in Levys zweiter Publikation genauer ausgeführt.

»Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« (1943)

5.2

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»Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« (1943)

Levys Artikel »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« wurde 1943 unter dem englischen Titel »Some Aspects of the Schizophrenic Formal Disturbance of Thought« in der Zeitschrift »Psychiatry : Journal for the Study of Interpersonal Processes« veröffentlicht. In dieser Publikation zeigte Levy vor allem auf, dass das Denken kein isolierter Prozess ist, sondern immer in Bezug zur Umwelt des Denkenden steht. Die Situation muss für den Patienten allerdings nicht mit der des Arztes übereinstimmen. Dabei führte er genauer aus, welche Formen der Zentrierungs- und Umzentrierungsprozesse von Gestalten des Denkens bei Schizophrenen vorkommen. Levys These lautet, dass das schizophrene Denken von einer einseitigen Zentrierung auf wichtige Lebensfragen oder Probleme geprägt ist. Dabei ist die von den Schizophrenen aufgebrachte Gestalt-Energie zu gering um eine konsistente Gedankengestalt zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Levy führte die Konzepte anhand zahlreicher klinischer Fallgeschichten aus. Die verwendeten Begriffe sind, wie in der Gestalttheorie üblich, aus der Physik entlehnt. Dabei stellt dies keine Gleichsetzung von physischen und psychischen Vorgängen dar, sondern eher eine Anlehnung an die wissenschaftlichen Formulierungen und die Art der Konzeptionalisierung der Physik (vgl. Köhler, 1959). Dem eigentlichen Artikel stellte Levy zwei grundlegende Überlegungen voran. In der ersten kritisierte er die Beschneidung der klinischen Phänomene durch eine experimentelle Erforschung des Denkens. Dies stellt Levys phänomenologische Herangehensweise in den Vordergrund. »Beim Vergleich vieler diese Untersuchungen [zur schizophrenen Denkstörung] mit dem konkreten klinischen Material entsteht oft der Eindruck eines merkwürdigen Gegensatzes zwischen der akademischen Kargheit der ersteren und dem vollen Reichtum der letzten. Die Untersuchungen sind wohl gründlich, die seltsame, oft schöne Lebendigkeit des ursprünglichen Materials, scheint daraus jedoch oft entwichen zu sein.« (ebd., S. 55).

Hier wird Levys Interesse und Bewunderung für den Menschen hinter der Erkrankung sowie für dessen unmittelbares Erleben deutlich. Auch scheint es so, dass Levy seine Überlegungen eher aus der klinischen Sicht eines Psychiaters aus der Praxis heraus aufbaut, als aus einem rein grundlagenwissenschaftlichen Kontext. Die zweite Überlegung bezieht sich auf die Grundannahme der Gestalttheorie über das menschliche Denken und Wahrnehmen. Von den »gesunden Prozessen« leitete er weiter auf die Erforschung von pathologischen Denk- und Erlebensprozessen. Für Levy ist schöpferisches Denken immer auch ein Gestaltvorgang, für den die Gestaltgesetze gelten. Ein Teil eines Gedankens

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

ist durch die Gestalt des Gedankens bestimmt und nicht umgekehrt. Somit ist für ihn die Analyse einzelner Teile zum Verständnis des gesamten Denkprozesses irreführend. Er drückte dies so aus: »Vom Denken wird angenommen, dass es seine eigene Ganz-Struktur und Ganz-Dynamik hat, die verloren gehen, wenn man sich nur auf seine Elemente konzentriert« (ebd.). Er kritisierte damit explizit die Annahme einer assoziativen Theorie des Denkens – wie die Bleulers (1911) und Jungs (1907) – wonach Grundelemente des Denkens durch Zufall oder Gewohnheit in Form von Assoziationen zusammengesetzt sind. Als Beispiel nannte Levy hierbei »das Experiment mit den sinnlosen Silben« (ebd.). Er führte keinen Quellenverweis, jedoch ist anzunehmen, dass er sich vermutlich auf die Experimente zur Lern- und Vergessenskurve von Ebbinghaus bezog (Ebbinghaus, Ruger & Bussenius, 1913). Diese Experimente wurden auch vor allem durch Gestalttheoretiker heftig kritisiert (Galliker, Klein & Rykart, 2007). Explizit nannte er einige Seiten später die Arbeiten von Vigotsky (1934) und die hieraus abgeleiteten experimentellen Untersuchungen zur Konzeptbildung bei Schizophrenen von Hanfmann und Kasanin (1939). In diesen Arbeiten wurde Vigotskys Test zur Konzeptbildung bei schizophrenen Versuchspersonen verwendet, um nachzuweisen, dass bei diesen Probanden die Prozesse der Konzeptbildung im Vergleich zu Gesunden gestört sind. Hanfman und Kasanin verwendeten hierzu verschiedene Holzblöcke, die sich in Farbe, Form und Größe unterschieden und auf denen sinnlose Silben standen (z. B.: lag, bik, mur, cev). Die Aufgabe der Versuchsteilnehmer war, eine vom Experimentator festgelegte, aber nicht berichtete Einteilung der Holzblöcke zu finden. Der Ablauf des Experiments bestand darin, dass die Probanden gebeten wurden die Blöcke in vier Gruppen zu sortieren. Falsch sortierte Blöcke wurden vom Versuchsleiter wieder zurückgelegt und der Proband musste diese Information in seine Konzeptbildung mit einbeziehen (Hanfmann & Kasanin, 1937, 1939). Levy kritisierte hieran die Anlehnung an die Theorie des Assoziationismus, die er als falsch erachtete. Vielmehr betonte er die Abhängigkeit von Denkprozessen von der Situation und Umwelt, in der sie geschehen. Die Darstellung seiner Überlegungen im Artikel von 1943 beginnt mit der Beschreibung der Situation einer ärztlichen Untersuchung eines Patienten im Krankenhaus. Der Mann wirkte auf den Arzt zunächst »freundlich und kooperativ«49 und beantwortete alle Fragen korrekt. An einem Punkt allerdings begann er zu zittern und wurde gefragt: »Warum zittern Sie? Ist Ihnen kalt?«. Darauf antwortete der Patient: »Kann ein introvertierter Mensch jemals extrovertiert sein?« (ebd.). Um sich diese für Levy »seltsame« Antwort zu erklären, führte er zunächst die Wichtigkeit ein, sich generell mit der Gestalt von Frage und Antwort zu beschäftigen. 49 Levy, 1943, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 56.

»Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« (1943)

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Eine Frage ist für Levy Teil einer Gestalt, die erst durch die passende Antwort geschlossen wird und damit im Sinne der Gestalttheorie prägnant erscheint. »Solange die Antwort fehlt, ist das Ganze unvollständig, hat eine Lücke die geschlossen werden muss und will. Die Frage ist nicht ein isoliertes Stück, sondern Anfangsglied eines intendierten Ganzen.« (ebd.). Levy näherte sich dem Problem von Frage und Antwort ganz im Sinne der Gestalttheorie und insbesondere angelehnt an Kurt Lewins Feldtheorie. Es scheint als sei die Frage für Levy ein Vektor in einem psychologischen Feld, von der ein gewisser Aufforderungscharakter ausgeht. Passend zu dieser Annahme stellte Levy die Fragesituation graphisch in Form einer Feldsituation dar. Abbildung 3 ist direkt aus Levys Artikel entnommen und dient der Veranschaulichung seines Vorgehens:

Abbildung 3: Gestaltprinzipien von Frage und Antwort (Levy, 1943; entnommen aus der Übersetzung durch Stemberger, 2002, S. 57.)

Levy wies darauf hin, dass dieses Schema nur für einfache Fragen gelte. Bei komplexen Fragen, die eine komplizierte Antwort erfordern, könne es notwendig sein, dass die Antwort gewisse Umwege nimmt, bevor sie auf den Kern der Frage eingeht und diesen beantwortet. Diese Umwege sind nach Levy jedoch in diesem Fall Teile der strukturellen Forderung der durch die Frage entstehenden Lücke. Bezogen auf seinen Patienten bemerkte er, dass dessen Antwort wohl augenscheinlich in die Kategorie der zweiten Skizze gehört. Die Antwort scheint

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

nicht zur Frage zu passen und wird deshalb als irritierend empfunden. Anhand des Beispiels »Wie geht es Ihnen, Dr. X.?« »Danke, ich genehmige mir gerade einen Drink.« (ebd., S. 58)

erörterte Levy, dass eine Antwort zwar manchmal auf den ersten Blick etwas eigenwillig scheinen mag, in ihrer konkreten sozialen Situation allerdings durchaus passend imponiert. Hieran zeigte Levy, dass Frage und Antwort nicht isoliert betrachtet werden sollten, sondern wiederum selbst Teil eines situationalen Feldes sind. In extremen Fällen ist eine Antwort sogar ausschließlich bei genauer Kenntnis der sozialen Situation der Interaktion verstehbar. Im Fall der Frage des Arztes »Warum zittern Sie?« ist die Frage in der sozialen Situation des ärztlichen Anamnesegesprächs gestellt. Die Frage ergibt sich »aus einer klar strukturierten Feldsituation und wurde von dieser determiniert« (ebd., S. 59). Die Antwort passt jedoch in keiner Weise zur Frage, noch ist sie in der Feldsituation des Arztes verstehbar. Levy führte nun die Feldsituation des Patienten ein. Er erfuhr im Verlauf der Behandlung, dass der Patient sehr unglücklich mit sich selbst war und in einer psychologischen Bibliothek vor einer Weile über die Unterschiede zwischen Introversion und Extraversion als Persönlichkeitsmerkmale gelesen hatte. »Dies war die psychologische Situation, die seine Antwort determiniert hatte.« (ebd., S. 59). Diese Frage war für den Patienten von entscheidender Bedeutung und bestimmte sein ganzes Denken. »Alles und jeder Augenblick seines Lebens war darauf zentriert.« (ebd.). Levy drückte dies in der folgenden Formel, die sehr an die Feldtheorie von Kurt Lewin erinnert, aus: Die Frage des Arztes wird mit q bezeichnet. Die Feldsituation des Arztes wird mit S1 bezeichnet. Diese Frage ist in der Feldsituation des Arztes folglich: q = fq(S1) Die Feldsituation des Patienten ist S2. Die Frage ist in der Feldsituation des Patienten folglich: q = fq(S2) Sie ist für sich genommen zwar die gleiche für Arzt und Patient. Nimmt man jedoch an, dass Fragen immer in einer Feldsituation zu sehen sind, unterscheiden sie sich erheblich bei Arzt und Patient. Diese Konstellation grenzte Levy deutlich von der Situation ab, in der beide Protagonisten in der gleichen Welt leben. Als Beispiel hierfür nannte er eine Mutter, die ihr Kind fragt: »Hast du deine Zähne geputzt?« Worauf das Kind antwortet: »Ich will ins Kino gehen.«

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(ebd., S. 60). Die Antwort scheint zwar für den Beobachter nicht zur Frage passend, die Mutter versteht sie jedoch sofort, da S1 und S2 Teil der Situation sind, in der beide gemeinsam leben. Zur Veranschaulichung des schizophrenen Denkens gab Levy wiederum ein Beispiel aus der ärztlichen Visite in der Klinik: »Wie geht es Ihnen?« »Gut. Ich möchte nach Hause gehen.« (ebd., S. 61).

Diese Antwort scheint auf den ersten Blick zur Frage passend. Levy führte an, dass es anscheinend zwei Möglichkeiten gibt sie zu verstehen. Erstens, der Patient ist gesund und möchte nach Hause. Zweitens als Lüge, der Patient ist nicht gesund, will aber trotzdem nach Hause. Levy fügte jedoch hinzu, dass eine dritte Möglichkeit besteht, die hier zutrifft. Der Patient war paranoid-schizophren erkrankt und fühlte sich verfolgt. Er zeigte keine Krankheitseinsicht und wollte der von ihm angenommenen Verschwörung gegen ihn, zu der auch die Ärzte gehörten, entfliehen. »[Die Antwort] ist nur solange einfach, als man sie betrachtet ohne ihre Bedeutung in S1 zu begreifen. […] die Frage ist nicht einfach q sondern fq(S1) und die Antwort ist nicht einfach a, sondern fa(S2)« (ebd., S. 62). Sowohl Frage als auch Antwort sind also jeweils durch das psychologische Feld definiert, aus dem heraus sie entstehen. Beispielhaft für diese Form des Verständnisses von psychopathologischen Phänomenen führte Levy zwei Patienten mit Echolalie und Echopraxie auf. Echolalie bezeichnet das Phänomen, wenn Gesagtes scheinbar sinnlos vom Gegenüber wiederholt wird. Echopraxie bezeichnet das Gleiche für Bewegungen. Die psychopathologischen Erscheinungen kommen häufig bei schweren Formen der Schizophrenie und des Autismus vor (vgl. Adams, 2013, S. 147). Levy deutete dieses Verhalten als für den Patienten sinnvollen Versuch der Kommunikation. Ein Patient, der beleidigende Stimmen hört und sehr stark damit beschäftigt ist, auf diese Stimmen zu achten, wird die Fragen seines Arztes nach seinem Befinden vermutlich als eher störend empfinden. Wenn der Arzt aber als freundlich wahrgenommen wird und der Patient selbst ein gutmütiger und angepasster Mensch ist, befindet er sich in einer Situation, in der zwei einander widerstrebende Anforderungen an ihn gestellt werden. Eine Anforderung ist es, den Stimmen zu lauschen, die andere Anforderung besteht darin, die Freundlichkeit des Arztes zu erwidern (vgl. hierzu Appetenz-AppetenzKonflikt nach Lewin, 1938). Levy schrieb: »Unter dem Druck dieser beiden widerstreitenden Situationsanforderungen entdeckte er einen Ausweg. Wenn er schon nicht von den drängenden S2 Kräften [die Stimmen in seinem Kopf] lassen konnte, um den Anforderungen von S1 [die Freundlichkeit des Arztes] angemessen gerecht zu werden, so konnte er zumindest in eine periphere, halbautomatisierte soziale Beziehung mit dem Arzt eintreten, indem er wiederholte,

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

was dieser auch immer sagte oder tat, während er sich zugleich weiterhin mit S2 beschäftigen konnte.«.50

Ähnliches schilderte Levy für einen anderen Patienten mit einem organischen Defekt, welcher zu einer präsenilen Demenz geführt hatte. Dieser Patient war im Denken »zu schwerfällig und langsam […] um rasch und angemessen zu begreifen und zu antworten«. Er zeigte ein »nicht enden wollendes Händeschütteln und die Wiederholung der Frage und Begrüßungen […]. Die Echolalie rettete die soziale Situation.« (ebd.). Levy kritisierte andere Theorien der Schizophrenie anhand der Idee, dass diese die individuelle psychologische Feldsituation des Patienten vernachlässigen würden. Insbesondere Bleulers Standpunkt wurde dabei in den Fokus der Kritik gerückt. Nach Levy betrachtete Bleuler die Psychopathologie schizophrener Patienten als einzeln zu betrachtende Denkfehler. Er warf ihm vor, die Phänomene des Denkens wie objektiv beurteilbare Gesetzmäßigkeiten in der Physik zu behandeln. In der Physik sei dies zwar zum Teil möglich, da die Welt der Physik für zwei Wissenschaftler weitgehend die gleiche sei. Dies würde bedingen, dass auch die Sicht auf ein physikalisches Problem die gleiche sei. In vielen Situationen sei dem jedoch nicht so. Meistens liege ein Problem vor, dass nur in seiner »funktionalen Rolle« und seiner »situativen Bedeutung« verstanden werden könne (ebd., S.64). Selbst wenn sich zwei Menschen in der scheinbar gleichen psychologischen Situation befinden, kann es vorkommen, dass sie unterschiedliche Ausschnitte dieser Situation wahrnehmen. Als Beispiel führte Levy eine Tochter mit ihrem Vater an. Die Tochter ist in einen Mann verliebt. Der Vater kennt diesen geschäftlich. Die Tochter schätzt an dem Mann seine Brillanz und seinen Erfolg. Der Vater sieht diesen Mann zwar auch als brillant und erfolgreich, weiß jedoch auch, dass er seinen Erfolg durch unlautere und ethisch zweifelhafte Methoden erreicht. Deshalb ist er gegen die Verlobung der beiden. Beide sehen die Eigenschaften des Mannes, jedoch in einem unterschiedlichen Kontext. Somit stellte Levy fest, dass eine objektive, d. h. situationsunabhängige Betrachtung eines Problems meist nicht gegeben ist, auch wenn dies manchmal vorläufig so scheint. Ein zweiter Punkt den Levy anführte, um aufzuzeigen welche Schwierigkeiten bei der objektiven Betrachtung eines Problems vorkommen, liegt im Betrachter selbst. Um objektiv, also personenunabhängig auf ein Problem zu schauen, muss sichergestellt sein, dass der Betrachter alle individuellen Faktoren außen vorlässt. »Sehr oft ist das Denken nicht nur auf die strukturellen Gefordertheiten der sachlichen Situation zentriert, sondern auf Feldbedingungen, die das Subjekt in einer möglicherweise so gravierenden Weise verstricken, dass es unfähig wird, 50 Levy, 1943, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 63.

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mit dem gegebenen Problem als einem unabhängigen Ganzen umzugehen, ihm in strikter Sondierung von dem, was für ihn selbst wichtig und dringlich sein mag, gerecht zu werden.« (ebd., S. 68). Als Beispiel nannte Levy hierfür Menschen »die nach gewaltsamen, revolutionären Veränderungen in ihrem Land einfach nicht imstande sind, diese Veränderungen als Realität zu akzeptieren.« (ebd., S. 68). Er beschreibt einen jüdischen Kaufmann aus Bayern, der die Machtergreifung der Nazis und die damit einhergehende Ausgrenzung, als »Ausländer« in seiner geliebten Heimat gesehen zu werden, nicht verkraften konnte. Für ihn seien die Nazis »das Ausländische« und Fremde gewesen. Er weigerte sich verbissen Deutschland zu verlassen. Erst nachdem er in ein Konzentrationslager verschleppt worden war, erkannte er die neue, unbegreifliche Realität an. Ihm gelang die Flucht, er wurde jedoch zu einem »verwirrten, gebrochenen, alten Mann« (ebd., S. 68). Manche Umstände lassen es demnach für einen Menschen unmöglich werden, sich einem Problem objektiv zu nähern und Eigenes völlig herauszuhalten. Um Bleuler expliziter zu kritisieren und aufzuzeigen, welches Verständnis er von dem Denken hat, führte Levy das bereits im Kapitel zur Schizophrenieforschung aufgeführte Beispiel zu Epaminondas auf. Demnach habe Bleuler seinen Patienten gefragt: »Wer war Epaminondas?«.51 Levy bemängelte Bleulers Ansatz, die Äußerungen des Patienten mit der erwarteten Antwort aus dem Geschichtsbuch zu vergleichen und anhand dieses Vergleiches die Fehler im Denken des Patienten aufzuzeigen. Er bemerkte hierzu, Bleuler habe die Aussage des Patienten stückhaft analysiert, also deren Gesamtheit übersehen und außerdem die Situation des Patienten völlig missachtet. Levy zitierte Bleuler mit der Aussage: »[es] entsteht der Eindruck, als ob Konzepte einer bestimmten Kategorie … Tatsachen aus dem Altertum – in einen Topf geworfen und durch Schütteln gründlich vermischt worden wären; und als ob sie dann eines nach dem anderen, wie es sich eben gerade ergab, herausgenommen und miteinander durch grammatikalische Formen und einige Ideen verbunden worden wären.« (Bleuler, 1911, zitiert nach Levy, 1943). Assoziationsverbindungen werden gesucht und als gestört klassifiziert. Levy dagegen meinte in der Aussage des 51 »Epaminondas war einer der namentlich zu Wasser und zu Lande mächtig war. Er hat große Flottenmanöver und offene Seeschlachten gegen Pelopidas geführt, war aber im zweiten punischen Krieg aufs Haupt geschlagen worden durch das Scheitern einer Panzerfregatte. Er ist mit Schiffen von Athen nach dem Hain Mamre gewandert, hat caledonische Trauben und Granatäpfel hingebracht und Beduinen überwunden. Die Akropolis hat er mit Kanonenbooten belagert und ließ die persische Besatzung als lebende Fackeln verbrennen. Der nachherige Papst Gregor VII – äh – Nero folgte seinem Beispiel u. durch ihn wurden alle Athener, alle romanisch-germanisch-keltischen Geschlechter, die den Priestern gegenüber keine günstige Stellung einnahmen, durch den Druiden verbrannt am Fronleichnamstag dem Sonnengott Baal. Das ist die Periode der Steinzeit. Speerspitzen aus Bronce.« (Bleuler, 1916, S. 53).

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

Patienten eine Tendenz zur Grandiosität gefunden zu haben. Wenn man die Antwort des Schizophrenen liest ohne irgendwelche Erwartungen, zeigt sich: »Als Ganzes betrachtet ist die Antwort von einer machtvollen, eigenartigen, ungesunden Gestimmtheit durchzogen, einer unerwarteten atmosphärischen Ganz-Qualität.«.52 Diese Gestimmtheit der Grandiosität entstand nach Levy vermutlich aus der Biographie und der aktuellen Situation des Patienten. Er beschrieb diese Tendenz des Patienten als zweiten Vektor, der auf die Antwort einwirkte (siehe Abbildung 4). Der erste Vektor ist die durch die Frage intendierte Struktur der Gestalt, der Teil, der die Lücke hervorbringt und zu einer gewissen Antwort auffordert, um die Gestalt zu schließen. Der Patient bemühte sich zu Beginn die Frage sachgemäß zu beantworten, driftete dann jedoch in Richtung der Grandiosität ab. Levy vermutete, dass diese Gestimmtheit ihren Ursprung in der Erlebenswelt des Patienten haben muss. Er nahm an, dass die Welt des Patienten um dieses Thema der Grandiosität zentriert sein müsse und jede von außen kommende Anforderung an ihn letztlich im Rahmen dieser Zentrierung verarbeitet werde.

Abbildung 4: Feldsituation von Frage und Antwort (Levy, 1943; entnommen aus der Übersetzung von Stemberger, 2002, S. 73)

Levy beschrieb dies so: »Diese neue Tendenz unterwirft das Ganze ihrer eigenen Gesetzlichkeit, drückt ihm ihren eigenen Charakter und ihre eigene Ganz-Dynamik auf.« (ebd., S. 72). Diese neue Ganz-Dynamik lenkt die Antwort von der in der Frage enthaltenen Lücke weg. Dieser zweite Vektor der Gestimmtheit steigert bzw. entfernt sich immer weiter weg von der Frage und übernimmt auch 52 Levy, 1943, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 72.

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im Bereich des formalen und logischen Denkens immer mehr die Oberhand. Am Ende bleiben nur Satzfetzen übrig, die der Patient nennt. Levy interpretierte diesen Vorgang als Übernahme der Gestalt der Gestimmtheit, die kein stringentes formales Denken mehr benötigt. Er nahm an, dass die Welt von diesem Patienten – und vermutlich von psychotischen Patienten allgemein – anders zentriert ist als die von Gesunden. Bei diesem Mann ist alles um die Tendenz zur Grandiosität zentriert, »[…] alles wird zum Träger und Funktion. Die Frage, die in eine solche Situation hineingeworfen wird, nimmt eine andere funktionale Bedeutung an, als der Fragesteller – aus seiner Situation heraus intendierte« (ebd., S. 73). Der Prozess der Interaktion zweier Menschen im Geflecht von Frage und Antwort ist also nach Levy grundsätzlich der gleiche wie bei Gesunden. Allerdings findet er bei Schizophrenen in einer extremeren Form statt. Die soziale Situation des Patienten (S2) sei so stark, dass sie die Gestalt der Frage völlig überlagert. Nun stellt sich die Frage, weshalb dies beim Denken von schizophrenen Menschen so ist. Levy nannte zwei wichtige Erklärungsansätze. Zum einen meinte er, es könne bei extremen Umweltbedingungen zu einer Störung der Umzentrierung der Person kommen (ähnlich wie bei dem Patienten in dem Artikel »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen«). Zuerst stellte Levy fest, dass Denken kein isolierter Vorgang sei, sondern immer von der »Ganz-Beziehung der Person zu ihrer phänomenalen Welt« (ebd., S. 73–74) bestimmt werde. Eine Umzentrierung im Denken finde also abhängig von der Umwelt des Menschen statt. Levy führte weiter aus, dass es im Leben eines jeden Menschen immer wieder zu Erfahrungen kommen könne, die ein radikales Infragestellen von Glaubenssätzen und eine Neuorientierung notwendig machen. Solche kritischen Episoden kommen zum Beispiel in der Pubertät und im Erwachsenwerden vor. Es gibt nach Levy Situationen, in denen eine solche Neuorientierung sogar »lebensnotwendig« wird. Solche Situationen können weitreichende Krisen sein, die sowohl kognitive als auch emotionale und motivationale wichtige Kernpunkte des Erlebens radikal in Frage stellen oder umwerfen können. Dies meinte er bei Schizophrenen beobachtet zu haben. Der Beginn ihrer Erkrankung sei nach Levy häufig mit solchen »weitreichenden psychologischen Aufgaben« (ebd., S. 75) in Verbindung zu sehen. Der Prozess der Umzentrierung ist nach Levy ressourcenintensiv und anstrengend. Er könne sich plötzlich einstellen, kann aber auch viel Zeit in Anspruch nehmen. Der ganze Organismus ist hierbei gefordert. Dies könne nach Levy zwar einerseits zu kreativen Hochformen, intensiver Religiosität, Verliebtheit, ethischer Neuorientierung führen, einen Menschen andererseits aber auch komplett überfordern.

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

»Immer wieder müssen auf die Ausarbeitung der Details gerichtete Prozesse ablaufen, wenn die Umzentrierung in eine lebbare, konkrete und konsistente Sicht des Lebens und der Welt münden soll, die mit den sachlichen Gegebenheiten und Strukturen der Welt vereinbar ist. Jeder wichtige Teil des Lebens muss stimmig in die intendierte neue Sicht des Ganzen eingearbeitet werden.« (ebd., S. 74).

Hierbei wird deutlich, wie Levy die Persönlichkeit eines Menschen als Gestalt verstand, welche sich zwischen Persönlichkeitsanteilen, Denken, Fühlen, Erleben und Handeln, eingebettet in eine soziale und physikalische Umwelt bewegt. Dieser Prozess ist nach Levy ein systemischer, welcher auch von der Dynamik der Gestalt der Persönlichkeit bestimmt wird. Der Mensch sei demnach gezwungen durch Zentrierung und Umzentrierung die Gestalt zu wahren und zu verändern. Allerdings können in diesem Prozess auch Störungen auftreten, wie dies vermutlich bei den Psychosen vorkommt. Bestimmte Umzentrierungsprozesse sind so aufwändig und kräftezehrend, dass Menschen in Momenten großer Anspannung damit überfordert sein können. Es kann die Kraft, die Intelligenz oder die Möglichkeit fehlen, eine solche Aufgabe konsistent und lebbar zu bewältigen (ebd., S. 75). Auch kann es vorkommen, dass die Umweltbedingungen so starr sind und die angestrebte Richtung der Umzentrierung so extrem und unflexibel scheint, dass sich kein geeigneter Kompromiss finden lässt. »Dem Patient steht unter Umständen kein anderer Ausweg aus dem Dilemma offen, als die Schwierigkeiten mit den konkreten Einzelheiten schlicht und einfach nicht zu beachten. […] Widerspenstige Einzelheiten müssen irgendwie hingebogen und gegen ihre innere Struktur in die neue Zentrierung hineingepresst werden, um zumindest die Möglichkeit einer Realisierung der Haupttendenz in ihrer ursprünglichen Krankheit, Intensität und Richtung zu retten.« (ebd., S. 75f).

Die Ganz-Tendenz einer Zentrierung, das heißt die Wahrung der Gestalt, die durch die Umzentrierung notwendig wurde, ist für das Individuum wichtiger. Wenn keine Kraft mehr vorhanden ist, das komplexe Ineinanderführen von Umweltanforderung und Gestalt-Tendenz auszubalancieren und aufeinander abzustimmen, werden nach Levy die äußeren Umweltbedingungen eher ignoriert oder verleugnet. Das gleiche gilt für innerpsychische Inkonsistenzen. Diese werden ebenfalls ignoriert oder verleugnet, solange nur die Ganz-Tendenz bestehen bleibt. Im Falle des Patienten, den Bleuler anführte, interpretierte Levy dessen Äußerung als Versuch, die Ganz-Tendenz zu wahren. Dabei wurden Einzelheiten und strukturelle Forderungen der Situation weitgehend ignoriert. Ein zweiter Punkt, der Levys Verständnis der Schizophrenie ausmachte, war die Annahme, dass schizophrene Patienten häufig durch die benötigte Spannung, die das Hervorbringen einer konsistenten, prägnanten Gestalt verlangt, überfordert sind. Levy nannte den Vorgang, in dem sich eine solche Gestalt

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bildet »Kristallisation« (ebd., S. 77). Eine Frage stellt wie beschrieben eine unfertige Gestalt dar. Soll diese Frage als unfertige Gestalt beantwortet und damit die Gestalt geschlossen werden, erfordert dies einen Prozess der Strukturierung (oder Kristallisation). Auch die Antwort selbst hat eine Gestalt bzw. Struktur. Es finden sich eine Figur und ein Grund. Anders gesagt, zeigen sich eine Hintergrundinformation und eine konkrete Aussage. Auch der Prozess der Strukturierung der Antwort ist also eine Form der Kristallisation der Gestalt. Da bei einer Gestalt die Einzelteile immer von der Gesamtgestalt bestimmt werden, muss es auch so etwas wie »Gestaltkräfte« geben (ebd., S. 77). Diese Kräfte sind mit den Feldkräften einer Situation – also Aufforderung, im Sinne von Appetenz und Aversion – vergleichbar. Sie sorgen für die Organisation und Strukturierung der Einzelteile in der Gestalt und fügen sie so zusammen, dass sie in den Charakter des Ganzen passen. Kommt es zu Hindernissen, zum Beispiel fällt einem ein Wort im Rahmen einer Antwort nicht ein, führt dies zu einer Spannung. Levy fragte sich nun »[…] ob Schizophrene imstande sind, ein ausreichend hohes Niveau einer solchen Gestalt-Spannung herzustellen und aufrecht zu erhalten, um ihrem eigenen vitalen Bedürfnis nach solchen neuen schöpferischen Prozessen gerecht zu werden.« (ebd., S. 78). Hierin steckt der zweite Erklärungsversuch Levys, ein schizophrener Patient könnte eventuell konstitutionell nicht in der Lage sein, ein solch hohes Niveau an Gestalt-Energie herzustellen. Damit werden die Gestalten brüchig und inkonsistent. Dieser Punkt muss aufgrund begrifflicher Schwierigkeiten nochmals genauer erläutert werden. Mit dem Begriff Gestalt-Druck wird die aus den Reizen hervorgehende Tendenz zur guten Gestalt – im Sinne der Prägnanztendenz – bezeichnet. Diese ist in der Gestalttheorie durchaus üblich (vgl. Kaila, 1962; Wertheimer, 1922, 1923). Wenn man einen unvollständigen Kreis sieht, bestehen die Reize aus den einzelnen Punkten, die man sieht. Der Gestalt-Druck bezeichnet die aus der Gestalt hervorgehende Tendenz, die fehlenden Linienstücke zu schließen, um den Kreis als Ganzes wahrzunehmen. Man unterscheidet also zwischen den einzelnen Punktteilen und der Gestalt des Kreises. Die Gestalt des Kreises erzeugt – in der Sprache der Gestalttheoretiker – einen »Druck«, der dazu führt, dass die Gestalt geschlossen wird und wir den Kreis sehen. Dieser Druck kann unterschiedlich stark sein, geht aber immer von der Gestalt aus. Wenn sehr große Lücken im Kreis sind, ist der Druck z. B. größer, als wenn es sich nur um kleine Lücken handelt (siehe Abbildung 5). Der Begriff der Gestalt-Spannung ist etwas weiter gefasst und vermutlich an Max Wertheimers Begriff der strukturellen Spannung angelehnt (Wertheimer, 1945). Die strukturelle Spannung bezeichnet die Spannung, die zwischen dem Objekt, also z. B. dem unvollständigen Kreis und dem Subjekt, also dem Betrachter, entsteht. Ein anderes Beispiel wäre die unvollständige Abbildung eines Geldscheines. Der Gestalt-Druck liegt direkt in der Abbildung des Geldscheines

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

Abbildung 5: Kreise mit unterschiedlich starkem Gestalt-Druck. Anmerkungen: Links größer, rechts kleiner (Eigene Darstellung)

und bezeichnet die Tendenz zur guten Gestalt, also die Tendenz das Unvollständige in der Abbildung in der Wahrnehmung zu vervollständigen. Die strukturelle Spannung oder Gestalt-Spannung hingegen entsteht dann, wenn sich das Subjekt in Geldnot befindet und deshalb besonders aufmerksam auf den Geldschein wird. Der Geldschein bekommt einen Aufforderungscharakter für das Subjekt. Die Gestalt-Spannung kann somit eher als Geschehen in einer sozialen Situation verstanden werden, bezeichnet allerdings ähnlich wie der Gestalt-Druck die Tendenz zur Vervollständigung einer ungeschlossenen Gestalt. Gestalt-Energie ist vermutlich ein Begriff, der in dieser Form nur von Levy verwendet wurde. Levy meint damit wahrscheinlich die Fähigkeit eines Individuums, die nötige innerpsychische Energie aufbringen zu können um – dem Gestalt-Druck und der Gestalt-Spannung folgend – eine konsistente Gestalt zu bilden. Die Gestalt-Energie liegt somit nicht im Objekt, sondern im Subjekt. Zurück zu Levys Erklärung für die schizophrene Denkstörung. In seiner Erklärung stellte Levy also zwei Probleme der Patienten fest. Die erste Schwierigkeit ist, wie bereits ausgeführt, eine lebensgeschichtlich bedingte Schwierigkeit bei der Umzentrierung von wichtigen Gestalten der Person. Diese können zu einer starren Zentrierung auf ein Thema führen sowie eine Vernachlässigung von anderen Themen und Situationen bedingen. Anders ausgedrückt: die Zentrierung um das zentrale Thema des Patienten wird durch die missglückte Umzentrierung sehr stark. Das zweite Problem stellt die fehlende Möglichkeit dar, komplexe Gestalten konsistent zu organisieren. Dies rührt aus einer von Levy angenommenen Minderung der Gestalt-Energie bei schizophrenen Patienten. Deshalb kommt es zu den beschriebenen etwas bizarr wirkenden Antworten auf die, zum Beispiel durch Bleuler gestellten Fragen. Levy meinte »[…] oft findet man genau das vor: extreme, übertriebene Ganz-Tendenzen bei gleichzeitigem Durcheinander nur angedeuteter, hastig hingeworfener, oft inkohärenter Einzelheiten.« (ebd., S. 78).

»Eine Gestalttheorie der Paranoia« (1986)

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Nach Levy sind also bei Schizophrenen die Gestalten des Denkens gestört. Einmal in der Hinsicht, dass sie keine gut strukturierten und organisierten Einheiten bilden. Zum zweiten, indem einseitige Tendenzen aus dem Leben des Patienten sehr in den Vordergrund gerückt sind und eine omnipräsente Rolle im gesamten Denken und Erleben einnehmen. Diese Themen sind so stark repräsentiert, dass sie quasi die Gestalten, welche sich aus der Umwelt ergeben, überlagern und verändern. Levys gestalttheoretische Ausführungen über die schizophrene Denkstörung lesen sich streckenweise wie ein Plädoyer für die Notwendigkeit des Verständnisses der individuellen Lebenssituation jedes einzelnen Patienten. Er kritisierte dabei die Sicht auf den Patienten aus einer »objektiven« wissenschaftlichpsychiatrischen oder psychoanalytischen Perspektive, die jede Abweichung vom »Normalen« als krank, fehlerhaft oder gestört betrachtet. Dabei scheinen die aufgeführten Beispiele Levys von Verlust der Heimat und Sicherheit sowie von wichtigen individuellen Grundüberzeugungen und seiner Emigration geprägt zu sein.

5.3

»Eine Gestalttheorie der Paranoia. Einführung, Kommentar und Übersetzung von Heinrich Schulte« (1986)

Den Kommentar zur Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen veröffentlichte Levy 1986 in der Zeitschrift »Gestalt Theory«. Mit seinem Artikel kommentierte Levy die Entwicklung einer paranoiden Psychose als Kippen im Prozess der Umzentrierung einer Gestalt. Ein Paranoiker hat hiernach ein gestörtes Wir-Gefühl und stellt dies wieder her, indem er durch ein »alle gegen mich« seine Isolation beendet und sich mit den anderen zurück in Beziehung setzt.53

5.3.1 Der Wertheimer-Schulte-Artikel Bevor auf den Kommentar Levys näher eingegangen wird, werden kurz die wichtigsten Thesen des Artikels von Schulte und Wertheimer dargestellt. Diese Arbeit wurde 1924 in der Zeitschrift »Psychologische Forschung« veröffentlicht und wurde vermutlich von Heinrich Schulte und Max Wertheimer gemeinsam verfasst. 53 Die Arbeit sei nach Levy maßgeblich von Max Wertheimer beeinflusst, vermutlich sogar direkt von ihm diktiert worden. Deshalb nannte Levy die Theorie der Paranoia »WertheimerSchulte-Thesen« (Levy, 1986).

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Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

Schulte ging der Frage nach, durch welche Gegebenheiten ein paranoider Wahn entstehen kann. Ganz im Sinne von Kraepelin (1913), Bleuler (1911) und Jaspers (1946) suchte er nach primären und sekundären Prozessen innerhalb der paranoiden Wahnbildung. Dabei grenzte er seine Überlegungen von Konzepten ab, die intellektuell-formell gedankliche Störungen, affektive Störungen, IchStörungen und charakterologische Anlagen als primär annehmen. Seiner Ansicht nach ist der Mensch sowohl Ich als auch Wir, also gleichzeitig und gleich stark Individuum und Teil einer Gruppe. Es gibt bestimmte Situationen, die ein Wir intendieren. In diesen Situationen fühlen, handeln und denken Menschen nicht als Individuum, sondern als Wir-Teil. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den Menschen. Manche Menschen fühlen sich durch den Aufforderungscharakter einer Situation sehr schnell als Wir-Teil, andere isolieren sich eher in der Gruppe. Für manche Menschen ist es besonders leicht das Wir-Gefühl zu entwickeln, andere sind darin gehemmt. Beispiele für die gehemmten Menschen seien »Eigenbrödler und Sonderlinge« (Schulte, 1924, zitiert aus Stemberger, 2002, S. 29). Jedoch kann es zu einer erheblichen Kluft zwischen dem von einer Situation geforderten Wir und der erlebten Isolierung kommen. Dies nannte Schulte »WirKrüppelhaftigkeit« (ebd., S. 30). Er definierte dies wie folgt: »Eine Wir-Krüppelhaftigkeit ist demnach [ein] aufs stärkste intendiert[er] Wir-Teil, ohne dass er tatsächlich als Wir-Teil lebt, respektive leben kann.« (ebd., S. 30). Zu einer solchen Situation kann es nach Schulte zum einen durch äußere Faktoren kommen, z. B., wenn ein Mensch die Sprache der Gruppe nicht versteht oder die Gruppe sich durch eine Eigenschaft zusammengehörig fühlt, die ein einzelnes Gruppenmitglied nicht teilt. Zum anderen kann sich eine solche Situation aus inneren Gründen ergeben. Es kann sein, dass sich ein Wir-Gefühl in einer Gruppe durch eine Aktivität ergibt, welche eine Fähigkeit erfordert, die der Einzelne nicht hat, z. B. ein hoher Grad an Intelligenz, der für eine Tätigkeit benötigt wird. Es kann auch die sogenannte Gefühlsstärke des Einzelnen fehlen, um sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Weiter führte Schulte aus, dass der Zustand des durch die Situation oder das Individuum geforderten Wir-Gefühls, welches aber durch die genannten Gründe nicht zustande kommt, »nicht lebbar« (ebd., S. 30) ist. Die Kluft zwischen dem Intendierten und dem Realen kann so groß und »unlebbar« sein, dass sie sehr stark in den Vordergrund des Erlebens tritt. Manche Menschen schaffen es, sich sehr zu isolieren und ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Dies beschrieb Schulte als »objektive Gleichgültigkeit gegenüber dem Ausgeschlossensein« (ebd., S. 31). Eine weitere, sehr große Ressourcen und innere Stärke abfordernde Reaktion ist die Flucht aus der Situation. Sind aber beide Wege nicht möglich, »[…] so wird ein lebbarer Zustand

»Eine Gestalttheorie der Paranoia« (1986)

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hergestellt durch das Surrogat54 einer bloß subjektiven Umbildung mit Setzen von Beziehungen, wo diese nicht sind, mit Umdeutungen, Umschauungen.« (ebd., S. 31). Dies kann als eine Notlösung zur Herstellung eines Gleichgewichts, bzw. eines lebbaren Zustandes verstanden werden, der jedoch eine Abkehr von der Realität der Beziehungen bedeutet. Aus dem gewünschten und geforderten »ich und die anderen« und dem erlebten »[ich] mit den anderen« wird ein »sie gegen mich« (ebd., S. 32). In diesem Modus ist die Kluft nicht mehr spürbar. Alles Verhalten der anderen wird in negativer Art und Weise auf das Ich bezogen. Damit wird ein Zustand erzeugt, in dem der Mensch sich wieder als Wir-Teil erlebt. So bildet sich ein paranoides Wahnsystem heraus. Die Dauer und die Art des Wahns sind nach Schulte wiederum sehr von der Intelligenz und dem Charakter des Individuums abhängig. Schulte führte mehrere Beispiele für seine These der Wahnbildung an. Zum einen schilderte er den Fall eines Tataren, der in ein österreichisches Kriegslazarett kam. Er konnte sich aufgrund von Sprachunterschieden mit niemandem verständigen und entwickelte dann den Wahn, von allen verfolgt zu werden. Dieser Wahn bildete sich zurück als ein Übersetzer eintraf. Diese Form der Wahnbildung findet nach Schulte vor allem bei älteren, isolierten Menschen und Gefangenen statt (ebd., S. 35ff). Die erlebte Isolierung erzeugt eine starke Kluft und wird, abhängig von »Wir-Tüchtigkeit« (ebd., S. 36), im Sinne eines »alle gegen mich« beseitigt. Ausführlicher stellte Schulte den Fall eines Patienten mit Namen Karl G. dar. Er sei »[…] seit jeher misstrauisch, eigenbrödlerisch, zurückgezogen und gesellschaftsfeindlich, seiner Frau gegenüber frigid, dabei eitel, pedantisch im Amt, sehr ehrgeizig, leicht aufbrausend, nicht über den Durchschnitt begabt, […] und als ehemaliger Soldat als Beamter in einer Kriegskanzlei tätig. Seit dem ersten Tag des Kriegsausbruchs 1914 datiert sein Wahn« (ebd., S. 40). Er habe eine Akte prüfen sollen, die mit roter Farbe markiert gewesen sei. Diese rote Farbe habe er als Vorwurf, ein Sozialist zu sein, interpretiert. Im Anschluss habe sich bei ihm ein Wahn herausgebildet, bei dem er überzeugt gewesen sei, alle Farben hätten eine vorwürfliche Bedeutung, die gegen seine Person gerichtet sei: »[…] schwarze Tücher bedeuten seinen nahen Tod, weiße seine Unschuld, blaue Kleider sagten, er und seine Frau seien blau, dumm, könnten nicht mitmachen« (ebd., S. 40). Weiter glaubte er, seine Kollegen würden ihm auf subtile Weise mitteilen wollen, er solle seine Position im Amt verlieren. Dann entwickelte sich die Idee, er solle »einen Brand gelegt haben, Juden und Katholiken beleidigt, sich homosexuell vergangen haben usw.« (ebd., S. 40). Schulte interpretierte dies so, dass der Patient schon sein ganzes Leben 54 Etwas, das ein Ersatz für etwas sein soll, aber von geringerer Qualität ist (Duden, 2015, S. 1728).

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Schwierigkeiten gehabt habe ein Wir-Gefühl zu entwickeln. Er habe versucht seine Wir-Krüppelhaftigkeit zu kompensieren, in dem er sich sehr von anderen isoliert habe. Dekompensiert sei dieser Versuch, als der Krieg ausgebrochen sei. Der Krieg habe eine sehr starke Aufforderung dargestellt ein Wir-Teil zu werden. Dieser Aufforderung habe der Patient nicht nachkommen können und deshalb den Wahn entwickelt, um die Kluft zu überwinden. Warum genau der Patient eine konstitutionelle Wir-Krüppelhaftigkeit gehabt hatte, erörterte Schulte nicht näher. Für ihn scheint die von der Situation und dem Gruppen-Ganzen geforderte Wir-Haftigkeit, welcher der Patient nicht nachkommen konnte, im Vordergrund gestanden zu haben. Warum genau er dies nicht konnte, war für Schulte nebensächlich. Jedoch betonte er die Notwendigkeit, den paranoiden Wahn nicht als »individual-psychologisches« oder rein »biologisches Phänomen« zu sehen (ebd., S. 34). Wenn ein Mensch einen Wahn ausbildet, dann geschieht dies nach Schulte, weil dieser sich in einer unlebbaren Situation befindet. Die Kluft zum geforderten Wir-Gefühl und die Unfähigkeit diese Kluft zu überwinden, führen zu der Wahnbildung im Sinne eines Reparationsversuches. Im Zentrum des Wahns steht nach Schulte die Herstellung der Wir-Haftigkeit, also der sozialen Beziehungen eines Menschen. Dies fasste er wie folgt zusammen: »[…] so sehen wir in dem baldigen Aufhören der Psychose nach Wiederherstellung eines lebbaren Normalzustandes einen quasi experimentellen Beweis für unsere Thesen.« (ebd., S. 44). Am Schluss des Artikels kritisierte Schulte Freud vehement. Hierbei wird auch Wertheimers Skepsis gegenüber der Psychoanalyse spürbar : »Der Hauptunterschied gegenüber Freud besteht darin, dass er den ganzen Prozess individual-psychologisch begründet, in blind-mechanische Auswirkung eines Triebes setzt, in Mechanismen des individuellen Unbewussten. Es handelt sich nach unserer Theorie nicht um solche stückhafte-mechanistischen Folgen eines Liebestriebs eines Individuums, nicht um ein nach Außen, In-andere-hinein-Projizieren des eigenen Unbewussten, sondern um die Wir-Tatsache und gewissermaßen um die Entstehung des Individuums im Rahmen des Prozesses.« (ebd., S. 44).

5.3.2 Levys Kommentar zu den Wertheimer-Schulte-Thesen Levy begründete die Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen mit zwei Punkten. Zum einen bilden diese Thesen für ihn eine allgemeine Erklärung aller Formen paranoider Psychosen »ob nun exogen oder endogen, psychogen oder somatogen.«55 Die Theorie stellt also einen sehr breiten Erklärungsansatz dar. Zum anderen wurde in dieser Theorie der Paranoia nach Levy, ein anderes 55 Levy, 1986, zitiert nach der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger 2002, S. 81.

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Menschenbild als in der modernen Psychoanalyse vertreten. Dieses andere Menschenbild unterscheidet sich von der Psychoanalyse vor allem darin, dass der Mensch sowohl in seiner Rolle als Individuum, also als in sich geschlossene Gestalt, als auch in seiner Rolle als Gemeinschaftswesen, also als Teil einer WirGestalt gleichberechtigt betrachtet wird. Vor allem diesen zweiten Punkt griff Levy auf und erläuterte ihn genauer. Als Beispiel um das »Wir« zu erklären, stellte Levy folgende Situation dar : »Stellen Sie sich eine Anzahl von Fußgängern vor, die in New York auf der Fifth Avenue aneinander vorbeihasten« (ebd.). In dieser Situation gibt es kein Wir sondern eine »bloße Ansammlung von separaten Ich-en« (ebd.). Hingegen ist eine Familie eine »funktionelle Einheit«, die man als Wir bezeichnen kann (ebd.). Diese Gruppe wird sowohl von außen als auch von innen als Ganzheit wahrgenommen. Jedes Familienmitglied wird auch durch seine Rolle innerhalb der Gestalt der Familie bestimmt. Jedoch existiert auch jedes Mitglied der Familie unabhängig von der Familie als Individuum. Deshalb nannte Levy die einzelnen Gruppenmitglieder »Unterganzes« (ebd.). Jedes Ich ist zugleich ein in sich abgeschlossenes Ganzes, als auch ein Wir – als Teil einer Gruppe. Eine Ausnahme wäre eine Person, die in totaler Isolation lebt. »Es gibt nun gelegentlich Situationen, in denen die entscheidenden Gruppenoder sozialen Feldkräfte so mächtig und beherrschend sind, dass die Wahrnehmung des eigenen Selbst als einem Ganzen vorübergehend untergeht und verschwindet.« (ebd., S. 82). Hier beschrieb Levy einen Fall, bei dem das Individuum ganz in der Wir-Gestalt aufgeht und seine Ich-Gestalt verliert. Er fokussierte vor allem auf das Erleben der Person von seinem phänomenalen Selbst. Dabei zeigte er den Unterschied zwischen dem Erleben eines »Ich« und dem Erleben eines »Wir« auf. Er zeichnete nach, dass jeder Mensch ein tiefes Bedürfnis nach einem WirGefühl hat. Dies zeigte er am Beispiel der Neugeborenen, die ohne Beziehungen nicht leben könnten. Babys sind hiernach dafür vorbereitet Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, um so ein intensives Wir zu kreieren. Menschen entwickeln sich von Beginn an »nicht nur als Individuum, sondern zugleich auch als Gruppenmitglied« (ebd., S. 85). Bezugnehmend auf den Fall des paranoiden Psychotikers Karl G. (nach Schulte, 1924, S. 23) beschrieb Levy, wie sich dessen Selbst-Wahrnehmung von einer brüchigen Teilhabe am Wir über das Gefühl von »bloß zwischen – aber nicht mehr mit den anderen sein« zu »alle gegen mich« (ebd., S. 23) entwickelte. Jeder Mensch hat also nach Levy das Bedürfnis nach einem Wir-Gefühl und viele Situationen fordern ein Wir-Gefühl ein. Beides interpretierte Levy als Kräfte in einem psychischen Feld, die als Vektoren verstanden werden können. Es kann jedoch zu inneren oder äußeren Barrieren kommen, welche die Bildung eines Wir-Gefühls in einer bestimmten Situation behindern. Dies erzeugt nach

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Levy ein Gefühl der Beunruhigung und einer »unheilvollen Atmosphäre«. Daraus wiederum geht das Bedürfnis hervor, die Spannung abzubauen, indem ein Surrogat-Wir herausgebildet wird. Dieses Surrogat-Wir tritt in Form der paranoiden Vorstellung »alle gegen mich« auf (ebd., S. 85). All dies geschieht Levy zufolge in einem unbewussten Prozess der Umstrukturierung und Umorganisation der Konstellation. Diesen Prozess der Umstrukturierung verglich Levy mit dem Kippen einer Kippfigur. Man betrachte eine Figur und nach den Gestaltprinzipien formt sich ein Bild von Figur und Hintergrund, wie ein weißer Becher auf schwarzem Grund. Plötzlich kann die Figur »kippen« und eine neue Gliederung der Gestalt erscheint, wie zum Beispiel zwei schwarze Gesichter, die sich ansehen. Die Konstellation der Reize »kippt« und jeder Reiz bekommt in der neuen Organisation bzw. Gestalt eine neue Bedeutung (vgl. den Rubinschen Becher ; Rubin, 1921). Alle Teile des Ganzen organisieren sich so um, dass eine Konsistenz der Ganz-Gestalt hergestellt bzw. erhalten wird. In der Vorstellung »alle gegen mich« wird das Individuum zu einem herausragenden Teil des Ganzen. Die Rolle im Ganzen ist zwar keine genuin positive, jedoch scheint es subjektiv schlimmer zu sein, gar keinen Platz in der Gruppe einzunehmen, als einen schlechten Platz zu haben. Levy kritisierte die in Schultes Artikel nur unzureichend beschriebenen Erklärungen, warum es zu Barrieren zwischen dem Wunsch nach einem WirGefühl des Individuums und den anderen Mitgliedern einer Gruppe kommen kann. Er meinte, man könne dies z. B. durch eine »[…] übertriebene narzisstische Ich-Bezogenheit« erklären, die eine »normale Wir-Erfahrung trotz eindrücklich wahrgenommener situativer Anforderung erschwert«.56 Auch können nach Levy ein sehr rigides Über-Ich, eine starke innere Hemmung oder ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl einen Menschen daran hindern, sich einer Gruppe anschließen zu können, obwohl er sich dies eigentlich sehr wünscht. Weiterhin kann die Unfähigkeit, Wärme und Zuneigung anderen Menschen gegenüber zu erwidern, eine solche Barriere darstellen. Als letzten möglichen Punkt nannte Levy eine unterschwellige Homosexualität, die nicht ausgelebt werden kann und damit zu einer Kluft zwischen Individuum und Außenwelt wird. Hierbei bezog er sich direkt auf Freuds Analyse des Falls Schreber (Freud, 1911) und bemerkte, dass auch der Patient Karl G. in dem von Schulte angeführten Beispiel über Angst vor homosexueller Versündigung klagte (ebd.). Den besonderen Verdienst in der Theorie von Schulte und Wertheimer sah Levy in deren Offenheit dafür, neben psychologischen Barrieren auch somatische und exogene Barrieren zu berücksichtigen. Als Beispiele führte

56 Levy, 1986, zitiert nach der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 87.

»Eine Gestalttheorie der Paranoia« (1986)

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er dabei »Störungen der Hirnfunktion, z. B. Taubheit, Delirium, hohes Alter sowie Sprachschwierigkeiten, Emmigrationsprobleme etc.« (ebd.) an. Im letzten Teil seines Kommentars widmete sich Levy nochmals ausführlicher der Kritik von Schulte und Wertheimer an Freud. Dieser Abschnitt ist nach Levy der »schwächste Teil des Aufsatzes« (ebd., S. 88). Auch stellte Levy die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Thesen von Schulte-Wertheimer und Freud heraus. Zum einen bemängelte er, dass sich die Kritik an Freud auf die falsche Arbeit bezöge. Schulte und Wertheimer hätten sich eher auf die Analyse des Falls Schreber (1911) und Freuds Werk »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) beziehen sollen, als auf den kurzen Artikel »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität« von 1922. Die Kritik an Freuds Theorie, »stückhaft und mechanistisch« zu sein, lehnte Levy mit dem Argument ab, Freud habe in seiner Theorie der Massenpsychologie durchaus komplexe Wechselwirkungen der Identifikation zwischen Gruppe und Individuum beschrieben. Wertheimer würde allen Psychologien, die nicht explizit der Gestalttheorie folgen würden, den Vorwurf machen stückhaft und summativ zu sein (ebd., S. 88). Levy verglich die beiden Theorien und argumentierte, dass nach Freud die Feindseligkeit im Patienten sei und er diese auf seine Außenwelt projiziere. Bei Schulte und Wertheimer entstehe die Feindseligkeit erst durch den Prozess des Kippens. Sie sei also nicht Ursache der Psychose, sondern Produkt der Umzentrierung bei mangelndem Wir-Gefühl. Levy meinte hierzu, dass eine Entscheidung, welche der beiden Vermutungen richtig sei, in der klinischen Untersuchung zu treffen wäre. Weiter kritisierte Levy die Ablehnung der Rolle der Triebtheorie durch Schulte und Wertheimer. Die Ablehnung sei vermutlich allein darin begründet, dass sie die Triebtheorie als stückhaften Teil einer Person verstanden hätten und sie eben diese Konzeption der Stückhaftigkeit ablehnen würden. Er wagte die Vermutung, dass Wertheimer Freuds Aussage, der Trieb sei ein Teil des bio-psychologischen Wir-Wesens, wohl zugestimmt haben könnte. Der interessanteste Punkt an Levys Kritik ist wohl der Versuch, Gemeinsamkeiten zwischen den Theorien aufzuzeigen. Nach Levy ist beiden Thesen gemein, dass sie den Wahn als reparativen Prozess fassen. Er zitierte Freud zum Fall Schreber und zeigte damit, dass Freud ebenfalls davon ausging, dass die Katastrophe für Schreber die Isolierung von den anderen Personen darstellte, die er durch seinen paranoiden Wahn aufhob. Der Wahn sei ein Heilungsversuch: »Der Mensch hat eine Beziehung zu den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr intensive, wenn sie auch feindlich sein mag« (Freud, 1911, zitiert nach Levy, 1986). Der ursprüngliche Grund für die Entwicklung des Wahns mag zwar bei Freud ein anderer sein als bei Schulte und Wertheimer, jedoch zeigt sich nach Levy eine erstaunliche Ähnlichkeit in den Konsequenzen. Abschließend stellte Levy die Frage nach den Unterschieden der beiden zu-

100

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

grundeliegenden Menschenbilder der Psychoanalyse und der Gestalttheorie sowie die Frage nach der Vereinbarkeit der klinischen Befunde eines Psychoanalytikers und dem Menschenbild eines Gestalttheoretikers. Antworten bot Levy keine, verwies jedoch auf die Wichtigkeit, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Hierin zeigt sich vielleicht auch die innere Frage Levys nach der Vereinbarkeit von Psychoanalyse und Gestalttheorie. In großen Teilen von Levys Kommentar wiederholte er die Thesen von Schulte und Wertheimer. Sein Kommentar und die Übersetzung ins Englische kann wohl auch als Versuch verstanden werden, diese Thesen der Gestalttheorie zur Paranoia einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jedoch präzisierte er auch einige Stellen, fügte bindungstheoretische Erkenntnisse hinzu und kritisierte den im Original enthaltenen Angriff auf Freud. Damit spannte Levy in diesem Artikel eine Brücke zwischen gestalttheoretischen und psychoanalytischen Psychopathologietheorien.

5.4

Levys Buchrezensionen

Alle Rezensionen Levys erschienen in der Zeitschrift »Social Research: An International Quarterly«, einer Zeitschrift der New School of Social Research. Diese Zeitschrift wird seit 1934 regelmäßig veröffentlicht und beschäftigt sich vor allem mit sozial- und geisteswissenschaftlich relevanten Themen von gesellschaftlichen Diskursen.

5.4.1 Karen Horney: »The Neurotic Personality of Our Time« 1937 befasste sich Levy mit Horneys Buch »The Neurotic Personality of Our Time« (Horney, 1937), welches sich mit Wechselwirkungen von Neurose und der Gesellschaft beschäftigt. Er konstatierte dem Buch, eine wichtige Quelle für die Entwicklung der Psychiatrie zu sein. Dabei stellte er insbesondere die Abkehr von der elementaren Wichtigkeit der unterdrückten kindlichen sexuellen Wünsche und die Hinwendung zu der emotionalen Versorgung in der Kindheit sowie den gesellschaftlichen Rahmenbeziehungen des Menschen heraus. Allerdings kritisierte er, dass die Reduzierung der gesamten Kultur im Lichte der »Wall Street« etwas einseitig sei (Levy, 1937). Er bemerkte, dass die ausschließliche Betrachtung des Menschen unter dem Aspekt des Wettbewerbs und der Konkurrenz der wirtschaftlichen Verhältnisse etwas zu eng gefasst sei.

Levys Buchrezensionen

101

5.4.2 Karen Horney: »New Ways in Psychoanalysis« Drei Jahre später schrieb er eine Rezension (Levy, 1940) über Horneys nächstes Buch »New Ways in Psychoanalysis« (Horney, 1939), in dem sie vor allem Freuds Theorien kritisch beleuchtete. Auch hier stellte er anerkennend heraus, wie die Autorin neue Interpretationen von zentralen Elementen der Freudschen Theorie aufzeigte. Insbesondere, dass sie sich mehr auf die Notwendigkeit von Abwehrmechanismen in einer ungesunden Umwelt bezog und den Fokus in der Analyse auf die einengenden Konsequenzen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Selbst legte. Levy schien vor allem von der Einbeziehung der Dynamik der Mensch-Umweltbeziehungen überzeugt. Auch beschrieb er würdigend die Veränderungen, die sich daraus für die Arzt-Patient-Beziehung ergeben. Diese sah er darin, dass der Analytiker zu einem »gutherzigen Freund« und »recht aktiven Führer« werde, anstatt zu einem kühlen und passiven Beobachter der unbewussten Prozesse. Er stellte jedoch auch heraus, dass die Definition des Selbst und dessen Interaktion mit den funktionellen Gesetzen der Umwelt noch nicht ausreichend erarbeitet seien.

5.4.3 Karen Horney: »Self-Analysis« 1943 befasste Levy sich mit Horneys Buch »Self-Analysis« (Horney, 1942), einem Buch in dem Horney sich mit der Möglichkeit beschäftigte, eigene neurotische Anteile besser zu verstehen. In dieser Rezension übte er deutliche Kritik an Horneys Arbeit. Er hob zwar die Idee des authentischen Selbst, das durch die Arbeit des Therapeuten von gesellschaftlichen Zwängen befreit werde, hervor, kritisierte aber auch das zugrundeliegende Menschenbild. Dies schien ihm als zu negativ. Er kontrastierte die am Ende des Buches beschriebene Annahme Horneys, dass der Mensch eine ihm angeborene Würde habe und die Tendenz zeige, sich bestmöglich nach seinen Potenzialen zu entwickeln, mit den im Rest des Buches implizierten Auffassungen, dass der Mensch die Tendenz zu einer Pseudo-Sicherheit habe und seinem Bedürfnis nach Macht und Geltungsstreben nachkomme. In diesen von Levy als widersprüchlich wahrgenommenen Äußerungen sah er jedoch eine notwendige Entwicklungschance für die moderne psychoanalytische Theorie. Auch zweifelte er an der von Horney beschriebenen Methode der freien Assoziation als Ansatz zum Verständnis der unbewussten Prozesse und zur Befreiung des Selbst von gesellschaftlich erworbenen Zwängen. Dabei führte er »moderne Entwicklungen der Psychologie des Denkens« (Levy, 1943, S. 252)57 57 Übersetzt durch den Autor.

102

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

an, die zeigen würden, dass die Theorie des Assoziationismus überholt sei. Es ist davon auszugehen, dass er hierbei vor allem auch auf seine Arbeiten zur schizophrenen Denkstörung und die Entwicklungen der Gestalttheorie verwies. Die Kritik an Horney zeichnete er beispielhaft an deren Vorstellungen zur Traumdeutung als therapeutische Erkenntnismethode nach. Ihre Auffassung über die Traumdeutung würde den Trauminhalt nur bruchstückhaft betrachten und mit Hilfe einzelner Assoziationen auf dessen Gesamtbedeutung zurück schließen. Levy meinte, dass nur durch ein Verständnis des Traumes als Gesamtheit – also als Gestalt – auf dessen latente Bedeutung geschlossen werden könne. Die von ihm als durchaus plausibel bezeichneten Trauminterpretationen Horneys führte er nicht auf ihre Methode, sondern auf ihre warmen und authentischen menschlichen Gefühle zurück. Insgesamt lässt sich sagen, dass Levy die neuen und progressiven Ideen Horneys sehr wohlwollend aufnahm und sich insbesondere auch für soziologische Aspekte der Entwicklung von Neurosen, die Horney ausführte, interessierte. Auch die Implikationen für die Arzt-Patient-Beziehung schienen seinen eigenen Vorstellungen zu entsprechen. Es lässt sich vermuten, dass sich darin auch Levys eigene Wertvorstellungen und Behandlungsansätze widerspiegeln. Horneys Beiträge zur Psychoanalyse scheinen – zumindest zu einem großen Teil – Levys eigenem Bemühen um eine Integration von Psychoanalyse und Gestalttheorie entgegen zu kommen. Allerdings werden durch die Buchrezensionen und die darin enthaltene Kritik an Horneys Vorstellungen auch Eigenheiten und Spezifika des Levyschen Ansatzes deutlich.

5.4.4 Ellis Freeman: Social Psychology Eine weitere Rezension aus dem Jahre 1938 bezieht sich auf das Buch »Social Psychology« (1936) des amerikanischen Psychologen Ellis Freeman. Hierbei handelt es sich um eines der ersten Fachbücher der Sozialpsychologie. Levy hob anerkennend hervor, wie der Autor »orthodoxe« psychoanalytische Konzepte zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse heranzog und weiterentwickelte. Levy bezog sich dabei vor allem auf die Mechanismen der Verdrängung, Rationalisierung und Maskierung von Affekten, welche auch in weit größeren Kontexten als denen des Individuums und der Familie eine Rolle spielen. Weiterhin stellte er den Versuch Freemans heraus, gesellschaftliche Missstände auf soziale und ökonomische Faktoren zurückzuführen. Insgesamt kritisierte Levy jedoch Freemans Ansatz, Sozialpsychologie schlussendlich doch hauptsächlich aus der Perspektive des Individuums zu betrachten und sich dabei auf die Konzepte von Stimulus-Response, Assoziationen und Lustprinzip zu beziehen. Weiterhin beanstandete er Freemans Kritik

Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys

103

an der gestaltpsychologischen Feldtheorie. Er warf Freeman vor, durch die Konzentration in seinen psychologischen Erklärungen auf vergangene Erfahrungen und Triebe eines Individuums, Reduktionismus zu betreiben. Generell sprach er dem Autor die logische Stringenz in seinen Ausführungen zur Übertragung der Theorie auf praktische Fälle ab. Auch in dieser Rezension finden sich interessante Hinweise, die auf Levys grundsätzliches Verständnis der Psychologie schließen lassen. Levy zeigte sich skeptisch gegenüber der orthodoxen Psychoanalyse und weist auch die klassischen experimentellen Paradigmen der amerikanischen Lernpsychologie zurück.

5.4.5 Abel & Kinder: »The Subnormal Adolescent Girl« Eine letzte Buchrezension schrieb Levy 1942 über das Werk »The Subnormal Adolescent Girl«, ein Buch über geistig unterentwickelte Mädchen in der Stadt New York (Abel & Kinder, 1942). Dieses Buch beschäftigt sich mit der Frage nach Ursachen der psychischen und sozialen Probleme der Mädchen und Förderungsmöglichkeiten für diese. Levy bekräftigte die Notwendigkeit der genaueren Untersuchung dieser Fragestellung und lobte die Klarheit der Darstellung eines sehr komplexen Themas. Der vielleicht interessanteste Kommentar Levys ist dessen negative Bewertung der Entwicklungstheorien Piagets, aus welchen die Erklärungsansätze der Autoren entnommen seien. Diese kritisiert Levy als sehr zweifelhaft. Was genau er an Piagets Ideen zweifelhaft fand, führte er jedoch leider nicht aus.

5.5

Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys

5.5.1 Phänomenologischer Ansatz Levys Konzepte zeichnen sich zum einen durch seine phänomenologische Herangehensweise aus. Die Phänomenologie kann als Wissenschaft der verstehenden Beschreibung von subjektiv Erlebtem verstanden werden. Sass (1992) schlägt vor, dass jede Theorie der Schizophrenie mit der Phänomenologie dieser Störung vereinbar sein muss. Levy konzentrierte sich in seinem Verstehen von Symptomen und den Menschen hinter den Symptomen auf das konkrete Erleben des Patienten. Dabei stellte er auch die mögliche »Schönheit« der menschlichen Begegnungen in der psychiatrischen Praxis in den Vordergrund. Darin wird der Sinn Levys für das Menschliche in der Krankheit deutlich.

104

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

5.5.2 Dimensionalität von Krankheit und Gesundheit Für Levy scheint sich Krankheit und Gesundheit in derselben Dimension abzuspielen. Pathologie stellt keine qualitativ vollkommen andere phänomenale Realität als Gesundheit dar. Vielmehr bewegt sich nach Levys Auffassung jeder Mensch zwischen diesen beiden Polen. Ob ein Mensch psychisch krank wird und Symptome entwickelt, hängt zu einem großen Teil davon ab, in welcher Welt er sich befindet. Vor allem die äußeren Bedingungen entscheiden darüber ob ein Mensch krank wird oder gesund bleibt. Selbstverständlich sind auch die individuellen Fähigkeiten, sich an schwierige Situationen anzupassen und Entwicklungsherausforderungen zu meistern, daran beteiligt, ob eine gelungene Adaption gelingt oder nicht. Jedoch scheint es nach Levy auch soziale Bedingungen zu geben, an denen jeder Mensch scheitern würde. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass Levy sich konzeptionell nicht mit so genannten klassischen neurotischen Störungen beschäftigte, sondern mit weitestgehend als biologisch-determiniert verstandenen psychotischen Störungen. Somit unterscheiden sich Levys Konzepte deutlich von einem Großteil der Konzepte seines medizinisch-psychiatrischen Zeitgeists. Folgerichtig werden die Prozesse der Entstehung von psychischen Krankheiten bei Levy durch allgemein-psychologische Theorien erklärt. Eine Trennung zwischen rein allgemein-psychologischen Theorien und klinisch-psychologischen Theorien findet in dieser Form nicht statt.

5.5.3 Dimensionalität psychischer Erkrankungen Auch scheint Levy keine strenge ätiologische Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen psychischer Erkrankungen zu treffen. Die Prozesse, die sich bei der Entstehung von manisch-psychotischen Erkrankungen, Paranoia, Schizophrenie, organischen, exogenen oder endogenen Psychosen abspielen, sind nicht grundsätzlich voneinander zu trennen.

5.5.4 Berücksichtigung der konkreten Situation des Patienten Levys psychopathologische Konzepte konzentrieren sich darauf, den Menschen in seiner konkreten Situation zu sehen und zu verstehen. Dabei stellt die aktuelle Situation ein sehr komplexes Gebilde dar. Levy versteht sie als Feldsituation, in der unterschiedliche Kräfte auf den Menschen einwirken, sowohl innerpsychische Kräfte, Kräfte die von anderen Menschen ausgehen, als auch Kräfte, die sich aus der Gestalt der Situation ergeben. Bestimmte Situationen haben einen

Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys

105

starken Aufforderungscharakter. Dabei wird deutlich, dass Levy menschliches Verhalten nicht so sehr durch seine Biologie oder Persönlichkeit determiniert sah, sondern vor allem auch durch sozialpsychologische Phänomene.

5.5.5 Systemisch-dynamisches Verständnis von Psychopathologie Levy verstand Symptome nicht als feststehenden Ausdruck einer Erkrankung, sondern als ein sich dynamisch und systemisch entwickelndes Phänomen in einer bestimmten Situation. Im Sinne der Gestalttheorie werden Symptome von ihm – als Teil eines Ganzen und durch die Gestalt des Ganzen bestimmt – verstanden. Sie können also nicht auf einzelne Ereignisse oder Umstände zurückgeführt werden, sondern stellen einen Teil eines komplexen Systems dar. Erst wenn sich die Gestalt des Ganzen ändern, kann sich auch das Symptom ändern. Auch stellte Levy heraus, dass der Mensch sich in Richtung eines stabilen psychischen Gleichgewichts orientiert. Wenn dieses Gleichgewicht gestört wird, setzen Bemühungen des Menschen ein, dieses Gleichgewicht nach individuellen und situationalen Möglichkeiten wiederherzustellen. Formen von psychischem Gleichgewicht können sich in ihrer Stabilität unterscheiden. Besonders instabile Formen des Gleichgewichts geraten schneller in Gefahr aus der Balance gebracht zu werden. Bestimmte Zentrierungen um einen Kern (wie z. B. beim »Nichts-alsGeschäftsmann«) können bei einer Destabilisierung des psychischen Gleichgewichts zu psychotischen Symptomen führen. Die Systeme, in denen sich Menschen bewegen, können nach Levy als Bezugsrahmen verstanden werden. Diese haben Ähnlichkeit mit äußerlichen Bezugssystemen, wie zum Beispiel einem Haus oder einer bestimmten Umwelt. Um sich in diesen Systemen zu stabilisieren, ist der Mensch darauf angewiesen, sich auf diese Rahmen verlassen zu können. Geraten die äußeren Bezugssysteme in Schwankung, destabilisieren sich auch die inneren Bezugssysteme des Menschen.

5.5.6 Symptome als Kompromisslösung und Kommunikationsversuche Im Sinne dieses systemisch-dynamischen Verständnisses sah Levy Symptome als Kompromisslösung zwischen widerstrebenden Anforderungen und Tendenzen. Symptome sind damit eine kreative Leistung des Individuums und Reaktion auf schwierige situationale Bedingungen. Daraus geht auch eine Würdigung des Patienten hervor. In Levys Schriften wird deutlich, dass er in den Symptomen seiner Patienten häufig Kommunikationsversuche mit deren Um-

106

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

welt sah. Echolalie und Echopraxie sind in diesem Verständnis keine Fehler, sondern Zeichen des Versuchs auch in schwierigsten Situationen menschliche Kommunikation aufrechtzuerhalten.

5.5.7 Suche nach Sinnhaftigkeit im Erleben und in den Äußerungen von Patienten Levy scheint in den Symptomen und Sonderlichkeiten seiner Patienten nicht Fehler, Krankheit und Störungen gesehen zu haben, sondern sie als in sich sinnvolle Umgestaltungen verstanden zu haben. Zentral ist hierbei die Auffassung, dass jedes menschliche Verhalten und jeder menschliche Ausdruck grundsätzlich sinnhaft und verstehbar ist. Die Aufgabe zu verstehen liegt beim Behandler.

5.5.8 Finalität statt Kausalität Levys ätiologische Konzepte gehen eher von dem Ansatz der Finalität als der Kausalität aus. Dies bedeutet, dass Erklärungen für menschliches Erleben und Verhalten vielmehr der Frage nachgehen, welches Ziel diese verfolgen. Der Hauptunterschied der beiden Herangehensweisen liegt in der Unterscheidung, ob man Verhalten als Folge einer Aneinanderreihung bestimmter Bedingungen und Vorereignisse begreift, oder im Sinne von Zielen, die damit erreicht werden sollen, versteht. Die Konzeption des Aufforderungscharakters von Situationen und der Gestalt-Spannung gehen in die Richtung von Finalität sowie der Suche nach Funktionalität von Symptomen.

5.5.9 Das Denken in seiner Beziehung zur Welt Für Levy stellt Denken immer einen Vorgang dar, der in einem sozialen Prozess stattfindet. Denken ist nicht nur etwas, das durch die im Individuum vorherrschenden Kräfte bestimmt wird, seien es biologische oder psychologische Kräfte, sondern immer auch durch situationale Faktoren beeinflusst wird. Dabei folgen die Denkprozesse eigenen dynamischen Regeln und werden durch die Gestaltprozesse bestimmt. Der Prozess des Denkens ist demnach nicht etwas, das auf den menschlichen Körper beschränkt ist. Es scheint als konzipiere Levy den Prozess des menschlichen Denkens als etwas, das in sozialen Räumen stattfindet und nicht im Kopf eines Individuums. Somit lässt sich das Denken nicht experimentell-stückhaft

Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys

107

untersuchen, sondern kann nur in der phänomenalen Welt, in der es auftritt, verstanden werden. Die schizophrene Denkstörung leitet sich für Levy aus misslingenden Anpassungsprozessen und Störungen in der Ganz-Dynamik des Denkens ab.

5.5.10 Berücksichtigung der Arzt-Patient-Beziehung Ein weiteres Element in Levys Konzepten zur Psychopathologie besteht darin, dass er die Objektivität des Behandlers deutlich infrage stellte. Der Arzt erschaffe bei der Anamnese eine neue Situation, die den Patienten beeinflusst und verändert. Jede Frage stellt eine Gestalt dar, die die Antwort beeinflusst. Demnach ist die ärztliche Anamnese – aber auch die wissenschaftliche Forschung – immer auch ein konstruierender Faktor. Weiterhin unterschied Levy deutlich zwischen der Situation des Arztes und der des Patienten (S1 und S2). Dadurch wird deutlich, dass mit »Situation« ein komplexes Geschehen gemeint ist, welches nicht von einem Menschen auf den anderen übertragbar ist. Auch der Arzt bringt seine eigene Person und individuelle Situation mit in die Behandlung des Patienten ein. Der Arzt hat bestimmte Interessen. Das Krankenhaus und auch das Gesundheitssystem stellen eine, für den Patienten besondere Situation dar, welche bei der Beurteilung der individuellen Psychopathologie eines Patienten mitberücksichtigt werden muss. Gibt der Patient eine für den Arzt seltsame Antwort, kann dies auch an der für den Patienten seltsamen Situation liegen und muss nicht auf dessen Störung zurückzuführen sein.

5.5.11 Die Wir-Haftigkeit des Menschen Für Levy ist der Mensch zu gleichen Teilen Individuum (Ich-Wesen) als auch Teil eines sozialen Geschehens (Wir-Wesen). Es ist also für das Verstehen eines Menschen unabdingbar, ihn sowohl als Einzelperson (Personen-Ganzes) als auch als Teil eines sozialen Ganzen zu betrachten. Der Gestalttheorie folgend bedeutet dies, dass Einzelaspekte einer Person von der Ganz-Gestalt der Person bestimmt werden und die Person als Teilaspekt einer sozialen Ganz-Gestalt ebenfalls durch diese bestimmt wird. Dadurch ergeben sich zwei verschiedene Perspektiven auf ein Symptom. Ein Patient kann als Individuum untersucht und diagnostiziert werden, ist aber unter Umständen eigentlich eher als Teilaspekt z. B. seiner Familie zu sehen. Daraus leitet sich ab, dass es vorkommen kann, dass eine Störung nicht aus dem Individuum hervorgeht, sondern aus einer bestimmten pathologischen Situation, z. B. in seinem Familiensystem. Dies ist nicht nur auf

108

Levys Beiträge zur Schizophrenieforschung

Familiensysteme beschränkt, sondern kann genauso auch auf andere soziale Gruppen und die Gesellschaft angewandt werden. Eine zweite Folge, die aus dem Konzept vom Menschen als Ich- und WirWesen hervorgeht, ist, dass nach Levy Bindung ein zentrales menschliches Bedürfnis darstellt. So ist für ihn die Paranoia als Misslingen der Umsetzung von Bindungswünschen zu verstehen, quasi als kleineres Übel zur vollkommenen und unaushaltbaren Isolation.

5.5.12 Psychiatrische und psychotherapeutische Haltung Levy sah die Rolle des Psychiaters und Psychotherapeuten darin, sich Patienten mit einer warmen, authentischen und menschlichen Grundhaltung zu nähern. Er beschrieb den Psychiater und Therapeuten als »gutherzigen Freund« und »recht aktiven Führer« (Levy, 1940, S. 118).58 Die Aufgabe des Behandlers beschrieb er darin, den Menschen von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und damit die ursprünglich in ihm angelegte, aber gescheiterte Entwicklung zu ermöglichen. Dies soll dadurch geschehen, dass der Behandler das Erleben des Patienten in dessen aktueller bio-psycho-sozialer Situation versteht. Dabei fällt der Ansatz Levys auf, den Menschen hinter den Symptomen zu betrachten. Auch impliziert dieses Verständnis der Rolle des Therapeuten, psychiatrisches und psychologisches Wissen mit Kenntnissen der politischen und soziologischen Situation des Patienten zu vereinigen. Es scheint beinahe, als würde Levy den Behandler dazu auffordern auch die Therapie als etwas politisch und gesellschaftlich Relevantes zu sehen und als müsse sich der Psychotherapeut auch zu drängenden sozialen Problemen positionieren, um seine Patienten angemessen behandeln zu können. Es wird deutlich, dass für Levy weniger das Verstehen der frühkindlichen Entwicklungsgeschichte im Vordergrund zu stehen scheint, sondern eher die aktuelle Situation und die Entwicklungsaufgaben zentral sind. Allerdings scheint er dies in seinem Kommentar zur Wertheimer-Schulte-These etwas zu relativieren und betont die im Menschen angelegten Bindungswünsche, welche sich bei früher Störung der Bindungen auch in den reduzierten Anpassungsmöglichkeiten des Individuums an soziale Veränderungen und Entwicklungsaufgaben zeigen. Eine humanistische Betrachtungsweise seiner Patienten wird deutlich.

58 Übersetzt durch den Autor.

Zusammenfassung der psychopathologischen Konzepte Levys

109

5.5.13 Position zur Psychoanalyse Grundsätzlich fällt auf, dass Levy an einer Verbindung von gestalttheoretischen und psychoanalytischen Konzepten interessiert scheint. Dabei verfällt er jedoch nicht einem blinden Gleichsetzen, sondern arbeitet Unterschiede pointiert heraus. Levy kritisierte an der Psychoanalyse vor allem orthodoxe Vorstellungen über die Triebhaftigkeit des Menschen. Auch stellte er die Fokussierung auf die innerpsychischen Dynamiken in Frage und argumentierte dafür, die Dynamiken innerhalb der aktuellen Situation und der politisch-sozialen Umstände, in denen sich ein Patient befindet, zu berücksichtigen. Sein Menschenbild scheint deutlich positiver als das der orthodoxen Psychoanalytiker. Auch sah er die Rolle des Therapeuten wesentlich anders. Für ihn sollte der Therapeut einen freundlichen, warmen Begleiter darstellen, der den Patienten dabei unterstützt sich zu entwickeln. Diese Idee steht im Widerspruch zur betont abstinenten Haltung der klassischen Psychoanalytiker. Auch die Traumdeutung und die Idee der freien Assoziation kritisierte Levy. Für ihn gelingt die Deutung eines Traumes sowie der Konflikte eines Patienten nur, wenn man sowohl den Traum, als auch den Patienten als Ganzes versteht, denn für ihn werden die Einzelaspekte durch die Ganz-Gestalt bestimmt. Positiv an der Psychoanalyse stellte Levy den Ansatz, die unbewusste Dynamik im psychischen Innenleben des Menschen zu betrachten, dar. So zeigte er sich offen für die grundsätzliche Bedeutung von Trieben, abgewehrten latenten sexuellen Wünschen, sowie dem Konzept des Ichs und seinen Abwehrmechanismen. Weiterhin scheint er, im Sinne der Finalität, vor allem an den Funktionen von psychischem Geschehen interessiert. Auch wenn er im Einzelnen kausale psychoanalytische Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen kritisch betrachtete, war er doch offen für die sich daraus ergebenden Vorstellungen über die möglichen Zielbestimmungen, bzw. Funktionen von psychischen Phänomenen. Es ist davon auszugehen, dass er diese auch für seine eigene Arbeit zu nutzen wusste und Interesse daran hatte, sie in seine gestalttheoretisch orientierten Theorien mit einzubeziehen.

6.

Rezeption von Levys Werk

Im Folgenden werden für jeden der drei von Levy veröffentlichten Artikel mit klinischem Fokus die Zitationen dargestellt und anhand der an Cooper (1998) angelehnten Kriterien bewertet. Im Anschluss wird die Rezeption der Artikel dargestellt. Hierbei findet vor allem Eingang, wer den Artikel wann, in welchem Zusammenhang und mit welchem Fokus zitiert hat. Die Darstellung erfolgt in chronologischer Reihenfolge: 1. »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« (1936) 2. »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« (1943) 3. »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen ins Englische« (1986)

Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse

Gestalttheorie in der Psychotherapie

Kästl, R. & Stemberger, G.

Stemberger, G.

2005

2010

Dynamische Eigenheiten einer depressiven Symptomatik

Gestalttheoretische Beiträge zur Psychopathologie

Stemberger, G.

2000

Non-adaptive group behavior

Titel

Mintz, A.

Autor(en)

1951

Jahr

Gestalt Theory

Psychologie

Psychologie

Psychologie

Gestalt Theory

Journal für Psychologie

Psychologie

FR

The Journal of abnormal and social psychology

Zeitschrift

k.A.*

0.39 (2005)

k.A.*

k.A.*

Impact Factor

Ja

Ja

Ja

Ja

SQ

Einzel

Team

Einzel

Einzel

T/E

Nein

Nein

Nein

Ja

MB

Kästl: österr. Gestaltpsychologe, Psychotherapeut, Stemberger (s. o.).

Österr. Gestaltpsychologe, Soziologe, Psychotherapeut, Vorstandsmitglied der österr. Arbeitsgemeinschaft für gestalttheoretische Psychotherapie.

Deutsch-amerikanischer Psychologe, Prof. am New York College, Experte für Gruppenverhalten, Schüler W. Köhlers.

(s. o.)

















Person













Darstellung verschiedener ätiologischer Konzeptionen der Depression. Besonderer Fokus auf gestalttheoretische Überlegungen.

Darstellung der Geschichte und der zentralen Merkmale einer gestalttheoretischen Psychotherapie.

Darstellung von verschiedenen gestalttheoretischen Beiträgen zur Psychopathologie.

Sozialpsychol. Studie zu maladaptivem Gruppenverhalten. These: die soziale Struktur einer Situation (Belohnungs-/Bestrafungsstruktur) beeinflusst das Gruppenverhalten und damit die Kooperativität.

Inhaltlicher Fokus

Tabelle 4: Zeitschriftenartikel in denen »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« zitiert wurde

6.1.1 »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen«

6.1

Als zentraler Vorläufer einer gestalttheoretischen Psychopathologiekonzeption dargestellt. Keine strikte Trennung zw. pathologischen und normalen psychischen Prozessen.



In zentralen Punkten zitiert und wiedergegeben.

Als Bsp. für phänomenol. Forschung: Nur bei Berücksichtigung der Struktur von sozialen Situationen, kann ein Verhalten verstanden werden.









Konzept von Levy

112 Rezeption von Levys Werk

Tomandl, G.

Verstegen, I.

2011

2015

Lacan and Gestalt Theory, with Some Suggestions for Cultural Studies

Wenn der Grund ins Wanken gerät… Das »VariabilitätsKonstanz«-Phänomen in Krisenintervention und PT

Titel

Psychologie

Psychologie

Phänomenal – Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie

Gestalt Theory

FR

Zeitschrift

k.A.*

k.A.*

Impact Factor

Ja

Ja

SQ

Einzel

Einzel

T/E

Nein

Nein

MB





US-amerikanischer Gestalttheoretiker und Wissenschaftler an der University of Pennsylvania.

Psychotherapeut.

Person







Einordnung der Konzepte von Jean Lacan nach gestalttheoretischen Überlegungen.

Darstellung der Rolle der Gestaltgesetze. Variabilität und Konstanz in Lebenskrisen und in der Krisenintervention.

Inhaltlicher Fokus







Neurosen werden als Fehler in der Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen verstanden.

Als klinisches Fallbeispiel für Variabilität und Konstanz in psychischen Krisen.

Konzept von Levy

Autor(en)

Stemberger, G.

Hrsg.: Hochgerner, M. Autoren: Stemberger, G. & Lustig, B.

Jahr

2002

2004



Gestalttherapie (Kapitel: Gestalttheoretische Beiträge zur Krankheitslehre der Psychotherapie) – –

(s.o)

Psychische Störungen im Ich-WeltVerhältnis

Titel des Buchs

Hochgerner : österr. Psychotherapeut Stemberger (s. o.) Lustig : Pädagogin und gestalttheoretische Psychotherapeutin.

Person

Darstellung von Gestalttheorie und psychotherapeutischer Krankheitslehre. Darstellung der Geschichte und der zentralen Merkmale einer gestalttheoretisch orientierten Psychotherapie.

– –

Inhaltlicher Fokus

Tabelle 5: Bücher in denen »Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen« zitiert wurde

Übersetzung der Artikel von Levy ins Deutsche. Als zentraler Vorläufer einer gestalttheoretischen Psychopathologiekonzeption dargestellt und in weiten Teilen direkt zitiert.

– –

Konzept von Levy

Anmerkungen: * Leider war es trotz des Kontaktierens der entsprechenden Verlage nicht möglich den Impact Factor des Journals zum Zeitpunkt der Publikation der jeweiligen Artikel in Erfahrung zu bringen, vermutlich gibt es keinen. FR = Fachrichtung; SQ = Stringenter Quellenverweis; T / E = Team oder Einzelperson; MB = Methodenbeschreibung.

Autor(en)

Jahr

((Fortsetzung))

Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse

113

Weinshel, E. M.

Burnham, D. L.

Henle, M.

1955

1979

Autor(en)

1952

Jahr

Phenomenology in Gestalt psychology

Some problems in communication with schizophrenic patients

The Psychotherapeutic Aspects of Schizophrenia

Titel

Journal of Phenomenological Psychology

Journal of the American Psychoanalytic Association

The Journal of nervous and mental disease

Zeitschrift

k.A.*

k.A.*

Psychoanalyse

Psychologie

k.A.*

Impact Factor

Psychiatrie & Psychotherapie

FR

Nein

Ja

Nein

SQ

Einzel

Einzel

Einzel

T/E

Nein

Nein

Nein

MB













– –









Amerikanische Gestaltpsychologin, Dozentin an der New School, New York. Bekannt mit Koffka, Köhler und Asch.

Psychoanalytiker Direktor der Chestnut Lodge Wissenschaftler am National Insitute of Mental Health, Präsident der Washington Psychoanalytic Society, (1962–1985) Editor der Zeitschrift »Psychiatry«. † 2008

Psychiater und Psychoanalytiker, Leiter des Mount Zion Hospital, San Francisco, Einsatz gegen Entmenschlichung / Entindividualisierung von psychiatrischen Patienten. † 2007

Person















Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zw. Phänomenologie nach Husserl und nach verschiedenen Gestalttheorikern. Insbesondere bezogen auf das Konzept »Wahrheit«. (Wahrheit als kontextabhängig).

Darstellung der Besonderheiten und Schwierigkeiten der (therapeutischen) Kommunikation mit schizophrenen Patienten. (Levys Artikel wird im Literaturverzeichnis aufgeführt, taucht im Text jedoch nicht explizit auf).

Darstellung der psychoanalytisch-psychotherapeutischen Prinzipien der Schizophreniebehandlung. (Levys Artikel wird im Literaturverzeichnis aufgeführt, taucht im Text jedoch nicht explizit auf, bzw. nur als »andere Autoren«).

Inhaltlicher Fokus

Tabelle 6: Zeitschriftenartikel in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde

6.1.2 »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung«





Kontextabhängigkeit von Wahrheit. Levys Bsp.: Pat: »Kann ein Introvertierter ein Extravertierter werden?«

Vermutlich: – Kontextabhängigkeit von Bedeutung. (S. 69, 72, 73, 76, 77). – Sprache als »Füller« von interpersoneller Distanz, bzw. Beziehung (S. 74). – Schizophrene Kommunikationsstörung durch Unterschiede in der FigurGrund-Aufteilung (S. 79ff.).

Vermutlich: – Hinweis auf Gefahr für schizophrene Patienten aufgrund ihrer spröden Ich-Struktur auch nach der Therapie durch soziale Belastungen erneut destabilisiert zu werden (S. 479).

Konzept von Levy

114 Rezeption von Levys Werk

Autor(en)

King, D. B.; Wertheimer, M.; Keller, H. & CrochetiHre, K.

Stemberger, G.

Bibace, R.; Wiehe, K. R. & Leeman, R. F.

CrochetiHre, K., Vickler, N., Parker, J. King, D. B. & Wertheimer, M.

Jahr

1994

2000

2001

2001

((Fortsetzung))

Gestalt Theory and Psycho-pathology. Some Early Applications of Gestalt Theory to Clinical Psychology and Psychopathology

Children’s Understanding of Biology and Health (Book Review)

Gestalttheoretische Beiträge zur Psychopathologie

The legacy of Max Wertheimer and the Gestalt Psychology

Titel

Entwicklungspsychologie

Psychologie

Gestalt Theory

Psychologie

Gestalt Theory

Journal of Applied Developmental Psychology

Sozialwissenschaften

FR

Social Research

Zeitschrift

k.A.*

0.58 (2001)

k.A.*

k.A.*

Impact Factor

Ja

Ja

Ja

Ja

SQ

Team

Team

Einzel

Team

T/E

Nein

Nein

Nein

Nein

MB

(s. o.)

Leeman: – Wissenschaftler, Harvard Medical School, Boston, USA.

Wiehe: – Wissenschaftlerin, Universität Trier.

Bibace: – Professor für Psychologie, Clark University, USA.

(s. o.)

King, Keller & CrochetiHre: – Wissenschaftl. Mitarbeiter an der University of Boulder, Colorado.

Wertheimer : – Emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Boulder, Colorado. – Fachgebiet: Geschichte der Psychologie.

Person









Darstellung von gestalttheoretischen Konzepten zur klinischen Psychologie.

Rezension des Buches »Children’s Understanding of Biology and Health« (Siegal & Peterson, 1999).

Darstellung von verschiedenen gestalttheoretischen Beiträgen zur Psychopathologie.

Darstellung der Arbeit von Max Wertheimer und der Anwendung seiner Konzepte in verschiedensten Bereichen der Psychologie.

Inhaltlicher Fokus









Grobe Darstellung der Schizophrenietheorie.

Eine Frage als Vektor in einem Feld, der nach Vervollständigung strebt, wird hier als theoretische Begründung für die häufige Hypothese dargestellt, dass Fragen die Antwort stark beeinflussen und formen.

Wird an mehreren Stellen bezüglich der schizophrenen Denkstörung zitiert und wiedergegeben.

Als ein Schüler Wertheimers genannt, der lange vor den Arbeiten von Fritz Pearls gestalttheoretisches Denken auf die Bereiche der Psychopathologie anwendete.

Konzept von Levy

Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse

115

Gestalttheorie in der Psychotherapie

Kästl, R. & Stemberger, G.

Guberman, S.

2005

2007

Gestalt Theory

Journal für Psychologie

The American Journal of Psychology

Gestalt Theory

Zeitschrift

Psychologie

Psychologie

Psychologie

Psychologie

FR

k.A.*

0.39 (2005)

1.02 (2004)

k.A.*

Impact Factor

Ja

Ja

Ja

Ja

SQ

Einzel

Team

Team

Einzel

T/E

Nein

Nein

Nein

Nein

MB Psychologe und Gestalttheoretiker (Universität Eichstätt).



Informatiker, Physiker, Gestalttheoretiker.

Stemberger (s. o.)

Kästl (s. o.)

Uhlhaas: – Neurowissenschaftler am Max-Planck Institut für Hirnforschung.

Silverstein: – Wissenschaftler (Schizophrenieforschung). – Aktuell an der University Rutgers Biomedical and Health Sciences tätig.



Person









Darstellung der theoretischen Entwicklung der wichtigsten Gestaltgesetze.

Darstellung der Geschichte und der zentralen Merkmale einer gestalttheoretisch orientierten Psychotherapie.



Darstellung der Überschneidungen von frühen gestalttheoretischen Konzepten und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der experimentellen Psychopathologieforschung und kognitiven Neuropsychologie.











Würdigung und Kritik einer schizophrenie-spezifischen kognitiven Theorie.

Inhaltlicher Fokus

Levys Anwendung der Gestaltgesetze auf FrageAntwort-Systeme wird kritisiert.

Levys Artikel wird als ein zentraler Vorläufer einer gestalttheoretischen Psychopathologiekonzeption dargestellt und in wieten Teilen direkt zitiert.

Levys Kritik an einer assoziationistischen Betrachtungsweise von formalen Denkstörungen. Theorie der Abhängigkeit von Gedanken vom situationalen Feld und der inneren Gestalt-Gesetzmäßigkeit. Levys Artikel wird, neben Conrad, Goldstein und Matussek, als wesentlicher gestalttheoretischer Beitrag zum Verständnis der Schizophrenie genannt.

Verweis darauf nicht von einem »Zerfall der Gestaltstruktur« sondern von einer »abnormen Gestaltbildung« zu sprechen.

Konzept von Levy

Anmerkungen: * Leider war es trotz des Kontaktierens der entsprechenden Verlage nicht möglich den Impact Factor des Journals zum Zeitpunkt der Publikation der jeweiligen Artikel in Erfahrung zu bringen, vermutlich gibt es keinen. FR = Fachrichtung; SQ = Stringenter Quellenverweis; T / E = Team oder Einzelperson; MB = Methodenbeschreibung.

Algorithmical Analysis of »Good Continuation« Principle

Gestalt Psychology : The Forgotten Paradigm in Abnormal Psychology

Silverstein, S. M. & Uhlhaas, P. H.

2004

Auf der Suche nach schizophreniespezifischen Störungen. Kommentar zum Beitrag von Uhlhaas & Silverstein, 2003

Titel

Plaum, E.

Autor(en)

2003

Jahr

((Fortsetzung))

116 Rezeption von Levys Werk

Autor(en)

Fenichel, O.

Wertheimer, M.

Metzger, W.

Bibace, R. & Leeman, R. F.

Stemberger, G.

Hrsg.: Hochgerner, M. Autoren: Stemberger, G. & Lustig, B.

Jahr

zw. 1910–1965, aktuelle Aufl. 2006

1945/1959

1976

1999

2002

2004

-

Lustig: s. o.

Stemberger s. o.

Hochgerner : s. o.

Gestalttherapie Kapitel: Gestalttheoretische Beiträge zur Krankheitslehre der Psychotherapie

-

(s. o.)

Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis

-

(s. o.)

-

-

Mitbegründer der Gestalttheorie und Lehrer Levys.

Deutscher Gestalttheoretiker und Psychologe.

-

Person

Psychiater und Psychoanalytiker, Schüler Freuds, »Enzyklopädisten der Psychoanalyse«.

A Cycle of Activities That Approximates a Partnership Ideal

Gestalttheorie im Exil

Productive Thinking

Psychoanalytic Theory of Neurosis Kapitel: »Schizophrenic Thinking«

Titel des Buchs

Darstellung der Geschichte und der zentralen Merkmale einer gestalttheoretisch orientierten Psychotherapie.

Darstellung von Gestalttheorie und psychotherapeutischer Krankheitslehre.

Darstellung einer partnerschaftlichen Form der Beziehung zwischen Wissenschaftler und Teilnehmer, insbesondere bei qualitativen Interviews. Dabei werden asymmetrische Forschungsdesigns kritisiert (S. 79).

Darstellung der historischen Entwicklung der Gestalttheorie.

Darstellung einer gestalttheoretischen Konzeption des Denkens.

Darstellung der psychoanalytischen Theorien und Konzepte der schizophrenen Denkstörung.

Inhaltlicher Fokus

Tabelle 7: Bücher in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde

-

-

-

-

-

-

Konzept von Levy

Levys Artikel wird als zentraler Vorläufer einer gestalttheoretischen Psychopathologiekonzeption dargestellt und in weiten Teilen direkt zitiert.

Deutsche Übersetzung von Levys Artikel.

In Bezug auf die Gestaltqualitäten einer Frage zitiert (S. 81). Die Autoren nennen Levy explizit und zitieren den Satz: »An ordinary question intends its answer. It calls for it, requires it. […]« (S.81) aus seinem Artikel. Aus Levys Aussage über die Gestaltgesetze von Frage und Antwort, wird die Vermutung abgeleitet, dass auch offene Fragen im Interview die Antwort und den Verlauf des Gesprächs beeinflussen und deshalb kritisch zu prüfen sind.

Levys Artikel wird als besonders bedeutsam hervorgehoben.

Mehrfache Erwähnung (S. 64, 180, 241). Als Beispiel für die Bestimmtheit durch ein situationales Feld und für psychische Zentrierungsmechanismen.

Als eine von mehreren Quellen in Bezug zur »archaischen« Denkstruktur von Schizophrenen angegeben (S. 421). Schizophrene Patienten würden auf prälogischem Niveau denken, bzw. auf dieses zurückfallen. Auch seien sie weniger gehemmt offen über Dinge zu sprechen, die neurotische Menschen stark unterdrücken (S. 422).

Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse

117

1943

1955

n.d.

1.

2.

3.

Jahr

Henry J. Wegrocki

Teodoro Ayllon

Arnold E. Moskowitz

Autor(en)

-

-

-

Amerik. Psychologe, Psychoanalytiker. Wissenschaftler an der Columbia University. Forschungsgebiet: Schizophrenie (Kritik an kulturellen und statistischen Konzepten des Anormalen).

Amerik. Psychologe und Psychotherapeut, Professor (em.) an der Georgia State University. Bekannt durch seine Konzepte, Umgebung von psychiatrischen Patienten so zu verändern, dass diese positivere Erfahrungen machen können. Er führte die Token-Economy in psychiatrischen Krankenhäusern ein, ein verhaltenstherapeutisches Belohnungssystem zur Förderung von funktionalem Verhalten.

Psychiater und Hypnotherapeut an der Universität Kansas.

Person

Konzept von Levy

Nur ein Teil der Notizen zu Levys Artikel ist erhalten. Wegrocki beschreibt hierbei Levys gestalttheoretische Konzeption des Denkens als von Gestalt-Gesetzmäßigkeit bestimmt. Weiterhin gibt er Levys Thesen zur Gestaltstruktur von Frage und Antwort wieder, sowie die Auftrennung der »realen Situation« und der »psychologischen Situation«, welche die Beziehung zwischen Frage und Antwort bestimmen.

-

-

Ayllon gibt in seinen Notizen ausführlich Levys Artikel wieder. Er fokussiert darauf, dass Levy Denken als Gestaltvorgang betrachtete. Er vollzieht Levys Gedanken Stück für Stück nach und scheint ihm darin zuzustimmen, dass schizophrene Gedanken oder Antworten auf Fragen des Arztes nur dann keinen Sinn zu ergeben scheinen, wenn man die Feldfaktoren der konkreten psychosozialen Situation des Patienten außer Acht lässt. Abschließend bewertet er Levys Ansatz als zu den Aussagen von Sullivan und Camaron passend. Seiner Meinung nach legen die Konzepte von allen drei Wissenschaftlern nahe, dass es bei Schizophrenen zu primären Störungen kommt, weil diese ein Fehlen an Motivation auszeichnet, sich mit den strukturellen Erfordernissen der Welt zu befassen (S. 21). Dies wird jedoch nicht näher ausgeführt. Auch Goldstein wird von Ayllon genannt. Ihm wird die Aussage zugeschrieben, dass Einschränkungen im kategorialen Denken durch physiologische Insuffizienz entstehen würden. Allerdings soll Goldstein auch angegeben haben, die Störungen des abstrakten Denkens könnten auch eine Kompromisslösung für unaushaltbare Konflikte darstellen (S.21). Dies wird nicht näher ausgeführt. Schlussendlich wird auch Kasanin genannt und seine Idee, dass die schizophrene Denkstörung durch die großen Schwierigkeiten der Patienten in deren Beziehung zur Außenwelt entstehen.

Moskowitz stellt in seinen Notizen ausführlich Levys Artikel dar. Levy nutze in seiner Arbeit ein »Potpourri« aus gestalttheoretischen und Lewinschen Theorien (S. 1). Der Autor stellt Levys Thesen als Konzept von Denken im Feld dar. Ein Gedanke ist nicht in einer Person, sondern ist Teil eines Feldes (S. 7). Weiterhin nennt er die Idee, dass im Denken der Schizophrenen ein Problem zwischen der Figur-Grund-Aufteilung stattfindet (S. 8).

-

-

Tabelle 8: Notizen (Archives University of Akron) in denen »Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung« zitiert wurde

118 Rezeption von Levys Werk

CrochetiHre, K., Vickler, N., Parker, J. King, D. B.& Wertheimer, M.

Plaum, E.

2001

2003

Auf der Suche nach schizophreniespezifischen Störungen. Kommentar zum Beitrag von Uhlhaas & Silverstein, 2003

Gestalt Theory and Psychopathology. Some Early Applications of Gestalt Theory to Clinical Psychology and Psychopathology

Titel

Gestalt Theory

Gestalt Theory

Zeitschrift

Psychologie

Psychologie

FR

k.A.*

k.A.*

Impact Factor

Ja

Ja

SQ

Einzel

Team

T/E

Nein

Nein

MB

-

Psychologe und Gestalttheoretiker (Universität Eichstätt).

(s. o.)

Person

-

-

-

-

Darstellung von gestalttheoretischen Konzepten zur klinischen Psychologie.

Würdigung und Kritik einer schizophreniespezifischen kognitiven Theorie (Uhlhaas & Silverstein, 2003.)

Inhaltlicher Fokus

Paranoia als Störung der sozialen Orientierung.

Levys Übersetzung wird zitiert und mit dem Bedürfnis der Zugehörigkeit nach Kohut in Verbindung gesetzt.

Konzept von Levy

Anmerkungen: * Leider war es trotz des Kontaktierens der entsprechenden Verlage nicht möglich den Impact Factor des Journals zum Zeitpunkt der Publikation der jeweiligen Artikel in Erfahrung zu bringen, vermutlich gibt es keinen. FR = Fachrichtung; SQ = Stringenter Quellenverweis; T / E = Team oder Einzelperson; MB = Methodenbeschreibung.

Autor(en)

Jahr

Tabelle 9: Zeitschriftenartikel in denen »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen ins Englische« zitiert wurde

6.1.3 »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen ins Englische«

Ergebnisse der Zitations- und Rezeptionsanalyse

119

120

Rezeption von Levys Werk

Es konnten nur zwei Zitationen des Artikels »Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anlässlich der Übersetzung der Wertheimer-Schulte-Thesen ins Englische« gefunden werden. Allerdings wurde Levys Übersetzung in einem Briefwechsel zwischen Levy und Solomon Asch erwähnt. Levy schrieb, dass die Wertheimer-Schulte-Thesen ihm immer noch sehr originell erscheinen, auch wenn sie sehr weit vom aktuellen amerikanisch-psychodynamischen Denken entfernt seien. Seinen eigenen Kommentar nannte er »etwas radikal« und fragte Asch, ob dieser glaube, dass die Zeitschrift, in der der Artikel publiziert wurde, in den USA rezipiert werde.59 Asch antwortete darauf, dass Levy seiner Meinung nach einen großen Verdienst mit der Übersetzung und seinem Kommentar geleistet habe. Er schrieb weiter, dass ihm nicht bewusst war, dass Wertheimer eine verständnisorientierte Theorie der Paranoia entwickelt hatte. Es wundere ihn, dass nur ein Fallbericht ausführlich dargestellt worden sei. Ironisch merkt er an, dass sicherlich ein Teil der Verantwortung bei Schulte geblieben sei. Bezüglich der Rezeption in den USA äußerte Asch sich pessimistisch: »Princeton bezieht, ich würde schätzen 200 psychologische Zeitschriften, Ihre ist nicht dabei. Wenn ich nicht Ihre Kopie besäße, hätte ich wahrscheinlich nichts von dieser Übersetzung gehört. Die Psychologen heutzutage sind anderweitig beschäftigt; es wird Zeit brauchen bis ihre derzeitigen Ideen ihren Lauf nehmen. Werden Psychiater ihn ernster nehmen?«.60 Weiterhin empfahl Asch den Artikel an Mary Henle weiterzuleiten. Hieraus lässt sich erahnen, dass der Artikel, der 1986 in der Zeitschrift »Gestalt Theory« veröffentlicht wurde, vermutlich wenig Resonanz in der Fachwelt der Schizophrenieforschung erfuhr. In Abbildung 6 werden die Zitationen von Levys Artikeln chronologisch dargestellt.

6.2

Zusammenfassung der Ergebnisse

Insgesamt zeigt sich, dass Levys klinische Artikel bisher keine besonders große Aufmerksamkeit bekommen haben. Allerdings wurden sie durchaus von wichtigen Forschern und Theoretikern seiner Zeit wahrgenommen. So zitieren auch Autoren, deren Fachgebiet die Schizophrenieforschung beinhaltet, die allerdings wenig mit der Gestalttheorie zu tun hatten, seine Artikel (Burnham, 1955; Fenichel, 2006; Mintz, 1951; Weinshel, 1952). Auch andere bedeutende Psy59 Levy, 06. 02. 1987, Brief an Solomon Asch [Box No. M2879, Folder No. 21, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor. 60 Asch, 17. 02. 1987, Brief an Erwin Levy [Box No. M2879, Folder No. 21, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor.

Zusammenfassung der Ergebnisse

121

Abbildung 6: Chronologische Darstellung der Zitationen der drei Artikel Levys. Anmerkungen: Y-Achse = Anzahl; X-Achse = Zeitraum (Eigene Darstellung)

chologen und Psychiater haben zumindest Notiz von Levy genommen und sich mit seinen Konzepten auseinandergesetzt (Ayllon, 1955; Moskowitz, 1943; Wegrocki, n.d.). Interessanterweise taucht Levy auch außerhalb der klinischen Psychologie und Psychiatrie auf (Bibace, 1999, 2001). Hierbei wurde seine These vom Verhältnis zwischen Frage und Antwort als theoretische Grundlage für die Konzeption von qualitativer Forschung verwendet. Weiterhin werden Levys Artikel vor allem von gestalttheoretisch orientierten Psychotherapeuten und Theoretikern zitiert (CrochetiHre, Vicker, Parker, King & Wertheimer, 2001; Henle, 1979; Hochgerner, 2004; King, Wertheimer, Keller & CrochetiHre, 1994; Stemberger, 2000, 2002, 2005, 2010; Tomandl, 2011; Verstegen, 2015). Hierin liegt vielleicht die größte Rezeption. Außerdem wurde Levys Werk in Zusammenhang mit aktuellen Forschungsergebnissen der kognitiven Neurowissenschaft aufgeführt und als theoretische Grundlage für aktuelle experimentelle Erkenntnisse verwendet (Silverstein & Uhlhaas, 2004). Weiterhin ist hervorzuheben, dass Levys Artikel neben der Schulrichtung der Gestalttheorie (CrochetiHre, Vicker, Parker, King & Wertheimer, 2001; Henle, 1979; Hochgerner, 2004; King, Wertheimer, Keller & CrochetiHre, 1994; Stemberger, 2000, 2002, 2005, 2010; Tomandl, 2011; Verstegen, 2015), schulenübergreifend auch von psychoanalytischen Autoren (Burnham, 1955; Fenichel, 2006; Mintz, 1951; Wegrocki, n.d.; Weinshel, 1952) sowie einem Autor, welcher eher der Verhaltenstherapie zugerechnet werden kann (Ayllon, 1955) zitiert wurde. Levys Konzepte zeigen unter Umständen deshalb eine schulenübergreifende Akzeptanz, weil sie sowohl die in der Verhaltenstherapie angestrebte Fokussierung auf situationale Bedingungen von Verhalten und Kognitionen vertreten, als auch die für die Psychoanalyse zentrale Annahme des Fokus auf ein Verstehen von dynamischen Prozessen im psychischen Geschehen beinhalten.

122

Rezeption von Levys Werk

Daneben wird deutlich, dass Levys Artikel ebenso im Rahmen phänomenologischer Arbeiten (Henle, 1979), experimenteller Forschung (Mintz, 1951) sowie anwendungsorientierter Artikel im Bereich der Psychotherapie (Stemberger, 2000) und aktueller Forschungsbefunde (Silverstein & Uhlhaas, 2004) rezipiert wurde. Explizit kritisch äußerte sich nur Guberman (2007). Levys Anwendung der Gestaltgesetze auf Frage-Antwort-Systeme wurde von diesem Autor bemängelt. Die Beziehung zwischen Frage und Antwort sei eine semantische und keine perzeptuelle. Deshalb sei es nach Guberman nicht zulässig hierbei von den Gesetzen der guten Fortsetzung, Prägnanz und Ähnlichkeit zu sprechen. Allerdings zeigt sich auch, dass Levys Arbeiten insgesamt nicht sehr häufig zitiert wurden. Einige der Erwähnungen beziehen sich weniger auf die konkreten Konzepte Levys, insbesondere zur Schizophrenie. Sie werden eher im Rahmen einer historischen Darstellung der gestalttheoretischen Forschungsgeschichte vorgestellt (Hochgerner, 2004; Kästl & Stemberger, 2005; King & Wertheimer, 1994; Stemberger, 2000, 2002). Die Rezeption Levys ist sicherlich auch durch seine enge Beziehung zu Wertheimer beeinflusst. So wird Levy beispielsweise mehrfach als Schüler Wertheimers eingeführt (King et. al, 1994; Silverstein & Uhlhaas, 2004). Betrachtet man die Erwähnungen der Artikel von Levy chronologisch (siehe Abbildung 6) zeigen sich zwei Rezeptionspeaks. Der erste Peak befindet sich in den 50er Jahren, der zweite zwischen 2000 und 2010. Zur Jahrtausendwende wurden die Artikel Levys wieder häufiger zitiert. Dies könnte auch mit der 1978 gegründeten »Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendung« in Verbindung stehen. Diese Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, die Gestalttheorie wieder im Raum der internationalen Forschung präsenter zu machen und weiterzuentwickeln (Lück, 2013, S. 91). Weiterhin zeigen sich qualitative Unterschiede in der Rezeption von Levys Artikeln über die Zeit. Während in den 40er und 50er Jahren vor allem Kliniker und Schizophrenieforscher Levys Artikel zitierten (Ayllon, 1955; Burnham, 1955; Mintz, 1951; Moskowitz, 1943; Wegrocki, n.d.; Weinshel, 1952), lassen sich Referenzen nach 1980 vor allem in Bezug zur Aufarbeitung der Geschichte der gestalttheoretischen Beiträge zur Psychopathologie und Psychotherapie finden (Hochgerner, 2004; King, Wertheimer, Keller & CrochetiHre, 1994; Stemberger, 2000, 2002, 2005, 2010; Tomandl, 2011; Verstegen, 2015). Die Rezeption liegt aktuell also nicht mehr unbedingt direkt im Beitrag Levys zur Schizophrenieforschung, sondern insbesondere in einer Aufarbeitung von historischen Beiträgen mit aktueller Relevanz. Nach der Übersetzung von Levys Artikeln ins Deutsche durch Stemberger (siehe Sammelband von 2002) bleibt abzuwarten, wie sich die Rezeption von Levys Arbeiten zukünftig weiterentwickeln wird. Auch werden Levys Artikel aktuell in Österreich in der Ausbildung von Kan-

Analyse der historischen Kontexte der Rezeption

123

didaten der gestalttheoretischen Psychotherapie verwendet61, was zusätzlich zu einem neuen Aufleben des Interesses an seinen Arbeiten beitragen könnte.

6.3

Analyse der historischen Kontexte der Rezeption

6.3.1 Rezeption der Gestalttheorie in Deutschland bis 1933 Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte in Deutschland, mehr als heute, ein Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Schulen der Psychologie (Ash, 2007, S. 307). Dabei sah sich die Gestalttheorie in ihren Anfängen vor allem mit der physiologischen Psychologie Wilhelm Wundts konfrontiert (Lück, 2013, S. 90). Wertheimer und seine Kollegen kritisierten Wundt für sein eher materialistisches Denken und vor allem für seinen Ansatz, den er aus der Medizin entlehnte, psychische Phänomene in ihre Einzelteile zu zerlegen, um sie dann zu untersuchen (Wertheimer, 1912, S. 236). Auf der einen Seite wurde die Gestalttheorie häufig euphorisch von jungen Studenten und einzelnen Forschern aufgenommen, auf der anderen Seite aber auch schon seit ihrem Beginn oft missverstanden. Dies mag auch daran gelegen haben, dass die Gestaltpsychologen eher an der Weiterentwicklung ihres Ansatzes interessiert waren, als an der Vermittlung und Verbreitung ihrer Erkenntnisse im Wissenschaftsbetrieb der Psychologie (vgl. hierzu Ertel, Kemmler & Stadler, 2013, S. 1). Dies galt jedoch nicht nur für die Gestalttheorie der Frankfurter bzw. Berliner Schule, sondern für andere Schulrichtungen der Psychologie. Jedes psychologische Institut hatte meist nur einen Lehrstuhl. Somit hatte der jeweilige Lehrstuhlinhaber einen großen Einfluss auf die Ausrichtung der jeweiligen psychologischen Forschungstradition. Dazu kam, dass die Entscheidung für eine Berufung meist vom Vorgänger zu wesentlichen Teilen mitbestimmt wurde. Jede Schulrichtung hatte ihre eigene wissenschaftliche Zeitschrift und meist auch ihre eigene wissenschaftliche Gesellschaft. Außerdem zitierten sich die Wissenschaftler einer Schulrichtung meist hauptsächlich gegenseitig (Lück, 2013, S. 63). Thomas Kuhn (2012, S. 49ff) machte auf diese Wirkung von »scientific communities« aufmerksam. Die Konzeption von bestimmten Forschungsparadigmen und Schulrichtungen trifft vermutlich auch auf die psychologischen Schulen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu (vgl. Lück, 1989).

61 Stemberger, persönliche Mitteilung, April, 2015.

124

Rezeption von Levys Werk

6.3.2 Die internationale Rezeption der Gestalttheorie bis 1933 Auch schon vor Beginn des zweiten Weltkrieges und der erzwungenen Emigration wichtiger deutscher Gestalttheoretiker gab es einen Austausch zwischen amerikanischen und europäischen Psychologen. Zu dem neunten internationalen psychologischen Kongress im Jahre 1929 an der Yale University wurde auch Max Wertheimer eingeladen, um dort einen Vortrag zu halten. Dem konnte er jedoch nicht nachkommen (King & Wertheimer, 2005, S. 234). Allerdings nahm sein Kollege Kurt Lewin an diesem Kongress teil und berichtete Wertheimer ausführlich über seine Erfahrungen und Begegnungen. Er schrieb in diesem Brief62 : »Die Amerikaner waren sehr nett und sehr gastfreundlich. Wenn ich Englisch gekonnt hätte, hätte ich viele Vorträge halten können; so habe ich es nur auf zwei Englische gebracht. Das war außerordentlich komisch, und nur möglich, weil man sich auf ein erstaunlich primitives Niveau einstellen muss, so primitiv, dass sicher die Hälfte von dem, was ich gesagt habe, aus lauter Primitivität falsch war. In dieser Richtung ist das amerikanische Milieu direkt gefährlich.« (S. 1).

Lewin schrieb weiter, dass Wolfgang Köhler mit dieser »Primitivität« nur schlecht zurechtkam. Allerdings würden sich die jungen Wissenschaftler gegenüber der Gestalttheorie deutlich aufgeschlossener und interessierter zeigen. Von Thorndike war Lewin sehr positiv überrascht, da dieser auf dem Kongress öffentlich zugegeben habe, dass er sich bezüglich seiner Lerntheorie getäuscht habe. Bei einer Nachprüfung seiner Experimente habe sich gezeigt, dass ein bloßes Hintereinander von Reizen nicht genüge, um eine Assoziation zu bilden. Auch sei Thorndike sehr von Bluma Zeigarnicks Forschungen beeindruckt gewesen (Lewin, 1929, S. 2). Mit Ivan Pawlov, den er als »unglaublich russischen Russe[n]« bezeichnete, soll es eine interessante Unterredung gegeben haben. Wolfgang Köhler habe Pawlov etwas spöttisch gefragt, ob man ihn nun auch zu den Gestalttheoretikern rechnen könne (ebd.). Lewin schrieb interessanterweise, dass die Amerikaner die deutsche Psychologie nun so heftig mit der Gestalttheorie identifizieren würden, dass William Stern etwas protestiert habe (ebd.). Auch mit dem französischen Psychologen Jean Piaget und dem schweizer Psychologen Edouard ClaparHde unterhielt Lewin sich rege. Beide zeigten Interesse an den Entwicklungen der Gestaltpsychologie (ebd., S. 4). Mit Charlotte Bühler, der Entwicklungspsychologin und Frau des Psychologen Karl Bühler, habe Lewin eine sehr komische Aussprache gehabt, von der er jedoch nur »mündlich berichten könnte« (ebd.). Er schrieb: »Jedenfalls haben wir uns auf ihre Anregung hin so etwas wie ewige Hochach62 Brief von Kurt Lewin an Wertheimer vom 26.10.29; Wertheimer Papers, New School Archives.

Analyse der historischen Kontexte der Rezeption

125

tung geschworen, nachdem sie sich einen tollen Streich erlaubt hat.« (ebd.). An der Art wie Lewin über den internationalen Kongress und seine Eindrücke über die US-amerikanische Psychologie schreibt, wird deutlich, dass bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die deutsche Psychologie weltweit einen großen Stellenwert hatte. Auch lässt sich eine gewisse Überheblichkeit der deutschen, sehr philosophisch geprägten Psychologie gegenüber der amerikanischen Variante herauslesen. Der psychologische Index, eine Statistik über alle internationalen Publikationen im Fachbereich Psychologie, zeigt, dass beispielsweise 1910 knapp 50 % aller weltweiten psychologischen Veröffentlichungen aus Deutschland kamen. In den USA wurden im Vergleich nur ca. 30 % aller psychologischen Artikel publiziert. In Frankreich wurden im gleichen Jahr ca. 20 %, in Großbritannien 2 % und in allen anderen Ländern insgesamt 2 % veröffentlicht. Dies änderte sich jedoch kurz vor dem Erstarken der Nationalsozialisten drastisch. 1931 wurden in Deutschland 38 % (im Vergleich dazu in den USA 38 %) veröffentlicht. 1932 waren es in Deutschland nur noch 18 % (im Vergleich zu 42 % in den USA) und schließlich 1933 in Deutschland 14 % (in den USA 52 %) (Mallner, 1934). Somit begann schon vor Beginn des zweiten Weltkrieges eine Verschiebung des Zentrums der psychologischen Forschung von Deutschland nach Amerika. In den USA zeigte sich deutliches Interesse an der Gestaltpsychologie. So wurden in den Jahren 1924 bis 1933 insgesamt 32 wissenschaftliche Artikel, welche die Begriffe »Gestalt Psychology« im Titel tragen, in amerikanischen peer-reviewed Journals veröffentlicht.63 Allerdings sahen sich die Gestaltpsychologen in den USA nicht der Psychologie Wundts gegenüber gestellt, sondern dem wachsenden Behaviorismus. Viele US-amerikanische Forscher sahen die Methodik und die theoretische Herangehensweise der Gestalttheoretiker positiv, kritisierten jedoch den Schulenstreit, der auch von den Gestaltpsychologen ausgegangen sein soll. So schrieb beispielsweise Edwin Boring, ein bedeutender US-amerikanischer Experimentalpsychologe und einer der ersten PsychologieHistoriker, 1930 einen Artikel, in dem er ausführte, dass er die Gestaltpsychologie als Wissenschaft befürworte, die Gestaltpsychologie als Bewegung jedoch ablehne. Er warf den Gestalttheoretikern vor, einen künstlichen Feind zu kreieren, um gegen ihn kämpfen zu können. Weiterhin würden sie ältere experimentelle Arbeiten, die eigentlich die gleiche Aussage machen würden wie ihre eigenen, verleugnen, nur weil die Autoren dieser Arbeiten sich nicht Gestaltpsychologen nannten (Boring, 1930). In einer Rezension von Köhlers 1929 in den USA erschienenen Buches »Gestalt Psychology« durch Carroll C. Pratt, einer US-amerikanischen Experimentalpsychologin von der Harvard University, at63 PsychInfo, aufgerufen am 15. 08. 2016.

126

Rezeption von Levys Werk

testierte diese der Gestalttheorie eine gelungene Verknüpfung von Theorie, Hypothese und Testung erreicht zu haben (Pratt, 1929). Allerdings bezeichnete sie die Gestaltpsychologie nicht als Schulrichtung, da sie wesentliche Aspekte der Psychologie, namentlich die Emotionen, nicht betrachte würde. Außerdem sei Köhlers Buch zwar in sehr gutem Englisch verfasst, jedoch sei es auch sehr abstrakt und schwer verständlich (Pratt, 1929). In einer anderen Rezension wird auch auf die teils ausgeprägten Angriffe auf den Behaviorismus angespielt, die von den Gestaltpsychologen ausgingen (Rigg, 1929).

6.3.3 Die Rezeption der Gestalttheorie in den USA nach 1933 Krampen, Montada, Schui, und Lindel (2002) weisen anhand der Antrittsreden der Präsidenten der American Psychological Association nach, dass der Einfluss der deutschsprachigen Psychologie in Amerika nach 1930 grundsätzlich deutlich abnahm. Ähnliches lässt sich auch für die Gestaltpsychologie zeigen. Im Zeitraum von 1933 bis 2016 wurden insgesamt 86 Artikel mit dem Begriff »Gestalt Psychology« im Titel in amerikanischen peer-reviewed Zeitschriften veröffentlicht.64 Das ergibt einen Durchschnitt von 1,04 Veröffentlichungen pro Jahr. Im Vergleich dazu waren es im Zeitraum von 1924 bis 1933 ca. 3,5 Veröffentlichungen pro Jahr. Nachdem Köhler und Wertheimer Deutschland verlassen hatten, konnten sie ihre Forschung zwar weiter betreiben, hatten jedoch weder die gleichen Labore wie in Deutschland, noch Doktoranden (Ash, 1998, S. 406). Allerdings hielt Max Wertheimer Gastvorlesungen an Universitäten in den gesamten Vereinigten Staaten sowie in Regierungsbehörden und an Schulen (Luchins & Luchins, 1988, S. 150ff). Mary Henle (1977), eine Gestaltpsychologin an der New School in New York, äußerte die Überzeugung, dass die Kognitionspsychologie in den USA Annahmen der Gestalttheorie übernommen habe, ohne dabei die Quellen richtig zu benennen (S. 4). Köhler wurde 1959 Präsident der American Psychological Association (APA). Die Wahl ist sicherlich auch als Zeichen der Wertschätzung für die gesamte gestaltpsychologische Bewegung zu verstehen. Roback (1952) geht sogar so weit zu schreiben, die Gestaltpsychologie habe sich in Amerika so sehr entwickelt und in die amerikanische Psychologie integriert, dass man eigentlich nicht mehr von einem Import sprechen könne, sondern von einer einheimischen Schulrichtung (Roback, 1952, S. 325). 1965 schrieb Albert Wellek65 in seinem Artikel »Der Einfluss der deutschen 64 PsychInfo, aufgerufen am 15. 08. 2016. 65 Im Nationalsozialismus Professor für Psychologie in Halle. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, die Verantwortung der Psychologie im NS heruntergespielt zu haben (Prinz, 1985, S. 90).

Analyse der historischen Kontexte der Rezeption

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Emigration auf die Entwicklung der nordamerikanischen Psychologie«, dass Kurt Lewin eine außerordentliche Wirkung auf die amerikanische Sozialpsychologie hatte (Wellek, 1965, S. 46). Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Graumann (1989) generell für die Gestaltpsychologie. Die gestaltpsychologischen Ursprünge werden laut Graumann jedoch meist nicht deutlich gemacht (ebd., S. 76). Insgesamt lässt sich also sagen, dass vor allem Kurt Lewin und Solomon Asch in die amerikanische Sozialpsychologie und Wolfgang Köhler in die Lernpsychologie eingegangen sind (Crannell, 1970; Gold, 1999; Rock, 1990). Wertheimers Beiträge wurden insbesondere in die Grundlagenforschung der Wahrnehmungspsychologie integriert und sind Bestandteil fast aller grundständigen Lehrbücher (King & Wertheimer, 2005). Allerdings tauchen sie vor allem in Zusammenfassungen auf. Die Gestalttheorie des Denkens, aber auch klinische Aspekte der Gestalttheorie, so wie sie auch von Erwin Levy vertreten wurden, sind hingegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Im Zusammenhang mit der Übersetzung des Wertheimer-Buches »Schlussprozesse im produktiven Denken« (1920) durch Erwin Levy, schrieb Solomon Asch an den Verlag, der diese Übersetzung veröffentlichen wollte: »Ich fürchte, dass Levy die intellektuelle Distanz zwischen ihm und seinen Lesern um Lichtjahre unterschätzt«.66

6.3.4 Die Rezeption der Gestalttheorie im Nachkriegs-Deutschland In Deutschland zeigte sich eine ähnliche Entwicklung wie in den USA. Während die Psychologie im Nationalsozialismus vor allem durch Ganzheitspsychologie der Leipziger Schule geprägt war, fand nach dem Krieg eine Umstellung auf die amerikanische Tradition statt. Dies mag auch der Rolle der Psychologie während der Naziherrschaft und der Tendenz zur Verleugnung dieser geschuldet sein.67 Nach dem Krieg wurde von führenden Psychologieprofessoren das Bild gezeichnet, dass die Nationalsozialisten generell negativ gegenüber dem Fach der Psychologie eingestellt gewesen seien (Graumann, 1985, S. 1–13). Dies wurde mit der Aussage begründet, dass nicht nur jüdische Mitarbeiter entlassen und verfolgt, sondern auch nicht-jüdischen Psychologen an ihrer Arbeit gehindert worden seien (ebd.). Aktuell ist jedoch davon auszugehen, dass dies so nicht zutraf, bzw. die Nationalsozialisten die Psychologie nicht grundsätzlich als akademische Fachrichtung benachteiligten (Prinz, 1985, S. 89ff). Besonders der 66 Asch, 07. 03. 1984, Brief an Dr. Ammons [Box No. M2879, Folder No. 21, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor. 67 Vgl. hierzu Geuter, 1985, S. 55ff.

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Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie wurde in der jungen Bundesrepublik der Vorwurf gemacht, mit den Faschisten kollaboriert sowie ihre Theorien dem nationalsozialistischen Gedankengut angepasst zu haben.68 Obwohl sich die deutsche Psychologie mehr und mehr an den amerikanischen Forschungsrichtungen orientierte, kam es nicht zu einem Re-Import der Gestalttheorie. Der Fokus wurde eher auf den Behaviorismus bzw. die kognitive Wende gelegt (Lück, 2013, S. 90). Einige Gestaltpsychologen waren jedoch in Deutschland übrig geblieben und machten sich durch die Versuche der Wiederbelebung dieser Forschungstradition einen Namen. Der vielleicht bedeutendste Vertreter dieser Art war Wolfgang Metzger. Er trat im dritten Reich in die NSDAP69 und SA70 ein und baute 1942 ein psychologisches Institut in Münster auf. Der US-amerikanische Historiker Mitchell Ash bewertet Metzgers Verhalten als ängstliche Anpassung unter unsicheren Bedingungen (Ash, 2007, S. 354). Bis zu seinem Tod 1979 veröffentlichte Metzger viele Schriften, insbesondere über die Geschichte und Entwicklung der Gestalttheorie (z. B. Metzger, 1999). Wie schon für Levys Artikel angemerkt, ist seit der Gründung der »Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendung« 1978 ein Wiedererwachen sowie eine Weiterentwicklung der Gestalttheorie und damit auch deren Rezeption zu beobachten (vgl. Lück, 2013, S. 91). Weitgehende Einigkeit in der internationalen Rezeption der Gestalttheorie scheint in ihrer Wertschätzung als Metatheorie für den Fachbereich der Psychologie – aber auch darüber hinaus – zu bestehen (Epstein, 1988; Sternek, 2007; Wagemans, 2014).

6.3.5 Die Rezeption der Gestalttheorie in der Schizophrenieforschung Wenn man die Begriffe »Gestalt« und »Schizophrenia« in den Abstracts von Journal-Artikeln bei der Suchmaschine PsychInfo sucht, lassen sich seit 1930 insgesamt 93 Artikel finden. Aufgeschlüsselt für jedes Jahrzehnt ergibt sich hieraus Abbildung 7. Wie in Abbildung 7 erkennbar, lässt sich insgesamt eine Zunahme von Artikeln feststellen, die sich mit Überschneidungspunkten zwischen Gestalttheorie und Schizophrenieforschung beschäftigen. Insbesondere zeigt sich diese Zunahme in den 2000er Jahren. Es bleibt noch abzuwarten, ob sich der Trend in diesem Jahrzehnt (2010–2020) fortsetzen wird. Die Artikel wurden zum größten Teil auf Englisch verfasst (82 %), jedoch 68 Vgl. hierzu auch Harrington, 2002, S. 344–355. 69 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. 70 Die Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP (Longerich, 2003).

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Abbildung 7: Anzahl der Publikationen mit den Schlagwörtern »Gestalt« und »Schizophrenia« im Abstract. Anmerkungen: Die Quelle ist PsychInfo, aufgerufen am 15. 08. 2016. (Eigene Darstellung)

auch auf Deutsch (4 %), Italienisch (4 %), Spanisch (3 %), Französisch (1 %), Polnisch (1 %) und anderen Sprachen (4 %).71 Inhaltlich lassen sich die 93 Artikel nach folgenden Überthemen gliedern: 1. Gestalttheorie und Gestalttherapie 2. Der Bender-Gestalt-Test 3. Der Rorschach-Test 4. Psychopathologie 5. Psychotherapie

6.3.5.1 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Gestalttheorie und Gestalttherapie Insgesamt sechs dieser Artikel beschäftigen sich nicht mit der klassischen Gestalttheorie sondern mit Gestalttherapie nach Fritz Perls (Perls, Hefferline & Goodman, 1951), genauer gesagt, mit der Anwendung der Gestalttherapie in der Schizophreniebehandlung. Zur Abgrenzung bedarf es einer spezifischeren Analyse der Entstehung der Gestalttherapie nach Fritz und Laura Perls. Fritz Perls (eigentlich Friedrich Salomon Perls) war ein deutsch-jüdischer Psychiater und Psychotherapeut. Gemeinsam mit seiner Frau Laura Perls und Paul Goodman gilt er als Begründer der Gestalttherapie. Diese Therapierichtung hat jedoch vor allem dem Namen nach Ähnlichkeit mit der Gestalttheorie. Inhaltlichkonzeptionell gibt es wenige Übereinstimmungen. So warnte Laura Perls, die in Frankfurt auch Vorlesungen von Max Wertheimer und Kurt Goldstein besucht 71 PsychInfo, aufgerufen am 15. 08. 2016.

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hatte (Amendt-Lyon, 2001) davor, den Begriff Gestalt für den Namen der Therapierichtung zu übernehmen, da sich die Gestaltpsychologen dadurch verärgert zeigen könnten (Ludwig-Körner, 1992, S. 96). Wolfgang Köhler zumindest schien sich nicht besonders an der Namensgebung gestört zu haben und meinte, sie stelle keine Gefahr für den Ruf der Gestalttheorie dar, da die Konzeption der Gestalttherapie so offensichtlich oberflächlich sei (ebd.). Mary Henle stellte in einem Artikel sehr deutlich heraus, dass die Gestalttherapie nur dem ersten Anschein nach Ähnlichkeit zur Gestalttheorie habe, sich die Grundannahmen jedoch deutlich unterscheiden würden (Henle, 1978). Perls nutze die Begriffe Figur/Grund, unbeendete Situation und Gestalt in einer unscharfen und vagen Form (Henle, 1978, S. 23ff).72 Somit kann der Einfluss der Gestalttheorie auf die Schizophrenieforschung über den Umweg der Gestalttherapie vernachlässigt werden. 6.3.5.2 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Der Bender-Gestalt-Test Insgesamt 30 der in Abbildung 7 dargestellten Artikel (34 %) beschäftigen sich mit dem Bender-Gestalt-Test, der sich als ein für die Schizophrenieforschung fruchtbares Verfahren zeigt, welches sich aus der Gestaltpsychologie heraus entwickelt hat (King, Wertheimer, Keller & CrochetiHre, 1994). Lauretta Bender, eine US-amerikanische Neuropsychiaterin, entwickelte diesen Test 1938 (Bender, 1938). Bei dem Verfahren werden die Probanden bzw. Patienten dazu aufgefordert Figuren abzuzeichnen. Anhand von Gestaltprinzipien werden die Ergebnisse ausgewertet und Rückschlüsse über neuronale und psychiatrische Erkrankungen gemacht (ebd.). In mehreren Studien konnten Zusammenhänge zwischen Schizophrenie und der Fähigkeit, Figuren wahrzunehmen bzw. abzuzeichnen, festgestellt werden (Biswas, Malhotra, Malhotra & Gupta, 2006; Cohen, Fliegelman, Gluck & Kelman, 1970; Nahas, 1976). Schizophrene Patienten scheinen in der Gestaltwahrnehmung desorganisierter als andere Patientengruppen (Scott, 1956). 6.3.5.3 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Der Rorschach-Test Acht Artikel (9 %) beziehen sich auf den Rorschach-Test. Dieses projektive Testverfahren wurde 1921 von Hermann Rorschach entwickelt. Die Teilnehmer werden gebeten sich Tafeln mit Farbklecksen anzusehen und zu beschreiben, was sie darin sehen. Teile der Auswertungsmethodik zeigten große Übereinstimmung mit der Gestalttheorie (Brosin & Fromm, 1942). Es wird durch den Diagnostiker eingeschätzt, ob der Patient nur einen Teil der Figur (Detailant72 Ausführlich hierzu auch: Stemberger, 1998.

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wort), die ganze Figur (Ganzantwort), ein besonders kleines oder ungewöhnlich abgegrenztes Detail oder eine Zwischenfigur wahrnimmt. In mehreren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass schizophrene Patienten Auffälligkeiten in der Gestaltwahrnehmung zeigten (Cohen, Senf & Huston, 1956; Gürlach & Ravahi, 2012). 6.3.5.4 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Psychopathologie Insgesamt 26 Artikel (28 %) beziehen sich direkt auf Zusammenhänge zwischen Gestalttheorie, Schizophrenie und Psychopathologie. Dabei wurden vor allem Conrad (1958) und Matussek (1987) rezipiert. Klaus Conrad arbeitete als Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Göttingen und ist vor allem für sein Hauptwerk »Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns« (1958) bekannt. Paul Matussek war als Professor für Psychiatrie an der Universität München tätig. Beide Forscher hatten die Hypothese, dass bei der Schizophrenie vor allem eine grundständige Störung in den Prozessen der Gestaltwahrnehmung vorliegt. Die Gestaltanalyse des Wahns nach Conrad (1992) stellt zwei Phänomene in den Vordergrund: zum einen die Apophänie, zum anderen Anastroph8. Mit Apophänie meinte Conrad das Erleben eines abnormen Bedeutungsbewusstsein (ebd., S. 157). Der Schizophrene erlebt alles als von individueller Bedeutung für ihn. Mit Anastroph8 wird das Erleben bezeichnet, als Person im Mittelpunkt des Weltgeschehens zu stehen (ebd., S.157). An einem Beispiel lassen sich diese Phänomene deutlicher aufzeigen. Ein Mensch sitzt in der Straßenbahn und hört jemanden auf der Straße rufen. Er erlebt sich zunächst selbst gerufen. Der Ruf löst ein Bedeutungserleben aus, man fühlt sich »gemeint« (ebd., S. 157). Er wird aus dem Erleben des eigenen Selbst als der Mittelpunkt der eigenen Welt wahrgenommen. Soweit wäre das Erleben noch normal. Der gesunde Mensch blickt aus dem Fenster und bemerkt, dass nicht er selbst gemeint war. In diesem Moment wechselt das Bezugssystem, in dem sich der Ruf befindet. Es findet ein Wechsel des Rahmensystems statt. Das gleiche gilt im Übrigen auch im umgekehrten Fall, man merkt plötzlich in Form eines Aha-Momentes »Ich bin gemeint!«. Auch hier findet ein Wechsel der Bezugssysteme statt. Das Erleben wechselt zwischen dem Selbst im Zentrum und dem Anderen im Zentrum. Dies ist dem Schizophrenen in seiner Erkrankung nicht möglich. Alles was er wahrnimmt gilt ihm (Apophänie). Alles was geschieht dreht sich um ihn (Anastroph8). Beide Phänomene sind nach Conrad wie zwei Kehrseiten eines Phänomens (ebd., S. 158). Sie lassen sich nicht trennen und bilden die Kernpunkte des schizophrenen Erlebens. Mehrdeutigkeiten finden hierin keinen Platz. Es ist den Patienten nach Conrad nicht mehr möglich zwischen verschiedenen Bedeutungen in unter-

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schiedlichen Bezugssystemen, bzw. Gestalten zu wechseln. Alles ist um die eigene Person zentriert. Als Beispiel führte Conrad den Wechsel in der Wahrnehmung von Figur und Grund bei einer Kippfigur an (ebd., S. 48).

Abbildung 8: Kippfigur (Eigene Darstellung)

Diese Figur (Abbildung 8) kann zum einen als zwei sich überschneidende Quadrate wahrgenommen werden. Das kleine Quadrat in der Mitte hat dann die Bedeutung der Überschneidungsfläche. Sieht man zwei sich an den Spitzen berührende Winkel, so hat das Quadrat in der Mitte die Bedeutung eines Teils des Hintergrundes. Ein solcher Wechsel in der Gestaltwahrnehmung ist den schizophrenen Patienten nach Conrad nicht mehr möglich (ebd., S. 48). Conrad spricht dann von Wahn, wenn ein Übertritt gänzlich unmöglich geworden ist (ebd., S. 159). Im Wahn ordnet sich das psychische Geschehen um ein zentrales Thema (ebd., S. 17). Er tritt als Zeichen der Nicht-Bewältigung einer Krise um dieses Thema hin auf. In der Krise kommt es häufig zur Unerfüllbarkeit eines Wunsches, was eine energetische »Stauung« entstehen lässt, bis nichts mehr daneben Platz hat (ebd., S. 17). Conrad machte sich vor allem durch die Beschreibung der phasentypischen Entwicklung von Schizophrenie einen Namen und untergliederte diesen Prozess in fünf Teile. 1. Trema 2. Apophäne Phase 3. Apokalyptische Phase 4. Konsolidierung 5. Residualzustand Diese Phasen müssen nicht zwangsläufig alle auftreten, sind aber häufig zu beobachten.

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Im Sinne des Feldbegriffes Lewins formulierte Conrad die Entstehung des Wahns als einen Spannungszustand zwischen einem drängenden Wunsch und der Unmöglichkeit der Erfüllung desselbigen. Dieser Spannungszustand bestimme das Erleben immer mehr, so dass es zu einer erheblichen Einengung des psychischen Feldes komme (ebd., S. 18). Diesen Prozess nannte Conrad Prodromal-Stadium, bzw. Trema (ebd., S. 19). Bezeichnend für diese Phase sei die Wahnstimmung, bzw. die schrittweise Verengung der phänomenalen Welt auf ein bestimmtes Thema. Diesen Zustand der Feldsituation verglich er mit der Situation eines Gefangenen in seiner Zelle. Die ganze phänomenologische Welt sei zentriert auf ein Thema. Weiterhin sei der Inhalt des Wahns durch das Gesamtfeld determiniert (ebd., S. 120). Daneben werde das Trema von innerer Unruhe und Angst bestimmt. Auf eine relativ lange Phase des Tremas folge meist eine kürzere Phase der Apophänie. Diese Phase habe das wahnhafte Erleben als Kernmerkmal. Alles werde als subjektiv bedeutungsvoll erlebt und in das bestehende Wahnsystem eingefügt. Als eine Steigerung dieses Zustandes, bzw. dritte Phase bezeichnete Conrad die Apokalyptische Phase, oder auch die Phase der Katatonie. Dieser Zustand der Erstarrung stellt eine tiefere Stufe der Apophänie dar und werde von starker Angst, Halluzinationen und dem Zerfall von Sprache und Denken begleitet (ebd., S. 108). Extreme, jedoch seltene Fälle von Katatonie bezeichnete Conrad als terminale Phase, da sie häufig auch zum Tode führen und mit einem toxischen Koma vergleichbar sind (ebd., S. 109). Meist kommt es nach der apophänen Phase jedoch zu einer Entspannung im Feld. Diese Phase wurde von Conrad auch Konsolidierungsphase genannt (ebd., S. 116). Hiermit ist vor allem den Rückgang der Symptomatik gemeint. Typisch dafür ist eine Kippbewegung zwischen Momenten der Einsicht, dass das Erleben durch einen krankhaften Zustand zustande gekommen ist und dem Rückfall zu der Idee des Wahngedankens (ebd., S. 119). Nicht als vorübergehende Phase, sondern als Dauerveränderung oder Schub bezeichnete Conrad den Residualzustand (ebd., S. 121ff). Er beschrieb diesen Zustand als fehlende Anspannung, bzw. Entschluss- und Willenskraft, sowie Apathie. Er orientierte sich wiederum vorrangig an den Konzepten Kurt Lewins (Lewin, 1926, 1939a, 1939b). Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass sich Conrads Gestaltanalyse des Wahns vor allem auf Theorien von Lewin bezieht. Auch wenn einige Teile sehr an die Konzepte Levys erinnern, wird dieser hier nicht erwähnt oder zitiert. Der Fokus Conrads zum Verständnis der Schizophrenie bezieht sich auf die Wahrnehmungswelt bzw. Wahrnehmungsstruktur nach gestalttheoretischen Prinzipien. Dies stellte er als Kernaspekt der schizophrenen Erkrankung dar. Die schizophrene Denkstörung wird hierbei eher marginal erwähnt. Nach Conrad ist auch das Denken im Rahmen von Gestaltprozessen verstehbar. Er postulierte, dass man die gedanklichen Motive zwar verstehen könne, wenn man die Vorge-

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schichte des Patienten kenne, ihnen jedoch die »Durchgestaltung« fehle (ebd., S. 100). Er schrieb: »Die einzelnen Motive setzen sich nicht gegeneinander ab, gliedern sich nicht durch, es fehlt jede Zentrierung, wie sie sich im Satzgefüge in der richtigen Wahl von Haupt- und Nebensätzen kundgibt.«. Auch Levy führte die gestörte Gestalt im Denken als Ursache für Störungen auf (1943). Jedoch meinte er am Beispiel des Epaminondas eine Zentrierung um eine gewisse Gestimmtheit des Grandiosen entdeckt zu haben. Insofern würde er vermutlich die Aussage ablehnen, es fehle jede Zentrierung. Auch bezog Levy die aktuelle Situation und damit auch den Interaktionspartner in der die schizophrenen Gedanken auftreten, mit in seine Gestaltanalyse ein. Körpersensationen im Rahmen der Schizophrenie, wie z. B. auch Halluzinationen, erklärte Conrad ebenfalls durch eine gestörte Gestaltwahrnehmung. Der Erkrankte kann nicht mehr zwischen Figur und Hintergrund trennen. Einzelne Aspekte, die andere als zum Hintergrund gehörig wahrnehmen würden, treten im Wahn in den Vordergrund (Conrad, 1992, S. 102). Auch zwischen inneren und äußeren Ereignissen kann im Rahmen der Gestaltdiffusion nicht mehr richtig unterschieden werden. Paul Matussek fasste die psychopathologischen Phänomene sehr ähnlich zu Conrad auf. Er konzentrierte sich in seiner Analyse noch mehr auf die Gestaltprozesse der Wahrnehmung und postulierte, dass vor allem eine fragmentierte Wahrnehmung für ein verändertes Bedeutungserleben verantwortlich sei (Matussek, 1952, S. 285ff). Auch die unnormalen Bedeutungszusammenhänge haben nach Matussek ihren Ursprung in der veränderten Wahrnehmung. »Natürliche« Gestalten werden nicht mehr als solche wahrgenommen, besondere Details werden »eingerahmt« (ebd.). In einer Übersichtsarbeit über gestalttheoretische Beiträge zum Verständnis der Schizophrenie von Silverstein und Uhlhaas (2004) fassen die Autoren die Thesen von Conrad und Matussek als »the perceptual organisation deficit hypothesis«73 zusammen. In einer Arbeit von Schwartz Place und Gilmore (1980) konnte gezeigt werden, dass schizophrene Patienten Schwierigkeiten haben, basale Objekte nach gestalttheoretischen Prinzipien zu ordnen. In der Versuchsanordnung wurden ihnen Linien mit Hilfe eines Tachistoskops in sehr kurzer Zeit als visuelle Reize dargeboten. Die Aufgabe bestand darin diese Linien zu zählen. Wenn einzelne Linien in kleinem Abstand zueinander gezeigt wurden, fiel es den schizophrenen Probanden leichter diese zu zählen als den Versuchsteilnehmern der gesunden Kontrollgruppe. Hieraus schlussfolgerten die Autoren, dass während die Gesunden die Linien im Rahmen der Gestaltprinzipien ordneten, dies den Schizophrenen nicht gelang. Silverstein und Uhlhaas 73 »Die Hypothese des Gestalt-Organisations-Defizits« (Übersetzung ins Deutsche durch den Autor).

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(2004) argumentierten, dass diese Theorie besser zur Erklärung basaler kognitiver Defizite bei Schizophrenie geeignet sei als vergleichbare Konzepte (wie etwa: »reduced processing capacity«74, »slowness of processing«75, »deficient filter«76). Es lassen sich Parallelen zu den Forschungsergebnissen zum BenderGestalt-Test und dem Rorschachtest finden (z. B. Biswas, Malhotra, Malhotra & Gupta, 2006; Gürlach & Ravahi, 2012). Interessanterweise zeigen sich diese Ergebnisse auch unabhängig von neuroleptischer Medikation (Rabinowicz, Opler, Owen & Knight, 1996), jedoch abhängig von der Exazerbation der Symptomatik (Silverstein, Knight, Schwarzkopf, West, Osborn & Kamin, 1996). Die Autoren fassen die Befunde in der Hypothese zusammen, dass die Einschränkungen in der visuellen Organisation von Stimuli nur eine Folge einer grundsätzlichen Störung der kohärenten Organisation von kontextbezogenen Stimuli sei (Silverstein & Uhlhaas, 2004, S. 269). Diese Einschränkungen seien auf neuronaler Ebene auf Veränderungen der Gamma-Wellen-Breite zurückzuführen (ebd., S. 270). Levys Beiträge zur gestalttheoretischen Psychopathologie der Schizophrenie finden im Artikel von Silverstein und Uhlhaas (2004) zwar Erwähnung, stehen jedoch nicht im Vordergrund. Die Autoren konzentrieren sich auf die Arbeiten von Conrad und Matussek zur visuellen Gestaltwahrnehmung. Die Gestaltprozesse des Denkens im sozialen Kontext, wie Levy sie formulierte, werden nur beiläufig aufgeführt (ebd., S. 261). Nicht unerwähnt bleiben sollen kritische Stimmen zu den erläuterten Theorien und Befunden. So untersuchten Hambrecht und Häfner (1993) die von Conrad aufgestellte Phasenstruktur der Schizophrenie. Während die Phase des Trema als initiale Phase festgestellt werden konnte, zeigte sich keine theoriekonforme Abfolge der Phasen Apophänie und Apokalypse. Allerdings wiesen die Autoren selbst darauf hin, dass zu einer genauen Phaseneinteilung fremdanamnestische Angaben nötig gewesen wären. Diese lagen der Studie jedoch nicht vor (ebd., S. 422). Auch die »perceptual organisation deficit hypothesis« wird von manchen Wissenschaftlern angezweifelt. Plaum (2003) wies in einem Kommentar zu Silverstein und Uhlhaas (2004) darauf hin, dass es vielleicht treffender wäre, nicht von einem »Zerfall der Gestaltstruktur« zu sprechen, sondern von einer abnormen Gestaltbildung (ebd., S. 284f) und verwies hierbei interessanterweise auf Levy (1943). Weiterhin merkte Plaum an, dass emotionale und soziale Prozesse bei einem rein kognitiv-neurologischen Ansatz – wie dem von Silverstein und Uhlhaas (2004) beschriebenen – fehlen würden (Plaum, 2003, S. 286). Grundsätzlich dreht sich die Debatte um die Suche nach genauen Kriterien 74 »Verminderte Verarbeitungsfähigkeit« (Übersetzung ins Deutsche durch den Autor). 75 »Langsame Verarbeitung« (Übersetzung ins Deutsche durch den Autor). 76 »Filterdefizit« (Übersetzung ins Deutsche durch den Autor).

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für die diagnostische Einordnung anhand von basalen Störungen. Dabei sollten diese Prozesse nicht nur typisch, sondern spezifisch sein (Bruijnzeel & Tandon, 2011). Bis heute gibt es keine Sicherheit darüber warum Schizophrenie entsteht oder was eine mögliche »Grundstörung« sein könnte, aus der sich die verschiedensten Symptome bilden (vgl. Comer, 2008, S. 387–397). Die Suche nach einer solchen Grundstörung kann zum einen auf die Arbeiten von Kraepelin und Bleuler zurückgeführt werden, zum anderen generell auf ein bio-medizinisches Verständnis von Krankheit. Jede Krankheit hat nach dieser Konzeption eine spezifische Ursache, bestimmbare Prozesse und eine spezifische Behandlungsform (Hoff, 2012, S. 260ff). Auch wenn sich Levys Arbeiten (1936, 1943) auf abgrenzbare Krankheitsentitäten (Manie und Schizophrenie) bezogen, so scheint er sich inhaltlich nicht so sehr auf genau trennbare Erkrankungen fokussiert zu haben, sondern eher auf die grundlegenden Prozesse der Psychopathologie. Das Pathologische ist dabei jedoch nur eine Seite der Dimension von Gesundheit und Krankheit (vgl. hierzu auch Stemberger, 2000, S.43f). 6.3.5.5 Gestalttheoretische Schizophrenieforschung: Psychotherapie Im Überschneidungsfeld Gestalttheorie, Schizophrenie und Psychotherapie lassen sich bei der Analyse 17 Artikel (18 %) finden. Diese Arbeiten beziehen sich jedoch fast ausschließlich auf die Gestalttherapie nach Perls (1951). Es ist allerdings anzunehmen, dass sich gestalttheoretische Konzepte durchaus auch in anderen Bereichen der sehr breiten und vielfältigen Psychotherapielandschaft zeigen. Zum einen trifft dies auf die gestalttheoretische Psychotherapie (Walter, 1994) zu, zum anderen sind derartige Ansätze in humanistischen und systemischen Psychotherapieansätzen zu erwarten. 6.3.5.5.1 Gestalttheoretische Psychotherapie Den vielleicht größten Einfluss hatten Erwin Levys klinische Artikel auf die Entwicklung der gestalttheoretischen Psychotherapie (Kästl & Stemberger, 2005, S.342f). Die gestalttheoretische Psychotherapie Hans-Jürgen Walters bildete sich durch seinen Versuch heraus, die Ansätze der Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie unter der besonderen Berücksichtigung gestalttheoretischer Überlegungen zu integrieren (vgl. Walter, 1994). Diese Form der Psychotherapie ist sehr daran interessiert, insbesondere die Ansätze früher klinisch-orientierter Gestalttheoretiker (wie auch diejenigen von Erwin Levy) zu verwenden, um Menschen psychotherapeutisch zu verstehen und zu behandeln (Kästl & Stemberger, 2005, S. 334). Die Autoren schrieben: »Die gestalttheoretische Psychotherapie nimmt für sich in Anspruch, erstmals eine umfassende systematisierte und konsistente Anwen-

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dung der Gestalttheorie der Berliner Schule in all ihren Teilansätzen auf das klinische Arbeitsfeld zu entwickeln.« (ebd., S. 351f). Diese Schulrichtung der Psychotherapie gründete sich auf der Annahme, dass das Erleben des Menschen aber auch die psychotherapeutische Situation, mit den Konzepten von Gestaltprinzipien, sprich den Selbstordnungstendenzen von Gestalt und Teilen, beschrieben und verstanden werden können. Dabei ist ein Ziel die Bewusstwerdung des Selbst als ein Teil seiner Umwelt (ebd., S. 357). Daneben ist die Unterscheidung zwischen dem in der Umwelt Angetroffenen und dem gedanklich Vorgestellten zentral. Die Autoren schrieben: »Ein Mensch, der […] seine gedanklichen Konstrukte für die Wirklichkeit hält, anstatt sie immer wieder anhand des Vorgefundenen zu überprüfen und zu ändern, dieser Mensch wird sich schwerlich im Leben zurechtfinden und adäquates Verhalten in der jeweiligen Situation entwickeln können.« (ebd., S. 357). Die Wahrnehmung des Klienten soll immer wieder auf sein gesamtes Erleben gelenkt werden, um auch emotionale und körperliche Vorgänge in der aktuellen Situation zu berücksichtigen. Die »Zentrierung auf das unmittelbar Angetroffene« ermöglicht eine veränderte Sichtweise auf die Gesamtsituation (ebd., S. 358). Auch wird der Mensch als »psychophysische Einheit« (ebd., S. 359) verstanden. Das Individuum wird in seinem Lebensraum betrachtet (vgl. Lewin, 1963). Diesem Modell folgend, liegt der Fokus der gestalttheoretischen Psychotherapie auf der aktuellen Lebenssituation. Die Kräfte, die darin wirken, werden Lewin zufolge als Vektoren der Anziehung und Abstoßung verstanden. Wichtig dabei ist, dass auch frühere Erfahrungen und Vorstellungen über die Zukunft als Feldkräfte bestimmende Wirkungen haben können. Dabei steht jedoch weniger das was war, sondern das was erlebt wurde, im Vordergrund. Allerdings können diese aktuell wirkenden Faktoren und die Struktur der Feldsituation durchaus unbewusst sein. Ziel wäre demnach auch eine Bewusstmachung solcher Kräfte auf das gegenwärtige Erleben und Handeln (vgl. Kästl & Stemberger, 2005, S. 360f). Weniger direkt auf Levy zurückführbar, jedoch vermutlich durch die Gestalttheorie beeinflusst, sind Ansätze der humanistischen Psychologie und Psychotherapie, sowie der systemischen Psychologie und Psychotherapie. 6.3.5.5.2 Die humanistischen Psychotherapieansätze Die humanistische Psychologie ist keine feste Strömung in der Psychotherapiewelt, sondern eher ein Oberbegriff für verschiedene Schulen, die sich sowohl von behavioralen als auch von psychoanalytischen Konzeptionen abgrenzen lassen. Dazu gehören die Klienten- oder Personenzentrierte Therapie nach Carl R. Rogers (1968), die Gestalttherapie nach Fritz und Laura Perls (1951), die Existenzielle Therapie nach Rollo May (1958) und die Themenzentrierte Therapie nach Ruth C. Cohn (2009). Mittlerweile wird zum Teil auch die Systemische Therapie den humanistischen Ansätzen zugerechnet (z. B. Sydow, Beher, Retzlaff

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& Schweitzer-Rothers, 2007). Für die Ansätze der humanistischen Therapieschulen ist die Annahme zentral, dass der Fokus der psychotherapeutischen Betrachtung des Menschen weniger auf seine Defizite, sondern vielmehr auf seine Entwicklungsmöglichkeiten gelegt wird. Anders gesagt, besteht das Hauptaugenmerk in der Förderung des Wachstumspotentials des Menschen (Maslow, 2013). Kurt Goldstein, ein gestalttheoretischer Psychiater und Neurologe, prägte das Konzept der Tendenz zur Selbstaktualisierung. Dieser Begriff wurde von Maslow, Fromm und Rogers übernommen (Quittmann, 1991, S. 80ff). In den 1930er Jahren verbrachten sehr viele bedeutende Psychologen und psychotherapeutisch tätige Ärzte Zeit in New York. Sowohl Erich Fromm, Kurt Goldstein, Alfred Adler, Frieda Fromm-Reichmann, Charlotte Bühler, Rollo May als auch Abraham Maslow waren in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder in New York (Johach, 2015). Es ist anzunehmen, dass die meisten sich kannten, immer wieder den Austausch pflegten oder zumindest die wichtigsten Werke der anderen gelesen hatten. So entwickelte sich in New York zu dieser Zeit die Neopsychoanalyse und verschiedene Formen der humanistischen Psychotherapie. Auch die Kulturanthropologen Ruth Benedict und Margaret Mead waren zu dieser Zeit an der Columbia University in New York tätig und leisteten einen Beitrag zu den psychologischen und psychotherapeutischen Konzepten dieser Zeit (Banner, 2004). Carl Rogers gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der humanistischen Psychologie. Er war ausgebildeter Theologe und begann ab 1941 sich zunehmend mit Psychotherapie zu beschäftigen (Rogers, 1941). Sein Ansatz entwickelte sich auch wesentlich durch Kontakte zu Otto Rank und Martin Buber, vor allem durch Bubers Konzepte zum Erleben und der Ich-Du-Beziehung (vgl. Buber, Rogers, Anderson& Cissna, 1997). Roger entwickelte ein Verständnis von Psychotherapie, das den Klienten mit seinem Erleben in den Mittelpunkt stellt (Rogers, 1972). Die Rolle des Therapeuten besteht darin, dem Klienten eine Umgebung zu Verfügung zu stellen, in der er sich entwickeln kann. Psychisches Leiden entsteht demnach durch Umstände, die eine kongruente Entwicklung verhindern bzw. blockieren. Die therapeutische Beziehung bietet drei wichtige Grundlagen für diese Entwicklung: Kongruenz, Empathie und unbedingte Wertschätzung (Rogers, 1961). In seinem Buch »On becoming a Person« beschrieb Rogers das Selbst als in einem ständigen Prozess der Selbstaktualisierung, wobei Umformungen eigener Ressourcen und Selbst-Anteile beteiligt seien (ebd.). Die Betrachtung des Selbst in Interaktion mit seiner Umgebung erinnert auch an Levys Konzeption von Umstrukturierungs- und Umzentrierungsprozessen (vgl. Levy, 1936, 1943, 1986). So beschrieb Rogers eine Patientin, bei der eine neue Erfahrung in der Therapie eine »tiefere Reorganisation [des Selbst] mit sich brachte« (1972, S. 84f).

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Weiterhin zitierte Rogers den Gestalttheoretiker Angyal: »Leben ist ein autonomes dynamisches Ereignis, das zwischen dem Organismus und der Umgebung stattfindet; Lebensprozesse neigen nicht nur dazu, das Leben zu erhalten, sondern auch dazu, den momentanen status quo des Organismus zu überschreiten« und fügte dann hinzu: »Unsere Erfahrung in der Therapie hat dazu geführt, dass wir dieser These einen zentralen Platz einräumen.« (Rogers, 1972, S. 423). Darüber hinaus war Rogers der Ansicht, dass die Strukturierung des Selbst eng mit der individuellen Erlebensweise der Umwelt zusammenhängt, so schrieb er : »Eine Veränderung in der Struktur des Selbst bedeutet, dass das Individuum ganz wörtlich in einer neuen Welt lebt.« (ebd., S. 128). Rogers gab zwar nicht explizit an, dass solche Prozesse psychischer Strukturierung und Restrukturierung nach gestalttheoretischen Gesetzmäßigkeiten ablaufen, trotzdem ist eine Ähnlichkeit zur Berliner Schule der Gestalttheorie und auch zu Levys Ansätzen unverkennbar. Allerdings nannte er Levy an keiner Stelle als Quelle. Es scheint gut möglich, dass Rogers Levys Artikel nicht kannte, allerdings war er grundsätzlich durchaus mit der Gestalttheorie vertraut. So zitierte er neben Angyal auch Kurt Lewin an mehreren Stellen (ebd., S. 30, 65, 309, 333). Rogers beschrieb beispielsweise Lewins Untersuchungen zum Einfluss des psychischen Klimas auf Schüler und stellte dies mit seiner klinischen Beobachtung gleich, dass das therapeutische Klima im Erleben seiner Patienten meist von dem Gefühl der »sicheren Atmosphäre« geprägt sei (ebd., S. 309). Durch ein solches Klima sei es den Patienten möglich, sich freier zu entwickeln und ihr Selbst in einer für sie hilfreichen Weise umzustrukturieren (vgl. hierzu auch Hutterer-Kirsch, 1996). Den Begriff der Selbstaktualisierung übernahm Rogers vom Gestalttheoretiker und Neurologen Kurt Goldstein (ebd., S. 423). Daneben werden auch Karen Horney und Harry Stack Sullivan als Quellen für Rogers Konzepte von Persönlichkeit aufgeführt (ebd.). Ab 1957 leitete Rogers in Wisconsin ein Forschungsprojekt mit schizophrenen Patienten. Dort arbeitete er u. a. mit dem Psychotherapeuten Gendlin (1997) zusammen und wandte seine Konzepte auf die Arbeit mit Schizophrenen an (Rogers, 1967). In seinen Studien untersuchte er vor allem, welche Faktoren eine psychotherapeutische Besserung der schizophrenen Symptome erklären. Dies fasste er wie folgt zusammen: »One of the unspoken themes of the research, largely evident through omission, is that it was quite unnecessary to develop different research procedures or different theories because of the fact that our clients in this investigation were schizophrenic. We found them far more similar to, than different from, other clients with whom we have worked. They appeared to respond constructively, as do others, to subtle and freeing elements in an interpersonal relationship, when they were able to perceive these elements. Though

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Rezeption von Levys Werk

this fact shows up in no specific way in our evidence, it pervades all our data. It may be one of our more important findings.« (Rogers, 1967, S. 93).77

6.3.5.5.3 Die systemischen Psychotherapieansätze Systemische Ansätze der Psychologie und Psychotherapie entwickelten sich zum einen aus familientherapeutischen Ansätzen und zum anderen aus systemtheoretischen Konzepten der Naturwissenschaften (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2012). Zentral für das systemische Denken ist die Annahme, dass menschliches Erleben und Verhalten maßgeblich von der sozialen Umwelt geprägt wird. Aus dieser Betrachtungsweise heraus begann z. B. die US-amerikanische Psychoanalytikerin Virginia Satir im Jahr 1951, ihre schizophrenen Patienten nicht mehr nur als Einzelperson, sondern in ihrer Familie zu behandeln. Ihrer Ansicht nach, waren die Patienten als ein Teil des Familiensystems erkrankt. Um sie zu behandeln ist es deshalb notwendig, auch die Menschen um sie herum zu betrachten und mit in die Therapie einzuschließen. Zum anderen ist die Grundannahme zentral, dass komplexe Systeme – wie sie auch im menschlich-psychologischen Sinne bestehen – inneren Gesetzmäßigkeiten folgen. Der Mensch in seiner sozialen Umwelt gleicht nach diesem Verständnis dem Teil eines komplexen Systems, aus dem heraus er bestimmt wird. Mit dem Begriff der Zirkularität wird die Annahme ausgedrückt, dass jeder Teil eines Systems mit den anderen Teilen des Systems in Beziehung steht und sich wechselseitig beeinflusst. Dabei zielt das Gesamtsystem auf einen Zustand der Homöostase, also dem eines inneren Gleichgewichts ab. Die Prozesse innerhalb des Systems sind wechselseitig determiniert und folgen bestimmten Regelkreisen (vgl. Kriz, 2008, S. 219ff). Als Vorläufer wird auch Kurt Lewins Feldtheorie genannt (Schlippe & Schweitzer, 2012, S. 18). Auch der von Kurt Goldstein entwickelte Begriff der Selbstaktualisierung lässt sich hier finden (Kriz, 2008, S. 39). Ein System organisiert sich aus seinen inhärenten Potentialen heraus. Viele Autoren sehen Ähnlichkeiten zwischen der Gestalttheorie und der Systemtheorie (Marmgren, 1998; Sommers-Flanagan, Sommers-Flanagan, Baldridge & Murray, 2012; Stadler & Kruse, 1986; Zabransky, 1997). Interessanterweise beschäftigte sich die systemische Theorie, vor allem in ihrer Anfangszeit, auch intensiv mit der 77 »Eine der unausgesprochenen Erkenntnisse unserer Forschung, die vor allem dadurch sichtbar wurde, dass wir sie nicht beachteten, ist, dass es nicht notwendig war andere Methoden oder Theorien zu entwickeln, nur weil unsere Klienten schizophren waren. Im Vergleich zu anderen Klienten mit denen wir gearbeitet haben, empfanden wir die Ähnlichkeiten, gemessen an den Unterschieden als deutlich größer. Sie schienen, so wie andere auch, konstruktiv auf subtile und befreiende Elemente von zwischenmenschlicher Beziehung zu reagieren, wenn sie in der Lage waren diese wahrzunehmen. Obwohl die Tatsache nirgends besonders sichtbar wird, durchdringt sie doch unsere gesamten Daten. Dies mag eine unserer bedeutenden Erkenntnisse sein.« (Übersetzt durch den Autor).

Analyse der historischen Kontexte der Rezeption

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Schizophrenie. Mitte des 20. Jahrhunderts gründete sich die sogenannte PaloAlto-Gruppe in Kalifornien, die am Mental Research Institute (MRI) forschten. Diese Gruppe bestand aus Psychiatern, Psychologen und Sozialarbeitern. Ihre wichtigsten Mitglieder waren: Don D. Jackson, Richard Firsch, Jay Heley, Jules Riskin, Virginia Satir, Paul Watzlawick, John Weakland und William F. Fry (Marc, Picard & Holl, 1991). Die wohl bekannteste Arbeit dieser Gruppe zur Schizophrenie, ist der 1956 erschienenen Artikel »Towards a Theory of Schizophrenia« (Bateson, Jackson, Haley & Weakland). Die in dieser Arbeit erstellte Analyse der Schizophrenie gründet sich aus der Kommunikations- und Systemtheorie und beschreibt die Entstehung der Schizophrenie als Problem der Kommunikation in Familien. Die kommunikationstheoretische Grundannahme basiert auf der Vorstellung, dass gesprochenes Wort immer im sozialen Kontext zu fassen ist und nur im Bedeutungszusammenhang mit Gestik, Mimik und Intonation zu verstehen ist (Bateson, Jackson, Haley & Weakland, 1956, S. 252). Sprache ist demnach immer mehrdeutig und muss interpretiert werden. Schizophrenie entsteht nach Meinung der Autoren nicht durch ein einmaliges traumatisches Ereignis, sondern als Folge von lang andauernden Erfahrungen gestörter Kommunikation in der Ursprungsfamilie. Die Störung der Kommunikation liegt in ihrer Doppeldeutigkeit. Dem Kind wird auf der direkt-sprachlichen Ebene mitgeteilt, was es tun oder lassen soll und dass auf eine Nichtbefolgung eine Strafe folgen wird. Auf der nonverbalen Ebene wird gleichzeitig eine dem Gesagten widersprechende Botschaft gesendet: »Sieh’ dies nicht als Bestrafung; Sieh’ mich nicht als Bestrafenden; Befolge meine Verbote nicht; Denke nicht daran was du tun musst; Stelle meine Liebe nicht in Frage […]« (Bateson et al., S. 253f).78 Gleichzeitig ist es dem Empfänger der Botschaften nicht möglich die Situation zu verlassen. Auch die Metakommunikation über die Doppelbedeutung ist verboten. Diese psychologische Situation, bzw. dieses Kommunikationsschema nannten Bateson und Kollegen »Double Bind«, weil eine doppelte, sich widersprechende Beziehungsinformation in der Kommunikation steckt. Zur Verdeutlichung führten die Autoren das Beispiel eines Zen-Schülers an. Sein Meister hat einen Stock in der Hand und sagt ihm: wenn du sagst der Stock sei real, schlage ich dich mit ihm, wenn du sagt er sei nicht real, schlage ich dich mit ihm, wenn du gar nichts sagst, schlage ich dich mit ihm. Der Schizophrene befindet sich nach Bateson in der gleichen Situation und hat keine Möglichkeit ihr zu entrinnen. Diese DoubleBind-Botschaft ist paradox und wirkt existenziell bedrohlich. Durch Lerneffekte generalisiert sich für das Kind und den späteren Erwachsenen diese Kommunikationssituation. Auf abstrakter Ebene stellt sich die Situation wie folgt dar :

78 Übersetzt durch den Autor.

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1. Gebot X muss befolgt werden, da sonst eine existentielle Bestrafung droht. 2. Auch Gebot Y muss befolgt werden, da sonst eine existentielle Bestrafung droht. 3. Gebot X und Gebot Y widersprechen sich. 4. Eine Metakommunikation über die Paradoxie der Situation ist verboten. 5. Ein Entkommen aus der Situation ist ebenfalls nicht möglich. Für das Kind ist es notwendig, sich an seine Lebenssituation anzupassen; diese Anpassung ist jedoch unmöglich. Dies kann laut den Autoren weitreichende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung haben (ebd., S. 255). Das Kind versucht verzweifelt Kriterien für richtiges Verhalten zu erfahren und zu suchen, schafft dies jedoch aufgrund der situationalen Gegebenheiten nicht. Eine solche Double-Bind-Situation kann sowohl von einer primären Bezugsperson hervorgehen, als auch auf zwei primäre Bezugspersonen aufgeteilt sein. Bezogen auf eine primäre Bezugsperson gehen die Autoren davon aus, dass diese Person (die Mutter) Angst bekommt wenn das Kind auf sie, wie auf eine liebevolle Mutter reagiert und sich dann zurückzieht. Gleichzeitig kann sie Angst und Feindseligkeit nicht tolerieren und wehrt sie durch ein übertriebenes Zurschaustellen von mütterlicher Liebe und Fürsorge ab. Weiterhin fehlt ein starker Vater, der das Kind unterstützt (ebd.). So entsteht ein Teufelskreis. Bateson und Kollegen geben keine genaue Theorie an, warum die Mutter sich in einer solchen Weise verhalten könnte. Wichtig ist ihnen, dass die Angst vor der Feindseligkeit durch Liebesbekundungen abgewehrt wird. Wenn das Kind liebevoll auf die Liebesbekundungen reagiert, wird die Angst der Mutter stärker und führt dazu, dass sie sich distanziert. Die darin enthaltene Feinseligkeit wird von der Mutter wiederum mit Liebesbekundungen abgewehrt. Dem schizophrenen Menschen ist es durch diese Erfahrungen unmöglich akkurat einzuschätzen, was eine andere Person wirklich meint. Gleichzeitig ist dies aber von enormer subjektiver Bedeutsamkeit für ihn. Nach Bateson und seinen Kollegen ergeben sich drei Reaktionsweisen auf eine solche Situation. Die erste wäre die Annahme, dass in allem Gesagten eine versteckte Botschaft an den Schizophrenen steckt, welche bedrohlich für sein Wohlergehen ist. Die zweite wäre, bei sich widersprechenden Aussagen alles Gesagte als unwichtig einzuordnen und darüber zu lachen. Die dritte Möglichkeit wäre, alle doppeldeutige Metakommunikation und damit auch die ihn umgebende Welt zu ignorieren und sich auf sein inneres Erleben zu fokussieren (ebd., S. 256). Die schizophrenen Symptome wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen können laut den Autoren auch in »gesunden« Probanden erzeugt werden, wenn man sie unter Hypnose in eine Double-Bind-Situation bringt. Als Quelle führen sie ihren persönlichen Austausch mit dem Hypnotherapeuten Milton Erickson an (ebd., S. 662). Auch weisen die Autoren darauf hin, dass Double-Bind-Si-

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tuationen häufig in Kliniken und in der Psychotherapie auftauchen und dort als solche analysiert werden sollten. Eine ähnliche Theorie entwickelte auch die Psychoanalytikerin Frida FrommReichmann. Auf sie geht das Konzept der »schizophrenogenen Mutter« zurück, nachdem die Mütter von schizophrenen Patienten häufig als überfürsorglich und abweisend zugleich beschrieben werden (Fromm-Reichmann, 1948). Die Double-Bind-Hypothese wurde kritisch in der Fachwelt diskutiert. Während manche Autoren die Thesen mit Daten stützen konnten (Roy & Sawyers, 1986), legen die meisten empirischen Arbeiten nahe, dass es zumindest keine direkte kausal-ätiologische Beziehung zwischen Double-Bind-Erfahrungen und der Entwicklung einer Schizophrenie gibt (Chaika, 1990; Ringuette & Kennedy, 1966; Schuham, 1967). Aktuell geht man in der systemischen Therapie, ähnlich wie bei Levy und in der gestalttheoretischen Therapie, davon aus, dass es keine festen diagnostischen Krankheitsdefinitionen gibt. Das Verständnis eines Menschen mit seinem psychischen Leiden erfolgt immer individuell und unter Zuhilfenahme einer Metatheorie des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Es gibt in der deutschen systemischen Therapie auch den Versuch, störungsspezifisches Wissen zu erarbeiten und die Wirksamkeit dieser Therapieform empirisch anhand einzelner Krankheitsbilder nachzuweisen. Allerdings ist diese Entwicklung vermutlich auch im Rahmen der Bemühungen um eine Anerkennung im Medizinalsystem zu verstehen. Zur Akzeptanz der systemischen Therapie als von den Krankenkassen finanziertes Richtlinienverfahren fordert das Medizinalsystem die Konzeption und Wirksamkeitsnachweise für einzelne Störungsbilder (vgl. Schweitzer & Schlippe, 2007, S. 1). Nach dem aktuellen systemisch-konstruktivistischen Modell wird das schizophrene Verhalten als, im Familiensystem durchaus sinnvolles, Kommunikationsmuster gesehen. Es wird davon ausgegangen, dass in Familien mit schizophrenen Mitgliedern generell ein Muster vorherrscht, in dem Konflikte nur verdeckt ausgetragen werden, Kommunikation uneindeutig bleibt, unklare, wechselnde Koalitionen bestehen und kontradiktorische Sichtweisen nebeneinander bestehen (synchrone Dissoziation) (vgl. Schweitzer & Schlippe, 2007, S. 53). Nicht die Familie ist Schuld an der Erkrankung eines Mitgliedes. Die Erkrankung stellt vielmehr eine Reaktionsweise im System dar. Deshalb spricht man auch vom Symptomträger (Schlippe, 1984). Der Fokus der Behandlung liegt in der Vermittlung von »Verrücktem« als legitime Kommunikationsform, die aber auch steuerbar ist. So kann eine Intervention darin bestehen, dem Patienten zu empfehlen, sich an ungeraden Wochentagen noch unklarer als sonst zu äußern und sich an den geraden Tagen eventuell zu erlauben, gelegentlich verstanden zu werden (vgl. Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin & Prata, 1979). Die spezifische Diagnose und individuelle Zuschreibung von Ätiologiemodellen wurde noch vehementer von der, in den 1960er Jahren aufkommenden,

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sogenannten Anti-Psychiatriebewegung bestritten. David Cooper, Ronald D. Laing und Thomas Szasz gelten als wichtigste Vertreter dieser Bewegung. Sie kritisierten vor allem die Psychiatrie als Institution, das hierarchische ArztPatientenverhältnis und die Diagnose Schizophrenie generell (Szasz, 1974, 1976). Diese Bewegung entstand sicherlich, zumindest zum Teil, auch aus einer generellen Kritik am Kapitalismus und der allgemeinen Verleugnung der häufig gewalttätigen Psychiatriegeschichte (vgl. Schott & Tölle, 2006, S. 206–213). Der Kern der Kritik am Konzept und der Behandlung der Schizophrenie bestand darin, diese Erkrankung nicht als Krankheitseinheit, sondern als Resultat der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu betrachten (Szasz, 1960, S. 160ff). Folgerichtig bestand die Forderung darin, die gesellschaftlichen Prozesse zu verbessern und psychisch beeinträchtigen Personen ein selbstbestimmtes Leben in einer alternativen Gesellschaftsform zu ermöglichen. Dem Arzt oder Psychotherapeuten wurde als Diagnostiker und Behandler eine große Mitverantwortung für die Stigmatisierung und Chronifizierung von psychiatrischen Erkrankungen gegeben (ebd., S. 116). Angelehnt an Harry Stack Sullivan (1953) ist er teilnehmender Beobachter und kreiert damit auch Situationen, in denen Menschen sich »verrückt« benehmen. Die Miteinbeziehung von gesellschaftlichen Prozessen in die Beschreibung und Erklärung von psychiatrischen Phänomenen wurde auch bereits von Levy berücksichtigt (Levy, 1936). Auch die aktive Rolle des Behandlers lässt sich bei ihm wiederfinden (Levy, 1943).

6.4

Abschließende Bewertung: Einordnung von Levys Konzepten in die Schizophrenieforschung

Levy formulierte keine sehr spezifische und in sich abgeschlossene Theorie der Schizophrenie. Vielmehr können seine Arbeiten als Versuch verstanden werden, gestalttheoretische Überlegungen in verschiedenen Aspekten des Verständnisses der Schizophrenie, ihrer Symptome, der Arzt-Patient-Situation und ihrer Erforschung zu nutzen. Vermutlich auch deshalb ist eine große Rezeption seiner Arbeiten ausgeblieben. Wie gezeigt werden konnte, wurden seine Arbeiten jedoch durchaus in Teilen der psychiatrischen, psychologischen und psychoanalytischen Welt seiner Zeit gelesen. Aktuell wird er eher aus einem historischen Blickwinkel rezipiert, also als Schüler Wertheimers, der die Gestalttheorie in der Psychiatrie nutzbar machen wollte. In der aktuellen Psychopathologieforschung der Schizophrenie werden eher Conrad und Matussek als klinische Vertreter der Gestalttheorie wahrgenommen. Allerdings gibt es deutliche Überschneidungen zwischen Theorien der beiden Autoren und Levys Konzep-

Abschließende Bewertung

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ten. Levy war vermutlich sogar konsequenter in der Umsetzung der klassischen Gestalttheorie für klinische Zwecke. Somit können seine Arbeiten als Anstoß für eine noch heute modern wirkende Psychiatrie und Psychotherapie gelten. Weiterhin zeigen sich Parallelen zu anderen Entwicklungen in der Psychotherapielandschaft. Insbesondere gibt es deutliche Überschneidungen mit Levy in den Ansätzen und den Menschenbildern von Rogers und den systemischfamilientherapeutischen Konzeptionen. Auch können seine Artikel als Integrationsleistung psychiatrischer und psychotherapeutischer Ansätze gesehen werden. Hervorzuheben ist, dass dies in einer Zeit geschah, die sehr von konkurrierenden Lehrmeinungen geprägt war. Allerdings gibt es auch einige Aspekte der Konzepte Levys, die nicht deutlich in anderen Theorien auftauchen. Herauszustellen ist hierbei vor allem Levys Betonung des situationalen Feldes als bestimmender Faktor im Verständnis aktueller schizophrener Symptomatik. Dabei spielten in Levys Arbeiten nicht nur die familiäre Situation eine Rolle, sondern auch die Arzt-Patient-Interaktion. Der Patient findet im Krankenhaus und in der Anamnesesituation mit dem Psychiater ein situationales Feld vor, das durchaus Aspekte von Bizarrem beinhaltet. Levy zieht auch diese Aspekte mit in Betracht, wenn er sich mit dem Bizarren im Sprechen und Denken der Patienten beschäftigt. Daneben werden auch gesellschaftspolitische Aspekte mit einbezogen. Diese Merkmale der phänomenologischen Welt eines Menschen können ebenfalls die Ganz-Beziehung seines Denkens bestimmen und sollten vom Behandler berücksichtigt werden. Insgesamt scheint Levys Ansatz, das Denken als Phänomen des Menschen in seiner sozialen Umwelt zu betrachten, von besonderer Bedeutung. Es deckt sich in weiten Teilen mit Erkenntnissen der modernen sozialpsychologischen Kognitionsforschung (Bavel, Hackel & Xiao, 2014). Dieser Forschungsbereich beschäftigt sich u. a. damit, wie die soziale Umwelt das Denken beeinflusst, hat sich jedoch bisher nur eingeschränkt in der klinischen Forschung durchgesetzt.

7.

Aktuelle Relevanz

Aktuell besteht weitgehende Einigkeit, die Schizophrenie als multifaktoriell bestimmt zu verstehen. Hierfür bietet sich das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Zubin & Spring, 1977) an. Zubin und Spring konzipierten diesen Ansatz als Modell zweiter Ordnung, bzw. Schwellenmodell. Nicht mehr unikausale Ereignisse oder biologische Prozesse führen hiernach zum Ausbruch einer Schizophrenie, sondern bedingen im ersten Schritt nur die Erhöhung der intrapersonellen Vulnerabilität für eine solche Erkrankung. Erst wenn im zweiten Schritt situationaler Stress hinzukommt, kann es zu einem episodischen Ausbruch einer Störung kommen. Zentral ist hierbei die Annahme, dass jeder Mensch ein Gleichgewicht psychischer Gesundheit anstrebt, dass durch Faktoren der psychischen Verwundbarkeit und der psychischen Widerstandskraft geprägt ist. Diese beiden Faktoren bestimmen quasi das Grundniveau des psychischen Wohlbefindens, bzw. dessen Stabilität. Wenn nun belastende oder sehr herausfordernde Ereignisse, wie Trennung, Reizüberflutung, Drogenkonsum oder Kränkungen hinzukommen, kann das psychische Gleichgewicht gestört werden und eine Erkrankung ausbrechen (Zubin & Spring, 1977). In der weltweiten Allgemeinbevölkerung zeigt sich eine Prävalenz der Schizophrenie von ca. 1 %, die sich auf 3 % erhöht, wenn Verwandte 3. Grades erkrankt sind und auf ca. 10 %, wenn Verwandte 1. Grades an Schizophrenie leiden. Ein weiterer Hinweis auf eine genetische Komponente liefern Zwillingsstudien. Folsom und Kollegen (2006) konnten nachweisen, dass wenn ein eineiiger Zwilling an Schizophrenie litt, zu 48 % auch der andere Zwilling betroffen war. Hingegen war dies nur bei 17 % der zweieiigen Zwillinge der Fall. An diesen Ergebnissen ist bereits ersichtlich, dass die Genese einer Schizophrenie nicht ausschließlich genetisch bedingt sein kann. Eine mittlerweile weit verbreitete Theorie besagt, dass es bei Schizophrenen häufig zu einer vorgeburtlichen Virusinfektion der Mutter gekommen ist und dies eine Rolle bei der Entstehung dieser Erkrankung gespielt hat (Andreasen, 2001; Meyer, Feldon, Schedlowski & Yee, 2005). Neben den biologischen Faktoren scheinen auch psychosoziale Phänomene

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Aktuelle Relevanz

einen Einfluss auf die Entwicklung der Schizophrenie zu haben. Tienari und Kollegen (2004) konnten in einer großen Adoptivstudie nachweisen, dass genetische und psychosoziale Faktoren miteinander interagieren und die Interaktion beider Einflüsse die Entwicklung einer Schizophrenie besser vorhersagen kann, als einer der beiden Faktoren alleine. Vor allem die Kinder, welche sowohl eine genetische Prädisposition, als auch in einer Familie mit gestörter Kommunikation aufwuchsen, entwickelten später eine Schizophrenie. Gestörte Kommunikation wurde dabei als Mangel an Empathie, abgebrochene Kommunikation, Eltern-Kind-Konflikte, Grenzüberschreitungen und Beziehungsverstrickungen operationalisiert. Diejenigen Kinder, die ein genetisches Risiko aufwiesen, jedoch in einem positiven familiären Umfeld aufwuchsen, hatten offenbar einen recht guten Schutz (ebd.). Umgekehrt konnten Wahlberg und Kollegen (1997) zeigen, dass vor allem die Kinder an Schizophrenie erkrankten, die neben den pathologischen Familienverhältnissen auch eine genetische Disposition hatten. Die biologische Vorbelastung stellt hiernach eine notwendige Bedingung dar. Eine prominente Theorie, die sich ebenfalls auf die familiäre Interaktion als Risikofaktor bezieht, ist die sogenannte »Expressed-Emotions-Hypothese« (Leff & Vaughn, 1985). Sie besagt, dass diejenigen Schizophrenen eine vierfach erhöhte Rückfallquote haben, in deren Familien ein Muster von starker Gefühlsbetonung, sowohl in Form kritischer Äußerungen als auch ängstlicher Besorgtheit vorliegt (Nomura et al., 2005). Auch scheint sexueller Missbrauch in der Kindheit mit der Entwicklung einer Schizophrenie in Verbindung zu stehen (Lysaker, Beattie, Strasburger & Davis, 2005). Allerdings ist bis heute nicht genau geklärt, welche Faktoren eine erhöhte Vulnerabilität bedingen und vor allem wie diese Faktoren zusammenhängen und miteinander interagieren (Davis et al., 2016). Die Forschungslandschaft ist uneinheitlich und unübersichtlich und es stellt sich die Frage, ob es sich bei der Schizophrenie wirklich um eine Krankheitseinheit oder um ein Spektrum verschiedener Krankheiten handelt (Tandon, Keshavan & Nasrallah, 2008). Wegweisend für die aktuelle Behandlung der Schizophrenie sind neurobiologische Theorien, vor allem die Dopamin-Hypothese. Diese Hypothese besagt, dass im Gehirn schizophrener Patienten zu viel Dopamin ausgeschüttet wird und dadurch die schizophrene Symptomatik zustande kommt (McGowan, Lawrence, Sales, Quested & Grasby, 2004). Auf dieser Ebene wirken auch die meisten Medikamente, die in der Behandlung der Schizophrenie eingesetzt werden (Julien, 2015). Allerdings bleibt weiterhin unklar, weshalb es bei Schizophrenen zu einer Überproduktion von Dopamin kommt (Edwards, 2016). Die Leitlinie zur Behandlung der Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2006) empfiehlt die Pharmakotherapie mit dem Empfehlungsgrad A (höchste Stufe). Die Autoren

Aktuelle Relevanz

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schreiben hierzu: »Die Pharmakotherapie sollte in ein Gesamtbehandlungskonzept unter Einschluss allgemeiner und spezieller psychotherapeutischer, soziotherapeutischer und ergotherapeutischer Maßnahmen und psychiatrischer Behandlungspflege in Abhängigkeit von einer differentiellen Indikation eingebettet sein.« (ebd., S. 190). Die psychotherapeutischen Maßnahmen sollten im Sinne der kognitiven Verhaltenstherapie vor allem eine Symptomkontrolle, Psychoedukation, soziale Anpassung und Linderung von affektiven Störungen zum Ziel haben (ebd., S. 207f). Die soziotherapeutischen Maßnahmen sollten die Wohnsituation, die Arbeitsfähigkeit und die Freizeitgestaltung verbessern (ebd., S. 208ff). Die Ergotherapie soll eingesetzt werden, um die Handlungsfähigkeit im Alltag und in der Berufstätigkeit zu erhöhen (ebd., S. 211). Daneben sollten die Angehörigen geschult und psychosozial mitbetreut werden (ebd., S. 227). Psychodynamische Therapien sind nach den aktuellen Leitlinien nur in Einzelfällen indiziert (ebd., S. 211). Trotz der multimodalen Therapieempfehlungen der Leitlinien werden schizophrene Patienten noch immer häufig hauptsächlich medikamentös behandelt. Entgegen der empirischen Evidenz werden bisher nur selten psychotherapeutische Maßnahmen mit schizophrenen Patienten durchgeführt (Puschner, Vauth, Jacobi & Becker, 2006). Dies liegt nach Meinung der Autoren vermutlich auch an der »häufig angenommenen, unzweifelhaft neurobiologischen Determinierung der Störung«, dem »Siegeszug der Neuroleptika«, Budgetierungshemmnissen und der geläufigen, eher negativ behafteten Assoziation zwischen Psychotherapie und kausal-psychoanalytischen Erklärungsmodellen (ebd., S. 1307f). Auch scheinen strukturelle Bedingungen der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungssituation dazu beizutragen (Bechdolf & Klingberg, 2014). Weiterhin ist die Beziehung von Behandler und Patient auch heute noch in vielen Fällen als eher paternalistisch zu werten (Bock & Heumann, 2015). Der schizophrene Patient wird dabei als zu behandelnder Kranker gesehen, statt als Partner in der Behandlungsabstimmung. Da die Schizophrenie mit ihren vielseitigen Symptomen die ganze Person betrifft, ist ein gleichwertiger Austausch mit dem Erkrankten über seine Behandlung häufig schwierig. Auch sind viele schizophrene Patienten durch Zwangsbehandlungen und Stigmatisierungserlebnisse gegenüber der Psychiatrie vorgeprägt. In diesem Licht ist die häufig von Psychiatern beklagte Non-Compliance der Patienten auch unter dem Aspekt der Non-Compliance der Psychiater selbst zu betrachten (Kanzow, 2003). Hierzu passend schätzen schizophrene Patienten die Beziehung zu ihren Behandlern schlechter ein, als Menschen mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (McCabe & Priebe, 2003). Fragt man sie nach ihren Erlebnissen in der Psychiatrie werden folgende Antworten gegeben:

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– »Ihr hört uns nicht zu.« – »Ihr berücksichtigt unsere Bedürfnisse nicht, ihr behandelt uns, ohne mit uns darüber zu verhandeln, in welcher Weise.« – »Ihr werdet viel zu schnell handgreiflich; ihr wendet viel zu rasch Zwang an.« (Finzen, 2015, S. 149ff). Hieran wird deutlich, dass trotz der immensen Weiterentwicklung der Schizophreniebehandlung in den letzten Jahrzehnten noch immer Nachbesserungsbedarf besteht. Dies gilt nicht zuletzt für die Ebene der Beziehung zwischen Patient und Behandler sowie für das Verständnis für die individuellen Lebensbedingungen der Patienten. Levys Ansätze könnten hierbei Vorteile gegenüber psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen Konzepten bieten. Er nahm keine strikte qualitative Trennung zwischen dem Erleben von Schizophrenen und Gesunden vor. Damit wird die Erkrankung ein Stück weit entpathologisiert und es wird dem Behandler einfacher möglich, sich mit Teilen des schizophrenen Erlebens zu identifizieren. Dies könnte auch zu einer Reduktion der Angst des Behandlers vor den Symptomen des Erkrankten führen und dadurch wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Distanzierung und Machtausübung verringern. Weiterhin sind Levys Konzepte eher an Finalität als an Kausalität orientiert. Der Fokus liegt weniger auf der Genese, sondern auf der Funktionalität der Symptome in der aktuellen Situation. Diese Sichtweise ermöglicht eine leichtere Integrierbarkeit in bestehende bio-medizinische Vorstellungen über Ursache und Behandlung der Störung, als dies bei kausal-psychologischen Theorien der Fall ist. Auch Levys Orientierung auf das Hier und Jetzt, die aktuelle Situation sowie auf das Beziehungsgeschehen und die Kommunikation vereinfacht eine solche Integration. Sein Zweifel an der Möglichkeit einer objektiven Erfassung einer Symptomatik, bei der der Beobachtende sich scheinbar aus der Situation herausnimmt, könnte ebenfalls ein auch heute noch hilfreicher Hinweis sein. Bei dem Versuch, den Schizophrenen in seinem Erleben zu verstehen, betonte er die Notwendigkeit die unterschiedliche psychologische Situation zwischen Patient und Behandler zu berücksichtigen. Dieser Ansatz könnte ein partnerschaftliches Modell, im Vergleich zum in der Psychiatrie noch häufig beobachtbaren paternalistischen Modell, erleichtern. Darüber hinaus könnte Levys Konzept der Ganz-Bestimmung von Symptomen die immer noch vorherrschende diagnostische Praxis des stückhaften Erfassens von Symptomen und einzelner Aspekte der Denkstörung erweitern. Zur Erstellung des psychopathologischen Befundes muss der Behandler bisher einzelne Aspekte des Denkens aufschlüsseln (siehe AMDP-System; Fähndrich & Stieglitz, 2016). Dabei findet der Ganz-Charakter des Denkens sowie das Be-

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achten von möglicher Sinnhaftigkeit in den Symptomen, im Zuge der akribischen Aufspaltung wenig Beachtung. Dies führt dann wiederum dazu, dass Formen des schizophrenen Denkens für den Behandler fremd und unverständlich wirken. Sein Verständnis bleibt eingeschränkt. Levys Versuch, durch die gestalttheoretische Betrachtung von Gedanken, Sinnhaftigkeit im Erleben seiner Patienten zu finden, bietet die Möglichkeit, sich zum Patienten auf eine partnerschaftliche Ebene zu begeben. Neben der Verbesserung der therapeutischen Beziehung stellen die Früherkennung und Prävention der Schizophrenie eine aktuelle Herausforderung für die Forschung und Behandlung dar (Flückiger et al. 2016; Gschwandtner et al., 2003; Hodgins, Larm & Westerman, 2016). Je länger die Schizophrenie unerkannt bleibt, desto eher kommt es zu einer verspäteten und unvollständigen Remission der Symptome, längeren Hospitalisierungen, geringerer Compliance, Problemen am Arbeitsplatz, Substanzabusus, delinquentem Verhalten, erhöhten Behandlungskosten sowie Depression und Suizid (Ruhrmann, Schultze-Lutter & Klosterkötter, 2003). Neben den augenscheinlichen Vorteilen einer frühen Diagnosestellung, mit der präventive Maßnahmen zur Verhinderung von negativen Langzeitfolgen einhergehen, ergeben sich hieraus jedoch auch ethische Probleme (vgl. Machleidt & Brüggemann, 2008). Das Wissen an Schizophrenie zu erkranken, kann sehr belastend sein und bis zum Suizid führen. Auch wäre es denkbar, dass eine solche frühe Diagnosestellung ohne dass bereits deutliche Symptome aufgetaucht sind, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt. Demnach sind insbesondere falsch-positive Ergebnisse gefährlich. Eine Früherkennung muss möglichst spezifisch und genau sein. Gleichzeitig müssen die diagnostischen Ergebnisse mit der gebotenen Vorsicht und im Rahmen eines therapeutischen Angebotes vermittelt werden. Gerade bei Personen, bei denen noch keine psychotischen Symptome aufgetreten sind, muss zwischen dem Gebot des Nicht-Schadens und dem Gebot des Handelns zum Wohle des Kranken entschieden werden (vgl. Rauprich & Vollmann, 2011). Dabei steht die Medizin vor dem Dilemma möglichst früh alle Personen zu erreichen und zu behandeln, die eine Schizophrenie entwickeln werden, möglichst ohne Personen zu diagnostizieren und falsch zu therapieren, die vermutlich nie an einer solchen Störung erkranken. Besonders der Einsatz von Neuroleptika bei Menschen, die keine Psychose haben, kann aufgrund der hohen Nebenwirkungen als potentiell sehr schädlich begriffen werden. Ein Versuch dieses Risiko zu minimieren, besteht darin, die Früherkennung auf psychosenahe Prodromalstadien zu beschränken. Man unterscheidet zwischen psychosenahen und psychosefernen Stadien. Bei ersteren treten bereits abgeschwächte produktiv psychotische Symptome wie Beziehungsideen, Beschäftigung mit geheimnisvollen Dingen, ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen und köperbezogene Illusionen, seltsame Denk- und Sprechweisen

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sowie Argwohn und paranoide Vorstellungen auf (Hambrecht, 2002, S. 35). Im psychosefernen Stadium sind Gedankeninterferenzen, -drängen, -jagen, oder -blockierung, zwangsähnliches Perseverieren, Störungen der rezeptiven Sprache, Störungen der Diskrimination von Vorstellungen und Wahrnehmungen, Eigenbeziehungstendenzen, Derealisationserleben oder optische und akustische Wahrnehmungsstörungen (nicht Halluzinationen) zu beobachten (ebd.). Wenn bereits psychoseähnliche Symptome vorhanden sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu einer weiteren Verschlimmerung der Auffälligkeiten kommt und somit insbesondere eine psychotherapeutische Behandlung indiziert ist. Die Früherkennung erfolgt demnach aktuell hauptsächlich auf Symptomebene. Hintergründige Prozesse werden wenig berücksichtigt, um Menschen frühzeitig Unterstützung zukommen zu lassen. Levys Konzepte der Umzentrierung könnten hilfreich sein, um die Prozesse, welche im Rahmen des Prodromalstadiums ablaufen, besser zu erkennen und den Betroffenen psychotherapeutische Hilfe zukommen zu lassen. Neben der symptomorientierten Früherkennung ist es wichtig, relevante Risikogruppen zu erkennen und auszuwählen. Dazu gehören zum einen Menschen, bei denen aufgrund einer familiären Häufung von einem genetisch erhöhten Risiko auszugehen ist (Lawrie, McIntosh, Hall, Owens & Johnstone, 2008). Zum anderen haben Menschen, die sehr belastenden psychosozialen Situationen ausgesetzt sind, ein erhöhtes Risiko an einer Schizophrenie zu erkranken. Davon sind insbesondere auch Migranten betroffen (Cantor-Graae & Selten, 2005). Cantor-Graae und Selten konnten in einer großen Metaanalyse zeigen, dass Migranten der ersten und zweiten Generation ein, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, deutlich erhöhtes Risiko zeigen, an Schizophrenie zu erkranken. Subgruppenanalysen ergaben, dass vor allem Menschen, die aus Entwicklungsländern in reiche Länder migrieren, von diesem Risiko betroffen sind. Soziale Selektion, sozioökonomische Faktoren und Diskriminierung scheinen diese Erhöhung des Risikos nicht vollständig vorhersagen zu können. Die Autoren fassen zusammen, dass es bisher keine hinreichende Erklärung dafür gibt, warum Migration zu einer Erhöhung des Risikos, an einer Schizophrenie zu erkranken, führt. Hierbei könnte sich Levys Konzept der Zentrierung und Umzentrierung von Gestalten des Denkens und Erlebens anbieten. Nach Levy (1943) sind Menschen, deren Denksysteme durch Umbrüche der phänomenalen Welt bedroht sind, besonders gefährdet, psychotische Symptome zu entwickeln. Es wäre empirisch zu prüfen, ob und inwiefern sich Levys Konzepte eignen, um die beobachtete Risikoerhöhung zu erklären und hieraus geeignete Formen der Früherkennung und Prävention abzuleiten. Levys Konzepte könnten sowohl für die Allgemeinbevölkerung Anwendung finden, als auch spezifisch für die frühe Behandlung von psychosenahen Migranten genutzt werden.

Aktuelle Relevanz

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Gerade im Angesicht aktueller Kriege und Flüchtlingsbewegungen könnten seine Ideen von Relevanz sein, um Menschen in ihren Anpassungsprozessen zu helfen und gesundheitliche sowie psychologische Risiken, die sich hieraus ergeben, abzumildern (vgl. Jefee-Bahloul, Bajbouj, Alabdullah, Hassan & BarkilOteo, 2016; Langlois, Haines, Tomson & Ghaffar, 2016; Zamani & Zarghami, 2016). Eine mögliche Anwendung seiner Konzepte im Bereich der Anpassungsprozesse könnte im tieferen Verständnis für die Zentrierungs- und Umzentrierungsprozesse der Identität bei Migration liegen. John Berry (2015) postuliert vier Subgruppen im Prozess der Akkulturation: – Beibehaltung der eigenen Kultur mit Kontakt zur Mehrheit: Integration. – Beibehaltung der eigenen Kultur ohne Kontakt zur Mehrheit: Segregation oder Separation. – Aufgabe der eigenen Kultur mit Kontakt zur Mehrheit: Assimilation, auch Inklusion. – Aufgabe der eigenen Kultur ohne Kontakt zur Mehrheit: Marginalisierung, auch Exklusion. In diesem Sinne zeigen sich Levys Konzepte auch in Fragestellungen, Entwicklungen und Problemen der aktuellen Schizophrenieforschung und -behandlung von Relevanz. Es bleibt empirisch zu prüfen, wie passend und hilfreich sie für ein aktuelles Verständnis der Schizophrenie sind. Die Überprüfung würde sich aufgrund der nach wie vor modern anmutenden Ansätze Levys jedoch sicherlich lohnen.

8.

Psychobiographieforschung

Ausgehend von der in Kapitel 4.1 geschilderten Biographie und der in Kapitel 5 dargestellten Konzepte Levys, sollen nachfolgend Verbindungen zwischen Autor und Werk hergestellt werden. Aufgrund der eingeschränkten Kenntnisse über die persönliche Lebensgeschichte kann eine solche Analyse nur hypothesenhaft geschehen. Zentral in Erwin Levys Leben scheinen die mehrfachen Brüche und die damit verbundene Notwendigkeit, sich immer wieder auf neue Situationen und unbekannte Umgebungen einstellen zu müssen. Diese Brüche stellen zum einen seine vielen Umzüge innerhalb Europas sowie vor allem die Flucht nach New York dar. Zum anderen können auch die häufigen Arbeitsplatzwechsel darunter subsumiert werden. Diese Anpassungsleistungen finden sich auch als zentrales Thema in seinen Artikeln wieder. So schrieb er 1943 in seiner Arbeit über die schizophrene Denkstörung: »Ein Beispiel dafür sind etwa Menschen, die nach gewaltsamen revolutionären Veränderungen in ihrem Land einfach nicht im Stande sind, diese Veränderungen als Realität zu akzeptieren. […] In solchen Fällen wird das Ergebnis des Denkprozesses nicht einfach durch das Objekt selbst bestimmt. Es kann nicht verstanden werden, ohne etwas über das Subjekt, über seine Beziehungen zum Leben und über seine phänomenale Welt zu wissen. Man muss den Ort und die Rolle des Objektes in diesen Zusammenhängen kennen.«79

Es stellt sich die Frage, wie Levy selbst diese Anpassungsleistungen vollbringen konnte, welche Rolle dabei seine Kindheit sowie enge Bezugspersonen gespielt haben mögen und inwiefern dieses Thema auch in seinen theoretischen Konzeptionen verarbeitet wurde. Im Folgenden soll diesen Punkten nachgegangen werden. Dabei wird darauf fokussiert, welche Erfahrungen Levy mit Prozessen der Anpassung in seinem Leben machte und welche Einflüsse diese Erlebnisse auf ihn gehabt haben mögen. 79 Levy, 1943, zitiert nach der Übersetzung ins Deutsche durch Stemberger, 2002, S. 68.

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Psychobiographieforschung

Anpassung wird in der aktuellen Psychologie z. B. definiert als: »die harmonische, aber nicht spannungslose Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, durch die Bedürfnisbefriedigungen effektiv (d. h. mit ökonomischem Aufwand) erzielt werden können. Die Anpassung ist immer relativ, da eine vollständige und spannungslose Beziehung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt (völliges Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation) praktisch nie erreicht wird.« (Bergius, 2016). Anpassungsleistung ist also immer ein Prozess und kein Zustand. Auch findet er in Wechselwirkungen statt und trägt zum psychischen Wohlbefinden bei. Schon in seiner Jugend war Erwin Levy damit konfrontiert einer Minderheit anzugehören. Er lebte als deutschsprachiger Jude in einem Gebiet, das von polnischsprachigen Christen dominiert war. Die europäischen Juden mussten sich immer auch damit auseinandersetzen, eine Minderheitenposition in der Gesellschaft zu haben und sich deshalb möglichst unauffällig und angepasst verhalten (Kaplan, 2005, S. 271). Es ist anzunehmen, dass dies insbesondere für Levys Kindheit und Jugend galt. Vermutlich fühlten er sowie seine Familie sich von der im Außen bestehenden, rassistisch motivierten Feindseligkeit bedroht. Kurt Lewin (1941) befasste sich ausführlich mit Anpassungsprozessen in Verbindung zu jüdischen Identität und zum Antisemitismus. Bei Juden sei immer wieder die Rationalisierung zu beobachten, dass »gut-erzogene Menschen« weniger Gefahr laufen würden, Opfer von antisemitischer Diskriminierung zu werden. Er schrieb: »Wenn wir uns die übliche und vollkommen richtige Aussage eines jüdischen Vaters gegenüber seinem Sohn vergegenwärtigen, er müsse mehr leisten als ein Nicht-Jude, wenn er Erfolg haben möchte, dann sehen wir vor uns das Bild eines Kindes, das in einem Zustand der Spannung gehalten wird, die größer ist als normal.«80 Levys Familie war unmittelbar vom Holocaust betroffen. Seine Schwester Hella wurde 1942 von den Nationalsozialisten ermordet. Es ist anzunehmen, dass auch weitere Familienmitglieder zu Tode kamen. Dies wird sicherlich auch eine Anpassung an schwere Einschnitte und Verluste erfordert haben. Ein weiterer Punkt, der für seine Fähigkeit zur Anpassung sprechen könnte, ist die wahrscheinlich frühe Kindheitserfahrung der Verantwortungsübernahme als ältestes Kind und einziger Sohn der Familie. Levys Mutter hatte sich schon vor seiner Geburt um psychotherapeutische Hilfe bei Sigmund Freud bemüht. Sein Vater nahm sich viele Jahre später das Leben. Dies beides spricht dafür, dass beide Eltern womöglich psychische Probleme hatten. Es ist keinesfalls sicher, ob und wie sich dies auf Levys Kindheit ausgewirkt haben könnte. Allerdings könnte vermutet werden, dass er sich schon früh mit einer Situation konfrontiert sah, in der es notwendig war ein gutes Gespür für seine Umwelt zu entwickeln, 80 Lewin, 1941 S. 401f; zitiert nach der Übersetzung ins Deutsche (Lewin, 2009).

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um sich optimal anpassen zu können. Dieser Prozess wird u. a. auch Parentifizierung genannt (vgl. Loon, Ven, Doesum, Hosman & Witteman, 2015). Parentifizierte Kinder zeigen häufig eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber elterlichen expliziten und impliziten Erwartungen und stellen eigene Bedürfnisse zurück (Earley & Cushway, 2002). Somit wäre es denkbar, dass Levy mitbedingt, durch die frühen Erfahrungen mit Antisemitismus und möglichen psychischen Problemen seiner Eltern, die Fähigkeit entwickelt haben könnte, das von ihm Erwartete und von seiner Umwelt Geforderte gut erkennen und umsetzen zu können. Diese Fähigkeit spielt wahrscheinlich bei der Anpassungsleistung an neue und unbekannte Situationen eine Rolle (vgl. Miller, 2013). Mit diesen unbekannten Situationen sah er sich in Folge der Umzüge nach Aachen, Hamburg, München, Berlin und Frankfurt sowie vor allem im Zuge der Immigration in die USA konfrontiert. Zwar ist die europäisch-jüdische Kultur der amerikanischen nicht sehr unähnlich, jedoch erfordert auch die Migration in kulturell ähnliche Länder Anpassungsprozesse, die Schwierigkeiten mit sich bringen können (Renner, Salem & Menschik-Bendele, 2012). Dies lässt sich u. a. durch das Abgrenzungsbedürfnis in einer der eigenen ähnlichen Kultur erklären (ebd.). Bezogen auf seine berufliche Entwicklung fällt die starke Orientierung an Max Wertheimer auf. Es scheint wahrscheinlich, dass Levy die erste Zeit in Amerika ohne seine Eltern verlebte. In diesem Sinne könnte die Fokussierung auf Max Wertheimer auch als Suche nach einer Vaterfigur gedeutet werden. In mehreren Quellen wird darauf hingewiesen, wie nah sich die beiden Wissenschaftler standen.81 Wertheimer scheint für Levy eine Art Mentor dargestellt zu haben. Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass Wertheimer eine sehr beeindruckende Persönlichkeit hatte. Abraham Maslow war z. B. so sehr von ihm beeindruckt, dass er sein Konzept der Selbstaktualisierung an Wertheimer orientierte und ihn als einen der wenigen Menschen einschätzte, der seine vollen Potentiale auslebte (Maslow, 1950, S. 11–34). Zum anderen könnte es sein, dass Levy, auch infolge der schwierigen Umstände der Verfolgung und seiner Migration, einen Lehrer und Freund brauchte, dessen Unterstützung er sich sicher sein konnte. Die Verbindung zur Familie Max Wertheimers, weit über dessen Tod hinaus82, könnte als Zeichen der Dankbarkeit für diese Hilfestellungen verstanden werden. Ein weiterer Faktor, der Levys Fähigkeit zur Anpassung, vor allem im beruflichen Kontext, beeinflusst haben könnte, ist seine Intelligenz. Solomon Asch 81 Michael Wertheimer, Interview vom 04. 07. 2016; Brief von Alice Levy an Karen Watkins vom 26. 09. 1982. 82 Briefe von Alice und Erwin Levy an Karen Watkins von 1980–1996.

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schrieb: »Ich fürchte, dass Levy die intellektuelle Distanz zwischen ihm und seinen Lesern um Lichtjahre unterschätzt«.83 Dieser Aussage und der Entwicklung seiner Karriere folgend, ist anzunehmen, dass Erwin Levy über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt hat. Intelligenz scheint einen positiven Einfluss auf die Fähigkeit der flexiblen Anpassungsleistung zu haben (Liu, Xiao & Shi, 2016). Um sich flexibel anpassen zu können, bedarf es auch einer gewissen psychischen Stabilität. Levys Hinwendung zur Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie könnte in diesem Sinne als Möglichkeit interpretiert werden, in einem verstehenden und helfenden Beruf psychischen Halt zu finden. Die Psychoanalyse, die er absolvierte, ist sicherlich ein Teil seiner beruflichen Qualifikation. Es ist allerdings auch anzunehmen, dass sie ebenfalls zur Bearbeitung persönlicher Konflikte und Schwierigkeiten gedient haben mag. Schließlich kann auch das Werk Erwin Levys als Versuch verstanden werden, eigene biographische Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Diese Form der Verarbeitung kann häufig bei Psychologen und Psychiatern beobachtet werden.84 Dabei fällt vor allem die Parallele zwischen der Lebensgeschichte seines Vaters und dem Beispiel eines bayrisch-jüdischen Patienten, von dem Levy berichtete, auf. Dieser Patient wurde von Levy wie folgt beschrieben: »Ein sechzigjähriger wohlhabender jüdischer Kaufmann, von rechtschaffener, robuster Art, entstammte einer Familie, die seit Generationen in Bayern gelebt und in ihrer Gemeinde Ansehen und eine führende Stellung erworben hatte. Sein ganzes bisheriges Leben lang war er tief in diesem Land, in seiner Kultur, den Gebräuchen und dem Dialekt seines Winkels in diesem Land verwurzelt. Der Aufstieg des Hitlertums konfrontierte ihn plötzlich damit, dass er als Ausländer galt, der nicht hierher gehörte und verschwinden sollte. Das konnte nicht wirklich Teil seines Denkens werden. Aus seiner Sicht war das Hitlertum selbst das Ausländische, das nicht zu seinen Bergen, zum Land Dürers, zu seinen rechtschaffenden, geradlinigen Nachbarn und Freunden gehörte. Er konnte den Ernst der Lange und dessen Realität nicht begreifen. Diese konnten unmöglich Teil des Feldes sein; sicherlich würde das vorbeigehen. Er weigerte sich verbissen, das Land zu verlassen, bis er 1938 in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Erst dort wurde das Hitlertum für ihn real. Schließlich schaffte er es noch zu emigrieren – als verwirrter, gebrochener alter Mann.«85

Diese Ausführungen über den jüdischen Kaufmann ähneln in deutlicher Weise der Darstellung, die Levys Schwester Irmgard über das Schicksal des gemeinsamen Vaters gab: 83 Asch, 07. 03. 1984, Brief an Dr. Ammons [Box No. M2879, Folder No. 21, Solomon Asch papers] The Drs. Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The University of Akron. Übersetzt durch den Autor. 84 Vgl. Anderson, 2005, S. 203–209. 85 Levy, 1943, zitiert aus der Übersetzung ins Deutsche von Stemberger, 2002, S. 63.

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»Mein Vater war ein Augenarzt. […] 1933 wurde er von den Nazis ins Gefängnis geworfen; und da er ein sehr patriotischer Deutscher war, wurde er so schwer deprimiert, dass er sich in Amerika das Leben nahm.«86

In beiden Fällen scheint den Männern eine Anpassung an die durch die politischen Umbrüche und die menschenverachtende Verfolgung entstandenen Veränderungen nicht möglich gewesen zu sein. Es ist denkbar, dass diese Parallelen auch durch Ähnlichkeiten in den Narrativen zustande gekommen sein könnten. Damit ist gemeint, dass Erwin Levy die Geschichte seines Patienten, und damit auch die Konzeption seiner Theorie, ähnlich zu dem »Familiennarrativ« des Schicksals seines Vaters erzählt hat (vgl. Bleakney & Welzer, 2009). Auch eine Beeinflussung in umgekehrter Richtung ist denkbar. Vermutlich stellten diese Umbrüche, bei denen das Denken nicht mithalten kann, einen zentralen Punkt in der Biographie Erwin Levys dar. Seinem Vater gelang diese Anpassung nicht. Es bleibt nur zu mutmaßen, dass Erwin Levy dazu in der Lage war. Eventuell halfen ihm die genannten Gründe aus seiner Entwicklungsgeschichte dabei. Betrachtet man seine Biographie, scheint der Fokus seiner Konzepte nicht zufällig gewählt. Er wuchs in einer Zeit auf, in der sich die Welt so schnell, unerbittlich und grausam veränderte, dass die innerpsychische Welt kaum Zeit und Gelegenheit zur Anpassung hatte. In diesem Sinne scheint es nur folgerichtig, dass diese Erfahrungen Levy auch in der Sicht auf seine Patienten prägten, welche ja zu einem nicht unbedeutenden Teil Ähnliches erlebt hatten. Eine orthodox-psychoanalytische Fokussierung auf frühe Kindheitserfahrungen scheint einem Patienten, der aktuell sein ganzes bisheriges Leben verloren hat und sich in einer neuen und bedrohlichen Situation befindet, nicht gerecht zu werden. Auch eine rein biologisch orientierte Psychiatrie oder eine auf Einzelaspekte des Denkens beschränkte Sicht wirkt, vor dem Hintergrund der massenhaften Erfahrung von Verfolgung, Flucht und Ermordung, reduktionistisch. Es scheint, als sei auch Erwin Levys Blick auf die Welt durch diese Erfahrungen beeinflusst. Eventuell wäre auch denkbar, dass sein Werk eine Art Ressource für die Verarbeitung eigener Anpassungsschwierigkeiten und Traumata darstellte. Als Anpassungsleistung gedeutet werden kann zuletzt auch die Integration von Gestalttheorie und Psychoanalyse. Levy war in seinem Leben wiederholt damit konfrontiert in verschiedenen Welten zu leben und diese in sich vereinen zu müssen. Zum einen als deutscher Jude in polnisch-deutschen Gebieten und später in den USA. Dann auch als Arzt, der sich für die Psychologie interessierte und als Gestalttheoretiker in der praktischen psychiatrischen Arbeit. Dort be86 Irmgard Schwarz, 03. 09. 2004, Brief an Gerhard Stemberger.

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gegnete ihm die Psychoanalyse, die ihn zweifelsfrei interessierte, gegen die sich Max Wertheimer jedoch oft deutlich ausgesprochen hatte. Auch seine Mutter schien ein ambivalentes Verhältnis zur Psychoanalyse gehabt zu haben, hatte sie sich doch bei Freud vorgestellt, dann aber gegen eine Behandlung bei ihm entschieden. Ebenso war sein Onkel William Stern der Psychoanalyse kritisch gegenüber eingestellt. Andererseits konnte er sich ihr vermutlich auch nicht entziehen, da die Psychoanalyse in den damaligen amerikanischen Psychiatrien nicht ganz unbedeutend war. Die Fähigkeit, sich gegenüber Neuem offen zu zeigen und gleichzeitig Vertrautes zu bewahren, könnte in diesem Sinne als integrative Anpassungsleistung verstanden werden.

9.

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