Älter werden: Gespräche über die Liebe, das Leben und das Loslassen 9783806237924, 3806237921

Das Alter bringt spezielle Erfahrungen und Herausforderungen, aber auch Probleme mit sich. Wann ist der richtige Zeitpun

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German Pages 272 [273] Year 2018

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Widmung
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Danksagungen
Einleitung
1 Lernen von König Lear
Altern und Kontrolle in König Lear – und die Gefährlichkeit von Verallgemeinerungen – Martha
Güterverteilung, Enterben und die Kosten der Pflege seit Lear – Saul
2 Richtlinien für den Eintritt in den Ruhestand
Müssen wir in den Ruhestand eintreten? – Saul
Kein Ende in Sicht – Martha
3 Mit Freunden älter werden
Über das Altern und die Freundschaft: ein Gespräch mit Cicero – Martha
Wofür sind Freunde gut? – Saul
4 Alternde Körper
Können Falten bezaubern? – Saul
Unsere Körper und wir selbst: Altern, Stigma und Abscheu – Martha
5 Der Blick zurück
Die Vergangenheit vorwärts leben: der gegenwärtige und zukünftige Wert rückwärtsgewandter Emotionen – Martha
Kein Bedauern und ein Lob der Lebensgemeinschaften von Senioren – Saul
6 Liebe und Sexualität jenseits des mittleren Lebensalters
Richard Strauss' Lügen, Shakespeares Wahrheiten: alternde Frauen, Sex und Liebe – Martha
Die Abenteuer von Benjamin Franklin, Ivana Trump und die zurückgewiesenen Liebenden aller Zeiten – Saul
7 Ungleichheit und eine alternde Bevölkerung
Ungleichheit und die Armut älterer Menschen – Saul
Altern und menschliche Fähigkeiten – Martha
8 Großzügig sein
Paradoxien der Großzügigkeit (Lösungen eingeschlossen) – Saul
Altern und Altruismus – Martha
Sachregister
Back Cover
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Älter werden: Gespräche über die Liebe, das Leben und das Loslassen
 9783806237924, 3806237921

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Martha Nussbaum / Saul Levmore

Älter werden Über die Liebe, das Leben und das Loslassen Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke

Für Rachel, Nathaniel und Eliot

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Aging Thoughtfully. Conversations about Retirement, Romance, Wrinkels and Regret. © 2017 Martha C. Nussbaum und Saul Levmore Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Oxford University Press in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­ Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Cana Nurtsch, Berlin Satz: primustype Hurler, Notzingen Einbandgestaltung: Vogelsang Design, Aachen Einbandabbildung: istock © Kalulu Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3792-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3829-7 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3830-3

Inhaltsverzeichnis Danksagungen. .......................................................................

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Einleitung . .............................................................................

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1 Lernen von König Lear . ......................................................... 16 Altern und Kontrolle in König Lear – und die ­Gefährlichkeit von Verallgemeinerungen – Martha. ................................................... 16 Güterverteilung, Enterben und die Kosten der Pflege seit Lear – Saul......... 32 2 Richtlinien für den Eintritt in den Ruhestand............................. 48 Müssen wir in den Ruhestand eintreten? – Saul................................. 48 Kein Ende in Sicht – Martha. ...................................................... 66 3 Mit Freunden älter werden..................................................... 76 Über das Altern und die Freundschaft: ein Gespräch mit Cicero – Martha. ..................................................................... 76 Wofür sind Freunde gut? – Saul................................................... 97 4 Alternde Körper. .................................................................. 109 Können Falten bezaubern? – Saul. ................................................ 109 Unsere Körper und wir selbst: Altern, Stigma und Abscheu – Martha. ....... 124 5 Der Blick zurück. ................................................................. 142 Die Vergangenheit vorwärts leben: der gegenwärtige und zukünftige Wert rückwärtsgewandter Emotionen – Martha. ................................ 142 Kein Bedauern und ein Lob der Lebensgemeinschaften von Senioren – Saul. ..................................................................... 162 6 Liebe und Sexualität jenseits des mittleren Lebensalters ............ 171 Richard Strauss’ Lügen, Shakespeares Wahrheiten: ­alternde Frauen, Sex und Liebe – Martha............................................................. 171 Die Abenteuer von Benjamin Franklin, Ivana Trump und die zurückgewiesenen Liebenden aller Zeiten – Saul................................ 190

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Inhaltsverzeichnis

7 Ungleichheit und eine alternde Bevölkerung. ............................ 203 Ungleichheit und die Armut älterer Menschen – Saul.......................... 203 Altern und menschliche Fähigkeiten – Martha................................... 216 8 Großzügig sein..................................................................... 233 Paradoxien der Großzügigkeit (Lösungen eingeschlossen) – Saul.............. 233 Altern und Altruismus – Martha................................................... 246 Sachregister. .......................................................................... 262

Danksagungen Danken möchten wir vor allem der juristischen Fakultät der Universität Chicago für die Schaffung eines idealen Arbeitsumfelds und für kritische Gespräche, die uns sehr geholfen haben. In der vorletzten Phase der Entstehung des Manuskripts hatten wir das Glück, ausführliche Kommentare von Douglas Baird, William Birdthistle und Emily Dupree zu erhalten, die großzügigerweise das gesamte Buch gelesen haben. Für schriftliche Kommentare zu bestimmten Kapiteln danken wir Brian Leiter und Lior Strahilevitz. Und für fachkundige Unterstützung möchten wir uns schließlich bei unseren Forschungsassistenten Emily Dupree, Nethanel Lipshitz und Alex Weber bedanken.

Einleitung In diesem Buch geht es um das bewusste Leben und bestimmt nicht um das Sterben – ob würdevoll oder auf andere Weise. Zu altern bedeutet Erfahrungen zu sammeln, Weisheit zu erlangen, zu lieben, zu verlieren und sich in der eigenen Haut immer wohler zu fühlen, wie viel sie auch an Straffheit verlieren mag. Beim Älterwerden geht es noch um viele andere Dinge. Für manche Menschen könnte es um Reue, um Sorgen, um das Anhäufen von Dingen und um Bedürftigkeit gehen. Es kann auch um ehrenamtliche Arbeit, um Verständnis, Hilfeleistung, Neuentdecken, Vergeben und – mit zunehmender Häufigkeit – um Vergessen gehen. Für diejenigen, die keine finanziellen Sorgen haben, kann es um den Rückzug aus dem Arbeitsleben und die Weitergabe des Vermögens gehen sowie andererseits um das Sparen und Ausgeben von Geld in den vorangehenden Jahren. Viele dieser Überlegungen beziehen sich auf Menschen, die sich selbst noch nicht als Alternde sehen. Doch diese jungen Freunde, Verwandten und Kollegen betrachten die Älteren häufig als Schatztruhen der Weisheit oder als wandelnde Warnungen. Dieses Streben, in den Falten das Gute, oder sei es nur die Weisheit, zu finden, ist mindestens so alt wie Cicero, dessen Werk in unserer sich rasant wandelnden Welt ebenso relevant ist, wie es vor 2000 Jahren war. Wenn wir, anders als andere Arten, aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen, sie aufzeichnen und verbreiten, und zwar auf eine Weise, die die Grenzen der menschlichen Erfahrung erweitern und das Leben nachfolgender Generationen verbessern, dann können wir vielleicht auch Fortschritte im persönlichen Bereich erwarten. Wir haben Fortschritte in der Landwirtschaft, in der Herstellung von Waren und in der Luftfahrt gemacht. Es ist weniger klar, dass uns dies in Bezug auf das Eingehen von Partnerschaften, die Kindererziehung und die Wahl unserer politischen Führer gelungen ist. Vielleicht liegt das daran, dass sich die Probleme in diesen Bereichen ständig verschieben und sich durch schrittweisen wissenschaftlichen Fortschritt im Laufe der Zeit nicht meistern lassen. Das Altern fällt zwischen diese wissenschaftlichen und zwischenmenschlichen Herausforderungen. Im Durchschnitt leben wir länger und angenehmer als unsere Vorfahren. Wir haben mehr Auswahlmöglichkeiten, und von diesen Möglichkeiten handelt dieses Buch. Wenn wir akzeptieren, dass Altern eine Zeit des Lebens ist, so folgt daraus, dass es etwas ist, das wir gemeinsam haben. Jeder von uns altert auf seine oder ihre Weise, doch wir können von den Erfahrungen anderer lernen. Während sie altern, können sich die Interessen, Verhaltensweisen und Vorlieben von Menschen ändern – häufig auf eine Weise, die die gemeinsamen Erfahrungen bestätigt. Konkurrieren wir, wenn

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Einleitung

wir älter werden, mehr oder weniger? Sind wir mehr oder weniger spirituell? Sparsam? Bedürftig? Neidisch? Tolerant? Großzügig? Wir benötigen möglicherweise Freunde, die uns helfen, diese Veränderungen zu erkennen und darüber nachzudenken, ob sie wünschenswert sind. Wenn eine isolierte Person beobachtet und reflektiert, ist es schwierig zu erkennen, ob sie selbstbezogener geworden ist, Kritik besser ­akzeptiert, anderen mehr Angst einflößt oder unzumutbarere Forderungen an die Mitglieder der Familie stellt. Zur Selbsterkenntnis könnten daher Freundschaften und Gespräche erforderlich sein, und wir hoffen, in diesem Buch in dieser Beziehung ein Beispiel zu sein. Wir zeigen verschiedene Perspektiven auf Themen, die im Zusammenhang mit dem Altern stehen, mit dem Ziel, das Gespräch untereinander und mit unseren Lesern fortzusetzen. Einige unserer Kapitel sollen Familien dabei helfen, sinnvolle Gespräche über Dinge zu führen, die sie besprechen sollten, bevor Invalidität oder Tod dazwischenkommen. Wir ermutigen zu Nachdenklichkeit und Kommunikation über Themen, die oft als peinlich oder vertraulich angesehen werden. Nur wenige Menschen sprechen mit Außenstehenden über die Probleme, mit denen sie bei der Weitergabe von Eigentum an ihre Kinder konfrontiert sind, insbesondere wenn die Kinder sich in unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen befinden, schwierig waren oder geschieden wurden. Ebenso sprechen nur wenige Menschen ernsthaft über philosophische Fragen, wie etwa über das Wesen der eigenen Sehnsucht nach immerwährendem Einfluss. Schließlich sind sich die meisten Menschen der physischen Veränderungen während des Alterns durchaus bewusst, und dennoch ist es ihnen unangenehm über ihren Körper zu sprechen. Dies könnte etwas mit der Art der neu entfachten Liebe und der neuen Liebesbeziehungen unter reiferen Partnern zu tun haben. Wir beschäftigen uns in den folgenden Kapiteln mit solchen Themen. Einer von uns nähert sich ihnen als Philosoph und der andere als Anwalt und Ökonom, der dazu neigt, Dinge in Bezug auf Anreize zu betrachten, doch wir teilen die Überzeugung, dass eine akademische Perspektive praktische Früchte trägt. Andere Themen sind leicht zur Sprache zu bringen, und für diese versuchen wir, breite philosophische und an Strategien orientierte Perspektiven bereitzustellen. Wir sprechen über das allzu vertraute Problem, Dinge – einschließlich anderer Leute – zu leiten und zu bewältigen, die man nicht vollständig kontrollieren kann. Wir betrachten Altern, genau wie Kindheit, junges Erwachsenenalter und mittleres Alter, als einen Lebensabschnitt. Es hat seine eigenen Rätsel, die nach Reflexion verlangen. Es hat sowohl seine eigenen Genüsse und Freuden als auch Schmerzen. Doch nur wenige über das Alter nachsinnende Werke gehen auf die Rätsel ein, die diese Zeit des Lebens aufgibt; vielleicht deshalb, weil Menschen nicht dazu neigen, das Altern als eine Chance zu betrachten. Unser Ziel ist es, einigen der komplizierten und faszinierenden

Einleitung

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Fragen nachzugehen, die diese Zeit des Lebens uns stellt. In diesen Fragen geht es mehr um leben als um beenden. Die Form unseres Buches ist von Ciceros De Senectute (Über das Altern) inspiriert. Dieses im Jahr 45 v. Chr. geschriebene Werk ist als ein Gespräch mit Ciceros bestem Freund Atticus gestaltet, an den er Tausende erhalten gebliebener Briefe adressiert hat. Die beiden waren in ihren Sechzigern, und Cicero, der Atticus dieses Werk in einem Vorwort widmet, sagt, dass sie – obwohl sie noch nicht so alt seien (Römer waren ein gesundes Volk) – im Voraus ernsthaft über dasjenige nachdenken sollten, was das Leben für sie noch bereithält. Die Arbeit sei als eine Ablenkung gedacht, weil beide sich Sorgen über Politik und über Angelegenheiten ihrer Familien machten. Cicero erfindet einen kleinen Dialog, in dem ein wirklich alter Mann, Cato, der zum Zeitpunkt des Dialogs dreiundachtzig Jahre alt ist – gesund, aktiv, noch immer ein politischer Führer, ein berühmter Gastgeber und Freund sowie ein begeisterter Landwirt –, mit zwei Männern in ihren Dreißigern spricht, die ihn bedrängen, um Auskunft über diesen Lebensabschnitt zu bekommen. Da sie alle möglichen negativen Dinge über das Älterwerden gehört haben, möchten sie wissen, wie er auf einige Einwände antworten würde, die generell gegen diese Lebensphase erhoben werden: dass es ihr an Kreativität fehle, dass der Körper zu nichts mehr fähig sei, dass es keine Freuden mehr gebe, dass der Tod eine ständige, angstbesetzte Präsenz habe. Obwohl sie noch jung sind, so sagen sie, wissen sie, dass sie – wenn sie das Glück haben, dorthin zu gelangen – Cato nachfolgen werden, und fragen nach seiner Innenansicht ihres gemeinsamen Ziels. Cato geht gerne darauf ein, denn eine der großen Freuden des Alters, sagt er, ist das Gespräch mit jüngeren Menschen. In Gestalt seines Cato hat Cicero stets ein größeres Publikum im Blick – Gespräche über viele Themen mit Lesern unterschiedlichen Alters und, wie sich herausstellte, in vielen verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Unser Buch wurde, wie das Ciceros, durch eine Reihe von Gesprächen zwischen Freunden in ihren Sechzigern über den Teil des Lebenszyklus veranlasst, in den wir eintreten. Auch wir haben die Erfahrung gemacht, dass über das Altern zu sprechen angenehm und hilfreich ist, und dass das Thema durch philosophische, juristische und ökonomische Reflexionen wirklich bereichert wird. Wir bieten unseren Lesern Essays zu verschiedenen Aspekten dieses Lebensabschnitts an und zeigen, wie Analyse und Argumentation unterhaltsam sein und Einsichten gewähren können. Wir haben das Glück, über eine dialogische Korrespondenz zu verfügen, mit divergierenden Persönlichkeiten und den Ansätzen unterschiedlicher Disziplinen. Jedes Kapitel umfasst zwei Aufsätze; entweder antwortet der eine auf den anderen, oder er geht an ein bestimmtes Thema auf andere Weise heran. Wie Cicero hoffen auch wir, Leser verschiedener Altersgruppen in ein vielseitiges Gespräch zu verwickeln.

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Einleitung

Die unsere Diskussion eröffnenden Essays sind durch den ersten Akt von Shakes­ peares König Lear angeregt, in welchem der alternde König eine Reihe von Fehlentscheidungen über seinen Rückzug aus dem aktiven Leben, die Verteilung seines Vermögens und über familiäre Beziehungen trifft. Es ist ein Werk, das eine Erörterung des Älterwerdens nur schwer umgehen kann. Neuere Aufführungen haben den Schwerpunkt auf das Thema des Alterns gelegt, und in einer Reaktion auf eine solche Inszenierung führt Martha Gründe dafür an, warum es ein Fehler ist, das Stück als einen Kommentar zu Demenz oder einem anderen universalen, die Individualität auslöschenden Merkmal des Alterns anzusehen. Es handelt stattdessen vom Altern einer ganz bestimmten Art von Person, die es gewohnt ist, zu dominieren und die Kontrolle zu haben. Solche Menschen werden durch das Älterwerden leicht aus der Bahn geworfen, wenn sie keine Vorsorge getroffen und sich keiner Selbstprüfung unterzogen haben. In einem begleitenden Essay greift Saul das Thema der Kontrolle auf und untersucht die Strategien, mit denen Menschen ihr Älterwerden instrumentalisieren, um andere zu kontrollieren, und mit denen sie – über ihr Versprechen, ihren Besitz zu verteilen – zu Liebe und Fürsorge ermutigen oder sie begrenzen. Kapitel 2 wendet sich dem eher alltäglichen Thema des Eintritts in den Ruhestand zu. Die Vereinigten Staaten von Amerika stellen insofern fast eine Ausnahme dar, als sie einen Zwang zum Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und die Diskriminierung aus Altersgründen für illegal erklären. Saul legt im Zuge seiner Argumente gegen die­ dominante amerikanische Sichtweise Gründe für so etwas wie eine Rückkehr zur­ Vertragsfreiheit vor. Seine Darlegungen führen uns durch die Geschichte der Pensionspläne und des sinkenden, nun aber erneut steigenden durchschnittlichen Rentenalters. Der Aufsatz erläutert, warum politische Kräfte wünschenswerte Veränderungen wahrscheinlich verhindern werden, mit der möglichen Ausnahme einer zusätzlichen Besteuerung von wohlhabenderen älteren Arbeitnehmern. Martha hat an all dem größte Zweifel. Sie vertritt die Auffassung, dass das derzeitige System alternden Menschen mehr Würde gibt. Außerdem lässt es jüngere und alternde Menschen erwarten, dass Menschen, während sie älter werden, produktiv und engagiert bleiben, und diese Gewohnheiten und Erwartungen haben positive Auswirkungen auf ihr psychisches Wohlbefinden und die Beziehungen zwischen den Generationen. Wir haben gesagt, dass unser literarisches Modell Cicero ist, und in Kapitel 3­ wenden wir uns seinen beiden Essays Über das Altern und Über die Freundschaft zu. Martha findet sie in Bezug auf beide Themen sowie bezüglich ihrer Schnittmenge scharfsinnig beobachtet, entdeckt aber noch weitere Einsichten in den Briefen, die Cicero mit seinem besten Freund Atticus austauschte: Sie enthalten das tagtägliche Beziehungsnetz einer echten Freundschaft. Als Antwort wendet sich Saul Ciceros Darstellung der Art und Weise zu, auf die Freundschaft in den verschiedenen Altersstufen

Einleitung

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das Leben bereichert, und er legt seine eigene Einschätzung einiger der schwierigen Fragen dar, die dabei auftreten. Wann sollte ein Freund aus Freundschaft etwas tun, das moralisch zweifelhaft oder mit einem persönlichen Risiko verbunden ist? Und wann sollte ein Freund einem Freund sagen, dass es Zeit ist, sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzuziehen? Der alternde Körper wird stigmatisiert, und alternde Menschen schämen sich oft für ihn. Es gab einmal eine Zeit, so stellt Martha in Kapitel 4 fest, in der die Baby­ boomer-Generation sich mutig körperlicher Abscheu und Scham entgegenstellte. Das klassische Handbuch Our Bodies, Ourselves forderte Frauen auf, sich nicht vor ihren Körpern zu verstecken, sondern sie ohne Scham kennenzulernen und sie vielleicht sogar zu lieben. Wohin ist diese mutige Herausforderung der Konventionen verschwunden? Und ist es nicht sinnvoll, dasselbe radikale Anti-Scham-Projekt in einem anderen Kontext noch einmal zu verfolgen? Saul stimmt ausnahmsweise zu und behauptet, dass Falten und ein kahler Kopf sogar bezaubern könnten. Er erkundet das Thema der kosmetischen Chirurgie, die Popularität von verschiedenen Anti-AgingVerfahren und die Wahrscheinlichkeit, dass die Häufigkeit chirurgischer Interventionen von den Gemeinschaften abhängen könnte, in denen wir leben, wenn wir älter werden. Die Zeit des Alterns ist natürlicherweise eine des Zurückblickens, eine Zeit, in der wir das vergangene Leben sowohl für unsere eigenen Zwecke als auch für jüngere Menschen untersuchen und neu bedenken, weil jüngere Menschen glauben, dass wir Weisheit zu bieten haben. Manchmal führt dieser rückwärtsgewandte Blick zu Reue. In Kapitel 5 befasst sich Martha mit dem Thema rückwärtsgewandter Gefühle und der Beziehung zwischen Reue und den verwandten Gefühlen Trauer und Zorn. Im Allgemeinen erscheinen solche Emotionen sinnlos, da man die Vergangenheit nicht ändern kann. Anhand von Eugene O‘Neills Theaterstück Eines langen Tages Reise in die Nacht und Michel Butors Roman L‘Emploi du temps (deutsche Übersetzung: Der Zeitplan) betont sie die Gefahr, die darin besteht, es der Vergangenheit zu erlauben, das­ eigene Leben zu bestimmen. Ein der Gegenwart verhafteter Lebensansatz, mit hedonistischem Eifer ohne jegliche Introspektion, ist jedoch ebenso unattraktiv. Eine solche Tendenz zum Leben in der Gegenwart sieht Martha in vielen Ruhestandsgemeinschaften. Saul macht sich zwar für die Verteidigung dieser Gemeinschaften stark, aber er deutet an, dass sie sich in nachfolgenden Generationen verändern werden. Generell bezweifelt er, dass viele der Menschen, die Gefangene der Vergangenheit sind, lernen können zukunfts­orientiert zu sein. Wie steht es um die Liebe im Alter? Einige Leute, und besonders junge, halten das Altern für eine Zeit, in der sich Menschen nicht verlieben, aber sie haben sicher Unrecht. Martha verfolgt dieses Thema in Kapitel 6. Sie beginnt mit Strauss’ Oper Der

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Einleitung

Rosenkavalier und kehrt dann zu Shakespeare zurück, dessen Romeo und Julia sowie Antonius und Kleopatra einen aufschlussreichen Gegensatz zwischen der Liebe in der Jugend und im fortgeschrittenen Alter bieten. In der Oper findet eine reife, einsame Frau sexuelles Vergnügen mit einem 17-jährigen Jungen. Dieses Paar bietet die Gelegenheit, über Missverständnisse in Bezug auf das Liebesleben reifer Frauen nachzudenken. Zusätzlich, und um die Diskussion aus den Höhen der klassischen Poesie in die tägliche Realität herunterzuholen, erörtert Martha einige aktuelle Filme, unter anderem Madame Mallory und der Duft von Curry (The Hundred-Foot Journey), mit der 68-jährigen Helen Mirren in einer der Hauptrollen, und Wenn Liebe so einfach wäre (It’s complicated), in dem Meryl Streep und Alec Baldwin als alternde Liebhaber ihre einstige Anziehungskraft neu entdecken (wobei Steve Martin eine weniger signifikante, jedoch letztlich erfolgreiche romantische Rolle spielt). Saul führt das Gespräch mit einer ausführlicheren Diskussion über „Abstandspaare“ weiter, bei denen es einen signifikanten Altersunterschied zwischen den Partnern gibt. Er zieht Lehren aus prominenten Paaren, die dieser Beschreibung entsprechen, und vertritt die Auffassung, dass wir romantische Ablehnung als eine gute Sache ansehen können, auch wenn wir Paare feiern, deren Beziehung von Dauer ist. Das Kapitel endet mit einigen Spekulationen über die Zukunft von Paaren wie denjenigen, die in der Strauss-Oper vorkommen, bei denen die Frau wesentlich älter ist als der Mann. Ein Großteil dieses Buches handelt von Menschen, die wohlhabend genug sind, um über den Eintritt in den Ruhestand im richtigen Alter nachdenken, Besitz für Kinder in finanziell unterschiedlichen Umständen hinterlassen und ihr körperliches Erscheinungsbild mit Hilfe von Injektionen und Chirurgie verbessern zu können, aber es gibt viele alternde Menschen, die ums Überleben kämpfen. Kapitel 7 setzt sich offen mit der Realität der großen Vermögensungleichheit auseinander. Saul untersucht den Umfang des Problems in Bezug auf in Armut lebende ältere Menschen. Er sorgt sich um all diejenigen, die für den Ruhestand keine finanziellen Rücklagen­ geschaffen haben, und entwirft einen bedenkenswerten Plan für den Aufbau einer umfangreicheren obligatorischen Komponente in der Sozialversicherung. Marthas Ansatz hat weniger mit dem zu tun, was politisch durchführbar ist, und mehr mit politischer Philosophie. Sie stützt sich auf ihren eigenen „Fähigkeitenansatz“ und skizziert, was eine gerechte Gesellschaft den älteren Menschen bieten sollte. Dabei führt sie einen kritischen Vergleich der finnischen und amerikanischen Vorgehensweisen (und ihrer Mängel) bezüglich älterer Menschen durch. Kapitel 8 wendet sich schließlich den Vermächtnissen zu, die wir vielleicht hinterlassen möchten. Saul untersucht zwei Paradoxa. Das erste betrifft die Frage, ob man Geld verschenken sollte, sobald man es sich leisten kann, oder ob man Philanthropie aufschieben sollte, um mehr über die dadurch potenziell Begünstigten in Erfahrung

Einleitung

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zu bringen. Die Diskussion erklärt Teile der modernen Optionstheorie und stützt sich auf seine Erfahrungen im Fundraising. Das zweite Paradoxon kehrt zu der Frage zurück, ob man alle einem nahestehenden Menschen auf gleiche Weise berücksichtigen, oder ob man ihre finanziellen Verhältnisse im Blick haben sollte. Das Kapitel bietet denjenigen, die zwar die konventionelle Gleichverteilung durchbrechen wollen, aber Angst haben, einen Familienstreit herbeizuführen, eine neue Strategie. Martha beendet das Kapitel mit Überlegungen zum Altruismus und über Wege, sich selbst zu verewigen. Sie stellt und beantwortet die gewichtige Frage, wie wir über unseren Beitrag zum Leben einer fortdauernden Welt denken sollten. Diese 16 Essays sind eher dazu bestimmt, die Diskussion darüber, wie wir alle auf bewusste Weise älter werden können, zu provozieren als sie erschöpfend zu beantworten. Wir hoffen, dass unsere Leser die veränderte Perspektive, die das Alter mit sich bringt, genießen, so wie wir selbst es tun. Themen wie König Lears Vermächtnisse, der obligatorische Eintritt in den Ruhestand, plastische Chirurgie, Philanthropie und Liebe bei großem Altersunterschied sehen einfach sehr viel anders aus, wenn man den Punkt, ab dem man diesen Problemen erstmals begegnet, um etwa ein halbes Jahrhundert überschritten hat. Wir haben versucht, an diese und andere Themen auf neue Weise heranzugehen und zu zeigen, dass das Nachdenken darüber und die Auseinandersetzung damit nicht nur praktisch sind, sondern auch zu den großen Vergnügen des Älterwerdens gehören.

Kapitel 1

Lernen von König Lear Worin besteht das Wesen von Lears Verletzbarkeit und warum ist er so unglücklich darüber? Was sollten wir aus Lears Fehler bei der Wahl zwischen seinen Töchtern lernen, und hätte er besser wählen oder sie gleich behandeln sollen? Wann ist es ratsam, erwartete Erbschaften zurückzuhalten? Wie lernt man, Kontrolle abzugeben?

Altern und Kontrolle in König Lear– und die ­Gefährlichkeit von Verallgemeinerungen Martha Aufführungen von König Lear sind heutzutage wie besessen von der Thematik des Alterns. So, wie in der Nachkriegszeit die Betonung auf Leerheit, Sinnverlust und völliger Zerstörung lag (in Peter Brooks denkwürdiger Inszenierung mit Paul Scofield, jedoch auch in unzähligen anderen seither), ist es in unserer Zeit das Thema des Alterns, das populär geworden ist, und dies kann vielleicht sogar teilweise erklären, warum die Popularität des Stückes in letzter Zeit so stark zugenommen hat. Inszenierungen folgen den Voreingenommenheiten des Publikums, für das sie bestimmt sind. Heute machen sich viele oder sogar die meisten Zuschauer einer Shakespeare-Inszenierung persönlich Sorgen über das Altern, pflegen einen alternden Verwandten, oder es trifft gleich beides auf sie zu. Wir sollten auch die große Anzahl ausgezeichneter älterer Schauspieler erwähnen, die die Rolle spielen wollen und von ihren extremen körperlichen Anforderungen nicht abgeschreckt werden. Laurence Olivier (der 76 Jahre alt war, als er die Rolle spielte), Ian McKellen (68), Stacy Keach (68), Christopher Plummer (72), Sam Waterston (71), John Lithgow (69), Frank Langella (76), Derek Jacobi (72) und kürzlich Glenda Jackson (80). Wir sind offensichtlich weit entfernt von Shakespeares eigenem Lear, Richard Burbage, der die Rolle mit 39 Jahren spielte, und noch weiter von Gielgud, der erst 29 Jahre alt war. (Scofield war übrigens erst 40 Jahre alt, aber das war ohne Belang, weil diese Inszenierung das Thema Alter nicht betonte.) Ein Meisterwerk gewährt neue Einsichten, wenn es mit einer neuen Akzentsetzung auf die Bühne gebracht wird, und Lear bildet keine Ausnahme. Ich kritisiere Regisseure daher also nicht dafür, dass sie sich entschieden haben, das Thema des Alterns zu betonen, und das Stück, in dem Lear nach Liebesbezeugungen fragt und dann sein

Altern und Kontrolle in König Lear

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Königreich unter den beiden Töchtern (Goneril und Regan), die ihm schmeicheln, aufteilt und die eine (Cordelia), die ihn wirklich liebt, enterbt, erkundet Themen wie Enteignung, Verlust und schließlich Wahnsinn, den Shakespeare eindeutig mit Lears fortgeschrittenem Alter in Verbindung bringt. Dennoch gibt es da etwas, das bei dieser gemeinsamen Art und Weise der Akzentsetzung fehlt: Einige Entscheidungen der Regisseure führen uns weg von den Einsichten über das Altern, die das Stück wirklich bereithält. Beginnen wir mit einem repräsentativen Beispiel. Eine vielgelobte Chicagoer Inszenierung von King Lear aus dem Jahr 2014 beginnt auf folgende Weise:1 Der Schauspieler Larry Yando spielt den König in einer mehr oder weniger modernen Inszenierung als alternden Tycoon. Er befindet sich in seiner eleganten Schlafzimmer-Suite, trägt einen teuren Morgenmantel und spielt einige Lieder von Frank Sinatra auf seiner noblen Stereoanlage an. Mit der Launenhaftigkeit eines langweilige Spielsachen wegwerfenden Kindes verwirft er „That’s Life“, „My Way“ und „Witchcraft“ – wobei er voller Frustration jedes Mal eine Fernbedienung aus Plastik zerschlägt, und von den aufmerksamen Dienern, die ihn umgeben, stets eine andere bekommt. (Diese wiederholte grundlose Zerstörung enthält eine unzutreffende Anspielung: Tycoons erreichen – anders als erbliche Monarchen – ihre Stellung nicht, indem sie verschwenderisch sind, und das Lied ließe sich leicht wechseln, ohne die Fernbedienung zu zerstören.) Schließlich kommt er zu „I’ve Got the World on a String“. Zufrieden tanzt er hocherfreut umher. Als Partner hat er nur sich selbst, aber er ist von großer Beweglichkeit. Chris Jones, der Kritiker des Chicago Tribune, merkt hierzu an, dies sei „eine billige Wahl, denn diejenigen, die, wie Lear, es nötig haben zu glauben, dass sie die Welt an ihren Fäden halten, entlarven sich selten durch die Vorliebe zu einem so offensichtlichen Text.“2 Aber Lear ist glücklich, und abgesehen von einer gewissen manischen Angst in seiner Gesamthaltung zeigt er keine Anzeichen des Alterns. Abgesehen von der ungeschickten Auswahl der Lieder ist es eine fesselnde Darstellung eines lieblosen, pedantischen Mannes, der zwar altert, aber noch sehr gesund ist: betört von seiner eigenen Macht, daran gewohnt, zu bekommen, was er will, immer und von jedem. Nur wenige Augenblicke später fällt es Lear jedoch schwer, sich an die Namen seiner Schwiegersöhne zu erinnern – und als er nach Worten ringt, die ihm nicht einfallen wollen, steht auf seinem Gesicht ein Ausdruck des Entsetzens, während sich die Zerstörung der beginnenden Demenz offenbart. Es ist ein atemberaubender Augenblick. Doch ist es eine überzeugende Interpretation des Stückes? Die Regisseurin Barbara Gaines informiert uns im Programmheft, dass Lear von uns allen handelt, die wir entweder selbst altern, einen alternden Verwandten haben, oder auf die beides zutrifft. Im 4. Akt der 7. Szene beschreibt sich Lear selbst tatsächlich als „80 und mehr“ und gibt so sein Alter ziemlich exakt an. Yando sagte der Chicago Sun-Times jedoch, er

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1 Lernen von König Lear

spiele Lear „in meinem Alter, nicht 80-jährig“. Yando ist zu dem Zeitpunkt 58 Jahre alt. Was wir sehen, ist also eine extrem früh beginnende Demenz. (Dies passt schlecht zu der Art und Weise, auf die sich Yando in späteren Akten bewegt, mit dem Schlurfen eines sehr alten Mannes; doch wie dem auch sei – momentan geht es mir um den ersten Akt.) Also: ist es plausibel oder aufschlussreich, Lear als ein Stück über eine früh beginnende Demenz zu inszenieren?3 Zu tun, was Gaines und Yando tun, ist schon fast zu einem Klischee geworden: den Verfall und die geistige Hinfälligkeit in die Anfangsszene des Stückes zu verlegen. Tatsächlich wurde das Darstellungsmittel, die Namen zu vergessen, bereits von Plummer verwendet, obwohl ich nicht weiß, ob er es erfunden hat. R. A. Foakes, der Herausgeber der Arden-Ausgabe des Stückes, stellte in der Tat fest, dass es zu einem Markenzeichen der Inszenierungen in den 1990er-Jahren geworden ist, Altersschwäche gleich in der Eröffnungsszene des Stückes zum Thema zu machen: Es ist wahrscheinlich, dass Lear darin als „ein zunehmend bedauernswerter Alter“ erscheint, der „in einer gewalttätigen und feindseligen Umwelt gefangen“ ist.4 Die Popularität des auf diese Weise hervorgehobenen Altersthemas hat zu einer Flut von Inszenierungen des Stücks geführt, da seine mehr als nur ein wenig narzisstischen Zuschauer sich gerne mit ihrer eigenen Zukunft beschäftigen, sei diese nah oder fern. Der Kritiker der Los Angeles Times, Charles McNulty, meldet in einem treffend formulierten Aufsatz Zweifel an der Weisheit dieses gesamten Trends an, den er auf plausible Weise dem Älterwerden der Generation der Babyboomer zuschreibt. Er erklärt, es könne an der Zeit sein, Versuche, das Stück zu inszenieren, generell auszusetzen.5 Also, was passt nicht an Yandos Gedächtnisverlust? Ein offensichtliches Problem ist, dass er im Text überhaupt nicht vorkommt. Erst als er in der Heidelandschaft steht, zeigt Lear ein seelisches Ungleichgewicht, und dann ist es eine Art „Wahnsinn“. Doch er passt, angesichts seiner sprachlichen Eloquenz und seiner Einsichten in die Natur der Menschen und ihrer Welt, gewiss nicht zu dem allzu bekannten Klischee der Alzheimer-Erkrankung. Eine sachgerechtere Kritik an Gaines – denn natürlich können und sollten Regisseure Dinge, die nicht direkt im Text vorkommen, in das Stück einfügen, wenn es dadurch anschaulicher gemacht wird – wäre in der Tat, dass dadurch, dass Lear von Anfang an in die Alzheimer-Schublade gesteckt wird, es ziemlich schwierig ist, den Lear der Eröffnungsszene mit dem zwar geistesgestörten, aber zutiefst einsichtsvollen Lear, der sich später zeigt, in Verbindung zu bringen. Dies ist ein Grund dafür, warum Yandos Darstellung dieser späteren Szenen die Zuschauer und Kritiker weniger beeindruckt hat als seine Darstellungsleistung in der Anfangsszene. Im ersten Akt – und meine Betrachtung in diesem Essay beschränkt sich auf den ersten Akt – sind es Goneril und Regan, bei denen es sich nicht gerade um die vertrauenswürdigsten Zeugen handelt, die auf Lears Älterwerden eingehen – und zwar

Altern und Kontrolle in König Lear

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auf eine Weise, die nicht im Geringsten auf eine von Alzheimer verursachte Demenz hindeutet. Erstere sagt: „Du siehst, wie launisch sein Alter ist.“ (1.1.290) – aber sie bezieht sich darauf, dass er auf eine emotional unberechenbare Weise Cordelia enterbt, was, wie immer wir es erklären wollen, wohl kaum auf Demenz zurückzuführen ist. Letztere antwortet: „Es ist die Schwäche seines Alters: doch hat er sich von jeher nur schlecht gekannt.“ (294–95). Sie präzisiert daher den Altersbezug sofort durch eine Anspielung auf ein seit Langem bestehendes Problem – und dringt damit, wie wir sehen werden, zum Kern der Sache vor. Selbst die Töchter deuten nicht darauf hin, dass er an Demenz oder geistiger Schwäche leidet: höchstens an emotionaler Unbeständigkeit, und das, so vermuten sie, sei wahrscheinlich schon von jeher durch seinen Charakter verursacht worden. Um zu erkennen, warum dies die angemessene Fragerichtung ist, betrachten wir Lears frühere menschliche Beziehungen, wie der erste Akt sie offenlegt. Gegenüber seinen Töchtern – selbst Cordelia, die er zu bevorzugen scheint – verhält er sich formell, kalt, dominierend, manipulativ. Er möchte starre Reden hören, die Unterordnung zum Ausdruck bringen. Was er mit Sicherheit nicht will, ist irgendeine Beteiligung an gegenseitiger Zuneigung.6 Was Freundschaft betrifft, gibt es nichts, was auch nur in die Nähe käme. Er hat weder eine Frau, noch erinnert er sich an die, die er irgendwann gehabt haben muss. In seiner Beziehung zu Kent – sowohl vor als auch nach seinem Fall – ist Lear der befehlende Herrscher, dazu entschlossen, Ungehorsam zu bestrafen, obwohl er (später) bereit ist, einen loyalen Untergebenen zu akzeptieren. Die einzige Beziehung, die die Möglichkeit von Freundschaft und Gegenseitigkeit bietet, ist diejenige zu dem Narren, dem (im Gegensatz zu den meisten wirklichen Hofnarren) königliche Macht gleichgültig ist. Es ist das Reifen dieser Beziehung im weiteren Verlauf des Stückes, das dazu führt, dass Lear als menschliches Wesen sichtbar oder sogar erst zu einem solchen wird.

Altern, Kontrolle und Selbsterkenntnis Das größte Problem an einem Alzheimer-erkrankten Lear in der ersten Szene des ersten Aktes besteht darin, dass eine solche Darstellung uns hindert, eines der eindringlichsten Themen des Stückes zu verstehen: die Auswirkung plötzlicher Machtlosigkeit auf eine Person, die von ihrer eigenen Macht und eingebildeten Unverwundbarkeit vollkommen abhängig war. Denn Regan hat recht: Lear kannte sich selbst nicht und besaß noch nicht einmal ein grundlegendes Verständnis seiner eigenen Menschlichkeit. Er hatte sich als König für eine Art Gott gehalten, der alles und jeden kontrollieren könne. Daher ist er auf das Alter, das Kontrollverlust und Pflegebedürftigkeit mit sich bringt, schlichtweg nicht vorbereitet. Es ist schlecht für den eigenen Lebensweg

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in dieser Welt, wenn man glaubt, ein König zu sein; und wenn man einer ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man sich selbst nur oberflächlich kennt und also nicht versteht, dass man ein abhängiger und verletzlicher Mensch ist. Janet Adelman, erkenntnisreich wie immer, sagt, was für Lear erschreckend sei, als er plötzlich erkennt, dass seine Töchter Macht über ihn haben, ist: „zu erkennen, dass er nicht nur auf erschreckende Weise von weiblichen Kräften außerhalb seiner selbst abhängig ist, sondern auch eine ebenso schreckliche Weiblichkeit in sich selbst“ trägt.7 Unter Weiblichkeit versteht sie Passivität, Nicht-Kontrolle und vor allem das Angewiesensein auf andere. Wie der Narr kurz darauf sagt, hat Lear seine Töchter zu seinen Müttern gemacht (1.4.163) und ist dennoch völlig unvorbereitet, ein bedürftiges Kind zu sein oder zuzugeben, dass er eins ist. Man macht es sich viel zu einfach, wenn man Alzheimer hier zum Problem erklärt. Das ist eine Macht, die von außerhalb der Persönlichkeit zuschlägt. Es könnte jedem passieren und passiert jedem auf mehr oder weniger ähnliche Weise. Es hat nichts damit zu tun, wie man sein Leben bisher geführt hat, und die Krankheit lässt die eigene Identität in kurzer Zeit verblassen. Lears Problem besteht aber darin, dass er, während er immer noch er selbst ist, nämlich ein nörgelnder und manchmal gewalttätiger Mann, der es gewohnt ist, keine Beziehungen zu führen, in denen er nicht die Kontrolle hat, plötzlich feststellt, dass sich die Dinge in ihr Gegenteil­ verkehrt haben – und dass er auf Machtlosigkeit vollkommen unvorbereitet ist. Kontrolle macht aber seine Identität aus, weshalb die plötzliche Weigerung seiner­ Umgebung, ihn zu verehren und ihm zu dienen, das Innerste des Menschen trifft, der er zu sein glaubt. „Kennt mich hier jemand?“, fragt er (nach Gonerils hartem Einwand gegen sein Gefolge). Er meint, ihn zu kennen bedeute, seine totale Macht und sein Recht, zu tun, was er will, anzuerkennen. Aber er benutzt das königliche „Wir“ nicht mehr – und erkennt damit stillschweigend an, dass er an Autorität verloren hat. „Nein, das ist nicht Lear“, fährt er fort. „Wer kann mir sagen, wer ich bin?“ (1.4.217–21). In den dazwischen liegenden Zeilen sagt er von sich selbst: „Sein Kopf muss schwach sein, oder seine Denkkraft im Todesschlaf“. Kommentatoren interpretieren diese Zeilen auf plausible Weise so, dass er versucht sich selbst zu versichern, dass all dieses respektlose und ungehorsame Verhalten nur ein Traum sein könnte: „Ha, bin ich wach? Es ist nicht so.“ Allzu bald stellt er jedoch fest, dass­ Missachtung und Respektlosigkeit kein Traum, sondern Realität sind. Keiner von uns ist auf Machtlosigkeit wirklich vorbereitet, aber Machtlosigkeit begegnet uns allen in verschiedenen Formen, wenn wir älter werden. (Am wenigsten betroffen sind vielleicht diejenigen, die tatsächlich an Alzheimer leiden, da sie bald nicht mehr wahrnehmen, was ihnen fehlt.) Aber für diejenigen, die ihre Identität durch die Kontrolle über andere definieren, kommt die Machtlosigkeit als verheeren-

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derer Schock. Man kann nicht mehr sein, der man war, und dann muss man irgendeine andere Identität erfinden, eine andere Art, weiterzuleben. Yandos hervorragende Eröffnungssequenz zeigt einen Mann, der dieses Drama auf eine subtile und aufschlussreiche Weise hätte spielen können, indem er einen Machtverlust darstellt, der zu einer neuen Art der Suche nach dem Selbst führt. Die zweite Hälfte des Stückes zeigt den Beginn einer solchen Suche – allerdings erst, nachdem Lear durch den­ Zusammenbruch seiner früheren Identität teilweise verrückt geworden ist. Solch eine quälende Suche stellte Yando tatsächlich dar, als er 2012 in der Chicagoer Inszenierung von Angels in America Roy Cohn, einen vergleichbaren Charakter, spielte, für die er verdientermaßen die höchste schauspielerische Auszeichnung Chicagos gewann. In Yandos Cohn, einer erfolgreicheren Gesamtleistung, und zwar ohne dass dem Publikum eine moralisierende Botschaft gefüttert wurde, sahen wir, wie sich der allmähliche körperliche Verfall und der bevorstehende Tod auf einen an totale Macht gewöhnten Mann auswirken (die Macht, andere zu verführen oder zu zerstören, die Macht, die Wahrheit zu schaffen und zu vernichten, eine schier körperliche Freude an der eigenen Destruktivität) – und die Ergebnisse faszinierten zutiefst, als wir schreckliche Angst, Boshaftigkeit und schließlich sogar einen Schimmer von Mitgefühl in der Seele eines bösartigen Mannes ohne Selbsterkenntnis umherwirbeln sahen. Ich wünschte, Gaines hätte Yando erlaubt, Lear als Roy Cohn zu spielen. Dann hätten wir etwas über das Altern gelernt, statt ein sentimentalisiertes und verallgemeinertes Bild gezeigt zu bekommen, welches das Älterwerden zu etwas Mitleiderregendem macht und verwässert, statt zu dem moralischen Spiegel, der es in Wahrheit ist, und der moralischen Herausforderung, die es darstellt.

Nutzen und Missbrauch philosophischer ­Verallgemeinerungen An dieser Stelle möchte ich mich einem Problem meines Berufes, der Philosophie, stellen. Die Philosophen lieben universale Verallgemeinerungen sehr, oft viel zu sehr. Nun, wenn wir nichts verallgemeinern würden, wären wir natürlich niemals in der Lage, etwas zu lernen oder andere zu unterrichten. Wenn die Vergangenheit jemals als Wegweiser für die Zukunft oder die Erfahrung einer Person für eine andere dient, dann deshalb, weil einige Arten von Verallgemeinerung nützlich sind. Nietzsche stellte fest, dass eine Spezies, die nicht verallgemeinern kann, schnell aussterben würde: Sie würde vor dem neuen Raubtier nicht davonlaufen, weil sie seine Ähnlichkeit mit einem vorigen nicht erkennen würde. Ferner widmen sich sämtliche Wissenschaften leidenschaftlich der Verallgemeinerung; doch sie prüfen auch immer wieder, welche der in einem konkreten Fall vorhandenen zahlreichen Faktoren ein Ergebnis wirklich erklären.

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Unser Vergnügen an großen Werken der Literatur wie König Lear hängt ebenfalls mit Verallgemeinerung zusammen. Wenn wir annähmen, dass es sich bei der­ Geschichte von Lear lediglich um eine kuriose Begebenheit handelte, die sich tatsächlich einmal zugetragen hat, fände sie in uns nicht den Widerhall, den sie hervorruft. Wie Aristoteles sagt, ist die Dichtung „philosophischer“ als die Geschichtsschreibung, weil uns die Geschichtsschreibung sagt, dass dieses oder jenes Ereignis tatsächlich passiert ist, während uns Dramen Dinge vor Augen führen, „die [im Leben eines­ Menschen] passieren könnten“.8 Unser Interesse an Lear ist ein Interesse am Studium der allgemeinen Form menschlicher Möglichkeiten. Wir wollen Muster erkennen, die im Leben von Menschen, die uns wichtig sind, wiederkehren könnten. Wir wissen allerdings nur zu gut, dass einige Formen der Verallgemeinerung die Realität verschleiern und den Fortschritt blockieren. Klischees über Frauen, ethnische Minderheiten, Muslime, Juden und andere benachteiligte soziale Gruppen waren eine wichtige Strategie, um ihre Unterordnung festzuschreiben. Im Jahr 1873 hat Myra Bradwell in Illinois ein Gesetz angefochten, das es Frauen verbot, als Anwältinnen zu praktizieren (was sie in Iowa bereits taten). Myra Bradwell hatte bereits ein juristisches Studium und eine praktische Ausbildung absolviert und praktizierte de facto als Anwältin, erhielt jedoch in Illinois keine Zulassung. Der Oberste Gerichtshof, der­ dieses Verbot der juristischen Praxis von Frauen aufrechterhielt, bot einige, durch­ religiöse Frömmigkeit gestützte Stereotypen auf: „Die natürliche und angemessene Ängstlichkeit und Zartheit“, die das weibliche Geschlecht auszeichneten, machten es „für viele Berufe des bürgerlichen Lebens offenbar untauglich (…). Das vorrangige Los und die Mission der Frau“ bestehe darin, „die edlen und huldvollen Ämter einer Frau und Mutter zu übernehmen“. Das sei „das Gesetz des Schöpfers.“9 Richter Bradley ging so weit, einzuräumen, dass es viele Frauen gebe, die unverheiratet seien und daher als Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel angesehen werden könnten. (Myra Bradwell war verheiratet.) Er gelangte jedoch zu dem Schluss, dass das Gesetz „an die­ allgemeine Verfassung der Dinge angepasst“ werden müsse und „nicht auf Ausnahmefällen beruhen“ dürfe. So etwas passiert ständig, besonders bei Gruppen, die über weniger Macht verfügen. Eine beschreibende Verallgemeinerung wird vorgebracht, ohne Beweise und sogar angesichts deutlicher Gegenbeweise, und wird dann als Vorwand benutzt, Konformität durchzusetzen. Alternde Menschen, die schon lange Opfer abwertender Stereotypen sind, sollten, wie ich in einem anderen Kapitel noch ausführen werde, bei jeglichen Verallgemeinerungen misstrauisch sein. Da wir so wenig darüber wissen, was außergewöhnlich ist und was nicht, und da sich unser Wissen ständig ändert,

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scheint es besonders angebracht zu sein, sich in demütiger Weise auf spezielle Fälle zu beschränken. Was sollte ein Philosoph also tun? Erstens sollten wir zwischen normativen und deskriptiven Verallgemeinerungen unterscheiden. Bei meinen Ausführungen über Lear habe ich auf eine Weise normativ verallgemeinert, die seit Platon und Aristoteles in der Ethik geläufig ist. Diese Lebensmuster sind tugendhaft und andere unmoralisch. Diese Art von Leben gedeiht und diese weniger. Menschen, die gerne andere kontrollieren – eine an sich problematische Eigenschaft –, werden mit zunehmendem Alter mit­ besonderer Wahrscheinlichkeit unangenehme Überraschungen erleben. Und diese Überraschungen, wie zum Beispiel der Verlust von Liebe und Verbundenheit, sind menschlich bedeutsam. Sie geben allen von uns Gründe – auch wenn sie bislang noch anfechtbar sind – nicht zu versuchen, so zu leben. All das scheint in Ordnung, solange Arroganz nicht an die Stelle von Dialog tritt. Wir alle benötigen Ideale und Ziele, und normative Verallgemeinerungen sind unerlässlich, wenn wir darüber nachdenken, welche Möglichkeiten und Chancen für Menschen wirklich wichtig sind. Eine Theorie der Menschenrechte oder verfassungsmäßigen Freiheiten ist höchst allgemein, eine Form normativer Verallgemeinerung, doch das scheint so in Ordnung, weil Menschen durch Rechte nicht zu Konformität gezwungen, sondern ihnen stattdessen bestimmte geschützte Möglichkeiten gegeben werden. Das ist der Weg, den ich in Kapitel 7 einschlagen werde, wo es um wirtschaftliche Ungleichheit im Alter gehen wird. Ich werde dafür argumentieren, dass bestimmte „Fähigkeiten“ – wichtige Möglichkeiten – für alle Bürger von so zentraler Bedeutung sind, dass sie den Status verfassungsmäßiger Garantien haben sollten. Wir sollten jedoch vorsichtig sein, wenn die normative Theorie auf einer übertriebenen oder dubiosen deskriptiven Verallgemeinerung beruht, und es ist im Bereich deskriptiver Verallgemeinerungen, dass Stigmatisierung und Diskriminierung mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit unser Urteil verzerren. Richter Bradley gelangte zu der normativen Schlussfolgerung, dass es für Frauen schlecht sei, als Anwältinnen zu arbeiten, weil er bereits von bestimmten stark verallgemeinerten, deskriptiven Behauptungen überzeugt war, wie etwa: Nur wenige Frauen können als Anwältin arbeiten. Die meisten Frauen wollen Ehefrauen und Mütter sein. Ehefrauen und Mütter können keine Anwältinnen sein. Wenn sie lernen, wie ein Anwalt zu argumentieren, macht Frauen dies Männern ähnlich und schlechter geeignet für die Ausführung ihrer familiären Aufgaben. Wie wir inzwischen wissen, ist jede dieser Behauptungen falsch. Aber ausdrücklich die Falscheste ist – wie wir jetzt sehen – die Behauptung, dass es nur einen einzigen „Weg“ geben soll, der für Frauen bestimmt ist. Dies ist das Leben einer Frau, so hat ihre Lebensgeschichte auszusehen. Es ist gleichgültig, dass Sie, Myra Bradwell, eine verheiratete Anwältin, etwas anderes machen: Wir schieben das bei-

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seite. Nein, wir behaupten einfach, dass Frau und Mutter zu sein, und nur das, die richtige Beschreibung der Rolle einer Frau ist. In diesem Fall ist das Beharren auf alternativlosen Beschreibungen keineswegs unschuldig, wenn es um versteckte oder nicht so versteckte normativen Ideen geht: So wollen wir (Männer), dass Frauen sind; dies ist es, wozu wir sie machen wollen. Selbst in einer wohlwollenden und vollkommen nicht-normativen Form wirkt ein solcher einziger „Weg“ wie eine absurde Lüge, sobald Frauen das Recht beanspruchen, ihr eigenes Schicksal zu wählen und Individuen zu sein. Kürzlich besuchte ich eine Darbietung des eindringlichen Liederzyklus Frauenliebe und -leben von Schumann. Diese Geschichte einer „Frau“ ist eine singuläre und einfache Geschichte: Sie verliebt sich, sie bekommt einen Heiratsantrag, sie nimmt ihn an, sie heiratet, sie hat erst Angst vor Sex und ist dann glücklich, sie hat ein Baby, und sie erlebt dann durch den Tod ihres Mannes tiefe Trauer (da ein romantischer Liederzyklus traurig enden muss). Die Geschichte erscheint heute als lächerlich, wenn auch rührend. Die Aufführung, die ich besuchte, unterschied sich durch den sehr interessanten Umstand, dass die Lieder untypischerweise von einem Bariton gesungen wurden. (In der Welt der Lieder haben Frauen in der Regel Transgender-Privilegien, Männer jedoch nicht: Eine Sopranistin kann die Winterreise singen, aber Männer singen diesen „weiblichen“ Zyklus im Grunde nie.) Und dieser männliche Sänger leitete, ohne auch nur eine Pause zu machen, direkt in die gleichfalls bekannte männliche Lebensgeschichte über und sang Schumanns Dichterliebe. Wie in mehr als einem romantischen Liederzyklus ist die männliche Lebensgeschichte ebenfalls stereotypisch und einfach, wenn auch anders als die weibliche: Er verliebt sich, er gewinnt ihre Liebe, ihre Eltern protestieren­ jedoch, weil er arm ist; sie verheiraten sie mit einem reichen Mann und sie fügt sich der Entscheidung. Also geht er fort, irrt umher und stirbt schließlich. Die Fragen, die Matthias Goernes kühne, beide Geschlechter umfassende Aufführung uns stellen ließ, lauteten: Wessen Geschichte gehört wem? Ist eine dieser Geschichten die Geschichte einer konkreten Person? Sind beides nicht symmetrische Lügen, wenn auch von­ großer Schönheit? Niemand in diesem Publikum wurde von den deskriptiven Stereotypen getäuscht, und wir wurden eingeladen, sie als zwei ihrem jeweiligen Ort und ihrer jeweiligen Zeit verhaftete Geschichten anzusehen, aber gewiss nicht als Geschichten konkreter Personen in Vergangenheit oder Gegenwart. (Schumann selbst hatte ein glückliches Leben, bis er vorzeitig an den Komplikationen einer unbehandelten bipolaren Störung starb; seine geliebte Frau Clara war eine der begabtesten Pianistinnen und Komponistinnen der Geschichte sowie eine kompetente Geschäftsfrau, die die Hauptverdienerin der Familie war und ihre eigenen Konzertreisen mit viel Geschick organisierte. Das Einzige, was aus dem Zyklus über das Leben einer Frau auf sie zutrifft, ist, dass sie ihn überlebt hat – um 40 Jahre!)

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Das Problem mit Erzählungen über das Altern ist, dass es bislang zu wenige von ihnen gibt, um uns die große Vielfalt im Alterungsprozess aufzuzeigen, also zu wenige, um uns so skeptisch zu machen, wie wir es Halbwahrheiten gegenüber sein sollten. Aristoteles’ Vorstellung der Tragödie war es nicht, dass eine von ihnen uns sämtliche menschlichen Möglichkeiten aufzeigt. Wie könnte sie das leisten? Seine Ansicht ist, dass uns stattdessen jede Tragödie einige menschliche Möglichkeiten veranschaulicht. Wenn wir uns daher immer wieder neue Tragödien anschauen (wie es die Griechen taten, und zwar jedes Jahr ziemlich viele), werden wir unser Verständnis der menschlichen Möglichkeiten erweitern und die Vielfalt der möglichen Interaktionen zwischen Charakteren und Umständen verstehen. Wir müssen also die Suche nach Erzählungen über das Älterwerden fortsetzen, um unser Verständnis zu erweitern. Aber im Prinzip verstehen das die meisten von uns, wenn sie sich mit literarischen Werken beschäftigen. Lear verführt Menschen nur zu unklugen Verallgemeinerungen, weil es sich um ein Stück von Shakespeare handelt und weil es nur relativ wenige große literarische Werke über das Altern gibt. Aber wenn jemand wie ich sagt: „Halt: Lear ist ebenso wenig ein Durchschnittsmann wie Kleopatra eine Durchschnittsfrau ist“, werden die Leser dem wahrscheinlich zustimmen und bedenken, dass wir in den meisten Fällen innerhalb der literarischen Kategorien von Menschen – Frauen, Männer, Jugendliche, Könige und so weiter – eine große Vielfalt anerkennen. Zum Beispiel erkennen wir leicht eine zentrale Tatsache von Shakespeares historischen Dramen, die jeder Bürger in einer erblichen Monarchie kennt: Könige erfahren ihr Königsein und spielen ihre Rolle auf sehr unterschiedliche Weise, mit gewichtigen Konsequenzen für Millionen von Menschen. Wenn wir uns den Werken der Philosophie zuwenden, eröffnet sich ein viel schwierigeres Problem. Philosophen sind keine kreativen Künstler, die eine Geschichte nach der anderen schreiben. Sie sind auch keine Historiker, die über die verschiedenen Ereignisse berichten, die tatsächlich stattgefunden haben. Sie sind durch und durch Generalisten. Wir sind nicht überrascht, dass Cicero nur ein Werk mit dem Titel Über das Altern schrieb, dass Simone de Beauvoir (1908–1986) ebenfalls nur ein Buch über das Altern schrieb, wenn auch ein wesentlich umfangreicheres. Gewiss: Philosophen greifen Themen wiederholt auf, aber sie schreiben normalerweise nicht einen Text nach dem anderen mit dem einfachen Ziel, die menschliche Vielfalt innerhalb eines Themas auszuleuchten. Diese Singularität der Aussage kann eine Tugend sein, kann klären und klassifizieren, aber sie kann auch eine Gefahr darstellen. Altern ist offensichtlich ein Thema, bei dem Verallgemeinerungen mit Gefahren verbunden sind. Erstens gibt es, sogar in einem noch wesentlich höheren Maße als im Kindes- oder Jugendalter, viele unterschiedliche Lebensgeschichten. Manche Menschen sind gesund bis in die Neunziger; andere befallen schon viel früher gefährliche

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oder tödliche Krankheiten. Manche Menschen werden nicht dement, obwohl sie ihr hundertstes Lebensjahr überschritten haben. Andere erkranken bereits in den Fünfzigern an einer Demenz. Darüber hinaus existieren viele verschiedene Arten von Demenz. Manche Menschen können zwar geistige Arbeiten ausführen, aber ihren Weg von A nach B nicht finden. Bei anderen ist der Rückgang der geistigen Fähigkeiten umfassender. Dann gibt es so viele charakterliche Unterschiede, wie uns der Fall Lears zeigt; und wie wir noch sehen werden, haben wirtschaftliche und soziale Umstände (Armut oder Wohlstand, erzwungene Pensionierung oder fortgesetzte Arbeit) einen großen Einfluss auf die Gesundheit, das Gefühlsleben und die allgemeine Produktivität. In diesem Buch versuchen Saul und ich unseren Lesern diese unterschiedlichen Wege aufzuzeigen, da sowohl Individuen als auch Gesellschaften Entscheidungen treffen müssen, während die Bevölkerungen altern. Zweitens ist das Älterwerden, wie wir noch oft sagen werden, Gegenstand einer weit verbreiteten, ja praktisch universalen sozialen Stigmatisierung. Die Sozialgeschichte des Alterns ist beladen mit Klischees, von denen die meisten alternde Menschen herabwürdigen, indem sie ihnen Hässlichkeit, Inkompetenz und Nutzlosigkeit zuschreiben. Diese Stereotypen dringen auch in das Bewusstsein der alternden Menschen selbst ein und verfälschen ihre Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Man denke an Myra Bradwell. Zu ihren Lebzeiten glaubten die meisten Menschen, einschließlich der meisten Frauen, dass Frauen, und vor allem jene, die verheiratet sind, nicht Anwältin sein könnten. Heute glauben fast alle zum Mittelstand gehörenden weißen und asiatischen Frauen, dass sie, auch wenn sie verheiratet sind, selbstverständlich Anwältinnen sein können, wenn sie hart arbeiten und über ein akade­ misches Talent verfügen, und praktisch sämtliche juristischen Fakultäten und Anwalts­kanzleien stimmen ihnen zu. In dem Maße, in dem afro- und lateinamerikanische Frauen diese Selbstwahrnehmung nicht teilen, lässt sich dieser Unterschied auf irrige ethnische Vorurteile zurückführen, die bei potenziellen Arbeitgebern allmählich verschwinden, wenn auch etwas langsamer als aus der Mentalität möglicher Aspiranten. Wie könnten, da die modernen Gesellschaften gerade erst damit begonnen haben, ihre Vorstellungswelt hinsichtlich des Alterns neu zu bewerten, jegliche Verallgemeinerungen frei vom Einfluss von Stereotypen sein? Und endlich ist eines der unheilvollsten aller Klischees über alternde Menschen, dass sie über keine Handlungsmacht verfügten, dass sie nur Opfer des Schicksals seien. Natürlich spielt das Schicksal eine Rolle, und normalerweise wissen wir nicht, wo oder wann. Aber es gibt auch viel Raum für aktive Entscheidungen, wie uns die Geschichte Lears mit ihren schlechten Entscheidungen und deren noch schlimmeren Folgen ermahnt. Wenn man alternden Menschen durch die Art, wie man sie beschreibt, ihre Handlungsmacht und Entscheidungsfreiheit

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raubt, entmenschlicht und objektiviert man sie auf eine besonders beleidigende Weise. Wie könnte ein Buch über das Altern dem Problem der unklugen deskriptiven Verallgemeinerung entgegentreten, wenn nicht durch die Betrachtung einer kaleidos­ kopischen Vielfalt von Werken? Ein Weg bestünde darin, Literatur und Geschichte (und empirische Daten, wo solche existieren) dazu zu verwenden, eine Palette von Beispielen zu liefern, die dann auf ihre möglichen Gemeinsamkeiten untersucht werden könnten. Ein anderer Weg wäre das Schreiben in Dialogform, sodass die Schlussfolgerungen einem bestimmten Charakter oder bestimmten Charakteren und nicht unbedingt dem Autor zuzuschreiben wären. Die Versuchung der vorschnellen Verallgemeinerung geistert jedoch durch beide von mir angeführten Werke, welche die einzigen bedeutenden philosophischen Abhandlungen der abendländischen Tradition über unser Thema sind. Auf den Text von Cicero werde ich in Kapitel 3 genauer eingehen. Cicero sieht das Problem und geht bis zu einem gewissen Punkt sehr gut darauf ein. Über das Altern ist voll von lebhaften Diskussionen über die Vielfalt der Reaktionen auf das Altern. Das Buch verwendet die Dialogform, um die Grenzen der darin zum Ausdruck gebrachten Verallgemeinerungen zu kommentieren: Cato wird behutsam für einige seiner Besessenheiten bespöttelt (zum Beispiel, was die Förderung der Gesundheit durch Gartenarbeit betrifft). Doch ich werde behaupten, dass Ciceros Briefe uns viel mehr vom wirklichen Wesen und der Vielfalt des Alterns zu erkennen geben, von Komplexitäten, die die Abhandlung aus dem Blickfeld fernhält. Als meinem Paradebeispiel für die Gefährlichkeit philosophischer Verallgemeinerungen möchte ich mich nunmehr jedoch Beauvoirs La Vieillesse zuwenden (das ins Englische irreführend mit The Coming of Age übersetzt wurde, obwohl es lediglich Das Alter bedeutet).10 Das Buch wurde 1970 veröffentlicht. 1974 folgten ihm Gespräche, die schließlich als Les Adieux veröffentlicht wurden, wobei es sich um eine Reihe von Dialogen mit Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) handelt. (Ins Deutsche übersetzt als Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre.)11 Das Alter ist ein sehr umfangreiches Buch: In der englischen Übersetzung hat es 585 Seiten, im Gegensatz zu Ciceros prägnantem Text von etwa 50 Seiten. Wie in Das andere Geschlecht stellt Beauvoir gern alle möglichen Beispiele aus Literatur und Geschichte zusammen, die sie nicht besonders gut sortiert, was einen chaotischen Eindruck machen kann. Doch wie in jenem berühmten Buch liefert sie auch in Das Alter jede Menge nützliche Informationen. Der erste Teil des Buches ist wertvoll, da er empirische Tatsachen über das tatsächliche Leben alternder Männer und Frauen in Frankreich liefert, speziell solcher, die nicht wohlhabend sind, und insbesondere über die deprimierenden Bedingungen in Pflegeheimen.

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In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich Beauvoir der subjektiven Erfahrung des Alters zu.12 Wie die finnische Philosophin Sara Heinämaa in einer überzeugenden und einsichtsvollen Interpretation ausführt, lehnt sie sich eng an die phänomenologische Methode Edmund Husserls an, die den Philosophen bei der Suche nach wesentlichen Verallgemeinerungen auf die Introspektion verweist. Das man jemandem etwas zu verdanken hat, ist jedoch keine Entschuldigung. Husserls Methode mag einige Phänomene sehr gut beleuchten, aber es muss dennoch gefragt werden, ob sie sich auf dem Gebiet des Alterns, einem wahren Minenfeld von Gefahren, ebenfalls bewährt. Ich werde meine Schlussfolgerung im Voraus verkünden: Dies ist eines der groteskesten berühmten philosophischen Werke, die ich jemals gelesen habe. Es ist grotesk aus allen drei Gründen, die ich angeführt habe: Es tritt die Vielfalt mit Füßen, es wertet kontingente und abfällige Klischees auf, und es beraubt alternde Menschen ihrer Handlungsfähigkeit. Beauvoir hat darüber, wer ich bin, das Folgende zu sagen. (Sie gibt nicht genau an, über welches Alter sie spricht, aber die Analyse in Teil I scheint mit dem 65. Lebensjahr einzusetzen, dem Alter, in dem man traditionellerweise zum Eintritt in den Ruhestand gezwungen wurde.) Altern ist weder graduell noch fortschreitend: Es kommt in Form einer plötzlichen Erkenntnis. Der grundlegende Inhalt dieser „Überraschung“, „Metamorphose“ oder „Offenbarung“ ist, dass sich die Art und Weise, wie man früher von anderen erlebt wurde, eine Art und Weise, die Teil der eigenen subjektiven Identität geworden ist, plötzlich dramatisch zum Schlechteren verändert hat. Auf einer Ebene mag man sich innerlich noch jung fühlen, doch indem man plötzlich die Geringschätzung der Gesellschaft wahrnimmt, erlebt man eine dramatische subjektive Veränderung, da dieses Gesehenwerden auch ein Teil dessen darstellt, wer man subjektiv ist. Machen wir hier eine Pause. Woher stammt die Plötzlichkeit? Vielleicht denkt sie an eine erzwungene Pensionierung, die die soziale Bedeutung eines Menschen gewiss plötzlich verändern kann, doch dies ist ein rein zufälliges Phänomen, und wohl kaum eines, das uns das Wesen von irgendetwas erschließt. Und warum, so würde ich gerne wissen, sollte ich es einer französischen Philosophin, die sieben Jahre jünger ist, als ich es jetzt bin (69), erlauben, mir den Sinn meines Lebens als Philosophin im 21. Jahrhundert mitzuteilen? Ich erkenne meine eigenen Erfahrungen darin überhaupt nicht wieder, ebenso wenig wie die meiner Freunde in ähnlichem Alter. Dies liegt zum Teil daran, dass sich viele Dinge verändert haben, da wir ein besseres Verständnis von Gesundheit und Ernährung entwickeln. Doch es ist auch so, dass es schon immer eine große Mannigfaltigkeit gab. Beauvoir beansprucht eine wesentliche Einsicht, indem sie versucht, mich dazu zu bringen, zu sagen: „Oh je, so muss ich mich fühlen, ob es mir bewusst ist, oder nicht.“ Verzeihung: nein. Es tut mir leid, dass sie nicht glücklich ist,

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aber warum sagt sie nicht einfach: „Ich mache folgende traurige Erfahrungen?“ Was mich selbst betrifft, so fühle ich mich gesund und kräftig, und ich wurde wahrscheinlich nie mehr bewundert als jetzt, obwohl ich zugeben muss, dass mir nicht mehr so viel an der Ehrerbietung anderer liegt, wie mir nach Beauvoir daran liegen müsste. Richter Bradley würde sagen: „Aber Martha, Hillary und ein paar andere sind Ausnahmefälle, wir können Gesetze nicht auf Ausnahmen gründen.“ Es tut mir leid, ich lehne das vollkommen ab. Die meisten Menschen meines Alters, die ich kenne, sind kraftvoll und stehen mitten in sie umfassend beanspruchenden Lebensaktivitäten, seien es solche meiner Art oder nicht. Natürlich wurden einige von Krankheiten heimgesucht, aber das kann in jedem Alter passieren, wie Cicero zu Recht bemerkt. Beauvoirs Wesensbehauptungen verraten nicht nur eine irritierende Neigung der Franzosen, anderen Menschen zu sagen, worin die richtige Art und Weise besteht, dies oder jenes zu sein (eine Frau, ein Bürger).13 Sie haben ein tieferes Problem. Zufälligerweise entsprechen sie nur allzu gut bekannten abfälligen Klischees der Gesellschaft, und mittlerweile, da es jetzt genug alternde Menschen gibt, die diese Stereotypen in Frage stellen, beginnen wir sie als das zu erkennen, was sie sind. Geteilte Erfahrungen bestärken sich gegenseitig, und die Generation der Babyboomer hat sich schlicht geweigert, sich durch diese Fiktionen von gestern definieren zu lassen. Ich halte ihr Buch daher für noch schlimmer als nur grotesk: Ich sehe es als einen Akt der Zusammenarbeit mit sozialer Stigmatisierung und Ungerechtigkeit. Es ist, als ob ein Jude ein Buch schreiben würde, welches behauptet, das Wesen der Juden bestehe darin, dass sie das Leben als körperlich schwache, unheroische, zu Kreativität unfähige Wesen erleben, die lediglich zu niederträchtigen Intrigen, nicht aber zu tiefen Einsichten fähig sind. Doch halt: Das Buch wurde bereits geschrieben – von Otto Weininger! Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) war einst die Bibel der europäischen Intellektuellen, und die Tatsache, dass er selbst Jude war, veranlasste viele Menschen dazu, ihm zu glauben, als er ihnen das Wesen der Juden erklärte. Dennoch handelt es sich um ein Stück grotesker Propaganda. Man könnte sich auch ein Buch eines Afroamerikaners vorstellen, der sagt, Afroamerikaner erlebten sich selbst als im Wesentlichen gewalttätig, bereit zu vergewaltigen und zu töten. Nochmals halt: Auch dieses Buch wurde bereits, zumindest teilweise, geschrieben, und zwar in dem Abschnitt der Autobiographie des Richters Clarence Thomas, in dem er zugibt, dass er sich mit Richard Wrights gewalttätigem Helden Bigger Thomas identifiziert.14 Kurzum: Wir sollten Verallgemeinerungen nicht einfach deshalb glauben, weil ihr Autor zur stigmatisierten Gruppe gehört. Solche Beschreibungen können durch „adaptive Präferenzen“ oder sogar durch Selbsthass beeinträchtigt werden. Das dritte und größte Problem mit Beauvoirs behaupteten Einsichten in das Wesen des Alters ist ihr düsterer Fatalismus, der der alternden Person keinerlei Hand-

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lungsfähigkeit zugesteht. Das Alter kommt als eine Metamorphose. Es stößt einem einfach zu. Ciceros Gesprächspartner Cato ist viel scharfsinniger: Er sieht ein, dass man sich in gewisser Weise sein Schicksal schafft, durch die eigene Disziplin, regelmäßiges körperliches Training, Ernährung, Lesegewohnheiten, Gespräche und Freund­ schaften. Selbst der alternde Körper ist keine rein faktische Gegebenheit: Er umfasst vielmehr eine Reihe von Möglichkeiten, die man auf viele verschiedene Arten verwirklichen kann. Wenn Menschen älter werden, müssen sie möglicherweise regelmäßiger trainieren, um das gleiche Maß an Muskelfitness zu erhalten. Aber diese Idee, die bereits Cato hatte, unterscheidet sich völlig von Beauvoirs Vorstellung eines einheitlichen Schicksals, das jeder passiv erleidet. Natürlich kann man sich nicht unsterblich m ­ achen, aber man kann viel tun, um glücklicher, kräftiger und aktiver zu sein. Das Absprechen von Handlungsfähigkeit bringt möglicherweise eine eigenartige europäische Lebenseinstellung zum Ausdruck, ebenso wie meine Betonung von Arbeit und körperlichem Training sehr amerikanisch ist. Aber auch diese Beobachtung bezichtigt dieses die Wahrheit entstellende Buch der Lüge. Wenn sie einfach gesagt hätte: „Als Französin einer bestimmten Epoche wurde ich dazu erzogen, so und so zu denken“, könnte ich ihr kaum etwas vorwerfen – obwohl mir auffällt, dass selbst in Frankreich Frauen in meinem Alter nicht mehr eine solche Einstellung zu haben scheinen. Was mich betrifft, so bin ich froh, dass ich in einem Land lebe, in dem, wenn man mit einer Laufverletzung zu einem Physiotherapeuten geht, dieser einem nicht sagt: „Sie sind zu alt, um zu laufen“, sondern „Sie machen zu wenig Grundtraining, und wie wäre es mit einer Kräftigung der Fußgelenke?“ Trotzdem, hätte sie ihre Erfahrung einer ungerechten Hintergrundkultur zugeschrieben, hätte ich mich kaum beschweren können. Wenn sie hingegen vorgibt, mir zu sagen, wer ich bin und wie ich mein Leben wahrnehme, muss ich dem Beispiel jener Muslime folgen, die gegen Terrorakte protestiert haben, und antworten: „Nicht in meinem Namen.“ Beauvoir sieht einen schmalen Weg der Handlungsfähigkeit – jedoch nur für einige Menschen. „Es gibt nur eine Lösung, wenn das Alter keine lächerliche Parodie unserer früheren Existenz sein soll, und die besteht darin, weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn geben: die Hingabe an Individuen, an Gruppen, an gute Zwecke sowie an soziale, politische, intellektuelle oder kreative Arbeit“. Diese Beschreibung scheint es den meisten Menschen, ja allen, die nicht an einer schweren Demenz leiden, zu ermöglichen, einen Weg zur Ausübung ihrer Handlungsfähigkeit zu finden. Und sie fügt hinzu, dass eine Art, eine Zukunft zu haben, darin besteht, einen Beitrag für zukünftige Generationen zu leisten. In Das Alter gibt es jedoch bereits Hinweise darauf, dass sie diesen Ausweg nur als Möglichkeit für außergewöhnliche Menschen wie Künstler und Denker sieht. „Das Leben der Mehrzahl alter Menschen ist unfruchtbar, und sie verbringen es in Isolation, Wiederholung und Langeweile.“15

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Ihre Position wird in der Zeremonie des Abschieds noch klarer. Sartre vertritt die Position, dass Menschen durch jede Art von kooperativer Aktivität einen politischen oder sozialen Beitrag zu künftigen Generationen leisten können. (Er bestreitet, dass Künstler und Intellektuelle einen derartigen Beitrag leisten: Ihre Werke, so behauptet er, seien auf persönliche und nicht auf gesellschaftliche Ziele gerichtet.) Beauvoir besteht darauf, dass eine die Generationen überschreitende Zukunft nur für außergewöhnliche Persönlichkeiten wie Künstler und Intellektuelle möglich ist.16 Ich würde sagen, dass beide sich unverantwortlicher Verallgemeinerungen schuldig gemacht haben: Beauvoir durch die persönliche Bedeutung, die sie intellektueller Arbeit beimisst, Sartre dadurch, dass er politischem Handeln so verhaftet ist. Beide sind in ihrer abgehobenen Art des Bohémiens kurzsichtig. Keiner von beiden glaubt, dass die Unterstützung der Erziehung von Kindern und Enkelkindern ein sinnvoller Weg ist, etwas zur Welt beizutragen. (Sie lehnt die Idee brüsk ab, er erwähnt sie nicht einmal.) Und wie steht es um generationenübergreifende Freundschaften mit jüngeren Kollegen, mit Studenten, den Kindern und Enkeln anderer Menschen? Was ist mit der Sorge um den Planeten und nichtmenschliche Tiere? Was ist mit der Arbeit, die weniger außergewöhnliche Menschen regelmäßig in alle möglichen wertvollen Projekte, an die sie glauben, investieren: durch ehrenamtliche Arbeit und Fundraising während ihres Lebens oder in Form von Vermächtnissen nach ihrem Tod? In Kapitel 8 werde ich auf Altruismus eingehen, aber es scheint höchst seltsam, dass sie diese Fälle nicht berücksichtigen. Vielleicht schien es einfach zu kapitalistisch auf dem Sterbebett ein Gespräch über Geld zu führen. Was lernen wir aus diesen traurigen Texten, die den Lesern (ohne Anzeichen von Selbstzweifel oder Ironie) auf eine empörende Weise sagen, dass es unser Wesen ist, traurig zu sein? Und die dadurch so viele weniger hochbegabte Menschen beleidigen? Ich denke, ich würde sagen, dass wir Philosophen lernen, uns vor dem Schreiben, besonders über das Altern, die folgenden Worte ins Gedächtnis zu rufen: Erinnere dich, Philosoph, dass deine Erfahrung nur deine ist. Also lerne. Sei neugierig auf andere Menschen. Frage sie, wie sie das Leben erfahren, bevor du ihnen einen Vortrag darüber hältst, wie sie das Leben seinem Wesen nach erfahren müssen. Sei darauf vorbereitet, Sinnhaftigkeit in Lebensweisen zu erkennen, die anders sind als deine eigene. Respektiere Vielfalt. Und auch: Sei vorsichtig, damit deine eigenen Verallgemeinerungen nicht durch gesellschaftliche Vorurteile und Stigmatisierungen deformiert werden – einschließlich der Vorurteile der akademischen Subkultur gegenüber Nicht-Intellektuellen und Geldverdienern. Demut hilft. Ein Sinn für Humor ebenfalls. Hüte dich vor Philosophen, denen diese Eigenschaften fehlen, sogar – und insbesondere – dann, wenn sie dir sagen, dass

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sie wichtig genug sind, um dir zu sagen, wie du dich fühlen solltest. Ist das alles nicht König Lear allzu ähnlich, der seinen Töchtern vorschreibt, wie sie ihn zu lieben haben?

Güterverteilung, Enterben und die Kosten der Pflege seit Lear Saul Die Tragödie von König Lear setzt mit der Thematik des Alterns ein und geht dann bald zu den Themen Verteilen, Enterben und schließlich zum Thema der Reue über. Das eigene Vermögen anderen zu hinterlassen, kann durch Gefühle und Bedenken belastet sein und das noch stärker, wenn man sich entscheidet, seine materiellen Güter den Mitgliedern der Familie nicht anteilig weiterzugeben. Der Elternteil oder sonstige Wohltäter werden sich wahrscheinlich mit der Entscheidung und der Frage, wie sie ausgelegt werden wird, intensiv auseinandersetzen. Die Begünstigten, ob sie den Erbteil nun akzeptieren oder darüber verärgert sind, müssen mit den Konsequenzen leben. Dies sind wichtige Themen für alternde Menschen und insbesondere für solche Personen, die das Glück haben, Vermögenswerte verteilen oder empfangen zu können. Lear war weder der erste noch der letzte fiktive oder reale Mensch, der glaubte, dass Liebe, oder gar Liebesbezeugungen, Teil des Verteilungsschlüssels sein sollten. Er hat Reichtum und Macht zu verteilen, und das sind Vermögenswerte, die nicht leicht aufzuteilen sind. Außerdem hat Lear eine unverheiratete Tochter und zwei weitere, die mit machthungrigen Männern verheiratet sind. In der heutigen Zeit hat sich dieser Aspekt des Verteilungsproblems von Kindern in unterschiedlichen Familiensituationen hin zu einem bei Nachkommen in ungleichen wirtschaftlichen Verhältnissen verschoben, ganz zu schweigen von solchen in Patchworkfamilien. Manchmal bedingen sich diese Unterschiede gegenseitig, da unterschiedlich viele Enkel verschiedene wirtschaftliche Umstände zur Folge haben. Ein Großelternteil könnte etwa bei der Bezahlung von Studiengebühren helfen wollen, erwachsene Kinder könnten es jedoch als ungerecht empfinden, dass ein Geschwisterteil, das sich dafür entschieden hat, viele Kinder zu haben, den Großteil ihres potenziellen Erbes genießt. Anderen wiederum könnte missfallen, dass ein Vermögen zugunsten von Stiefenkelkindern, die in Geldübertragungen oder Vermächtnisse mit aufgenommen wurden, in allzu kleine Teile zerlegt wird. Dasselbe gilt für die Berufswahl sowie für Entscheidungen über Anteile an einem Familienunternehmen und Möglichkeiten, darin Arbeit zu finden. Wenn wirtschaftliche Umstände mehr auf Entscheidungen als auf Zufälle zurückgeführt werden, gibt es oft ernsthafte Reibereien, ähnlich wie Lear und seine Familie auf den Kopf gestellt wurden, nachdem er die wirtschaftlichen Umstände seiner Töch-

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ter von ihren Antworten auf seine Forderung abhängig gemacht hat, ihm ihre Liebe zu bezeugen. Im Gegensatz zu Lear gehen die meisten von uns an Entscheidungen über Verteilungen innerhalb der Familie mit einer Denkweise heran, bei der wir um Gleichbehandlung bemüht sind. Die moderne Überzeugung – im Anschluss an Lear –, dass man seine Kinder gleichermaßen lieben und bei der Verteilung materieller Güter keine Bevorzugungen vornehmen sollte, steht häufig mit festen Überzeugungen hinsichtlich der Konsequenzen einer Gleichbehandlung und in Bezug auf individuelle Bedürfnisse in Konflikt. Bei besonders wohlhabenden Personen kann sich diese Spannung durch die Möglichkeit oder Alternative, philanthropisch tätig zu werden, noch verstärken. Wir könnten unsere eigene Verantwortung für Projekte außerhalb der Familie, die unsere Unterstützung verdienen, als vergleichbar mit den Verpflichtungen Lears gegenüber seinen Landsleuten ansehen. Man kann Lear vorwerfen, das Wohl seiner Untertanen nicht berücksichtigt zu haben. Zumindest auf den ersten Blick denkt er nicht daran, welches seiner Kinder am besten regieren oder wie eine Teilung seines Reiches auf die eine oder andere Art politische Stabilität oder Wohlstand begünstigen würde.17 Die meisten von uns können ihre Sache viel besser machen. In den Mittelpunkt stellt Shakes­ peare Lears Eitelkeit und seine Unfähigkeit, sich selbst, Liebe innerhalb der Familie und seine eigene Zukunft nach dem Rückzug in den Ruhestand zu verstehen. Dies sind wichtige Dinge, die wir alle berücksichtigen sollten – wenn es auch nicht die einzigen Dinge sind. Die Vorsorge für den eigenen Nachlass ist ein wichtiges Thema für ein Buch über das Altern, ebenso wie für einen Aufsatz über König Lear, aber es ist nicht das Thema, mit dem man beginnen sollte. Ein besserer Ausgangspunkt ist Martha Nussbaums­ Essay über die Verletzlichkeit von Lear. Ich frage mich, welchen Rat Martha Lear erteilt hätte. Woher wissen wir, ob wir bereit sind für den Eintritt in den Ruhestand und für die Realität des Angewiesenseins auf andere? Und wenn wir spüren, dass wir auf körperliche Schwäche nicht wirklich vorbereitet sind, was können wir dagegen tun? Menschen im Ruhestand wird oft geraten, dass sie sich neuen Herausforderungen stellen sollen, und tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass diejenigen, die weiterhin Neues lernen und ausprobieren, dabei glücklich werden. „Triumphe der Erfahrung“ sind den Klagen über die verlorene Jugend sicherlich überlegen – und bereiten mehr Freude.18 Wir wissen auch, dass es für alternde Personen – und für das Gesundheitssystem – besser ist, wenn eine Person durch die Art ihrer Betreuung nicht zu einem Kind gemacht wird, sondern wenn Kontrolle und Entscheidungen, wann immer es möglich ist, in den Händen des einzelnen Menschen bleiben. Lear ließ sich wenig Handlungs­ spielraum, als er auf seiner Suche nach Respekt von Tochter zu Tochter irrte. Sterblich

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zu sein, wie wir es alle sind, verlangt nach Gesprächen über Erwartungen und Verantwortlichkeiten, und die Tragödie von Lear mahnt uns, vorauszudenken. In mehrfacher Hinsicht ist Lear ein zu einfaches warnendes Beispiel. Bei der Verteilung von Vermögenswerten scheint es offensichtlich, dass man sie nicht proportional zu Liebesbekundungen abgeben sollte. Jeder Theaterbesucher kann sofort sehen, dass die Herausforderung oder der Liebestest, den Lear verlangt, einen Fehler darstellt. Vielleicht sollen wir erkennen, dass Lears Dummheit sich von anderen Eitelkeiten, die unsere Entscheidungen beeinflussen könnten, nicht so sehr unterscheidet. Wir wissen zum Beispiel, dass wir möchten, dass sich wohltätige Organisationen für unsere Geschenke bedanken; doch es wäre töricht, zu denen am großzügigsten zu sein, die uns am überschwänglichsten danken. Lears Eitelkeit ist verwirrend; selbst wenn er die Antworten seiner Töchter durchschauen könnte, ist es mit Sicherheit unklug, dass er seine Vermögenswerte nach der realen Größe ihrer Liebe zu ihm aufteilt. Man stelle sich, statt des tatsächlichen Anfangs des Stückes, eine Eröffnungsszene vor, in der Lear mit anhört, wie seine Töchter über ihre Gefühle reden, wobei er darauf vertraut, dass die Szene nicht eigens inszeniert wurde, um ihn zu täuschen. Er könnte verständlicherweise verletzt sein, wenn eine Tochter, Cordelia, Gleichgültigkeit ihm gegenüber oder Ungewissheit über ihre künftige Beziehung zum Ausdruck brächte. In der ersten Szene des ersten Aktes schmeicheln Cordelias niederträchtige Schwestern, Goneril und Regan, ihrem Vater, während Cordelia sich Lears Forderung, ihm ihre Liebe zu bezeugen, widersetzt und sagt, dass sie ihren Vater, den König, liebe wie es ihrer „Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder“.19 Sie fährt fort, indem sie Liebe als begrenzt darstellt und sagt: „Würd’ ich je vermählt, so folgt dem Mann, der meinen Schwur empfing, halb meine Treu’, halb meine Lieb’ und Pflicht.“ Man stelle sich vor, sie hätte, im Einklang mit ihrem Charakter, gesagt: Ich weiß nicht, ein wie guter Vater er war, Da ich keinen and’ren hatte. Ich kann mein Herz nicht auf meine Lippen heben. Ich liebe ihn, wie es meine Pflicht ist, Und selbst das zu sagen mag nur schlüpfrig glatte Kunst sein. Würd’ ich je vermählt, so folgt’ halb meine Liebe meinem neuen Herrn, Der gegen früh’re Zusagen von Pflicht und Fürsorg’ Einwände erheben könnt’. Die meisten dieser Zeilen spricht Cordelia so nicht aus; sie sind eine modifizierte und verdrehte Version der Worte, die Shakespeare sie sagen lässt. Hätte sie diese kühlen, rationalistischen Gedanken zum Ausdruck gebracht, wäre Lear vielleicht vor Wut zerplatzt und hätte erst dann beschlossen, sie zu enterben und seinen Besitz und sein

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Königreich den anderen zu geben. Er hätte Zusagen künftiger Liebe und Unterstützung – auch wenn dies bloße Versprechungen sind – wohl Cordelias vernünftigem Zögern vorgezogen. Wenn Shakespeare Lear mit diesem alternativen Anfang auf den Weg und sodann in die Wildnis geschickt hätte, wäre Lear etwas weniger töricht erschienen, denn er hätte auf solidere Beweise von Zuneigung reagiert, statt auf das, was Cordelia bloße „schlüpfrig glatte Kunst“ nennt. Seine Enterbung von Cordelia wäre dennoch nicht weniger eitel gewesen. Es wäre offensichtlicher gewesen, dass Lears Pflicht darin bestand, sein Königreich in gute Hände zu übergeben, damit seine Untertanen nicht Hunger und Krieg ausgesetzt sein würden. Und was wäre, wenn er, bevor er den Thron aufgab, die Pläne seiner Töchter für seinen Ruhestand eingeholt oder belauscht hätte? Vielleicht hätte eine von ihnen eine große Gefolgschaft von Rittern und eine gemeinsame Herrschaft versprochen, während sich eine andere aufrichtig vorstellte, viel Zeit miteinander zu verbringen, selbst als Cordelia unentschlossen oder unverbindlich blieb. Ein Teil dieser Ungewissheit bleibt uns in unserem eigenen Ruhestand erspart, weil wir über stabile Institutionen und Anwälte verfügen, an die wir uns wenden können. Wir können einen Vertrag über einen Platz in einer Seniorengemeinschaft abschließen oder unser Vermögen verwalten, ohne dass Menschen eingreifen, denen wir nicht voll vertrauen. Aber es gibt eine Grenze für diese Eigenständigkeit, ob es uns gefällt oder nicht: Sofern wir nach Anzeichen dafür suchen, wie man uns, wenn wir wahrscheinlich pflegebedürftig sein werden, behandeln wird, ähneln wir alle Lear. Es ist sehr bedauerlich, dass Shakespeare uns nahelegt, eher für Lear als für Cordelia Mitgefühl zu haben. Sie ist ein ehrlicher Mensch, und im vierten Akt kehrt sie sogar zurück, um sich um ihren Vater zu kümmern. Es ist zu spät; sie muss dies büßen und wird getötet. Lear führt sein eigenes Unglück herbei und verschlechtert seine Beziehung zu seinen Untertanen, deren Wohlergehen, wie ich nochmals betonen möchte, bei seinem Rückzug in den Ruhestand und seiner Nachfolgeplanung keine Rolle spielte. Hätte Lear sein Königreich zu gleichen Teilen aufgeteilt und gesagt, er wolle sich zurückziehen und die Kontrolle abgeben, weil er wisse, dass es – statt erfreulich – qualvoll werden könnte, seine Töchter regieren zu sehen, dann könnten wir vielleicht Mitgefühl für ihn aufbringen, während sie gegeneinander kämpfen und die Stabilität ihrer Länder gefährden. Vielleicht bestünde die tragische Lehre von Lear dann einfach darin, dass wir, wenn wir uns in den Ruhestand zurückziehen, gezwungen sind, die Leistungen derer zu beobachten, die uns nachfolgen. Manche Menschen würden darüber vielleicht lieber nichts wissen. Andererseits hätte Lear auch beschließen können, das Königreich ungeteilt zu belassen und einen Alleinerben zu finden. Shakespeare ließ Lear wahrscheinlich Töchter statt Söhne haben, da die Zuschauer bei Männern erwartet haben würden, dass ein

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einzelner männlicher Erbe, wahrscheinlich der älteste, als Thronfolger ausgewählt worden wäre. Lear hätte vielleicht mit der Beteiligung fremder Mächte und der Bildung von Bündnissen gerechnet, aber das Publikum würde an ein vereintes statt ein geteiltes England gedacht haben. In der uns vorliegenden Form ignoriert oder umgeht das Stück die Regeln der Thronfolge. Zur Zeit Shakespeares hätte das Publikum die Thronfolge wahrscheinlich als ein Märchen betrachtet oder als völlig jenseits seiner eigenen Alltagserfahrung. Ein moderner Leser kann sich Lears Entscheidung jedoch als eine vorstellen, der wir uns alle stellen müssen, auch wenn wir kein Königreich zu übergeben haben. Das Erbrecht lehnte sich eine Zeit lang an die Regeln der Thronfolge an, doch der moderne Leser erwartet, dass ein Königreich als Ganzes erhalten bleibt, auch wenn die meisten von uns nicht vorhaben, ihren Nachlass ungeteilt einem einzelnen Erben zu übergeben. Es ist schon ein wenig rätselhaft, warum Lear es eilig hatte sein Königreich aufzuteilen, als Cordelia – die angeblich sein Lieblingskind ist – noch nicht verheiratet war. Vielleicht dachte er, dass sein Zuneigungstest die Liebe Cordelias ans Licht bringen und es ihm leichter machen würde, ihr den größten Anteil zu übergeben. Der moderne Leser könnte die Situation provokant finden, wenn ein Kind Lear am meisten liebte, während ein anderes zum Regieren fähiger wäre. Lears Blindheit jedoch macht die Geschichte zu einer Warnung vor der Verwundbarkeit älterer Menschen statt zu einem Lehrstück über die Strategie und Moral von Vermächtnissen. Es gibt Gründe, Königreiche und sogar Familienunternehmen intakt zu halten, doch die Geschichte ist voller Beispiele für verwerfliches und sogar mörderisches Verhalten, das sich – ungeachtet der geplanten Nachfolge – im Schatten von Plänen zur Weitergabe von Vermächtnissen zutrug. Das Erstgeburtsrecht hat zu Morden geführt, und mit der britischen Geschichte und Literatur vertraute Zuschauer neigen zu der Ansicht, dass das Erstgeburtsrecht dem Erstgeborenen oder nächsten Thronfolger eine Zielscheibe auf den Rücken heftet. Aber es ist schwer, dieses Problem zu vermeiden; selbst ein System mit gleicher Aufteilung kann dazu führen, dass Begünstigte Mitbewerber aus dem Weg räumen. Jedes Prinzip schafft gefährliche Anreize. In einigen Systemen ist die Übergabe des Throns mit einem Element des Ermessens verbunden; der Souverän könnte unter seinen Kindern eine Wahl treffen, oder eine Gruppe von hochrangigen Ältesten wird damit beauftragt, den nächsten Herrscher zu wählen. Ein Verdacht auf unehrliches Verhalten könnte die Auswahlchancen verringern. Vielleicht entstehen diese Systeme also, weil sie die Mordrate verringern. Andererseits ist ständige Konkurrenz zwischen potenziellen Erben möglicherweise von Nachteil und kann zur Folge haben, dass die letztendlichen Verlierer in diesem Prozess sich der Ausbildung, die für die Nachfolge erforderlich ist, vergeblich unterzogen haben. König Lear mahnt uns, dass die Gefahr von schlechtem Verhalten nicht endet, wenn der Herrscher die Nachfolge plant. Geteilt oder nicht: Ein Königreich oder ein

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Geschäft kann schlicht zum Schlachtfeld für nachfolgende Auseinandersetzungen unter den Erben werden. Und wenn es geteilt ist, hat jeder Plan seine Gefahren. Drei ist eine gefährliche Zahl, wie viele Kinder wissen; zwei können sich gegen einen zusammenschließen, und aus verschiedenen Gründen ist drei eine instabile Zahl. Ein Land oder Geschäft in zwei Teile zu zerlegen, kann jedoch auch zu Instabilität und Streit führen. Lears Eitelkeit kam ihn teuer zu stehen, aber es hätte ebenso schlimm ausgehen können, wenn er allein der besten Schmeichlerin ein ungeteiltes Königreich hinterlassen hätte oder wenn es, entsprechend der Liebesbezeugungen, dreigeteilt worden wäre. Lears Problem beginnt lange bevor er seine Vermächtnisse macht. Seine beiden älteren Töchter sind jetzt unwiederbringlich verdorben, und vielleicht leidet Lear, weil er sie nicht sorgfältig erzogen und ausgebildet hat. Andererseits ist das Problem mög­ licherweise älter als Lear. Seine Vorfahren hätten ein Modell vorgeben müssen, dass ihre Nachfahren nicht ohne Weiteres hätten umstoßen können. Manche Gesellschaften entwickeln ausgeprägte Erwartungen bezüglich der demokratischen Nachfolge oder irgendein Erbfolgemuster, das es einem aus der Rolle fallenden und enttäuschten Anwärter schwer macht, größeren Schaden anzurichten. Hätten die Adligen und das gemeine Volk eine friedliche Nachfolge mit einem leicht auszumachenden Erben erwartet, so wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass auf das Abtreten von Lear eine Zeit der Instabilität folgte. Stabilität kann das Ergebnis vieler verschiedener Nachfolgepläne sein; aber es ist bemerkenswert, dass ein Plan oder eine Tradition erforderlich zu sein scheint, um ein Königreich intakt zu halten. Ein Königreich zu teilen, um jedem der Nachkommen des Herrschers gleiche Anteile zu geben, ist keine nachhaltige Strategie. Ein interessantes Kennzeichen der Moderne und des Aufkommens der Kaufmannsschicht ist die Abspaltung der Erbkonventionen, denen die Bevölkerung folgt, von denen, die auf den Sitz der Macht angewendet werden. Ich kann mein Eigentum zu gleichen Teilen meinen Kindern vererben, und eines Tages können sie dasselbe für ihre Kinder tun, und auf lange Sicht könnte dies eine stabile Vorgehensweise sein. Bei den meisten Monarchen ist das nicht der Fall und könnte bis etwa ins 17. Jahrhundert hinein auch bei irgendeiner begüterten Person nicht der Fall gewesen sein. Die königliche Thronfolge mag in den Zeiten zwischen Shakespeare und uns ein Modell für einige wohlhabende Familien gewesen sein, doch es kommt uns nicht mehr in den Sinn, dass die Machtübergabe in Washington, im Buckingham Palace oder in Riad irgendetwas mit dem Prinzip zu tun haben sollte, das wir befolgen, wenn wir Vermögenswerte innerhalb unserer eigenen Familien übertragen. Trotzdem können wir in Lear ein Lehrstück über die Liebe und das Hinterlassen von Vermögenswerten finden. Wenn Lear erwartet hatte, Cordelia den Thron zu überlassen, dann hätte er, nachdem sie ihn in Wut versetzt hatte, zwischen den beiden anderen wählen sollen, basie-

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rend auf ihrer Eignung als Herrscherinnen, oder – auf egoistischere Weise – nach der Glaubwürdigkeit ihrer Zusage, hingebungsvoll für ihn zu sorgen. Eine Interpretation, die Lear schmeichelt, ist die, dass er sich in den Ruhestand zurückziehen und den Thron übertragen wollte, solange er noch bei vollem Verstand war, jedoch durch die Tatsache, dass Cordelias noch unverheiratet war, daran gehindert wurde. Eine andere Version ist, dass Lear an einer Koalition souveräner Mächte arbeitete, einschließlich seiner Töchter und ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Gatten. Wir wissen nicht, ob nur Cordelia als Herrscherin akzeptabel gewesen wäre, und es ist plausibel, dass die Zuschauer gedacht haben, ein respekteinflößendes Paar sei erforderlich gewesen, um die ehrgeizigen Schwestern und deren Ehepartner beherrschen und abwehren zu können. Wir wollen nun Lears Präferenz, seine Güter im Verhältnis zur Liebe ihm gegenüber zu verteilen, von seiner Strategie trennen, sich auf Liebesbezeugungen zu verlassen. Letzteres enthüllt seine Eitelkeit und bedeutet einen tragischen Fehler. Aber wenn wir uns Lear als praktisch und nicht als eitel vorstellen, so stellen wir fest, dass Lear mit einer Entscheidung konfrontiert ist, die derjenigen, die viele wohlhabende, nicht-­ fiktionale Menschen unserer Zeit nicht loslässt, nicht unähnlich ist. Mögen wir auch keine Königreiche zu übertragen haben: Viele von uns verstehen dennoch, dass wir, sofern wir Vermögenswerte hinterlassen können, die Möglichkeit haben, diejenigen zu kontrollieren, die uns wahrscheinlich überleben werden – oder dass die Gefahr besteht, dass wir dies tun. Lear weiß, wie die meisten von uns, Dankbarkeit zu schätzen. Es gibt eine einfache und egozentrische Form dieser Einstellung, aber auch eine ebenso nachvollziehbare, weniger egoistische Sichtweise. Wenige von uns möchten Empfängern, die undankbar, manipulativ oder unfähig sind zu erkennen, dass ihr Glück in der Regel dadurch möglich wurde, dass manche Opfer gebracht wurden, größere Geschenke machen. Diese Tendenz ähnelt der Überzeugung eines Arbeitgebers, dass eine Bewerberin, die nach einem Vorstellungsgespräch „Danke“ sagt, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine gute Mitarbeiterin sein wird als eine, die dies nicht tut, und die das Vorstellungsgespräch einfach als einen Informationsaustausch betrachtet oder mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit von Nutzen für den Arbeitgeber wie für sie selbst. Auf ähnliche Weise könnte ein Wohltäter dankbare Empfänger nicht deshalb bevorzugen, weil er eitel ist, sondern weil man Dankbarkeit mit einem guten Charakter in Verbindung bringt. Ein Wohltäter wünscht vielleicht auch, dass man sich nach seinem Tod an ihn erinnert, und dieser Wunsch kann auch das gesellschaftliche Wohl fördern. Es mag vielleicht nicht völlig rational oder mit der Idee des Todes als eines Endpunkts philosophisch unvereinbar sein, zahlreiche Menschen haben jedoch trotzdem den

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Wunsch, in Erinnerung zu bleiben, der stärker wird, je näher der Tod rückt. Professionelle Fundraiser wissen, dass viele wohlhabende Menschen ihre Namen mit Gebäuden oder anderen dauerhaften Projekten verbinden möchten. Häufig ist ein Spender schon damit zufrieden, wenn sein oder ihr Name für etwa fünfzig Jahre mit etwas in Verbindung gebracht wird – lang genug, um seinen oder ihren Kindern und Enkelkindern Gelegenheiten zu geben, sich an ihren Vorfahren zu erinnern. Die meisten von uns versuchen nicht, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn unsere Ururenkel oder andere Menschen, die wir nie getroffen haben, sich an uns „erinnern“. Der menschliche Drang mag hier weniger auf Unsterblichkeit oder evolutionäres Überleben abzielen, als vielmehr darauf, Bekannten oder Menschen, die man sich leicht vorstellen kann, in Erinnerung zu bleiben; oder Einfluss auf sie auszuüben. Anders ausgedrückt könnte die scheinbare Eitelkeit oder Verwundbarkeit, die man beobachtet, als eine Strategie verstanden werden, andere zu guten Taten anzuspornen. Über den Wunsch, in Erinnerung zu bleiben und den Hang, zu versuchen auf die Zukunft Einfluss zu nehmen, gibt es noch mehr zu sagen, doch ich verschiebe diese Themen ebenso wie die Gepflogenheit, Kinder gleich zu behandeln, auf Kapitel 8, wo ich sowohl philosophische Argumente als auch Anreize und Motive hierfür untersuchen werde. Im Augenblick reicht es zu erkennen, dass die Dankbarkeit von Begünstigten eine wesentliche Rolle bei den Verteilungsentscheidungen der Wohltäter spielen könnte. Dankbarkeit kann an die Stelle von Vertrauenswürdigkeit treten, wie ich im Fall eines Arbeitgebers angemerkt habe, der von den Bewerbern auf eine Stelle gern Dankesbekundungen hört, es könnte allerdings auch andere Erklärungen für die Präferenz des Arbeitgebers geben. Vielleicht sind Leute, die sich bedanken, gut erzogen und neigen dann auch dazu, ordentlich zu sein, unnötige Konfrontationen zu vermeiden oder selbstsicher aufzutreten. Eine Vorliebe für Dankbarkeit kann mit der Suche nach Zuverlässigkeit verbunden sein. Lear muss die Kontrolle aufgeben, aber er wünscht sich auch etwas Respekt und Fürsorge. Er hofft, ein Gefolge von Rittern zu haben, und sicher auch, dass er ein Dach über dem Kopf und eine Küche haben wird, in der er und sein Gefolge bekocht werden. Wie soll er, in Zeiten vor Ruhestandsgemeinschaften, ganz zu schweigen von individuellen Ruhestandskonten, dieses Ziel erreichen? Manche Eltern denken vielleicht, dass sie, wenn ihre Kinder ewige Zuneigung bekunden und öffentliche Versprechen abgeben, in ihren alten und verletzlichen Jahren sicher sein werden. Selbst wenn ein Kind dazu neigte, sein Wort zu brechen oder das dazu erforderliche Opfer schlichtweg zu unterschätzen, wird es das Versprechen aufgrund des Drucks von Familie und Gemeinschaft halten. Andere potenzielle Betreuungspersonen (und Empfänger von Vermögenswerten) könnten bei einem heiligen Gegenstand schwören oder auf eine andere Weise versuchen, das Versprechen glaubwürdig

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erscheinen zu lassen, um von der alternden Person Gefälligkeiten oder Vermögenswerte zu bekommen oder einfach nur ihre Ängste zu beschwichtigen. Interessant ist, dass keine von Lears Töchtern zur Steigerung des Werts ihrer Liebesbekundung das Übernatürliche beschwört. Mit einem gewissen finanziellen Aufwand kann ein Elternteil einen Treuhandvertrag oder ein anderes Dokument aufsetzen, welches ein Kind belohnt, das für den­ alternden Elternteil sorgt. Ich werde dies weiterhin als eine Eltern-Kind-Angelegenheit beschreiben, jedoch ist die Angst natürlich noch größer, wenn die alternde Person keine Kinder hat oder keines von ihnen in der Lage ist, für sie zu sorgen. In derartigen Situationen können explizite Angebote und Versprechen sogar noch wichtiger sein, weil es weniger offensichtlich ist, welche entfernten Verwandten die Pflege übernehmen sollten, und weil es wahrscheinlicher ist, dass niemand sich schämen muss, wenn die alternde Person gebrechlich, einsam und verlassen ist. Übernimmt jedoch ein Familienmitglied die vertragliche Regelung der Pflege, so kann dies noch schwieriger sein, als es herzlos ist. Neben anderen Gründen wird es häufig der Fall sein, dass letztlich irgendjemand über die zu leistende Pflege subjektiv entscheiden muss. Wenn ein Elternteil in das Haus oder die Wohnung eines Kindes einzieht, kann er oder sie für angemessene Mietzahlungen sorgen und dies möglicherweise auf eine Weise tun, die andere Kinder, die an Gleichbehandlung gewöhnt sind, oder die glauben könnten, dass der aufnehmende Geschwisterteil die Eltern ungünstig beeinflusst, nicht verärgert. Es gibt konkrete und gesetzliche Institutionen, die Lear sich noch nicht vorstellen konnte, die wir aber einschalten können. Ein angenehmer Aspekt dieser Instrumente besteht darin, dass ihre Verwendung die jüngere Generation nicht beleidigt. Zumindest sollte es einfach sein, ein zuverlässiges Familienmitglied, einen Freund oder einen amtlichen Treuhänder damit zu beauftragen, ein bestimmtes Vermögen zu verwalten, um Familienmitgliedern die Ausgaben zu erstatten, die sie im Interesse der alternden Person tätigen. Zur sicheren Version dieses Plans gehört die Verwendung einer Versorgungsrente, das heißt eines Finanzinstruments, das dem Rentenempfänger zu seinen Lebzeiten ein Einkommen zahlt. Renten werden manchmal als das ­Gegenteil von Lebensversicherungen beschrieben, weil sie einen gegen das „Risiko“ eines langen Lebens versichern. Ich kann in eine Versorgungsrente investieren und die jährlichen Zahlungen mir selbst überweisen lassen, aber bestimmen, dass sie an ein Mitglied meiner Familie oder an eine andere Person gehen sollen, sobald ich nicht mehr in der Lage bin, meine Angelegenheiten eigenständig zu regeln, oder ab einem bestimmten Alter. Ich kann ausdrücklich festlegen, dass die jährlichen Zahlungen für meine Unkosten zu verwenden sind. Die Zahlungen werden Zeit meines Lebens fortgesetzt und die Versorgungsrente wird, bei gleicher Anfangsinvestition, umso größere jährliche Zahlungen leisten, je kürzer meine Lebenserwartung zum

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Kaufzeitpunkt ist. Versorgungsrenten können lange im Voraus gekauft werden, mit späteren Startterminen, sodass sie eine relativ günstige Absicherung gegen die mit einer sehr langen Lebensdauer verbundenen Kosten darstellen. Aus praktischen Gründen ist es dabei äußerst wichtig, sich für einen Rentenanbieter mit sehr niedrigen Gebühren zu entscheiden, seien diese nun versteckt beziehungsweise tief im Vertrag verborgen. Mit ein wenig Aufwand kann man – wenn man es lange vor einer Beeinträchtigung des Urteilsvermögens oder des finanziellen Scharfsinns erledigt – kostengünstige Anbieter finden, ohne dass man Finanzberatern oder Maklern, die als (gut bezahlte) Vermittler fungieren, Gebühren dafür zahlen muss. Manchmal ist mehr erforderlich, wenn wir hoffen, die für uns durchgeführte Pflege garantieren zu können, statt lediglich ihre Kosten erstattet zu bekommen. Wie Lear finden auch wir die Aufmerksamkeit, die wir von anderen zu bekommen hoffen, erfreulicher, wenn wir glauben, dass sie uns aus Liebe – oder zumindest aus Sympathie und Pflichtbewusstsein – geschenkt wird. Einige Leute haben keinen Zweifel daran, dass ihnen solche Fürsorge zuteilwerden wird. Jede Generation gibt ihren Kindern eine felsenfeste Unterstützung, und wenn die Empfänger dieser Hilfe älter werden, scheint es nur angemessen, dass sich diejenigen um sie kümmern sollten, die sie in die Welt gebracht und unterstützt haben. Familien können jedoch zerrüttet, übermäßig berechnend oder aber streitsüchtig sein. Kindern kann sich ihr eigenes Elternhaus in der Erinnerung verzerrt darstellen, manchmal von einem Ehepartner gefördert, der oder die sich von seinen bzw. ihren Schwiegereltern nicht akzeptiert fühlt. Wir sind oft nicht sicher, ob unsere Familien sich so weiterentwickeln werden, wie wir es uns wünschen. Aus diesem Grund greifen viele Menschen auf eine Methode zurück, die weit verbreitet und der Prüfung wert ist. Sie halten Geld zurück: Entweder, indem sie das Verfassen eines Testaments aufschieben; indem sie damit drohen, ein Testaments zu ändern; oder aber indem sie einfach die einzelnen Verfügungen des Testaments geheim halten. Andererseits kann eine wohlhabende Person klarstellen, dass sie im Verlauf ihres Alters großzügige Geschenke verteilen wird, die ihr Vermögen erschöpfen werden, und dass sie durch das Testament, das sie verfasst hat, nur wenig hinterlassen wird. Ob es absichtlich geschieht oder nicht: Menschen schieben die Aufteilung ihrer Vermögenswerte auf, um Verhalten zu motivieren, das sie explizit nicht beeinflussen wollen – oder können. Im Gegenzug sorgen potenziell Begünstigte für wohlhabende Einzelpersonen, und nach meiner Erfahrung tun sie dies manchmal bis zu dem Punkt, dass sie jedem ihrer Wünsche entgegenkommen, während diese potenziellen Wohltäter älter werden. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Konvention, „Verteilungsentscheidungen aufzuschieben“, attraktiv oder effektiv ist. Wenn es Kinder dazu bewegt, sich ihren

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Eltern gegenüber freundlich zu verhalten – so lautet das Argument –, was ist dann so schlimm an der Vorstellung, dass Kinder durch eine Kombination aus Zuneigung, Dankbarkeit und finanziellem Eigennutz motiviert sein könnten? Doch es gibt hier gleich mehrere Probleme. Erstens wird das Alter von Eltern (oder eines anderen Wohltäters) unnötig von Stress oder Zynismus erfüllt; sowohl Eltern als auch Kinder sind ständig damit beschäftigt, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, statt einfach sie selbst zu sein. Jeder Besuch und jede Freundlichkeit werden durch den Gedanken beeinträchtigt, dass es statt um Liebe letztlich um Geld geht. Jemandem jeden seiner Wünsche von den Augen abzulesen und ihm Gründe für die Vermutung zu liefern, man habe es auf sein Vermögen abgesehen, kann seltsam eng miteinander verbunden sein. Da gibt es den ständigen Wunsch, Zuneigung möge die bloße Pflicht überwiegen, aber der zurückhaltende Verteiler seines Vermögens muss sich auch fragen, ob die Strategie des verzögerten Verteilens wirklich gut funktioniert. Jeder introspektive oder skeptische Mensch, der sich einmal in der Rolle eines Vorgesetzten befand, kennt dieses Gefühl. Mitarbeiter haben allen Grund, sehr entgegenkommend zu sein; ihre guten Wünsche und freundlichen Hinweise sind weniger wertvoll als diejenigen, die von anderen Personen ausgesprochen oder gegeben werden. Auch ein wohlhabender, alternder Mensch bringt sich in eine ähnliche Situation, wenn er gutes Verhalten belohnt. Manche Menschen würden Wissen Trost vorziehen, andere möchten Dinge lieber nicht wissen. Vielleicht war es für Lear besser, selbst zu sehen, wie seine Töchter ihn behandelten, sobald er nichts mehr besaß, was er ihnen hätte geben können. Die meisten von uns wünschen keine Erkenntnis der Wahrheit um diesen Preis. Ein weiteres Problem, dem man begegnet, wenn man Verteilungsentscheidungen aufschiebt, um die Pflege sicherzustellen, besteht darin, dass sich Zuneigung nur schwer genau vergüten lässt. Es ist wahrscheinlich, dass die Wohltäter die Freundlichkeiten und Kränkungen aus jüngster Zeit überbewerten oder sich nur an diese erinnern, sodass Übertragungen von Vermögen kein genaues System der Bezahlung für Pflege und Zuneigung darstellen. Wenn ich meinen Verteilungsplan bis zu meinem Tod jährlich revidiere, ist es wahrscheinlich, dass ich in der letzten Revision zu viel Gewicht auf meine jüngsten Erfahrungen legen werde. Eine kleine Kränkung, die ich im letzten Lebensjahr erfahren habe, könnte dazu führen, dass ich jemanden, der für viele Jahre davor ein liebevoller Betreuer war – oder einfach ein vernünftiges und eigenständiges Kind – deshalb benachteilige. Die Gefahr wird dadurch noch vergrößert, dass meine Fähigkeit, Signale wahrzunehmen oder kurz- und langfristige Erinnerungen zu koordinieren, wie ich es fast das ganze Leben lang getan habe, wahrscheinlich abnehmen wird. Es ist wahrscheinlich, dass wir im Laufe des Alters unsere Fähigkeit verlieren werden, diese komplexen Emotionen und Reaktionen zu kontrollieren. Andererseits könnten diejenigen, die wir anspornen möchten, in ihren

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Bemühungen nachlassen oder den Glauben an das Belohnungssystem verlieren; und wenn das Zurückhalten von Erbanteilen überhaupt einen Sinn haben soll, müssen potenziell Begünstigte davon überzeugt sein, dass sie für ihre Bemühungen belohnt werden. Möglicherweise werden sie sehr bemüht sein, sich als gefällig zu erweisen, da sie jedes Jahr als das möglicherweise letzte Jahr der Pflege ansehen werden. Aber es ist ebenso wahrscheinlich, dass sie auf Distanz gehen werden, um dem potenziellen Wohltäter nicht zu nahe zu treten. Sie könnten davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der sein Erbe Aufteilende in einem bestimmten Jahr verstirbt, gering und es daher sinnvoll ist, zu warten, bis der Tod in ein oder zwei Jahren eintreten wird. Zu diesem Zeitpunkt wird die strategisch denkende Person auf den Plan treten und so liebevoll und hilfsbereit wie möglich sein – während sie riskiert, zu bemüht zu wirken und so Verdacht zu erregen. Ich habe mitbekommen, dass einige sehr wohlhabende Menschen das Leben von Familien auf diese Weise beschrieben haben, und insofern das von ihnen beschriebene Verhalten nicht irrational ist, lohnt es sich, darüber nachzudenken. Eine sehr reiche Wohltäterin könnte einen Teil dieser Schwierigkeiten durch regelmäßige Geschenke umgehen. Wenn sie beispielsweise bereit ist, ungleiche Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke zu machen, kann gutes Verhalten belohnt werden und dennoch genug übrig bleiben, um auch das Verhalten in späteren Jahren noch zu belohnen. Doch lässt sich dies nur schwer umsetzen, und es besteht die Gefahr, sich die Begünstigten zu entfremden, die ansonsten für Pflege und Zuneigung sorgen würden. Zieht ein Elternteil beispielsweise ein Kind einem anderen deutlich vor, ist es unwahrscheinlich, dass sich das zurückgewiesene Kind so verhalten wird, wie es der Elternteil wünscht. Üblicherweise wird der Wohltäter sein Erbe zurückhalten und nur für den Fall seines Todes ungleiche Verteilungen vornehmen – wonach dann keine Möglichkeit mehr besteht, die Verbitterung (oder Dankbarkeit) zu erleben, die er oder sie dadurch verursacht hat. Ich habe mit dieser harten und kalten Analyse versucht zu zeigen, dass es gefährlich ist, sein Erbe zurückzuhalten, um auf diese Weise Hilfsbemühungen und Zuneigung zu bewerten oder dazu anzuspornen. Doch es ist gleichfalls gefährlich, Lear nachzuahmen und alles wegzugeben, um die Zuneigung dann in einem ungefilterten Licht zu sehen. Ich für meinen Teil habe vor, finanzielle Mittel zu behalten, damit ich über genug Einkommen verfüge, um für meine eigenen Bedürfnisse aufkommen zu können. Sollte ich Pflege benötigen, so hoffe ich selbstverständlich, dass ich die pflegende Person entschädigen kann. Ich denke nicht, dass ich wissen möchte, wer für mich sorgen und über meine alten Witze lachen würde, wenn Pflege und Besuche mit finanziellen Belastungen einhergingen und es keinerlei Aussicht auf eine finanzielle Belohnung gäbe.

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Wir müssen erkennen, dass sich – wenn unsere Kinder in unsere Pflege einbezogen werden – Unmut entwickeln kann. Was mich betrifft, so habe ich das Glück, großzügige und rücksichtsvolle Geschwister zu haben, die näher bei meinen Eltern lebten als ich, und die unsere Eltern unter schwierigen Umständen umsorgt haben. Ihrerseits haben sie großzügige und unterstützende Ehepartner. Alles, was ich tun kann, ist dankbar zu sein. Ich vertraue meinen Geschwistern, sich zum Ausgleich für finanzielle Belastungen je nach Bedarf der vorhandenen Mittel zu bedienen; in unserem Fall scheinen diese im Vergleich zu den Investitionen an Zeit und emotionaler Energie allerdings nur gering zu sein. Ich habe jedoch auch andere Familien beobachtet, in denen die Dinge schwieriger sind, und wo die Familienmitglieder das Vertrauen zueinander verloren haben, was oft mit einer wirklichen Meinungsverschiedenheit über wichtige Pflegeentscheidungen begann. Pflege wird nur selten gleichmäßig verteilt geleistet, und wenn eine Familie einem Mitglied, das große Anstrengungen unternimmt, Geld gibt, werden andere möglicherweise denken, dass sie von diesem Empfänger unter Druck gesetzt wurden, oder dass ihre eigenen, bescheideneren Bemühungen ebenfalls einen finanziellen Ausgleich verdient hätten. Wird die den Hauptteil der Pflege leistende Person nicht belohnt, kann sie (oder ihre bzw. seine unmittelbare Familie) darüber verärgert sein und das Gefühl haben, dass andere Familienmitglieder die Leistung nicht ausreichend zu schätzen wissen. Wenn dankbare Geschwister aber zum Beispiel eigenes Geld anbieten, kann es sein, dass sich der pflegende Geschwisterteil über die darin möglicherweise enthaltene Andeutung ärgert, die Motivation seiner Mühen sei Geld und nicht Liebe oder Pflichtgefühl. Zuneigung und familiäre Pflichten lassen sich nicht kommerzialisieren; die Ungleichheit der Anstrengungen ist unvermeidbar, und jede Asymmetrie in den Bemühungen enthält das Potenzial von Feindseligkeiten. Natürlich sollten finanzielle Auslagen aus dem Nachlass des Elternteils bestritten werden, und Geschwister, die dazu eindeutig in der Lage sind, sollten die Kosten der Betreuung eines Elternteils untereinander aufteilen. Aber all dies ist wenig hilfreich, wenn es um die Pflege geht, die von den Familienmitgliedern selbst geleistet wird. Wenn wir unsere Kinder gut erzogen oder einfach nur Glück gehabt haben, müssen wir uns über nichts dergleichen Sorgen machen, aber es gibt Tausende von unglücklichen Lears und verbitterten Geschwistern, um uns zu mahnen, wachsam zu sein. Auch Verstimmungen zwischen Eltern und Kindern sind nicht unbekannt. Es ist nicht ungewöhnlich, emotional und finanziell aufgeladene Kollisionen zwischen einer alternden Person und deren Kindern zu beobachten. So könnte ein erwachsenes Kind beispielsweise seine Berufstätigkeit aufgeben, um sich um einen Elternteil zu kümmern, die Familie es jedoch versäumt haben, die finanziellen Auswirkungen dieses Opfers, beziehungsweise dieses Ausdrucks von Liebe oder Kindespflicht, zu diskutie-

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ren. Die Eltern haben vielleicht ein Testament geschrieben, das den Besitz unter mehreren Kindern gleichmäßig aufteilt; nun hat jedoch eines der Kinder ein finanzielles Opfer gebracht und hält sich für berechtigt, eine materielle Anerkennung dafür zu bekommen. Ein Kind könnte sich aufopfern, indem es in das Elternhaus einzieht, aber der Elternteil könnte die Sache so sehen, dass dieses Kind mietfrei wohnt. Ich werde mir größte Mühe geben, meine Betreuer für ihre finanziellen Opfer zu entschädigen, und vielleicht werde ich andere Familienmitglieder in diese Entscheidungsfindung mit einbeziehen. Ich würde es bevorzugen, wenn keines meiner Kinder (bzw. kein angeheirateter Verwandter) seine Arbeit aufgibt, um sich um mich zu kümmern, und ich glaube, ich habe das meinen Kindern zu verstehen gegeben. Aber sollte es dennoch irgendwie so kommen, würde ich das andere Kind bitten, mir bei der Berechnung des finanziellen Opfers zu helfen, damit der Betreuer mit so wenigen Ressentiments wie möglich entschädigt werden kann. Hatte Lear darin einen Fehler begangen, dass er nicht an seine Landsleute dachte, so tun wir das Gleiche, wenn wir nicht über philanthropische Spenden nachdenken,­ während wir unseren eigenen Lebensabend planen. Eine vernünftige wohlhabende­ Person wird in der Regel mit einem Vermögen sterben, weil sie das Datum ihres eigenen Todes nicht kennt. Ich kann nicht mein ganzes Geld für gute Zwecke ausgeben, nachdem ich entschieden habe, wie viel ich meinen Kindern hinterlassen soll, weil ich nicht weiß, wie viel ich für mich selbst noch benötigen werde. Wir haben bereits gesehen, dass es unverantwortlich ist, sein gesamtes Hab und Gut wegzugeben und dann darauf zu hoffen, dass die Begünstigten schon für einen sorgen werden. Dies gilt insbesondere, wenn man mehrere Kinder hat. Mit einem verlässlichen Einzelkind könnte ich über die Situation sprechen und darauf vertrauen, dass das Kind die Kontrolle über meine­ gesamten ­Vermögenswerte übernimmt und sich in meinem Alter dann um mich kümmert. Wir sahen auch, dass man, um ein jährliches Einkommen für den Rest seines­ Lebens sicherzustellen, in eine Versorgungsrente investieren kann. Ich sollte noch hinzufügen, dass ein Paar problemlos eine Versorgungsrente kaufen kann, die den Hinterbliebenen bis zu ihrem Tod gezahlt wird. Die Versorgungsrentenstrategie löst allerdings nicht die Frage der Philanthropie, da die meisten von uns nicht das gesamte Jahreseinkommen aus der Rente ausgeben werden, sodass es also auch hier einen Überschuss geben und sich die Frage stellen wird, ob man es spenden, den Kindern überlassen oder an Andere abgeben soll, die es verwalten oder verteilen. Ich habe versprochen, später auf dieses Thema z­ urückzukommen, und werde dies in Kapitel 8 tun. Es sollte klar sein, dass auch wohltätige Organisationen an unsere Spendenbereitschaft appellieren können. Eine eitle oder einsame Person, die sich Besucher mit ausgestreckten Händen wünscht, sollte Ressourcen zurückhalten, wenn sie Aufmerksamkeit bekommen möchte. Die beste egoistische Strategie könnte darin bestehen, be-

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1 Lernen von König Lear

stimmten Wohltätigkeitsorganisationen Geldgeschenke zu machen und anzudeuten, dass diese bevorzugten Organisationen, wenn man gestorben ist, mit noch mehr rechnen können. Ein weniger selbstsüchtiger Wohltäter kann versuchen, seine oder ihre Kinder für gemeinsame gute Zwecke zu interessieren. Eine Wohltätigkeitsorganisation könnte erfolgreich versuchen, eine Spenderin davon zu überzeugen, dass eine größere Spende zu ihren Lebzeiten ihren Kindern ein gutes Beispiel geben und es ihr selbst Freude bereiten könnte, die Spende noch mitzuerleben. Im Allgemeinen ergeben sich bei diesen Spenden oder Vermächtnissen die zuvor behandelten Probleme nicht, weil es keine Rolle spielen sollte, ob die Wohltätigkeitsorganisation übertrieben hat und bei den Bekundungen ihrer Zuneigung unehrlich gewesen ist. Feststellen zu müssen, dass das eigene Kind eine Goneril ist, wird schmerzhaft sein, doch solange die eigene Alma Mater wirklich Stipendien vergibt oder das örtliche Krankenhaus tatsächlich eine gute Notfallversorgung bietet, sollte es keinen Unterschied machen, ob der Präsident dieser Organisation den Spender beim nächsten jährlichen Festessen weniger freundlich als gewohnt behandelt, um sich einem anderen, bisher noch unentschlossenen Wohltäter zuzuwenden. An der Zuneigung des Präsidenten sollte mir nichts liegen, sondern daran, dass er ein erfolgreicher Fundraiser ist und die finanziellen Mittel gut verwendet. Der einzige Grund, Geld für einen solchen Begünstigten zurückzuhalten, besteht darin, dass man sich nicht wirklich sicher ist, welche Mittel man zur eigenen Unterstützung noch benötigen wird. Aber philanthropische Strategien verdienen ein eigenes Gespräch. Einstweilen soll es genügen, zu dem Schluss zu gelangen, dass es von den Fehlern Lears viel zu lernen gibt. Doch die Lehre, die man aus Lear zieht, sollte nicht lauten, guten Zwecken und allen Kindern finanzielle Ressourcen vorzuenthalten.

Anmerkungen 1

Die Aufführung fand am Chicagoer Shakespeare Theater statt. Die Regisseurin war Barbara Gaines. 2 18. September 2014. 3 Jones ist typisch dafür, seine Krankheit auf diese Weise zu beschreiben. Man sollte beachten, dass das Vergessen von Namen ein separates Problem darstellt und nicht typischerweise mit einer globaleren Demenz verbunden ist, sodass die medizinische Beschreibung voreilig ist. 4 R. A. Foakes (Ed.), King Lear, Arden Shakespeare (New York: Bloomsbury, Erstausgabe 1997), Einleitung, 27.

Anmerkungen

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5 Charles McNulty, “With Age, the Wisdom of Staging Lear Becomes Less Clear”. Los Angeles Times, August 13, 2014. 6 Siehe Stanley Cavell, „The Avoidance of Love: A Reading of King Lear“. In Must We Mean What We Say?. Aktualisierte Ausgabe. (New York: Cambridge University Press, 2002). 7 Janet Adelman, Suffocating Mothers: Fantasies of Maternal Origin in Shakespeare, „Hamlet“ to „The Tempest“ (New York: Routledge, 1992), 104. 8 Aristoteles, Poetik, Kapitel 9. 9 Bradwell vs. Illinois, 83 U.S. 130 (1873). 10 La Vieillesse (Paris: Gallimard, 1996); deutsche Übersetzung von Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry (Berlin: Rowohlt, 2014). 11 Französische Ausgabe, Gallimard 1981. Die Gespräche fanden jedoch 1974 statt; die deutsche Übersetzung von Uli Aumüller und Eva Moldenhauer wurde 1986 vom RowohltVerlag herausgegeben. 12 Sehr hilfreich fand ich Sara Heinämaas Aufsatz „Transformations of Old Age“. In Simone de Beauvoir’s Philosophy of Old Age. Ed. Silvia Stoller (Bloomington: Indiana University Press, 2014), 167–89. 13 Vgl. Joan Scott, The Politics of the Veil (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2007). 14 Siehe Justin Driver, „Justice Thomas and Bigger Thomas“. In Fatal Fictions: Crime and Investigation in Law and Literature. Hrsg. Alison LaCroix, Richard McAdams und Martha C. Nussbaum (New York: Oxford University Press, 2016). 15 Heinämaa, „Transformations of Old Age“. 182. Zusammenfassend. 16 Siehe Heinämaa, „Transformations of Old Age“, 185 f. 17 Die entgegengesetzte Auffassung wird in dem folgenden, bemerkenswerten Essay von Harry V. Jaffa vertreten: „The Limits of Politics: An Interpretation of King Lear, Act 1, Scene 1“, in American Political Science Review 51 (1957), 405–27. Leider geht Jaffe (ohne passende Erklärung) davon aus, dass eine Dreiteilung grundsätzlich stabiler ist als eine Zweiteilung. Die moderne Public-Choice-Theorie legt uns nahe, dem zu widersprechen, verschiedene Geschichten in der Bibel ebenfalls. Wie dem auch sei, dies ist kein Essay über Lear als vielmehr über die Aufteilung unseres Vermögens und über unsere Pflege an unserem Lebensabend. 18 Die Referenz bezieht sich auf Triumphs of Experience: The Men of the Harvard Grant Study, von George E. Vaillant (Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, 2012). Hierbei handelt es sich um ein hervorragendes Buch über die größte Längsschnittstudie der menschlichen Entwicklung. Der Titel bezieht sich auf die Beobachtung des Autors, dass viele der Probanden in ihren späteren Jahren dazu kamen, ein befriedigendes Leben zu führen, selbst wenn frühere Anzeichen scheinbar nichts Gutes erwarten ließen. Being Mortal: Medicine and What Matters in the End, von Atul Gawande (New York: Metropolitan Books, 2014) ist die intendierte Referenz im folgenden Text. Dies ist ebenfalls ein wichtiges Buch über das Altern, abgesehen davon, dass es ein Bestseller ist. Es bestärkt die Leser darin, die Pflege in Hospizen positiv zu sehen und die Schlussfolgerung des Autors zu teilen, dass Ärzte darin fehlgehen, dass sie zur Lösung medizinischer Probleme intervenieren, ohne dabei die wahrscheinlichen Konsequenzen für alternde Patienten zu berücksichtigen. 19 Anm. d. Übers.: Eine deutsche Übersetzung ist als gemeinfreier Text verfügbar unter www.zeno.org.

Kapitel 2

Richtlinien für den Eintritt in den Ruhestand In den USA ist jegliche Altersdiskriminierung, einschließlich des verpflichtenden Eintritts in den Ruhestand, verboten – aber ist das klug? Wie können wir sicherstellen, dass die Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen, die bei der Arbeit glücklich und produktiv sind, auch wenn ihre Altersgenossen längst in Rente gegangen sind, nicht verschwinden werden? Wer profitiert davon und wer verliert, wenn Arbeitsverträge eine erzwungene Versetzung in den Ruhestand vorsehen? Warum gehen so viele Menschen vor dem 60. Lebensjahr in Rente und warum steigt das durchschnittliche Renteneintrittsalter?

Müssen wir in den Ruhestand eintreten? Saul Es ist unwahrscheinlich, dass ich im Alter von 75 Jahren so gut in meinem Beruf sein werde, wie ich es im Alter von 55 Jahren war, und trotzdem wäre es möglich, dass mein Arbeitgeber mich nicht kündigen kann. Ein Arbeitgeber kann nicht verlangen, dass ein Arbeitnehmer in den Ruhestand geht, auch nicht im respektablen Alter von 68 Jahren. Die Vorgabe eines Rentenalters als Einstellungsbedingung wird selbst dann als Altersdiskriminierung angesehen, wenn der Arbeitnehmer bereits in jungen Jahren eingestellt wurde und der Arbeitgeber diese Richtlinie bei allen Arbeitnehmern bei Erreichen des angegebenen Alters auf gleiche Weise anwendet. Ausnahmen hiervon – Piloten, Strafverfolgungsbeamte, Richter am Verfassungsgerichtshof, Partner von Anwaltskanzleien und Investmentbanken (weil sie keine Angestellten sind) und katholische Bischöfe – gibt es nur wenige. Obwohl die große Mehrheit der Arbeitnehmer im Alter von 68 Jahren in Rente geht, hat die Tatsache, dass sie dies nicht tun müssen, sicherlich zur Folge, dass Arbeitgeber zögern, mittlere und ältere Arbeitnehmer einzustellen, da sie befürchten müssen, dass diese nicht in Pension gehen, wenn ihre Produktivität nachzulassen beginnt. Darüber hinaus steigt in vielen Berufen die Vergütung mit dem Dienstalter, selbst wenn die Produktivität sinkt. Ich bin für meinen Arbeitgeber mit 75 Jahren wahrscheinlich nicht nur weniger nützlich als ich es mit 55 Jahren war, auch mein Gehalt wird im höheren Alter weit über demjenigen liegen, das ich mit 55 Jahren verdient habe. Arbeitgeber befürchten zu

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Recht, dass, wenn sie die Löhne alternder Arbeitnehmer senken oder einfrieren, dies zu gerichtlichen Klagen wegen Altersdiskriminierung führen würde. In diesem Kapitel möchte ich ein Argument für den Abbau desjenigen Teils unseres Rechtssystems entwickeln, der den Ruhestand in einem bestimmten Alter praktisch verhindert, auch wenn dies vereinbart wurde. Nebenbei wird außerdem Gelegenheit dazu­ bestehen, darüber nachzudenken, wie alternde Menschen am Arbeitsplatz wahrgenommen werden. Wie wir noch sehen werden, sind die geltenden Gesetze und Verfahrensweisen zufällig entstanden oder als Produkt eigennützigen, kurzfristigen Denkens auf Seiten des Gesetzgebers sowie separater Entwicklungen im Steuer- und Ordnungsrecht. Ich behaupte, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Rahmens in der Lage sein sollten, frei Verträge abzuschließen, auch wenn dies bedeutet, dass einige Arbeitnehmer in einem bestimmten Alter in Rente gehen müssen. Wenn ältere Arbeitnehmer es bereuen, dass sie diese Verträge viele Jahre zuvor eingegangen sind, wird es andere, jüngere Arbeitnehmer geben, die sich gerne auf Stellen bewerben werden, die endlich verfügbar sind. Darüber hinaus könnten Arbeitgeber eher dazu bereit sein, ältere Bewerber einzustellen, wenn es erlaubt ist, ihre Beschäftigungsbedingungen festzulegen. Ich sehe ein, dass die meisten von uns Wahlmöglichkeiten zu unseren eigenen Gunsten schätzen; es ist schön, so lange arbeiten zu können, wie man möchte, und Herr über die eigene Zeit zu sein. Noch wichtiger ist, dass manche Menschen aus ihrem Leben das Beste machen, indem sie arbeiten und nicht in den Ruhestand eintreten. Ich denke, ich gehöre zu diesen Menschen. Das bedeutet allerdings nicht, dass es einem Arbeitgeber verboten sein sollte, die Arbeit so zu organisieren, dass andere Bürger – oder sogar Menschen mit Präferenzen wie den meinen – einem „obligatorischen“ Eintritt in den Ruhestand ihre Zustimmung geben, wobei wir diesen Begriff sehr sorgfältig definieren müssen. Das Gesetz könnte es Arbeitgebern erlauben, die Löhne so zu strukturieren, dass sie ab einem bestimmten Alter automatisch zurückgehen. Ein umstrittenerer Vorschlag von mir lautet, dass diejenigen wohlhabenden Arbeitnehmer, die zu der Generation gehören, die unverhofft hohe Rückzahlungen erhielten, als Verträge mit erzwungenem Ruhestandseintritt für ungültig erklärt wurden, nun entweder diesen unerwarteten Gewinn verlieren oder, was noch besser wäre, mit höheren Steuern rechnen müssen, wenn sie über das Alter, in dem die meisten ihrer Zeitgenossen in Rente gehen, hinaus weiterarbeiten. Ich liebe meine Arbeit und habe nicht vor, in Rente zu gehen. Daher ist die Argumentation, die hier entwickelt wird, zwar gegen mein Eigeninteresse, aber richtig für die Gesellschaft insgesamt. Es gibt gute Gründe, Regelungen über den Eintritt in

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den Ruhestand in Verträgen zuzulassen. Meine Erörterung läuft jedoch nicht auf diese Schlussfolgerung hinaus. Stattdessen werde ich erklären, warum es zweifelhaft ist, ob das Gesetz das Vernünftige tun wird. Ein verbindlich vorgeschriebener Zeitpunkt für den Eintritt in den Ruhestand war in den USA schon immer ungewöhnlich. Einige Staaten verlangen, dass ihre Richter in einem bestimmten Alter in Rente gehen, in New Hampshire zum Beispiel mit 70 Jahren. Das Bundesrecht sowie die Gesetze vieler anderer Nationen verlangen von Piloten der kommerziellen Luftfahrt, dass sie im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Ein solcher erzwungener Ruhestand ist allerdings selten. Hingegen war die Zulassung einer erzwungenen Pensionierung durch private vertragliche Vereinbarungen früher üblich. Derzeit ist dies ungewöhnlich, weil gesetzliche Verbote es nur in Fällen erlauben, in denen die Mitarbeiter Partner und nicht Angestellte sind, oder wenn es sich um öffentliche Sicherheitsbeamte, hohe Führungskräfte oder Geistliche handelt. Das Gesetz gegen Altersdiskriminierung in den USA verbietet es einem Arbeitgeber, die unfreiwillige Pensionierung von Arbeitnehmern auch dann zu verlangen, wenn diese Bestimmung Teil eines seit Jahren bestehenden Vertrages war, selbst wenn der Arbeitnehmer eine Wahlmöglichkeit hatte und für seine Zustimmung zu einer Pensionierung eine höhere Bezahlung erhielt. (Der Gerechtigkeit halber muss ich allerdings anmerken, dass ich noch nie von einer solchen ausdrücklichen Entscheidung gehört habe.) Dennoch kann ein Arbeitgeber den Ruhestand auf legale Weise so begünstigen, dass die Struktur von Beschäftigung und Ruhestandseintritt ziemlich vorhersehbar wird. Hierzu motivieren den Arbeitgeber nicht nur die Vorteile der Vorhersehbarkeit, sondern auch die Möglichkeit, die erheblichen Kosten zu vermeiden, die mit der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften verbunden sind. Denn einen alternden Arbeitnehmer aus einem guten Grund zu entlassen, der mit Fehlverhalten oder der Nichterfüllung von Arbeitsaufgaben zusammenhängt, ist unzulässig; unterdurchschnittliche Leistung ist kein ausreichender Kündigungsgrund. Die effektivste Methode bestand darin, Altersvorsorgepläne zu entwerfen, die zum freiwilligen Ausscheiden aus der Belegschaft animieren. Daher beginnt unsere Diskussion mit Rentenplänen, die den Eintritt in den Ruhestand nahelegen. Die große Mehrheit der arbeitenden Amerikaner geht vor dem 70. Lebensjahr freiwillig in den Ruhestand. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ging Anfang der 1990er-Jahre bis auf 57 Jahre zurück. Im Jahr 1910 lag es bei 74 Jahren (!), als die Lebenserwartung bei der Geburt etwa 50 Jahre betrug und es weder eine Sozialversicherung noch steuerbegünstigte private Rentenpläne gab. Die Menschen starben, nach heutigen Maßstäben, in jungem Alter, aber diejenigen, die länger lebten, arbeiteten auch weiter. Der Ruhestand war eine unbekannte Idee, oder eine solche, die nur auf

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die Besitzer kleiner Unternehmen zutraf, die ihre Betriebe verkauften und dann nichts anderes zu tun hatten. Die meisten Menschen arbeiteten, weil sie es mussten oder weil es von ihnen erwartet wurde. Es gab nur wenige (ein paar Hundert) von Arbeitgebern bereitgestellte Rentenkassen, nur wenige Menschen hatten Ersparnisse angesammelt und es gab keine Seniorenwohnprojekte. Wenn sie – zu einer Zeit, in der besondere Rücksichtnahme am Arbeitsplatz und öffentliche Verkehrsmittel noch nicht weit verbreitet waren – nicht mehr arbeiten oder zur Arbeit kommen konnten, zogen sich viele ältere Menschen wahrscheinlich in die Privatsphäre der Häuser ihrer Familien zurück. In vielen weniger wohlhabenden Ländern ist dies heute die übliche Vorgehensweise. Senioren können selbst dort unsichtbar sein, wo die Lebenserwartung 65 oder 70 Jahre beträgt. Auf jeden Fall arbeitete ein großer Teil der Menschen bis zu ihrem Tode; die meisten gaben ihre Arbeit erst Monate oder mehrere Jahre – statt Jahrzehnte – vor dem Tod auf. Der freiwillige Eintritt in den Ruhestand wird attraktiver, wenn es eine kritische Masse von Rentnern gibt. Wenn nur eine kleine Minderheit ein langes Leben führt, werden diese Überlebenden wahrscheinlich zerstreut leben und in das Leben ihrer Familien integriert. Es ist unwahrscheinlich, dass sie für das, was wir heute als Ruhestand bezeichnen, gespart haben. Ruhestandsgemeinschaften scheinen in den USA in den 1920er-Jahren aufgekommen zu sein, als es genau eine solche kritische Masse gab, die es attraktiv fand, Freizeitaktivitäten nachzugehen, ohne von einer Mehrheit jüngerer, arbeitender Menschen umgeben zu sein. Private Rentenpläne wurden ebenfalls populär, vielleicht weil man anfing, sie steuerlich zu begünstigen; wobei die meisten dieser Pläne allerdings nur für einen bescheidenen Teil des Einkommens vor dem Eintritt in den Ruhestand sorgten. Dramatische Steigerungen der Lebenserwartung, der Rentenleistungen und des allgemeinen Wohlstands haben das Eintrittsalter in den Ruhestand im Laufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich reduziert. In den letzten zwei Jahrzehnten haben jedoch eine verbesserte Gesundheit, weniger anstrengende Arbeitsplätze und andere Faktoren die Anzahl der Arbeitsjahre pro Person erhöht und das mittlere Eintrittsalter in den Ruhestand auf 62 Jahre ansteigen lassen. Der freiwillige Ruhestandseintritt erfolgt bei Männern später als bei Frauen, und interessanterweise besteht ein Zusammenhang zwischen einer besseren Gesundheit, einer besseren finanziellen Situation und einer höheren Bildung mit einem späteren Eintritt in den Ruhestand. Nur ein kleiner Prozentsatz der Amerikaner – zwischen fünf und zehn Prozent – arbeitet über das 70. Lebensjahr hinaus in einer Vollzeitbeschäftigung. Die Entscheidung, in den Ruhestand einzutreten, wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst; ein wichtiger Faktor ist jedoch die Struktur von Pensionsplänen. Diese Pläne, ob sie nun von der Regierung oder von privaten Arbeitgebern entworfen

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wurden, mögen zwar so aufgebaut sein, dass sie die Wahl des Zeitpunkts für den Eintritt in den Ruhestand beeinflussen, sie haben jedoch unbeabsichtigte Konsequenzen. Das Aufstellen von Pensionsplänen ist ein technisches Thema, aber die Beschäftigung damit lohnt sich, weil sie verständlich macht, wie sich die gegenwärtigen Vorgehensweisen entwickelt haben, und weil sie einen Einfluss auf Reformvorschläge hat. Die Bedeutung des Themas ergibt sich aus den Anreizen zum Eintritt in den Ruhestand, die entweder durch das Gesetz oder durch Arbeitsverträge in die Rentenpläne eingebaut sind. Beginnen wir mit Plänen mit einer festgelegten Leistung, die bei Beamten sehr verbreitet und wohl auch in der privaten Wirtschaft kaum unbekannt sind. In diesen Plänen sind die Auszahlungen an die Begünstigten definiert, oder genauer: die Formel, die diese Auszahlungen festlegt. In der Regel hängen sie von dem Gehalt ab, das in den letzten Jahren vor dem Ruhestandseintritt verdient wurde. Die Leistungen sind auf diese Weise in dem Sinne „definiert“, dass sie innerhalb geringfügiger Schwankungen bekannt und von den Anlagerenditen nicht direkt betroffen sind. Ein Arbeitgeber, der einen solchen Plan anbietet, legt jährlich einen bestimmten Teil des Gesamtlohns zurück, um ihn zu investieren und Reserven aufzubauen, mit denen die versprochenen zukünftigen Leistungen finanziert werden. Das Risiko, das mit schlechten Investitionen verbunden ist (oder der Vorteil, der aus außergewöhnlich erfolgreichen Investi­ tionen erwächst), fällt – zumindest anfänglich – auf den Arbeitgeber, der die feststehenden Auszahlungen zusagt. Im Gegensatz dazu legt ein beitragsorientierter Plan Einzahlungen fest. Der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, oder häufig beide zu bestimmten Teilen, wird regelmäßige Zahlungen leisten, die oft von Gehaltsschecks abgezogen werden. Die Leistungen hängen dann, nach versicherungsmathematischen Regeln, von der Größe des durch diese Einzahlungen angesparten Kapitals zuzüglich akkumulierter Anlagerenditen ab. Steuern fallen normalerweise bei den späteren Ausschüttungen an, nicht für die jährlichen Zuwächse oder gar die Lohnanteile, die auf diese Rentenkonten überwiesen werden. Die Investitionen werden mit unversteuerten Dollars getätigt, sodass diese Form der Altersvorsorge durch den Steueraufschub einen enormen Vorteil bietet. Bei beitragsorientierten Plänen handelt es sich im Wesentlichen um steuerlich begünstigte Sparpläne, während leistungsorientierte Pläne eher steuerlich begünstigte Renten sind, wobei deren Auszahlungen von den Anlagerenditen abhängen. Arbeitnehmer, die aus einem vom Arbeitgeber angebotenen Plan größere Pensionsleistungen erwarten, werden durch die Verbindung dieser Leistungen und denen der Sozialversicherung motiviert. (Fast alle Arbeitnehmer sind verpflichtet, in die Sozialversicherung einzuzahlen. Die wichtigste Ausnahme betrifft staatliche Angestellte,

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die zunächst aus der Sozialversicherung ausgenommen und nach 1950 nur dann wieder einbezogen wurden, wenn ihre jeweiligen Bundesstaaten sich zur Teilnahme an dem System entschieden hatten. Wie sich gezeigt hat, ist diese Wahlmöglichkeit ein wichtiger Grund für die durch Unterfinanzierung entstandene Rentenkrise, mit der sich mehrere Staaten gegenwärtig konfrontiert sehen.) Die meisten leistungsorientierten Pläne bieten starke Anreize für einen „frühen“ Ruhestandseintritt, und zwar in einem Alter, das unterhalb des Alters liegt, ab dem Sozialleistungen gezahlt werden. Sie tun dies, indem sie eine Obergrenze für Leistungen festlegen, Beiträge von jenen verlangen, die weiterhin arbeiten, und indem sie die Leistungen für diejenigen reduzieren, die über das favorisierte Renteneintrittsalter hinaus weiter arbeiten. In einem typischen Plan, der für Staatsangestellte oder gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer gilt, liegt das profitabelste Renteneintrittsalter aus Sicht des Arbeitnehmers bei etwas unter 60 Jahren. Dies kann für den Arbeitgeber sinnvoll sein, da der in den Ruhestand eintretende Mitarbeiter wahrscheinlich ein viel höheres Gehalt bezieht als für seinen oder ihren Nachfolger bezahlt werden müsste. Dies kann dem Arbeitgeber außerdem den erheblichen Aufwand ersparen, der mit der Entlassung von Arbeitnehmern verbunden ist, die mit zunehmendem Alter weniger produktiv sind oder ansonsten erwarten würden, dass ihre Löhne weiterhin steigen, obwohl ihre Produktivität abflacht oder sogar rückläufig ist. Es sollte klar sein, dass ein leistungsorientierter Pensionsplan sich so gestalten lässt, dass er einen nahezu perfekten Ersatz für den (erlaubten) obligatorischen Renteneintritt darstellt, sofern die Möglichkeit besteht, die Bezahlung in der vom Ar­ beitgeber gewünschten Weise umzugestalten. Doch warum sollten Arbeitgeber die vorzeitige Pensionierung und sogar den erzwungenen Ruhestandsbeginn ihrer Mitarbeiter, einschließlich einiger, die fantastisch produktiv sind, bevorzugen? Die Arbeitgeber haben nicht für die Aufhebung des obligatorischen Ruhestandseintritts geworben, und sie spielten bei der Gestaltung der Sozialversicherung keine beherrschende Rolle. Nach der gängigen (und zutreffenden) Meinung müssen Mitarbeiter, wenn sie in ihren frühen Jahren in einer Firma ausgebildet werden, später „überbezahlt“ werden, um sie davon abzuhalten, zu anderen Firmen zu wechseln, die die Ausbildungskosten nicht getragen haben und versuchen werden, sie von dem Arbeitgeber, der das Training angeboten hat, abzuwerben. Der erste Arbeitgeber mag den Mitarbeiter während der Ausbildungsjahre unter- und ihm dann während seiner mittleren Karrierejahre zu viel bezahlen, um zu verhindern, dass er zu einem anderen Arbeitgeber wechselt. Irgendwann werden sich die Mitarbeiter vielleicht vor Verantwortung drücken oder über ihre produktivsten Jahre hinaus einfach weiterarbeiten, um weiterhin die hohe Bezahlung ihrer späten Jahre zu bekommen. Um diesem Problem zu begegnen, können Arbeitgeber die Löhne so strukturieren, dass sie mit dem Dienstalter an-

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steigen, jedoch zu sinken beginnen, wenn der Arbeitnehmer in die Jahre kommt und eine Abnahme der Produktivität zu erwarten, eine Abwerbung hingegen unwahrscheinlich ist. Es könnte schwer sein, genau das hinzubekommen. In der modernen Arbeitswelt mit ihren Gesetzen gegen die Altersdiskriminierung ist einfach zu erwarten, dass ein Arbeitgeber, der Mitarbeitern weniger zahlt, wenn sie altern, verklagt werden wird. Es ist möglich, dass ein Arbeitgeber junge Arbeitnehmer anstellt und mit ihnen vereinbart, dass ihre Löhne zunächst mit der Zeit ansteigen, nach 30 Jahren dann aber zurückgehen werden. Der 60-Jährige könnte sich beschweren, aber der Arbeitgeber wird dem entgegenhalten, dass ihm dieses Angebot im Alter von 30 Jahren gemacht wurde, und dass es sich somit um keines handelt, das ältere Arbeitnehmer, die nach dem Gesetz als 40 Jahre oder älter definiert sind, diskriminiert. Die gleiche Art von Argument könnte zugunsten des obligatorischen Ruhestandseintritts vorgebracht werden. Der Arbeitgeber verlangt nicht, dass ein 68 Jahre alter Mitarbeiter in Rente geht. Vielmehr verpflichtet er jeden 30-Jährigen in seinem Arbeitsvertrag zuzustimmen, mit 68 Jahren in Rente zu gehen! Die Rechtsprechung akzeptiert solche langfristigen Verzichtserklärungen nur in seltenen Fällen, und es ist wahrscheinlich ohnehin zu spät, diese Überlegungen vorzubringen und vor Gericht zu prüfen. Wichtig ist hierbei die Vorstellung, dass der obligatorische Eintritt in den Ruhestand nur ein Weg ist, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer nicht zu lange bei ihrem Arbeitgeber angestellt bleiben, insbesondere bei hohen Gehältern, auch wenn Arbeitgeber nicht davon abgehalten werden, sie zunächst auszubilden. Der zweite Punkt ist der, dass ein hiervon betroffener Arbeitgeber einen leistungsorientierten Pensionsplan einrichten kann, um einen Anreiz für den Eintritt in den Ruhestand zu bieten, indem er die kompensierenden Zahlungen von den Löhnen auf die Ruhestandsleistungen verlagert und diese Leistungen auf ein ideales Rentenalter festsetzt. Wenn es verboten ist, ein Datum für den Eintritt in den Ruhestand festzusetzen, können Arbeitgeber die gewünschten Effekte mit leistungsorientierten Plänen nachbilden. Das Ergebnis ist besonders attraktiv, weil es außergewöhnlichen Mitarbeitern bezüglich ihres Ruhestandseintritts gewisse Wahlmöglichkeiten überlässt. Es mag nützlich sein, auf den vergleichbaren Nutzen von Altersgrenzen hinzuweisen, von denen sehr junge Menschen betroffen sind. Staatliche Gesetze und private Vertragspartner setzen ein Mindestalter für die Vergabe von Führerscheinen und andere Rechte voraus. Wenn wir fordern, dass Autofahrer mindestens 16 Jahre alt sein müssen, und Vermietungsunternehmen verlangen, dass Autofahrer nicht nur über einen Führerschein verfügen, sondern auch 21 oder 25 Jahre alt sein müssen, dann liegt dies daran, dass es kostspielig ist, die Reife und andere geschätzte Eigenschaften von Fall zu Fall zu beurteilen. Es gibt sicherlich reife 14-Jährige, genauso wie es hervorragende 80-jährige Angestellte gibt, an beiden Enden des Spektrums ist es jedoch

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manchmal nützlich und vernünftig, eine Kategorisierung zuzulassen. Wir machen uns weniger Sorgen um Diskriminierung, wenn eine Gruppe sehr umfassend ist. So wie wir alle einmal jung waren, werden wir alle irgendwann alt sein, und in solchen Fällen ist das Gesetz in der Regel weniger um die Diskriminierung solcher Minderheiten besorgt. Tatsächlich ist die Diskriminierung junger Fahrer besorgniserregender als die älterer Arbeitnehmer, weil die erste Gruppe über weniger politische Macht verfügt. Wenn die zwangsweise Pensionierung verboten ist, selbst wenn sie vertraglich vereinbart wurde, können Arbeitgeber versuchen, die Entlohnung vom Dienstalter zu trennen, wie dies in Wirtschaftszweigen, in denen Arbeitnehmer Provisionen verdienen, normalerweise der Fall ist. Ich habe jedoch bereits auf die Probleme hingewiesen, die sich ergeben, wenn Arbeitnehmern mit zunehmendem Alter oder bei abnehmender Produktivität weniger Lohn gezahlt wird – oder wenn er einfach konstant bleibt, obwohl die Löhne mit der Länge der Betriebszugehörigkeit steigen. Der Vorgang kann für den Mitarbeiter entmutigend und für den Arbeitgeber kostspielig sein. Werden die Gehälter sämtlicher Arbeitnehmer, die ein bestimmtes Alter überschritten haben, auf gleiche Weise reduziert, werden viele Arbeitnehmer tatsächlich Opfer von Altersdiskriminierung sein. Und selbst wenn eine umgekehrte, U-förmige Lohnkurve im Voraus vereinbart werden könnte und rechtlich akzeptabel wäre, könnte sie unattraktiv sein, da die produktivsten älteren Arbeitnehmer unterbezahlt sein und zu anderen Arbeitgebern wechseln würden. Kein Arbeitgeber möchte auf den unproduktivsten Mitarbeitern sitzen bleiben. Aus einer gesellschaftlichen Perspektive wäre zu bedenken zu geben, dass jüngere Mitarbeiter und Kunden älteren Menschen gegenüber eine ungesunde Einstellung entwickeln würden, wenn sie feststellten, dass sie die am wenigsten produktiven Mitarbeiter sind – und dabei die Tatsache vernachlässigen, dass die kompetenteren älteren Mitarbeiter auf andere Arbeitsplätze abgewandert sind, weil sie an diesem unterbezahlt waren. In der Zeit vor der Sozialversicherung und der umfassenden Pensionspläne konnten Arbeitgeber die Arbeitnehmer nach Belieben entlassen. Sobald sich gewerkschaftliche und andere Schutzmaßnahmen durchgesetzt hatten, konnten sie ältere Mitarbeiter zwar nicht mehr einfach entlassen, aber es herrschte ein Lohn- und Rentensystem, das den Eintritt in den Ruhestand – selbst vor dem Alter, ab dem die Sozialversicherung zahlte, oder dem Alter irgendeiner obligatorischen Berentung – praktisch unvermeidlich machte. An diesen Verträgen änderte sich wenig, als das Gesetz gegen die Altersdiskriminierung in Kraft trat. So treten beispielsweise Stahlarbeiter und Lehrer lange vor den meisten anderen Arbeitnehmern in den Ruhestand und beginnen Rentenleistungen zu beziehen. Im Fall von staatlichen Lehrern beträgt das mittlere Renteneintrittsalter zum Beispiel 58 Jahre, und die meisten pensionierten Lehrer erhalten Rentenzahlungen in Höhe von 60 bis 75 Prozent ihres letzten Gehalts, häufig mit ei-

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ner fortlaufenden Anpassung an die Höhe der Lebenshaltungskosten. Lehrer, die sich dafür entscheiden, über diesen Zeitpunkt hinaus weiterzuarbeiten, verlieren in der Regel einen beträchtlichen Teil der Rentenleistungen, sodass derjenige, der weiterarbeitet, dies zu einem Bruchteil, manchmal nur der Hälfte des vorherigen Lohns, tun muss. Unter diesen Bedingungen entscheiden sich nur wenige, über das 60. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Rentenpläne mit festgesetzten Versorgungsleistungen hatten größtenteils die gleichen Folgen wie früher die Verträge mit verpflichtendem Ruhestandseintritt. Leider haben einige Arbeitgeber ihre Rentenpläne unter-, andere hingegen überfinanziert, um Steuervorteile zu erhalten. Es wurden neue Gesetze verabschiedet, und Rentenpläne mit festgesetzten Versorgungsleistungen – auch wenn sie für die Verwaltung einer alternden Belegschaft nützlich waren, vor allem, nachdem das Gesetz gegen Altersdiskriminierung den erzwungenen Eintritt in den Ruhestand praktisch verbot – wurden unattraktiv. Sie bleiben für mehr als 80 Prozent der staatlichen Angestellten in Kraft, jedoch nur für wenige – etwa 15 Prozent – Angestellte des privaten Sektors. Der stetige Anstieg des durchschnittlichen Renteneintrittsalters in den letzten 15 oder 20 Jahren lässt sich so auf die Umstellung von leistungsorientierten auf beitragsorientierte Rentenpläne oder sogar das Fehlen jeglicher Pläne zurückführen, da viele Arbeitnehmer für ihre Altersvorsorge eigenständig in steuerbegünstigte Rentenkonten einzahlen. Aus Arbeitgebersicht ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich geworden, jemandem den Eintritt in den Ruhestand nahezulegen. Das Gesetz scheint hohe Abfindungen („Golden Handshakes“) oder Anreize zu dulden, die Angestellten beispielsweise im Alter von 62 Jahren angeboten werden, wenn sie sich bereit erklären, innerhalb von zwei oder drei Jahren in Rente zu gehen. Es wird jedoch weithin davon ausgegangen, dass Zahlungen im Alter von 30 Jahren oder bei der Einstellung als Gegenleistung für ein Einverständnis des Arbeitnehmers, im Alter von 65 Jahren in Rente zu gehen, eine rechtswidrige Diskriminierung darstellen oder vertragsrechtlich null und nichtig sind. Es ist bemerkenswert, dass hoch qualifizierte Arbeitnehmer, einschließlich der Partner in Anwaltskanzleien und Beratungsunternehmen, die im Sinne dieser Gesetze keine Arbeitnehmer sind, weiterhin Verträge eingehen, die einen obligatorischen Ruhestand vorsehen. Ihre Partnerschaftsverträge sehen häufig die Kündigung der Partnerschaftsbeteiligung ab einem Alter von 65 Jahren vor. In ähnlicher Weise sind leitende Angestellte von Unternehmen und Universitätsbeamte durch einen privaten Vertrag oft gezwungen, in einem bestimmten Alter zurückzutreten. In letzterem Fall kann von ihnen nicht verlangt werden, dass sie sich von ihren Stellen innerhalb der Fakultät zurückziehen; die Verantwortung und zusätzliche Vergütung, die mit einer administrativen Position verbunden sind, enden jedoch im Alter von 68 Jahren oder zu einem anderen festen Zeitpunkt.

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Diese privaten Verträge rufen uns die wünschenswerten Besonderheiten eines erzwungenen Eintritts in den Ruhestand in Erinnerung. Natürlich leisten einige Angestellte auf ihren Stellen fantastische Arbeit – weit über jede Altersgrenze hinaus. Es gibt 85-Jährige, die außergewöhnliche Manager sind, und wenn man von ihnen verlangte, in den Ruhestand zu gehen, würde dies beträchtliche private und soziale Kosten nach sich ziehen. ­ Einige Anwaltskanzleien unternehmen beispielsweise große Anstrengungen, um diese seltenen Genies an ihrem Arbeitsplatz zu halten. Doch es gibt auch zahlreiche Arbeitsplätze, bei denen es unangenehm oder sogar verletzend wäre, jemandem zu empfehlen, in Rente zu gehen, und wenn Angestellte unbegrenzt lange weiterarbeiten können, sind dafür mehrere Gespräche notwendig. Das Gesetz gegen die Altersdiskriminierung verlangt vom Unternehmen zu beweisen, dass der Arbeitnehmer nicht mehr für die Stelle geeignet ist oder sich schlecht benommen hat, und dies kann schwierig, teuer und demütigend sein. Es ist leicht einzusehen, warum manche Arbeitgeber eine Regelung bevorzugen, die eine Pensionierung in einem bestimmten Alter vorsieht, selbst wenn diese Regelung für einige Arbeitnehmer und auch für den Arbeitgeber mit Kosten verbunden ist. Eine solche vertraglich festgesetzte Pensionierung schafft außerdem Raum für neue Mitarbeiter und neue Ideen. Nichts hält den Pensionär davon ab, ein Geschäft zu eröffnen oder anderswo nach Arbeit zu suchen, denn nichts verpflichtet sämtliche Arbeitgeber, einen Rückzug aus dem Arbeitsleben zu verlangen. Dahinter steht die Vorstellung, dass der erzwungene Eintritt in den Ruhestand von der zulässigen, vertraglich vereinbarten und angenehmen Art sein würde. Es ist plausibel, dass ein solcher vertraglich erzwungener Eintritt in den Ruhestand die Stigmatisierung, die mit dem Älterwerden verbunden ist, eher verringern würde. Wenn an einem Arbeitsplatz jeder im Alter von 70 Jahren in Rente gehen muss, besteht die Gefahr, dass Personen über 70 als „auf dem absteigenden Ast“ betrachtet werden, auch außerhalb des Arbeitsplatzes. Alternativ könnten Pensionäre jedoch als Personen gesehen werden, die einem Plan zugestimmt haben, nach dem sie vom Ruhestand ihrer Vorgänger profitierten, und die nun einwilligen, für ihre Nachfolger Platz zu machen. Eine Regelung, nach der der Eintritt in den Ruhestand eine Notwendigkeit darstellt, kann die Situation am Ende des Arbeitslebens weniger vergiften als langwierige und unangenehme Rechtsstreite, um zu beweisen, dass ineffektive ältere Arbeiter eine Belastung sind, die dann abgeschoben werden. Wenn es keinen obligatorischen Ruhestandseintritt gibt, können ältere Arbeitnehmer als die am wenigsten effizienten gelten, da der Arbeitgeber ihre Löhne nicht einfach reduzieren oder sie kündigen kann. Wem das weit hergeholt erscheint, den lade ich zu genauer Fremd- und Selbstbeobachtung ein. An wen wendet man sich in der Bank? Nach meiner Erfahrung scheinen Kassierer in ihren Dreißigern und Vierzigern die beliebtesten

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zu sein; sie sind erfahren genug, um effektiv zu sein und Stammkunden wiederzuerkennen, aber nicht so erfahren, dass sie, nun ja, langsam sind. Es kann sehr gut sein, dass ein 75-jähriger Kassierer ebenso kompetent ist, doch aus der Sicht des Arbeitgebers hat der ältere Kassierer über die Jahre Lohnerhöhungen erhalten und ist sicher nicht doppelt so produktiv wie der 40-Jährige. Es ist wahrscheinlich, dass – sollte das Gesetz (erneut) Arbeitsverträge mit einem festgelegten Eintritt in den Ruhestand erlauben – Arbeitgeber Arbeitnehmer mittleren und sogar fortgeschrittenen Alters attraktiver finden könnten. Zurzeit dürfen Arbeitgeber ältere Bewerber nicht diskriminieren, aber es ist schwer, erfolgreich im Auftrag einer Person zu klagen, die nicht eingestellt wurde. Bei Verfahren wegen Altersdiskriminierung geht es fast ausschließlich um die Entlassung älterer Arbeitnehmer, nicht darum, dass sie nicht eingestellt wurden. Ein Arbeitgeber könnte ohne Weiteres eine Person im Alter von 55 Jahren einstellen, wenn er oder sie zusagen würde, im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand zu gehen. Doch Arbeitgeber werden von ihrer Rechtsabteilung darauf hingewiesen, dass ein solcher Vertrag nicht durchsetzbar wäre und das Unternehmen sich dadurch der Gefahr von Klagen wegen Altersdiskriminierung aussetzen würde. Wenn ein Arbeitnehmer im Durchschnitt nach dem 70. Lebensjahr weniger effektiv ist, dann möchte ein vernünftiger Arbeitgeber vielleicht nicht die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen, welche Angestellten entlassen werden sollten. Wenn jedoch davon ausgegangen werden könnte, dass sämtliche Angestellten mit 70 Jahren in den Ruhestand gehen, wäre die Einstellung von Bewerbern mittleren Alters einfacher. Als das Gesetz, das die obligatorische Pensionierung beendete, erlassen wurde, erhielten die Arbeitnehmer im Prinzip die (kostenlose) Möglichkeit, länger zu arbeiten, als von beiden Parteien ursprünglich vereinbart worden war. Seit dem Ende der erzwungenen Pensionierung sind viele Mitarbeiter eingestellt worden, sodass, sollten Verträge mit einem gesetzlichen Renteneintrittsalter wieder erlaubt sein, gesetzlich darüber entschieden werden müsste, ob diese Bedingungen auf bestehende Verträge angewendet werden könnten – ebenso wie ihre Abschaffung auf die damals existierenden Verträge anwendbar war –, oder ob sie nur für neue Verträge erlaubt wären. Eigentlich könnten Arbeitgeber, die sich den obligatorischen Ruhestandseintritt sehnlich herbeiwünschen, sämtliche ihrer Angestellten entlassen und ihnen dann anbieten, sie nach den Bedingungen neuer Verträge mit den gewünschten Vorbehalten wieder einzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass Arbeitnehmer und Politiker, die auf ihre Unterstützung hoffen, dieser Strategie einen Riegel vorschieben würden. Mit anderen Worten: Viele derzeitige Arbeitnehmer haben die Absicht, nach dem 65. oder 70. Lebensjahr in den Ruhestand zu gehen, und es scheint ungerecht, diese Erwartungen ohne eine Entschädigung zu enttäuschen. So unfair es auch gegenüber

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Arbeitgebern gewesen sein mag, deren Erwartungen, dass Arbeitnehmer in den Ruhestand eintreten würden, durch den Erlass von Gesetzen, die diese Vertragsbedingungen ungültig machten, enttäuscht wurden: Es ist unfair – oder ganz einfach politisch nicht durchsetzbar –, mit Arbeitnehmern auf dieselbe Weise zu verfahren. Im Großen und Ganzen handelt es sich hierbei nicht um dieselben Arbeitnehmer, die unerwartete Gewinne erhielten, als die gesetzlichen Bestimmungen zum erzwungenen Eintritt in den Ruhestand aufgehoben wurden. Ein Angestellter, der wie ich im Jahre 1980 eingestellt wurde, hat davon profitiert, als die Begrenzung seiner Lebensarbeitszeit durch eine gesetzliche Anordnung aufgehoben wurde. Ein Arbeitgeber, der unbedingt will, dass ein solcher Arbeitnehmer im Alter von 70 Jahren in den Ruhestand tritt – vielleicht, um für junge Talente Platz zu machen, um die mit steigendem Dienstalter gestiegenen Gehälter einzusparen oder um Arbeitnehmer zu entlassen deren Produktivität gesunken ist – muss durch eine Abfindung, durch eine subventionierte Gesundheitsversorgung und durch andere teure Leistungen Anreize für den Ruhestandseintritt schaffen. Dies ist finanziell besonders aufwändig, weil es für sämtliche Mitarbeiter durchgeführt werden muss. Sollten sie versuchen, nur bei weniger produktiven älteren Arbeitnehmern Anreize für einen Ruhestandseintritt zu schaffen, riskieren Arbeitgeber Klagen. Tatsächlich haben viele Arbeitgeber Anreize für den Eintritt in die Rente geschaffen, die von einem beträchtlichen Prozentsatz berechtigter Arbeitnehmer angenommen wurden. Ein Arbeitgeber könnte ein Dauerangebot machen, dass jeder Arbeitnehmer, der im Alter von 65 Jahren einwilligt, mit 68 Jahren in Rente zu gehen, im Gegenzug eine Zahlung erhält, die einem Jahresgehalt oder sogar mehr entspricht. Wenn diese Pläne über viele Jahre ihre Gültigkeit behalten, werden die Mitarbeiter, die diese Zahlungen annehmen oder ablehnen, schließlich nicht mehr diejenigen sein, die durch die Abschaffung der Zwangspension einen unerwarteten finanziellen Gewinn erhielten. Es ist daher plausibel, dass aus der Perspektive des Arbeitgebers keine große Gesetzesänderung erforderlich ist. Die Arbeitgeber werden einfach von Arbeitsverträgen auf unbestimmte Zeit (die es ihnen erlauben, Arbeitnehmer ohne Angst vor Rechtsstreitigkeiten zu entlassen) über eine obligatorische Pensionierung, leistungsorientierte Pensionspläne und jetzt zu Abfindungsverträgen umgeschaltet haben. Weniger optimistisch stimmt, dass die Arbeitgeber gelernt haben, sehr vorsichtig zu sein, bevor sie Mitarbeiter einstellen, die länger bleiben könnten, als ihnen lieb ist, mit ständig drohenden Klagen im Hintergrund. Ich will nicht übertreiben und behaupten, dass der Anstieg der Teilzeitbeschäftigten sowohl von der fehlenden Möglichkeit, Verträge bezüglich des Ruhestands abzuschließen, als auch von den Kosten für die Gesundheitsversorgung und andere Leistungen herrührt, aber es gibt wahrscheinlich eine Kausalbeziehung

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zwischen dem Ende des erzwungenen Eintritts in den Ruhestand und der Einstellung von mehr Teilzeitarbeitnehmern. An den Universitäten ist dieser Austausch dramatisch. Die Expansion der Universitäten ist durch die Einstellung von Lehrbeauftragten anstelle von Vollzeitlehrkräften zustande gekommen; die Lehrbeauftragten konkurrieren um Positionen und Bezahlung, während unkündbare Voll­ zeitprofessoren, die von der Möglichkeit profitieren, fast ohne jedes Risiko einer Kündigung aus wichtigen Gründen so lange zu bleiben, wie sie wollen, weniger als die Hälfte der Lehrkräfte und einen noch kleineren Teil der Neueinstellungen ausmachen. Wenn das Verbot von Arbeitsverträgen mit einem obligatorischen Eintritt in den Ruhestand für Arbeitgeber – und damit für viele Arbeitnehmer – so kostspielig ist: Warum sehen wir keinen Druck in Richtung auf eine Änderung des Gesetzes? Das Gesetz könnte beispielsweise private Verträge mit einer festgelegten Altersgrenze erlauben. Gegenwärtige Mitarbeiter würden sich gegen diese Änderung wehren, und müssten wahrscheinlich vor der Möglichkeit geschützt werden, dass ein Arbeitgeber sie einfach kündigt und ihnen dann anbietet, sie nach den gesetzlich nunmehr erneut zulässigen Bedingungen wieder einzustellen. Darüber hinaus könnten Angestellte befürchten, dass man ihnen kündigt, um Platz für neue Mitarbeiter zu machen, mit denen man neue Verträge mit verpflichtendem Eintritt in den Ruhestand abschließen könnte. Sind feste Regelungen bezüglich des Ruhestands hingegen nur in neuen Verträgen mit neuen Angestellten zulässig, dann wird es nur sehr wenig politischen Druck geben, solche Gesetze zu verabschieden. Die Arbeitgeber werden wenig zu gewinnen haben, da sie erst nach vielen Jahre in den Genuss der Vorteile des neuen Gesetzes kommen werden; sie müssen jetzt für das Gesetz „zahlen“, profitieren jedoch erst in ferner Zukunft davon – vorausgesetzt, das Gesetz wird zwischenzeitlich nicht wieder rückgängig gemacht. Ähnliche Kurzsichtigkeiten, die zu unterfinanzierten Pensionsplänen geführt ­haben, werden zu einer politischen Krise führen sowie dazu, dass man sich nicht für die Vertragsfreiheit stark macht. Wichtiger ist die Tatsache, dass wir eine­ alternde Bevölkerung haben und dass das politische Gravitationszentrum sich wahrscheinlich gegen alles wenden wird, das die Möglichkeiten älterer M ­ enschen einschränken könnte. Dies könnte sich bereits anhand der Unfähigkeit bundesstaatlicher und ört­ licher Regierungen zeigen, politische Lösungen für ihre­ Probleme mit unterfinanzierten Pensionsplänen auszuhandeln. Soll das Verbot des obligatorischen Eintritts in den Ruhestand jemals enden, dann müssen­ Reformen in Schritten erfolgen, die die ­Einwände mächtiger Gruppen voraussehen.

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Eine Möglichkeit, den Widerstand gegen Gesetzesreformen zu verringern, besteht darin, den Wandel zu verzögern und die Last des Wandels in die Zukunft zu verschieben. Ein Vorschlag aus dem Jahr 2017, ab 2037 in Arbeitsverträgen ein Renteneintrittsalter zuzulassen, hätte eine gute Chance, angenommen zu werden, da die meisten offensichtlichen Verlierer unbekannt sind und gewiss nicht politisch organisiert. Andererseits sind Stellenbewerber, die von der Änderung profitieren würden, 2017 noch nicht identifizierbar, und Arbeitgeber, die die Änderung befürworten, werden die in zeitlicher Ferne gelegenen Vorteile ignorieren und nicht viel in politische Arbeit investieren. Eine andere Strategie für Arbeitgeber bestünde darin, anzukündigen, dass die Gehaltsentwicklung einem umgekehrten U folgen wird. Man kann sich kaum vorstellen, dass der öffentliche Dienst eines Bundesstaates automatisch und ohne Ausnahme festlegt, dass Gehälter nach 30 Dienstjahren jährlich um fünf Prozent abnehmen. Der Arbeitgeber könnte argumentieren, dass der Plan die Kosten unter Kontrolle hält und Platz für neue Mitarbeiter schafft (indem er Anreize für den Eintritt in den Ruhestand schafft). Es ist nicht gesagt, dass die Gerichte diese Regelung zulassen würden, und da sie so gut wie sicher auf neue Arbeitnehmer beschränkt wäre – sodass jedwede Einsparungen sich erst nach Jahrzehnten ergeben würden – wäre ein solcher Plan wahrscheinlich die Anstrengungen, die für den Erlass dieser Regelung erforderlich wären, nicht wert. Ich denke, es wäre eine bessere Strategie, wenn das Gesetz zusicherte, dass ab einem bestimmten Alter, wie zum Beispiel ab 68 Jahren, niemand mehr eine Klage wegen Altersdiskriminierung erheben kann. Die Sozialversicherung und andere Ruhestandspläne würden Pensionären ein Einkommen zahlen, und dies wäre ein Teil des soliden gesetzlich verankerten Standards für den Ruhestand. Einige Arbeitgeber könnten dann Arbeitsverträge anbieten, nach denen das Gehalt ab einem Alter von 68 Jahren jährlich um fünf Prozent zurückginge. (Automatische Gehaltssenkungen vor diesem Alter müssten Klagen gegen Altersdiskriminierung überstehen.) Andere Arbeitgeber könnten Verträge einfach so strukturieren, dass die Beschäftigung mit 68 enden würde, vielleicht ab demselben Alter, ab dem die maximalen Leistungen der Sozialversicherung verfügbar wären. Arbeitgeber und Arbeitnehmer könnten sich jedoch entscheiden, einen neuen Arbeitsvertrag über dieses Alter hinaus auszuhandeln, und zwar zu jedem zwischen ihnen vereinbarten Gehalt. Bei einer Stelle wie meiner würde der Ruhestand mit 68 Jahren beginnen, während es zurzeit kein Ruhestandsalter gibt. Meine Universität könnte mir allerdings auch über dieses Alter hinaus für eine beliebige von ihr gewünschte Anzahl von Jahren eine Stelle anbieten, und zwar zu einem Gehalt, das zu den Einkünften vor dem Alter von 68 Jahren nicht (oder doch) in Beziehung stünde. In einigen Ländern ist die Pensionierung auf diese Weise ge-

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regelt, wobei das voraussichtliche Pensionsalter an das Alter gebunden ist, zu dem Rentenleistungen verfügbar werden. In Israel zum Beispiel beträgt das Renteneintrittsalter für Männer 67 Jahre und für Frauen 62 Jahre (obwohl die Regierung gegenwärtig im Begriff ist, diese Stufen schrittweise auf 70 bzw. 64 Jahre heraufzusetzen). Im Alter von siebenundsechzig Jahren endet die Erwerbstätigkeit eines Mannes, sei es im öffentlichen oder im privaten Bereich, und er erhält ab dann Renteneinkünfte vom Staat. Seinem oder einem anderen Arbeitgeber steht es frei, ihn gegen Bezahlung über dieses Alter hinaus zu beschäftigen, aber solche Verträge sind selten. Dasselbe würde nach dem hier skizzierten Vorschlag in den USA gelten, nur dass ein Rentenalter (sagen wir 68 Jahre) für beide Geschlechter gelten würde, und es würde wahrscheinlich eine signifikante Minderheit von Arbeitnehmern geben, die über dieses Alter hinaus erneut eingestellt würden, wenn auch nur, weil unsere Altersversorgung weniger großzügig ist als anderswo. Es mag überraschen, dass das Gesetz in vielen Ländern Frauen in jüngerem Alter als Männern eine Pension gewährt. Typischerweise beträgt dieser Unterschied fünf Jahre. Er wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, in vielen Ländern mittlerweile jedoch abgeschafft. Frauen leben überall länger als Männer, doch in keinem Land ist das Rentenalter für Frauen höher als für Männer. Frauen tendieren dazu, jünger in Rente zu gehen als Männer, selbst in Ländern wie den USA, wo Pensionäre unabhängig von ihrem Geschlecht ab einem bestimmten Alter Anspruch auf eine Rente haben. Andererseits ist es üblich, weil Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit Pflegeaufgaben übernommen haben, weniger Beitragsjahre von ihnen zu verlangen als von Männern. Vorschläge zur Erhöhung des Renteneintrittsalters, also desjenigen Alters, ab dem eine volle Rente bezogen werden kann, werden von Frauen oft am lautesten bekämpft. Der offensichtliche Grund für diesen Einwand ist die Erwartung eines früheren Eintritts in den Ruhestand, doch es ist auch der Fall, dass einkommensschwächere Arbeitnehmer durch eine Verschiebung des Renteneintrittsalters relativ gesehen mehr verlieren, und dass Frauen im Durchschnitt niedrigere Einkommen haben als Männer. Eine andere Idee, langsam zu einem rechtlichen Rahmen zurückzukommen, der es erlaubt, das Alter des Renteneintritts vertraglich festzulegen, besteht darin, mit der Besteuerung von wohlhabenden älteren Arbeitnehmern zu beginnen. Die meisten Wähler machen sich Sorgen um die Zahlungsfähigkeit des Systems der sozialen Sicherheit. Sie werden auch Verständnis für Senioren haben, die Familienmitglieder unterstützt haben und nun für ihren eigenen, häufig aufgeschobenen Ruhestand arbeiten müssen. Diese Arbeitnehmer haben sich möglicherweise darauf verlassen, dass es keinen obligatorischen Eintritt in den Ruhestand geben würde, oder sie haben vielleicht einfach schwere Zeiten hinter sich. Betrachten wir nun jedoch einen

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Vorschlag zur Begrenzung der vollen Leistungen für Rentner, die das Arbeitsleben im durchschnittlichen Renteneintrittsalter verlassen, es sei denn, ihr Einkommen nach diesem Alter beträgt weniger als 75.000 Dollar im Jahr. Stellen wir uns vor, dass die Sozialleistungen auf 30.000 Dollar pro Jahr begrenzt sind und dass dieser Betrag jemandem zur Verfügung steht, der sich mit 62 Jahren, dem üblichen Durchschnittsalter für den Renteneintritt, aus dem Arbeitsleben zurückzieht. Nach diesem Vorschlag würde die Obergrenze der Leistungen bei 27.000 Dollar liegen, wenn jemand im Alter von 63 Jahren in den Ruhestand trat, bei 24.000 Dollar, wenn er im Alter von 64 Jahren in den Ruhestand ging, und so weiter, bis eine wohlhabende Person (mit einem Jahreseinkommen von mehr als 75.000 Dollar), die mehr als 72 Jahre alt war, als sie in Rente ging, überhaupt keine Sozialversicherungsleistungen erhalten würde. Diese Art Plan kommt einer hohen Besteuerung von Personen gleich, die über das durchschnittliche Renteneintrittsalter hinaus einen hohen Verdienst haben. Jemand, der sich im Alter von 73 Jahren in den Ruhestand begibt und in den Jahren zwischen 65 und 72 Jahren jährlich mehr als 75.000 Dollar verdiente, würde für den Rest seines Lebens gar keine Sozialleistungen mehr erhalten. Jedes Arbeitsjahr über das 62. Lebensjahr hinaus kostet 3000 Dollar, multipliziert mit der Anzahl der erwarteten Lebensjahre, obwohl diese Verluste natürlich aufgeschoben sind. Wer zum Beispiel im Alter von 66 statt 65 Jahren in Rente geht, hat eine Lebenserwartung von etwa 17 Jahren und verliert, aufgrund dieses zusätzlichen Jahres hoch entlohnten Arbeitseinkommens, 3000 Dollar pro Jahr. Bei einem Zinssatz von fünf Prozent beträgt die implizite Steuer auf dieses zusätzliche Jahreseinkommen nach derzeitigem Wert rund 34.000 Dollar, zusätzlich zu der herkömmlichen Einkommenssteuer für den jeweils verdienten Betrag. Für einen 65-Jährigen, der 100.000 Dollar verdient, sind das erhebliche Zusatzkosten bzw. ist es ein beträchtlicher negativer Anreiz. Sie haben wahrscheinlich sehr wenig Einfluss auf eine Führungskraft oder einen Arzt, die über ein Gehalt von 500.000 Dollar verfügen. Man sollte erwarten, dass die meisten derzeitigen und künftigen Sozialversicherungsempfänger diesen Plan befürworten, da er auf Kosten einer relativ kleinen Gruppe für ein belastetes System Ressourcen spart. Die Verlierer sind sehr wohlhabende ältere Arbeitnehmer – von denen die meisten ihre Karriere in Erwartung eines obligatorischen Rentenalters begonnen und dann einen unerwarteten Gewinn gemacht haben. Was jüngere Mitbürger betrifft, so könnten diejenigen, die hohe Gehälter erwarten, sich über die Sozialversicherung ärgern, da es sein könnte, dass sie in das System einzahlen und dann nur geringe oder gar keine Vorteile davon haben. Doch dieses Ergebnis wird nur für Arbeitnehmer eintreten, die sich entscheiden, nach dem durchschnittlichen Renteneintrittsalter in den Ruhestand zu gehen. Die wahrscheinlichere Wirkung, insbesondere in Bezug auf Arbeitnehmer, die zwischen

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75.000 und 150.000 Dollar verdienen, ist der Anreiz zu einem vorzeitigen oder typischen Eintritt in den Ruhestand, um die implizite und beträchtliche Besteuerung der nach diesem Alter geleisteten Arbeit zu umgehen. In Kapitel 7 werde ich einen noch drastischeren Plan für die soziale Sicherheit vorstellen, doch der befasst sich mit dem Problem der Altersarmut und einer Generation von Menschen, die nicht gespart haben; gegenwärtig liegt mein Augenmerk auf dem Verfügbarwerden von Arbeitsplätzen, die von Arbeitnehmern besetzt gehalten werden, die die Arbeitgeber Angst haben zu entlassen. Die hier skizzierte Steueridee ist an das durchschnittliche Rentenalter gebunden, könnte aber auch nach 30 Jahren (versteuertem) Renteneinkommen angewendet werden. Abgesehen von der darin eingebetteten progressiven Funktion unterscheidet sie sich nicht wesentlich von dem zuvor erwähnten Schema, in dem Arbeitgeber sich vertraglich verpflichten, dass die Löhne nach vielen Dienstjahren zurückgehen werden. Beide Pläne sind darauf ausgelegt, Anreize für den Eintritt in den Ruhestand zu schaffen oder die Bezahlung an die erwartete Produktivität anzupassen, und beide lassen Raum für wirklich außergewöhnliche ältere Arbeitnehmer, die weiterhin arbeiten möchten. Man beachte, dass gegenwärtige Trends angesichts eines fehlenden Plans zur Besteuerung wohlhabender Sozialversicherungsempfänger den Abstand der Ungleichheit, der zwischen der Spitze und der Mitte unserer Gesellschaft existiert, zu einem großen Teil erklären. Beamte im öffentlichen Dienst und gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer gehen in einem relativ jungen Alter in Rente. Pensionspläne haben, wie wir gesehen haben, dieses Verhaltensmuster bestärkt, doch häufig sind diese Arbeitsplätze auch sehr anstrengend. Neue, jüngere Vorgesetzte treten auf den Plan, oft mit modebedingten oder eigenwilligen Forderungen, und der Eintritt in den Ruhestand mag eine große Erleichterung darstellen. Dies ist nicht der Fall bei vom Glück begünstigten Menschen wie Professoren an großen Universitäten, Wissenschaftlern und verschiedenen anderen Fachleuten. Unsere Jobs sind oft nicht körperlich anstrengend, und viele von uns gehen gerne zur Arbeit. Werden erst spät in den Ruhestand eintretende Mitarbeiter bis dahin allerdings unverhältnismäßig gut bezahlt, so wird durch das Fehlen eines obligatorischen Renteneintritts die Einkommensungleichheit verstärkt. Ich halte dies nicht für ein schlagendes Argument für die Zulassung von Arbeitsverträgen mit Ruhestandsregelungen, aber nachdenken sollte man darüber schon. Worum es hier letztlich geht, ist dies: dass das Verbot des obligatorischen Ruhestandseintritts genau das ist, was eine von Interessengruppen gesteuerte Demokratie wahrscheinlich einführen und von dem sie dann feststellen wird, dass es nur sehr schwer wieder rückgängig zu machen ist. Regeln gegen die Diskriminierung älterer Menschen sind attraktiv, und viele Wähler werden erwarten, von dem Antidiskrimi-

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nierungsgesetz zu profitieren. Erweitert sich die Regel bis zu einem absoluten Verbot von Bestimmungen über einen obligatorischen Eintritt in den Ruhestand, denken Millionen von Wählern sofort, dass es ihnen dadurch besser geht. Zunächst hatte das Gesetz mehrere Ausnahmen, sodass es für seine Gegner schwer war, auf eindeutige Fälle hinzuweisen, in denen ältere Arbeitnehmer eine Belastung darstellten. Die Wähler unterschätzten wahrscheinlich, wie schwierig es zu beweisen ist, dass jemand seine Arbeit nicht mehr ausführen kann. Nur wenige Arbeitgeber investierten viel Energie darein, sich dem Verbot zu widersetzen, da sie mit Hilfe leistungsorientierter Pensionspläne ziemlich effektiv Anreize für den Eintritt in den Ruhestand schaffen konnten. Tatsächlich verfügten, als das Verbot des obligatorischen Eintritts in den Ruhestand in Kraft trat, die meisten Arbeitgeber über leistungsorientierte Versorgungspläne, weshalb sich ihre Mitarbeiter in einem Alter aus dem Arbeitsleben zurückzogen, das vor dem durch die Sozialversicherung geschaffenen durchschnittlichen Renteneintrittsalter lag. Inzwischen hat sich die Lage geändert; das durchschnittliche Renteneintrittsalter steigt, doch das wichtigste Instrument zur Förderung einer vorzeitigen Berentung ist veraltet, zum Teil durch gesetzliche Änderungen. Viele Arbeitnehmer werden weit über den Zeitpunkt hinaus, zu dem ihre Produktivität ihre Bezahlung rechtfertigt, an ihrem Arbeitsplatz bleiben. Darunter leiden werden die Arbeitgeber ebenso wie jüngere Arbeitnehmer, die erst dann eingestellt werden können, wenn diese älteren Arbeitnehmer in Rente gehen. Gleichzeitig hat das Durchschnittsalter der Bevölkerung zugenommen und die älteren Menschen verfügen über beträchtliche politische Macht. Jeder Angriff auf das Verbot der Zwangspensionierung oder jeder Versuch, es Arbeitgebern zu erleichtern, (durch das Gesetz gegen Altersdiskriminierung geschützte) weniger effektiv arbeitende Arbeitnehmer zu entlassen, wird den heftigen Widerstand dieser mächtigen Gruppe zur Folge haben. Jüngere Arbeitnehmer werden den Wandel wahrscheinlich nicht mit gleicher Intensität befürworten, denn die Mitglieder dieser potenziellen Interessengruppe wissen nicht wirklich, ob sie von Gesetzesänderungen persönlich profitieren werden. Eine identifizierbare Gruppe potenzieller Verlierer wird normalerweise politisch wesentlich aktiver und erfolgreicher sein als eine Gruppe verstreuter, nicht identifizierbarer möglicher Gewinner. Es ist unwahrscheinlich, dass jüngere Arbeitnehmer und Wähler das Verbot der Zwangspensionierung rückgängig machen können – selbst in Fällen, in denen die Arbeitnehmer freiwillig diesen Bedingungen zustimmen. Wenn es zu Veränderungen kommt, wird dies darauf zurückzuführen sein, dass Unternehmen in andere Länder abwandern, in denen eine größere Vertragsfreiheit existiert.

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Kein Ende in Sicht Martha Durch den reinen Zufall zeitlicher Umstände bin ich, wie alle amerikanischen Akademiker meiner Generation, vor einem schlimmen Schicksal bewahrt worden. Mit 69 Jahren bin ich noch immer glücklich zu unterrichten und zu schreiben, ohne Pläne für den Eintritt in den Ruhestand zu haben, da die USA den Zwang, in Rente gehen zu müssen, abgeschafft haben. Zu meinem Glück war das Gesetz auch schon so lange geändert worden, dass ich noch nicht einmal mit dem erzwungenen Eintritt in den Ruhestand rechnen oder Sorge haben musste, mit 65 Jahren ausrangiert zu werden, ob ich es wollte oder nicht. Darüber hinaus konnte ich angesichts der Tatsache, dass die Philosophie eine auf heitere Weise langlebige Profession ist, auch in beruflicher Hinsicht eine unbeschwerte Produktivität in meinen „späteren Jahren“ erwarten. An anderer Stelle erörtere ich, Cicero folgend, die Langlebigkeit und Produktivität in fortgeschrittenem Alter, sowohl bei den antiken griechischen und römischen Philosophen als auch bei zahlreichen führenden Philosophen der jüngeren Vergangenheit. Meine Altersgruppe wuchs mit solchen Geschichten auf. Unsere diesbezüglichen Hoffnungen nährten sich auch durch näherliegende Beispiele: Vor seinem 50. Lebensjahr, in dem Eine Theorie der Gerechtigkeit erschien, hatte der bedeutende John Rawls nur ein paar Artikel veröffentlich. Und Hilary Putnam, der im Jahr 2016 knapp vor seinem 90. Geburtstag gestorben ist, hat niemals aufgehört, seine Auffassungen zu ändern und neue Ideen zu entwickeln. Auf der Konferenz zu seinem 85. Geburtstag, auf der junge Philosophen drei Tage lang über jeden Aspekt seines Werkes, von der mathematischen Logik bis zur Religionsphilosophie, Vorträge hielten, sprang er nach jedem Vortrag vergnügt auf, um darauf zu antworten, und sagte dabei fast immer etwas Interessanteres als der Redner. Es ist also kein Zufall, dass es mir merkwürdig und grausam vorkommt, wenn Mitglieder meiner Altersgruppe in der Philosophie in den Ruhestand versetzt werden, nur weil sie zufällig in Europa oder Asien arbeiten, obwohl sie noch ein paar Jahre jünger sind als ich. Einige wurden nicht nur aus ihrem Fachbereich verdrängt, sondern sie mussten auch ihr Büro räumen und aus Universitätswohnungen ausziehen. Sie waren so gezwungen umzuziehen, manchmal in entlegene Vorstädte, zu weit entfernt, um regelmäßig mit akademischen Freunden oder Doktoranden zusammenzukommen, oder um es ihnen zu ermöglichen ihre früheren Kollegen häufiger zu treffen. Das alles scheint mir ungerecht zu sein, und ich fühle mich so glücklich, dass ich weiterarbeiten kann, bis das Schicksal mich ruft – oder bis ich etwas anderes tun möchte.

Kein Ende in Sicht

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Die Liebe zu meiner Arbeit ist ein Teil meiner romantischen und idealistischen Einstellung zum Leben – der Saul, charakteristischerweise, einen entgegengesetzten, hartnäckig realistischen Stoß versetzt. Doch nun muss ich damit aufhören, mich auf meine eigenen Emotionen (!) zu konzentrieren, und einige Argumente vortragen. Zum Glück bringt mich das nicht in Verlegenheit. (Wenn dies eine E-Mail wäre, würde an dieser Stelle ein Smiley stehen.) Vorweg ein Vorbehalt: Ich spreche hauptsächlich über Arbeit, die der Arbeitende als sinnvoll erfährt, nicht über geisttötende, sich ständig wiederholende Büroarbeiten und schon gar nicht über harte körperliche Arbeit. Für diese Berufe ist die Pensionierung in den USA bereits eine beliebte Option, und unter den passenden Bedingungen könnte die Zwangsversetzung in den Ruhestand, wie Saul sie vorsieht, genau das Richtige sein. Wir müssen sorgfältig zwischen dem Alter unterscheiden, in dem die Pensionierung erlaubt, und demjenigen, zu dem sie notwendig ist. Wir sollten allerdings beachten, dass das vorzeitige Verlassen eines langweiligen Arbeitsplatzes heute häufig zur Wahl einer anderen beruflichen Orientierung führt, bei der es sich oft um eine sinnvollere Tätigkeit handelt. Kürzlich waren sowohl die Rabbinerin als auch die Kantorin in meiner Synagoge Frauen in ihrem zweiten Beruf. Wenn derartige Optionen durch einen irgendwie gearteten erzwungenen Ruhestand verschlossen werden sollten, würden sich sinnvolle Möglichkeiten für eine weitere Beschäftigung auf freiwillige Arbeit beschränken, die nur Menschen mit einem ausreichenden Einkommen zur Verfügung stünde.

Gesundheitswesen, Gleichheit, adaptive Präferenzen Doch nehmen wir unseren Gedankengang wieder auf und beginnen mit dem besten Beispiel obligatorischer Pensionierung, dem ich in der akademischen Welt begegnet bin: der Zwangsversetzung in den Ruhestand in Finnland. Ich habe dort viel Zeit­ verbracht, und mittlerweile mussten viele meiner guten Freunde in den Ruhestand gehen, was im Alter von 65 Jahren der Fall ist. (Der Eintritt in den Ruhestand ist in sämtlichen Lebensbereichen vorgeschrieben; ich konzentriere mich hier auf die Hochschulen, da ich diesen Bereich am besten kenne.) Das Klima ist zuträglich und meine pensionierten Freunde sind größtenteils gesund und potenziell produktiv. Sie können jedoch nicht unterrichten oder in ein Büro gehen. Trotzdem beschwert sich niemand. Meines Wissens gibt es keinen Interessenverband, der auf ein Ende dieser Regelung drängt. Meine persönlichen Bekannten äußern sich im Großen und Ganzen zufrieden. Tatsächlich schreiben die finnischen Verhaltensnormen vor, sich nicht zu beklagen, selbst gegenüber Kollegen nicht; auch nicht in den schlimmsten Situationen. Für die richtige Art des Umgangs mit einer todbringenden Krankheit hält man

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es, bis wenige Tage vor dem Ende zu schweigen. Meine Freunde würden es daher für schlecht halten, sich zu beschweren oder gar eine Interessengruppe zu gründen. Was sind ihre grundlegenden Einstellungen? Ich glaube, soziale Normen greifen auch hier. Ich sondiere, frage nach und beobachte, und ich glaube wirklich, dass die Menschen sich zufrieden fühlen. Sollten sie jedoch Anflüge von Unbehagen empfinden, so fühlen sie sich dafür schuldig. Warum also sind Philosophen in Finnland anscheinend mit etwas zufrieden, was Amerikaner weitgehend ablehnen und verachten? Soziale Normen und Erwartungen, so behaupte ich, stellen den wichtigsten Faktor dar. Es gibt allerdings noch zwei andere Faktoren, die ich zuerst erörtern möchte. Der erste ist die Krankenversicherung. Finnland verfügt über eine großzügige und qualitativ hochwertige, umfassende nationale Krankenversicherung, die für alle gleich ist. Sie finanziert eine hohe Qualität medizinischer und pflegerischer Versorgung (einschließlich häuslicher Pflege), unabhängig davon, ob jemand arbeitet oder nicht. Die Menschen sind von Anfang an daran gewöhnt, sich keine Sorgen über eine künftige mögliche Pflegebedürftigkeit zu machen. Der Altenpflege in den USA, unter Medicare und Medicaid, fehlen einige Bestandteile des finnischen Systems, und alternde Menschen fühlen sich dementsprechend weniger sicher. Während das finnische System damit beginnt, seine Leistungen zu kürzen, und die Pflege nicht mehr einheitlich verfügbar ist (vgl. hierzu mein Kapitel über Ungleichheit), machen sich die Finnen neuerdings um den Ruhestand wesentlich mehr Sorgen. Im Weltmaßstab stehen sie allerdings immer noch relativ gut da. Dennoch ist die Sicherheit im Gesundheitswesen nicht das Hauptproblem der Gruppe, von der ich rede: der Menschen, die arbeiten, weil ihre Arbeit für sie sinnvoll ist. Wichtiger ist, dass es ein Gleichstellungsproblem gibt. Finnen betrachten den obligatorischen Eintritt in die Rente nicht als eine Herabsetzung, weil (wie sie sagen) alle gleich behandelt werden. Es gibt keine Rangordnung, die irgendeine weitergehende Bedeutung hätte. Es handelt sich um ein einfaches kalendarisches Alter, das ohne jegliche Ausnahmen durchgesetzt wird. Der obligatorische Eintritt in den Ruhestand bildet keine vorausgehenden Statusungleichheiten ab. Rentner müssen also nicht beschämt den Kopf hängen lassen. In Sauls Konzept, das in vieler Hinsicht attraktiv ist, gibt es keinen gleichen Status, und diejenigen, deren Verträge eine Zwangspensionierung enthalten, werden meinen, sich im Vergleich zu denen schämen zu müssen, deren Verhandlungsposition stark genug war, um von vorneherein einen begehrenswerten langfristigen Vertrag auszuhandeln. Ich vermute, dass die Amerikaner, wenn sie das finnische System ablehnen, mit Sauls System noch unzufriedener sein würden, denn es erzwingt unfaire Vergleiche. Trotzdem möchte ich meine finnischen Freunde fragen, warum ein vernünftiger Mensch denkt, es sei eine gute Form der „Gleichheit“, wenn sämtliche alternden Men-

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schen gleich schlecht behandelt werden. Sicher würden wir es nicht als eine gute Form der Gleichheit akzeptieren, wenn allen Bürger die Religions- oder Redefreiheit verweigert würde. Auf diesen Punkt werde ich in meinem nächsten Abschnitt zurückkommen. Wenn Menschen gezwungen würden, in Rente zu gehen, wenn – und nur wenn – sie echte Faulenzer sind, würden sie sich stärker stigmatisiert fühlen als in Sauls System; aber in ihrem Innersten würden sie zumindest eine Grundlage für die­ unterschiedliche Behandlung erkennen. Doch das Problem der Ungleichheit in jeglichem System des vereinbarten Ruhestandseintritts von Akademikern ist wahrscheinlich weniger rational oder basiert wahrscheinlich nicht auf wohlbegründeten akademischen Werten. Wir haben das schon einmal erlebt. In den Zeiten, bevor man die obligatorische Pensionierung an den Universitäten der USA aufhob, wurden Entscheidungen darüber, wer in Rente gehen sollte, nach allen möglichen irrelevanten Faktoren getroffen, zum Beispiel nach Launen und sozialen Vorurteilen. In meiner Zeit als Doktorandin an der Harvard University, als die Universität­ bestimmen konnte, dass einige im Alter von 65 Jahren, einige mit 68 Jahren und einige im Alter von 70 Jahren in den Ruhestand zu gehen hatten, wurden diese Entscheidungen nicht auf der Grundlage der akademischen Produktivität oder der positiven Beiträge zum universitären Leben getroffen. Häufiger wurden sie nach Launen, Beziehungen zu ehemaligen Studenten und sogar nach unheilvollen­ Vorurteilen in Bezug auf Klassenzugehörigkeit und (davon bin ich leider überzeugt) aufgrund von Antisemitismus getroffen. (Sie waren nur deshalb nicht geschlechtsspezifisch, weil es keine fest angestellten Frauen gab.) Kurz gesagt: Eine im Allgemeinen problematische Ungleichbehandlung ist besonders problematisch, wenn sie Institutionen Anreize bietet, den akademischen Geist dadurch zu verfälschen, dass sie bestehenden Hierarchien folgt, die für den Auftrag der Universität nebensächlich sind. Würde der von Saul vorgeschlagene Plan weniger derartige Verzerrungen zur Folge haben? In gewissem Maße träfe dies zu, da die Menschen im Voraus verhandeln würden, und nicht erst, wenn sie kurz vor dem Rentenalter stünden. Doch wenn Ungleichheit erst einmal Teil des Systems ist, traue ich es Institutionen bestimmt nicht zu, Urteile auf der Grundlage integerer akademischer Werte zu treffen, selbst wenn sie im Voraus getroffen werden. Sie können sicherlich vorhersagen, ob die Person zur aktuell oder zukünftig bevorzugten Gruppe passt, und wir sollten uns nicht vorgaukeln, dass wir den Vorurteilen, die Harvard in den 1970er-Jahren verunstaltet haben, entwachsen sind. Wir haben noch immer unsere Vorurteile, auch wenn uns nicht immer bewusst ist, wo sie sich verbergen und wie sie aussehen. Noch offensichtlicher ist, dass Institutionen stets voller Vorurteile gegen „irrelevante“ oder „nutzlose“ Arbeitsgebiete

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sein werden. Sogar im Voraus ist es noch immer nur zu wahrscheinlich, dass sie Stellen von Philosophen abbauen. Ich befürchte, dass wir im gegenwärtigen Klima feststellen müssen, dass die meisten unserer Geisteswissenschaftler kurzfristige Verträge haben, und dass die „relevanteren“ Disziplinen die langfristigen bekommen. Auch würden Universitäten den Ruhestandseintritt eines älteren Geisteswissenschaftlers nicht zum Anlass nehmen, weitere junge Kollegen einzustellen. Dies ist ein Argument, das in Europa häufig zur Verteidigung der Zwangspensionierung angeführt wird. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Universität die gesamte Abteilung verkleinern würde. Und ohne berühmte ältere Personen, die diese Programme verteidigen könnten, stießen diese Kürzungen auf weniger Widerstand als heute. (Dies ist ein Punkt, der in Europa häufig übersehen wird, wo man oft noch immer glaubt, dass die Pensionierung produktiver und bekannter Philosophen eine Strategie zum Schutze der Nachwuchswissenschaftler ist.) Sicherlich können falsche Wertvorstellungen auch ohne obligatorische Pensionierung zur Folge haben, dass sich Institutionen gegen die Besetzung mit einem Nachfolger entscheiden, wenn Personen in den Ruhestand gehen, um diese freigewordene Stelle dann in einen „relevanteren“ Bereich zu verschieben. Aber die Zeit arbeitet für uns. Viele Modeerscheinungen sind kurzlebig, und manchmal kommen Institutionen und Menschen zur Vernunft. Ich möchte auf meiner Stelle bleiben und mich für die Geisteswissenschaften einsetzen, bis sich vielleicht doch der negative Trend umkehrt. Wenn das bedeuten würde, 200 Jahre zu leben, so würde ich das genießen. Finnland hat das Gleichstellungsproblem in gewisser Weise vermieden: Alle Menschen über 65 werden auf gleiche Weise behandelt. Ob das ausreicht, um uns vor dem Gesetz wahre Gleichheit zu sichern, ist eine offene Frage, und ich werde sie im nächsten Abschnitt behandeln. Es gibt jedoch noch ein weiteres Problem: das bekannte Problem, das die Sozialwissenschaft als „adaptive Präferenzen“ bezeichnet. Menschen schrauben ihre Ansprüche zurück, sie ändern ihre Präferenzen für Dinge, die ihre Gesellschaften für sie außer Reichweite gesetzt haben, oder sie bilden solche Präferenzen erst gar nicht aus – es handelt sich hierbei um das Phänomen, das der Politikwissenschaftler Jon Elster in Anlehnung an die Fabel von Aesop als „saure Trauben“ bezeichnet hat.1 Im Zentrum von Elsters Aufmerksamkeit stand der Feudalismus: Seit Jahrhunderten hatten sich die Menschen an die „Tatsache“ gewöhnt, dass in der Welt zwei Klassen von Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen existieren, und sie rebellierten nicht gegen diese Schicksale – bis, so behauptet er, die industrielle Revolution eine produktive Welle der Unzufriedenheit entfesselte. Der Ökonom Amartya Sen erklärte hiermit die von ihnen selbst berichtete Zufriedenheit von Frauen mit ihrem Bildungsstatus, auch ihrem Gesundheitszustand, in Ländern, in denen ihnen von Geburt an gesagt wird, dass Frauen weniger zusteht als Männern, dass Frauen s­ chwächer sind als Männer und

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so weiter. Seine Studien über Witwen und Witwer nach der großen Hungersnot in Bengalen ergaben, dass die Witwer sich massiv über ihren Gesundheitszustand beschwerten. (Die Person, die sie umfassend versorgt hatte, lebte nicht mehr.) Die Witwen, denen man immer wieder gesagt hatte, dass sie eigentlich kein Existenzrecht mehr hätten, bezeichneten ihren Gesundheitszustand jedoch als „mittelmäßig“ oder sogar als „gut“ – obwohl eine unabhängige Untersuchung eine Reihe von Ernährungs- und anderen Problemen aufzeigte.2 Und natürlich ist, wie sich unser Körper fühlt, meistens die Grundlage unseres Gesamtbefindens. Wenn man nie gut ernährt wurde und außerdem ständig zu hören bekam, dass Frauen schwächer sind als Männer, wird man sich recht gut fühlen, selbst wenn dies nach objektiven medizinischen Kriterien nicht so ist. In meinem Essay über Stigmatisierung zitiere ich Forschungsergebnisse, die zeigen, dass adaptive Präferenzen ein großes Problem für alternde Menschen sind, und ich untersuche ihren Zusammenhang mit weit verbreiteten (wenn auch illegalen) Formen der Altersdiskriminierung. Der gute Mut meiner finnischen Freunde ist also zweideutig: Möglicherweise beweist er nur, dass Menschen, denen man von Kindesbeinen an gesagt hat, dass sie mit 65 Jahren „Platz machen“ sollten, ihre Erwartungen an diese Realität anpassen werden. Die Tatsache, dass Amerikaner mit einem solchen System eindeutig unzufrieden wären, mag eine Parallele zur industriellen Revolution in Elsters Analyse sein: Eine produktive Unzufriedenheit wurde entfesselt, und die Babyboomer weigern sich, einfach abzutreten und zu sterben. Adaptive Präferenzen haben reale Auswirkungen. Trotz aller hierfür geschaffenen sozialen Anreize geht die Zahl der alternden Arbeitnehmer nicht zurück, wie man es vorhergesagt hatte. Vorurteile über die Produktivität am Arbeitsplatz wurden in vielen Fällen widerlegt.3 So sollten wir vielleicht zu dem Schluss gelangen, dass ältere Arbeitnehmer nicht nur nicht überbezahlt sind, sondern im Verhältnis zu der Arbeit, die sie leisten würden, wenn sie nicht durch adaptive Präferenzen in gewissem Umfang zurückgehalten würden, tatsächlich unterbezahlt werden. Leider erlauben es uns die bisherigen Forschungsergebnisse noch nicht, die Wechselwirkung zwischen sozialer Stigmatisierung und obligatorischem Ruhestand zu untersuchen. Man würde eigentlich prognostizieren, dass das Fehlen eines Renteneintrittsalters zu einem gewissen Grad ein Gegengewicht zu den abschätzigen Botschaften bilden würde, die uns von allen Seiten umgeben. Immerhin erhalten wir jetzt gemischte Botschaften, nicht einheitlich negative. Da die Arbeit jedoch amerikanische und britische Daten vermischt und die Verhältnisse in Großbritannien selbst uneinheitlich sind, insofern es in einigen Bereichen und Institutionen einen obligatorischen Eintritt in den Ruhestand gibt, ist es schwierig, diese Wechselwirkungen zu untersuchen. Was mich an der Situation in Finnland beunruhigt, ist die Tatsache, dass man, wenn einem sein Leben lang gesagt wird, die produktive Arbeit ende mit 65 Jahren,

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dies glauben und seine Möglichkeiten und Projekte danach ausrichten wird. Man selbst und andere werden erwarten, dass man zum alten Eisen gehört. Abgesehen vom Fehlen von Büroräumen, der Unterstützung bei der Forschung und ähnlichen Nachteilen, wird man weniger häufig eingeladen und von jüngeren Kollegen nicht mehr respektvoll behandelt. Außerdem wird man nicht protestieren, weil man sich nach kurzer Zeit für nutzlos halten wird. Eine meiner pensionierten finnischen Freundinnen war anfangs glücklich, da sie im Ruhestand mehr Zeit mit ihrem Ehemann (der ebenfalls in den Ruhestand gezwungen worden war) und im Fitnessstudio verbringen konnte. Zwei Jahre später schämte sie sich jedoch, nach einem Gastvortrag von mir, ihrer Freundin, zu einem Abendessen zu kommen. Sie hat jetzt das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören und meine Einladung ablehnen zu sollen. Dies ist eine schreckliche Form der psychologischen Tyrannei. Der Status eines Emeritus oder einer Emerita könnte geändert werden, um weniger stigmatisierend zu sein. An unserer juristischen Fakultät behalten emeritierte Professoren zum Beispiel ein Büro, sind auf Workshops und bei Arbeitsessen willkommen und sie dürfen Lehrveranstaltungen abhalten, wenn sie dies möchten. Für die gesamte Bandbreite der Berufe hat dies jedoch noch niemand auf überzeugende Weise durchdacht. Natürlich erlaubt Sauls Plan viel mehr individuelle Flexibilität als der finnische Plan. Gerade die Eigenschaften, die ihn beim Problem der Gleichheit schlechter abschneiden lassen, machen ihn in Bezug auf adaptive Präferenzen zu einem besseren Plan. Es gibt kein bestimmtes Alter, ab dem man zum alten Eisen gehört, und wir werden von Menschen umgeben sein, die auch in ihren späteren Jahren produktiv sind und sich deshalb nicht im Licht einer stigmatisierenden sozialen Norm sehen. Ich mache mir dennoch Sorgen. Vor allem die USA sind ein Land, das so vom Kult der Jugend beherrscht wird, dass allein das völlige Verbot der obligatorischen Pensionierung es so vielen von uns erlaubt, in unserem Selbstbild und Selbstwertgefühl dem psychologischen Druck der Gesellschaft zu widerstehen und auch weiterhin produktiv bleiben und ein respektiertes Leben führen zu können, in dem wir unseren Wert nicht anhand eines Datums im Kalender definieren. Manchmal ist es gut, über eine feste Regel zu verfügen – auch wenn flexible Richtlinien eindeutige Vorteile bieten –, einfach weil man eine Vielzahl von­ Missbräuchen voraussieht, die eine flexible Regel vermutlich mit sich bringen würde. Richtlinien bezüglich sexueller Belästigung sind zum Beispiel völlig unflexibel und verbieten einige sexuelle Beziehungen, die wahrscheinlich nicht problematisch sind. Dennoch ist diese feste Regel vorzuziehen, da Missbrauch durch sie­ verhindert wird.

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Der gleiche Rechtsschutz Der größte Vorteil der Beendigung der Zwangspensionierung ist der gleiche Vorteil, den Mill für die Beendigung der Diskriminierung der Frau in Anspruch nahm: nämlich der, dass wichtige gesellschaftliche Institutionen auf Gerechtigkeit statt auf Ungerechtigkeit basieren. Aber wir können noch andere Vorteile nennen, insbesondere die Tatsache, die jetzt allgemein anerkannt ist, und die bereits von Cato gesehen wurde: dass Arbeit zu haben für Gesundheit und Glück sehr wichtig ist. Zum größten Gewinn, den die Gesetzeslage in den USA bringt, gehört die wunderbare Tatsache, dass es Menschen mittlerweile gleichgültig ist, wie alt ihre Kollegen sind, sowie das Glück, sich darauf freuen zu können, am nächsten Tag mit Menschen unterschiedlichen Alters zu interagieren, wodurch nichtstigmatisierende Freundschaften unter Menschen verschiedenen Alters gefördert werden. Wie ich in Kapitel 3 anmerke, besuchen die jungen Männer Cato, sie schauen zu ihm auf und erfreuen sich seiner Gesellschaft. Cicero weiß, wie wertvoll generationenübergreifende Freundschaften für ältere und jüngere Menschen sind, und er macht häufig Anspielungen auf seine eigenen alternden Lehrmeister. Mill betonte, dass alle Formen der Herrschaft denen, die sie ausüben, „natürlich“ erscheinen. Der Feudalismus ließ die Eliten annehmen, Leibeigene seien von Natur aus eine andere Art Mensch. Es bedurfte einer Revolution, um dieses Bewusstsein zu verändern. Die Diskriminierung aufgrund der ethnischen Abstammung und die Diskriminierung von Frauen wurden, wie Mill anmerkt, auf ähnliche Weise rationalisiert, und zwar durch eine – zweifellos aufrichtig vertretene – Überzeugung, dass diese Diskriminierung auf der Natur beruht. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wurde nicht als das gesellschaftliche Übel erkannt, dass sie darstellt, weil sogenannte normale Menschen lange Zeit annahmen, es sei natürlich, dass die Gesellschaft ihren Bedürfnissen (einschließlich ihrer Schwächen) gerecht werde und „Behinderte“ ausgrenzte. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung wurde zu Unrecht als akzeptabel angesehen, weil homosexuelle Männer und Frauen „gegen die Natur“ handelten. Das Alter ist die nächste Frontlinie im Kampf gegen Diskriminierung, und bisher glauben die meisten modernen Gesellschaften, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters keine wirkliche Diskriminierung darstellt, da sie auf der „Natur“ beruht. Sie irren sich. Die Diskriminierung aus Gründen des Alters, bei der die Zwangspensionierung eine zentrale Rolle spielt, beruht auf gesellschaftlichen Klischees, nicht auf einem rationalen Prinzip. Und sie ist moralisch genauso abstoßend wie alle anderen. Wir müssen uns nunmehr dem unvermeidlichen Einwand stellen, dass eine Beendigung der Zwangspensionierung einfach zu viel Geld kostet. Außer durch das Argument, dass es eher Einsparungen und keine Kosten bedeutet, wenn man Menschen

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weiterhin produktiv sein lässt, statt sie durch Systeme sozialer Sicherheit zu unterstützen, sollten wir darauf antworten, dass, wenn es darum geht, die gleiche Achtung und den gleichen gesetzlichen Schutz auf eine Gruppe von Menschen auszudehnen, Geldfragen nicht in die Waagschale geworfen werden dürfen. Als man dasselbe Argument gegen die Einbeziehung von Kindern mit Behinderungen in die Klassen integrierter öffentlicher Schulen vorbrachte, stellten die Gerichte fest, dass die finanzielle Belastung des Schulbezirks, der sich über die Aufnahme „zusätzlicher“ Kinder beklagte, nicht stärker zu Lasten einer bereits benachteiligten Gruppe gehen dürfe als der Mehrheit. Das war die richtige Antwort. Und man stelle sich nur die Reaktion vor, wenn jemand sagen würde: Lassen Sie uns Frauen und Minderheiten aus der Arbeitswelt ausschließen, weil es nicht genug Arbeitsplätze für alle gibt – oder, noch pointierter, weil „sie“ uns „unsere“ Arbeitsplätze wegnehmen. Vernünftige Menschen würden aufstehen und dagegen einwenden, dass die volle Einbeziehung aller qualifizierten Arbeitskräfte in die Arbeitswelt auf der Grundlage der Gleichheit ein dringliches Erfordernis der Gerechtigkeit ist. Nicht alle Menschen sind aber vernünftige Menschen, und dieses sogenannte Argument war in jüngster Zeit eine politisch bedeutsame Kraft in den USA. Die Angst vor Volkszorn sollte uns jedoch nicht davon abhalten, zu tun, was gerecht ist, ebenso wenig wie die enorme Gewaltanwendung in der Bürgerrechtsära den Kampf für Rassengleichheit aufhielt. Andersdenkende werden antworten, dass alternde Menschen in besonderer Weise Kosten verursachen: Sie benötigen eine spezielle Behandlung in psychischer und physischer Hinsicht. Zuerst sollten wir die Antwort von Ciceros Cato geben: Alles hängt von den Gewohnheiten ab. Viele benötigen überhaupt keine Sonderbehandlung. Nehmen wir weiterhin an, dass sie sie doch benötigen: Nach dem Gesetz über Amerikaner mit Behinderungen müssen Arbeitgeber für Arbeitnehmer mit einer Reihe von Behinderungen angemessene Vorkehrungen treffen: Die Zusatzkosten für diese Berücksichtigung werden also als ein Erfordernis der Gerechtigkeit anerkannt. Doch nehmen wir an, dass die berufliche Kompetenz trotz aller besonderen Rücksichtnahme wirklich schlechter wird: Nach US-amerikanischem Recht dürfen Arbeitgeber ihren Angestellten Anreize für den Ruhestand geben, und außerhalb der Universitäten dürfen Menschen aus wichtigen Gründen entlassen werden. Was verboten ist, ist (a) die Verweigerung der besonderen Rücksichtnahme und (b) die Kündigung allein aufgrund des Alters. Das ist so, wie es sein sollte, denn Menschen werden auf sehr unterschiedliche Weise alt. Der obligatorische Ruhestand, die dominante Form der Altersdiskriminierung, ist eines der großen moralischen Übel unserer Zeit, die nächste „Front im Kampf um Gerechtigkeit“, mit der sich jede Theorie der Gerechtigkeit befassen muss.

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Die USA haben gut daran getan, die Zwangspensionierung abzulehnen und Gesetze gegen Altersdiskriminierung zu verabschieden. Alle Länder sollten diesem Beispiel folgen. In der Tat ist es erstaunlich, wie einflussreich das Gesetz gewesen ist. Unser Land ist vielleicht noch jugendorientierter als die meisten anderen, und doch werden ältere Arbeitnehmer viel gerechter behandelt. Dies wäre nicht der Fall, wenn das Gesetz nicht bindend und eindeutig wäre. (Und das Gesetz wäre nicht bindend und eindeutig geworden, wenn Interessenverbände, allen voran die AARP,4 nicht dafür gearbeitet hätten.) Es gibt noch viel zu tun, da Diskriminierung aufgrund des Alters weiterhin besteht, wenn auch illegalerweise. Aber ich bin froh, dass wir alternde Professoren kein Ende in Sicht haben – abgesehen von dem, das uns alle erwartet. Und eine nützliche Arbeit zu haben, ist ein gutes Mittel, sinnloses Grübeln darüber zu vermeiden.

Anmerkungen 1

Jon Elster, „Sour Grapes“, in Utilitarismus and Beyond, hrsg. von Amartya Sen und Bernard Williams (Cambridge: Cambridge University Press, 1982), 219–38, und in seinem Buch desselben Titels (Cambridge: Cambridge University Press, 1983). 2 Sen hat dieses Phänomen und seine empirischen Befunde an vielen Stellen seiner Schriften diskutiert; siehe zum Beispiel seinen Aufsatz „Gender Inequality and Theories of Justice“, in Women, Culture and Development: A Study of Human Capabilities, hrsg. von Martha Nussbaum und Jonathan Glover (Oxford: Clarendon Press, 1995), 259–73. 3 Siehe Peter Warr, „Age and Work Performance“, in Work and Aging: A European Perspective (Basingstoke: Taylor and Francis), 309–22; Casey Wunsch und Jaya Vimala Raman, „Mandatory Retirement in the United Kingdom, Canada, and the United States of America“, The Age and Employment Network, London, 2010. Diese Sozialwissenschaftler vertreten die These, dass standardmäßige Wirtschaftsmodelle, die davon ausgehen, dass Arbeitnehmer zu Beginn ihrer Karriere unterbezahlt werden, in der Mitte ihrer Karriere etwa den Grenzwert ihrer Arbeit ausbezahlt bekommen und in den späteren Jahren überbezahlt werden, nicht zu den Fakten passen: Die Befunde deuten nicht darauf hin, dass ältere Menschen im Verhältnis zu ihrer Produktivität überbezahlt werden. (Für die Standardansicht siehe Edward P. Lazear, „Why is there Mandatory Retirement?“, Journal of Political Economy 87, 1979.) Ich bin einem sehr hilfreichen Forschungsbericht zu diesem Thema von Emily Dupree, die ein breites Spektrum weiterer Publikationen diskutiert, zu Dank verpflichtet. 4 Anm. d. Übers.: American Association for Retired Persons, Vereinigung amerikanischer Pensionäre.

Kapitel 3

Mit Freunden älter werden Was können wir aus Ciceros bemerkenswerten Dialogen über Freundschaft und Altern und aus seinem Briefwechsel mit dem Mann, der im wirklichen Leben sein bester Freund war, lernen? Bieten echte Freunde Unterstützung, sagen sie es uns, wenn wir uns irren, oder leisten sie uns einfach Gesellschaft? Ändert sich das Schließen von Freundschaften, wenn wir älter werden?

Über das Altern und die Freundschaft: ein Gespräch mit Cicero Martha  elbst wenn ich Dir nichts zu schreiben habe, schreibe ich trotzdem, weil es mir S das Gefühl gibt, mit Dir zu reden. – Brief von Cicero an Atticus, vom Mai 45 (als Cicero 61 und Atticus 64 Jahre alt war) Freundschaft ist sehr wichtig, wenn Menschen älter werden. Sie fordert heraus, tröstet und belebt. Ihr Fehlen lässt das tägliche Leben öde und armselig erscheinen. Der Tod oder der geistige und körperliche Niedergang von Freunden ist ein Hauptgrund für Depressionen im höheren Lebensalter. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das beste philosophische Werk über das Altern, das die abendländische Tradition hervorgebracht hat, Ciceros De Senectute, auch von der Freundschaft handelt und in engem Zusammenhang mit seinem Werk De Amicitia steht. Sie wurden beide innerhalb eines Jahres geschrieben1, und sind beide seinem engen Freund Atticus (der damals 65, Cicero selbst 62 Jahre alt war) gewidmet. Die Widmung verbindet sie: „Wie ich in jenem anderen Buch als selbst alternder Mann einem anderen alternden Mann über das Altern schrieb, so habe ich in diesem Buch, als vertrauter Freund, an einen Freund über die Freundschaft geschrieben“ (A 5).2 Darüber hinaus sind die beiden Werke auch durch Lebensumstände miteinander verbunden. De Senectute ist in das Jahr 150 v. Chr. versetzt, in die Zeit, zu der seine Hauptfigur, Cato der Ältere, 83 Jahre alt ist. Das Gespräch wird durch die Fragen zweier junger Männern veranlasst, die zum damaligen Zeitpunkt in ihren Dreißigern sind, Scipio und Laelius, beides bekannte historische Persönlichkeiten und enge

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Freunde. In dem Gespräch De Amicitia, das sich im Jahr 129 v. Chr. zuträgt, betrauert derselbe Laelius, der nunmehr in den Fünfzigern ist, den kurz vorher eingetretenen Tod seines lieben Freundes Scipio. Von zwei jungen Verwandten dazu angeregt, beschreibt er die Vorzüge der Freundschaft. Cicero (im Jahr 106 v. Chr. geboren) weist sogleich darauf hin, dass einer dieser beiden jungen Verwandten, der zum damaligen Zeitpunkt bereits ein alternder Mann war, Cicero Recht gelehrt hatte und ein vielbewunderter Mentor war. Diese Umstände verbinden die beiden Werke miteinander und mit Ciceros eigenem Leben; sie heben auch die Themen Altern und Freundschaft hervor, sowohl zwischen Männern gleichen Alters als auch über die Generationen hinweg. Cicero beginnt De Senectute mit einer direkten Anrede des Atticus – allerdings mit einem poetischen Zitat, das einen vertraulichen Witz enthält. Er zitiert eine Passage des berühmten Dichters Ennius, in der eine Figur namens Titus (Atticus’ Vorname) von einem Freund angeredet wird: „Titus, wenn ich dir helfe und dich von der Sorge befreie, die dich nun ängstigt und tief im Herzen dir Qualen bereitet, winkt mir dann wohl ein Lohn?“3 Es ist die Art von poetischem Scherz, wie ihn die beiden Freunde häufig machen, um sich gegenseitig aufzuziehen. Der Witz bezieht sich auf das angekündigte Ziel des Werkes: Atticus von der Angst abzulenken. Aber dieses erklärte Ziel ist selbst ein vertraulicher Witz, denn tatsächlich verhält es sich stets umgekehrt: Es ist der emotional unbeständige Cicero, der die freundliche Fürsorge des ruhigeren Atticus (eines Epikureers, der die von ihm gepredigte Distanz zu den Dingen zu praktizieren scheint) benötigt, um ihn von seinen Sorgen abzulenken, und Cicero ist sich dessen wohl bewusst. Betrachten wir die Art freundschaftlicher Vertrautheit, die sich in diesem durchdachten Witz offenbart. Es geht dabei um den Kern der Sache, die ich hier verfolge: Denn sie offenbart eine Art von Nähe, die auf gegenseitiger Ergänzung, langjährigem Wissen über Unterschiede, scherzhaften Anspielungen und vollkommener Vertrautheit im Alltag beruht, die die beiden philosophischen Werke Ciceros ignorieren oder sogar leugnen. Ich werde die beiden Werke vor dem Hintergrund der in Briefen ausführlich dargestellten Freundschaft untersuchen und dabei die These vertreten, dass Ciceros offizielle Argumente vieles über Freundschaft und Altern weglassen, das seine Briefe zum Ausdruck bringen. Wenn Freundschaft für das Altern eine Rolle spielt, wie dies der Fall ist, dann müssen wir über die Gesamtstruktur einer echten Freundschaft nachdenken, nicht nur über Ciceros philosophisches Schema, wie bewundernswert es auch sein mag. Cicero ist ein ausgezeichneter Philosoph (was ihm nicht immer zugestanden wurde). Aber er ist auch als Mensch auf eine Weise greifbar wie kein anderer griechisch-römischer Philosoph der Antike – der einzige, dessen vertrauliche Gespräche

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und Gedanken wir kennen, der einzige, dessen persönliche Korrespondenz mit Atticus und zahlreichen anderen Bekannten und Familienmitgliedern uns erhalten geblieben ist.4 Cicero schrieb die beiden Werke in einer Zeit fast unerträglichen Schmerzes. Der Tod seiner geliebten Tochter Tullia im Jahr 45 v. Chr. (im Wochenbett, nach der Auflösung ihrer dritten Ehe) stürzte ihn in eine tiefe Depression, auf die wir später noch zurückkommen werden, da sie ein wichtiges Thema in der Freundschaft ist. Der bevorstehende Zusammenbruch der Republik verstärkte seine Trauer und seine Trübsal ebenfalls.5 Unsere beiden Essays, die während dieser schrecklichen Zeit verfasst wurden, sind gedacht, so schreibt er Atticus, als ein „Geschenk, das wir beide gemeinsam genießen können“ (S. 2). Ein solches Buch könne „Altern leicht und angenehm machen“, auch wenn es nicht alle seine Sorgen „wegwischt“. Zu Recht waren diese beiden Bücher im Laufe der Jahrhunderte beliebt. Beide enthalten einige sehr gute Ideen und Gedankengänge. Doch trotzdem fehlt etwas. Obwohl es der Form nach Dialoge sind, sind sie sehr abstrakt, und es fehlt ihnen daher ein Schlüsselaspekt der Freundschaft und des Alterns: die nuancierte Sensibilität für das Einzelne und Besondere, das Cicero oft unter der Überschrift der humanitas rühmt. Den Briefen an Atticus können wir vieles entnehmen, das in den Dialogen angesprochene Aspekte weiterentwickelt und vertieft. Indem ich nun mit Cicero in ein Streitgespräch eintrete, werde ich ihn mit sich selbst konfrontieren; und am einfachsten scheint es mir, dies in einem ciceronianischen Stil zu tun, als eine Art Dialog mit ihm, obwohl ich nicht einmal versuchen werde, mir die andere Seite vorzustellen! Aus strategischen Gründen behandle ich die Dialoge in umgekehrter Reihenfolge.

Über die Freundschaft Dein Essay De Amicitia ist eine zu Recht bewunderte Analyse von und Lobrede auf lang anhaltende Freundschaften. Einige seiner wertvollen Ideen sind die Bedeutung des guten Willens für eine dauerhafte Freundschaft (A 19); der Wert der Vertraulichkeit und die Erleichterung, dass man über Dinge reden kann, die man gewöhnlich vor anderen verbirgt (22); die Art und Weise, wie Freunde das Leben besser gelingen lassen, indem sie Freud und Leid mit uns teilen (22); die Art und Weise, wie Freundschaft die Hoffnung nährt (23). Auch wenn es sich hierbei um vertraute Ideen handelt, stellst du sie mit gezügelter Sprachgewalt dar. Zwei Abschnitte sind noch besser, denn die Einblicke, die sie gewähren, sind überraschender. Der erste ist deine Kritik an der stoischen Darstellung der Freundschaft, einer Beschreibung, die in jener sorgenvollen Zeit offensichtlich sehr beliebt war. Diese Männer, „die, wie man mir sagt, in Griechenland als Weise gelten“, sagen etwas,

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das du ziemlich „erstaunlich“ findest: nämlich, dass wir in Freundschaften eine übergroße Vertraulichkeit vermeiden sollten, damit eine Person nicht im Sumpf der Ängste einer anderen versinkt (45). Jeder hat mit sich selbst genug zu tun, und es ist lästig, zu sehr in die Angelegenheiten anderer Leute verwickelt zu sein. Kurz gesagt: „Am bequemsten sei es, die Zügel der Freundschaft möglichst lang zu halten, damit man sie nach Belieben anziehen oder lockern kann. Die Hauptsache für ein glückliches Lebens sei es nämlich, frei von Sorgen zu sein. In diesen Genuss kann man aber nicht kommen, wenn man als einzelner sozusagen für mehrere die Geburtswehen durchmachen muss.“6 Du entgegnest, dass dieses Modell der Freundschaft zu selbstschützend ist: Tugend ist großzügig und sie scheut wegen der Schwierigkeit, die damit verbunden sein mag, wenn man sich um den Schmerz eines anderen kümmert, nicht davor zurück. Außerdem würde man, wenn man diese risikofreudige Großzügigkeit aus der Freundschaft wegnehme, das „schönste Glied in der Kette der Freundschaft“ wegnehmen – die Liebe.7 Liebe ist großzügig und nicht berechnend (51).8 Ein zweiter beeindruckender Beitrag ist deine Kritik an einem anderen weit verbreiteten Bild von Freundschaft, das besagt, dass wir unser Wohlwollen unseren Freunden gegenüber nach ihrem Wohlwollen uns gegenüber bemessen sollten. Freundschaft sei eine Buchhaltung, und man solle niemals mehr geben oder f­ ühlen, als man erhalten habe oder erwarten könne (56–57). Du verwirfst diese Art des Denkens völlig. „Das heißt doch wahrlich die Freundschaft einer gar zu kümmerlichen und kleinlichen Berechnung zu unterwerfen, damit nur ja die Rechnung von Einnahmen und Ausgaben glatt aufgeht. Reicher und großzügiger scheint mir wahre Freundschaft zu sein, nicht engherzig darauf bedacht, nicht mehr auszugeben als einzunehmen. Man braucht sich doch keine Sorgen zu machen, dass etwas verloren geht, verschüttet wird, oder dass man mehr als billig in die Freundschaft investiert hat.“ (58) Dieser Fehler ist eng mit dem Fehler der Stoiker verbunden, da das hier beschriebene Verhalten häufig ein Zeichen eines übermäßigen Selbstschutzes ist. Es finden sich gute Argumente darin, obwohl die Schrift zu abstrakt ist und es ihr an lebhaften Veranschaulichungen fehlt (im Gegensatz zu deinen besten philosophischen Werken, die reich an historischen und persönlichen Beispielen sind). Es gibt allerdings zwei Punkte, über die ich mit dir streiten oder in denen ich dich vielmehr mit dir selbst konfrontieren muss. Der erste ist die nachdrückliche Behauptung, dass sich eine gute Freundschaft durch Übereinstimmung der Überzeugungen und des Geschmacks sowie durch Zustimmung auszeichnet. „Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung (consensio) in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit

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Sympathie und Liebe.“ (20) Später gehst du noch weiter: „Unter Freunden soll [...] in allen Angelegenheiten, Plänen und Vorhaben ausnahmslos Gemeinsamkeit bestehen.“ (60) Das klingt tugendhaft und von hoher Gesinnung, aber ist es wahr? Freunde müssen wahrscheinlich viele Interessen und Vorlieben teilen, sonst würden sie im Laufe der Zeit zu sehr divergieren, wodurch die Freundschaft untergraben würde. Wenn der eine ein Sportsfreund ist und der andere klassische Musik liebt, so ist das in Ordnung, sofern es der einzige große Unterschied ist. Sie können vereinbaren, einige Zeit getrennt zu verbringen. Aber angenommen, sie unterscheiden sich in allem: Der eine liebt Hunde, der andere hasst Hunde; der eine liebt die Socialist Workers Party und der andere die Tea Party; der eine liebt aufwendige Mahlzeiten in Gourmet-Restaurants, der andere hasst affektiertes Getue und bevorzugt Pizza. All diese Dinge sind belastend, besonders wenn Menschen älter werden. Einige Spannungen können bewältigt werden, aber wahrscheinlich keine lange Liste von ihnen, vor allem, wenn sie zentrale Lebensbereiche betreffen. Aber du dringst nicht sehr tief in das Thema ein. Du unterscheidest noch nicht einmal zwischen Unterschieden in Vorlieben und Meinungsverschiedenheiten oder diese beiden von Temperamentsunterschieden. Doch große Unterschiede in den Vorlieben und Interessen gefährden eine Freundschaft wahrscheinlich stärker als Meinungsverschiedenheiten: Über Meinungen kann man streiten, und das macht Spaß. Einige Temperamentsunterschiede können dieselbe Funktion haben, da sie Anlässe für angenehmes gegenseitiges Aufziehen und zur Selbstironie schaffen. Wenn wir uns den Briefen zuwenden, werden wir sogar sehen, dass diese Art von Rangeleien beträchtliche Freude bereitet. Um tiefer zu gehen, wende ich mich jetzt jedoch deinen eigenen Worten zu, in der Hoffnung. herauszufinden, wie ihr, du und Atticus, eine Verbindung geschmiedet habt, die Jahrzehnte überdauert und euch beiden während des Alterns Kraft gegeben hat. Beispiel A: Eine umfassende Lebensform. Am 5. Dezember des Jahres 61 v. Chr. antwortest du in einem deiner frühesten Briefe an Atticus auf einen Brief, in dem er seinen Charakter rechtfertigt und dir sagt, dass seine Sorge vor allem um Geld unwichtig ist. Da Atticus im Wesentlichen ein Bankier ist, glaubt er wahrscheinlich, sich in dieser Hinsicht verteidigen zu müssen. Du sagst ihm, dass er das nicht sagen musste, aber dann fährst du fort:

Ich habe niemals einen Unterschied zwischen uns empfunden – abgesehen von unserem Wunsch, den Lebensweg unterschiedlich zu gestalten (praeter voluntatem institutae vitae). Was man als Verlangen nach Ruhm bezeichnen könnte, hat mich dazu bewegt, die politische Laufbahn anzustreben, während ein anderes

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keineswegs zu tadelndes Denken (minime represendenda ratio) Dich dazu anhielt, ein ehrenvolles Leben in Muße (honestum otium) zu führen.9 Du fährst fort, alle Dinge aufzulisten, in denen ihr beide übereinstimmt. Aber ist das nicht bemerkenswert? Der Wunsch, den Lebensweg unterschiedlich zu gestalten! Worauf du diskret anspielst, ist Atticus’ Epikureismus, der die Vermeidung von Risiken und Sorgen betont, einschließlich solcher des politischen Engagements – so anders als deine eigene politische Philosophie, die den Dienst an der Republik, mit all seinen Gefahren, ganz oben auf die Liste setzt.10 Wie hat sich die Freundschaft, bei so einem großen Unterschied an ihrem Anfang, erhalten und vertieft? Du und Atticus, ihr stellt euch euren Unterschieden, indem ihr euch auf wichtige Werte konzentriert, die ihr teilt – du nennst Ehrlichkeit, Integrität, Gewissenhaftigkeit und vor allem Liebe. Und du zeigst im Verlauf sämtlicher Briefe die belebende Wirkung gemeinsamer Neigungen und Interessen. Ihr liebt beide die Poesie, ihr beide mögt relativ bescheidene Feiern. (Atticus war dafür bekannt, auf seinen keine Tänzer oder Akrobaten zu haben, nur jemanden, der Gedichte vorliest!). Eure ständigen, freudig berichteten Klatschgeschichten enthalten viele gemeinsame Beobachtungen von Menschen und lebhaftes Interesse für menschliches Verhalten. Ihr habt auch eine tiefe Liebe zur Republik gemeinsam. Aber die Dinge sind noch interessanter. Denn in diesem Brief sehen wir, dass du bereits weißt, wie du Differenzen mit Humor, Spöttelei und Selbstironie begegnen kannst. Der freimütige Satz könnte wörtlich verstanden werden, und selbst wenn man ihn so liest, zeigt er eine bemerkenswert anmutige Verletzlichkeit: Du bist bereit zuzugeben, dass deine Motive nicht ganz rein sein könnten, und zuzugestehen, dass seine Wahl verständlich und sogar vernünftig ist. Doch ich glaube, dass der Satz am besten als Teil der Witzelei und Ironie gelesen wird, die ein solch durchgängiges Merkmal der Briefe ist. Du ziehst ihn wegen seines unpolitisches Leben auf und dich selbst wegen deines politisches Engagement. Aber es gibt hier noch eine weitere Komplexität: Dieses gegenseitige Sich-Aufziehen, bei dem es sich in gewisser Weise um eine consensio handelt, ist gleichzeitig auch eine temperamentbedingte dissensio: Sie hängt von dem gegenseitigen Bewusstsein ab, verschiedene Persönlichkeitstypen zu haben: dass Cicero ein engagierter Mensch der Öffentlichkeit ist, der sein Herz unverhüllt zeigt, und dass Atticus ein eher scheuer Mensch ist, der sich lieber zurückhält. Was also der Briefwechsel bisher wirklich zeigt, ist ein vertrautes Wechselspiel von Unterschied und Ähnlichkeit, aus dem am Ende eine beglückende Komplementarität mit Verwundbarkeit auf beiden Seiten hervorgeht. Denn sich gegenseitig aufzuziehen ist eine ganz besondere Art verwundbar zu sein. Besonders für jemanden wie dich, von so hoher Gesinnung, so ernst, scheint es

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beglückend – und selten – zu sein, es jemandem zu erlauben, mit dem spaßhaft umzugehen, was dir am meisten am Herzen liegt (oder dich zu ermutigen, dich selbst darüber lustig zu machen), und zwar in einer Weise, wie dies nur ein vertrauenswürdiger Freund tun könnte. Wenn Menschen älter werden, wird diese Art des spielerischen Umgangs, der das Bewusstsein der Unterschiede erfordert, noch wertvoller. Besonders wenn Menschen bekannt sind, werden sie im Bewusstsein der Welt als die Person fixiert, die sie zu sein scheinen. In der Öffentlichkeit gibt es eine holzschnittartige Version, und das wirkliche, verwundbare, oft widersprüchliche und verängstigte Selbst bleibt unsichtbar, und niemand kümmert sich darum. Wenn ein Kind neue Leute trifft, so neigen sie dazu, sofern sie über Einfühlungsvermögen verfügen, sich für dessen Interessen und Eigenheiten zu interessieren. Trifft jemand hingegen eine berühmte alternde Person, so nimmt er aus irgendwelchen Gründen an, zu wissen, wer diese Person ist, weil er etwas aus ihren Werken gelesen hat, und natürlich geht viel von einem selbst in die eigenen Arbeiten ein. Wenn dann das öffentliche Bild dieser Person von schrecklich hoher Gesinnung und ernst ist, wie es bei dir der Fall ist, neigen sie dazu, diese ernste Person anzusprechen und am Rest der Person wenig interessiert zu sein. So finden wir in all den vielen Bänden von Briefen zwischen dir und anderen Freunden nicht viele, die wissen, dass du jemand bist, der andere gerne aufzieht und scherzt. Und dennoch, nach Tullias Tod, in einem der herzzerreißendsten Briefe des gesamten Korpus, warnst du deinen früheren Schwiegersohn (der auch diesen Aspekt deiner Persönlichkeit verstand), er werde bald eine veränderte Person sehen: „Nicht dass ich so gebrochen bin, dass ich vergessen habe, dass ich ein menschliches Wesen bin oder denke, dass man sich einfach dem Schicksal unterwerfen muss. Aber all mein Humor und meine Liebe zum Spaß, die dich mehr als andere erfreute, wurde mir völlig entrissen.“11 Diese Art, zu Menschen eine Verbindung herzustellen, ist generell wertvoll, für dich aber in besonderer Weise und hochgeschätzt. Hier liegt also das Fundament der Freundschaft seit ihren ersten Tagen: eine komplexe Mischung von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Nun wende ich mich dem Altern selbst zu und der Art, wie deine Freundschaft dir dabei hilft. Bespiel B: Ringen mit Verlust.  Alle Freundschaften, die lange genug bestehen, sehen dem Verlust ins Auge – besonders wenn sie in die Zeit des Alterns hineinreichen. Deine zu Atticus war nicht nur von vielen Krankheiten gezeichnet, sondern auch von zwei großen Tragödien für dich, die dich mehr oder weniger gleichzeitig trafen und mit dem Beginn des Alterns zusammenfielen: dem offensichtlichen Untergang der Republik und dem Tod von Tullia. Atticus hatte weniger zu beklagen: seine Gesundheit war gut, und sowohl seine Mutter als auch seine Frau starben nach dem Ende des

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Briefwechsels. Du hattest also keine Gelegenheit, ihn in einer schwierigen Zeit zu unterstützen. Bei dir lagen die Dinge anders. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Tullia: Hier werden wir erneut sehen, dass gewisse Unterschiede in der Liebe äußerst nützlich sind. Tullia starb Mitte Februar 45 v. Chr. Du konntest es nicht ertragen, in deinem eigenen Haus zu sein, weshalb du für mehrere Wochen zu Atticus gezogen bist. Dann, am 6. März, hast du dich auf den Weg nach Rom gemacht und bist am 7. März in deiner Villa in Astura angekommen, einem einsamen Ort in der Bucht von Antium, umgeben vom Meer. Zu diesem Zeitpunkt wird der Briefwechsel fortgesetzt. Du erwähnst deinen „brennenden Schmerz“, der „bedrückt und sich weigert wegzugehen“ (7. März). Am 8. März antwortest du auf einen Brief von Atticus, in dem er dich bittet, dich „aus dieser Trauer wieder zusammenzunehmen“. Du sagst, dass du alles in deiner Macht stehende tust – sogar einen philosophischen Trostbrief an dich selbst zu schreiben12 – doch „die Trauer ist stärker als jeder Trost“. Am 9. März ist dein Brief kurz:13 Bitte entschuldige mich vorübergehend bei Appuleius, denn eine vollständige Absage ist unmöglich.14 An diesem einsamen Ort habe ich niemanden, mit dem ich reden könnte. Es ist, als ob ich mich morgens in einem dunklen, dichten Wald verstecke und erst abends wieder herauskomme. Abgesehen von dir, habe ich keinen größeren Freund als die Einsamkeit, in der meine Gespräche mit Büchern stattfinden. Doch manchmal unterbrechen sie Tränen. Ich versuche, so gut ich es kann, sie zu bremsen, aber bisher bin ich nicht dazu in der Lage. Ich werde auf Brutus’ Brief antworten, wie du vorschlägst. Du wirst den Brief morgen haben, und wenn du jemanden hast, dem du ihn geben kannst, wirst du ihn ihm geben. Am 10. März, anscheinend als Antwort auf einen besorgten Brief von Atticus, schreibst du: Ich möchte nicht, dass Du zu mir kommst, wenn Du deshalb Deine Geschäfte vernachlässigen musst; vielmehr werde ich Dich aufsuchen, wenn Du länger verhindert bist; indes hätte ich mich nicht Deinem Gesichtskreis entzogen, würde mir gleichwohl ganz und gar nichts helfen. Wenn es irgendeine Erleichterung gäbe, wäre sie in Dir allein, und wenn sie von irgendjemandem stammen kann, dann wird sie von dir kommen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermag ich nicht ohne Dich zu sein, aber weder in Deinem Haus wurde ich zufriedengestellt, noch konnte ich es in meinem Haus ertragen; doch wenn ich Dir irgendwo näher

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3 Mit Freunden älter werden wäre, wäre ich dennoch nicht mir Dir zusammen, denn dasselbe, was mich jetzt hindert, würde mich auch dann hindern, mir Dir zusammen zu sein. Bis jetzt war für mich nichts geeigneter als diese Einsamkeit hier, die – wie ich fürchte – nur Philippus stört; gestern Abend ist er nämlich gekommen. Das Schreiben und Verfassen von Briefen üben zwar keinen beschwichtigenden Einfluss auf mich aus, betäuben aber meinen Schmerz.“

Am 11. März beschreibst du deinen Versuch, „dem beißenden Schmerz der Erinnerung zu entkommen“, und du schilderst zum ersten Mal die Idee, einen Schrein für Tullia zu errichten, ein riesiges Projekt, von dem du bis an dein Lebensende besessen bist. Am 15. März antwortest du auf einen Brief, in dem Atticus dich aufforderte „die Intensität deines Kummers zu verschleiern“ und hinzufügte, dass andere dich dafür kritisieren, dass du dies nicht getan hast. Du antwortest: „Kann ich sie besser verbergen, als wenn ich all meine Tage mit literarischer Produktion verbringe? Ich tue dies nicht aus Gründen der Verschleierung, sondern um meine Seele zu beruhigen und zu heilen. Auch wenn ich dabei nicht viel für mich selbst erreiche, befriedige ich doch gewiss die Forderung nach Verheimlichung.“ Am 17. März antwortest du auf einen Brief, in dem Atticus dich mit mehr Nachdruck auffordert, nach Rom zurückzukehren und sagt, dass die Menschen wirklich deine Anwesenheit verlangen. Du drückst deine Abneigung gegen die Hektik der Stadt aus, „mit Leuten, die meinen Weg kreuzen, die ich nicht sehen kann, ohne mich aufzuregen“. Und was die Forderungen der anderen angeht: „Seit langer Zeit solltest du wissen, dass ich Dich allein mehr wertschätze als all die anderen“. Bald ist eine leichte Verschiebung bemerkbar: Das Thema einer Rückkehr nach Rom wird zu einer realen Option. Atticus antwortet (scheinbar), dass das Forum und der Senat schließlich dein Zuhause sind. Du antwortest am 19. März: Atticus, ich bin tot, ich bin schon seit langer Zeit tot. Doch jetzt gebe ich es zu, da ich die eine Verbindung verloren habe, die mich am Leben gehalten hat. Also suche ich nach einsamen Orten. Aber wenn irgendetwas mich nach Rom zurückführt, werde ich versuchen, soweit es in meiner Macht steht (und es wird in meiner Macht stehen), außer Dir alle daran zu hindern, meine Trauer zu sehen, und wenn möglich, selbst Dich. Die tägliche Korrespondenz wird fortgesetzt, aber Trauer ist nicht immer das Hauptthema. Doch der Schmerz überflutet dich wieder, wie eine Welle. Am 24. März antwortest du auf einen Brief von Atticus, der dich ziemlich stark dazu drängt, zu deinen alten Gewohnheiten zurückzukehren. Du lehnst ab und sagst, dass die Trauer um den

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Verlust von Freiheiten schlimm genug, Tullia jedoch ein Trost war. Jetzt siehst du keinen Grund mehr, dem, was andere Leute denken, irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Du fügst hinzu: „Durch das Schreiben habe ich meine aktive Trauer (maeror) verringert; aber den Schmerz (dolor) selbst kann ich nicht verringern, noch würde ich es wollen, wenn ich es könnte.“ Ich höre hier auf, obwohl die Korrespondenz weitergeht, da Atticus von seinen Geschäften weiterhin festgehalten wird (eine Tatsache, die du, ungeduldig, anmerkst) – wobei das Thema Trauer weniger zentral wird, aber manchmal wiederkehrt. Doch am 30. März teilst du mit, dass du nach Rom aufbrichst. Aus späteren Briefen geht hervor, dass du einen Monat im Haus von Atticus verbracht hast. Wir sehen hier verschiedene Arten von dissensio, die alle eine tiefe Übereinstimmung in der Zuneigung fördern. Am offensichtlichsten ist der Unterschied der Lebensumstände. Wenn jemand trauert, ist es wertvoll, daran erinnert zu werden, dass es ein Leben außerhalb der Trauer gibt. (Atticus kann dir auch auf praktische Weise helfen, indem er deine Entschuldigung an Appuleius weiterleitet.) Zweitens ist da der Unterschied der Lebenserfahrung: du hattest gerade die Person verloren, die (vielleicht abgesehen von Atticus) dir am meisten am Herzen lag (dein unscheinbarer Sohn Marcus war dir nicht annähernd so wichtig und die Beziehung zu deiner Frau war schwierig), und du befandest dich in einer Zeit tiefer politischer Trauer. Die Tatsache, dass das Leben von Atticus in ruhigeren Bahnen verlief, hilft ihm, dir den Weg zurück zur Fortsetzung des Lebens zu weisen. Es ist entscheidend, dass Atticus über eine lebhafte Phantasie verfügt: ansonsten wäre er vielleicht vollkommen unfähig gewesen, eine Trauer dieser Größenordnung zu verstehen. Und schließlich gibt es den Temperamentsunterschied, den wir bereits gesehen haben. Du lässt es zu, dass deine Ängste und Leiden weithin sichtbar sind. Ja, wenn es um Liebe geht, bist du ein extremer Anti-Stoiker – denn völlig unfähig, sich irgendwie zu rühren, und für mehr als zwei Monate nicht in der Lage zu sein, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, ist in jeder Kultur ein extremer Zustand. Atticus hätte dir tiefgreifende Missbilligung zu verstehen geben können. Stattdessen scheint er, stets sanft und ruhig, einen behutsamen Druck in Richtung einer Wiederaufnahme des Lebens ausgeübt zu haben, und er war in der Lage, dies zu tun, da er – offensichtlich – die Liebe zu seinem Freund mit Einfühlungsvermögen und einer Einstellung zu richtiger Trauer verband, die sich auf subtile Weise von deiner unterschied. Du brauchtest diese Hilfe, wie wir oft die einfühlsame Hilfe eines Freundes brauchen, der uns aus einem Loch zieht, in das uns das Leben geführt hat. Hätte Atticus gesagt: „Ich bin vollkommen deiner Meinung, du solltest mindestens zwei Jahre lang allein sein und nicht zulassen, dass dich irgendetwas tröstet, denn ansonsten wärst du Tullia gegenüber untreu“, wäre er ein weniger guter Freund gewesen.

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Alles in allem bleibt De Amicitia an der Oberfläche, wenn es um das Thema consensio geht. Wir müssen weitere Unterscheidungen treffen und uns dabei am Leben orientieren. Wie verhält es sich mit der anderen zentralen These des Buches, dass die beste Freundschaft, vielleicht die einzig dauerhafte Freundschaft, zwischen moralisch guten Personen besteht? Es ist nicht so, als ob diese Behauptung keinen wahren Kern hätte. Eine Freundschaft kann leicht auseinander gehen, wenn einer oder beide Freunde egoistisch oder feige sind. Und du hast sicher Recht, dass ein großes Problem für eine Freundschaft dann entsteht, wenn die Anständigkeit dessen, was jemand plant, zweifelhaft ist, und er den anderen bittet, sich daran zu beteiligen. Räumen wir also ein: Ein gewisses Maß an grundsätzlicher Tugendhaftigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für Freundschaft, zumindest für eine dauerhafte Freundschaft, wie sie dich und Atticus verband: von der Art, die für Menschen, während sie altern, eine Unterstützung sein wird. Notwendige Bedingungen sind jedoch keine hinreichenden Bedingungen. Wir finden in den Briefen viel zu wenig, eigentlich gar nichts, über die subtilen Besonderheiten, die der Grund dafür sind, warum eine Person eine andere gern hat. Viele Menschen verfügen über eine grundsätzliche Tugendhaftigkeit; wenige werden zu unseren besten Freunden. Wer weiß, warum? Die gegenseitige Ergänzung spielt in deinem Fall sicherlich eine Rolle, so wie gemeinsame Vorlieben in dem Bereich, den man als „neutrale Zone“ bezeichnen könnte, in dem sich also weder Tugenden noch Laster befinden, wie etwa eure gemeinsame Vorliebe für Poesie und politischen Klatsch. Wir finden im Briefwechsel jedoch zahlreiche, weit weniger enge Freundschaften, in denen es um einige gemeinsame literarische und politische Vorlieben geht – und dennoch springen da keine Funken, gibt es keinen Spaß. Mit Atticus gibt es hingegen ständig Vergnügliches: Witze, Neckereien, Tratsch, etwas, das den Tag füllt und ihn zu einem guten Tag macht. „Selbst wenn ich dir nichts zu schreiben habe, schreibe ich trotzdem, weil es mir das Gefühl gibt, mit dir zu reden.“ Das wird nicht durch Tugend hervorgebracht (obwohl Tugend hilft, da sie Vertrauen festigt). Es ist etwas, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Es gibt da noch etwas, das die einfache Geschichte von der Tugendhaftigkeit verkompliziert. Das Sich-Öffnen, das mit einer tiefen Freundschaft verbunden ist, bedeutet, dass jeder die Fehler des anderen auf eine Weise sehen kann, wie es der größte Teil der Welt nicht kann. Hinreichend tugendhafte Menschen schaffen es normalerweise, ziemlich gut zu handeln, aber sie haben es auf dem Weg dahin vielleicht mit allen möglichen Arten von Ängsten, Konflikten und Hemmungen zu tun, und diese werden nur von dem Freund gesehen – außer wenn, wie in diesem Fall, es die Geschichte der Welt erlaubt, sie ebenfalls zu sehen. Du, Cicero, kannst keine makellose historische Bilanz vor-

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weisen. Man sagt, du seist gierig, feige, innerlich zerrissen und so weiter gewesen. Man kann diese Dinge jedoch nur behaupten, weil wir dich in einer Vertraulichkeit und Offenlegung des Inneren sehen können, wie wir dies bei keinem anderen großen Römer können. Bei anderen sehen wir nur das Endergebnis, die edle Handlung. Bei dir blicken wir hinter die Kulissen des Adels: die quälenden Abwägungen, die Ängste. Das Vorhandensein dieser Konflikte macht dich nicht nur menschlicher, sondern auch besser: Es ist nicht bewundernswert, wenn man sich in Gefahr begibt, ohne sich ihrer Größe voll bewusst zu sein.15 Und ich würde hinzufügen, dass komplizierte Leute einfach faszinierender sind; die Art der Selbstpreisgabe, die die Freundschaft zulässt, erlaubt es dir als eine Person hervorzutreten, die interessanter ist als ein moralisches Vorbild. Die Dringlichkeit, in schwierigen Zeiten das Richtige zu tun, zehrt die Kräfte auf. Eine bedeutsame Funktion des Freundes besteht darin, dem anderen Freund Rast zu gewähren, einen sicheren Zufluchtsort für kleine Vergehen: um Druck abzulassen und Panik, ja sogar kindliches Verhalten zeigen zu dürfen. Du scheinst mir zuzustimmen: mit Freunden, sagst du, können wir Dinge teilen, die wir vor anderen normalerweise verbergen (22). Doch hier müssen wir wieder die wechselseitige Ergänzung erwähnen, da du es nicht tust. Eine enge Freundschaft zwischen zwei überempfindlichen und äußerst emotionalen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht unmöglich, aber sicherlich selten. In deinem Fall hätte eine solche Freundschaft nicht gut funktioniert, da du manchmal unkontrolliert bist und intensiver Unterstützung bedarfst. Atticus hat offensichtlich ein sehr mütterliches Wesen, abgesehen davon, dass er einfach lustig und fröhlich auf eine Weise ist, die dich wieder ins seelische Gleichgewicht zurücklockt. Also erfordert die Fähigkeit, frei sprechen zu können, zumindest manchmal einen gewissen Mangel an consensio der Temperamente. Noch ein weiterer Punkt: Ein Mangel an consensio in Freundschaften erklärt, wie sie unseren Horizont erweitern und uns dazu bringen können, neue Themen und neue Sichtweisen der Welt zu verstehen. Diese Fähigkeit, das eigene Weltverständnis zu vertiefen, während man älter wird, und damit gleichzeitig auch die Freundschaft selbst, ist äußerst wertvoll und wird nur von sehr wenigen anderen Aktivitäten ermöglicht. (Vielleicht bieten die Geisteswissenschaften ähnliche Vorteile.) Ohne also zu verstehen, warum deine Hervorhebung von consensio unzureichend ist, kann man den Gewinn, den die Freundschaft für das Altern darstellt, nicht wirklich ermessen.

Über das Altern In dem Buch Über die Freundschaft ging es bereits um den Prozess des Alterns, und es war ein Begleitbuch zu der anderen Arbeit. Nochmals: Obwohl De Senectute viele wertvolle Einsichten enthält, ist das Buch auch auf seltsame Weise abstrakt, was mich

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dazu bringt, Widerspruch einzulegen und deine eigenen Worte gegen dich selbst zu wenden. Der erste wertvolle Aspekt ist der, dass es solch ein Buch überhaupt gibt. Meines Wissens findet sich in der abendländischen Tradition kein lesenswertes philosophisches Werk zu diesem Thema, das vor oder nach ihm verfasst wurde.16 Das Stigma des Alterns, dem du entgegentrittst und das du erfolgreich angreifst, sitzt so tief, dass sich Philosophen dem Thema einfach nicht stellen. Der Grund dafür ist nicht, dass Philosophen keine Gruppe älterer Personen sind. Philosophen in der abendländischen Tradition haben einen großen Teil ihrer besten Arbeiten nach dem 60. Lebensjahr geschrieben. Die griechisch-römische Tradition ist in dieser Hinsicht besonders beeindruckend. Ihr Wortführer im Text, Cato der Ältere, war zum fiktiven Zeitpunkt des Dialogs 83 und er wurde 84 Jahre alt. Er erwähnt drei andere lange lebende Denker. Platon, so hält er (zutreffend) fest, erreichte ein Alter von 80 Jahren und arbeitete immer noch hart, als er starb. Isokrates wurde 99 Jahre alt und schrieb sein berühmtestes Werk, als er 94 Jahre alt war. Und Gorgias starb im Alter von 107 Jahren und arbeitete bis zuletzt (13). „Als ihn jemand fragte, warum er sich dafür entschied, so lange am Leben zu bleiben, antwortete er: ,Ich kann mich über das Alter nicht beklagen.‘“ Wir könnten noch andere hinzufügen, einschließlich des bemerkenswerten Stoikers Cleanthes, der seinem Leben im Alter von 100 Jahren durch Fasten selbst ein Ende setzte.17 Was die Philosophen der Neuzeit betrifft, so schneiden sie durchschnittlich deutlich schlechter ab, da sie in weniger gesundheitsförderlichen Klimazonen leben und das Pech haben, die Bekanntschaft mit Tabak gemacht zu haben. Dennoch: Kant wurde 80, Bentham 84 und Bertrand Russell, der im schlimmsten Klima lebte, erstaunliche 98 Jahre alt. Leben Philosophen länger als andere mit ähnlichem Wohlstand und ähnlicher Klassenzugehörigkeit? Das ist schwer zu sagen. Doch zumindest scheinen sie in ihren späteren Jahren einen überdurchschnittlichen Teil ihrer brauchbaren Arbeit zu leisten. Indem du mit diesem ­Hinweis beginnst, beginnst du mit etwas, das die Menschen nicht vergessen dürfen. Die Umstände des Dialogs widerlegen auf subtile Weise sein zentrales Thema, das Stigma des Alterns, noch bevor Cato anfängt, es durch Argumente zu widerlegen. Denn sie zeigen, wie sich die beiden jüngeren Männer, die Cato aufsuchen, seiner­ Gesellschaft erfreuen und hoffen, von ihm zu lernen. Sie haben ihn aufgesucht, weil sie, wie sie anmerken, gerne so alt werden würden, und falls sie es würden, gerne mehr darüber wüssten, wie es sich mit dieser Zeit des Lebens verhält. Sie haben das Gefühl, dass es Cato sehr gut geht, weshalb sie – angesichts des negativen Rufs, in dem diese Zeit des Lebens steht – wissen wollen, warum. In seiner Antwort widerlegt Cato auf elegante, überzeugende Weise vier Vorwürfe, die gewöhnlich gegen sein Lebens-

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alter vorgebracht werden: dass alternde Menschen untätig und unproduktiv sind; dass sie keine körperliche Kraft mehr besitzen; dass sie keine körperlichen Freuden mehr genießen; und dass die Nähe des Todes sie anfällig für lähmende Angst macht. Während du Cato dazu heranziehst, die üblichen Einwände zu widerlegen, hast du selbst offensichtlich ebenfalls Spaß: Du porträtierst Cato als geistig und körperlich beeindruckend, allerdings auch als jemanden, der mindestens ein oder zwei ein wenig irritierende Eigenschaften besitzt, die man gewöhnlich mit dem Alter verbindet. Cato redet zu viel und hört zu wenig zu, er liebt lange Abschweifungen über seine eigene Vergangenheit und konzentriert sich zu sehr auf seine eigenen Lieblingsbeschäftigungen, ohne dabei die Interessen seiner Zuhörer zu bedenken. In diesem Fall langweilt Cato, der im realen Leben der Autor eines sehr langweiligen Werkes über die Landwirtschaft – De Agri Cultura – war, die beiden jungen Männer und den Leser mit langen Exkursen über das Mulchen und Pflügen, und es gibt eine besonders komische Passage über die wundersamen Eigenschaften von Dung. Einige Römer fanden diese Themen interessant, aber wir wissen, dass dies auf Cicero nicht zutraf, sodass er sich in dem Porträt einen Spaß erlaubt. Mithin ist das Alter im Großen und Ganzen nicht perfekt; aber es hält einer Prüfung stand und widerlegt die Stigmatisierungen. Wenden wir uns nun dem ernsthaften Gedankengang zu. Im Allgemeinen hat dein Cato recht: Es gibt eine beträchtliche Stigmatisierung des Alterns. Die Dinge haben sich, falls überhaupt, nicht sehr verändert. Er strukturiert seine Darlegungen unter vier Gesichtspunkten, die zur Herabwürdigung des Alterns angeführt werden, und diese Anklagen werden immer noch überall erhoben. Auf den ersten Einwand, den der Inaktivität, lautet ein Teil von Catos Antwort, dass das Klischee schlichtweg falsch ist: daher seine vielen Beispiele für wichtige Leistungen älterer Menschen. (Beachte, dass diese Leute im Durchschnitt mindestens 20 Jahre älter sind als du und Atticus.) Besonders schön ist die Geschichte, wie die Erben des Dichters Sophokles versuchten, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, um an sein Geld heranzukommen. Sie schleppten ihn vor Gericht – wo er den Geschworenen einige Reden aus Ödipus in Colonus vorlas, die er (im Alter von ungefähr 90 Jahren) soeben geschrieben hatte. Dann fragte er die Geschworenen, ob sie dies für die Arbeit eines geistig unzurechnungsfähigen Menschen hielten. Er gewann den Rechtsstreit (23). Grundsätzlicher sagt Cato, dass die intellektuellen Fähigkeiten – obwohl einige Aktivitäten, die viel körperliche Kraft erfordern, für Menschen schwieriger sind, wenn sie älter werden – nicht nachlassen. Man würde den Kapitän eines Schiffes wohl kaum als inkompetent bezeichnen, weil er die Ruder nicht bedienen kann (17). Was die Politik anbelangt, die nach übereinstimmendem Urteil aller zu den wichtigsten menschlichen Aufgaben gehört, so ist der römische Senat nach senes, altern-

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den Männern, benannt: Er soll ein Ältestenrat sein, weil man glaubt, dass alternde Männer über Erfahrung, Weisheit und Entscheidungsfähigkeit verfügen. Wenn ein Senator ein Alter von 100 Jahre erreichen sollte, würde er sich dann über das hohe Alter beschweren, fragt Cato. „Nein, denn er würde seine Zeit nicht damit verbringen, zu rennen und zu springen, oder Speere im Fernkampf zu werfen oder mit Schwertern Nahkämpfe auszutragen; er würde durch Planungen, Überlegungen und Entscheidungen wirken“, Qualitäten, durch die sich die Älteren auszeichnen (19). Cato erwähnt die Möglichkeit, dass sich das Gedächtnis und andere geistige Fähigkeiten im Alter verschlechtern, aber er besteht darauf, dass Praxis und Übung dieses Problem abwehren können (21). Es ist eine interessante Frage, warum die Alzheimer-Krankheit nicht erwähnt wird, trotz des langen Lebens, das diese Menschen offensichtlich geführt haben, und der realistischen Darstellungen dieses Dialogs. Eine Vermutung, die von neueren Forschungen gestützt wird, geht dahin, dass Umweltfaktoren erklären, warum die Römer anscheinend nichts von dieser Krankheit wussten. Was die Körperkraft betrifft: Sicherlich geht diese zurück, sagt Cato, doch dieser Rückgang kann zu einem großen Teil durch kraftvolle, regelmäßige körperliche Aktivität verringert werden. Man müsste nur die körperlichen Kräfte, über die man verfügt, so gut wie möglich einsetzen. Er zitiert viele Beispiele von Menschen, die lange, energische Spaziergänge unternehmen, auf Pferden reiten und andere körperliche Aktivitäten ausführen, bis in ihre 90er hinein (34). Was ihn selbst betrifft, so kann er auf dem Schlachtfeld nicht mehr ganz das tun, was ihm einst möglich war, doch niemand hatte je Grund, sich über seine mangelnde Ausdauer bei seinen politischen Aufgaben zu beschweren oder bei der Bewirtung von Gästen oder der Unterstützung von Freunden (32). Wenn jemand wirklich nicht viel leisten kann, so ist die Ursache für dieses Versagen in der Regel schlechte Gesundheit, und eine gesundheitliche Beeinträchtigung kann einen zu jeder Zeit des Lebens treffen (35). Abermals ist es interessant zu sehen, wie weit Faktoren der Umwelt und der Lebensgewohnheiten Menschen bis ins hohe Alter ihre Kraft erhalten haben. Keiner von ihnen hatte unsere moderne sitzende Lebensweise, noch rauchten sie und sie atmeten auch keine verschmutzte Luft ein. Man höre nur auf Catos Rat (den er seinen aus jungen Männern bestehenden Zuhörern gab), der sehr modern klingt: Meine jungen Freunde, wir sollten der Vergreisung widerstehen und ihre Gebrechen durch Umsicht ausgleichen; wir sollten gegen das Alter ankämpfen, wie wir gegen eine Krankheit ankämpfen würden; wir sollten gesundheitliche Rücksichten nehmen und uns regelmäßig leichten körperlichen Übungen unterziehen; und wir sollten nur so viel essen und trinken, dass wir unsere Kraft stärken, nicht so viel, dass wir sie belasten. Es gilt jedoch nicht nur den Körper, sondern

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noch mehr den Geist und den Verstand zu unterstützen. Auch er erlischt ja durch das Alter, wenn man ihn nicht, wie eine Lampe mit Öl, versorgt. (35–36) Wir denken manchmal, dass das Motto „Wer rastet, der rostet“ bezüglich der Ausübung von Fähigkeiten, körperlichen und geistigen, eine neue Entdeckung der geburtenstarken Jahrgänge ist. Fehlanzeige: Es war einfach eine offensichtliche Tatsache für Menschen, deren Lebensstil sie dazu zwang, aktiv zu sein. Wenn du heute in einer Stadt in den USA leben würdest, müsstest du Mitglied in einem Fitnessstudio werden, um gesund zu bleiben, und du warst mit Sicherheit kein begeisterter Sportler. Doch im antiken Rom musste ein Mann, außer dass er ständig zu Fuß unterwegs war, Militärdienst leisten, und du hast als Prokonsul in Kilikien eine sehr gute Leistung erbracht, als du im Alter von 57 Jahren an der Spitze deiner Truppen eine Bergfestung erstürmt hast. Cato erinnert seine Zuhörer auch daran, dass ein sehr wichtiger Teil des Körpers die Stimme ist, und dass die rednerischen Fähigkeiten weniger schnell abnehmen als andere körperliche Fähigkeiten. (Man bedenke, dass öffentliche Redner über keine Verstärker verfügten, sodass sie eine Stimmgewalt benötigten, die mit der eines Opernsängers vergleichbar ist, den einzigen Sängern, die heute ohne Mikrofon singen.) Darüber hinaus kann man sich, in dem Maße, in dem die Stimme weniger kraftvoll wird, einen ruhigeren, weniger bombastischen und subtileren Stil der Redekunst, als es derzeit in Mode ist, zu eigen machen (27–29). (Hier denken Kommentatoren, dass du vielleicht an deine eigene Vortragsweise denkst, die – obwohl es für deine Leser, angesichts deines übertreibenden Schreibstils, schwer vorstellbar ist – subtiler und weniger bombastisch als die von anderen war.) Wenn du schließlich keine dieser physischen Dinge mehr tun kannst, kannst du sie sicherlich noch lehren, und ein guter Unterricht in Rhetorik ist äußerst wichtig. Grundsätzlicher, so fährt Cato fort, haben alternde Menschen häufig mehr sozialen Einfluss (auctoritas) als jüngere, und dieser Einfluss selbst kann eine wichtige Quelle von Handlungsfähigkeit und Produktivität sein. Was soll’s, wenn Körper und Stimme schwächer sind, wenn schon das bloße Kopfnicken eines einflussreichen Führers Ergebnisse erzielen kann (61). Aber natürlich werden die Alternden nicht so sehr geehrt, wenn sie nicht selbstbewusst von anderen verlangen, was ihnen gebührt, und sich weigern, sich durch Stigmatisierungen definieren zu lassen. „Das Alter wird nur unter der Bedingung geehrt, dass es sich verteidigt, seine Rechte wahrt, sich­ niemandem unterwirft und bis zum letzten Atemzug über seine eigene Sphäre herrscht“ (46). Um die Skeptiker zum Schweigen zu bringen und seinen Anspruch auf Respekt zu verteidigen, führt Cato nun sein eigenes Leben als Beispiel an:

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3 Mit Freunden älter werden Ich habe das siebte Buch meiner Ursprungsgeschichten in Arbeit. Ich sammle alle Zeugnisse der alten Zeit und arbeite gerade jetzt die Reden aller berühmten Prozesse aus, die ich geführt habe; ich behandle das Auguren-, das priesterliche und das bürgerliche Recht; ausgiebig beschäftige ich mich auch mit griechischer Literatur; und vergegenwärtige mir abends, um mein Gedächtnis zu trainieren, nach Art der Pythagoreer, was ich an dem betreffenden Tag jeweils gesagt, gehört oder getan habe. Das sind Übungen des Geistes, Trainingsläufe des Verstandes; wenn ich mich mit ihnen abmühe und anstrenge, vermisse ich die körperlichen Kräfte nicht besonders. Ich stehe den Freunden bei, erscheine häufig im Senat und leiste aus freien Stücken Beiträge, die ich lange und ausgiebig erwogen habe, und ich vertrete sie mit den Kräften meines Geistes, … aber … die Tatsache, dass ich dies tun kann, ist dem Leben zu verdanken, das ich geführt habe. (47)

Aufgrund seiner guten Gewohnheiten ist seine geistige Aktivität ungebrochen und er hat genug physische Kraft, um das zu tun, was er tun muss. Eine andere Nebenwirkung guter Gewohnheiten, sagt Cato, ist die, dass sie auch das Jammern und Klagen unterdrücken können, für das die Alten in so schlechtem Ruf stehen. Verdrießlichkeit ist ein Charakterfehler; sie kann durch einen diszipliniert durchgeführten Vorsatz, sich nicht zu beschweren, eingedämmt oder sogar beseitigt werden, aber man muss früh damit beginnen! (65). Nun kommen wir zur dritten Anklage, bei der es um die körperlichen Freuden geht. Cato geht an sie auf ähnliche Weise heran wie an die Anklage bezüglich der abnehmenden Körperkraft: Die Alternden haben, was sie brauchen, sie vermissen nicht, was sie nicht haben, und sie ersparen sich viele lästige Schwierigkeiten. Menschen, die weniger sexuelles Verlangen verspüren, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit Familien zerbrechen oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Menschen, die sich nicht betrinken oder zu viel essen, sind gesünder, haben weniger Verdauungsstörungen und leiden weniger unter Schlaflosigkeit (44). So können sie ihre geistigen, ja selbst ihre körperlichen Aufgaben besser wahrnehmen. Außerdem können sie Essen und Trinken immer noch maßvoll genießen; und dann entdecken sie die wahre Bedeutung des Wortes convivium (Bankett): Es bedeutet „geteiltes Leben“. Denn wenn man nicht betrunken ist, entdeckt man, dass das Vergnügen der Unterhaltung viel größer ist als das Vergnügen, sich zu betrinken (45–46). Cato weist darauf hin, dass er immer noch gerne bis spät in die Nacht feiert, wobei diese Feiern als Redefeste organisiert sind, mit einem zur Diskussion festgelegten Thema. Dann beginnt Cato mit dem langweiligen Exkurs über die Freuden der Landwirtschaft. Doch selbst dieser hat eine wichtige Aussage: Es gibt viele Hobbys, denen alternde Menschen mit unvermindertem Eifer nachgehen können, Hobbys, die ihnen

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großes sinnliches Vergnügen bereiten können. Musik, Theater, Reisen – all das wären für Menschen, die sich vom Ackerbau nicht angezogen fühlen, Beispiele auf der gleichen Ebene. Die ersten drei Argumentationsgänge von Cato sind demnach äußerst überzeugend und zugleich originell und es macht Freude, sie zu durchdenken. Und der Essay ist insgesamt weniger muffig und abstrakt als De Amicitia, da uns Cato sein eigenes Leben und seine anhaltenden Leistungen und Vergnügen, ganz zu schweigen von seinem Kampf gegen das Stigma, lebhaft vor Augen führt. Trotzdem bin ich unzufrieden. Wenn wir die Abhandlung abermals mit den Briefen vergleichen, gibt es zwei Dinge, die offensichtlich weggelassen wurden. Das erste, was weggelassen wurde, sind Konflikt und Angst. Auch wenn du den Stoizismus in De Amicitia (und in deinem Leben) abgelehnt hast, ist die Auseinandersetzung mit Schmerz und Tod in diesem Essay auf übertriebene Weise heiter. Die ganze lange Passage über den Tod, die auf die vierte Anklage eingeht, versichert uns, dass er nichts ist, was man fürchten müsste, und dass man dem Ende gelassen und guten Mutes entgegensehen sollte. Du bist den Widrigkeiten des Lebens nicht auf diese Weise begegnet, und du hast noch nicht einmal geglaubt, dass du es hättest tun sollen. Weil du noch relativ jung gestorben bist, wissen wir nicht wirklich, wie du mit deinen Achtziger- und Neunzigerjahren fertig geworden wärest, doch wir können es sicher vermuten, wenn wir deine Reaktionen in deinen Sechzigerjahren betrachten. Du bist äußerlich gefasst, aber nur, weil du dich anderen erst zeigst, wenn du den Anschein von Gelassenheit bewahren kannst. Atticus gegenüber zeigst du deinen Ärger, deine tiefste Trauer und bist voller Klagen. Du hältst ihm sogar zugute, dich einmal daran gehindert zu haben, Selbstmord zu begehen. Und es gibt da unzählige kleinere Beschwerden, sowohl Atticus als auch deinen Familien­mitgliedern gegenüber, hauptsächlich über Verdauungsprobleme. Es ist nur schwer zu glauben, dass du angesichts deines eigenen Todes völlig ruhig und stoisch ge­wesen wärest. Dein Wortführer Cato lässt also vieles von dir und deinem Bedürfnis nach Freundschaft einfach weg. Cato ist, trotz seiner Vergnügen, recht solipsistisch. Sicherlich hat Cato Recht, wenn er sagt, dass Verdrießlichkeit und Jammern Charakterfehler sind, die nach Möglichkeit unter Kontrolle gebracht werden sollten. Und zweifellos könnte die ruhige Haltung, die er darstellt, im Miteinander hilfreich sein, eine Art, andere nicht zu belasten. Doch bezüglich der Frage, wie man sich wirklich fühlt und ob man seine engen Freunde wissen lassen sollte, wie man sich fühlt: Was ist falsch daran, Trauer und Angst einzugestehen? Die Idee der Resignation, in die dieser Essay am Ende abgleitet, widerstrebt Menschen, die einander und das Leben lieben.

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Nun wurde dieser Essay natürlich nicht als neutrale Abhandlung geschrieben, sondern er wurde verfasst, um Atticus und Cicero von den anstehenden (wenn auch noch nicht wirklichen) lästigen Aspekten des Alters abzulenken. Warum sich also nicht ein wenig in Richtung stoischer Ruhe verirren? Nun ja, eben weil man dann­ einen unaufrichtigen Ton anschlägt. Doch nun komme ich zu der weit seltsameren Auslassung. Cato redet von Tischgesprächen, doch er erwähnt nicht den besten Freund. Er sagt, dass das Altern im Führen von Gesprächen besteht und dass das, was den Tag ausfüllt, während die Jahre ins Land gehen, die Freude des convivium, der gemeinsamen Unterhaltung ist – eine Freude, so fügt er hinzu, die die jungen Menschen nicht voll zu schätzen wissen. Doch er stellt sich als isoliert dar und erwähnt nie, dass er enge Freunde hat. Im Gegensatz dazu ist für dich intellektueller Austausch zwar eine gute Sache, aber eine vertraute Freundschaft ist derjenige Ort, an dem das Leben wirklich geteilt wird. Auf Catos Festmahlen wird ein Thema zur Diskussion gestellt und jeder trägt dazu bei. Das ist gewiss ein schöner Brauch, aber darin besteht nicht die Gesamtheit des Lebens – oder der Freundschaft. Wie steht es mit dem Vergnügen an Klatschgeschichten? Oder Reden um seiner selbst willen? Abermals führe ich deine eigenen Worte gegen dich selbst an. Beispiel A: Klatsch und Zuneigung. Man könnte die Briefe an mehr oder weniger beliebigen Stellen aufschlagen und fände stets ein Beispiel für vertraute Witzeleien, Klatsch und private Anspielungen. Spätere Briefe, aus der Zeit des Alterns, sind allerdings ohne einen ausführlichen Kommentar häufig unverständlich, weshalb ich einen früheren wähle, der sich zumindest entschlüsseln lässt. Er wurde im August des Jahres 59 v. Chr. in Rom geschrieben:

Ich glaube, Du hast noch nie einen Brief von mir gelesen, der nicht in meiner eigenen Handschrift geschrieben worden wäre. Du kannst daraus schließen, wie fürchterlich beschäftigt ich bin. Ich habe keine freie Minute und bin gezwungen, spazieren zu gehen, damit sich meine arme Stimme erholen kann. Ich diktiere dies während ich gehe. Zuerst möchte ich, dass Du weißt, dass unser Freund Sampsiceramus sehr unglücklich über seine Position ist und sich danach sehnt, dorthin zurückzugelangen, wo er sich vor seinem Sturz befunden hat… Was mich betrifft (ich bin mir sicher, dass du das wissen willst), so nehme ich nicht an politischen Diskussionen teil und widme mich ausschließlich juristischen Angelegenheiten und Geschäften… Aber der Nahestehendste und Liebste unserer

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Lady Ochsenaugen schleudert furchtbare Drohungen künftigen Zorns heraus, wobei er dies Sampsiceramus gegenüber bestreitet, vor allen anderen jedoch demonstrativ zur Schau trägt. Wenn Du mich also so sehr liebst, wie Du dies sicher tust: Wache auf, wenn du schläfst! Wenn Du still stehst, gehe! Wenn Du gehst, so laufe! Wenn du läufst, fliege! Du kannst nicht glauben, wie sehr ich mich auf Deinen Rat und Dein Wissen über die Welt verlasse, und, was am wertvollsten von allem ist, auf Deine Zuneigung und Loyalität… Pass’ auf Deine Gesundheit auf (18). Die Vertrautheit des Klatsches in diesem Brief macht es schwer, ihm zu folgen, aber zum Glück werden deine scherzhaften Spitznamen häufig wiederholt. Sampsiceramus ist ein häufiger Name für Pompeius. Sampsiceramus war ein syrischer Despot, den Pompeius an die Macht gebracht hatte; es ist also eine Art, sich über Pompeius verschwenderische Methoden lustig zu machen. Und was „Lady Ochsenaugen“ betrifft: Dieser Beiname wird in deinen Briefen häufig für Clodia verwendet, die Schwester deines großen politischen Feindes Clodius. Hier schilderst du, wie Clodius noch einmal Ärger macht. Mit der Formulierung der „Nahestehendste und Liebste“ spielst du auf die anhaltenden Gerüchte von Inzest zwischen Clodius und Clodia an, die du nie zur Ruhe kommen lässt. Es handelt sich also um sehr intime Insider-Anspielungen, von denen einige ziemlich hämisch sind, sowohl was erhabene als auch niedere Dinge betrifft. Und natürlich ist da das zwar lustige, aber aus der Not geborene Bedrängen von Atticus, dass er nach Rom zurückkehren soll. Dass es in De Senectute an diesem reichen Anschauungsmaterial der Freundschaft fehlt, sticht dagegen umso eklatanter hervor. Dabei ist es dies und nicht die Tugend, das erklärt, warum die Freundschaft in Zeiten des Alterns und der Tragik fortbesteht. Beispiel B: Klatsch zu einem tragischen Wendepunkt. Der spöttische Klatsch über Clodius ist trivial verglichen mit dem Brief, den ich jetzt vorstellen will. Er stammt aus der Zeit von De Senectute. Manchmal sind Freunde zusammen, wenn etwas Bedeutsames geschieht und manchmal nicht. Dieser Brief, der einen Überraschungsbesuch von Julius Caesar drei Monate vor seiner Ermordung im März des Jahres 44 v. Chr. beschreibt, ist der Stoff eines tragischen Dramas – und doch wird er durch die schiere Dynamik der Erzählung in eine fabelhafte Komödie verwandelt. Geschrieben wurde er am 19. Dezember, 45 v. Chr. Textstellen in Kursivschrift sind im Original griechisch.19

Was für ein lästiger Gast – und doch: je ne regrette rien.20 Denn es war wirklich äußerst unterhaltsam. Doch als er am Abend des 18. Dezember bei Philippus ankam, war das Haus so mit Soldaten angefüllt, dass Caesar kaum noch einen Platz

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3 Mit Freunden älter werden zum Essen fand. Zweitausend Mann, nicht weniger! Ich war in der Tat ziemlich besorgt über das, was am nächsten Tag geschehen würde, aber Cassius Barba kam mir zur Hilfe und stellte Wachen auf. Im Freien wurde ein Lager aufgebaut und das Haus unter Bewachung gestellt. Am 19. blieb er bei Philippus bis um eins und gab niemandem Zutritt – ich glaube, um geschäftliche Besprechungen zu führen, mit Balbus. Dann machte er einen Spaziergang am Strand. Um zwei ging er ins Bad… Nach der Salbung nahm er seinen Platz beim Abendessen ein. Er nahm eine Reihe von Brechmitteln, sodass er nach Herzenslust und mit Vergnügen aß und trank. Es war wirklich eine ausgezeichnete, gut zubereitete Mahlzeit, und nicht nur das, sondern auch „gut gekocht und gewürzt – mit trefflichen Reden, tatsächlich eine angenehme Mahlzeit“ [aus Lucilius]. Seine Entourage wurde außerdem in drei anderen Speisesälen verschwenderisch bedient. Die bescheideneren Freigelassenen und Sklaven hatten alles, was sie wollten; die Vornehmeren unterhielt ich auf stilvolle Weise. Kurz gesagt, ich zeigte ihm, dass ich ein Mann von Welt war. Aber mein Gast war nicht die Art von Person, zu der man sagt: „Komm vorbei, wenn du das nächste Mal in der Gegend bist.“ Einmal ist genug. In der Unterredung nichts Wichtiges, allerdings Vieles über Literatur. Alles in allem hatte er einen angenehmen Aufenthalt und war zufrieden. Er sagte, er würde einen Tag in Puteoli verbringen und einen weiteren in Baiae. Da hast Du’s: ein Besuch, oder sollte ich es eine Einquartierung nennen? Lästig für mich, aber nicht schrecklich. Ich werde für eine Weile hier bleiben, mich dann zur Villa nach Tusculum aufmachen.

Dies ist eine todernste Sache: Der Mann, der der Republik nach dem Leben trachtet, dein erbitterter Feind, kommt unangekündigt wie eine erobernde Armee, anmaßend, unhöflich, und quartiert einfach seine zweitausend Mann starken Truppen in und um dein Landhaus ein. Die oberflächliche Ruhe, der literarische Klatsch, das Einstreuen griechischer Wörter, das Mahl, das Bad – all das verbirgt tödliche Gefahr, bitteren Widerstand – und den Tod von Institutionen, die du liebst. Und doch, was den Brief so bemerkenswert macht, ist, dass er so viel Vergnügen bereitet und vermittelt, dass der Erzähler seinen Spaß hat. Er wird in der Form hoher Komik erzählt, mit einem ungewöhnlich hohen Anteil griechischer Insider-Witze und poetischer Zitate. Der große Witz ist, dass er als die Geschichte einer Dinnerparty erzählt wird, wobei es in Wirklichkeit um Tyrannei und Gewalt geht. Man stelle sich dich ohne einen Atticus vor: Diese Ereignisse wären zutiefst bedrohlich und mehr als nur ein bisschen deprimierend gewesen. Die Anwesenheit eines Freundes kann das Schreckliche in Lustiges

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verwandeln. Indem du Caesars Besuch zu einem Stück Literatur verarbeitest, machst du es zu einer vertraulichen Geste, also zu etwas Positivem. Und natürlich kann er das nur deshalb sein, weil du darauf vertrauen kannst, dass Atticus den Brief auf zwei Ebenen lesen wird, der ernsten und der komischen, und dass er deshalb den Geist des Widerstands zu schätzen weiß, der die eine in die andere verwandelt hat. Das Altern stellt vor viele Herausforderungen – Zeiten der Langeweile, bittere Enttäuschungen, Ängste. Catos solipsistische Herangehensweise, trotz ihrer wirklichen Vorzüge, ist der Situation nicht wirklich gewachsen. Zweifellos wird es Menschen geben, die so ruhig und heiter sind, dass sie mit ihren geistigen und körperlichen Übungen, ihrer Liebe zur Gartenarbeit, ihren sorgfältig geregelten Tischgesprächen und ihrer stoischen Distanz zum Tod durch die Zeit des Alterns dahingleiten. Du gehörst jedoch nicht zu ihnen, und du hältst es noch nicht einmal für gut, so zu sein. Wenn man jedoch nicht wie Cato ist, dann ist es der tägliche Stoff der Freundschaft – der Klatsch, das vorausgesetzte Verständnis, die Insider-Witze, die Tricks, mit denen Schmerz in Vergnügen verwandelt wird –, der diesen Teil des Lebens zu einem wirklichen convivium macht. Cato behauptet, dass das Altern dem, was ihm vorausgeht, wegen der Qualität der Gespräche, die in dieser Lebensphase stattfinden, in vielfacher Hinsicht überlegen ist. Aber er löst dieses Versprechen nicht ein; deine Briefe tun es. Im Prozess des Alterns ist Tragik unvermeidlich. Dass Komik, Verständnis oder Liebe Teil des Alterns sind, ist hingegen nicht unvermeidlich. Was uns beides bringt, ist die Freundschaft.

Wofür sind Freunde gut? Saul Als wir sehr jung waren, drängten uns unsere Eltern, „Freundschaften zu schließen“, denn – so merkten sie zur Erläuterung an – gute Freunde zu haben sei ein wertvolles Gut oder ein Kennzeichen glücklicher Menschen. Freunde lernen voneinander, und Teil einer guten und aus vielen verschiedenen Mitgliedern bestehenden Gruppe von Gleichaltrigen zu sein, gehört zum Besten, was einem jungen Menschen passieren kann. Eltern hoffen, dass ihre Kinder gute Schulen besuchen werden, und obwohl diese Schulen ihre Lehrkräfte, Kunstzentren und sonstigen Einrichtungen anpreisen, scheinen die Schüler zu verstehen, dass die Gruppe der Gleichaltrigen am wichtigsten ist. Junge, wohlhabende Eltern versuchen das Schließen guter Freundschaften zu fördern, indem sie Häuser in der Nähe anderer Familien mit Kindern wählen, Videospielkonsolen besorgen, die die Nachbarskinder anziehen, und Siebensitzer kaufen, damit die Freunde der Kinder zu verschiedenen Aktivitäten mitgenommen werden können. Viele Eltern und Schulen drängen ihre Kinder, Sport zu treiben und sich auf etwas zu

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spezialisieren, auch weil eine Sportmannschaft ein offensichtlicher Ausgangspunkt für Freundschaften ist und ein Zugehörigkeitsgefühl verleiht. Freunde und Teamgefährten sorgen für Sicherheit. Am wichtigsten ist, dass sie uns helfen, uns selbst zu erkennen und besser zu werden. Sie öffnen neue Horizonte und werden zu unseren Partnern im Abenteuer des Lebens. Schrieben Martha und ihr Freund Cicero über die Jugend, dann würden sie das stoische Argument bezüglich der unnötigen Bürden der Freundschaft mit wenigen Worten über den Wert und die große Freude zahlreicher und verschiedener Freunde beiseite wischen. Manche Erwachsene geben sich nie dem Vergnügen der Freundschaft hin. Sie schätzen neue Freunde, weil sie glauben oder man ihnen gesagt hat, dass ein größeres Netzwerk von Freunden ein Zeichen des Erfolgs ist, oder einfach ein Weg, einen Lebensgefährten, eine bessere Arbeitsstelle oder dauerhafte geschäftliche Möglichkeiten zu finden. Facebook macht sich diese Sichtweise zunutze beziehungsweise spiegelt sie wider, indem die Plattform die Gesamtzahl der Freunde ihrer Teilnehmer addiert und das Ergebnis der Welt bekannt gibt. Die Anzahl der Freunde, die jemand gesammelt hat, ist ein Teil der Selbstdarstellung in diesem sozialen Medium. Diese FacebookFreunde mögen zwar genau das sein, wozu unsere Eltern uns gedrängt haben, aber sie sind vielleicht keine wirklichen Freunde oder Freunde von der Art, von denen jene klassischen Autoren reden, ebenso wenig wie alle unsere Schulkameraden echte Freunde waren. Sie bilden vielmehr eine fertige Gemeinschaft von Gefährten, mit denen wir etwas gemeinsam haben und die sich, ohne dazu einander eigens vorgestellt werden zu müssen, zu Freunden entwickeln können. Die meisten von uns lernen ziemlich bald, dass man nicht einfach unter Leute geht und Freundschaften schließt, denn die guten Freunde, die man hat, sind weniger das Ergebnis harter Bemühung als vielmehr das Produkt der eigenen Persönlichkeit und der Umstände. Für viele von uns ist es wahrscheinlich wertvoll, ganz abgesehen davon, dass es auch Freude bereitet, zahlreiche Bekannte zu haben, doch selbst diese haben wahrscheinlich mehr mit unserem Wesen und Gelegenheiten zu tun als mit einem Lebensplan. Sofern die Anzahl der Freunde einen Wert hat, liegt dies wahrscheinlich daran, dass sie mit Vielfalt einhergeht. Im Gegensatz dazu schätzt Cicero Harmonie und Gleichgesinntheit und er schreibt, als sei Freundschaft eine Investition, die völlig in unserer Hand liegt. Wie immer wir unsere Freundschaften auch planen mögen, unsere Freunde und Bekannten investieren auch in uns. Einige von ihnen sammeln und pflegen Freunde mit besonderer Leidenschaft. Die meisten Menschen sind mit einem Netzwerk aus ein paar engen Freunden und 50 bis 100 guten Bekannten zufrieden, hier und da findet man jedoch ungewöhnlich gesellige Menschen, die mit der doppelten Anzahl in Verbindung stehen. Die Anzahl der Beziehungen, die wir pflegen können, ist wahrschein-

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lich begrenzt. Man hat angenommen, dass die Networking-Fähigkeiten des Gehirns eine Obergrenze von 150 bis 200 Freunde vorgibt, obwohl Menschen in engen Gemeinschaften und mit großen Familien scheinbar wesentlich mehr enge Beziehungen pflegen. Die Möglichkeiten der sozialen Medien, Freunde und Erinnerungen parat zu haben, hat die Fähigkeit vieler Menschen verbessert, Freundschaften zu pflegen. Wir alle kennen gut vernetzte Menschen, die als Knoten oder Leiter von Netzwerken fungieren und bei Veranstaltungen, bei denen sich viele Menschen treffen, scheinbar niemals müde werden. Wir spüren, dass sie vielleicht süchtig nach Menschen und ihren (unseren) Höhen und Tiefen sind. Diese Art von energischem Freund eilt uns in einer Krisensituation zur Seite und teilt unsere Freuden und Sorgen – besonders wenn er oder sie zu den ersten gehört, die davon erfahren haben. In unseren zurückhaltenderen Phasen könnten diese Superfreunde Gerüchte und Urteile über uns verbreiten, ähnlich wie sie uns mit Informationen – von denen einige nützlich sind und andere nicht – über andere Menschen in unserem Netzwerk versorgen. Es mögen diese Superfreunde gewesen sein, an die die Stoiker gedacht haben, als sie sich verächtlich über die Probleme äußerten, die zahlreiche Freunde mit sich bringen.21 Warum beschäftigen sich diese Stoiker zwar mit den Belastungen, die durch neue Freunde entstehen können, ignorieren oder vernachlässigen aber die Freuden, die sie mit sich bringen und dadurch Belastungen aufwiegen? Ich denke, ein besseres Argument dafür, „die Zügel der Freundschaft so lang wie möglich zu halten“, ist die Tatsache, dass einige Freunde unerwünschte Eindringlinge werden. Wenn wir unsere Unabhängigkeit schätzen und von den Werten anderer nicht zu sehr beeinflusst werden wollen, dann müssen wir vorsichtig sein, uns nicht auf Freunde zu verlassen, die uns für Missetäter halten oder uns als ihr spezielles Projekt betrachten, wenn wir uns nicht anpassen. Die Behauptung, dass Wohlwollen eine Voraussetzung für Freundschaft ist, scheint richtig zu sein, aber es ist weniger interessant als das Vertrauen, das für eine gelungene Freundschaft wesentlich ist. Wohlwollen bezieht sich auf die Vorstellung, dass ein Freund mehr als ein Mittel zu einem Zweck ist. Vertrauen wiederum beinhaltet die feste Voraussetzung – vielleicht eine, die nicht enttäuscht werden darf, wenn die Freundschaft schwere Zeiten überleben muss, wie es bei einer Ehe oder auf gefährlichen Expeditionen zutrifft –, dass einer Partei das Wohl der anderen am Herzen liegt. Von einem guten Freund nehme ich das Beste an; Gerüchten, die behaupten, mein Freund habe mich hintergangen, schenke ich keinen Glauben; ich kann den Freund um Rat fragen, ohne befürchten zu müssen, dass er die Informationen, die ich preisgegeben habe, zu seinem Vorteil nutzt. Viele großzügige Menschen bringen den meisten, denen sie begegnen, Wohlwollen entgegen, doch Vertrauen ist so riskant, dass es Freundschaft vielleicht sogar definieren kann. Unsere Freunde sind diejenigen Men-

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schen, die wir jenseits unseres Eigeninteresses (der Sache mit dem Wohlwollen) kennen und um die wir uns sorgen, und bei denen wir hinreichend darauf vertrauen, dass das Vertrauen beiden Seiten dient. Freundschaft erfordert, dass diese Annahme auf beiden Seiten gemacht wird. Wenn das Freundschaft ist, was könnte dann falsch daran sein, viele Freunde zu haben? Vertrauen ist keine Kleinigkeit. Eine Verbrecherbande könnte einander aufgrund eines entwickelten Ehrenkodexes vertrauen, der häufig auf Nachbarschafts- oder ethnischen Bindungen und einem „Wir-gegen-die“-Gefühl beruht. Jedes Mitglied kann davon ausgehen, dass es sich in tödliche Gefahr begibt, wenn es das Vertrauen verletzt. In dieser Situation haben die Stoiker sicher recht. Ein neues Bandenmitglied stellt ein Risiko für die anderen dar, und das Risiko wird wahrscheinlich umso größer, je mehr neue Mitglieder hinzukommen. Kriminelle brauchen vielleicht Freunde mehr als der Rest von uns. Der Spruch „Es gibt keine Ehre unter Ganoven“ ist ein Ausdruck von Wunschdenken, beleidigend und absurd.22 Die tiefen Freundschaften, die man unter Kriminellen findet, geben Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Behauptung, dass Freunde „hinreichend moralische“ Menschen sein müssen. Plausibler ist die Behauptung, dass für die meisten Menschen eine Freundschaft in Gefahr gerät, wenn einem ein Freund ein illegales oder widriges gemeinsames Projekt vorschlägt. Konventionelle Freundschaften funktionieren bei hinreichend moralischem Verhalten deshalb am besten, weil derartige Risiken einfach nicht hinzukommen. Die meisten von uns haben diese unangenehmen Momente erlebt, in denen eine Freundschaft durch Risiken und moralische Urteile gefährdet wird. Als Jugendliche haben wir die Wahl, uns kollektiven Scherereien anzuschließen oder sie zu meiden, mit wenig positiven oder negativen Auswirkungen. Weder fühle ich mich den Freunden, mit denen ich mich im Alter von elf Jahren verbotenerweise und wiederholt in die Weltausstellung geschlichen habe, besonders verbunden, noch habe ich eine dauerhafte Distanz zu Freunden gespürt, weil ich es im selben Alter abgelehnt hatte, mich ihnen bei einer Nacht jugendlicher (aber destruktiver) Streiche anzuschließen. Sobald wir jedoch erwachsen sind, haben die Entscheidungen, uns solchen Unternehmungen anzuschließen oder sie abzulehnen, nachhaltige Auswirkungen. Freunde, die gemeinsam verbotene Substanzen konsumieren, die bei Prüfungen gemeinsam betrügen oder andere zusammen tätlich angreifen, entwickeln Bindungen, die viele Jahre andauern. Führungskräfte, die gemeinsam Betrügereien begehen, entwickeln sehr starke Bindungen – und jeder Mitarbeiter, der sich weigert, mitzumachen, wird häufig von der Entscheidungsfindung generell ausgeschlossen. Wenn sich jemand in ähnlicher Weise weigert, etwas für einen Freund zu schmuggeln oder auf Bitten des Freundes die Polizei zu belügen, dann wird der Freund diese Abneigung wahrscheinlich nicht nur als Zeichen der Risikovermeidung, sondern auch als moralisches Urteil

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empfinden, und Freundschaften überleben derartige Bewertungen und Einschnitte nur in seltenen Fällen. Als Erwachsener möchte ich davon ausgehen dürfen, dass gute Freunde mich nicht dazu auffordern würden, illegale oder gefährliche Dinge zu tun – entweder weil sie intuitiv erkennen, dass ich ablehnen werde, oder weil sie spüren, dass unsere Freundschaft leiden wird, wenn ich ablehne. Ein bloßer Bekannter könnte etwas Illegales oder Gefährliches vorschlagen, aber der Bekannte hat wenig zu verlieren. Wenn ich darauf eingehe, können wir Freunde werden, weil das geteilte Risiko dabei hilft, dass eine Bindung zwischen uns entsteht. Ich würde einen Freund wahrscheinlich nicht bitten, etwas Gefährliches zu tun, selbst wenn es vollkommen legal wäre. Der Extremfall ist einfach. Ich würde nicht wollen, dass ein Freund oder eine Freundin sein oder ihr Leben riskiert, um meins zu retten. Ich würde vielleicht mein Leben riskieren, um das eines jüngeren Menschen zu retten; die meisten Eltern würden ihr eigenes Leben für das ihrer Kinder opfern. Aber es wäre furchtbar, wenn ein junger Mensch sein Leben für mich opfern würde, und bei einem Gleichaltrigen wäre es vielleicht ebenso schlimm, dies zu tun. Die schwierigere Frage ist, ob man statt dem sicheren Tod ein größeres Risiko auf sich nehmen sollte. Das Tagebuch der Anne Frank und andere Berichte von heldenhaften Einsätzen während des Krieges sind wirklich außerordentlich bemerkenswert. Man stelle sich vor, ein Freund ruft an und sagt einem, dass es um Leben und Tod geht und er sich für zwei Tage bei einem verstecken muss, und er bittet einen, keine Fragen zu stellen und niemandem davon zu erzählen. Ob der Freund sich vor der Polizei versteckt, einem rachsüchtigen Liebhaber, einem gewalttätigen Schuldeneintreiber oder vor einem Mörder: das Risiko für einen selbst ist wahrscheinlich gering, besonders wenn der Freund vorsichtig ist, weiß, wie man Spuren verwischt und wenn er sich gut verkleiden kann. Wenn die Polizei einen beschuldigt, einem Kriminellen Unterschlupf zu gewähren, könnte man behaupten, man habe gedacht, dass sich der Freund vor einem Übeltäter versteckt hat. Aber würde man selbst unter ähnlichen Umständen darum bitten, sich im Haus eines Freundes verstecken zu dürfen? Ich würde einem Freund kein großes Risiko zumuten, vor allem, da es wahrscheinlich nur eine kleine Verringerung der Gefahr für mich selbst bedeuten würde, und so sollte ich vielleicht davon ausgehen, dass ein Freund es mir nicht zumuten würde. Würde man einen guten Freund bitten, einen während eines Krieges zu verstecken? Würde man um eine Nierenspende bitten? Der Empfänger einer Niere von einem Lebendspender hat eine sehr gute Chance, fünf oder sogar zehn Lebensjahre zu erleben, die von signifikant höherer Qualität sind als diejenigen, die er oder sie bei einer regelmäßigen Dialyse und ohne Transplantation erleben würde. Das unmittelbare Risiko für den Nierenspender ist zwar gering, er trägt jedoch das Risiko, diese andere

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Niere zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens zu benötigen. Würde man einem guten Freund eine Niere spenden, und ist man wirklich ein guter Freund, wenn man es nicht tun würde? Ich würde einem unbekannten Fremden nicht einfach eine Niere spenden, es sei denn, es wäre Teil eines Tauschs, bei dem das Kind meines Freundes eine Niere und so eine wesentliche Verbesserung seiner Lebensqualität bekommen würde. Ist meine Sichtweise durch den Wunsch nach Dankbarkeit oder Bewunderung motiviert? Ich vermute, dass die Spende der Freundschaft nicht gut bekommen würde, da dadurch eine große Ungleichheit entsteht. Cicero lehnt zwar die Idee ab, dass eine solche Art von Buchhaltung Teil einer Freundschaft ist, aber er übersieht vielleicht, dass eine große Asymmetrie für eine Freundschaft wahrscheinlich nicht gut ist. In jedem Fall würde die Ablehnung einer Nierenspende eine Freundschaft mit Sicherheit verändern. Es ist daher nicht überraschend, dass Webseiten für Nierenspenden empfehlen, dass man seine Freunde und seine Familie über die Notwendigkeit einer Nierenspende informiert, aber sie nicht direkt darauf anspricht. In allen diesen Beispielen geht es um die Frage, was man über den instrumentalen Charakter von Freundschaft denken sollte. Martha ist in ihrem Beitrag eindeutig eine Instrumentalistin, da sie dafür wirbt, dass Freundschaft die Fähigkeit hat, Freude, Komik und Liebe hervorzubringen. Doch ist diese Art von Freundschaft eine Art Versicherungsschein oder eine ständige Berechnung? Die Frage ist kritisch, wenn man älter wird, man lasse mich daher mit jugendlichen Entscheidungen beginnen. Eine langandauernde Ehe enthält ein Element von Versicherung. A und B vereinbaren, einander in Gesundheit und Krankheit beizustehen. Daraus folgt, dass die Beziehung viele Vorteile hat, einschließlich des Versprechens, dass, sollte A sehr hilfsbedürftig sein, B helfen wird, und sogar sehr gerne helfen wird. Wenn B von Anfang an wüsste, dass A der Bedürftige sein wird, wäre B die Ehe vielleicht nicht eingegangen, aber die Situation ist eine völlig andere, wenn sie in einer verbindlichen Beziehung sind, besonders nach Jahren der Partnerschaft. Wenn B sich eines Tages umdreht und sagt, dass er andere Möglichkeiten hat, und wenn A ein wenig faltig aussieht, sodass es Zeit ist, weiterzusuchen, würden die meisten von uns denken, dass ein langfristiger oder ein Versicherungsvertrag verletzt wurde. Gilt das für alle Freundschaften? Martha und Cicero wollen uns glauben machen, dass Freundschaft Vorteile bringt (und hiermit meine ich die freudigen Aspekte), doch sie birgt auch Risiken. Kommen die fröhlichen Augenblicke plötzlich nur noch sehr selten vor, ist es dann erlaubt, den Freund zu verlassen? Dies ist eine der großen Herausforderungen des Alterns. Altersgemeinschaften sind voll von Geschichten von Freunden, die sich von einem Augenblick auf den anderen gegen einen alten Freund gewendet und ihn verlassen haben, sobald klar wurde, dass die Person am Kartentisch nicht mehr mithalten kann oder eine todbringende Krankheit hat.

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Diese Wahl zwischen einer an der Zukunft und einer am gegenwärtigen Moment orientierten Abwägung ist etwas, das in der Gesetzgebung ständig vorkommt. Diesbezüglich legt die erste Perspektive nahe, dass wir alle von Versicherungsverträgen profitieren; es wird weniger Freundschaften geben, wenn Freunde fallen gelassen werden können, wenn sie ihren Beitrag nicht mehr leisten können, und wir werden alle schlechter dastehen, weil Freundschaft wirklich viele Vorteile mit sich bringt. Aber die Orientierung an der Gegenwart hat ebenfalls etwas für sich. Wir leben alle nur einmal, und warum sollte der gesunde und scharfsinnige 90-jährige kostbare Zeit damit verbringen, mit einem alten Freund im Garten zu sitzen, wenn der keinen Sinn für Humor mehr hat und für jedes Bridge-Team eine Belastung ist? Wenn man echte Freude daran hat, ein guter Freund zu sein, dann ist die Frage natürlich einfach zu beantworten. Doch wenn es nicht so ist, dann denke ich, ist Freundschaft eine komplizierte Art Vereinbarung, vielleicht so etwas wie ein mittelfristiger Versicherungsvertrag, zusätzlich zu all den zweifellos guten Aspekten. Für mich ähnelt diese Frage derjenigen, ob man sich in jemandes Haus verstecken oder eine Niere aufgeben möchte. Was Versicherungsverträge betrifft, so bin ich ganz dafür, allerdings nicht im Extremfall. Ich freue mich, dass ich versorgt werde, wenn ich es brauche, jedoch nur dann, wenn eine realistische Aussicht auf Genesung besteht, damit ich dem mich pflegenden Freund von Nutzen sein kann. Sobald ich meinen Verstand verloren habe, möchte ich nicht mehr, dass ein Freund seine oder ihre Zeit verschwendet, nur weil er oder sie – zu einer früheren Zeit, als dies noch mehr Sinn machte – einen unausgesprochenen Versicherungsvertrag eingegangen ist. Es fühlt sich richtig an, diese Worte zu schreiben, weil ich hoffe, dass meine Ehefrau und meine Freunde ihr Leben in vollen Zügen genießen werden, sollten ihre Energie und ihre Geisteskräfte meine überdauern. Für diejenigen, die anderer Meinung sind, und ich denke, Martha gehört dazu, werde ich noch weiter gehen und sagen, dass der Freundschaftsvertrag eine Art Vereinbarung ist, den gemeinsamen Nutzen zu maximieren. Wenn drei Mitglieder einer vierköpfigen Gruppe ihren geistig nachlassenden Freund vom Bridge-Tisch ausschließen, so können wir es als die Erwägung ansehen, dass der Gewinn für die drei wesentlich größer ist als der Verlust für den einen. Wenn ich zuerst geistig nachlasse und mein Freund ein viel besserer Gesprächspartner ist als ich, dann besteht die Verantwortung der Freundschaft darin, die Situation auszuhalten, solange das Vergnügen, das mir unser Austausch bereitet, größer ist als das, was durch die Abnahme meiner Geisteskräfte verloren geht. Sie sollte unsere Freundschaft nicht allein deshalb aufgeben, weil sie eine bessere eingehen kann. Aber ich möchte, dass sie loslässt, wenn der Preis für sie zu groß und der Nutzen der anhaltenden Freundschaft für mich offensichtlich eher gering ist.

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Freundschaft hat einen anderen Zweck. Freunde sind eine wichtige Quelle für Ratschläge, allein schon deshalb, weil ihre Vertrauenswürdigkeit vorausgesetzt werden darf. In Bezug auf das Alter benötigen Freunde möglicherweise Ratschläge in Gesundheitsfragen, zu Kindern, Erbplänen und vielen anderen Dingen. Diese Dinge belasten eine Freundschaft nur selten, und die meisten Menschen geben sehr gerne Ratschläge. Gute Führungskräfte bitten nicht nur um Rat, weil mehrere Perspektiven oft besser sind als eine, sondern auch, damit andere sich wertgeschätzt und einbezogen fühlen. Betrachten wir im Gegensatz dazu die Frage, ob Ratschläge erteilt werden sollen, wenn sie nicht erbeten wurden. Man stelle sich vor, man habe beobachtet oder erfahren, dass ein Freund am Arbeitsplatz so stark abgebaut hat, dass sich Kollegen oder Kunden hinter seinem Rücken über ihn lustig machen. Der Freund kann ohne ernste, finanzielle Nachteile in Rente gehen. Nehmen wir an, dass der Abbau der Geisteskräfte des Freundes niemanden in Lebensgefahr bringt. Der Grund, in dieser Situation Ratschläge anzubieten, ist, dass man sich sicher ist, dass der Stolz des Freundes ihn zum Eintritt in den Ruhestand veranlassen würde, wenn er das gegenwärtige Stadium des Nachlassens seiner Kräfte wirklich verstehen würde. Natürlich hat er nicht mehr dieselben Vorlieben, die er in all den Jahren davor gehabt hat, aber man hat ja auch nicht die Absicht, ihn aus dem Beruf zu drängen, sondern einfach nur sicherzustellen, dass er begreift, dass es – nach dem, was man weiß und beobachtet – an der Zeit ist, auf den Rat eines guten Freund zu hören. Wenn man nichts unternimmt, wird wahrscheinlich irgendein demütigendes Ereignis eintreten, oder jemand wird schließlich etwas so Peinliches sagen, dass der Eintritt in den Ruhestand unvermeidlich und wesentlich unangenehmer sein wird. Man hat die Möglichkeit, seinem Freund diesen Schmerz zu ersparen. Ein Problem besteht darin, dass der Freund sich gedemütigt fühlen könnte, da er weiß, dass man das Abnehmen seiner geistigen Kräfte bemerkt hat, aber man würde den Rat sicher mit Vorschlägen für neue Aktivitäten und Herausforderungen verbinden. In Kapitel 2 ging es um den verpflichtenden Eintritt in den Ruhestand, nicht jedoch um die Frage, wann man in Rente gehen sollte. Es ist klar, dass ein vorgeschriebenes Rentenalter einen Teil dieses Problems des Nachlassens der geistigen Kräfte und der damit verbundenen Demütigung lösen kann, wenn auch zu erheblichen Kosten. Wenn die meisten Menschen aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen in Rente gehen oder weil Pensionspläne eine weitere Beschäftigung wirtschaftlich unattraktiv machen, dann wird es nur wenige Menschen geben, die besondere Anreize benötigen, um in Rente zu gehen. Kollegen und Arbeitgeber, die diese Art der Beratung als sehr schmerzhaft empfinden, werden bestrebt sein, Verträge oder Ruhestandsgelder einzuführen, die den Eintritt in den Ruhestand schon in relativ jungen Jahren fördern oder sogar notwendig machen. In den USA haben wir jedoch kein

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verpflichtendes Renteneintrittsalter, und selbst wenn wir eines hätten, wäre ein Freund vielleicht der Vorsitzende einer Regierungsorganisation oder Verwalter in einer Universität, wo es zwar kein Ruhestandsalter gibt, die Möglichkeit einer öffentlichen Demütigung jedoch groß ist. Das Problem des Nachlassens der geistigen Kräfte ist daher nicht nur auf herkömmliche Arbeitsplätze beschränkt. Führungspositionen in der Öffentlichkeit werden häufig mit älteren Menschen besetzt, weil man annimmt, dass sie über mehr Weisheit, mehr sozialen Einfluss (wieder diese Idee der auctoritas), mehr Zeit oder über einen höheren Bekanntheitsgrad verfügen – oder sogar deshalb, weil sie besser in der Lage sind, den betreffenden Organisationen größere Geschenke zu machen. Diese letztgenannten Gründe erhöhen die Gefahr, dass andere Leute in der Organisation die mögliche Demütigung des Freundes nicht berücksichtigen. Auf ihren guten Willen und ihre Vertrauenswürdigkeit kann man sich nicht verlassen. Ich muss betonen, dass ich nicht für einen Ruhestandeintritt bin, sobald jemand den Punkt seiner höchsten Leistungsfähigkeit überschritten hat. Die Teilnahme am Arbeitsleben sowie an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten kann sowohl für den alternden Menschen als auch für Mitarbeiter und andere Personen von Vorteil sein. Ich habe in Kapitel 2 argumentiert, dass es ein Problem darstellt, dass das Gehalt von Arbeitnehmern, die den Punkt ihrer höchsten Leistungsfähigkeit überschritten haben, oft noch weiter zunimmt, aber das ist nichts, worum sich ein guter Freund sorgen muss. Die Rolle eines Freundes – den wir Cicero nennen könnten – besteht darin, das Wohlergehen und die Lebensqualität des guten Freundes im Auge zu behalten, besonders wenn der Freund, Atticus, den Punkt seiner höchsten Leistungsfähigkeit überschritten hat. Beide Aspekte dürften mit einer Fortsetzung der Arbeit und staatsbürgerlichem Engagement positiv korreliert sein. Gleichzeitig muss Cicero die Demütigung einschätzen, die Atticus erleiden wird, wenn er zum Gegenstand von Spötteleien wird. Zum Teil ist Ciceros Aufgabe ungerecht schwierig, weil die gleiche Gesellschaft, die Atticus’ Erfahrung schätzt, sich plötzlich gegen Atticus wenden kann, wenn der Niedergang seiner geistigen Kräfte offensichtlich oder kostspielig wird. Zu Recht ermutigen und feiern wir den eigenständigen 85-Jährigen, der ein größeres Unternehmen leitet, uns durch weise Bemerkungen Einsichten vermittelt und jüngere Kollegen berät. Hat dieselbe Person auf dem Nachhauseweg allerdings einen Autounfall, so schütteln wir schnell den Kopf angesichts des Versäumnisses seiner Familie und Freunde, ihm die Autoschlüssel abzunehmen. Der alternde Leiter einer städtischen Institution oder der Mitarbeiter, der in Gefahr ist, gedemütigt zu werden, ist dem Freund, der ein Versteck braucht, sowohl ähnlich als auch von ihm verschieden. Eine wichtige Ähnlichkeit besteht darin, dass kein einzelner Freund Grund zu der Annahme hat, dass er oder sie der oder die einzige ist, der eingreifen und die Situation zum Guten wenden kann. Es mag Hotelzimmer oder

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andere Verstecke geben, in denen man sich verbergen kann. In ähnlicher Weise könnten andere Beobachter die alternde Person beiseite nehmen und ihr überzeugend klar machen, dass es an der Zeit ist, ihren Stolz zu überwinden und sich von einer bestimmten Aktivität zurückzuziehen. Ein guter Freund ist jedoch jemand, der sich so verhält, als ob niemand sonst die Situation zum Guten wenden würde. Freunde lösen füreinander Probleme, die kollektive Aktionen verlangen. Aus diesem Grunde kooperieren Freunde gelegentlich, wenn sie in das Leben eines dritten oder gemeinsamen Freundes eingreifen. Genauso wie mehrere Familienmitglieder oder Freunde oft dazu angehalten werden, sich einzuschalten, um jemanden davon zu überzeugen, dass es an der Zeit ist, an einem Rehabilitationsprogramm gegen Drogenmissbrauch teilzunehmen oder den Führerschein abzugeben, könnten sich auch mehrere Kollegen mit jemandem verabreden, dem gesagt werden muss, dass es an der Zeit ist, sich von einer verantwortungsvollen Position zurückzuziehen. Wenn ein Gespräch in der Gruppe unangemessen oder noch demütigender ist, muss ein guter Freund dazu bereit sein, ein Gespräch unter vier Augen zu führen, unabhängig davon, ob ein anderer Freund es schon einmal versucht hat oder nicht. Ebenso wie wir mit Familienmitgliedern oder Ärzten ernste Gespräche über medizinische Interventionen am Lebensende führen, können wir unsere Präferenzen bezüglich anderer potenzieller Gefahren und Fürsprachen mitteilen. Ein Versprechen, das heute gegeben wird, um einem Freund ein Organ zu spenden oder einen Freund in der Not zu verstecken, kann viele Jahre später eingelöst werden, weil der Versprechende eine moralische Verpflichtung oder ein Schuldgefühl empfindet, doch es ist keine Garantie, und ein Freund, der kein Risiko eingehen will, hat schnell konkurrierende moralische Erwägungen konstruiert. Man stelle sich im Gegensatz dazu vor, dass Atticus im Alter von 65 Jahren­ Cicero bittet, „zu versprechen, sich mit mir hinzusetzen und es mir zu sagen, wenn Du meinst, dass meine Kräfte so sehr nachgelassen haben, dass ich Gefahr laufe, mich bei der Arbeit oder bei freiwilligen Aktivitäten zu blamieren oder für andere eine große Belastung zu werden.“ Atticus’ Bitte und Ciceros Zusage mögen für ihre wahren Gefühle zehn Jahre später nicht bezeichnend sein, aber zumindest wird Cicero sich gezwungen fühlen, mit Atticus zu reden. Cicero wird sagen: „Ich habe Dir versprochen, dass ich ein Gespräch mit Dir führen würde, und so sehr es mich schmerzt, die Zeit dafür ist gekommen.“ Cicero ist nicht verpflichtet, Atticus aus dem Arbeitsleben oder anderen Positionen zu drängen, selbst wenn das möglich wäre. Doch das Gespräch könnte dennoch seinen Wert haben, und es ist unwahrscheinlich, dass es weniger Wert hätte, nur weil Atticus erkennt, dass Cicero sich durch das Versprechen statt durch Beobachtungen allein dazu gedrängt fühlt. Dazu sind Freunde da.

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Das ist aber natürlich nicht das Einzige, wozu sie gut sind. Wenn wir Glück haben oder sogar weise sind, dann entdecken wir mit zunehmendem Alter die reine Freude der Freundschaft wieder. Einen neuen Freund zu gewinnen heißt, sich auf eine neue Erkundung einzulassen. Ich hoffe mit zunehmendem Alter eher mehr Freunde zu haben als weniger. Wenn ich in Rente gehe, dann wird der Grund dafür zum Teil darin bestehen, mehr Zeit für alte und neue Freunde zu haben. Das Auswählen von Freunden und die emotionale Investition in Freundschaften sind Zeichen unserer fortgesetzten Unabhängigkeit. Freunde mögen nützlich sein, wenn es um Rat und andere Dinge geht, doch letztlich sind sie dazu da, das Abenteuer des Lebens mit ihnen zu teilen und zu genießen.

Anmerkungen 1

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De Senectute wurde zuerst geschrieben, wahrscheinlich im Jahr 45 v. Chr. De Amicitia wurde im Jahr 44 v. Chr. geschrieben und gehört damit zu Ciceros letzten Werken. Er wurde im Jahr 43 v. Chr. ermordet. Das lateinische Wort senex deckt ein breites Altersspektrum ab, einschließlich Ciceros und Atticus’ Alter, aber auch das des Protagonisten des Dialogs Cato, der 83 Jahre ist. Deshalb übersetze ich „alternd“ statt „gealtert“, und den Titel des Werkes mit „Über das Altern“ und nicht, wie üblich, mit „Über das Alter“. Hier und anderswo gebe ich die Nummern der kürzeren arabisch bezifferten Abschnitte an, nicht die römischen Ziffern der größeren Kapitel. Zitiert nach Marcus Tullius Cicero, Cato maior de senectute (Cato der Ältere über das Alter), lateinisch/deutsch, übers. und hrsg. von H. Merklin, Stuttgart 2011. An Atticus. Cicero schrieb zwischen 68 v. Chr., als er 38 und Atticus 41 Jahre alt war, und 44 v. Chr., als sie 62 und 65 Jahre alt sind, 426 Briefe, bis wenige Monate vor Ciceros Tod. (Atticus lebte bis 32 v. Chr., als er an Dickdarmkrebs starb.) Natürlich decken die Briefe nur diejenigen Zeiten ab, in denen sie getrennt waren; außerdem haben wir nur Ciceros Seite des Briefwechsels; Atticus ist jedoch in den Briefen auf eine lebendige Weise präsent. Bei vielen anderen Freunden und Verwandten sind beide Seiten der Korrespondenz auf uns gekommen, die von Tiro, dem Freigelassenen, der ein enger Freund von Cicero wurde, gekonnt bearbeitet wurde. Obwohl er mit der Ermordung von Julius Caesar im Jahr 44 v. Chr. sympathisierte, war er nicht direkt daran beteiligt; doch seine anschließenden Angriffe auf Antonius führten zu dessen Tod. In diesem Abschnitt des Essays wie auch in der späteren Diskussion von De Senectute stütze ich mich auf die Übersetzung von W. A. Falconer in der Loeb Classical Library, die altmodisch, aber grundsätzlich korrekt ist. (Häufig ändere ich sie ab.) An anderen Stellen (wie in meiner Erörterung im Vorwort) erstelle ich meine eigenen Übersetzungen. Anm. d. Übers.: Die deutsche Version dieses und der folgenden Zitate ist Laelius de amicitia, Laelius über die Freundschaft, lateinisch/deutsch, übers. und hrsg. von M. Giebel, Stuttgart 2014 entnommen oder daran angelehnt.

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7 Obwohl es im Griechischen mehrere verschiedene Begriffe für verschiedene Arten von Liebe gibt, verfügt das Lateinische nur über amor, das folglich ein sehr breites Spektrum abdeckt, von der erotischen bis zur Liebe zwischen Familienmitgliedern und Freunden. Es zeigt allerdings immer enge emotionale Beziehungen an. 8 Hier kritisiert Cicero möglicherweise implizit die epikureische Sicht der Freundschaft, die er im ersten Buch von De Finibus darstellt, und gibt Atticus einen freundlichen Anstoß, diesen Aspekt seines Epikureismus zu verwerfen. 9 Anm. d. Übers.: Die deutsche Version dieses und der folgenden Zitate ist Cicero: Epistulae ad Atticum, Briefe an Atticus, lateinisch/deutsch, ausgew., übers. und hrsg. von D. Schmitz, Stuttgart 2016 entnommen bzw. daran angelehnt. 10 Die römischen Epikureer sind ein bunter Haufen, und der Verschwörer Cassius hat offensichtlich für die Republik Risiken in Kauf genommen. Der Schwerpunkt seines Epikureismus lag in der Leugnung göttlicher Vorbedeutungen und des göttlichen Einflusses auf die Angelegenheiten der Menschen. Siehe David Sedley, „The Ethics of Brutus and Cassius“, Journal of Roman Studies 87 (1997), 41–53. Atticus scheint allerdings dem von Lukrez beschriebenen, vollkommenen Epikureer sehr viel näher zu kommen. 11 Brief an Dolabella, April 45 v. Chr. 12 Man beachte, wie schnell Cicero zum Schreiben kam; das an sich selbst gerichtete Trostschreiben war ein geschätztes und berühmtes Werk, und der Brief deutet darauf hin, dass er nur einen Tag brauchte, um sich in die Arbeit daran zu versenken – nach einer beschwerlichen Reise. 13 Alle Übersetzungen in diesem Abschnitt sind meine eigenen, allerdings unter Bezug auf die Fassung von Shackleton Bailey. 14 Kurz zuvor war Apuleius zum Auguren gewählt worden, und Cicero musste bei der Einweihungszeremonie anwesend sein, wenn er kein ärztliches Attest vorlegte. Ein vorübergehender Aufschub konnte durch Dritte erreicht werden. 15 An dieser Stelle stimme ich mit Anthony Trollopes wunderbarem Buch Life of Cicero überein. 16 Ich finde, dass die Darstellung von Simone de Beauvoir Mängel aufweist; siehe Kapitel 1. 17 Die Stoiker empfahlen Selbstmord für den Fall, dass es scheint, dass die Grenzen der Natur erreicht sind. 18 Ist zum größten Teil die Übersetzung von Shackleton Bailey. 19 Eine Kombination von mir und Shackleton Bailey. Ich versuche, französische Entsprechungen für das Griechische zu finden, aber es gibt nicht immer eine passende. Daher markiert Kursivschrift Wörter, die im Original griechisch sind. 20 Ich verwende das Piaf-Lied mit Bedacht, denn „Non, je ne regrette rien“ war ein Lied der französischen Fremdenlegion nach ihrer Niederlage gegen de Gaulle, den sie für anti-republikanisch hielten. 21 Martha sagt mir, dass sich Freunde, obwohl Cicero selbst öfters reiste und sie möglicherweise Militärdienst leisteten, in Rom dennoch leicht und häufig treffen konnten. 22 Zwar könnte der Ursprung des Sprichwortes auf Cervantes zurückgehen: „Das alte Sprichwort gilt immer noch, Diebe sind nie Schurken unter sich.“ In diesem Fall ist die moderne Version verdreht.

Kapitel 4

Alternde Körper Wie kann man sich mit einer alternden Haut anfreunden, ganz zu schweigen von dem, was sich darunter befindet? Ist die Beliebtheit der plastischen Chirurgie und anderer Anti-Aging-Verfahren eine gute oder eine schlechte Sache? Warum finden wir einige unserer Körperfunktionen abstoßend?

Können Falten bezaubern? Saul Babys sind süß. Wir lieben ihre glatte Haut und die winzigen Teile ihrer kleinen Körper. Unsere Neigungen haben sich wohl im Laufe der Evolution dahingehend entwickelt, dass sich die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns um die jungen Mitglieder unserer Spezies kümmern, erhöht hat. Es ist auch möglich, dass wir die früheste Jugend mit Unschuld in Verbindung bringen und sie anziehend finden. Wir haben keinen Grund, Babys zu fürchten, und keinen Grund zu glauben, dass sie uns angreifen könnten oder dass ihre Berührung giftig ist. Manche Erwachsene mögen es sogar, Windeln zu wechseln. Babys sind unschuldig, sie bedürfen unserer Hilfe und versprechen eine bessere Zukunft. Wenn wir von der Evolution so verdrahtet wurden, dass wir Babys entzückend und junge Erwachsene in ihren späten Teenagerjahren und frühen Zwanzigern attraktiv finden, was sollten wir dann von denjenigen denken, die mit Falten, Glatzen und anderen Zeichen des Alters daherkommen? Im Idealfall wären Falten Anzeichen von Weisheit, Humor und Geselligkeit statt des Lebensendes. Wir kennen Gesellschaften, die das Alter verherrlichen, doch die unsere hat eine starke Vorliebe für die Jugend und die Einzelnen deshalb eine Vorliebe für körperliche Eingriffe, die ein jugendliches Erscheinungsbild bewahren. Gleichzeitig gibt es gesetzliche und gesellschaftliche Konventionen gegen einige Veränderungen des Körpers. Können wir die Grenze zwischen Verschönerungen und Verstümmelungen verstehen und können wir unseren Körper und uns selbst im Alter vielleicht verbessern?

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Akzeptable und geschmacklose Operationen Wie wir später in diesem Kapitel noch sehen werden, ist es sinnlos zu behaupten, dass gegen sämtliche Verschönerungen des Körpers Einwände zu erheben sind. Gesundes Essen, körperliche Bewegung und eine gewisse Rücksicht auf Mode, Hygiene und Make-up sind für die meisten sozial integrierten Menschen normal. Es ist daher schwer zu begründen, warum eine Nasenoperation, eine Botox-Injektion oder eine LASIK1-Augenoperation sich von alltäglichen Maßnahmen zur Pflege des Körpers vollkommen unterscheiden. Und dennoch liegt etwas Beunruhigendes darin, wenn es in einer Gesellschaft eine hohe Zahl von medizinisch nicht notwendigen Operationen gibt. Die US-Amerikaner geben gegenwärtig 13 Milliarden Dollar im Jahr für Schönheitsoperationen aus – noch viel mehr, wenn wir Augenoperationen, Tätowierungen, kosmetische Zahnbehandlungen und Haartransplantationen hinzurechnen. Die Südkoreaner lassen jedoch viermal so viele Schönheitsoperation wie in den USA vornehmen. Koreaner lassen sehr häufig Augenlidoperationen durchführen, die ihnen ein westlicheres Aussehen verschaffen. Für moderne westliche Beobachter ist dieses Operationsziel erschreckend. Es macht uns normalerweise nichts aus, nachgeahmt zu werden, doch unser politisches und soziales Einfühlungsvermögen sagt uns, dass Menschen, und besonders Menschen, die wir diskriminiert haben, ihrer Identität treu bleiben sollten. Wir würden gerne glauben, unsere Diskriminierung und unser Rassismus gehörten der Vergangenheit an. Daher ist es schmerzlich zu denken, dass Koreaner versuchen, so auszusehen wie wir. Wenn ihre Operationen ihre „asiatischen“ Merkmale eher übertrieben als abschwächten, so würde uns das wahrscheinlich gar nicht stören. Auf ähnliche Weise lässt uns der Wunsch, eine weiße Haut zu haben, zusammenzucken, selbst wenn die Motivation nichts mit uns zu tun hat. Wir sprechen nicht viel darüber, vielleicht deshalb, weil eine geringere Belastung durch Sonnenstrahlen auch durch den Wunsch motiviert sein kann, das Hautkrebsrisiko zu verringern. Wo die Motive gemischt sind und es um Entscheidungen über die Körper von Erwachsenen geht, sind wir mit Vorschriften zögerlich, ja scheuen uns sogar, jemanden deswegen zu verurteilen. In unserer Kultur bräunen sich viele Menschen, während sich viele andere vor der Sonne schützen. Unsere Schönheitsstandards sind ausreichend vielfältig geworden, sodass wir auf keine der beiden Gruppen unsere Kritik richten. Die Gesetze der USA regeln zwar, verbieten aber keine Augenlidoperationen oder den Besuch von Bräunungsstudios. Bisher richte ich mein Augenmerk ohnehin eher auf Unbehagen und soziale Normen als auf gesetzliche Verbote. Wenn diskriminierte Gruppen ihr Aussehen auf andere Weise verändern, so bereitet uns dies ein ähnliches Unbehagen. Die meisten weißen Personen würden zö-

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gern, ehe sie einer afroamerikanischen Frau vorschlagen, ihre Haare zu glätten oder einem Asiaten oder Indianer, seine Haare zu kräuseln oder auf andere Weise gegen sein genetisch festgelegtes Aussehen anzukämpfen. Innerhalb einer Minderheit ist die Veränderung des Aussehens eher ein ungezwungenes, wenn auch kein regelmäßiges Thema. Ich habe viel über die Veränderung des Aussehens der Haare und über Politik aus dem Bestseller-Roman Americanah gelernt, der von einem nigerianischen (und mittlerweile auch amerikanischen) Autor verfasst wurde. Viele schwarze Frauen glauben, dass ihnen das Glätten der Haare am Arbeitsplatz oder in verschiedenen sozialen Situationen hilft. Wie im Fall von Bräunungsstudios und den gleichzeitig bestehenden Präferenzen für hellere oder dunklere Haut besteht auch eine Nachfrage nach Flechtmustern und nach einer Überformung des natürlichen Wachstums (und zwar nicht nur bei schwarzen Frauen). Es gibt genug Vielfalt in Bezug auf Haarfasern und -follikel, sodass im Jahr 2016 nur noch wenige Menschen starke Reaktionen zeigen, wenn ein Mitglied einer Minderheit seine Haare glättet. Ich lebe in einer Straße in Chicago, in der es sechs (!) Friseursalons gibt, die sämtlich auf die Bedienung afroamerikanischer Frauen spezialisiert sind, und ich habe von keiner weißen Person je ein negatives Wort über den Versuch gehört, sein Aussehen in diesen Salons zu verändern. Das Gleiche gilt für die Haarfarbe. Wenn eine Frau mediterraner oder semitischer Abstammung mit blonden Haaren experimentiert, werden wir vielleicht zusammenzucken, wenn wir die Tönung oder die Professionalität der Färbung nicht mögen, aber nicht, weil wir annehmen, die Person versuche, eine dominante Gruppe nachzuahmen. Bei Operationen zur Nasenkorrektur, in der Fachsprache als Rhinoplastik bezeichnet, ist dies eine schwerere Entscheidung, zum Teil, weil diese Eingriffe chirurgische Werkzeuge erfordern und, was wichtiger ist, weil sie sich wesentlich schwerer rückgängig machen lassen als Änderungen der Haare. Rhinoplastik ist bei Teenagern beliebt, einer Personengruppe, die für wechselnde Meinungen bekannt ist, und daher zieht sie gesetzliche Regelungen wie ein Magnet an. In meiner Jugend hatten sich viele der mir bekannten jüdischen Mädchen ihre Nasen ändern lassen und es war üblich, dass sie offen darüber sprachen – obwohl viele erschrocken und beleidigt gewesen wären, wenn eine nichtjüdische Person das Thema angesprochen hätte. Ich gestehe, dass ich das Ergebnis fast immer attraktiver fand als die ursprüngliche, natürliche Nase. Im Nachhinein ist die Beliebtheit der Operation (besonders in orthodoxen jüdischen Gemeinden) etwas rätselhaft, weil das jüdische Gesetz kosmetische Körperveränderungen missbilligt, und manche Autoritäten verbieten sie, sofern sie nicht notwendig sind, um „Abnormalitäten“ zu korrigieren. Die liberalere Sichtweise erlaubt Veränderungen, um seelisches Wohlbefinden zu erreichen. Der Widerspruch besteht bis heute fort; Nasenkorrekturen und Faceliftings kommen in der gleichen

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Bevölkerungsgruppe, die Tätowierungen als „Verstümmelungen“ des Körpers vollständig verwirft, sehr häufig vor. Fairerweise muss man zugeben, dass Tätowierungen scheinbar ein ausdrückliches biblisches Verbot verletzen (Leviticus 19,28), obwohl die Bedeutung des Verses umstritten ist. Das größere Problem ist jedoch die Vorstellung, dass Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen wurden und nicht entehrt oder „verbessert“ werden sollten. Nasenkorrekturen mögen unter Juden als ein Versuch, sich zu assimilieren, an Popularität gewonnen haben, oder um in einer Zeit, in der schlecht erzogene Leute auf ihre eigenen Nasen zeigten, um darauf hinzuweisen, dass ein Mitstudent jüdisch sei, verletzende Kommentare zu vermeiden. Heute ist Rhinoplastik weithin akzeptiert, jedoch weniger weit verbreitet als zu einer Zeit, zu der Menschen sich stärker bemühten, ihrer ethnischen Identität zu entkommen. Brustvergrößerungen und andere chirurgische Eingriffe sind heute weit häufiger als Operationen zur Nasenkorrektur. Betrachten wir, bevor wir uns den Verfahren zuwenden, die darauf abzielen, die Zeichen des Alters rückgängig zu machen, diese dreistufige Theorie bezüglich der Akzeptabilität von Veränderungen des Körpers. (1) Gesetz und gesellschaftliche Konvention halten es für richtig, dass es Erwachsenen erlaubt sein soll, ihre Persönlichkeit auszudrücken, indem sie Entscheidungen über ihren eigenen Körper treffen. Eltern werden dazu angehalten, Entscheidungen für ihre minderjährigen Kinder zu treffen, zumindest wenn eine medizinische Notwendigkeit besteht oder ein anderer wichtiger Grund vorliegt. Ist eine Veränderung irreversibel, so schränkt das Gesetz den Einzelnen allerdings stärker ein. (2) Der herrschenden Meinung widerstrebt es besonders, wenn Minderheiten gesagt wird, was sie mit ihrem Körper tun sollen. Dies vor allem dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Minderheit unter Druck gesetzt wurde, sich der mehrheitlichen Kultur anzupassen. (3) Eine Einmischung ist zulässig oder sogar eine Frage der Menschenrechte, wenn die Minderheit an unterdrückten Untergruppen oder Individuen irreversible Veränderungen vornimmt. Ich werde mit dem besten Beispiel der skizzierten Theorie beginnen und dann von dort zu Eingriffen übergehen, die sich auf das Altern beziehen. Die Beschneidung von Frauen wird strikt missbilligt und als weibliche Genitalverstümmelung (FGM) bezeichnet. Sie wird von den Vereinten Nationen als Verletzung der Menschenrechte betrachtet und ist u. a. in den USA, Frankreich und Großbritannien verboten. In einigen Ländern ist sie weit verbreitet, mehr als eine Art kultureller Norm denn als religiöse Vorschrift. Manche Anthropologen betrachten die Kritik an der weiblichen Genital­verstümmelung als kulturellen Kolonialismus, und sie werden ihrerseits des moralischen Relativismus beschuldigt; die männliche Beschneidung wird hingegen weitgehend praktiziert, obwohl der Eingriff in Europa und Asien – trotz erneuter Hinweise auf seine medizinischen Vorteile – zurückgegangen ist. Die Anzahl der Be-

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schneidungen bleibt unter Muslimen und Juden, für die sie von großer religiöser Bedeutung ist, besonders hoch. Der asymmetrische Einwand gegen die Beschneidung von Frauen könnte nicht nur die Verschiebung der medizinischen Meinung zur männlichen Beschneidung widerspiegeln, sondern auch die Tatsache, dass die weib­ liche Beschneidung keinen bekannten medizinischen Vorteil hat, sowie die Verbindung – in einer Untergruppe von Kulturen, die traditionell die weibliche Beschneidung praktiziert haben – zwischen der weiblichen Beschneidung und Ansichten über weibliche Bescheidenheit und sexuelle Unterdrückung. Kurz gesagt, Beschneidungen sind irreversibel (im Gegensatz zu den meisten Körperpiercings, die normalerweise, wenn auch nicht immer, verheilen und sich wieder schließen, nachdem ein Schmuck entfernt wurde) und wir misstrauen kulturellen Normen, die Frauen benachteiligen oder verstümmeln. Die lange Geschichte der Unterdrückung von Frauen lässt uns gegenüber kulturellen Ansprüchen zugunsten der Beschneidung von Frauen skeptisch sein. Feministinnen mögen sich über Burkas oder Niqabs uneinig sein, obwohl sie ursprünglich von Männern durch Gesetze eingeführt wurden: Doch ein Kleidungsstück zu tragen ist eine reversible Entscheidung (abgesehen von tieferen psychologischen Auswirkungen und der Behauptung, dass die Tradition Hautkrebs verhindert). Wenn im Gegensatz dazu die dominante Gruppe, also im Lauf der Geschichte die Männer, bei ihren neuen Mitgliedern Piercings anbringt oder sie beschneidet, sind wir weniger geneigt, zugunsten der „Opfer“ einzuschreiten. Einwilligende Erwachsene bewegen sich in einem völlig anderen kulturellen Raum. Labiound Vaginoplastik sind zunehmend häufigere Eingriffe, und es ist mein Eindruck, dass die Zahl der kulturellen und feministischen Einwände dagegen zurückgegangen ist. Die Eingriffe mögen im Hinblick auf Männer durchgeführt werden, die Entscheidungsträger sind jedoch Erwachsene. In den USA und in Europa gibt es eine lautstarke, „Intaktivität“ befürwortende Bewegung, die die Beschneidung von Männern ablehnt, besonders wenn sie Kleinkindern und Minderjährigen aufgezwungen wird, die ihr kaum zustimmen können. Aber die Tatsache, dass so viele zu kritischen Überlegungen neigende Menschen die weibliche, jedoch nicht die männliche Beschneidung verabscheuen, legt nahe, dass ein entscheidender Unterschied darin besteht, dass die eine an einer Gruppe durchgeführt wird, die – zumindest in westlichen Augen – durch eine Vielzahl von Praktiken stark eingeengt und unterdrückt ist. Das Durchstechen der Ohrläppchen wird, zumindest in den USA, hauptsächlich bei Mädchen vorgenommen (oder ihnen zum Geschenk gemacht oder von ihnen gefeiert), und so mag es überraschen, dass gegen eine Verstümmelung dieser Art nicht protestiert wird. Ohrlöcher sind in der Regel allerdings reversibel oder sie hinterlassen schlimmstenfalls eine kleine Narbe. Wenn es schwierig wäre, sie wieder rückgängig zu

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machen, würde das Gesetz wahrscheinlich fordern, dass Kinder warten, bis sie eine bestimmte Reife erlangt haben, oder sogar bis zum Alter der Volljährigkeit, bevor Piercings vorgenommen werden können. In einigen Bundesstaaten ist dies beinahe der Fall. Zum Beispiel wird in Wisconsin für Piercings im Alter von 16 und 17 Jahren eine elterliche Zustimmung (sowie ihre physische Anwesenheit) verlangt. Bis zum Alter von 15 Jahren können Eltern nur Ohrlöchern zustimmen. In Übereinstimmung mit der weiter oben getroffenen Feststellung unter Punkt (1) mischt sich, wenn es schwieriger ist, eine Änderung wieder rückgängig zu machen, das Gesetz stärker ein. In ähnlicher Weise verbieten viele Bundesstaaten das Tätowieren von Minderjährigen, obwohl einige Staaten das Verfahren bei elterlicher Zustimmung erlauben. Bis auf außergewöhnliche medizinische Fälle sind Operationen zur Brustvergrößerung und Geschlechtsumwandlung sowie damit verbundene Hormontherapien ebenfalls erst ab dem Erwachsenenalter verfügbar. In beiden Fällen können wir uns gewichtige Einwände vorstellen, die auf der Einsicht basieren, dass der Wunsch nach diesen Operationen durch die Vorlieben oder das Mobbing in einer von Männern dominierten Gesellschaft bestärkt werden könnte. Gegenwärtig haben die Werte der Selbstdarstellung und Selbstidentifizierung mehr Gewicht als jegliche Ängste bezüglich dieser Eingriffe bei in der Vergangenheit unterdrückten Gruppen. Ich vermute, dass progressive Bürger, wenn Geschlechtsumwandlungen vorwiegend von einer Frau zu einem Mann erfolgten (tatsächlich gibt es mehr Umwandlungen in die andere Richtung), sie eher verunglimpfen als unterstützen (und sie von Versicherungen nicht bezahlt werden) würden. Auf jeden Fall erfordern fast alle diese Eingriffe, dass die operierte Person erwachsen ist. Einwilligung und Behandlung sind erst dann möglich. Das Gesetz hat weniger dazu zu sagen als gesellschaftliche Konventionen. Wenn rechtliche Fragen involviert sind, handelt es sich in der Regel um einen politischen oder juristischen Streit um die Bezahlung durch die Versicherung, nicht um die Kontrolle über den Körper einer einzelnen Person. Schönheitsoperationen sind in manchen Kreisen verpönt, doch das Gesetz hat damit – weitestgehend – nichts zu tun, außer wenn die Operation irreversibel und der Patient minderjährig ist. Selbst dann aber sind Nasenkorrekturen, Piercings und andere Eingriffe zulässig, sofern der Minderjährige und sein Vormund damit einverstanden sind. Blockiert das Gesetz die Entscheidung der Familie, so liegt das meistens an medizinischen Bedenken, wie etwa im Fall einer Brustvergrößerung vor dem Abschluss der körperlichen Entwicklung oder bei einem mehrheitlichen Versuch, den Druck auf Eltern zu verringern, dem diese bei Tätowierungen oder wenig üblichen Piercings durch Teenager ausgesetzt werden können.

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Altern, aber versuchen, jünger auszusehen Nasenkorrekturen und Piercings sind kosmetische Eingriffe, die viele Minderjährige attraktiv finden, und sie sind keine Eingriffe, die wir normalerweise mit dem Altern in Verbindung bringen. Brustvergrößerungen stehen Jugendlichen nicht zur Verfügung, aber sind bei Frauen in ihren Zwanzigern bis Fünfzigern sehr verbreitet. Gegenwärtig sind die einzigen Schönheitsoperationen, die Menschen über 65 häufig vornehmen lassen, Straffungen der Haut von Gesicht und Hals und Augenlidoperationen. Selbst diese gehen nach den mittleren Jahren stark zurück. Die Anzahl der nicht-chirurgischen Eingriffe (wie etwa Injektionen) geht bei Menschen im Alter von über 70 Jahren auch deutlich zurück. Ich werde nun nicht behaupten, dass Menschen in ihren Siebzigern eine unterdrückte Gruppe darstellen; jedenfalls wird der Rückgang fast sicher auf eine geringere Nachfrage statt auf rechtliche Interventionen oder starke soziale Missbilligung zurückzuführen sein. Es ist möglich, dass sich die Demografie der Schönheitschirurgie ändern wird, da die Generation, die es in diesem Geschäft zu einem Boom hat kommen lassen, diese Präferenzen und die Gewohnheit, Geld dafür auszugeben, im Alter beibehalten wird. Es steht zu erwarten, dass Schönheitschirurgen und Pharmaunternehmen ihre Vorgehensweisen zur Befriedigung der Nachfrage anpassen werden. Wenn man sich jedoch darauf verlassen kann, dass die Vorliebe für Eingriffe am Körper zur Erhaltung eines jugendlichen Aussehens mit zunehmendem Alter abnimmt, sodass sich nach wie vor nur sehr wenige 75-Jährige nach veränderten Nasen oder Brüsten sehnen, dann könnten wir daraus vielleicht den Schluss ziehen, dass ältere Menschen sich einfach wohler in ihrer eigenen Haut fühlen, und zwar so, wie sich diese in ihrem Alter darstellt. Ein Ökonom könnte sagen, dass diese Investitionen mit zunehmendem Alter weniger attraktiv sind, weil für die gleichen Kosten weniger Jahre verbleiben, in denen jemand die Veränderung erlebt oder davon profitiert. Aber das scheint falsch zu sein, sowohl, weil das Altern ein Gefühl der Dringlichkeit bewirken kann, als auch deshalb, weil viele kosmetischen Eingriffe wiederholt werden müssen, sodass die Dauer des Nutzens der Investition für junge und alte Menschen nicht sehr unterschiedlich ist. Es gibt noch andere Verfahren, die zu den Anti-Aging-Körpereingriffen gezählt werden sollten. LASIK und andere die Augen korrigierende Operationen beginnen etwa ab einem Alter von 20 Jahren, und ihre Häufigkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab. Dies liegt allerdings hauptsächlich daran, dass die Probleme alternder Augen auf solche Operationen nicht ansprechen. Jedenfalls hat der Wunsch, ohne Brille besser sehen zu können, nur indirekt mit einem jugendlichen Aussehen zu tun. Die Wiederherstellung von Haaren, einschließlich Transplantationen, ist ein offensichtlicheres Anti-Aging-Verfahren. Wie die Brustvergrößerung ist sie bei Menschen in ihren Drei-

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ßigern und Vierzigern am beliebtesten, wenn Haarausfall den größten Einfluss auf das Aussehen von Männern zu haben scheint. In all diesen Bereichen – der Brustvergrößerung bei Frauen, der Haartransplantation bei Männern sowie der Augen- und Zahnbehandlung – erlaubt das Gesetz dem Einzelnen die freie Wahl. Wir dürfen so gut wie alles tun, was wir wollen, um besser und, ja, auch jünger auszusehen. Die Angst vor Betrug und Ausbeutung, die hinter so vielen gesetzlichen Regelungen für Krebsmedikamente steht, ist im Bereich von Altern und kosmetischer Chirurgie fast nicht vorhanden. Die Arzneimittelzulassungsbehörde der USA kontrolliert die Sicherheit, überlässt aber den Verbrauchern und ihren Ärzten die Entscheidung darüber, was wirksam ist. Wenn Menschen im Alter von 60 bis 80 Jahren den Markt für Facelifts und andere Schönheitsoperationen nicht zu dominieren beginnen, dann wird der Grund dafür sein, dass sie sich entscheiden, auf diese Eingriffe zu verzichten. Es wird erwartet, dass Entertainer und Politiker – sowohl Männer als auch Frauen – ihre Gesichter in den Sechzigern durch einen Facelift verjüngen. Es gibt zwar einige Umfragen, die besagen, dass ein kleiner Teil von Anhängern nicht für eine Person stimmen würden, die ein Facelift bekommen hat, aber es dürfte wohl so sein, dass viel mehr Leute Kandidaten favorisieren, weil sie ihr Aussehen durch entsprechende Eingriffe verschönert haben. Obwohl sich die dramatische Zunahme der Schönheitsoperationen aus ihrer Popularität bei jungen Erwachsenen und Personen mittleren Alters erklärt, gibt es auch einen deutlichen Anstieg bei älteren Patienten. Dieser Anstieg kann mit einer größeren Anzahl von Senioren, einem erhöhten Wohlstand und einer aggressiveren kosmetischen Chirurgie verbunden sein. Es gibt Ärzte, die eine Brustvergrößerung bei gesunden 80-jährigen Patientinnen ablehnen; als sei die Operation bei einer Frau, die halb so alt ist, notwendiger. Doch Demografie und wirtschaftliche Faktoren sorgen für eine Zunahme dieser und anderer Operationen bei älteren Patienten. Warum sollten Menschen zunächst ein jugendliches Aussehen anstreben, später aber nicht mehr? Ein 20-Jähriger mag diese Frage absurd finden, denn für ihn mag es offensichtlich scheinen, dass ältere Menschen sich nicht mehr im Detail um ihre Selbstdarstellung kümmern sollten. Ich habe Studenten nach ihrer Meinung dazu gefragt, wie sie sich ihr Leben vorstellen, wenn sie drei- oder viermal so alt sind wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Viele von ihnen können es sich einfach nicht vorstellen (eine gute Antwort); einige antworten jedoch mit ernstem Gesicht, dass sie bis dahin tot sein würden, weil das Leben sich dann nicht mehr lohnen (oder sich ein Unglück ereignet haben) würde. So gut wie niemand beschreibt neue Aktivitäten oder Abenteuer. Glücklicherweise sind die Antworten viel positiver, wenn Menschen in das Arbeitsleben eintreten, vielleicht, weil es für sie einfacher ist, sich in den Positionen ihrer Vorgesetzten vorzustellen. Ein 20-Jähriger wird wahrscheinlich denken, dass

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plastische Chirurgie im ­Alter von 60 Jahren Geldverschwendung ist, weil ältere­ Menschen für sehr junge Personen alle gleich aussehen oder weil sie es nicht für möglich halten, dass sich ältere Menschen um ihr Aussehen kümmern. In der Tat gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Menschen sich weniger um ihr Aussehen kümmern, wenn sie älter werden; Friseursalons und Schönheitsprodukte sprechen junge und alte Menschen an. Ein übertrieben rationaler Ökonom oder Evolutionsbiologe findet viele Dinge im Zusammenhang mit der Selbstdarstellung nur schwer verständlich. Wir deuten Paarungsrituale, wie die Darbietungen der Schwanzfedern bei Pfauen, als ein Zeichen von Gesundheit und Kraft. Es kostet Anstrengung, zuschauenden Pfauenweibchen das Gefieder zu präsentieren und die Präsentation eine Weile fortzusetzen, und insofern macht die Konkurrenz unter den Männchen Sinn, wenn auch nur nachträglich. Wenn es einem Teenager gelingt, einen schicken Sportwagen oder stramme Bauchmuskeln zu präsentieren, können wir dies als Zeichen von finanzieller Sicherheit, Konkurrenzfähigkeit, Gesundheit oder Rebellion verstehen, und all dies könnten wünschenswerte Eigenschaften an einem Partner sein. Ebenso könnte eine junge Frau, wenn sie schöne lange Haare, wohlgeformte Arme oder die modischsten Kleider zur Schau stellt, damit Wohlstand, Gesundheit, Ausdauer oder andere wünschenswerte Eigenschaften signalisieren. Aber warum sollten Menschen diese Kosten auf sich nehmen, wenn sie das Alter, in dem man sich fortpflanzt, überschritten haben? Vielleicht ist das Verhalten tief verwurzelt und im fortgeschrittenen Alter nicht leicht aufzugeben. Für reflektierte Menschen, die in der Lage sind, primitive Instinkte zu überwinden, öffnet körperliche Anziehung in gewisser Weise eine Tür. Ein hinreißendes Model muss sich immer fragen, ob ihre Verehrer die innere Person mögen oder zu leicht von körperlichen Eigenschaften angezogen werden. Ob die Attraktion ursprünglich ist oder auf Konkurrenz basiert (der Verehrer will im Wettbewerb um attraktive Partner gewinnen): Die attraktive Person muss darum besorgt sein, dass der Partner mit zunehmendem Alter das Interesse verliert. Sie (nehmen wir dies einmal an) kann nicht einfach davon ausgehen, dass auch ihr Verehrer (wir gehen hier von einem männlichen Verehrer aus) Schritte gegen die Gefahr unternimmt, dass er übermäßig stark von ihrer äußeren Erscheinung beeindruckt ist, weil er die Beziehung verlassen und alle seine Qualitäten anderweitig zum Einsatz bringen kann. Es ist jugendliche Anziehungskraft – volles Haar, feste Brüste, glatte Haut und so weiter –, die wahrscheinlich für Attraktivität sorgt, und diese Merkmale werden abnehmen, während Macht und Reichtum für den imaginären Bewerber ihren Wert behalten werden. Wenn wir älter werden, konkurrieren wir nicht mehr um Partner für die Fortpflanzung. Wenn es noch einen Wettbewerb gibt, dann um Weggefährten oder sogar

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zukünftige Pflegekräfte. Virilität spielt immer noch eine Rolle, aber es ist vernünftig, nach Anzeichen von Demenz und körperlicher Hinfälligkeit zu suchen – und diese dann zu meiden. Anti-Aging-Verfahren bleiben als Zeichen der Gesundheit nützlich, aber Beweglichkeit und verschiedene Lebensgewohnheiten spielen als attraktive Eigenschaften eine zunehmend wichtigere Rolle. Es ist leicht zu verstehen, warum manche Schönheitsoperationen bei Menschen über 50 an Bedeutung verlieren, während Styling, Sauberkeit und Fitness große Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese werden wichtiger als gehobene Brüste und der Kampf gegen Haarausfall, um für beide Geschlechter ein Beispiel zu nennen. Die Pflege der Haare ist besonders interessant, da sie ein Indikator für die Fähigkeit und Neigung sein kann, sich selbst zu pflegen, und eher ein hilfsbereiter Gefährte als eine Last zu sein. Unabhängig davon, ob jemand jung oder alt ist: Nur wenige wollen danach definiert oder zugeordnet werden, wie sie aussehen. Wir haben ein inneres Selbst, und es ist ein empirisches Faktum, dass sich unsere äußere Erscheinung mit der Zeit verändert. Wenn wir älter werden, müssen wir hoffen, dass sich nicht herausstellt, dass die Menschen, die unsere Freunde sind und uns lieben, nur unser (weniger attraktiv werdendes) Äußeres geliebt haben. Unser Aussehen ist ein wichtiger Aspekt, der andere dazu bringen kann, unsere Bekanntschaft machen zu wollen, aber es ist nicht das Wesentliche, das wir sind. Ein traumhaft schönes Model sollte wahrscheinlich vorsichtiger sein, bevor er oder sie sich auf eine ernsthafte Beziehung einlässt. Er oder sie muss sich sicher sein, dass der andere keine oberflächliche Person ist und über Werte verfügt. Doch in jeder Lebensphase können Anti-Aging-Verfahren als ein Mittel verstanden werden, Kontakte zu fördern und den Prozess des Kennenlernens einzuleiten. Sobald jemand sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellt, ist es schwierig, eine sich entwickelnde romantische Beziehung auf die Probe zu stellen, indem man sein Äußeres vernachlässigt, weil dies beleidigend oder als Zeichen von Gleichgültigkeit erscheinen kann. Ein Facelift, eine Brustvergrößerung oder eine Haartransplantation können effektiver sein, als wenn man von seinem Profil auf einer Online-DatingWebsite fünf Jahre abzieht. Die andere Person wird die Wahrheit im Laufe der Zeit ohnehin erfahren, handle es sich um das Alter oder ein Persönlichkeitsmerkmal; während er oder sie sich diese Mühe möglicherweise nicht gemacht hätte, wenn ein erster Blick ein weniger attraktives Aussehen offenbart hätte. Es ist nicht unvernünftig, ein Buch wegen seines prägnanten Titels oder eines eleganten Einbands zu öffnen. Wie wir in Kapitel 6 noch sehen werden, ist es nicht verwunderlich, dass einige Menschen von viel älteren Partnern oder Freunden angezogen werden. Sie können Menschen mit mehr Lebenserfahrung interessanter oder finanziell zuverlässiger finden, aber es ist auch plausibel, dass einige Leute den Gegensatz mögen; die jüngere Person kann sich durch den offensichtlichen Vergleich jugendlicher fühlen. Aus einer

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Anti-Aging-Perspektive besteht das ideale „Lückenpaar“ (und hier meine ich Altersabstände wie 65/42, nicht 42/25) aus einer älteren Person, die sich jünger fühlt, wenn sie einen jüngeren Partner hat – und aus einem jüngerer Partner, der sich durch den Vergleich mit dem Älteren noch jünger fühlt. Es ist daher plausibel, dass eine größere Nachfrage nach Schönheitsoperationen in Situationen besteht, wo die Vergleichsgruppe nicht in einem ähnlichen Alter, sondern jünger ist. Es gibt wahrscheinlich mehr Schönheitsoperationen bei Außendienstmitarbeitern und Führungskräften in den Vierzigern, die mit Menschen in ihren Dreißigern konkurrieren, als bei Autoren, Politikern oder professionellen Sporttrainern in den Vierzigern, weil diese Profis nur selten mit Leuten konkurrieren, die zehn Jahre jünger sind.

Altern unter Älteren Ein Besuch in einer Stadt, in der viele Pensionäre leben, wirft ein Licht darauf, wie sich Vergleichsgruppen auf Anti-Aging-Verfahren auswirken. Plastische Chirurgen gibt es in Sun City, Arizona, ebenso wie in Boca Raton und The Villages im Zentrum von Florida, woraus ersichtlich ist, dass die Nachfrage nach plastischer Chirurgie nicht völlig verschwindet, wenn der Wettbewerb am Arbeitsplatz oder um Partner für die Fortpflanzung endet. Die Fotogalerien auf den Webseiten dieser Ärzte zeigen Gesichts- und Halskorrekturen an 64- bis 74-jährigen Frauen, landesweit werden jedoch nur vier Prozent der kosmetischen Operationen bei Patienten über 64 Jahren durchgeführt. Fettabsaugungen und Bauchdeckenstraffungen sind zum Beispiel sehr beliebt, allerdings nicht – oder noch nicht – bei älteren Menschen. Schließt man nicht-chirurgische kosmetische Verfahren mit ein, so ist der Prozentsatz der Verfahren an Patienten über 64 Jahre, zwar höher, aber er liegt immer noch bei nur zehn Prozent. Landesweit werden mehr als 90 Prozent aller kosmetischen Eingriffe an Frauen durchgeführt, und dies gilt für jede Altersgruppe. Die Orte mit der höchsten Anzahl von plastischen Chirurgen pro Einwohner, einschließlich Beverly Hills, San Antonio, Miami, San Francisco und Atlanta, haben keine unverhältnismäßig ältere Bevölkerung. Tatsächlich deuten einige dieser Brennpunkte für plastische Chirurgie darauf hin, dass die Nachfrage zunimmt, wenn die umliegende Bevölkerung jung ist. Ich sollte hinzufügen, dass die statistischen Angaben von vier Prozent und zehn Prozent von der American Society of Plastic Surgeons stammen und damit Beschneidungen (da sie keine kosmetischen Eingriffe sind), Piercings (zu 28 Prozent bei Männern), Tätowierungen und die meisten labio- und vaginoplastischen Eingriffe ausschließen. Es ist offensichtlich, dass die aus der Statistik ausgeschlossenen Eingriffe bei älteren und sogar bei Menschen mittleren Alters besonders selten vorgenommen werden, sodass Menschen im Alter von mehr als 64 Jahren lediglich einen sehr klei-

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nen Anteil aller Patienten ausmachen, an denen diese invasiven kosmetischen Verfahren durchgeführt werden. Frauen in Altersheimen scheinen sich viel mehr mit ihrer Haarpflege und damit zu beschäftigen, gesellig und freundlich zu sein, als mit Eingriffen zur Verjüngung ihres Körpers. Vielleicht fühlt es sich ab einem gewissen Alter töricht an, zu versuchen „jung“ auszusehen, wie es viele 40- bis 50-Jährige noch tun. Junge Befragte sagen, dass sie sich mit Tätowierungen sexy oder rebellisch fühlen – oder zumindest so rebellisch, wie man sich fühlen kann, wenn mehr als ein Drittel der Erwachsenen zwischen 18 und 40 mindestens eine Tätowierung haben. Es wäre interessant, die Antworten älterer Kunden von Tätowierstudios zu vergleichen, nur dass sie gegenwärtig eine so kleine Minderheit innerhalb ihrer Altersgruppe ausmachen, dass dieselben Antworten etwas völlig anderes bedeuten könnten. Es fällt schwer, die Bewohner dieser Gemeinschaften nicht mit anderen altersspezifischen Gemeinschaften, wie etwa auf dem Campus einer Universität oder an vielen Arbeitsplätzen, zu vergleichen. Die Gruppe der Pensionäre scheint sich, endlich, in ihrer eigenen Haut wohl zu fühlen. Ich gestehe, dass ich ihre Falten manchmal bezaubernd finde. Ab einem bestimmten Alter scheint mir ein faltiges Gesicht, das Spuren eines längeren Lebens zeigt, schöner zu sein als glatte und klare Haut. Die Person hinter der Haut scheint aufgrund der Falten interessanter zu sein, und wenn ihre Augen leuchten, führe ich mit ihr lieber ein Gespräch, als ihre Kleidung, ihre Accessoires oder ihre körperlichen Merkmale zu mustern. Ich möchte glauben, dass die geringere Häufigkeit von kosmetischen Operationen innerhalb dieser Altersgruppe ein zunehmendes Wohlbefinden in der eigenen (sich ändernden) Haut widerspiegelt. Sowohl Babyhaut als auch die Haut gealterter Menschen ist auf ihre je eigene Weise schön: Erstere legt Gedanken an Verheißungen oder Vollkommenheit nahe, während letztere auf Erfahrung und Weisheit hindeutet. Als reife Erwachsene wollen die meisten von uns wohl eher weise als vielversprechend sein. Vollkommenheit wäre zwar schön, aber wir wissen, dass sie unerreichbar ist. Mit zunehmendem Alter nehmen wir uns selbst unterschiedlich wahr, je nachdem, wie die altersmäßige Zusammensetzung der Gruppe ist, in der wir uns bewegen. Selbst eine attraktive Person kann in einem Raum voller Models wenig elegant aussehen (und sich fühlen) oder sogar missgestaltet wirken. In einer Gemeinschaft von Pensionären sehen die meisten Menschen ganz normal aus und fühlen sich auch so. Unterschiede können auf der Mobilität oder darauf beruhen, dass jemand an ein Sauerstoffgerät angeschlossen ist; Falten, das Haarvolumen, die Bauchmuskeln und die Brustform sind jedoch für die Mitglieder unter Umständen weniger wichtig als für gleichaltrige Menschen, die mit der übrigen Bevölkerung zusammenleben. Einige ältere Menschen bestehen darauf, in einer „normalen“ Gemeinschaft zu leben, in der

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sich Menschen aller Altersgruppen bewegen. Lässt man Wirtschaft und Politik beiseite und konzentriert sich nur auf das Aussehen, so wird klar, dass für zahlreiche Menschen das Gegenteil der Fall ist, und unterbewusste Vergleiche könnten der Schlüssel zum Verständnis dieser Tatsache sein. Es ist nicht nur so, dass man in einer Gemeinschaft aus Senioren Angebote für Aktivitäten und Nachbarn findet, die mit einem Golf oder Karten spielen möchten. Für einige Bewohner bieten diese Gemeinschaften eine Gruppe von Gleichaltrigen, die es ihnen leichter macht, sich attraktiv zu fühlen. Einige 75-Jährige würden sich vielleicht gedrängt fühlen, jünger auszusehen, wenn sie in einer Welt leben, in der viele Menschen deutlich jünger sind. Sie fühlen sich wohler, wenn die Vergleichsgruppe auch Falten hat. Diese Art von Denken führt zu Verhaltensweisen oder sogar zu Gesetzen gegen übermäßig schlanke Models. Es ist für alle von Vorteil, wenn sich niemand von Hungerrationen ernähren darf. Die Bedeutung der Vergleichsgruppe hat Auswirkungen auf die kosmetische Chirurgie. Nehmen wir beispielsweise an, dass wir unter 80-Jährigen in einer Seniorengemeinschaft deutlich mehr plastisch-chirurgische Eingriffe finden würden als inner­halb derselben Altersgruppe, die über eine Stadt verteilt lebt. Wir hätten zwei naheliegende Erklärungen für den Unterschied. Erstens wird die Nachfrage nach kosmetischer Chirurgie durch die Gruppe der Gleichaltrigen erhöht oder reduziert. Diese Gruppe gibt Informationen über die Verfügbarkeit und Wirksamkeit beispielsweise von neuen Techniken zur Verjüngung der Haut oder über einen guten Arzt weiter, und dann schließen sich weitere Personen an oder machen nach, was ihre Freundin oder Nachbarn vorgemacht haben. Es wäre auch möglich, dass die Gruppe der Gleichaltrigen zu einem massiven internen Wettbewerb um ein jugendliches Aussehen führt. Wenn die 80-Jährigen in einer Seniorengemeinschaft um Status oder Partner für romantische Beziehungen konkurrieren, dann könnten sie sich auf eine Art „Wettrüsten“ einlassen, in diesem Fall durch Schönheitschirurgen, die dies fördern. Würden wir bei den Bewohnern einer Seniorengemeinschaft hingegen weniger Schönheitsoperationen finden, so fielen uns andere sinnvolle Erklärungen dafür ein. Die Bewohner stehen sowieso in häufigem Kontakt miteinander und brauchen sich daher nicht besonders anstrengen, um sich gegenseitig anzuziehen. Es würde mich daher nicht überraschen, wenn die Menschen unter Gleichaltrigen in einer Seniorengemeinschaft über ihr Alter weniger lügen würden, als dies in anderen Kontexten geschieht. Eine zweite Erklärung für eine geringere Rate von Körperveränderungen in einer Seniorengemeinschaft führt uns zur Vergleichsgruppe zurück. In einer solchen Gemeinschaft ist ein 70-Jähriger relativ jung und von Menschen umgeben, die wesentlich älter sind. Wenn die Vergleichsgruppe viele ältere Menschen umfasst, ist die Nachfrage nach kosmetischen Eingriffen geringer, da es tatsächlich leichter ist, sich relativ jung zu fühlen, als wenn man mit der übrigen Bevölkerung zusammenlebt, wo sich sogar eine

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70 Jahre alte Person manchmal alt fühlen kann. Alter ist zum Teil eine Frage der Selbstwahrnehmung und wird von der jeweiligen Vergleichsgruppe beeinflusst. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass eine dieser Thesen über die Nachfrage nach Schönheitsoperationen in und außerhalb von Seniorengemeinschaften besser ist als die andere, aber tatsächlich ist es schwer, an detaillierte Daten über kosmetische Eingriffe zu kommen. Ärzte klassifizieren ihre Patienten nach Verfahren sowie nach der Altersgruppe und dem Minderheitenstatus, es gibt jedoch keinerlei Daten über Seniorengemeinschaften, nicht einmal über Wohngebiete. Meine sehr unzureichenden neugierigen Fragen lassen mich zu dem Schluss kommen, dass invasive Operationen in einigen Ruhestandsgemeinschaften nicht ungewöhnlich sind, in anderen hingegen unterhalb des Durchschnitts liegen. Es wäre schön die Daten zusammenzufassen und dann zu wissen, ob das Leben unter Gleichaltrigen die Anzahl der Schönheitsoperationen im Durchschnitt erhöht oder senkt, aber ich fürchte, wir wissen es einfach nicht. Und wenn wir es wüssten: Wären wir dann sicher, dass eine größere Häufigkeit einer Anti-Aging-Strategie auch eine größere Häufigkeit einer anderen bedeutet? Ich habe bereits angedeutet, dass Schönheitsoperationen und die Verschleierung des­ eigenen Alters sich möglicherweise eher gegenseitig ausschließen als dass sie sich ergänzen. In ähnlicher Weise könnte eine geringere Häufigkeit von Schönheitsoperationen mit einer größeren Häufigkeit körperlicher Ertüchtigung, mehr Haartransplantationen, dem Einnehmen von Peptiden und Antioxidantien und so weiter korreliert sein. Man beachte außerdem, dass diese Anti-Aging-Strategien zwar innerhalb einer Gemeinschaft positiv, bei Einzelpersonen hingegen negativ korreliert sein könnten. Wenn Frau Schmidt ein Facelifting bekommt, könnte ihre Nachbarin, Frau Meyer, eher dazu neigen, gymnastische Übungen zu machen oder mit einem Hauterneuerungsverfahren zu experimentieren, unabhängig davon, ob Frau Schmidt ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit körperlich trainiert oder eine zweite Schönheitsoperation durchführen lässt. Während meiner ersten Reise nach Japan, als ich in meinen Dreißigern war, fand ich alternde japanische Männer ungewöhnlich gutaussehend. Im Vergleich zu meinen Erfahrungen in den USA dachte ich plötzlich, dass Männer viel attraktiver altern als Frauen, zumindest in Japan. Diese Männer hatten ausgeprägte Falten, aber sie sahen sehr distinguiert aus. Es stellte sich bald heraus, dass mein Urteil unter anderem davon beeinflusst war, dass Haarausfall bei Männern in Japan nur selten vorkommt. Jemand, der daran gewöhnt ist, viele ältere Männer mit nur wenigen Haaren (so wie ich selbst heute aussehe) zu sehen, neigt eher dazu, den Anblick all dieser Männer mit vollem, sehr dunklem Haar attraktiv zu finden. Die Schlankheit und das Fehlen von Fettleibigkeit tragen sicherlich auch dazu bei. Diese Beobachtung lässt mich annehmen, dass die Sache mit der Vergleichsgruppe komplizierter ist. In einer großen

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Menge älterer Menschen können freundliche Augen, ein Lächeln und gepflegte Haare jemandem ein sehr attraktives Aussehen verleihen. In einer großen Gruppe von Models von klassischer Schönheit sehen wir übrigen Sterblichen bemitleidenswert aus; und doch kann ein U-Bahn-Waggon mit vielen älteren Männern, die wohlfrisiertes Haar haben, für jemanden, der an den Anblick älterer Männer ohne Haare gewöhnt ist, viel besser aussehen. Für mich sahen diese japanischen Männer vornehm aus. In Lower Manhattan, wo junge Leute zusammenkommen, kann selbst ein 55-Jähriger fehl am Platze erscheinen, und der aufmerksame Beobachter bemerkt mangelnde Gelenkigkeit, dünner werdendes Haar und Hörgeräte. In einem Raum voller älterer Erwachsener beginnen Falten – wenn der Beobachter sich an verschiedene Merkmale gewöhnt hat, die in diesem Alter reichlich vorhanden sind – interessant auszusehen. Ich interpretiere sie als Zeichen von gedanklicher Tiefe oder Weisheit. Dieselbe Logik, die Menschen mittleren Alters, die im Silicon Valley oder in Hollywood arbeiten, dazu bewegt, sich in die Hände von Schönheitschirurgen zu begeben, um jung auszusehen, könnte es älteren Menschen, die von Gleichaltrigen umgeben sind, erlauben, auf diese Interventionen zu verzichten und sich wohl zu fühlen, so wie sie sind. Ich möchte meine Bemerkungen über glamouröse oder weise Falten nicht zu weit treiben. Ich bezweifle, dass irgendein 60-Jähriger sich absichtlich entscheidet, sich auf einer Online-Dating-Seite als weiser zu präsentieren, indem er ein Foto verwendet, das verändert wurde, um ihn älter statt jünger aussehen zu lassen. Die Verschleierung des wahren Alters ist auf Dating-Websites üblich – allerdings nur in jugendlicher Richtung. Die Darstellung des eigenen Selbst ist eine schwierige Sache. Gibt eine 62-Jährige ihr Alter als 47 an und zeigt Bilder, die 15 Jahre früher aufgenommen wurden, so kann sie erwarten, dass der mit ihr verabredete Mann sich gleich beim ersten Rendezvous im Restaurant auf dem Absatz umdreht und wieder geht, nachdem er sie am vereinbarten Platz gesehen hat. Die Selbstdarstellung wird in diesem Fall als Unehrlichkeit verstanden, eine unerwünschte Eigenschaft, da die Lüge zu groß ist. Wenn dieselbe Person hingegen vage andeutet, dass sie fünf Jahre jünger ist, als es der Wahrheit entspricht, ist die Täuschung akzeptabel oder sogar typisch. Diese Selbstdarstellung ist hoffnungsvoll und sie besagt: „Ich wollte, dass Sie einwilligen, mich zu treffen und dann mein ‚wahres‘ Alter und meine Qualitäten selbst beurteilen.“ Menschen mögen es nicht, in eine Schublade gesteckt zu werden, zumindest dann nicht, wenn das Klischee negativ ist; daher gestatten wir ihnen Raum für kreative Gestaltung. Ich frage mich, ob es wohl wahrscheinlicher ist, dass Menschen, die sich einer Schönheitsoperation unterzogen haben, ihr Alter untertreiben, oder ob sie Rabatte für Senioren in Anspruch nehmen. Ich hoffe, sie stellen letztlich fest, dass ihre tiefer werdenden Falten attraktiv sind und wert, behalten zu werden.

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Unsere Körper und wir selbst: Altern, Stigma und Abscheu Martha In den 1970er-Jahren sagten wir Frauen uns, es gehe darum, unseren eigenen Körper zu lieben. Inspiriert durch das eine ganze Generation beeinflussende Buch Unser Körper, unser Leben trainierten wir für eine Geburt ohne Narkose, schauten uns mit einem Spekulum unseren Muttermund an und kultivierten in uns den Gedanken, dass unsere eigenen Körper nicht klebrig, ekelhaft und beschämend sind, sondern dynamisch, wunderbar – und, was noch wichtiger war, wir selbst. Was ist heute, während wir männlichen und weiblichen Angehörige der Babyboomer-Generation altern, aus dieser Liebe und Begeisterung geworden? Ich fürchte, dass es meine Generation zulässt, dass uns Abscheu und Scham erneut überrollen, während am Horizont eine Reihe neuer körperlicher Herausforderungen auftauchen. Während einer Routine-Koloskopie habe ich neulich meinen Blinddarm gesehen. Er war rosa und winzig, ziemlich schwer zu sehen; doch wie interessant, ihm zum ersten Mal vorgestellt zu werden. Die Koloskopie war – wegen einer erblichen Belastung – meine vierte. Ich lehnte eine Sedierung ab, wie ich es immer tue, und ich machte die äußerst aufregende Erfahrung, Teile von mir sehen zu können, die ich jeden Tag mit mir herumtrage, aber nicht wirklich kenne oder deren Vorhandensein mir nicht bewusst ist. Ich unterhielt mich mit meinem Arzt über viele Dinge, unter anderem über die verschiedenen Richter des Obersten Gerichtshofs, die Einzelheiten meiner Untersuchung und nicht zuletzt über die ganze Frage der Sedierung und Anästhesie. Er sagte mir, dass 99 Prozent seiner Patienten entweder eine Sedierung oder, was jetzt häufiger vorkommt, eine Vollnarkose bekommen, da dies von den Krankenhäusern zunehmend verlangt wird. (In Europa, sagte er, werden etwa 40 Prozent der Patienten nicht sediert.) Er nannte die Kosten für diesen Trend: ein finanzieller Aufwand, der mittlerweile berüchtigt ist; verlorene Arbeitstage sowohl für den Patienten als auch für denjenigen, der ihn fahren muss (während ein Patient ohne Sedierung keine Pflegeperson benötigt und sofort wieder arbeiten kann); verlorene Zeit für Krankenschwestern und anderes Krankenhauspersonal; und, natürlich, die Risiken der Sedierung und die noch größeren Risiken einer Vollnarkose. Und, so würde ich hinzufügen, der Verlust des Wunders der Selbsterkundung. Wir sind nur dieser eine Körper, er ist alles, was wir sind und jemals sein werden; er wird nicht ewig existieren. Warum sollte wir uns nicht damit vertraut machen, wenn uns die Wissenschaft die Gelegenheit dazu gibt? Ich habe eine Sedierung anfänglich aus Gründen der Arbeitsethik abgelehnt; aus Gründen der Faszination blieb ich dabei.

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Was sind demgegenüber die Vorteile einer Narkose? Natürlich profitiert jemand davon, dass ein notorisch hoher Preis dafür abgerechnet wird, und zweifellos ist auch Gier ein Teil der Erklärung dafür, warum Krankenhäuser in den USA immer häufiger auf Anästhesie drängen. Doch ich meine: Welche Vorteile könnte sie für den Patienten haben? Es gibt keine Schmerzempfindung im Dickdarm, das Unbehagen während der Untersuchung wird durch Druck verursacht (es sei denn, man hat am Tag davor 300 Rumpfbeugen gemacht und somit seine Bauchmuskeln entzündet – eine Übung, die ich gelernt habe zu vermeiden!) und natürlich durch Ekel und Scham. Auf einer Beschwerdeskala von 1 bis 100, wobei eine Geburt sehr weit oben rangiert, liegt eine Koloskopie etwa bei 5 und ist damit wesentlich weniger unangenehm als ein Gesichtspeeling; und sie dauert nur 30 Minuten. Wir müssen also zu dem Schluss gelangen, dass Menschen größtenteils durch Abscheu und Scham dazu motiviert sind, sich für eine Sedierung zu entscheiden und so der Gesellschaft, ihren Angehörigen und sich selbst hohe Kosten aufzubürden. Den Aussagen der Schwestern konnte ich entnehmen, dass die Patienten Angst hatten, dass sie während des Eingriffs sogar furzen könnten – und natürlich wäre es der weit und breit sauberste Furz, da der Darm bereits gründlich gereinigt wurde. Körperliche Abscheu und Scham gewinnen einen Kampf, den zumindest einige von uns seit Jahrzehnten gegen sie geführt haben. Warum? Die Antwort hat viel mit der speziellen Form der Stigmatisierung des alternden Körpers zu tun, einem Stigma, das sowohl gesellschaftliche als auch, sehr wahrscheinlich, evolutionäre Ursachen hat und starke schädliche Auswirkungen auf die Beziehungen der Menschen untereinander sowie, wenn sie älter werden, auf ihre Beziehung zu sich selbst.2 Altern ist die einzige Kategorie von Ekel-Stigmata, in die sich jeder von uns unweigerlich bewegen wird, wenn er lange genug lebt. Es scheint, dass Frauen, die hart gegen die mit Frauenfeindlichkeit verbundenen Stigmatisierungen gekämpft haben, jetzt den sehr starken Stigmatisierungen des Alterns das Feld überlassen; und Männer, die vielleicht weniger bereit sind, einen Kampf gegen die Stigmatisierung aufzunehmen, sofern sie der mehrheitlichen Ethnie und Religion angehören, stellen nun fest, dass sie in die stigmatisierte Gruppe der Alternden hineinwachsen; und sie leisten nicht den geringsten Widerstand. Einem solchen gesellschaftlichen Ekel-Stigma nachzugeben bedeutet in diesem Fall, sich selbst ekelhaft zu finden. Wenn andere Formen der Stigmatisierung in einer engen Verbindung zur sozialen Unterordnung stehen, ist dann nicht auch diese eine sehr machtvolle Form gesellschaftlich verhängter Unterordnung, an der die Alternden selbst mehr oder weniger bereitwillig teilnehmen, indem sie sich zurückhalten und bescheiden? Das kann nicht besonders gut sein, und möglicherweise ist es sogar sehr schlecht. Deshalb sollten wir innehalten und darüber nachdenken, was wir über das dem altern-

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den Körper anhaftende Stigma, über seine Ursprünge, seine Beziehung zu anderen Formen der Stigmatisierung sowie über seine Unterschiede zu anderen Stigmatisierungstypen wissen und was wir zwischenzeitlich über seine weitreichenden Konsequenzen in Erfahrung gebracht haben.

Ekel: Primär und projektiert Was ist Ekel und warum ist seine gesellschaftliche Funktion beunruhigend? Das Gefühl wurde kürzlich von einem Team experimenteller Psychologen in den USA unter der Leitung von Paul Rozin einer Untersuchung unterzogen, die wichtige Ergebnisse erbrachte.3 Alle Menschen scheinen ein akutes Unbehagen zu empfinden, wenn sie mit ihren eigenen Körperflüssigkeiten, Ausscheidungen und Gerüchen konfrontiert werden und ebenso mit dem Verwesen einer Leiche. Ich verwende den Ausdruck „primärer Ekel“ für das Zurückschrecken vor der Verunreinigung durch solche sowie andere Objekte, die ihnen im Geruch oder bei der Berührung sehr ähnlich sind (wie Insekten und Tiere, die schleimig sind, stinken und so weiter). Der primäre Ekel, obwohl bei der Geburt nicht vorhanden, findet sich in sämtlichen Kulturen und beruht wahrscheinlich auf ererbten Tendenzen. Obwohl dieses Aversionsverhalten Menschen in manchen Fällen möglicherweise vor einer realen Gefahr schützt (und vielleicht war das sein evolutionärer Ursprung), zeigt Rozin, dass sein kognitiver Gehalt sich stark von dem der Angst unterscheidet: Es geht um Verunreinigung, nicht um Gefahr, es ist eine Reaktion auf die Animalität und den Verfall des menschlichen Körpers, und im Hinblick auf reale Gefahren ist es einerseits nicht inklusiv genug und andererseits zu umfassend. (Viele gefährliche Dinge sind nicht ekelhaft – man denke an giftige Pilze – und Menschen fühlen sich auch dann angewidert, wenn sie rational davon überzeugt sind, dass keine Gefahr besteht, wie etwa bei vielen Experimenten mit sterilisierten Kakerlaken und anderen ungefährlichen, aber ekelhaften Lebewesen.) Rozin gelangt zu dem Schluss, dass wir im Ekel einen Aspekt unserer eigenen Animalität abweisen. Obwohl er an diesem Punkt nicht detailliert genug ist, geht aus seinen Forschungen hervor, dass wir nicht alle Zeichen unserer Verwandtschaft mit den anderen Tieren ablehnen: keine Merkmale wie Stärke, Geschwindigkeit und Schönheit. Was wir ablehnen, ist alles, was mit Verfall und Sterblichkeit in Verbindung gebracht wird. Das könnte harmlos genug sein, obwohl ich behaupten würde, dass es immer problematisch ist, diese Art von Selbsthass zu fördern. In allen uns bekannten Gesellschaften hat es damit jedoch nicht sein Bewenden, und die Menschen entwickeln das, was ich als „projektiven Ekel“ bezeichne. Menschen versuchen, zwischen sich und ihrer eigenen Animalität eine Pufferzone zu errichten, indem sie eine Gruppe (oft eine

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machtlose Minderheit) identifizieren, die als die Quasi-Tiere ins Visier genommen und auf die verschiedene animalische Eigenschaften projiziert werden können, die bei­ ihnen nicht in stärkerem Maße vorhanden sind als bei denjenigen, welche die Projektion vornehmen: schlechter Geruch, eine „tierische“ Sexualität und so weiter. Der dahinter stehende – sogenannte – Gedanke scheint hier zu sein: Wenn diese tierähnlichen Menschen zwischen uns und unserem eigenen tierischen Gestank und Verfall stehen, sind wir umso weiter davon entfernt, selbst animalisch und sterblich zu sein. Es gibt keine Gesellschaft ohne Untergruppen, denen auf irrationale Weise Eigenschaften wie Gestank, Schleimigkeit, Hypersexualität und generell übermäßige Animalität zugeschrieben werden.4 Es gibt viele Arten von Ekel-Stigmata. Im europäischen Antisemitismus wurden Juden als übermäßig körperorientiert, stinkend und hypersexuell, jedoch auch als schlau und intelligent dargestellt.5 Sie wurden mit Angst und Neid sowie Abscheu betrachtet. Afro-Amerikaner hingegen wurden – und werden leider manchmal immer noch – als hypersexuell und auch als stinkend, tierisch und dumm angesehen. Sie wurden sowohl mit Abscheu als auch mit körperlicher Angst betrachtet, aber nicht mit Neid. Ein anderer Gegensatz hat mit körperlicher Kraft zu tun: Man stellt sich Afro-Amerikaner als körperlich stark und aggressiv vor. Für die oberen hinduistischen Kasten, die die Unberührbarkeitsgesetze beachteten, waren die Unberührbaren dagegen schmutzig, schwach und nicht besonders aggressiv. Im Kontext von Frauenfeindlichkeit wurden Frauen in so vielen Kulturen als ekelhaft erachtet – und doch wird dieser Ekel oft mit sexueller Lust und Erregung verbunden, sodass kein Geringerer als Sigmund Freud behauptete, dass Ekel ein unvermeidlicher Aspekt der sexuellen Erregung sei. Feministinnen haben sicherlich Recht, wenn sie in diesem (so merkwürdig mit Anziehung verbundenen) Ekel ein Kernelement der geschlechtsabhängigen Verweigerung der moralischen und intellektuellen Gleichwertigkeit sehen – und doch führt diese Ekelreaktion nicht zum Meiden, sondern zu Intimität und Häuslichkeit, die von ängstlichen Versuchen gekennzeichnet ist, die weibliche Sexualität zu überwachen. Es ist nicht so, dass Frauen niemals als verunreinigend gemieden werden: die Tabus, die in vielen Kulturen die Menstruation umgeben, zeugen von der Macht der frauenfeindlichen Stigmatisierung. Und jener höfliche, kultivierte Moralphilosoph Adam Smith merkte an, dass Männer Frauen, nachdem ihr sexuelles Verlangen gestillt ist, gerne meiden: „Wenn wir gegessen haben, befehlen wir das Tischtuch zu entfernen.“6 Der zeitgenössische amerikanische Rechtsgelehrte William Ian Miller stimmt zu und behauptet, dass solche männlichen Reaktionen sich hartnäckig halten und die Gleichstellung der Geschlechter immer behindern werden.7 All diese Abscheu ist natürlich vollkommen vereinbar damit, dass man sich eine Wohnung, das Essen und ein Bett teilt.

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Ein anderer Fall: In der heutigen Homophobie werden schwule Männer als hypersexuell und auch als widerlich – und für die homophoben Männer, die so reagieren, als sexuell unerwünscht – betrachtet.8 Die gewalttätige Art von Ekel-Stigma, die mit Homosexualität verbunden ist, richtet sich mehr oder weniger ausschließlich gegen homosexuelle Männer: Lesbische Handlungen waren in Großbritannien niemals illegal, und in den USA hat lesbischer Sex für die politische Mobilisierung von Hass selten größere Bedeutung. Tatsächlich finden heterosexuelle Männer lesbischen Sex in der Regel ansprechend und erregend, nicht ekelhaft. Die Mobilisierung von Ekel, der gegen homosexuelle Männer gerichtet ist, konzentriert sich typischerweise auf den Analverkehr, wobei man sich die Vermischung von Körperflüssigkeiten vorstellt, da hierbei angeblich Samen, Kot und Blut zusammenfließen und vermengt werden.9 Diese Unterschiede in der Stigmatisierung sind zwar wichtig, aber eine Reihe roter Fäden kennzeichnet sämtliche Formen. Ein interessantes Rätsel stellen gesellschaftliche Klassen dar. Teilweise scheint eine auf gesellschaftlichen Klassen basierende Stigmatisierung eine Form von körperlichem Abscheu zu beinhalten. George Orwell behauptet, dass die oberen Klassen angesichts der Lebensbedingungen der unteren Klassen stets Ekel empfinden werden – allerdings unter Berufung auf Bedingungen, die in den britischen Haushalten sämtlicher Klassen allgegenwärtig sind.10 William Miller kommt bei der Analyse eines Beispiels seiner eigenen Begegnung mit einem Handwerker zu einer ähnlichen Schlussfolgerung.11 Andererseits gehören zu den Beziehungen zwischen Klassen zahlreiche rationale Unterschiede bezüglich der Gesetzgebung, und sie werden nicht ausschließlich durch Ekel vermittelt. Darüber hinaus ist die Klassenzugehörigkeit in Ländern mit angemessener sozialer Mobilität nur ein vorübergehender Status. Wir kommen nun, was unsere gegenwärtigen Zwecke betrifft, dem Zentrum der Sache langsam näher. Zwei Fälle von Ekel-Stigma sind von den anderen verschieden und interessanterweise einander ähnlich. Ekel vor Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen richtet sich auf Schwäche und mangelnde Fähigkeiten, die – so scheint es – als mögliches Schicksal alle Menschen treffen können. Er ist nicht mit irgendeiner Form von Neid verbunden und mit keiner Angst vor Aggression – stattdessen mit der Angst, selbst so zu sein oder zu werden. Ekel vor den Körpern alternder Menschen (die oft auch zur Gruppe der Behinderten gehören) hat ähnliche Begleitumstände: Es gibt keinen Neid, keine Angst vor überlegener Macht oder Intelligenz, nicht einmal Angst vor unkontrollierbarer Sexualität oder der Neigung, andere zu vergewaltigen: nur eine Art Grauen angesichts der Aussicht, auf diese Weise gebrochen zu sein und (angeblich) zu verfallen, dem Tode nah. Für „nichtbehinderte“ Menschen liegt, wenn sie die Körper von Menschen mit Behinderungen betrachten, ein unbehaglicher Trost darin, sich sagen zu können: Sie sind

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anders, und ich bin nicht so. Bei alternden Körpern steht kein solcher Trost zur Verfügung, nicht einmal vorübergehender Art: Wie sehr eine jüngere Person auch immer versucht, das Altern zu etwas „anderem“ zu machen: Auf einer gewissen Ebene weiß sie, dass dies ihr künftiges Selbst ist – es sei denn, es trifft sie das noch schlimmere Schicksal eines vorzeitigen Todes. Projektiver Ekel führt stets in igendeiner Form zur Vermeidung von Körperkontakt. Auch hier variieren Art und Umfang. Afro-Amerikanern war es untersagt, Trinkbrunnen, Schwimmbäder, Esstheken oder Hotelbetten von Weißen zu benutzen – und Sexualkontakt war natürlich streng verboten und galt in vielen Staaten als Verbrechen (obwohl weiße Männer mit schwarzen Frauen sexuelle Beziehungen hatten und sie sexuell missbrauchten). Dennoch konnte ein Afro-Amerikaner für eine weiße Familie das Essen zubereiten und servieren. In Indien konnte ein Unberührbarer hingegen in einer Familie der oberen Kasten niemals das Essen servieren, und wie erwähnt konnten Dalits auch keine Unterkünfte oder Trinkhähne zusammen mit den anderen Kasten benutzen. Die verrückten Irrationalitäten dieser Art von Ideen sind vielfältig. Was homosexuelle Männer in Amerika betrifft: Angesichts der Tatsache, dass Homosexualität verheimlicht werden kann, könnte ein Verbot von gemeinsamen Restaurants, Unterkünften, Trinkbrunnen oder sogar Schwimmbädern realistischerweise nicht verhängt werden. Doch finden heterosexuelle Männer homosexuelle Männer immer noch unheimlich und versuchen, jedem Körperkontakt aus dem Weg zu gehen. Frauen wurden oft von Diskussionen und Beratungen unter Männern ausgeschlossen. Was Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen betrifft, so wurde ihnen als Kind oft der Zugang zu öffentlichen und privaten Versammlungsräumen verweigert. Viele wurden in Anstalten verbannt; den meisten von ihnen wurde bis vor Kurzem der Zugang zu einer inklusiven Bildung verweigert; die meisten hatten bis vor Kurzem keinen wirklichen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, sei es in ihrer Freizeit oder bei Versorgungsbetrieben (Busse, Züge und so weiter). Die Gutachten, die zur Verabschiedung des Americans With Disabilities Act führten, zeigen, dass eine geläufige „Rechtfertigung“ für solche Ausgrenzungen darin bestand, dass „normale“ Menschen es verstörend fanden, Menschen mit Behinderungen zu betrachten.

Ekel und der alternde Körper Projektiver Ekel zielt immer auf unterstellte (und häufig fantasierte) Eigenschaften ab, von denen angenommen wird, dass sie die angewiderte Person verunreinigen. Es sind Vorstellungen von einer animalischen Natur, die nicht angenommen wurde. Was ist das Besondere am Vorurteil gegen alternde Körper?

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Erstens scheint das Zurückweichen vor Körperkontakt weniger kulturell vermittelt zu sein als in den meisten anderen Fällen. Das Stigma, das mit Falten, erschlaffter Haut und anderen Zeichen des Alters verbunden ist, scheint in irgendeiner Form kulturell universell zu sein, und selbst Kinder vor dem Spracherwerb zeigen bereits Vermeidungsverhalten, wenn sie die Wahl zwischen einer älteren und einer jüngeren Person haben. Die Annahme scheint plausibel, dass eine Abneigung gegen alternde Körper auf einer evolutionären Tendenz beruht, die mit der Eignung zur Fortpflanzung verbunden ist, wie dies auch beim Ekel vor körperlicher und geistiger Behinderung der Fall zu sein scheint. Selbst wenn die Aversion von Kindern keineswegs vollkommen angeboren ist und auf zahlreiche Hinweise aus der umgebenden Kultur zurückgeht, mag zumindest ein Teil davon auf angeborenen Tendenzen beruhen.12 Zweitens hat das Stigma zumindest eine Teilwahrheit und beruht nicht völlig auf Fantasie. Alternde Menschen sind, im Durchschnitt, dem Tod tatsächlich näher als jüngere. Und zumindest einige der stigmatisierten Merkmale (erschlaffte Haut, Altersflecken, Falten) sind wirklich Zeichen dieser Nähe, obwohl sie durch Mangel an Be­ wegung und Selbstpflege verstärkt werden. Stigmatisierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder Kaste basieren hingegen vollkommen auf Fantasie: Weder riechen die Körper dieser Gruppen anders als die Körper der dominanten Gruppe, noch ist die Sexualität der stigmatisierten Gruppe „tierischer“ als jede andere menschliche Sexualität. Hiermit soll nicht behauptet werden, dass sämtliche Aspekte der Stigmatisierung älterer Menschen auf Wahrheit basieren. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass alternde Menschen in jeder Beziehung weniger kompetent und nicht in der Lage sind, normale Sprache zu verstehen – was erklärt, warum medizinisches Personal im Umgang mit ihnen typischerweise eine schrille, übermäßig artikulierte Babysprache, die sogenannte Altensprache, verwendet.13 Wie Menschen, die Rollstühle benutzen, die blind oder auf andere Weise beeinträchtigt sind – die man alle häufig in Babysprache anredet, obwohl keine geistige Beeinträchtigung vorliegt – werden ältere Menschen als Gruppe insgesamt sowie hinsichtlich sämtlicher Lebensfunktionen für weniger kompetent gehalten, ohne ihre Fähigkeiten individuell einzuschätzen. Und das ist sicher falsch. Die Beimischung von Wahrheit regt die Phantasie nur noch weiter an. Drittens ist das Stigma schon sehr früh mit der empfundenen Unvermeidbarkeit verbunden, dass man zu der stigmatisierten Gruppe gehören wird, wenn man lange genug lebt. Es ist die einzige Gruppe, in die sich jedes Mitglied der Gruppe der Jungen unweigerlich bewegen wird, wenn er oder sie lange genug lebt. Diese Zukunft, wie weit sie auch noch entfernt sein mag, beeinflusst das Zurückschrecken von­ Anfang an. Mit dem Fortschreiten der Zeit wird es nicht nur eine Projektion, sondern eine teilweise oder vollständige Selbstzuschreibung. Die Selbstzuschreibung ist

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charakteristischerweise mit Unsicherheit und vager Angst vermischt. Anders als die Entwicklung der Kindheit, die – obwohl sie insgesamt keineswegs einheitlich verläuft – einheitlich genug ist, um altersbezogene Verallgemeinerungen und Faustregeln zumindest halbwegs sinnvoll erscheinen zu lassen, ist das Fortschreiten des Alterns sowohl bei verschiedenen Individuen als auch in Bezug auf die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens sehr unterschiedlich. Man kann geistig noch sehr scharfsinnig sein und eine oder mehrere körperliche Behinderungen haben; man mag nicht mehr rennen, aber noch ebenso gut wie früher Klavier spielen können oder (wie Cicero über Cato bemerkt) öffentlich reden können. Selbst die geistigen Fähigkeiten sind vielfältig: Man kann Probleme haben, sich Namen zu merken, aber ohne Schwierigkeiten über Politik oder Kultur reden können. Die Ängste darüber, ob das Stigma auf einen selbst zutrifft, verzweigen sich und umfassen die reiche Vielfalt der Lebensbereiche: So zahlreich wie die Aktivitäten des Lebens sind auch die Quellen der Angst vor Falten und Erschlaffungen, im übertragenen oder wört­ lichen Sinne. Kurz gesagt: Ekel ist auf einer gewissen Ebene immer Ekel vor sich selbst, während man Animalität bei anderen wahrnimmt und ihr bei sich selbst ausweicht. Aber mit Bezug auf das Altern steht die Wahrheit an vorderster Front: Man fürchtet wirklich für sich selbst. Eine früh erlernte Stigmatisierung anderer wird allmählich zur Selbststigmatisierung und zum Selbstausschluss, da der eigene alternde Körper als Ort des Verfalls und des künftigen Todes betrachtet wird – sowohl von einem selbst, als auch von anderen. Wir können jetzt verstehen, warum eine Darmspiegelung möglicherweise eine so bedeutsame Erfahrung darstellt. Sie beginnen für gewöhnlich um das 50. Lebensjahr, also genau dann, wenn man die lange, auf das Selbst gerichtete Arbeit des projektiven Ekels beginnt. Sein Inhalt sind Kot und Verfall, und so wird er zum griffigen Symbol für die Gesamtheit des Stigmas: der alternde Körper stinkt und verfällt, er ist nur ein Haufen Kot. Er ist nur ein Tier, kein transzendentes Wesen. Und was für eine Art von Tier? Eine stinkende, hässliche, ekelhafte Art von Tier. Da ist es schon viel besser, sich betäuben zu lassen und die gesamte Konfrontation mit sich selbst zu vermeiden.

Vorurteil und Stigma: Gegenwärtige Forschungen Es ist an der Zeit, einen Schritt zurückzugehen um zu überblicken, was die Forschung der jüngsten Zeit gezeigt hat. Dabei wird in der Forschung immer wieder betont, dass weitere Forschung nötig ist, weshalb alle genannten Ergebnisse als vorläufig angesehen werden sollten.14 Dennoch scheinen einige einigermaßen zuverlässig zu sein.

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Erstens sind Klischees über alternde Menschen zum Teil explizit und teilweise implizit. Wie in anderen Bereichen der Vorurteilsforschung ist nunmehr bekannt, dass die Voreingenommenheit gegenüber dem Alter stark auf einer unbewussten Ebene wirkt, da die mit dem Altern verbundenen Reizwörter (Wörter wie „alt“ und „bejahrt“) negative Reaktionen auslösen, selbst wenn sich eine Person ihrer Voreingenommenheit nicht bewusst ist.15 Die implizite Voreingenommenheit gegenüber dem Älterwerden beruht wahrscheinlich auf Lernprozessen in der Kindheit, die tief verinnerlicht sind; es wird daher schwer sein, sie zu beseitigen.16 Das Klischee umfasst Aversionen gegenüber alternden Körpern insgesamt; aber es enthält auch spezifischere Überzeugungen. Dazu gehört, dass alle alternden Menschen ihre kognitiven Fähigkeiten und ihr Gedächtnis verlieren. So werden dieselben Fehler und Fälle von Vergesslichkeit einer normalen menschlichen Schwäche zugeschrieben, wenn sie bei einer jüngeren Person vorkommen, aber dem Alter, wenn sie einer alternden Person unterlaufen.17 In ähnlicher Weise werden die gleichen körperlichen Probleme, die bei jüngeren Menschen behandelbaren Krankheiten zugeschrieben werden, auf die unvermeidlichen Auswirkungen des Alterns zurückgeführt, wenn der Patient älter ist.18 Da solche Klischees der Unvermeidlichkeit schon so lange herrschen, wissen wir tatsächlich in einer Vielzahl von Leistungsbereichen nicht viel über die Grunddaten der Gesundheit von Menschen unterschiedlichen Alters. Unwissenheit fördert dann weitere Klischees, sowohl in Bezug auf andere als auch oft auf sich selbst. Selbst wenn das Klischee ein positives Element enthält, umfasst das Positive oft ein verstecktes negatives Element. So betont das positive Klischee eines alternden Mannes „Weisheit“ – nicht analytische Fähigkeit oder Kompetenz oder die subversive Herausforderung bestehender Normen. Und Frauen wird „Weisheit“ sogar verweigert – das positive weibliche Stereotyp ist das der „perfekten Großmutter“, womit wahrscheinlich ein freundliches unterwürfiges Verhalten in Verbindung gebracht wird und keinesfalls berufliche Kompetenz der herausfordenden Ideen. Es leuchtet ein, dass sowohl explizite als auch implizite Vorurteile reale Auswirkungen auf das Verhalten alternder Menschen haben. Was die Gesundheit­ betrifft, verhindern Klischees, dass alternde Menschen sich mit behandelbaren Schwächen und Krankheiten in Behandlung begeben. Und wenn sie sich in Behandlung begeben, bekommen sie unter Umständen nicht das, was sie brauchen, wenn durch Klischees beeinflusstes medizinisches Personal davon überzeugt ist, dass es sich bei einem bestimmten Zustand um einen „normalen Alterungsprozess“ handelt. Man hat in Experimenten zeigen können, dass geistige Leistungen durch Klischees direkt beeinflusst werden: Menschen schneiden bei Tests ihres Gedächtnisses und anderer kognitiver Fähigkeiten schlechter ab, wenn sie durch Hinweise

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auf Klischees über das Altern darauf „vorbereitet“ werden.19 Hinzu kommt, dass der Stress, der dadurch zustande kommt, dass man negative Klischees über sich selbst mit sich herumträgt, direkte Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden hat.20 Das Gefühl, dass die Diskriminierung älterer Arbeitnehmer nur „natürlich“ ist und überhaupt keine wirkliche Diskriminierung darstellt, ist äußerst verbreitet. Eine umfassende Untersuchung der Diskriminierung von Arbeitnehmern im Alter von über 55 Jahren hat gezeigt, dass sie in den USA sehr weit verbreitet ist. Dies wurde in Tests, in denen entsprechend veränderte Lebensläufe eingereicht wurden, experimentell bestätigt: einige machten Angaben zum Alter, andere nicht.21 Die Studie kommt zu dem Schluss, dass diese Art von Diskriminierung nicht als ungerecht empfunden wird: sie gilt als natürlich. Manche alternden Menschen schotten sich von den negativen Auswirkungen der Stereotypisierung ab, indem sie sich weigern, sich mit der verunglimpften Gruppe zu identifizieren: Behält man von sich selbst das Bild, man sei jung und fähig, so hat dies positive Auswirkungen.22 Auf der anderen Seite verspielt diese Strategie die üblichen positiven Auswirkungen der Solidarität innerhalb einer Gruppe.23 In anderen Fällen benachteiligter Gruppen, die unter Stereotypisierungen litten – auf Ethnie, Geschlecht oder sexueller Orientierung basierenden Gruppen sowie Gruppen von Behinderten – war die Solidarität innerhalb der Gruppe wichtig für revolutionäre Bewegungen, die eine bessere Behandlung durch die Mitwelt erreichen und ihr eigenes Selbstbild verbessern wollten. Es scheint allerdings, dass sich die Sache im Falle des Alters anders verhalten könnte: Da das Klischee ein Element der Wahrheit enthält, kann eine Akzeptanz der Gruppenzugehörigkeit selbst stigmatisierend sein. Von Thema und Kontext hängt viel ab. Wenn es um die politische Mobilisierung geht, um bessere Bedingungen zu erreichen – eine bessere Pflege oder Krankenversicherung, ein Ende des obligatorischen Eintritts in den Ruhestand – fühlt sich Gruppensolidarität positiv und zukunftsweisend an, nicht stigmatisierend: Es geht darum, Aktivität und Selbstachtung zu fördern. Die AARP24 hat sicherlich eine nützliche Form von Gruppensolidarität und Selbstachtung gefördert, indem sie bei vielen Fragen definitive Fortschritte erzielt hat. Doch wie steht es mit der Abgrenzung einer Gruppe bei verschiedenen Aktivitäten? Offenbar genießen viele Senioren Fitnesskurse für ältere Menschen, wahrscheinlich weil es alternden Menschen hilft, Scham und Stigmatisierung zu vermeiden. Mir dagegen macht es Spaß, bei Halbmarathons in einem langsamen Tempo und in Gesellschaft von nicht völlig durchtrainierten Läufern in den Zwanzigern ins Ziel zu kommen. Abgrenzung kann auch in der Weise hilfreich sein, in der die AARP hilfreich ist,

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weil der alternde Körper, um produktiv sein zu können, besondere Aufmerksamkeit erfordert. Einer der schönsten Aspekte der beginnenden Revolution zugunsten älterer Menschen ist, dass Fitnesstrainer alternden Menschen nicht sagen, dass sie ihre Aktivitäten einschränken sollen. Sie sagen ihnen normalerweise, dass sie mehr tun sollten. Also, wenn ich eine typische Läuferverletzung habe, sei es eine Überdehnung oder Entzündung der Achillessehne, bekomme ich eine spezielle Behandlung für dieses Problem. Doch mir wird auch gesagt, dass ich mehr Grundtraining und mehr Übungen für die Fußsehnen machen sollte, die vorher nicht so viel besondere Aufmerksamkeit erforderten. Auf diese Weise kann die Gruppenabgrenzung demnach Leistung und nützliche Aktivitäten fördern. Es gibt jedoch auch zahlreiche Fälle, in denen die Abgrenzung selbst ein schädliches Klischee verkörpert und demzufolge wahrscheinlich sowohl ein verringertes Selbstwertgefühl als auch eine verminderte Leistung zur Folge hat. Ich wurde vor Kurzem eingeladen, einer neuen Gesangsgruppe „für ältere Sänger“ beizutreten. Sie traf sich in einem Seniorenzentrum, obwohl viele Mitglieder von außerhalb des Zentrums kamen, und es hieß, sie werde sich auf ein „leichteres“ Repertoire konzentrieren. Das ist sicherlich eine schlechte Idee, wogegen eine Chorgruppe für untrainierte oder weniger passionierte Sänger wohl eine gute Idee ist. Singen ist eine Aktivität, die Freude bereitet, keine Altersgrenze kennt, und die wichtigsten Voraussetzungen sind Training, Übung und eine grundlegende Fähigkeit. Am obersten Ende der Leistungsskala stehen natürlich professionelle Auftritte. Aber für das Singen in einem anspruchsvollen Chor gibt es keine eingebauten Altersgrenzen, da es in erster Linie um technische Fähigkeiten geht (vom Blatt singen, die Tonhöhe halten, das Einstudieren von Musikstücken und musikalischer Geschmack), und wenn es ihr gelingt, nicht mit einem zu breiten Vibrato zu singen, kann sich eine 70-Jährige problemlos mit Sängern in ihren Zwanzigern zusammentun. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Abgrenzung nach dem Alter stigmatisierend wirkt. Was würden wir etwa von einem Work-in-Progress-Workshop für „ältere Juraprofessoren“ halten? Von Opern- und Symphonieaufführungen für ein „älteres Publikum“? (Nun ja, zu viele dieser Veranstaltungen entwickeln sich genau dazu, weil es am Engagement fehlt, breitere Kreise neuer und jüngerer Zuhörer zu erreichen, doch das ist ein anderes Problem.) Von Abstimmungen nach Altersgruppen, wobei verschiedene Altersgruppen unterschiedliche politische Vertreter hätten? Gewiss tun moderne Demokratien gut daran, diese Art der Gruppenabgrenzung zu vermeiden. Ein Teil des Lebens, der durch stigmatisierende Abgrenzung besonders beeinträchtigt werden kann, ist die Freundschaft. Familien haben den Vorteil, dass sie den fortgesetzten Kontakt zwischen den Generationen fördern. Dieser Kontakt ist allerdings nicht immer nur positiv: Er kann die Klischees der harmlosen Großmutter oder des

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weisen Patriarchen noch verstärken, statt die Aufmerksamkeit auf die Fähigkeiten und bevorzugten Aktivitäten des Einzelnen zu lenken. Alternde Menschen, deren einziger Freundschaftskontext die Familie ist, sind anfällig für eine Einengung ihrer wahrgenommenen sozialen Rolle. Freundschaften am Arbeitsplatz sind vielversprechender. Ein weiterer Grund, sich dem erzwungenen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu widersetzen, ist also die Tatsache, dass dies den aktiven alternden Menschen fortgesetzte Freundschaften mit Menschen verschiedenster Altersstufen vorenthält und sie auf das stigmatisierte Gleis des „Ruhestands“ oder eines „Emeritus“ (bzw. einer „Emerita“) abschiebt. Die Wahl von Freunden aus verschiedenen Altersgruppen wirkt der Selbstgefälligkeit entgegen, hält einen Menschen für viele Herausforderungen offen und verhindert stigmatisierende Abgrenzung und Selbstabsonderung.

Die Selbstpflege Eine Art und Weise, auf die alternde Menschen versuchen, der Stigmatisierung zu entgehen, sind kosmetische Chirurgie und nicht-chirurgische kosmetische Verfahren wie Botox, Füllstoffe, Gesichtspeelings. Natürlich ist die Fixierung auf solche Techniken besonders bei Frauen kaum auf alternde Menschen beschränkt: Frauen jeden Alters und eine kleine Anzahl von Männern lassen sich Fett absaugen, die Bauchdecke straffen, die Form der Nase ändern und so weiter. Einige dieser Verfahren zielen darauf ab, anderen Stereotypen entgegenzuwirken: die Nasenkorrekturen bei jungen jüdischen Frauen, um dem Schönheitsideal der weißen angelsächsischen Protestanten zu entsprechen, und die Augenlidoperationen in Korea, die für Schulmädchen fast obligatorisch sind, um einen westlichen Augenschlitz zu bekommen. In Korea sind auch andere Eingriffe populär, die ebenfalls ein westliches Schönheitsideal verfolgen. Insgesamt scheint Korea ein Zentrum der plastischen Chirurgie zu sein.25 Eine von fünf Frauen in Korea hat eine Schönheitsoperation machen lassen, im Vergleich zu einer von zwanzig Frauen in den USA. (Dies bedeutet, dass das Verhältnis in wohlhabenden Bevölkerungsgruppen wesentlich höher ist.) Und die Operationen beginnen schon sehr früh: Viele Frauen haben bereits mehrere Eingriffe hinter sich, wenn sie ihr Studium abschließen. Einige kosmetische Verfahren, für die sich Menschen entscheiden, sind medizinisch indiziert: die Korrektur einer Gaumenspalte wäre am einen Ende dieses Spektrums, und Brustverkleinerungen oder Bauchdeckenstraffungen bei Frauen, die mit mehreren großen Kindern schwanger waren, liegen irgendwo in der Mitte; alle diese Eingriffe scheinen sich von rein schönheitsorientierten Behandlungen zu unterscheiden. Viele Verfahren bringen jedoch keinen gesundheitlichen oder medizinischen Vorteil; von diesen zielen viele darauf ab, sich einem (zumeist männlichen) Standard

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weiblicher Schönheit anzupassen. Da die Norm der weiblichen Schönheit und, in einem geringeren Ausmaß, der männlichen Schönheit die Anpassung an ein Ideal der Jugendlichkeit einschließt, werden Schönheitsoperationen umso stärker begehrt, je mehr das Alter voranschreitet. Das Verfolgen eines jugendlichen Schönheitsideals mit Hilfe chirurgischer Verfahren und anderer kosmetische Eingriffe kann geradezu zur Obsession werden. Was sollten wir darüber denken? Becca Levy bezeichnet Botox abwertend als einen sinnlosen und höchst kurzlebigen Versuch, eine Selbststigmatisierung zu vermeiden. Sie scheint die Vorzüge dieser Behandlung nicht sehr gut zu kennen. Eine Schwierigkeit bei der Bewertung durch Dritte ist, dass man typischerweise nur die Fälle kennt, bei denen etwas schiefgegangen ist: Botox-Injektionen, die das ganze Gesicht lähmen, Facelifts, die eine abstoßende, maskenartige Straffheit erzeugen. Bevor wir urteilen, sollten wir gelungene Fälle in Betracht ziehen, darunter vor allem diejenigen, die normalerweise nicht erkennbar sind und die Person aussehen lassen wie sie selbst. Diese Fälle zeigen die wirklichen Möglichkeiten kosmetischer Eingriffe: Man sollte nach den besten, nicht nach den schlimmsten Fällen urteilen. Darüber hinaus sollten wir die Tendenz vermeiden, das „Natürliche“ zu romantisieren. Wir alle verändern unseren Körper auf alle mögliche Art und Weise: durch Bewegung, Ernährung, Kleidung, Styling der Haare, Zahn- und Körperpflege, durch Rasieren von Beinen und Achselhöhlen und vieles andere mehr. Das menschliche Leben ist selbst unnatürlich, ein ständiger Versuch, nicht dasjenige zu sein, was wir wären, wenn wir nichts tun würden, um unseren Körper zu optimieren. Es ist daher dumm, sämtliche kosmetischen Verfahren abzulehnen, indem man sie als „unnatürlich“ bezeichnet. Ich glaube sogar, dass solch eine Reaktion selbst eine Stigmatisierung beinhaltet: Frauen in den Dreißigern sollten sich die Haare färben oder eine Dauerwelle machen lassen, alternde Frauen sollten sich hingegen dem Unvermeidlichen ergeben. Unsinn. Die meisten Leute akzeptieren das Styling und das Färben der Haare in jedem Alter und haben keine Einwände gegen die Überkappung von Zähnen, obwohl solche Dinge tatsächlich dazu führen können, dass Menschen jünger aussehen – da sie wie sie selbst aussehen; und nur für Menschen, die das Klischee verinnerlicht haben, dass alle alternden Menschen gelbe hässliche Zähne und graue Haare haben, sehen sie „jung“ aus. In der Tat tritt das suspekte Klischee des hässlichen, übel riechenden, abstoßenden, alternden Menschen in der Verurteilung kosmetischer Verfahren deutlich hervor: Warum nicht einfach vor dem Zahn der Zeit kapitulieren und schrecklich aussehen – wie es unter der Oberfläche aus schönen Kleidern, körperlicher Fitness und Gesichtspflege in Wahrheit der Fall ist? Wir sollten solchen stigmatisierenden Ratschlägen nicht nachgeben.

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Wir müssen demnach einen Weg zwischen der Scylla eines übertriebenen Respekts vor der „Natur“ und der Charybdis einer zwanghaften Flucht vor dem Alter finden. Wir könnten mit der Frage beginnen, warum uns die koreanische Besessenheit von kosmetischer Chirurgie übertrieben erscheint. Zwei Antworten bieten sich an: Erstens verraten viele der kosmetischen Verfahren eine unangenehme Art von nationalem Selbsthass und eine Fixierung auf westliche und insbesondere US-amerikanische Standards: westliche Augenschlitze, ein spitzes Kinn, lange ovale, statt runde Gesichter. Und zweitens – wie viele der Befragten in den beiden ausgezeichneten Studien übereinstimmend angeben – entscheiden sich Frauen für so viele Verfahren, weil sie mit Recht davon ausgehen, dass sie gesellschaftlich (und sogar am Arbeitsplatz) nur oder hauptsächlich nach dem Grad ihrer Anpassung an ein strenges Schönheitsideal bewertet werden, nicht nach anderen Eigenschaften wie Intelligenz oder Charakter. Es scheint ungesund, sich Normen zu beugen, die das eigene Selbst so stark unterdrücken und die schädliche Klischees über die Fähigkeiten und das Potenzial von Frauen zum Ausdruck bringen. Wohin sollen wir uns nach diesem Extrem wenden? Hier geht es um zutiefst persönliche Dinge, aber dies könnten nützliche Richtlinien sein: (1) Man verwende kosmetische Verfahren nicht als Ersatz für Bewegung und gute Ernährung. Beide Stra­ tegien sollten maximal genutzt werden. (2) Das Aussehen, das zum eigenen ‚Selbst‘ geworden ist, sollte man nicht durch Versuche, einem Stereotyp zu entsprechen, unkenntlich machen – wie dies zum Beispiel bei den meisten Brustimplantaten oder bei der übermäßigen Anwendung von Botox der Fall ist, die einem die Fähigkeit zu lächeln nimmt. (3) Man gebe nicht zu viel Geld aus, da man sein Geld auch für altruistische Zwecke einsetzen kann. Und (4) bedenke man, dass man mit jeder Operation ein Risiko eingeht und dass die Erholung davon lange und schwierig ist. Für mich selbst käme eine solche Operation nicht in Frage, denn sechs Wochen lang nicht trainieren oder singen zu können, wäre eine Qual. Andere mögen anders urteilen. Doch (5) ist zu bedenken, dass die Anzahl der nicht-chirurgischen Verfahren (Füllungen, Peelings, Botox, „Photofacials“ gegen Sonnenschäden und Altersflecken und andere, die noch seltsamer und exotischer klingen) sehr groß ist und ständig zunimmt. Hiernach benötigt man keine Erholungsphase und sie kosten nicht viel Geld. Es scheint mir, dass nichts daran falsch ist, besser aussehen zu wollen: Wir alle sind jeden Tag damit beschäftigt. Wir reden hier davon, besser auszusehen, nicht jünger. Es gibt in der Natur kein Musterbeispiel einer 68-jährigen Frau, oder wenn es (unter unseren neolithischen Vorfahren) ein solches gab, so möchte niemand von uns diesem entsprechen. So sollte man sich daran erinnern, dass „jünger“ immer zu einer Frage einlädt: „Jünger als wer? Jünger, als ich vor zwei Wochen aussah? Jünger, als eine 68-jährige Frau deiner Meinung aussehen sollte? Jünger als ich deiner Meinung nach das Recht habe, auszuse-

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hen?“ Ein gesundes, gutes Aussehen der Jugendlichkeit zuzuschreiben ist selbst stigmatisierend. Mein den Körper bejahender Rat ist also nicht einfach: Keinesfalls empfehle ich, den Körper so zu lieben, wie er wäre, wenn man sich nicht um ihn kümmern würde. Denn was könnten die Gründe sein, weshalb eine alternde Person sich nicht um ihren Körper kümmert und nicht versucht, ihn zu verschönern? Depression fällt einem ein, ebenso Selbsthass – und vor allem das Klischee, dass der alternde Körper hässlich und wegwerfbar ist, wie ein Stück Müll. Verglichen damit ziehe ich kosmetische Eingriffe jederzeit vor.

Rebellieren gegen das Stigma Das Stigma, das dem alternden Körper anhaftet, ist real und hat reale, unheilvolle Auswirkungen, wie sehr moderne Gesellschaften auch versuchen mögen, es als „naturbedingt“ zu rationalisieren. Diese Art der Naturalisierung von Ungleichheit ist historisch wohlbekannt: sie war die Zielscheibe der Bewegung gegen den Feudalismus, der Bewegung für Rassengerechtigkeit, der Bewegung für die Gleichberechtigung der Frau, der Bewegung für die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen und Transgender-Personen sowie der Bewegung für die Rechte Behinderter. Das Alter ist die neue Front des Kampfes für gleiche Rechte, und wir alle müssen uns dieser Art unmoralischer – und in vielen Ländern illegaler – Diskriminierung entgegenstellen. In den meisten Bewegungen für soziale Gerechtigkeit haben stigmatisierte Menschen jedoch auch das Bedürfnis nach einer formloseren Anti-Ekel-Bewegung empfunden, die das Stigma kreativ umwertet. Die offizielle Bürgerrechtsbewegung wurde von der Parole „Black is beautiful“ und einer weitreichenden gesellschaftlichen Bewegung begleitet, die auf dieser Idee basierte. Die Frauenbewegung erfand in meiner Jugend den Slogan „Our Bodies, Ourselves“ (Unsere Körper, wir selbst) und machte sich daran, den weiblichen Körper als Gegenstand von Neugier und Liebe statt von Stigma und Ekel zurückzuerobern. Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass alternde Menschen neben der wichtigen politischen Arbeit der AARP eine Bewegung brauchen, die der feministischen Our-Bodies-Bewegung ähnlich ist: eine Bewegung gegen Selbst-Ekel. Meinem Gedankengang folgend sollte man sich diese Bewegung als integrativ und nicht als selbstabgrenzend vorstellen, denn schließlich ist die Stigmatisierung des Alters in jedem von uns verankert, unabhängig von unserem Alter. Es gibt wenig Hoffnung, ihren schädlichen Einfluss einzudämmen, wenn man nicht mit den jungen Menschen beginnt. Das Stigma ist im Kern eine Stigmatisierung unserer Körperlichkeit und Sterblichkeit. Daher werden wir letztendlich die Einstellungen gegenüber dem Körper ändern müssen, um der Stigmatisierung wirksam zu begegnen. In der

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Our-Bodies-Bewegung ging es teilweise um Autonomie. Wir sagten: Wir werden nicht zulassen, dass Ärzte Macht über unsere Körper ausüben und die Babys herausziehen, wir werden wach und aktiv sein und sie selbst gebären. Aber es war auch eine Rebellion gegen die Vorstellung, der weibliche Körper sei ekelhaft: weltweit ein Grundpfeiler der Frauenfeindlichkeit. Ob wir die Gedichte von Walt Whitman lasen oder nicht, wir waren Whitmanianer und sagten „Ich singe den Leib, den elektrischen“, diese triumphierende Anprangerung all der jämmerlichen Zustände und Abscheulichkeiten, die Whitman hinter den sozialen Phänomenen des Rassenhasses, der Frauenfeindlichkeit und der Homophobie erkannte. Whitman wusste, dass wir einander nicht lieben können, wenn wir nicht zuerst aufhören, uns vor uns selbst, d. h. vor unseren Körpern, zu verstecken. Denn „wäre der Leib nicht die Seele, was dann wäre die Seele?“ Wenn wir unseren eigenen Körper lieben können, können wir möglicherweise auch „die [ihnen] gleichen [Körper] anderer Männer und Frauen“ lieben. In einem kühnen Crescendo des Anti-Ekels zählt Whitman dann alle Teile des Körpers auf, die wir lieben können – beginnend mit denen, die wir schon recht gern haben, wie „Kopf, Hals, Ohren“. Dann geht er weiter zum Rumpf, jedoch zu seinen schönen, äußeren Teilen wie „Handfläche, Fingerknöchel, Daumen, Zeigefinger“ und weiter bis hin zu den starken Schenkeln, die den Rumpf tragen. Aber dann taucht er, wie das Koloskop meines Arztes, ins Innere des Körpers und streichelt mit seinen Worten den „Schwamm der Lunge, Magen, Eingeweide frisch und rein, …die dünnen Gallerten, die rötlichen, in dir oder in mir“. Diese, so sagt er, sind eigentlich Gedichte, und sie sind seine Gedichte. „Oh, ich sage: dies alles ist Gedicht und Teil des Körpers nicht allein, sondern der Seele. Oh, ich sage jetzt: sie sind die Seele.“ Einst waren wir Whitmanianer. Was ist aus dieser jugendlichen Woge tiefer Selbstliebe geworden? Während wir älter werden, geben wir all den Kräften nach, die wir damals zu bekämpfen versucht haben: nicht nur den Kräften äußerer medizinischer Kontrolle, sondern auch der heimtückischeren Macht von Selbsthass und Selbstekel. Whitman wusste, dass Ekel ein soziales Gift ist. Psychologen, die dieses Gefühl heute untersuchen, bestätigen seine Intuition bezüglich seiner Verbindung zu Vorurteil und Ausgrenzung. Ist es nicht an der Zeit, für alle alternden Babyboomer (um einen anderen unserer alten Slogans aufzugreifen) „to take back the night“ („die Nacht zurückzuerobern“) – d. h. Zeit, Anspruch auf das unerforschte Territorium im Inneren zu erheben, das wir so sehr und auf so vielfache Weise zu meiden versuchen?

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Anmerkungen 1

Anm. d. Übers.: LASIK = Laser-in-situ-Keratomileusis, eine Augenoperation zur Korrektur von Fehlsichtigkeit, um auf eine Brille oder Kontaktlinsen verzichten zu können. 2 Teile dieses Aufsatzes erschienen in anderer Form am 13. Oktober 2014 in New Republic, 1011 ff. Im Folgenden stütze ich mich für Forschungsergebnisse über die mit dem Altern verbundene Stigmatisierung auf diese Quellen: Becca R. Levy, „Mind Matters: Cognitive and Physical Effects of Aging Self-Stereotypes“, Journal of Gerontology 58B (2003), 203–11; Becca Levy und Mazarin Banaji, „Implicit Ageism“, in Ageism: Stereotyping and Prejudice against Older Persons, Hrsg. Todd R. Nelson (Cambridge, MA: MIT Press, 2002), 49–75; When I’m 64, Report of the National Academy of Sciences (Washington, DC: National Academies Press, 2006); Jennifer A. Richeson und J. Nicole Shelton, „A Social Psychological Perspective on the Stigmatization of Older Adults“, in When I’m 64, 174–208. 3 Für Verweise auf die Arbeit von Paul Rozin und seinen Kollegen und für eine Diskussion der Ergebnisse siehe Martha Nussbaum, Hiding From Humanity: Disgust, Shame, and the Law (Princeton: Princeton University Press, 2004). 4 Für die längere Version dieser Argumente vergleiche Hiding. 5 Für Hinweise auf die historische Literatur siehe Hiding. 6 Smith, The Theory of Moral Sentiments, Buch I. 7 William Ian Miller, The Anatomy of Disgust. (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1997) 8 Vgl. Nussbaum, From Disgust to Humanity: Sexual Orientation and Constitutional Law (New York: Oxford University Press), 2010. 9 Siehe From Disgust to Humanity für Beispiele aus Schmähschriften. 10 Orwell, The Road to Wigan Pier. (Harmondsworth: Penguin, in Verbindung mit Secker & Warburg, 1962) 11 Miller, Anatomy. Das Beispiel ist seltsam, da Millers negatives Interesse an dem Arbeiter (der seine Einfahrt reparierte) anfänglich durch die Tatsache erregt wurde, so teilt er uns mit, dass seine Frau ihn offensichtlich attraktiv fand und mit ihm flirtete. Erst später behauptet er, dass er den Körper des Mannes (wegen seines Bierbauchs) stets abstoßend fand. 12 Levy, „Mind Matter“, 204. 13 Levy, „Mind Matter“, When I’m 64, Zusammenfassung. 14 When I’m 64, Zusammenfassung. 15 Levy, „Mind Matter“; Levy und Banaji, „Implicit Ageism“. 16 Levy, „Mind Matter“, 203. 17 When I’m 64, Zusammenfassung. 18 Ibid. 19 When I’m 64, Zusammenfassung; Levy, „Mind Matter“, 206. 20 Levy, „Mind Matter“, 207. 21 Siehe „As More Older People Look for Work“ New York Times, 18. August 2016, 3. 22 When I’m 64, Zusammenfassung. 23 Levy, „Mind Matter“, 204. 24 Anm. d. Übers.: American Association for Retired Persons, Vereinigung amerikanischer Pensionäre.

Anmerkungen

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25 Zwei gute Aufsätze zu diesem Thema sind Patricia Marx, „About Face“ New Yorker, 23. März 2015, http://www.newyorker.com/magazine/2015/03/23/about-face, und Zara Stone, „The K-Pop Surgery Obsession“, Atlantic, 24. Mai 2013, http://www.theatlantic.com/ health/archive/2013/ 05/the-k-pop-plastic-surgery-obsession/276215/.

Kapitel 5

Der Blick zurück Wir wollen aus Erfahrung lernen, doch was erreichen wir damit, dass wir Dinge bereuen; und wie ernst ist die Gefahr, in der Vergangenheit zu leben – oder von ihr gefangen gehalten zu werden? Was ist, im Gegensatz dazu, falsch daran, im Moment zu leben? Wie ist Ekel mit der Diskriminierung des Alters verbunden? Wie sollten wir über Ruhestandsgemeinschaften denken, die für Außenseiter hedonistisch erscheinen und in denen die Mitglieder häufig nicht nur dem Alter nach voneinander getrennt sind?

Die Vergangenheit vorwärts leben: der gegenwärtige und ­ zukünftige Wert rückwärtsgewandter Emotionen Martha Sie leben eher durch Erinnerung als durch Hoffnung; denn was ihnen vom Leben bleibt, ist wenig verglichen mit der langen Vergangenheit; und Hoffnung gilt der Zukunft, Erinnerung der Vergangenheit. Dies ist wiederum der Grund ihrer Geschwätzigkeit; sie sprechen ständig von der Vergangenheit, weil sie sich freuen, sich an sie zu erinnern. – Aristoteles, Rhetorik, II.12, Über die Eigenschaften des Alters Oh, um Himmels willen, zerre diese uralte Geschichte nicht hervor. Jamie Tyrone, in Eugene O’Neills, Eines langen Tages Reise in die Nacht Wenn sie älter werden, verbringen Menschen häufig mehr Zeit damit, an die Vergangenheit zu denken und über sie zu reden, normalerweise über ihre eigene Vergangenheit. Das ist kaum verwunderlich; schließlich sehen sie weniger Leben vor als hinter sich. Planen und hoffen, ja selbst fürchten, scheinen weniger nützlich als vorher – oder nur auf altruistische Weise nützlich, da alternde Menschen für ihre Kinder, Enkelkinder und andere jüngere Menschen, die ihnen am Herzen liegen, hoffen und fürchten. Und in dem Maße, in dem alternde Menschen Zeit damit verbringen, zurückzuschauen, neigen sie auch dazu, Zeit mit rückwärtsgewandten Emotionen wie Be-

Die Vergangenheit vorwärts leben

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dauern, Schuldgefühlen, rückblickender Zufriedenheit und natürlich auch mit rückwärtsgewandter Wut zu verbringen. Was ist der Nutzen dieser Emotionen? Wir können die Vergangenheit nicht ändern; haben diese Reisen in die Vergangenheit also überhaupt einen Wert? Wir haben offensichtlich eine Vielfalt an Möglichkeiten bezüglich der Art und Weise, wie wir unsere Zeit nutzen. An was sollen wir also denken und wie uns entscheiden? Die Griechen der Antike und die römischen Stoiker fertigten sorgfältig ausgearbeitete Aufstellungen der Emotionen an und teilten sie in vier Kategorien ein: auf ein gegenwärtiges Gut gerichtete Emotionen (zum Beispiel Freude), Emotionen, die auf ein zukünftiges Gut gerichtet waren (zum Beispiel Hoffnung), Emotionen, die auf ein gegenwärtiges Übel gerichtet waren (zum Beispiel Trauer) sowie auf ein künftiges Übel gerichtete Emotionen (zum Beispiel Angst). Sie kannten keine Kategorie auf die Vergangenheit gerichteter Emotionen. Schuld und Reue kamen in ihren Klassifikationen nicht vor. Solche Versäumnisse beweisen nicht, dass Griechen und Römer solche Gefühle nicht erlebt haben, denn diese Aufstellungen waren das Ergebnis philosophischer Theorien, keine lebensnahen Berichte über alltägliche Erfahrungen. Es bedeutet jedoch, dass die stoischen Denker glaubten, ihre Landsleute würden das Weglassen der Vergangenheit nicht als eine große Lücke ansehen und daher eine Theorie darüber ablehnen. Und da ihre Theorie allen Emotionen extrem feindlich gesonnen war, bedeutet das auch, dass sie in diesen von der Vergangenheit bestimmten Haltungen keine größere Gefahr für das menschliche Leben sahen, die ihrer negativen Theorie vielleicht noch zusätzlich Munition hätten liefern können, ebenso wenig wie irgendeinen größeren Nutzen, der ihre Theorie möglicherweise hätte widerlegen können. Da zwei der produktivsten philosophischen Autoren über Gefühle in der griechisch-römischen Antike, Cicero und Seneca, selbst älter waren (in ihren Sechzigern), als sie einen Großteil ihrer bedeutenden Arbeiten zu diesem Thema verfassten,1 können wir ferner zu dem Schluss gelangen, dass sie diesen rückwärtsgewandten Emotionen keine besondere Bedeutung für alternde Menschen beimaßen. Führende griechisch-römische Dichter scheinen mit ihnen einer Meinung gewesen zu sein. Tragische Figuren, die altern, blicken nur selten zurück; wenn sie es tun, heben sie entweder ihre noble Abstammung hervor (oder sie rühmen sich, wie im Fall von Cicero, relativ bescheidenen Verhältnissen zu entstammen) oder sie tun es auf die Weise konkreter und unmittelbarer Trauer. So erinnert sich Hekabe in Euripides’ Die Troerinnen, während sie über dem Leichnam ihres ermordeten Enkels Astyanax kniet, an die frohen Hoffnungen, die er selbstbewusst zum Ausdruck gebracht hatte, einschließlich seines Versprechens, die Trauerrituale bei ihrem Tod durchzuführen und bei den Trauerfeierlichkeiten ein großes Aufgebot junger Männer anzuführen. Diese Ironie ist für ihre derzeitige schreckliche Lage offensichtlich relevant, da sie, eine al-

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ternde Frau, die einzig Überlebende einer königlichen Linie ist und niemanden mehr hat, der sie betrauern kann.2 Als Sklavin weiß sie außerdem, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass sie eine Trauerfeier bekommen wird, bei der man ihr Respekt erweist. Aus diesen Gründen kann man erwarten, dass sie mit unmittelbarer Trauer reagiert. Die auf die (nicht sehr weit zurückliegende) Vergangenheit gerichteten Gedanken verstärken lediglich die Größe ihres gegenwärtigen Verlusts. Es wäre im Gegensatz dazu sehr überraschend gewesen, wenn Hekabe begonnen hätte darüber nachzudenken, wie ihre eigene Persönlichkeit und ihre Gefühle von längst vergangenen Ereignissen geformt wurden, oder wenn wir gesehen hätten, wie sie ihre Trauer, ihr Bedauern und ihre Reue über längst vergangene Ereignisse zum Ausdruck bringt. Wir erfahren bei keiner alternden tragischen Figur irgendetwas über ihre Kindheitserinnerungen. Trauer wird als eine schmerzhafte Emotion betrachtet, die auf eine schlechte Situation in der Gegenwart gerichtet ist. Selbst dort, wo wir in der antiken griechisch-römischen Gesellschaft auf persönlichere und informellere Selbstdarstellungen zurückgreifen können, finden wir keine Menschen, die sich in ihre lange zurückliegende Vergangenheit vertiefen, um ihre Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Cicero spricht mit seinem Freund Atticus über alles, was er für wichtig hält, und vieles, was er für nicht wichtig hält. Er spricht mit Atticus nicht über seine (oder Atticus’) Eltern, selbst wenn er auf das schlechte Benehmen seines Bruders Quintus oder von Atticus’ Schwester Pomponia eingeht. Und obwohl er seine Tochter Tullia so sehr bewundert, kommt es ihm nicht in den Sinn, sich zu fragen, ob ihr bemerkenswert schlechtes Urteilsvermögen, das sich darin zeigt, dass sie sich (scheinbar) in ihren dritten Mann Dolabella, einen Schürzenjäger, verliebt, auf irgendein Kindheitsmuster zurückzuführen ist. Als sie stirbt, trauert er mit besessener Intensität um sie, aber er erinnert sich nicht an ihre Kindheit oder die längst vergangenen, gemeinsam verbrachten Zeiten. Cicero ist kein selbstkritischer Mann, doch er ist introspektiv, und dass er es unterlässt, solche Fragen zu stellen, lässt sich so verstehen, dass darin eine gemeinsame kulturelle Sichtweise bezüglich dessen zum Ausdruck kommt, welche Fragen es sich lohnt zu stellen und welche Emotionen es wert sind, untersucht zu werden. Aristoteles erwähnt zwar, dass ältere Menschen gerne über die Vergangenheit sprechen; doch dass sie sie mit dem Ziel der Selbsterkenntnis erforschen, deutet er nicht an. Ebenso wenig behauptet er, dass sie intensive Gefühle auf die Ereignisse ihrer Vergangenheit richten. Tatsächlich ist die Hauptemotion, von der er berichtet, die Freude – die Freude, sich von einer möglicherweise schmerzhaften Gegenwart durch die Erinnerung an glücklichere Zeiten abzulenken. Der berühmte Brief des Philosophen Epikur, den dieser auf dem Sterbebett schrieb, behauptet etwas Ähnliches: Die angenehme Erinnerung an Gespräche mit Freunden, so sagt er, habe es geschafft, die

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Schmerzen seiner todbringenden Erkrankungen, Dysenterie und Harnverstopfung, zu überwinden. Demgegenüber neigen moderne Gesellschaften dazu, die Vergangenheit als einen emotional sehr bedeutsamen Zeitraum anzusehen und vergangene Emotionen als höchst folgenreich für die Gegenwart und Zukunft einer Person zu betrachten. Drei Faktoren, die zu dieser Verschiebung beitragen, sind der jüdisch-christliche Glaube, die Psychoanalyse und die Literaturform des Romans. Judentum und Christentum lehren die sorgfältige Selbstprüfung der vergangenen Taten und Gedanken, wobei sie dem rückwärtsgewandten Gefühl von Bedauern, Reue und Schuld eine immense Bedeutung für den geistlichen Zustand einer Person zuschreiben. Christliche Überzeugungen bezüglich des Lebens nach dem Tod machen rückblickende Gefühle zu einem Schlüssel für das ewige Leben: Indem man schuldhafte Handlungen eingesteht und bedauert, kann man gerettet werden. Die Beziehung zwischen dem psychoanalytischen Denken und dem jüdisch-christlichen Glauben ist kompliziert und kann hier kaum diskutiert werden, aber die Psychoanalyse hat die kulturelle Vorstellung, dass die Vergangenheit für den gegenwärtigen und zukünftigen Zustand des Selbst von großer Bedeutung ist, eindeutig bestärkt, während sie den Schwerpunkt von Sünde und Gericht auf das Verstehen seiner Selbst umgelenkt hat. Es gilt als nahezu selbstverständlich, dass der Patient intensive Gefühle hat, die auf die frühe Kindheit gerichtet sind, und ein großer Teil der Analyse besteht darin, diese Emotionen bewusst zu machen und zu verstehen, wie sie gegenwärtige Verhaltensmuster beeinflussen. Psychoanalytische Überzeugungen haben einen enormen Einfluss darauf gehabt, das Interesse moderner Gesellschaften an rückwärtsgewandten Emotionen zu wecken. Ob Menschen die Details einer bestimmten psychoanalytischen Theorie akzeptieren oder nicht: Die Vorstellung, dass die Erinnerung und auf die Vergangenheit konzentrierte Emotionen Schlüssel zum gegenwärtigen und zukünftigen Glück sind, hat die Art und Weise, wie Menschen über sich denken und reden, überall geprägt – nicht nur in Europa und Nordamerika.3 Einen noch größeren und länger andauernden Einfluss hat die literarische Gattung des Romans gehabt. Die Helden und Heldinnen der Romane leben und bewegen sich in der Zeit, und ihre Emotionen umfassen die gesamte Bandbreite der zeitlichen Klassifizierungen. Das Lesen von Romanen hat uns gelehrt, dass wir nach der Vergangenheit fragen sollten, um die Gegenwart und Zukunft einer Figur zu verstehen – und dass Menschen nach ihrer eigenen Vergangenheit fragen sollten, um ihre eigene Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Hierbei werden vielfältige, auf die Vergangenheit gerichtete Emotionen extrem wichtig. Eine Möglichkeit, deren Bedeutung in Romanen zu zeigen, besteht in der retrospektiven Erzählung in der ersten Person, wobei sich eine erwachsene Figur sowohl an die Emotionen erinnert, die sie vor langer Zeit

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erlebt hat, als auch die intensiven gegenwärtigen Emotionen gegenüber diesen lange vergangenen Ereignissen und Gefühlen registriert. Romane, die der Psychoanalyse darin ähnlich sind und ihr vorausgehen, zeigen die Kindheit häufig als eine besonders bedeutsame Lebensphase. Das Genre des Bildungsromans, das in der Entwicklung des Romans im Allgemeinen sicherlich einen zentralen Platz einnimmt, kreist um die Entwicklung des Charakters, der Ziele und der Werte einer Person als Folge von Erlebnissen in der Kindheit (und Jugend) – und typischerweise interagiert der erwachsene Erzähler emotional mit seiner oder ihrer Vergangenheit. Nur wenige Romanautoren sind so pessimistisch wie Marcel Proust, der glaubt (oder der seine Geschichte zumindest einem Erzähler anvertraut, der glaubt), dass die Vergangenheit uns zu starren Wiederholungen in der Gegenwart verdammt und wir uns nicht auf die Menschen konzentrieren, die vor uns stehen, sondern auf längst vergangene Menschen wie unsere Eltern und andere intensiv geliebte Erwachsene. Doch die meisten Romanautoren behaupten zumindest, dass das Wissen um die Vergangenheit einer Person ein wichtiger Teil dessen ist, was es heißt, sie zu kennen, und dass eine narrative Untersuchung der Persönlichkeit von der Art, wie sie in Romanen betrieben wird – in Verbindung mit auf die Vergangenheit gerichteten Emotionen, die mit dieser Untersuchung in Zusammenhang stehen –, eine wertvolle Anleitung zum Verständnis seiner Selbst ist. Um die Sache zusammenzufassen: Wenn die Alten bei Aristoteles immer wieder über die Vergangenheit redeten, so verstand man dies so – und verstanden wahrscheinlich sie selbst es so –, dass sie Freude daran hatten, und nicht etwa so, dass dadurch irgendetwas zutiefst Wertvolles erreicht würde. Im Gegensatz dazu tendieren wir zu der Annahme, dass es ein Projekt oder Projekte gibt, die es auszuführen gilt, Projekte, bei denen es um Selbsterkenntnis und die intelligente Wiedergabe der Entwicklung des eigenen Selbst geht, und dass rückwärtsgewandte Emotionen ein wichtiger Teil der Ausführung derartiger Projekte sind. Doch worin genau bestehen diese Projekte? Welches sind die besseren und schlechteren Wege, um sie zu realisieren? Lohnt sich solch ein Projekt wirklich, da wir die Vergangenheit ja ohnehin nicht ändern können? Sollten wir nicht vielleicht versuchen, den Griechen und Römer ähnlicher zu sein und uns zu unserer Freude und zur Ablenkung von Schmerzen der Erinnerung überlassen, jedoch nicht in unserer Vergangenheit nach einer tieferen Bedeutung suchen? Griechen und Römer leben in unserer Welt noch immer. Eine von ihnen war meine Großmutter. Sie wurde 104 Jahre alt, hat sich fast die ganze Zeit guter Gesundheit erfreut, und ich habe sie nie auch nur ein Wort über ihre Vergangenheit sagen hören. Sie hatte zwei Ehemänner. Einer beging während der weltweiten Wirtschaftskrise Selbstmord und der andere starb an Krebs, als ich ungefähr 18 Jahre alt war.

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Doch sie schaute nie zurück, außer in gelegentlichen humorvollen Anekdoten über andere Leute, zum Beispiel über lustige Dinge, die ich als kleines Kind gemacht habe. Über ihre Vergangenheit habe ich durch meine Mutter erfahren, nicht durch sie. Typisch für sie war die Tatsache, dass sie mich direkt nach dem Tod ihres zweiten Mannes bat, ein fröhliches Lied für sie zu singen. Ich erinnere mich noch daran, wie seltsam es war, das zu tun, während sie, tadellos und teuer gekleidet, in ihrem eleganten und mit kostbaren Möbeln vollgestellten Wohnzimmer saß. (Der Maler John Koch4, der seine wichtigen Experimente durch das Malen von Damen der Gesellschaft finanzierte, hat sie einmal porträtiert. Das Gemälde hängt in meinem Wohnzimmer. Sie sieht sehr glamourös darauf aus. „John Kochs beste Arbeiten entstanden mit nackten Modellen“, behauptet eine Schlagzeile im Internet. Meine Großmutter war nie nackt.) Als sie älter wurde, liebte sie es, mit ihren älteren Schwestern5 über deren Kinder und Enkelkinder zu sprechen. Sie tratschte über ihre Eheprobleme oder ihre Probleme mit der Gesundheit, während sie eine endlose Folge von Überwürfen für jedes Familienmitglied strickte oder häkelte, das nicht genug von ihnen hatte. Sie polierte ihre kostbaren Antiquitäten. Sie liebte es, mit meiner Schwester und mir und später mit meiner Tochter über alltägliche Dinge zu reden, wie zum Beispiel darüber, welche schönen Kleider sie uns geben könnte, was wir zum Mittagessen essen wollten und wie es ihren hochgeschätzten Schweinen ging. Sie sammelte und besaß eine Reihe von Schweinen aus Keramik, Holz und Leder, die sie mit einer amüsierten Aufmerksamkeit überschüttete. Sie liebte es, jedem, der jung genug war um zuzuhören, ihre Geschichten zu erzählen. Wir gaben ihr den Spitznamen Ferkelchen und fanden sie entzückend. Ferkelchen hatte kein Interesse an ihrer Vergangenheit und keine Verwendung dafür. Und da sie bis auf die letzten Wochen ihres Lebens keine Schmerzen hatte, brauchte sie nicht einmal ein aristotelisches Gedächtnis, um sich von der bitteren Wirklichkeit abzulenken. Sie war die am vollkommensten an der Gegenwart orientierte Person, die mir je begegnet ist. Ich habe oft gedacht, dass diese Orientierung ihre Gesundheit und Langlebigkeit erklären half. Doch die Sache mit Ferkelchen war folgende. Obwohl ihre gute Laune bewundernswert und ihre Gesellschaft für diejenigen, die nicht viel Zeit mit ihr verbrachten, entzückend war, hatte sie ein manipulatives Wesen und eine Kälte an sich, unter der jene (meine Mutter und meine Schwester) litten, die für sie springen mussten. Und diese Kälte reichte weit in die Vergangenheit zurück. Sie schickte meine Mutter im Alter von acht Jahren in ein Internat, damit sie mit ihrem reichen ersten Ehemann das Reisen genießen konnte. (Obwohl dies in der britischen Oberschicht eine gängige Praxis war, war es in den USA höchst ungewöhnlich, und meine Mutter fühlte sich verwaist.) Als es so aussah, als sei dieser Mann in Gefahr, sein Geld zu verlieren, stand sie ihm nicht

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bei, sondern nahm meine Mutter mit auf eine Kreuzfahrt nach Europa. Fotos zeigen sie lachend mit Männern in SS-Uniform. Bei ihrer Rückkehr erfuhren sie, dass er, nachdem seine gesamten finanziellen Möglichkeiten ausgereizt waren, Suizid begangen hatte, indem er aus einem Hotelfenster gesprungen war, um ihnen das Versicherungsgeld zu verschaffen. Ich habe seinen Abschiedsbrief. Er ist undatiert (obwohl ich glaube, dass er im Jahr 1934 geschrieben wurde), mit einer Schreibmaschine auf ein Blatt Papier des Fairfax-Hotels in der East Fifty-Fifth Street, wo er aus dem Fenster sprang, getippt. Seine Anrede lautet: „Meine geliebte Gertrude“. Er spricht davon, Gertrude und Betty (meine Mutter) nicht zwingen zu wollen, „sich in Armut dahinzuschleppen“. Zum Schluss heißt es: „Ich bin mir sicher, dasjenige zu tun, was das für Euer beider Wohl Klügere ist. Das war stets mein beherrschendes Motiv … Ich liebe Euch beide viel mehr als das Leben.“ Obwohl solche Haltungen der Selbstaufopferung vielen amerikanischen Männern seiner Klasse anerzogen wurden, kannte er auch die Frau, die er geheiratet hatte. Ein Leben in Armut wäre Gertrude als Preis für sein Leben zu hoch gewesen. Durch ihre mangelnde Bereitschaft, anders als sorglos zu leben, hat sie seinen Untergang praktisch herbeigeführt. Es war meine Mutter, die, durch eine tiefe Liebe mit ihrem Vater verbunden und tief erschüttert, den Brief gerettet und an mich weitergegeben hat. Dies war demnach nicht gerade ein Leben, das vor einer Selbstprüfung hätte flüchten sollen. Es gab darin vieles zu erkennen, vieles zu bereuen. Aber warum? Was hätte die Selbstprüfung erreicht? Wenn ich das Gefühl habe, sie sei eine oberflächliche Person gewesen, weil sie sich auf keine Reise in die Vergangenheit eingelassen hat, werde ich dann nur von tief verwurzelten Vorstellungen wie Beichte, Schuld und dem letzten Gericht an der Nase herumgeführt? Da sie diese schlimmen Dinge bereits getan hatte: Welchen Sinn, wenn sie einen solchen überhaupt hat, könnte die Annahme haben, ihr Leben hätte durch rückwärtsgewandte Gefühle verbessert werden können? Warum hätte sie dem Schmerz, den sie bereits verursacht hatte, selbst bereitete Schmerzen hinzufügen sollen? Ich werde diesen Fall als Testfall für meine Auffassung verwenden, dass es auf manche Weise nützlich und wertvoll ist, die eigene Vergangenheit zu untersuchen und im Verhältnis zu ihr eine Reihe von Emotionen zu empfinden.

Rückwärtsgewandte Gefühle Zunächst benötigen wir allerdings einige Definitionen. Welches sind diese rückwärtsgewandten Emotionen, und welche Gedanken sind darin typischerweise enthalten? Beginnen wir mit den freudigen. Die wichtigste freudige Emotion, die rückwärts schaut, ist eine Art vergnügter Zufriedenheit mit dem, was passiert ist oder was man

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getan hat. Wenn sie sehr stark ausgeprägt ist, könnte man sie sogar als retrospektives Glück bezeichnen. Ein naher Verwandter dieser freudigen Gefühle ist rückblickender Stolz: Man blickt auf sich mit Vergnügen oder Befriedigung, weil man ein guter Mensch gewesen ist oder Gutes getan hat. Und schließlich gibt es noch rückwärtsgewandte Liebe – die vielleicht mit retrospektiver Freude oder Trauer oder beidem vermischt ist. Die schmerzhaften Varianten scheinen zahlreicher und komplizierter. Die Trauer könnte auf einen unmittelbaren Verlust gerichtet sein, doch sie kann auch auf einen Verlust zurückblicken, der schon lange zurückliegt. Die griechischen Philosophen haben einen Teil der Trauer übergangen, als sie sie als auf die Gegenwart gerichtet sahen. Bedauern ist ein schmerzhaftes Bewusstsein dessen, dass etwas Schlimmes passiert ist, verbunden mit dem Gedanken, es wäre besser gewesen, dieses Schlimme wäre nicht passiert. Eng verwandt mit dem Bedauern sind die Gefühle von Reue oder Schuld. Während das Bedauern sich auf ein Ereignis bezieht, das geschah, ohne es als unrechtmäßig oder tadelnswert zu charakterisieren, konzentrieren sich Reue- oder Schuldgefühle (ich sehe keinen bedeutsamen Unterschied) auf eine Handlung, die man selbst ausgeführt hat. Sie beinhaltet den Gedanken, dass die Handlung falsch war und dass man sie nicht hätte ausführen sollen. Es überrascht nicht, dass die Griechen diese retrospektiven Klassifizierungen nicht gelten lassen. Und dann ist da die Wut. Wut ist eine ungewöhnlich komplexe Emotion, da sie sowohl zurück als auch nach vorne schaut: zurück zu einer ungerechten Verletzung (manchmal in der unmittelbaren Vergangenheit, manchmal lange zurückliegend), nach vorn zu irgendeiner Art von Vergeltung.6 Manchmal wird die Vergeltung als noch in der Zukunft liegend vorgestellt (sei es durch eigenes Handeln, das Gesetz oder die göttliche Gerechtigkeit). Manchmal kann die eingebildete Vergeltung jedoch auch selbst in der Vergangenheit liegen: „X hat bekommen, was er verdient hat; und das ist auch gut so.“ In beiden Fällen verbindet Wut den Schmerz über die Verletzung mit der Genugtuung der vorgestellten Vergeltung. Die griechischen und römischen Philosophen der Antike richten ihre Aufmerksamkeit auf Fälle von Wut, bei denen das Unrecht gegenwärtig ist. Da sie sich auf Vergeltung konzentrierten, klassifizierten sie Wut als eine auf die Zukunft gerichtete Emotion. Natürlich kann es jedoch auch Wut angesichts von Ereignissen geben, die bereits lange zurückliegen. Es gibt offensichtliche Umstände, unter denen rückwärtsgewandte Emotionen auf Abwege geraten können. Man kann die Fakten falsch verstehen, glauben, dass Ereignisse passierten, die nie geschehen sind, wichtige Ereignisse, die stattgefunden haben, nicht zur Kenntnis nehmen, oder wichtige kausale Zusammenhänge falsch auffassen (zum Beispiel annehmen, ein Schaden sei ungerecht, obwohl es nur zufällig dazu kam). Man kann Werten die falsche Bedeutung beimessen, indem man annimmt, Er-

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eignisse oder Menschen seien wichtiger oder weniger wichtig gewesen, als es der Fall war. Zum Beispiel könnte man einen trivialen Verlust betrauern wie den einer Büroklammer, oder man könnte sich darüber ärgern, dass jemand einen solch trivialen Gegenstand an sich genommen hat. Ein weiteres Problem der rückwärtsgerichteten Emotionen insgesamt, besonders der schmerzlichen, besteht darin, dass sie häufig scheinbar den unmöglichen Wunsch enthalten, die Vergangenheit zu ändern. Doch ist das wirklich so? Manchmal ist dieser Wunsch offensichtlich nur eine Nebensache. Trauer wird manchmal von dem Wunsch begleitet, ein toter Mensch möge wieder in das Leben zurückkehren. Dieser Wunsch ist jedoch kein wesentliches Element der Trauer. Man kann von Trauer erfüllt sein, obwohl man den Verlust vollständig akzeptiert. Man könnte jedoch auch sagen: Warum sollte man emotionale Energie auf das verschwenden, was verloren und vergangen ist? Die Antwort scheint zu sein: Weil Trauer zum Ausdruck bringt, welche Bedeutung die Liebe im eigenen Leben hat, und weil sie ein Beweis für diese Bedeutung ist und für das eigene Wesen als eine Person, der eine solche Verbundenheit mit dem Vergangenen wichtig ist. Zwar geht es dabei um die tote Person, nicht um einen selbst; dies drückt jedoch auf eine machtvolle Weise die Integrität dessen aus, wofür man steht. Die Trauer lässt gewöhnlich mit der Zeit nach. Im Moment des Verlusts hat man den Gedanken: „Eine Person, die für mein Leben von absolut zentraler Bedeutung ist, existiert nicht mehr.“ Im Laufe der Zeit gibt der Trauernde seinen Zielen und den Dingen, die ihm wichtig sind, eine neue Struktur, und solche Aussagen ändern typischerweise ihren zeitlichen Index: „Eine Person, die für mein Leben von absolut zentraler Bedeutung war, existiert nicht mehr.“ Diese Änderung der Zeitangabe kennzeichnet das Nachlassen der Trauer. Und dennoch kann sie in irgendeiner Form fortbestehen, wenn man zurückblickt. Besonders wenn man sein gesamtes Leben als ein Ganzes in den Blick nimmt und seine Gesamtstruktur in einer Weise betrachtet, die von der Gegenwart losgelöst ist, kann man noch immer eine große Lücke darin wahrnehmen. Da gibt es diesen Verlust, und die Tatsache, dass ich diesen geliebten Menschen verloren habe, gehört zu meinem Leben. Auf diese Weise kann selbst die Trauer um einen bereits vor langer Zeit eingetretenen Verlust etwas Wertvolles über die Person ausdrücken: Sie ist eine solche Person, die auf diese Weise geliebt hat, und sie erkennt diese Liebe als eine Tatsache in ihrem Leben an. Bedauern kann, wie Trauer, den Wunsch beinhalten, das schlimme Ereignis möge nicht stattgefunden haben; wie bei der Trauer scheint dieser Wunsch jedoch nebensächlich zu sein, nicht Teil der Emotion selbst. Der Schwerpunkt liegt stattdessen auf der Vorstellung, dass es besser gewesen wäre, wenn es nicht stattgefunden hätte. Es wäre besser gewesen, wenn meine Kinder nicht genau dort auf der Landstraße ge-

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standen hätten, sodass sie von einem fahrlässigen Fahrer getötet wurden. Ich denke, es wäre besser gewesen, sie wären zu Hause geblieben oder hätten einen anderen Weg genommen, doch es gehört nicht zum Wesen meiner Gefühle, dass ich mir wünsche etwas zu verändern, das sich nicht ändern lässt. Und es erscheint plausibel, dass Bedauern, wie Trauer, eine gegenwärtige Anerkennung der eigenen Verpflichtungen und der Dinge sein kann, die einem wichtig sind: Ich bin eine solche Person, dass diese Art von Ereignis mein Leben zerreißt. In ähnlicher Weise kann Schuld einfach den Gedanken beinhalten, dass das, was ich getan habe, schlecht war, und dass es besser gewesen wäre, wenn ich es nicht getan hätte, ohne den Wunsch, etwas ungeschehen zu machen, was sich nicht ändern lässt. Und Schuld, wie Trauer, hat eine expressive Funktion in der Gegenwart, die auch künftige Entscheidungen beeinflussen kann. Mein Gedanke, dass ich falsch gehandelt habe, ist der Gedanke, dass diese Tat meiner und der Werte, für die ich eintrete, unwürdig gewesen ist. Es ist wahrscheinlich, dass ihn der Entschluss begleitet, diese schlechte Handlung werde sich nicht wiederholen. Schuld dieser Art ist Teil einer reifen Person, die moralische Verpflichtungen hat. Wir werden allerdings schon bald Grund haben, diese Einschätzung erneut zu prüfen. Bis hierher scheinen die rückwärtsgewandten Emotionen nicht an sich irrational zu sein. Allerdings wartet diesbezüglich ein Problem auf uns: das Problem des Wunsches nach Vergeltung. Schuld ist im Grunde Zorn auf sich selbst; und sowohl die Schuld als auch die Wut auf andere, sei sie auf die Gegenwart oder die Vergangenheit gerichtet, beinhalten typischerweise einen Wunsch nach Vergeltung: den Gedanken, dass jemand für die schlechte Tat büßen sollte, und den Glauben, dass diese Buße die schlechte Tat irgendwie ausgleicht. Diese Idee ist zutiefst menschlich und uns wahrscheinlich durch die Evolution einprogrammiert. Sie ist jedoch irrational. Die Vorstellung, dass die Zufügung vergeltender Schmerzen den erlittenen Schmerz oder Schaden irgendwie ausgleicht und die Dinge generell besser macht, ist eine alte, aber dennoch inkohärente Form des magischen Denkens der Menschen. Das ist unabhängig davon der Fall, ob das Ziel des Vergeltungswunsches eine andere Person oder aber man selbst ist. Die Bestrafung des Täters könnte ein nützliches Ziel in der Zukunft erreichen (ihn abschrecken, die von ihm ausgehende Gefahr bannen, ihn reformieren) oder auch nicht; das ist eine empirische Frage. In ähnlicher Weise kann es zu Verbesserungen führen, dass man sich selbst Qualen zufügt, oder es kann nur dazu führen, dass man sich selbst lähmt; an sich wird dadurch kein wertvolles Ziel erreicht.7 Dieser Einwand betrifft denjenigen Zorn, der auf (lange) vergangene Vergehen gerichtet ist, nicht im Besonderen: Er gilt auf gleiche Weise für Wut, die auf Gegenwärtiges oder erst vor Kurzem Geschehenes gerichtet ist. Da jedoch Wut und Zorn auf

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sich selbst (Schuld) herausragende retrospektive Emotionen sind, ist es wichtig, diese Schwierigkeit zu betonen. Was sowohl bei den auf andere als auch bei den auf das Selbst gerichteten Emotionen wertvoll zu sein scheint, ist eine Art Quasi-Wut, die den Vergeltungswunsch zugunsten zukunftsorientierter Gedanken über das Gute zurücknimmt. „Das ist ungeheuerlich: Es darf nicht noch einmal geschehen!“ Diese Emotion hat viel mit gewöhnlichem Ärger gemeinsam, es fehlt jedoch die Komponente des Wunsches, der Handelnde möge leiden. Es verpflichtet die Person zu einer Suche nach Strategien, die die Wiederholung des Fehlverhaltens verhindern, welche Strategien auch immer sich als die besten dafür herausstellen (und natürlich können diese eine Art Strafe beinhalten). Ebenso gibt es eine auf das Selbst gerichtete Art von Wut oder Quasi-Wut, die empört und entschlossen ist, die Dinge besser zu machen, doch ohne den Wunsch nach Selbstbestrafung; sie verpflichtet das Selbst zur Suche nach Strategien der Selbstkontrolle oder Selbstveränderung. Wie bei der Wut auf andere wird die Selbstbestrafung nur dann eine wertvolle Strategie darstellen, wenn es wahrscheinlich erscheint, dass die Dinge dadurch verbessert werden. Es erübrigt sich zu sagen, dass es oft sehr schwierig ist, die produktiven, an der Zukunft orientierten Formen von Ärger und Selbstzorn von den leeren Formen zu unterscheiden, die auf retrospektive Vergeltung ausgerichtet sind. Wir beginnen ein Gefühl dafür zu bekommen, was gut daran sein mag, auf die Vergangenheit gerichtete Gefühle zu haben und darüber nachzudenken: Sie sagen uns, wer wir sind, was wir getan haben, wofür wir uns eingesetzt haben; und sie stellen uns die Frage: Stehen wir noch dazu oder nicht? Das könnte für die Selbstveränderung nützlich sein. Aber selbst wenn es nicht um Selbstveränderung geht – wenn man über das, was man geliebt oder getan hat, nicht schlecht denkt –, können auf die Vergangenheit gerichtete Gefühle eine wertvolle Rolle dabei spielen, auszudrücken und zu erklären, wer man ist – wenn man die Gefahr nutzloser Selbstbestrafung vermeidet. Doch wir bedürfen noch einer tieferen Untersuchung der Fehler des rückwärtsgewandten Lebens und seiner Beeinträchtigungen.

„Die Vergangenheit ist die Gegenwart, nicht wahr?“ Ich untersuche nun zwei Fälle, in denen das Leben, das mit einem großen Teil seiner emotionalen Energie auf die Vergangenheit gerichtet ist, sowohl für das Selbst als auch für andere destruktiv ist – weil es das Unvermögen beinhaltet, sich der Gegenwart und Zukunft zu stellen. Eugene O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht ist eines der am meisten bewunderten Dramen in der Geschichte des amerikanischen Theaters.8 Es ist auch ei-

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nes der qualvollsten, die man sich anschauen kann. Während man mit den vier Charakteren, dem Vater, der Mutter und den zwei Söhnen, vier Stunden verbringt, fühlt man sich zunehmend erdrückt und gefangen, und man möchte auf die Bühne steigen und sie schütteln, um sie dazu zu bringen, ihr zwanghaftes, vergebliches und destruktives Verhalten zu beenden, mit dem sie Muster aus der Vergangenheit wiederholen und sich weigern, sich den Herausforderungen ihrer Gegenwart zu stellen. Die Zuschauerin einer Tragödie von Sophokles möchte den Figuren sagen, was sie weiß, damit sie sich nicht auf eine Weise verhalten, die im Licht der Wahrheit schrecklich und zum Scheitern verurteilt ist. Töte nicht diesen alten Mann an der Kreuzung, nicht einmal zur Selbstverteidigung. Heirate nicht die attraktive verwitwete Königin. Wir wissen, dass der tragische Held seine Handlungen auf der Stelle ändern würde, wüsste er, was wir wissen. Es gibt nichts auf eine tiefgründige Weise Irrationales an solchen Helden: sie tappen einfach im Dunkeln. Die Tragödie im Stück von O’Neill ist von anderer Art. Sie könnte durch zusätzliches Wissen nicht vermieden werden. Das destruktive Muster hat sich als vorherrschend dafür erwiesen, wie diese Menschen leben und wer sie sind; und zwar so, dass nur ein langer Kampf für Veränderungen sie verändern könnte. Die Reise, auf die der Titel Bezug nimmt, ist buchstäblich eine Reise durch den langen Tag zu einer immer größeren Tiefe des Elends und der Entfremdung. Doch der Titel spielt auch darauf an, wie die Lebensreise der Figuren, statt sich auf das Licht der Zukunft zuzubewegen, sich zur Unveränderlichkeit und Dunkelheit der Vergangenheit zurückwendet. Das Stück wirkt erdrückend, weil es eine Welt ist, die den Atem künftiger Möglichkeiten schon längst ausgehaucht hat. Emotional gesehen ist die Reise in die Nacht eine allmähliche Entwicklung weg von gegenwärtigen oder zukünftigen Emotionen wie Hoffnung, Liebe und sogar Angst hin zu einer ständigen Wiederholung von Verhaltensmustern, die in der Vergangenheit verwurzelt sind und sich auf sie konzentrieren. Die grundlegende Geschichte ist folgende. (Die Figuren erzählen diese Geschichte zwanghaft an einem Tag der Handlung des Stückes; es wird uns nahegelegt uns vorzustellen, dass sie diese auch an anderen Tagen wiederholen.) Mary Tyrone, eine in einem Kloster erzogene Frau aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, überrascht alle Welt damit, dass sie einen umherziehenden Schauspieler heiratet, den bezaubernden, in frühabendlichen Vorstellungen angehimmelten Mimen James Tyrone. Sie reist mit ihm durch die Lande und hat folglich kein festes Zuhause. Ihr erstes Kind, Jamie, erkrankt an Masern und steckt versehentlich ihr zweites Kind, den Säugling Eugene an, der daraufhin stirbt. Obwohl sie zu schwach ist, um ohne Risiko erneut schwanger zu werden, wird sie es dennoch und hat eine schwere Geburt. Nach Edmunds Geburt entwickelt sie eine Morphium-Sucht. Vielleicht geschieht dies, weil ihr sparsamer

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Ehemann billige Ärzte auswählt. Mary kämpft seitdem, also seit 23 Jahren, erfolglos gegen diese Sucht. (O’Neill gibt Jamies Alter mit 33, Edmunds mit 23 Jahre an.) Sie fühlt, dass dieser Kampf schwieriger ist, weil ihr Ehemann sie während seiner Schauspielferien in einem großen, aber heruntergekommenen Haus in einer Umgebung isoliert, wo sie keine Freunde hat. Unterdessen ist ihr älterer Sohn Jamie ein zielloser Alkoholiker geworden, zum Teil, weil man ihm die Schuld aufbürdet, für den Tod seines Bruders verantwortlich zu sein. Edmund, der ein talentierter Schriftsteller ist, hat auch Probleme mit Alkohol und hat außerdem nach mehreren Jahren auf See eine Infektion bekommen, bei der es sich um Tuberkulose zu handeln scheint. Das am wenigsten dysfunktionale Mitglied der Familie ist der Vater, der ebenfalls viel trinkt, allerdings nie eine Aufführung verpasst und scheinbar einen gewissen Sinn für Ordnung hat und über die Fähigkeit zu handeln verfügt, obwohl die anderen Familienmitglieder unermüdlich damit beschäftigt sind, ihm die meisten ihrer Probleme zum Vorwurf zu machen.9 Das Stück beginnt mit einem Zeichen der Hoffnung und liebevollen Verbundenheit. Die Drogensucht der Mutter scheint erfolgreich behandelt worden zu sein. Sie ist fröhlich und hat zugenommen. Die Menschen um sie herum beginnen, sich zu entspannen. Selbst die Angst der Familie um Edmunds Gesundheit scheint überwunden, da sie nun tatsächlich in die Zukunft schauen und entschlossen sind, etwas gegen seine Krankheit zu unternehmen. Liebe und Verbundenheit sind deutlich sichtbar – anfänglich. Doch wir erfahren schon bald, dass dies kein Tag sein wird, der in die Zukunft führt. Es ist vielmehr ein Tag (und sicherlich nicht der einzige), an dem die Vergangenheit alle Figuren in ihrem Würgegriff hält und Mary wieder beginnt, sich Morphium zu spritzen, da sie unfähig ist, mit Angst und Hoffnung zu leben, mit der schwierigen Gegenwart und Zukunft, in der neue Entscheidungen zu treffen sind.10 O’Neill verwendet sein eigenes Leben als Material für das Stück, aber er verändert es auf erstaunliche Weise, indem er die glückliche Zukunft der realen Charaktere weglässt: seine eigene Genesung von einer Tuberkulose und seinen späteren Erfolg sowie, was noch bemerkenswerter ist, die erfolgreiche medikamentöse Behandlung seiner Mutter, ihre acht Jahre dauernde Abstinenz, bis sie an Krebs verstarb, den andauernden Erfolg seines Vaters und sein relativ langes Leben. Von den vier Charakteren scheint allein Jamie das ausweglose Leben geführt zu haben, das ihm in dem Stück zugewiesen wird. Da so vieles andere der Wahrheit entspricht, geben uns diese Veränderungen ein Gefühl dafür, worum es O’Neill geht: um die Destruktivität rückwärtsgewandter Emotionen, wenn man ihnen erlaubt, die gegenwärtigen menschlichen Beziehungen zu dominieren. Die Tyrones sprechen ständig über die Vergangenheit, und die meisten ihrer Emotionen sind auf die Vergangenheit gerichtet. Marys berechtigte Angst um Edmunds

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Gesundheit wird bald in rückwärtsgerichtete Wut umgelenkt, da die Notwendigkeit, einen Arzt und ein Sanatorium zu wählen, sie an viele frühere, angeblich geizige Entscheidungen von James erinnert, vor allem an seine Wahl des Arztes, den sie für ihre Sucht verantwortlich macht. Am Ende des Stückes kann selbst Edmunds eindringlicher Hinweis, dass er an Tuberkulose erkrankt ist, sie nicht mehr erreichen, da sie mittlerweile vollkommen in der Vergangenheit lebt. Marys dominante emotionale Verfassung ist ein passiv-aggressiver Typ von Fatalismus, der ihre retrospektive Wut verschleiert und letztlich zum Ausdruck bringt. Ihren eigenen Rückfall entschuldigt sie häufig mit fatalistischen Äußerungen – zum Beispiel indem sie über Jamie sagt: „Er kann nichts dafür, der zu sein, zu dem die Vergangenheit ihn gemacht hat. Ebenso wenig wie dein Vater etwas dafür kann. Oder du. Oder ich.“ (66). Indem sie die Möglichkeit der Wahl in der Gegenwart leugnet, verwandelt sie die Gegenwart in eine Vergangenheit und macht sie ebenso starr und unveränderlich. Und für sie bedeutet das, dass James’ angebliche Vergehen – sein Geiz, sein ständiges Reisen – nicht nur für das verantwortlich sind, wozu sie in der Vergangenheit geführt haben, sondern auch für alles, was gegenwärtig schlecht ist. Retrospektive Schuldzuweisung ist die Grundhaltung ihres gesamten Lebens. Sogar ihre wiederholten Selbstbeschuldigungen erweisen sich stets, wie sie erläutert, als Vorwürfe gegen James. Und Wut auf James ist letztlich der Grund für ihren Fatalismus: Statt ihn für eine oder mehrere konkrete Handlungen verantwortlich zu machen, findet sie es einfacher, ihm die Schuld für ihr ganzes Leben in die Schuhe zu schieben. Gegen Ende des Stückes, als James versucht, zu ihren Gefühlen durchzudringen und schreit: „Mary! Vergiss die Vergangenheit!“, antwortet sie: „Warum? Wie könnte ich das? Die Vergangenheit ist die Gegenwart, nicht wahr? Sie ist auch die Zukunft“. (90) Auch bei Jamie wird die vor langer Zeit begangene „Missetat“, dass er unbeabsichtigt den Tod seines kleinen Bruders verursachte, als ein Schicksal behandelt, das ihn der Wahlmöglichkeiten beraubt, sodass auch all seine Gefühle auf die Vergangenheit gerichtet sind. Am Ende des Stückes zitiert er sarkastisch eine Zeile von Rossetti: „Schau mir ins Gesicht. Mein Name ist Hätte-sein-können; / Man nennt mich auch Nicht-mehr, Zu-spät, Lebewohl.“ (171) Edmund und sein Vater sind nicht ganz so tief in die Vergangenheit versunken. Beide kämpfen um eine wirkliche Verbundenheit mit anderen, sie haben beide ein gutes Gespür für die Gegenwart und Zukunft – und dennoch erliegen beide letztlich den Kräften der Wiederholung und des Blickes zurück. So wie James es einfacher fand, ständig wieder die Rolle des Grafen von Dumas zu spielen, statt sich einer neuen künstlerischen Herausforderung zu stellen, zieht er sich auch in seinem eigenen Leben auf Routine und Wiederholung zurück, statt nach kreativen Lösungen für

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die Probleme der Familie zu suchen. Das ist es im Wesentlichen, was alle Figuren tun: Sie ziehen die bequeme Neuauflage einer sich ständig wiederholenden, auswendig gelernten Rolle, die durch retrospektive Emotionen belebt wird, den Herausforderungen einer realen Gegenwart und Zukunft vor. Wut erzeugt häufig solche sich wiederholenden und sinnlosen Verhaltensmuster retrospektiver Beschuldigung, in denen echte Probleme und ihre Angst einflößenden Schwierigkeiten vermieden werden und Menschen nach einem vor langer Zeit erlernten Skript handeln.11 Du hast damit angefangen. Nein, du hast diese schlimme Sache zuerst gemacht. Und so geht es weiter. Unbeweglichkeit kann der Stoff für eine Komödie sein, aber bei O’Neill, wo so viel auf dem Spiel steht, ist sie tragisch. Tatsächlich besteht die Tragik darin, dass die Tragödie vermeidbar wäre und doch bereitwillig angenommen wird. Die Charaktere ziehen es vor zu glauben, dass sie dem Untergang geweiht sind, denn diese Überzeugung befreit sie von der Verantwortung für gegenwärtige Entscheidungen. Tot zu sein ist leichter als zu leben. Am Ende des Stückes äußert Maria ihre retrospektive Wut ein letztes Mal: „Dann ist mir im Frühling etwas passiert. Ich verliebte mich in James Tyrone und war eine Zeitlang so glücklich.“ Mit anderen Worten: Ich war ein glückliches Mädchen, und dann kam dieses unheilvolle Schicksal. Du hast mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Ich lebe in einer Nacht, aus der es keinen Ausweg gibt. Welche retrospektiven Emotionen ein alterndes Leben auch immer zulassen oder sogar suchen mag: Gewiss ist dieser Weg, die gegenwärtige Verantwortung zu scheuen, nicht nur nutzlos und führt zu nichts Gutem, er ist auch moralisch verabscheuungswürdig. Das Leben ist nicht das Leben nach dem Tod, und die Gegenwart ist nicht die Vergangenheit. Es ist allzu einfach, rückblickend zu leben, seien die Menschen, die man beschuldigt, andere oder man selbst, am Leben oder bereits tot. Rechenschaft für vergangene Taten (vor sich selbst und anderen) abzulegen ist ein wichtiger Aspekt dessen, was es heißt, sich dem eigenen Leben zu stellen, doch Rechenschaft unterscheidet sich von selbst verursachtem Unheil und von zwanghaften Heimzahlungsmustern. Ja, in ihrer besten Form bringt sie einem schmerzhaft zu Bewusstsein, dass Veränderung nicht unmöglich, sondern allzu möglich ist. Die Vergangenheit stellt den Unachtsamen aber mehr als nur eine Art von Falle. Ein anderes Problem des rückwärtsgewandten Lebens wird in einem sehr seltsamen Roman, Michel Butors Der Zeitplan (2009),12 dramatisiert, einem zu Unrecht vernachlässigten experimentellen Roman. Bemerkenswert daran – und nicht nur für die literarische Wirkung – ist, wie er mit der Zeit spielt: Die Zeit bringt das Leben der Hauptfigur durch eine anfänglich plausible Selbstverpflichtung zu Klarheit und Selbsterkenntnis vollkommen durcheinander.

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Jacques Revel ist aus Frankreich nach Mittelengland gezogen, um in der fiktiven Stadt Bleston für ein Jahr eine Stelle in der Firma Matthews & Sons anzutreten. Am Anfang des Romans befindet sich Revel in einem Zugabteil mit schmutzigen Fenstern. Draußen Regen und brauner Nebel; das spärliche Licht wird durch die Regentropfen gebrochen, sodass alles, was er sehen kann, ein Schimmer undeutlichen Lichts ist. (Der erste Satz des Romans lautet: „Les lueurs se sont multiplées“, „Die Lichtschimmer haben sich vervielfacht“ [9].) Er verspürt den verzweifelten Wunsch nach klarer Sicht. Doch noch bevor wir die erste Seite gelesen haben, finden wir heraus, dass die beschriebene Zugfahrt nicht in der Gegenwart der Figur spielt: Es ist eine Erinnerung: „Ich sehe das wieder sehr deutlich.“ Und am Beginn der Seite erfahren wir, dass die Episode sich im Mai und im Oktober zuträgt, dem Monat des Erlebens und dem des Schreibens. Diese Art von Anmerkung finden wir auf jeder Seite des Romans, und sie erinnert den Leser daran, dass jede Episode mindestens zweimal und häufig mehr als zweimal stattfindet (wenn Revel zur früheren Erzählung eines vergangenen Ereignisses zurückkehrt und sie korrigiert). Als er sich über die „Unschärfe meiner selbst“ („cet obscurcissement de moi-même“ [10]) beklagt, beschließt Revel – beziehungsweise erzählt er von seinem längst vergangenen Entschluss – ein Tagebuch zu führen, um seinen Geist klar zu halten, unbefleckt vom Schmutz und Nebel Blestons. Damit beginnt das Experiment und zu dieser Zeit hat Revel noch ein äußeres Leben. Er trifft seine Kollegen, er gewinnt Freunde, ist fasziniert von zwei sehr unterschiedlichen Frauen, Rose und Ann. Doch jeden Abend, wenn er sich zum Schreiben hinsetzt, stellt er fest, dass seine Beschreibung vergangener Ereignisse unvollständig war. Statt also nur über den Tag zu schreiben, den er gerade erlebt hat, taucht er in die fernere Vergangenheit ein, um das Tagebuch vollständiger zu machen. Dies geschieht immer wieder, da er so besessen von Klarheit ist, dass er sich immer stärker der Vergangenheit zuwendet und das Bedürfnis verspürt, f­ rühere Erzählungen zu korrigieren oder zu konkretisieren. „Diesen Samstag, diesen Sonntag, wie sehr möchte ich sie begreifen, wie sehr möchte ich sie vollständig niederschrieben, sie auf Papier offenlegen, damit ich sie lesen kann, damit sie für das Licht transparent werden.“ (218) Der Textanteil, der gegenwärtigen Erfahrungen oder solchen der jüngsten Vergangenheit gewidmet ist, wird immer kleiner, der Zugriff der Vergangenheit immer umfassender. Die Menschen, die früher seine Freunde waren, seine möglichen Geliebten, erscheinen in immer größerer Distanz. Ann verlobt sich mit einem anderen, und dies geschieht ohne eine emotionale Regung von Revel, da er vom Projekt seiner Retrospektive vollkommen in Anspruch genommen wird. Revel ist offensichtlich ein geistiger Bruder von Prousts Marcel, und die Idee ist ähnlich: Die Vergangenheit zurückzuholen ist sehr schwierig; wenn man das Projekt

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mit Hingabe verfolgt, als einen Selbstzweck, wird es einen notwendigerweise vom Leben und von der Liebe trennen. Proust behauptet, das einzige vollständig gelebte Leben sei das retrospektive: Liebe und Freundschaft sind oberflächlich, fast illusorisch, zumindest bis ihr Wesen in retrospektiven Gefühlen zurückgeholt wird. Butors Roman legt uns eine andere Einsicht nahe: Revels Hauptbeschäftigung, Klarheit über die Vergangenheit zu gewinnen, ist destruktiv und unausgewogen, eine pathologische Antwort auf seine Situation in einer fremden Umgebung und seinen Hass auf England. Revel ist ein junger Mann, und wir dürfen annehmen, dass er, wenn er wieder in Frankreich ist, sein Gleichgewicht wiedererlangen und wieder ins Leben eintreten wird. Von der Feindseligkeit gegen Bleston, die die Erzählung immer stärker vorantreibt – ein Großteil des letzten Abschnitts ist in der zweiten Person geschrieben und an die Stadt selbst gerichtet – könnte man erwarten, dass sie inmitten der Reize von Paris nachlässt, wo es natürlich (zumindest in Revels Vorstellung) keinen Nebel und keinen Regen gibt, sondern nur klares Licht ohne verwirrende Schimmer! Der Titel von Butors Roman hat jedoch eine besondere Bedeutung für alternde Menschen. Ihre Zeit wird immer knapper und die Frage, wie man sie nutzt, immer dringlicher. Die Zeit, die man in rückblickenden Gefühlen und Gedanken zubringt, verlebt man nicht mit seinen Freunden, Kindern und Enkeln. Daher ist diese „Nutzung der Zeit“ besonders verlockend, wenn viele Freunde und Verwandte gestorben sind. Dann liegt der Gedanken nahe, dass alles, was zählt, in der Vergangenheit liegt. Aber es gibt immer neue und lebendige Menschen, denen man sich widmen kann, und rückwärtsgewandtes Leben kann viele glückliche Beziehungen verhindern. Die Lehre besteht nicht darin, sämtliche rückwärtsgewandten Projekte zu verwerfen, sondern mit der darauf verwendeten Zeit sparsam umzugehen und nur diejenigen zu verfolgen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit die Gegenwart und Zukunft bereichern werden. Denn das ist das Einzige, was wir wirklich haben.

Präsentismus: Ewige Kindheit? War meine Großmutter also doch auf dem richtigen Weg? Sieht man die Fallstricke der rückwärtsgewandten Emotionen, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass ihre Lebensweise besser ist, eine Art ewiger Kindheit, in der die Vergangenheit einfach aufhört zu existieren. Was also fehlt in diesem behaglichen Leben? Offensichtlich gehörte zu ihrer Lebensweise die Weigerung, sich Fehlern und Fehlverhalten zu stellen. Und da es Verfehlungen, ja sogar schlechte Charakterzüge gab, bedeutet das Versäumnis, ihnen ins Auge zu sehen, auch ein Versäumnis, sich einzugestehen, wer man ist: Es wird eine angenehme Oberfläche präsentiert, während sich im Untergrund etwas ganz anderes verbirgt. Ein solches Leben ist irgendwie arglistig, da es

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Menschen mit Charme anzieht, Leben und Liebe vortäuscht, aber nicht wirklich liebt, und vielleicht sogar nicht einmal wirklich lebt – und zwar in dem Sinne, dass Veränderung ausgeschlossen ist. Ihre Unfähigkeit, Trauer oder Schuld zu erleben, entspricht ihrer Unfähigkeit, zu lieben. Wenn dein Ehemann stirbt, mach einfach fröhlich weiter. Und diese emotionalen Defizite führen zu einem Leben, in dem man sich für nichts mehr entscheidet und sich nicht mehr bewegt, genau wie Mary Tyrone: Die ewige Gegenwart ist eine ebensolche Falle der Starrheit wie die ewige Vergangenheit. Selbstprüfung im Allgemeinen ist wertvoll und ein Teil dessen, was es bedeutet, ein ganzer Mensch zu sein. Der Versuch, sich selbst zu verstehen, indem man sich dem, was man getan hat, stellt und es zu verstehen versucht, ist Teil dessen, was es heißt, als ganzer Mensch in der Gegenwart präsent zu sein. Deshalb ist die Psychoanalyse, obwohl sie immer auf die Vergangenheit gerichtet ist, kein primär rückwärtsgewandter Prozess. Sie ist höchst relevant für die Aufgabe, zukunftsgerichtet zu leben, für die Lebenszeit, die einem noch bleibt. Doch wenn man ehrlich in die Vergangenheit schaut, wird es natürlich viele retrospektive Emotionen geben, und nicht nur angenehme, denn jedes Leben enthält Verluste und Fehlverhalten. Wenn es also ein Fehler ist, die Gegenwart und die Zukunft in eine Vergangenheit zu verwandeln, dann gibt es entsprechend den entgegengesetzten Fehler, die Vergangenheit zugunsten einer (dadurch ärmer werdenden) Gegenwart und Zukunft auszulöschen. Es ist möglich, dass eine ganze Gemeinschaft wie meine Großmutter lebt. In Leisureville: Adventures in a World without Children,13 beschreibt Andrew D. Blechman Seniorensiedlungen in Florida und Arizona, in deren Mittelpunkt die ­Bemühung steht, eine Art präsentistischen Hedonismus aufzubauen, der alternde Menschen von Introspektion und schmerzhaften Emotionen ablenkt. Der einzige, allgegenwärtige Radiosender wiederholt: „Es ist ein schöner Tag in The Villages!“ Soziale Probleme werden ferngehalten. Die Menschen dort suchen nicht nach einem sinnerfüllten Leben, sie suchen nach kurzfristigem Vergnügen durch Golfspielen, Essen und Sex. Im Gegensatz zu den alternden Menschen bei Aristoteles wenden sie sich eher der Gegenwart als der Vergangenheit zu, um sich von der Aussicht auf künftige Schmerzen abzulenken. Ich stimme Blechman darin zu, wenn er diesen Lebensstil als abstoßend, ja sogar als ekelhaft empfindet. Da ziehe ich meine Großmutter vor, die zumindest zu ihren Enkelkindern und ihrem Urenkel großzügig war, und deren Unterstützung unserer Ausbildung einen großen Teil ihrer Pläne ausmachte. Aber was ist verkehrt am Leben der Bewohner von Leisureville? Kann ich mehr sagen, um meine Reaktion zu verteidigen, oder ist sie lediglich ein nicht weiter erklärbares persönliches Geschmacksurteil? Die Bewohner erscheinen mir oberflächlich,

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aber sie sind fröhlich. Und im Gegensatz zu vielen alternden Menschen sind sie zumindest nicht vereinsamt. Was also ist daran so schlimm? Ich glaube, dass diese Menschen, abgesehen von der generellen Widerlichkeit (für mich) ihres Lebensstils, auf eine signifikante Weise gestört sind. Ein Teil ihres Problems besteht darin, dass bei ihnen jeglicher Altruismus fehlt, obwohl es sehr wohlhabende Menschen sind. Dass sie sich von Kindern abwenden, ist nur ein Symptom für diesen Mangel an Sorge für eine Welt außerhalb ihrer selbst, in der sich durch den Einsatz finanzieller Mittel Gutes bewirken ließe. Doch es scheint auch im Präsentismus selbst etwas zu fehlen. Indem sie der Familie und der Vergangenheit ausweichen, vermeiden diese Menschen Schmerzen. Aber auch hier habe ich wieder das Gefühl, dass es die Aufgabe gibt, ein ganzer Mensch zu sein, der sie sich nicht stellen, eine Aufgabe, die es erfordert, sich mit Schwierigkeiten, Verlusten und Fehlern zu konfrontieren. Das Leben in der Gegenwart ist so, wie wir uns das Leben vieler nichtmenschlicher Tiere vorstellen, und für sie ist es ein gutes Leben; aber das Leben des Menschen, und tatsächlich selbst das Leben einiger nichtmenschlicher Tiere, hat reichere Möglichkeiten: Trauer, die Liebe anerkennt, Reue, die moralisches Versagen zugibt, und die Möglichkeit der Veränderung des eigenen Selbst.

Bedeutung und das Erzählen der eigenen Geschichte Es gibt jedoch noch eine weitergehende These, die wir zumindest erwägen sollten: In den Bruchstücken des eigenen Lebens eine Geschichte zu finden oder sie daraus zusammenzufügen, ist eine Möglichkeit, das Leben sinnvoller, lebenswerter zu machen. Die Rückschau auf das eigene Leben ist, wird sie auf eine bestimmte Art und Weise durchgeführt, nicht nur das Finden oder Bejahen von Sinn: Es ist eine Möglichkeit, diesen zu konstruieren. Diese These, die mit Nietzsche und einigen Romantikern in Verbindung gebracht wird, beinhaltet ein anfänglich überzeugendes Bild dessen, was es für etwas bedeutet, einen Sinn zu haben. Die allgemeine Idee, die dahinter steht, besagt, dass unser Leben wie eine beliebige Aneinanderreihung von Zufällen aussehen kann, und darin liegt etwas Würdeloses, etwas, das unserer Menschlichkeit nicht vollständig gerecht wird. Religiöse Lehren lösen dieses Problem, indem sie eine äußere Bedeutungserzählung liefern, anhand derer die Gestalt eines Lebens, seine Fortschritte oder Rückschläge, beurteilt werden können. Wird hingegen der Sinn oder die Bedeutsamkeit unseres Lebens nicht durch eine religiöse Erzählung gestiftet, dann liegt es an uns, unserem Leben einen Sinn zu geben. Aus den Zufallsmaterialien des Lebens eine zusammenhängende Erzählung zu machen, ist eine gute Methode, dies zu tun.

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Die Rückschau leistet dabei nicht nur die Konfrontation mit der Vergangenheit, sondern sie wählt aus und gestaltet, um ein Kunstwerk zu schaffen, wo es zuvor nur reinen Zufall gab. Wenn wir diesen Weg gehen, erkennen wir, dass der Vergangenheit zugewandte Emotionen einen doppelten Vorteil haben: Sie sind Teil der Konfrontation mit uns selbst, doch sie spielen darüber hinaus auch eine Rolle bei der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte, da wir in der Begegnung mit unserer Vergangenheit danach streben, ihr die Form eines literarischen Kunstwerks zu geben. Es gibt in diesem Streben viel Bewundernswertes, aber es hat auch seine problematischen Aspekte. Erstens leidet es stark unter dem Butor-Problem, denn in dem Moment, in dem man rückblickend erzählt, lebt man insofern kein zukunftsgerichtetes Leben mehr. Schreibt man seine Autobiographie, so ist es sehr wahrscheinlich, dass man sich von Interaktionen in der Gegenwart abwendet. Die Psychoanalyse scheint dieses Problem nicht zu haben, da ein guter Analytiker die Aufmerksamkeit des Analysanden auf die gegenwärtige Lebensaufgabe gerichtet hält, deren Bewältigung durch rückblickendes Verstehen unterstützt werden soll. Ebenso wenig weckt die Psychoanalyse die Erwartung, dass alles Vergangene zu einem ordentlichen und ästhetisch ansprechenden Ganzen zusammenpasst, eine Erwartung, die eindeutig gegen das fortschreitende Leben steht, da das entstehende Muster dadurch nur allzu leicht gestört werden könnte. Ein weiteres Problem ist, dass die erzählerische Idee der Bedeutung des Lebens dem Leben und seiner tatsächlichen Unordnung feindlich gegenüber zu stehen scheint. Du nimmst heraus, was „überflüssig“, „monoton“, „trivial“ und so weiter ist. Doch auch das ist Leben. Man stellt sicher, dass es einen deutlichen und einfachen, oder zumindest nicht zu komplizierten, Handlungsbogen gibt. Das Leben folgt jedoch keinem literarischen Handlungsablauf, sondern ist typischerweise viel facettenreicher und multidirektionaler. Ebenso wenig sind reale Personen wie literarische Figuren. Sie fügen sich nicht ordentlich in einen Handlungsablauf, und mit ihnen in Beziehung zu treten erfordert, dass man sich mit Dingen beschäftigt, die aus literarischer Sicht unordentlich, idiosynkratisch oder sogar langweilig sind. Cicero und Atticus sind ausgezeichnete Freunde, da sie nicht versuchen, die Vorkommnisse des Alltags in einen ordentlichen Entwurf einzupassen. Wenn sie versucht waren, das Heroische darzustellen (eine Versuchung, der Cicero in anderen Freundschaften selten entging!), erlaubten sie der Realität des Freundes und seinen alltäglichen Erfahrungen dieses konventionelle Verlangen zu verdrängen. In Beziehungen zwischen den Geschlechtern kann es eine noch größere Gefahr geben, dass der Wunsch nach einer geordneten Erzählung den realen Menschen geschlechtsspezifische Klischees auferlegt. Die Kultur sagt uns, wie „die Geschichte eines Mannes“ aussehen soll, und was zu „der Geschichte einer Frau“ gehört. Und allzu oft

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sind wir mit ­einer Lebensgeschichte nur dann zufrieden, wenn sie diese konventionelle Gestalt annimmt. Das gleiche Problem existiert in der Beziehung zu uns selbst. Man kann nicht auf vernünftige Weise auf sich selbst hören, wenn man entschlossen ist, sein eigenes Leben in eine vertraute Handlungsabfolge zu zwingen; und häufig verdrehen geschlechtsspezifische Erwartungen diese Aufmerksamkeit noch weiter, indem sie für Männer eine heroische Erzählung, für Frauen eine von Liebe und Verbundenheit verlangen. Wir sollten die Idee, die Geschichte des eigenen Selbst zu erzählen, nicht völlig ablehnen, aber wir sollten uns der Gefahren bewusst sein, die dieses Vorhaben mit sich bringt, wenn wir nicht die dominanten gesellschaftlichen Erwartungen überdenken, die zu Verzerrungen und Vereinfachungen führen, und wenn wir uns nicht fragen, welche reichen Bedeutungsschätze in alltäglichen Gesprächen und in vielen nicht zielgerichteten Interaktionen liegen. Wenn wir nun noch einmal an die Whitmansche Kritik des körperlichen Ekels erinnern, die ich in meinem Beitrag zu Kapitel 4 über alternde Körper gelobt habe, können wir hinzufügen, dass die meisten Erzählungen gewöhnliche Körperfunktionen weglassen und somit eine Art Scham und Selbstscham zeigen, die ich an anderer Stelle in diesem Buch kritisiert habe. (Joyces Ulysses untergräbt diese Art von narrativer Abscheu auf liebevolle Weise.) Also: Erzählen sollte man nur, wenn man bereit ist, in aller Freiheit eine unkonventionelle und (in jeder Hinsicht) auch unschöne Geschichte zu erzählen. Das Leben muss – in gewisser Weise und mit dem Ziel der eigenen Veränderung und Bereicherung des Lebens – rückwärtsgewandt gelebt werden. Diese retrospektiven Projekte müssen die doppelte Gefahr der Vergangenheitsverhaftung (Mary Tyrone) und des Präsentismus (meine Großmutter) vermeiden; und wir erkennen jetzt, dass sie auch die Misanthropie des Ästhetizismus, den Hass des Lebens und des Selbst vermeiden müssen, der darin besteht, das Ungeordnete und Formlose abzulehnen.

Kein Bedauern und ein Lob der Lebensgemeinschaften von Senioren Saul Um auf reflektierte Weise altern zu können, muss man aus der Vergangenheit lernen können. Wenn das, was wir lernen, verallgemeinert und an andere weitergegeben werden kann, dann sollten wir gute Antworten bereit haben, wenn jüngere Menschen sich an uns wenden, um Erkenntnisse zu erhalten oder zu fragen: „Wenn du noch einmal leben könntest: Was würdest du anders machen? Was bedauerst du?“ Keine

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gute Antwort etwa ist die, man hätte eine schlechte Ehe vermieden, Chinesisch studiert oder Google-Aktien gekauft, denn diese Dinge wissen die meisten von uns erst im Nachhinein. Sie mögen zum Ausdruck bringen, dass man Pech gehabt hat, aber es liegt kein aufrichtiges Bedauern darin und keine Erkenntnis für junge Zuhörer. Eine bessere Antwort könnte sein, dass man Sprachen hätte lernen sollen; denn wir hätten wissen können und sollen, dass das Leben reicher und unser Verständnis für andere Menschen vollständiger wäre, wenn wir uns um Sprachkenntnisse bemüht hätten. Wenn junge Menschen um Rat fragen, denke ich, dass sie nur nach solchem Bedauern fragen, um ernsthafte Fehler zu vermeiden, indem sie aus unseren lernen. Ein solcher Rat ist wertvoller, wenn er keine Selbstrechtfertigung darstellt. „Ich fand einen guten Job und blieb meinem Arbeitgeber 40 Jahre lang treu, und das hat mich sehr glücklich gemacht“, ist nicht überzeugend: sowohl, weil der Zuhörer denken könnte, dass sich die Zeiten geändert haben, als auch, weil der Sprecher eine Lebensgeschichte ohne Abenteuer zu rechtfertigen scheint. Im Gegensatz dazu klingt die Aussage „Ich war drei Mal untreu und jedes Mal verursachten meine Handlungen allen, einschließlich mir selbst, großen Schmerz“, nach Lebensklugheit. Die Aussage könnte sich auf Arbeit oder Liebe beziehen, und sie vermittelt Informationen, die nur schwer zu erlangen wären oder einen teuer zu stehen kämen. Guter Rat kann sogar von unglücklichen oder sogar psychisch kranken Personen kommen. Sie haben die Tendenz, über vergangene Fehler oder Unglücksfälle nicht hinwegzukommen, und ihr Bedauern steht neuen Abenteuern, Experimenten und Zufriedenheit im Wege. Wenn man jedoch Fehler verallgemeinern kann, könnten andere von ihnen lernen. Im Idealfall würden wir aus dem lernen, was andere bereut haben, und so selbst nichts bedauern müssen. Einige Ratschläge dieser Art sind ziemlich einfach. „Sprich nach dem 60. Lebensjahr nicht über deine gesundheitlichen Probleme, es sei denn, du möchtest Menschen langweilen“; „Verbringe Zeit mit deinen Eltern und Kindern, weil diese Gelegenheiten wertvoll sind“; sowie „Reise und tausche dich mit verschiedenen Menschen aus“ sind gute Ratschläge, die aus jahrelanger Erfahrung und, sehr wahrscheinlich, aus gelegentlicher Reue stammen. Geht es jedoch um die größeren Fragen des Lebens, leisten Essays und Romane mehr, als die Reflexionen eines einzelnen Menschen vermitteln können. Martha weist auf eine solche Lektion hin: Lerne aus der Vergangenheit, aber lasse dich von ihr nicht ersticken (Vergangenheitsverhaftung) oder zu einer oberflächlichen, um sich selbst kreisenden Person (einem Präsentisten) machen. Ich denke, Marthas Haltung gegenüber den Präsentisten ist viel zu hart, weshalb ich etwas zur Verteidigung glücklicher Menschen sagen werde, die wissen, wie man das Beste aus dem gegenwärtigen Moment macht. Menschen, die ihr Leben mit zunehmendem Alter vollkommen ändern, können bewundernswert sein. Aber es gibt auch die größere psychologische Frage: Kann eine Einstellung oder eine Art zu leben erlernt werden?

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Rückschau zu halten ist besonders für Pessimisten und Menschen, die ständig negative Gedanken mit sich herumtragen, ein Problem. Romanautoren, Therapeuten und Kindergärtnerinnen erkennen, dass wir ein glücklicheres Leben hätten, wenn wir statt Trübsinn gute Laune verbreiten würden, und sei es nur, weil andere Menschen dann freundlicher auf uns reagieren würden. Doch Menschen zu sagen, sie sollten „besserer Stimmung sein“, ist selten erfolgreich. Außerdem gibt es auch charmante Miesepeter. Trauerratgeber versuchen einen Mittelweg zu finden: Erkenne deine Trauer an, lasse sie ihren Lauf nehmen, und sieh dann nach vorne. Es ist nicht sicher, dass diese Anweisungen für Menschen geeignet sind, die zu Schuldgefühlen oder Stress neigen, von Depressionen ganz zu schweigen. Viele Bestseller haben Erfolg, weil die Menschen gerne über sich selbst lesen – sie bekommen Bestätigung mit ein wenig beigemischter Inspiration –, nicht weil sie bewährte Heilmethoden enthalten. Im Prinzip ist Bedauern wertvoll, wenn man daraus lernt, oder wenn einem vergeben wird, weil man Reue bewiesen hat. Es funktioniert jedoch wahrscheinlich am besten für vorausschauende, optimistische Menschen – und die brauchen wahrscheinlich ohnehin keinen Rat. Ich fürchte, dass Eugene O’Neills Theaterstück Eines langen Tages Reise in die Nacht – obwohl es eine brillante Analyse gestörter Beziehungen ist – denjenigen, die davon zu lernen hoffen, wahrscheinlich nicht viel helfen wird. Manche Menschen sind zukunftsorientierte, fröhliche Typen, mit genügend Ausgeglichenheit oder Rückschau auf ihr Leben, um soziopathisches Verhalten zu vermeiden, während andere einfach nur schwermütig sind. Wenn diese Dunkelheit mithilfe von Psychopharmaka aufgehellt werden kann, haben sie Glück. Wenn nicht, schaffen es nur die Wenigsten, sich aus eigener Kraft von der Dunkelheit zu befreien. Betrachten wir den Unterschied zwischen gerecht zugewiesener Schuld und Unglück. Gary fährt zu schnell und unter Alkoholeinfluss, und beendet dadurch auf tragische Weise das Leben von Amir. In einem Roman gäbe es irgendeine Laune des Schicksals, die Amir zur falschen Zeit an den falschen Ort brachte; im wirklichen Leben müssen Leute wie Gary jedoch zunächst einmal abgeschreckt oder erzogen werden. Wer rücksichtslos fährt, geht ein viel größeres Risiko ein, jemanden zu töten; Gary kann sich von dem Unfall erholen, wenn seine Reue ihm eine Lektion erteilt; aber der Weckruf kostet Amir das Leben. Im Gegensatz dazu fährt Allie sicher, aber aufgrund von irgendwelchen misslichen Umständen, wie etwa unsichtbarem Eis auf der Straße, gerät sie ins Schleudern, ihr Wagen trifft Gregory und tötet ihn. Vielleicht fiele es ihr schwer, über diesen tragischen Unfall hinwegzukommen. Sie könnte sich selbst die Schuld dafür geben, besonders wenn Gregory ein Kind ist. Sie und Gary mögen beide voller Reue und unglücklich sein, aber nur einer von ihnen ist schuldig. Auch hier bin ich mir nicht sicher, ob eine rationale Erörterung der Situation Allie helfen würde, zu erkennen, dass sie nach vorne schauen und sich nicht von der Reue

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verzehren lassen sollte. Bekanntlich fühlen sich viele Menschen ihr Leben lang schuldig, wenn sie einen Krieg oder ein traumatisches Ereignis wie den Holocaust überlebt haben, während viele geliebte Menschen und Nachbarn umkamen. Einige profitieren von Therapien und davon, dass man ihnen jahrelang immer wieder klar macht, dass sie Opfer und daher unschuldig sind; aber die meisten von denen, die ihr Leben guten Mutes weiterlebten, scheinen aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Also ja, (1) es ist großartig, wenn Menschen aus der Vergangenheit lernen können, ohne in dem, was hätte sein können, zu versinken oder Schuld zuzuweisen, aber (2) es ist auch gut, von verwerflichem Verhalten abzuschrecken. Und, zu guter Letzt, (3) könnte es ebenso wenig helfen, Menschen zu sagen, sie sollten sich optimal auf die Zukunft vorbereiten, wie es helfen würde, wenn man Trauerklößen sagte, sie sollten besserer Laune sein. Und dann gibt es die der Gegenwart verhafteten Menschen, die „Präsentisten“, wie Martha sie nennt, einschließlich der Bewohner von The Villages in Florida, ganz zu schweigen von den Kreuzfahrtschiffen, auf denen sich viele Rentner genussvoll nur mit sich selbst beschäftigen. Ich sehne mich nicht nach diesen Orten und ich weiß, dass dies auch für Martha gilt. Doch sie würde ja auch gerne bis in ihre Siebziger und Achtziger hinein arbeiten, während die meisten Menschen in den Ruhestand gehen wollen; sie möchte von Studenten und neuen Ideen umgeben sein, während viele Menschen junge Leute, und besonders Schulkinder, lieber von ihren Oasen ausschließen. Ein anderer Kollege machte The Villages wegen ihrer Wild-West-Filmen nachempfundenen Ladenfronten, ihren Mini-Disney-Gemütserregungen und ihrer Werbung für Golf und andere „weiße“ Aktivitäten (die der anderer Immobiliengeschäfte, die sich an Rentner richten, gleicht), lächerlich.14 Doch was ist so schrecklich daran, dass Menschen das letzte Drittel ihres Lebens genießen wollen? In den USA leben heute etwa fünf Prozent der älteren Menschen in Wohngemeinschaften für Senioren. Floridas The Villages ist das am schnellsten wachsende und größte Ruhestandsziel in den USA. The Villages wirbt für sich als eine Gemeinschaft für aktive Senioren, und die meisten Untergemeinschaften benötigen mindestens­ einen 55-Jährigen in jeder Residenz. Jeder, der unter 19 Jahre alt ist (also im schulpflichtigen Alter), muss seine Besuche auf dreißig Tage im Jahr beschränken. Der Wohnungsbestand und umfangreiche Freizeitangebote sprechen den Geschmack der amerikanischen Mittelschicht an und spiegeln ihn wider. Die Bewohner organisieren Hunderte von Clubs und Hobbys und nehmen daran teil. Sie nutzen zahlreiche Erholungszentren, Schwimmbäder und Golfplätze, von denen einige für sämtliche Bewohner ohne Aufpreis zur Verfügung stehen. Die Infrastruktur, Landschaftsgestaltung, das Radioprogramm, der Newsletter und die Werbung könnten am besten als

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optimistisch und lebensfroh beschrieben werden. Es gibt viele Kurse und Bildungsangebote, wobei die meisten sich auf Selbsthilfe und Spiritualität konzentrieren, mit gelegentlichen Aufführungen historischer Begebenheiten und anderen eher populären als anspruchsvollen Programmen. Das Gleiche gilt für Musik und andere Unterhaltung: Es gibt sehr viel ältere Popmusik, und klassische Stücke werden oft in gekürzter Form wiedergegeben. Die Zunahme und Beliebtheit von Orten wie The Villages ist eine positive, keine schlechte Nachricht. Die wohlhabendsten ein oder sogar zehn Prozent der Pensionäre würden es vielleicht vorziehen, in Manhattan oder Palm Springs zu leben und kulturelle Angebote mit Menschen aller Altersgruppen zu genießen, doch das ist für die meisten Amerikaner nicht erreichbar. Stellen wir uns den Ruhestand aus der Perspektive des durchschnittlichen Rentners vor, der zwischen 1930 und 1960 geboren wurde. Das sind Menschen, die ohne Klimaanlage aufgewachsen sind, ohne moderne Schulen und Colleges, mit Pfadfinder- und Kirchensommerlagern statt Musik-, Schauspiel- und Computercamps. Sie erlebten mit, wie die Gesellschaft um sie herum zunehmend wohlhabender wurde und nahmen in mancher Hinsicht nicht an diesem Wohlstand teil, während sie arbeiteten und ihre Familien großzogen. Das durchschnittliche Einkommen der Bewohner von The Villages lässt vermuten, dass sie Leistungen der Sozialversicherung empfangen und darüber hinaus nur noch über Einkommen in bescheidener Höhe verfügen. Sie haben wahrscheinlich ihre Häuser in anderen Teilen der USA verkauft und den Erlös in Häuser im Wert von 200.000 bis 500.000 Dollar in diesem mitten in Florida gelegenen Wohnprojekt investiert. Das Verhältnis von Republikanern und Demokraten beträgt hier zwei zu eins. Dies ist nicht Palm Beach oder San Diego, wo die durchschnittlichen Hauspreise viel höher liegen. Und der Altersdurchschnitt ist viel höher als in Clearwater in Florida oder Scottsdale in Arizona, die den höchsten Prozentsatz von Rentnern der Städte mit 100.000 Einwohnern oder mehr haben. In diesen beiden Städten sind 20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, während es in The Villages 57,5 Prozent sind. Es ist erwähnenswert, dass die meisten Orte, die Pensionäre anziehen, einschließlich Scottsdale, Palm Springs und Chappaqua, New York (berühmt durch Bill und Hillary Clinton), genauso weiß sind wie The Villages, jedoch viel höhere mittlere Einkommen und Immobilienpreise haben. The Villages und viele ähnliche Orte mögen schnell wachsen, die meisten Rentner mittleren Alters ziehen es jedoch vor, in den Häusern und Gemeinschaften zu bleiben, in denen sie gearbeitet und ihre Familien großgezogen haben. Natürlich können einige sich nicht selbst versorgen und müssen in Pflegeeinrichtungen umziehen. Ich gehe davon aus, dass das phänomenale Wachstum von The Villages darauf zurückzuführen ist, dass nun Amerikaner mittleren Einkommens dort hinziehen, die endlich

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etwas von dem Wohlstand der Nation, die sie mit aufgebaut haben, genießen wollen. Während des größten Teils ihres Lebens sahen sie Menschen mit höheren Einkommen Auslandsreisen unternehmen, Zweitwohnungen kauften, Kinder an private Colleges schickten und den New Yorker abonnieren. Im Ruhestand mögen einige neue Vorlieben entwickeln, aber die meisten wollen nur in Ruhe gelassen werden, damit sie die Aktivitäten und Fernsehprogramme genießen können, die sie bereits mögen. Nach vierzig Jahren Arbeit haben sie sich ein stressfreies Leben verdient. Leisureville, wie es auf clevere Weise und mit Recht genannt wird, ist ihr Pendant zu den „safe spaces“, die gegenwartsverhaftete College-Studenten einklagen. Die Universitätsprofessoren erheben in der Regel Einwände gegen beide Trends und wünschen sich, dass Jung und Alt von neuen Ideen herausgefordert werden, die den antiken Autoren oder der zeitgenössischen Wissenschaft entstammen. Aber der Markt sagt uns, dass die meisten Senioren andere Herausforderungen und keine intellektuelle Demütigung – als was sie es häufig sehen – oder neue Belastungen wollen: Sie wünschen sich körperliche und geistige Hausmannskost. Die Seniorengemeinschaft ist ein Ort, an dem sie die Gesellschaft der anderen genießen, mehr Sex erleben und sich durch ihr Alter nicht stigmatisiert fühlen können. Sie hatten während ihres Arbeitslebens, in dem sie von Konjunkturzyklen, unberechenbaren Arbeitgebern, politischen Entwicklungen, gesundheitlichen und familiären Problemen oder Erfolgen hin und her geworfen und gelegentlich auch gerettet wurden, nur wenig Kontrolle. Ihr Ruhestandstraum ist eine Umgebung, die sie kontrollieren können und in der sie geschätzt werden. Es kann sein, dass sie in dieser Zeit des Ruhestands ein abgesondertes Leben führen wollen oder feststellen, dass sie dies tun. Die zusätzliche Behaglichkeit, die scheinbar viele Menschen durch die Interaktion mit anderen mit einer ähnlichen Vergangenheit oder verwandten Überzeugungen erleben, ist wohl generationsübergreifend. Die Freunde meiner Eltern gehörten alle zur gleichen religiösen Gruppe und Hautfarbe. Meine sind in religiöser Hinsicht deutlich vielfältiger und wesentlich vielfältiger in Bezug auf ihre Herkunft und ethnische Zugehörigkeit. Die Freunde meiner Kinder sind in Bezug auf ihre Herkunft, ethnische Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung noch vielfältiger, wenn auch weniger vielfältig in politischer Hinsicht. Zum Großteil folgen die Freundschaftsmuster im Erwachsenenalter den demografischen Merkmalen der von uns besuchten Universitäten. Gegenwärtig können beispielsweise chinesisch-amerikanische Pensionäre Altersheime finden, die auf ihre Sprach- und Ernährungspräferenzen eingehen. Lutherische Rentner können Glaubensgemeinschaften finden, die auf sie eingehen. Alpha Kappa Alpha entwickelt Ivy Acres, eine Seniorengemeinde in North Carolina, deren Zielgruppe Afro-Amerikaner über 55 Jahre sind. Selbst der Loyal Order of Moose verfügt über Moosehaven in Florida, eine „Stadt der Zufriedenheit“ eigens für seine pensionierten Mitglieder. Bauträger arbei-

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ten oft mit Kirchen zusammen, um Gemeinschaften zu planen, die auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet sind. Sie werben mit Kochkünsten aller Art, Unterhaltung und anderen Vergnügungsangeboten, die an einem bestimmten Publikum orientiert sind – genau wie The Villages Werbung für Golf macht. Alle diese Gemeinschaften geben an, dass sie unterschiedliche Bewohner willkommen heißen, doch ihre Zielgruppen sind eindeutig. Noch ältere Menschen können in Pflegeheimen unterkommen, in denen die Gruppen nach Stockwerken getrennt sind. Sie bieten Essen, Musik und andere Dienste an, die für die jeweilige ethnische Gruppe attraktiv sind. Wenn diese Absonderung wie ein Schritt zurück in die Vergangenheit wirkt, sollten wir das den Trägern von Bauprojekten nicht zum Vorwurf machen. Die meisten Menschen haben Präferenzen, die sich in der Wahl des Ehepartners zeigen, und später daran, mit wem sie den Ruhestand verbringen. Ich vermute, dass die Ruhestandsgemeinschaften der nächsten Generation vielfältiger sein werden, zum Teil deshalb, weil die Schulen, Universitäten und Arbeitsplätze der dann lebenden Menschen infolge rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen wesentlich vielfältiger sein werden. Ich wäre überrascht, wenn es in 50 Jahren noch viele chinesisch-amerikanische Seniorensiedlungen gäbe; wohlhabende chinesische Amerikaner und solche der Mittelschicht werden häufig Mitglieder anderer Gruppen geheiratet haben und außerdem werden sie zusammen mit ihren Nachbarn und Studienfreunden in Rente gehen. Es könnte in der Tat sein, dass Universitäten Ruhestandsgemeinschaften finanziell unterstützen und ihr Organisationsprinzip sind. Es stimmt, dass diese Pensionäre in Leisureville der Gegenwart verhaftet sind, wie Martha sie charakterisiert. Doch alles deutet darauf hin, dass sie – wenn sie Rückschau halten – mehrheitlich zufrieden sind und nicht voller Bedauern. Wenn ihre Kinder gute Wege eingeschlagen haben, sind sie besonders zufrieden und sogar prahlerisch. Wenn nicht, konzentrieren sie sich auf die Enkelkinder oder versuchen einfach, ihr Golfspiel zu verbessern. Sie wünschen sich sichere Räume, und die meisten Bürger würden meinen, dass sie sie verdient haben. Ihr Leben ist nicht frei von schlechten Nachrichten. Zum einen haben sie Fox News und das öffentliche Radionetz; doch sie müssen auch an den Trauerfeiern für Mitbewohner teilnehmen, und dies erinnert die alternden Trauernden daran, dass ihre Zeit knapp ist. Wenn sie dächten, sie hätten noch viele Jahre vor sich, würden sie vielleicht Sprachen lernen, aber da sie realistisch sind, entscheiden sie sich, die Gesellschaft der anderen zu genießen, Golf zu spielen, zu singen, zu stricken und hundert andere Dinge zu tun, für die sie jetzt Zeit haben. Gewiss beneiden wir alle manchmal ihre Gemeinschaften und wünschen uns, dass auch wir unter so vielen Menschen leben könnten, die unsere Vorlieben teilen.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1 Ciceros Gespräche in Tusculum, sein einziges Buch über die Emotionen, wurde um das Jahr 45 v. Chr. geschrieben, als er 61 Jahre alt war. Senecas Schriften über die Emotionen verteilen sich über seine gesamte Laufbahn als Autor, doch die Briefe an Lucilius, eines der wichtigsten dieser Werke, wurden in der Mitte seiner Sechziger geschrieben. Beide starben innerhalb von zwei Jahren nach den jeweiligen Werken durch Attentate (Seneca durch Selbstmord, allerdings auf Befehl des Kaisers). 2 Sie hat zwei überlebende Töchter, Cassandra und Andromache (eine Schwiegertochter), aber sie sind ebenfalls Sklavinnen, und eine von ihnen verlor durch Vergewaltigung den Verstand. 3 Dies gilt nicht nur für europäisch-amerikanische Kulturen, sondern auch für Indien, wo die Psychoanalyse, obwohl sie von der politischen Rechten der Hindus angegriffen wird, sehr populär und einflussreich ist. 4 1909–1978. Das fragliche Porträt wurde wahrscheinlich in der Mitte der 1950er-Jahre gemalt. 5 Eine starb im Alter von 102 Jahren, eine mit 103 und eine, die Ungesunde, mit 95 Jahren; sie hat sie alle überlebt. 6 Vergleiche die Analyse in meinem Buch Zorn und Vergebung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2017). 7 Siehe Zorn und Vergebung, Kapitel 4. 8 Ich verwende die Ausgabe der Yale University Press (2002), mit einem Vorwort von Harold Bloom. Alle Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. 9 Diese Umstände sind, in gewissem Umfang, auch jene der frühen Jahre von O’Neill. O’Neill (1888–1953) verbrachte von 1912 bis 1913 zwei Jahre in einem Tuberkulose-Sanatorium und wurde geheilt. Sein Vater James war wirklich ein bemerkenswerter Schauspieler, obwohl viele glaubten, dass er sein Talent damit vergeudete, die Rolle von Dumas’ Graf von Monte Cristo mehr als 6.000 Mal zu spielen. Er starb 1920 im Alter von 72 Jahren nach einem Autounfall. Trotz der in dem 1911 erschienenen Theaterstück dargestellten Drogenprobleme gelang es Ella 1914 endgültig, sich von ihrer Morphiumsucht zu befreien und sie überlebte anschließend auch den Brustkrebs. Sie starb 1922 im Alter von 64 Jahren an einem Hirntumor. Jamie starb in den frühen 1920er-Jahren an Alkoholismus. Die in dem Stück erzählte Geschichte, dass er seinen Bruder Eugene, als dieser noch ein Säugling war, ungewollt mit den Masern ansteckte (woran dieser dann starb), entspricht der Wahrheit. 10 Ein unglücklicher Aspekt des Stückes ist, dass es Drogenabhängigkeit, zumindest zum Teil, als einen Charakterfehler darstellt. 11 Siehe Zorn und Vergebung, Kapitel 4, in dem ich Harriet Lerners The Dance of Anger (New York: Harper and Row, 1985) interpretiere. 12 Paris: Les Editions de Minuit, 1957. Es gibt eine englische Übersetzung mit dem Titel Passing Time; es ist eine schlechte Übersetzung des Titels, da die Idee der „Verwendung“ der Zeit für die Tragik des Romans von zentraler Bedeutung ist. Ich habe diese Übersetzung nicht verwendet; sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen stammen von mir. 13 New York: Grove Press, 2009.

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14 Lior Jacob Strahilevitz, „Historic Preservation and Its Even Less Authentic Alternative“, in Evidence and Innovation in Housing Law and Policy, Hrsg. Lee Fennell und Benjamin Keys (Cambridge: Cambridge University Press, 2017).

Kapitel 6

Liebe und Sexualität jenseits des mittleren Lebensalters Wie werden reife Frauen in Oper, Theater und Film dargestellt? Wonach sollte ein vernünftiger Mensch in der Liebe suchen? Warum spielt das Alter in romantischen Beziehungen eine Rolle? Wie sollten wir über „Lückenpaare“ denken, bei denen ein Partner viel älter ist als der andere?

Richard Strauss’ Lügen, Shakespeares Wahrheiten: ­ alternde Frauen, Sex und Liebe Martha Ein Essay über Liebe und alternde Frauen lässt sich auf vielerlei Weise beginnen. Eine besteht darin, mit der Populärkultur anzufangen, und ich werde im letzten Abschnitt dieses Essays in der Tat auf eine Reihe von Filmen eingehen. Wenn ich stattdessen mit einem „anspruchsvollen“ Werk beginne, und zwar mit einer Oper, so offenbart diese Wahl nicht nur meine Liebe zur Oper, sondern auch meinen Wunsch, den Mythen über die Liebe und das Altern, zumindest anfänglich, vom Standpunkt einer gewissen Distanz aus entgegenzutreten. Richard Strauss’ Der Rosenkavalier (1910), der beides ist, anspruchsvoll und populär, zumindest in einer nunmehr vergangenen Zeit, zeigt uns gewisse unheilvolle Lügen und Vorurteile. Seine Anschaulichkeit ergibt sich zum Teil aus unserem kulturellen Abstand zu dem Stück. Doch ich werde auch zu unserer eigenen Welt zurückkehren, wo ähnliche Lügen zu finden sind.

Eine verlogene und sentimentale Oper Der Rosenkavalier ist eines von wenigen als bedeutend angesehenen Kunstwerken,1 die sich intensiv mit dem Thema Liebe und Sexualität im Leben einer alternden Frau beschäftigen. Ein bekannter Kritiker, der darauf hinweist, dass es wahrscheinlich die beliebteste Oper ist, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, nennt sie „ein erhabenes Werk, dessen Charme und Schönheit es immer wieder gelingt, die Zuneigung des Publikums zu gewinnen.“2 (Nun, sie verführt nicht jeden!) Und sicherlich haben viele diesem Kritiker zugestimmt, und bewundern, wie wichtige Themen in der Oper abgehandelt werden. Die gewagte erotische Eröffnungsszene, in der sich die Mar-

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schallin mit dem Teenager Octavian im Bett befindet, direkt nach einer Situation sexueller Lust, die vom Orchester in der Ouvertüre mutig dargestellt wird, lässt viele Leute denken, dass nun eine ernsthafte Behandlung des Themas des Alterns von Frauen und vielleicht auch des Altersunterschieds folgen wird. Während sich das Drama entfaltet und die Marschallin akzeptiert, dass sie Octavian aufgeben muss, um ihn einer Frau in seinem Alter zu überlassen, sinnt sie auf bittersüße Weise über die Notwendigkeit nach, sich dem unausweichliche Fortgang der Zeit zu ergeben, und so auf leidenschaftliche Intimität zu verzichten und de facto in das Kloster zurückzukehren, aus dem ihr (vollkommen abwesender) Ehemann sie viele Jahre zuvor geholt hat. Dieses Nachsinnen und die gesamte Struktur der Handlung gelten als inhaltsschwer, und es war sicher Strauss‘ Absicht, die Marschallin als eine gute und weise Frau darzustellen, als ein Vorbild dafür, wie Frauen sein und was sie tun sollten, wenn sie älter werden. „Ihre Weisheit und Allwissenheit sind überwältigend“, schwärmt der leichtgläubige Kritiker Burton Fischer. Und er fasst zusammen: Die Marschallin besitzt ein aufgeklärtes Bewusstsein und die Gabe der Einsicht, was ihr ein in die Tiefe gehendes Verständnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vermittelt: der Zeit. Ihr Feingefühl ermöglicht es ihr, mit sich selbst ins Reine zu kommen und die Geschichte … zu ihrem rechtmäßigen Ende zu lenken.3 Fischers übertriebene Rhetorik ist etwas irritierend, aber es besteht kein Zweifel daran, dass zahlreiche Interpreten und Zuschauer genau auf diese Weise darauf reagiert haben. Und es ist nicht zu bestreiten, dass Strauss sie so reagieren lassen wollte: Seine Marschallin gehört zu einer Reihe weiser und gelassener Frauen, die – in seinen reifen Jahren – an die Stelle der wahnsinnigen, psychologisch jedoch wesentlich interessanteren Heldinnen (Elektra, Salome) seiner frühen Jahre treten. Ich möchte die Antwort der Leser vorwegnehmen, indem ich der Marschallin die gebührende Anerkennung zolle. Sie ist eine liebenswerte Person, die will, dass andere glücklich sind. Sie ist nicht besitzergreifend oder tyrannisch. Sie weiß sich zu benehmen. Und sie äußert zumindest einen guten Satz über das Altern, am Ende ihrer berühmten Arie im ersten Akt: „Und in dem Wie – da liegt der ganze Unterschied“, der die wichtige Idee zum Ausdruck bringt, dass das Altern selbst zwar unvermeidlich eintritt, die Menschen jedoch viele Möglichkeiten haben, wie sie sich damit arrangieren. Es liegt auch etwas Liebenswertes in der musikalischen Fassung dieses Satzes – er endet nicht schwerfällig, sondern leicht, in der Luft schwebend, und man kann ihn sogar mit einem trillernden Lachen singen.

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Und dennoch. Die erste Lüge von Strauss und seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal, die ich als „die offensichtliche Lüge“ bezeichnen will, ist die Lüge von der Unvermeidbarkeit. Für eine Frau bedeutet alt zu werden nach der „Weisheit“ dieser Oper Abtreten und Verzichten. Das Leben einer Frau muss, wenn sie älter wird, notwendigerweise so geschlechtslos enden wie das Leben der Klosterschülerin, die sie einmal war. Das ist sein „rechtmäßiges Ende“. Das Publikum schluckt normalerweise die Lüge und applaudiert ihrem weisen Rückzug. Und es schluckt sie, obwohl das eigentliche Alter der Marschallin im Libretto nicht genannt wird und von Strauss später mit 32 angegeben wurde. Ich vermute, dass die Frauen im Publikum und auch einige Männer ein wesentlich höheres Alter annehmen, aber trotzdem: Sie akzeptieren einen kulturellen Mythos, den in Frage zu stellen interessant gewesen wäre. Strauss betreibt ein doppeltes Spiel: Indem er dieses Thema anspricht, erlangt er den Ruf, etwas gewagt zu haben, und doch befriedigt er sein Publikum, indem er etwas völlig Konventionelles darüber sagt. Weit davon entfernt, seine Zuhörer herauszufordern (was er zu tun scheint, und wofür er Anerkennung bekommt), besänftigt und schützt er sie vor echten Zweifeln und realen Fantasien. Nun ja, ich würde sagen, das hätten die Leser erraten, auch ohne etwas über die Oper zu wissen. Also ist nicht nur die Lüge, sondern auch meine bisherige Kritik offensichtlich. Jetzt kommen wir allerdings zu der subtileren Lüge. Warum akzeptieren nicht nur Strauss’ zeitgenössische Zuhörer, sondern auch gegenwärtige Zuschauer die Unvermeidbarkeit des Rückzugs der Marschallin? Betrachten wir die erotische Wahl, die sie getroffen hat. Dies ist eine Frau, die nach eigenen Angaben, ohne große­ Zustimmung aus dem Kloster in eine lieblose Ehe mit einem Mann geholt wurde, der sich während der gesamten Oper auf der Jagd befindet und sich nicht einmal darum bemüht, in Erscheinung zu treten.4 Wäre sie also wirklich die intelligente und weise Frau, die sie sein soll, was würde sie wohl von einem Liebhaber erwarten? Sicherlich eine sexuelles Beziehung, aber das ist nicht das einzige, was ein Teenager bieten kann. Sie würde sehr wahrscheinlich auch nach Gesprächen, nach Humor und nach echter persönlicher Liebe suchen. Stattdessen wendet sie sich an einen Jungen, der nicht älter als 17 Jahre (das von Strauss angegebene Alter) und möglicherweise sogar etwas jünger ist, da es plausibel sein soll, dass die Rolle von einer weiblichen Mezzosopranistin gesungen wird. Sie sucht eine Beziehung, die ganz auf seinem verliebten sexuellen ­Ungestüm basiert und die absolut keine Möglichkeit von Gesprächen oder echte persönliche Intimität bietet, da Octavian, soweit wir ihn kennenlernen, zudem ein sehr dummer Teenager ist, und sei es auch mit guten Manieren. Unter den jungen Burschen in Opern hat Mozarts Cherubino (das Vorbild für Octavian) viel mehr Tiefe. Er zieht Liebe reiner verliebter Sexualität vor, und er kann ein­

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wunderschönes Lied ­komponieren, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. (Die große Arie „Voi che sapete“ wird als sein eigenes poetisches und musikalisches Werk dargestellt und gibt seinem Charakter eine Art und Bedeutung, die Octavian völlig fehlt. Natürlich singt auch Octavian reizende Texte, aber nicht über die Liebe und ohne den Hinweis d ­ arauf, dass er sie komponiert hat.) Cherubino hat außerdem einen wunderbaren Sinn für Humor, während Octavian in dieser Beziehung ziemliche Defizite aufweist (wahrscheinlich, weil Strauss und Hofmannsthal nicht Mozart und Da Ponte sind). Im Wien des 18. Jahrhunderts gab es sicher viele weit interessantere Männer, von denen viele an Liebschaften mit verheirateten Frauen interessiert waren, da die Welt, die uns die Oper zeigt, eine recht freizügige ist. Was also hat diese weise Frau mit „feinem Gefühl“ und einem „in die Tiefe gehenden Verständnis“ getan? Aus allen vorhandenen Männern hat sie einen ausgewählt, der nur an Sex interessiert ist, der nicht die Fähigkeit besitzt, intelligente Gespräche zu führen, und der überhaupt kein Inter­ esse an ihr als Person hat, außer als schöne und reife Sexlehrerin und als sicher verfügbares Objekt, da in seiner Welt unverheiratete Frauen aus guter Familie tabu waren. Warum hat sie diese Wahl getroffen? Aus Unsicherheit? Aus einem Wunsch nach Kontrolle und Abstand? Kein einziges plausibles Motiv wird uns je vorgeschlagen. Und diese Abwesenheit eines Motivs, besonders bei einer so weisen Person, bestätigt die Lüge: Die einzige (implizit) angebotene Erklärung ist, dass dies die einzige Option ist, die sie hat. Diese „Wahl“ erklärt natürlich, warum das Ende der Beziehung als unvermeidlich empfunden wird. Es gibt nichts, was sie tragen könnte, und so kann Octavian anschließend ebenso gut eine reiche Erbin heiraten, der er auch nichts Interessantes zu sagen hat, und damit tun, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Bald wird er zur Jagd aufs Land fahren, und Sophie wird allein sein (das in ihrer eigenen Generation „Unvermeidliche“ durchleben). Im 21. Jahrhundert könnten wir sogar Erleichterung über das Ende der Beziehung empfinden, da die Beziehung zwischen der Marschallin und Octavian eine Andeutung von Pädophilie aufweist und nicht nur unangemessene Asymmetrie und Kontrolle. Diese Unangemessenheit hat natürlich nichts mit dem Altersunterschied an sich zu tun (wie die meisten Kommentatoren seltsamerweise nahelegen). Der Altersunterschied an sich bedeutet wenig oder gar nichts, wenn beide Parteien reife Erwachsene sind, die Intelligenz, Charakter und Esprit besitzen und miteinander reden können. Die Unangemessenheit hat allein mit der Tatsache zu tun, dass Octavian (abgesehen davon, dass er dumm ist) viel zu jung für eine reife Beziehung ist. An dieser Stelle muss ich eine Einschränkung machen, als Antwort auf einige (männliche) Leser, die meinen, ich hätte den Charme des 17-jährigen Jungen zu ge-

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ring eingeschätzt. Viele reife Männer, vielleicht sogar alle, haben ein jungenhaftes Selbst, eine Fähigkeit zu sexueller Neugier und freudiger Empfänglichkeit, die sehr zu ihrer Attraktivität beiträgt. Ich gebe gerne zu, dass dieser jungenhafte Aspekt und die entsprechende Idee der weisen Lehrerin entzückend sein können. Und vielleicht kann gerade eine ältere Frau, die vielleicht stärker entwickelte mütterliche Fähigkeiten als eine jüngere, mit diesem Aspekt besonders gut umgehen. Wie Donald Winnicott so schön formuliert, besteht die Aufgabe einer guten Mutter darin, „weiterhin sie selbst zu sein, ihrem Kind gegenüber einfühlsam zu sein, da zu sein, um spontane Gesten zu empfangen und um sich zu freuen.“5 Das ist tatsächlich auch eine passende Beschreibung eines guten Sexualpartners – da alle Erwachsenen auch Kinder sind und gelingende Sexualität liebevoll auf infantile Aspekte eingeht. Und obwohl Winnicott betonte, dass die „Mutterrolle“ von einem männlichen Erwachsenen genausogut wie von einem weiblichen gespielt werden könne, ist es sicherlich wahr, dass die Rolle des Bemutterns bei Mädchen kulturbedingt mit größerer Wahrscheinlichkeit stärker entwickelt ist, und zwar auf eine Weise, die sie möglicherweise besonders am Baby im Mann Gefallen finden lässt, und es (ihn) gerne annimmt. All das gestehe ich gerne zu. Ich gestehe jedoch nicht zu, dass diese schöne Realität der Aktion, einen Teenager zu verführen, eine Anziehungskraft verleiht, oder die Entscheidung dazu weniger traurig, ja sogar armselig macht. Hier also ist die subtile Lüge: eine einsame alternde Frau in einer unglücklichen Ehe, die als schön beschrieben wird, kann keine echte Liebe oder keinen wirklich interessanten und komplexen Liebhaber finden. Alles, was sie finden kann, ist ein hormongesteuertes Kind, das mit jedem schlafen würde, und sie nimmt, was sie kriegen kann. Daher macht sie sich selbst etwas vor und nennt dies (im 3. Akt) sogar „vollkommene Liebe“. Natürlich gibt es viele solcher Frauen in der jüngeren Geschichte und Literatur, wofür Mrs. Robinson vielleicht das berühmteste Beispiel ist. Aber wir halten sie zu Recht für unklug, bedauernswert und rücksichtslos, wie jene Gymnasiallehrerinnen, die gelegentlich vor Gericht stehen; nicht für weise, tiefgründig und vorbildhaft dafür, wie sich eine alternde Frau verhalten sollte, oder als wirklich charakteristisch für die ihr offenstehenden Optionen. Die subtile Lüge ist, dass eine weise Frau, wenn sie sieht, dass sie älter wird, in einem verzweifelten Ausbruch sexuellen Verlangens selbstverständlich eine unglaublich unangemessene erotische Wahl treffen und die Suche nach Liebe über Bord werfen wird (oder sich nicht darauf einlässt, da sie anscheinend nie danach gesucht hat). Und dann, da sie weise ist, wird sie das aufgeben und sich in ein Leben ohne Sexualität fügen – warum? Anscheinend, weil sie älter wird und kein intelligenter Mann, kein Mann, der nicht völlig unter dem Einfluss eines jugendlichen Überschusses von Hormonen steht, in ihre Richtung schauen wird. Das ist nicht nur eine Lüge, es ist eine generative Lüge, denn wenn Menschen

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beginnen, daran zu glauben, beeinflusst diese Überzeugung ihre Wahl. (Die Reifeprüfung [1967] lügt in ähnlicher Weise und mit ähnlicher Frauenfeindlichkeit, die eine neue Öffentlichkeit beeinflusst hat.) Und nun kommen wir zu einer weiteren Dimension von Strauss’ Verlogenheit. Warum in aller Welt hat er diese Handlung gewählt und warum hat er Octavian als so extrem jung dargestellt? Vielleicht glaubte er an seine eigene subtile Lüge über die Möglichkeiten einer alternden Frau. Doch vielleicht auch nicht. Er hat ein weiteres Motiv, das mit der Ebene der Aufführung zu tun hat. Er möchte, dass Octavian von einer weiblichen Mezzosopranistin gesungen wird, und angesichts der Opernkonventionen – zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts6 – kann er die Rolle von einer Mezzosopranistin nur spielen lassen, wenn er Octavian zu einem jungen Teenager macht. Die Wahl einer Mezzosopranistin hat eindeutige musikalische Vorteile und ermöglicht es ihm, wunderschöne Musik mit eng gesetzten Harmonien zu schreiben. Doch machen wir uns nichts vor: Er schafft auch eine gewisse Art von Pornografie, die seit Langem geläufig ist, bei der heterosexuelle Männer durch die Beobachtung des Liebesspiels von zwei Frauen erregt werden. Die Männer im Publikum können die gewagte erotische Eröffnungsszene anschauen, ohne diese Verbindung bewusst herzustellen, da Octavian ja ein Mann sein soll. Doch machen wir uns abermals nichts vor: Angesichts der Körper von Mezzosopranistinnen ist die Farce wahrscheinlich nicht besonders überzeugend, und so genießen sie gleichzeitig ein pornografisches Vergnügen. Bei diesem Genuss hätten sie wahrscheinlich ambivalente Gefühle, besonders in Gegenwart ihrer Ehefrauen oder Partnerinnen, hätte Strauss ihnen nicht mit seinem lügnerischen Doppelspiel geholfen. (Um meinen Fokus auf heterosexuelle Männer zu erklären: Die Oper ist unter homosexuellen Männern nicht besonders beliebt, außer wenn sie alle Opern mögen; Werke wie Brittens Billy Budd, die den männlichen Körper vorteilhaft darstellen, sind bei diesem Publikum wesentlich beliebter.) Und Frauen? Nun, die Hinweise auf die Popularität des Werkes legen nahe, dass viele zu Opfern seiner Lügen werden und die romantische Geschichte in ihrer dargestellten Form akzeptieren. Andere legen Widerspruch ein. Ich gehöre zu diesen. Nun kommen wir zu einer dritten Lüge, der subtilsten von allen. Diese Lüge ist, dass ein Publikum die Darstellung des Sexuallebens und der Gefühle einer alternden Frau nur in dieser Form akzeptiert – wo die alternde Frau dumm ist und eine unglaublich schlechte Wahl trifft und dann zur Vernunft kommt und auf diese Wahl verzichtet. Mit anderen Worten, die alternde Frau muss bestraft werden – und zwar doppelt, zuerst indem sie in eine dumme und oberflächliche Beziehung gestoßen und dann dazu gezwungen wird, sie mit hochtrabenden Worten über Zeit und Unumgänglichkeit zu beenden. Es ist wie in den alten Zeiten, in denen gleichgeschlechtliche Be-

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ziehungen zwischen Männern in der Literatur mit dem Tod enden mussten. Wie E. M. Forster in der „Schlussbemerkung“ zu Maurice ausführte, zur Erklärung dafür, warum er seine Veröffentlichung verschob (der Roman wurde 1913 geschrieben und schließlich erst 1971 posthum veröffentlicht), lag das Problem nicht darin, dass es in dem Roman um die Liebe zwischen Männern ging, sondern darin, dass er ein Happy End hatte: Ein Happy End war zwingend erforderlich. Ansonsten hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, zu schreiben. Ich war entschlossen, dass sich in der Literatur zwei Männer verlieben und dass ihre Liebe immer und ewig, wie es die Literatur erlaubt, dauern sollte … Hätte es unglücklich geendet, indem ein Bursche an einer Schlinge baumelt oder mit einem Selbstmordpakt, dann wäre alles gut gewesen, denn es hätte keine Pornografie und keine Verführung Minderjähriger bedeutet. Aber die Liebenden kommen ungestraft davon, und sie verleiten folglich zu einem Verbrechen.7 Was Forster schrieb, war natürlich wörtlich zu nehmen, denn homosexueller Geschlechtsverkehr wurde in Großbritannien erst 1967 entkriminalisiert. Sex zwischen einer alternden Frau und einem einwilligenden männlichen Partner war nie illegal! (Diese Gesetzeslücke war lange Zeit die Achillesferse der katholischen Naturrechtsargumente gegen die Entkriminalisierung des homosexuellen Geschlechtsverkehrs; denn nach dieser Ansicht könnte – und einige sagten: sollte – jeder Geschlechtsverkehr, bei dem es nicht zur Fortpflanzung kommen kann, durch das Gesetz verhindert werden.)8 Aber das Problem ist, kulturell und gesellschaftlich gesehen, sehr ähnlich. Das Publikum wollte damals homosexuelle Männer für ihr Sexualleben bestrafen, da es dieses missbilligte, und es wollte, dass der Romanautor diese Missbilligung zur Kenntnis nimmt. Das Publikum wollte damals und will heute die alternde Frau bestrafen, und so konstruiert es, mit Strauss’ Hilfe, eine ästhetische Fiktion von der „Unausweichlichkeit“ ihres Verzichts und der „tiefen Weisheit“ ihrer Zustimmung. Generell bestand eine wichtige Aufgabe der Literatur, besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber allzu häufig auch heute noch, darin, Menschen, die als sexuelle „Abweichler“ betrachtet werden, sei es die unverheiratete Mutter, sei es die ehrgeizige Karrierefrau, sei es die Ehebrecherin, sei es die Frau, die einfach nach einem intelligenten Partner suchte, einer gerechten Strafe zuzuführen.9 In diese Liste können wir leicht die alternde Frau aufnehmen, die die „Weisheit“ der Resignation vermissen lässt. Ist diese dritte Lüge jedoch eine Lüge? Ist es wirklich möglich, dem Publikum, wie es nun mal ist, die erotischen Entscheidungen einer alternden Frau attraktiv darzustel-

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len, sie als wirklich weise Frau zu zeigen, die eine gute und interessante Wahl trifft und dann mit dieser Wahl glücklich ist, zumindest so lange Literatur oder Geschichte es erlauben? Um zu erkennen, dass die Antwort auf diese Frage „Ja“ lautet, müssen wir uns nur einem Dramatiker zuwenden, der wesentlich tiefer sieht und viel berühmter ist als Hugo von Hofmannsthal: Shakespeare und seinem Stück Antonius und Kleopatra. Shakespeare hatte natürlich den historischen Hintergrund, und Cleopatra ist eine der faszinierendsten Figuren der Weltgeschichte. Ihre Liebesbeziehung zu Marcus Antonius ist zudem umfänglich belegt, und es war bekannt, dass sie nicht „für immer und ewig“ dauerte, da Augustus dem Einhalt gebot, aber jedenfalls bis zum Tod der beiden. Dennoch wählte Shakespeare diese Geschichte aus unzähligen anderen Geschichten, die er hätte dramatisieren können. Und da er bis dahin die bemerkenswerte Regentschaft einer Monarchin durchlebt hatte, die während seiner gesamten Karriere eine ältere Frau (bis sie 1601 mit 68 Jahren starb) und dafür berühmt war, über viele Jahre einen Geliebten zu haben (oder auch nicht), wusste er, dass er sein Publikum mitnehmen konnte. Wenden wir uns nun also Antonius und Kleopatra zu.

Liebe in der und durch die Zeit Bevor wir uns diesem Stück zuwenden können, müssen wir es jedoch in seinen Kontext stellen, wie in eine von zwei Buchstützen. Shakespeare näherte sich dem Thema der erotischen Liebe in mehr oder weniger jedem seiner Stücke,10 aber zwei Stücke sind beinahe darauf angelegt, zusammen gelesen zu werden, als Studien der Liebe in zwei unterschiedliche Phasen des Lebens. Sie sind auch Buchstützen in Shakespeares kurzem Leben (1564–1616). Romeo und Julia schrieb er im Jahr 1595, nur etwa sechs Jahre nach seinem Debüt als Dramatiker. Antonius und Kleopatra wurde 1606 geschrieben, und es ist somit eines der letzten der von ihm verfassten Stücke. Obwohl die beide Stücke nur elf Jahre trennen, waren dies Jahre von erstaunlicher Produktivität, gekennzeichnet von zunehmend tieferer Einsicht und größerer Reife. Als er Romeo und Julia schrieb, stand er nicht mehr in der Blüte seiner Jugend: Er war 31 Jahre alt, die Erfahrungen der Jugend waren jedoch eindeutig ein Thema, auf das er in der gesamten frühen Phase seiner Karriere zurückgreifen konnte. Als er Antonius und Kleopatra schrieb, war er bereits 42 Jahre alt, und im Urteil der elisabethanischen Zeit konnte man ihn mit Sicherheit als älteren Mann bezeichnen. Um auf überzeugende Weise über das Alter schreiben zu können, hilft es, zumindest in seine Nähe gekommen zu sein. Wie Tzachi Zamir betont, vermittelt Romeo und Julia den hyperbolischen, extravaganten, eher abstrakten Charakter der jungen Liebe, mit ihrem Schwerpunkt auf

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einem verallgemeinerten und ästhetisierten Bild des Körpers („Ich habe bis heute keine wahre Schönheit gesehen“), ihrer humorlosen gegenseitigen Vereinnahmung und ihrem Streben, das bloß irdische und körperliche Menschsein zu transzendieren. Julia ist die Sonne, ihre Augen sind „zwei der schönsten Sterne am gesamten Himmel“. Sie ist ein „leuchtender Engel“, der über die Köpfe der einfachen Sterblichen emporsteigt.11 Diese Art von Liebe wirkt, indem sie die Wirklichkeit ausklammert; sie begegnet Fakten und Beweisen mit lebhafter Feindseligkeit. Weil sie entschlossen ist, sich über die Erde zu erheben, fehlt es ihr auch an Besonderheiten: Julia ist ein abs­ traktes Bild, ein Engel, und weder Romeo noch das Publikum wissen viel über die irdischen Merkmale, die sie von anderen unterscheidet. Es geht dieser Liebe nicht wirklich um den Körper, und in Wahrheit scheint sie den realen, erdverhafteten Körper mit seinen Eigenarten und all seinen Flüssigkeiten, seinem Geschmack und Geruch zu verschmähen. Ja, jene sinnlichen Wahrnehmungen kommen im Vokabular der Liebenden fast gar nicht vor: alle Wahrnehmung entstammt dem Bereich des Sehens, noch dazu des idealisierten Sehens. Ein Zeichen der vorherrschenden Beschäftigung der Liebenden mit Idealisierungen ist die Fixierung des Stücks auf Metaphern des Schlafens und Träumens; und Zamir weist, wie viele Kritiker vor ihm, darauf hin, dass das Stück selbst seine Leser in einen schläfrigen und verträumten Zustand hineinzieht. Ein solcher Zustand könnte als reine Vergesslichkeit betrachtet werden; man könnte ihn auch als infantilen Narzissmus verstehen. Zamir verwirft schließlich beide Interpretationen zugunsten einer solchen, die sich auf die verwandelnde Erfahrung der Wahrnehmung von Schönheit konzentriert. Indem wir uns in diesen komplexen Zustand hineinziehen lassen, so meint er, lernen wir unser Verhältnis zur ästhetischen Schönheit und zur Blindheit gegenüber dem täglichen Leben, die ihre Wahrnehmung häufig mit sich bringt, besser verstehen. Der einem Traum ähnliche Zustand, den Zamir beschreibt, mag allerdings für die Wertschätzung menschlicher Interaktionen oder tiefer menschlicher Bedeutsamkeit nicht so günstig sein. Das Stück Romeo und Julia kann aus der distanzierten, transzendenten Perspektive mit Sicherheit nicht verstanden werden. Ich ziehe eine der von Zamir verworfenen Interpretationen vor: das Stück als Ganzes, einschließlich dieser traumartigen Abschnitte, zeigt den infantilen Narzissmus sehr junger Liebe. Diese Liebe ist in einem gewissen Sinne schön. Aber sie hat nichts mit echter Sorge um ein anderes menschliches Wesen oder gar mit wonnevollem sexuellem Geben und Nehmen zu tun: Die Idealisierung eines Menschen ist weit davon entfernt, auf die Bedürfnisse dieser Person einzugehen. Ja, sie ist so voller Verachtung für den Körper, dass man sich schwer vorstellen kann, wie sie zu irgendeiner befriedigenden Art von sexueller Interaktion führen kann. Diese sehr jungen Men-

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schen vergessen mehr oder weniger, dass sie Körper haben – vielleicht weil ihre Körper so stark und gesund sind, dass sie nicht auf sich aufmerksam machen.12 Der Körper ist lediglich eine attraktive Gestalt, kein reales pulsierendes Gebilde mit Hunger und Grenzen. Das ist eine sehr unreife Haltung gegenüber dem Körper, die der Realität des Zusammenlebens mit einer anderen Person kaum standhalten kann. Tatsächlich ist das Fortbestehen dieser unreifen Einstellung die Ursache für viele Trennungen im reiferen Alter. Also: Teenager, seien sie männlich oder weiblich (und älter oder jünger!), sind einfach keine befriedigenden Geliebten für eine im wirklichen Leben stehende Person.13 Wenden wir uns nun Antonius und Kleopatra zu.14 Dieses Stück beschreibt, was wir reife Liebe nennen könnten, Liebe zwischen Menschen, die es genießen, gemeinsam erwachsen zu sein, und denen es nicht darum geht, das menschliche Leben zu transzendieren, weil sie zu viel Freude am Leben haben, so wie es ist. Romeo und Julia essen nicht; Antonius und Kleopatra essen die ganze Zeit. Romeo und Julia haben keinen Beruf; Antonius und Kleopatra sind Freunde und sich gegenseitig unterstützende Kollegen, die jede Menge zu tun haben, ihre jeweiligen, miteinander verschränkten Im­ perien zu regieren. Romeo und Julia haben keinerlei Sinn für Humor; Antonius und Kleopatra leben von ausgeklügelten Witzen und sehr persönlichen Formen, einander aufzuziehen (was Zamir als „idiosynkratische Praktiken“ bezeichnet) („Jene Zeit – Oh Zeiten! – Ich lacht’ ihn aus der Ruhe“).15 Romeo und Julia, völlig voneinander in Anspruch genommen, achten nicht auf andere um sie herum; Antonius und Kleopatra lieben es, über die seltsamen Leute in ihrer Welt zu tratschen, verbringen Abende damit, durch die Straßen zu schlendern und die lustigen Dinge zu beobachten, die Menschen tun. Romeo und Julia sprechen nur in anbetungsvoller Übertreibung miteinander. Antonius weiß, wie man mit Kleopatra durch Beleidigungen, sogar bezüglich ihres Alters (er nennt sie seine „Schlange des alten Nils“), Kontakt hält; sie weiß, wie man eine Geschichte über einen Angelhaken in einen Running Gag verwandelt, der jedes Mal, wenn man ihn erwähnt, aufs Neue ein Lachen auslöst. All dies deutet auf eine Liebesbeziehung hin, deren Wesen, anders als die des jüngeren Paares (wie Zamir sagt), „nicht im Transzendieren des Lebens liegt, indem sie ihre Intensitäten ständig zu demjenigen in Gegensatz bringt, was das Leben ausmacht, sondern sie gibt sich selbst eine Struktur durch das Leben und die täglichen Freuden, die es bereithält.“16 Dieser Unterschied macht sich in der Rolle bemerkbar, die die Zeit spielt. Romeo und Julia sind sich der Stunden des Tages und der Nacht bewusst, aber nicht oder nur kaum der Zeiten des Jahres und der Jahre eines Lebens. Die Liebe von Antonius und Kleopatra ist selbst ein Stück Zeit. Wie in der Geschichte, so auch hier: Sie sind für mindestens ein Jahrzehnt zusammen, und die Struktur von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmt beständig ihre Liebe.

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Der menschliche Körper ist ein Fluss der Zeit, keine ideale ästhetische Form. Und Antonius und Kleopatra nehmen den wirklichen Körper des anderen wahr, nicht ein idealisiertes Bild des Körpers. Und (im Gegensatz zu den Teenager-Liebhabern) wird der Körper immer erfahren als von einem lebhaften, suchenden und eigenwilligen Geist belebt, der in vertrauten Gesprächen Kontakt mit einem anderen eigenständigen Geist aufnimmt. Kleopatra ist zweifellos eine attraktive Person, aber, wie Zamir anmerkt, spielt das Stück – im Gegensatz zu Shakespeares Quellen – diesen Aspekt herunter. Es ist ihre komplexe Persönlichkeit, voller Überraschungen, auf die Shakespeare unsere Aufmerksamkeit hinlenkt. („Nicht kann sie Alter hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen die immer neue Reizung.“) Ihre Art der Verführung läuft vor allem über den Geist. „Sie ist listiger, als man’s denken kann“, wie Antonius von ihr sagt, und sie entwickelt auf geniale Weise zahlreiche Strategien, um im Fokus seiner Aufmerksamkeit zu bleiben: Flirten, kapriziöse Schikanen, die ständigen vertrauten Neckereien, frustrierende Anspielungen auf wichtige Informationen, die dann aber nicht gegeben werden; aber auch gemeinsamer Ehrgeiz, vertrauensvolle Zusammenarbeit, ehrliche tiefe Bewunderung für seine Leistungen, das Beharren auf der eigenen Gleichwertigkeit. (Charmian rät zu Ehrerbietung und Schmeichelei; worauf sie angemessen verächtlich erwidert: „Törichter Rat! Der Weg ihn zu verlieren!“) Unsere Teenager-Liebhaber scheinen sich überhaupt nicht dessen bewusst zu sein, dass jeder Mensch Schwächen und persönliche Schwachstellen hat, die echte Liebe sanft und respektvoll behandeln muss. Nicht so diese alternden Liebenden. In der Szene nach der Schlacht von Actium drückt Kleopatra ihre Liebe zu Antonius in ihrer sensiblen Einstimmung auf die Phasen von Antonius’ Karriere aus, in ihrem feinen Gespür dafür, wann sie sich ihm nähern, was sie ihm sagen sollte und was nicht. Kritiker zollen Kleopatra nur selten die Anerkennung für ihre Empathie, die sie offensichtlich verdient. Aber liebt Kleopatra Antonius wirklich? Wir müssen diese Frage zum Teil deshalb stellen, weil viele Kritiker Kleopatra nicht leiden können, da sie das Gefühl haben, eine so komplexe, launische und mächtige Frau müsse unfähig sein zu lieben. Vielleicht wird sie auch dadurch aufgeworfen, dass dieser alternden Liebe so vieles von dem fehlt, was wir kulturbedingt mit der idealen Liebe assoziieren: zu ihr gehört keine übermäßige Verzückung, sie ist so tief mit dem täglichen Hin und Her von Arbeit und Gespräch verbunden. Zamir, der übermäßig von dieser Frage besessen scheint, findet schließlich eine bejahende Antwort in der Szene, in der Kleopatra die Nachricht von Antonius’ Hochzeit mit Octavia von einem Boten überbracht wird – den sie zuerst tadelt und dann, in einem kindischen Wutanfall, an den Haaren über die Bühne schleift. (Die Regieanweisung lautet: „Sie zerrt ihn auf und ab.“) Ihre zornige Reaktion, sagt

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Zamir, müsse „sogar das zynischste Publikum davon überzeugen, dass die Liebe dieser Frau … echt ist“. Doch das ist viel zu einfach. Zunächst ist Eifersucht kein Liebesbeweis. Es kann ebenso oder eher noch ein Beweis für das Verlangen nach Kontrolle sein, das Gift für die Liebe ist. Aber auf jeden Fall ist Kleopatras Reaktion kein reiner Fall von erotischer Eifersucht. Das kann nicht sein, da Kleopatra weiß, dass die politisch motivierte Ehe nicht auf überwältigender Leidenschaft beruht. Und sie erkennt bald, dass Octavia keine Rivalin ist, was Intelligenz oder Faszination betrifft. Es ist wichtig, dass Octavia als „von kaltem, stillen Temperament“ beschrieben wird. Mit ihrem „kalten Blick und stillem Gleichmut“, „zeigt sie sich mehr als ein Körper als ein Leben“. (Aus Fairness gegenüber Octavia sollten wir darauf hinweisen, dass, während das erste dieser Urteile vom relativ unparteiischen Enobarbus stammt, die zweite bemerkenswerte Beleidigung von Kleopatra selbst ausgesprochen wird, die dritte vom Boten, der zweifellos einem zweiten „Herumzerren“ abgeneigt ist und genau erkennt, was Kleopatra über Antonius’ Ehe denken möchte.) Eifersucht, die sich auf die körperlichen Reize und den Geist der Rivalin richtet, ist nicht ihre Emotion. Erst zum Schluss fragt sie, wie Octavia aussieht, aber das ist ein nachträglicher Einfall, nachdem der unglückliche Bote herumgezerrt und dreimal gefragt wurde: „Er ist verheiratet?“ Es ist keine erotische Eifersucht, es ist Frustration über die Umstände ihres Lebens. Diese Frau, die sich auf dem Höhepunkt ihres Lebens befindet, die besonders ist, Verstand besitzt, Leistungen erbringt, Erfolg hat, Zauber ausstrahlt und ein Königreich regiert, sieht plötzlich, dass sie in der Liebe durch eine vertragliche Beziehung eingeschränkt ist. Diese Tatsache erscheint ihr so völlig empörend und absurd, dass sie darauf nur auf eine absurde, ja infantile Weise reagieren kann. Sie liebt ihn, aber es ist nicht Eifersucht, die den Beweis dafür erbringt, es ist ihr königlicher Protest gegen solche gesellschaftlichen Hindernisse – und, weit mehr noch, ihre völlig demütige Duldung, indem sie die mit den Nachrichten verbundenen Einschränkungen akzeptiert und damit lebt – einmal abgesehen von ihrem groben Umgang mit dem Boten. (Aber akzeptiert sie die Begrenztheit wirklich oder ist all das Herumzerren an den Haaren, diese komische Drohung, den Boten zu „brühn mit Salz, in Lauge scharf gesättigt“ selbst ein übergroßer Witz, eine theatralische Demonstration von Entschlossenheit und Unbezwingbarkeit? Sicherlich ist sie zu weit ausgefeilteren Schikanen fähig. Eine Schauspielerin könnte die Szene sehr unterschiedlich spielen.) Kurz gesagt: Es liegt ein Liebesbeweis in genau dieser Akzeptanz der Begrenztheit. Octavia muss nicht leidenschaftlich lieben, weil ihr Vertrag eine andere Grundlage hat und gilt, ob sie ihn liebt oder nicht. Die Zeit selbst ist der Beweis für Kleopatras Liebe.

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Allgemeiner formuliert: alternde Liebe trägt immer eine Last. Jeder hat eine Vergangenheit und eine Gegenwart, und das fordert die Beziehung heraus. Die Zeit kann eine Quelle des Reichtums sein; sie kann eine Quelle des Schmerzes sein. Sie kann auch beides gleichzeitig sein. Sicher ist, dass das Leben mit der vollen Vergangenheit und Gegenwart eines Partners eine große Herausforderung darstellt, der sich junge Liebende nicht stellen müssen. Sich dieser Herausforderung erfolgreich zu stellen, erfordert viele Qualitäten – ein Gefühl für die eigenen Grenzen, Humor, Altruismus, Ausdauer, Demut, Selbsterkenntnis –, die bei jungen Liebenden noch nicht erforderlich sind. Romeos und Julias Liebe verklärte die Welt, indem sie die Liebe in den Himmel hob: Julia ist die Sonne, und wie bei der Sonne haben wir keine Ahnung, was – wenn überhaupt – sie zum Lachen bringt. Antonius und Kleopatra verklären die Welt von innen und machen jede alltägliche Erfahrung lebendiger, witziger und überraschender. Ohne einander, das fühlen sie beide, ist die Welt auf traurige Weise langweilig. „Aushalten soll ich in dieser schalen Welt?“, fragt sie ihn, „die ohne dich nicht mehr ist als ein Schweinestall“. Was für sie schweinisch ist, ist nicht der Körper, es ist der Mangel an interessanten Gesprächen. Die Welt muss also auch hier verklärt werden, doch ist die Verklärung menschlich und konkret, nicht himmlisch und abstrakt. Zum Thema der erotischen Liebe im Leben einer alternden Frau schweigt die Philosophie fast völlig. (Selbst Beauvoir ignoriert das Thema.) Überhaupt hat, so viel ich weiß, kein Philosoph jemals die Komplexität der „reifen Liebe“ irgendeines Paares auf annehmbare Weise dargestellt. Dieser Mangel ist weder Zufall, noch beruht er auf kulturell bedingter Berührungsangst. Die Philosophie benötigt an dieser Stelle die Literatur. Eine abstrakte Darstellung allein könnte die besondere, ganz persönliche, manchmal raue Natur dieser Art von Liebe nicht so vermitteln, wie es eine fantasievolle und mitreißende Geschichte kann. Die Erfahrung des Betrachters oder Lesers, welche die vielfältigen Gemütsverfassungen in dieser Beziehung nachvollzieht, hat erkenntnistheoretische Bedeutung und erlaubt es, Behauptungen über die „reife“ Liebe aufzustellen und sie zu bewerten, wie es ein abstrakter Bericht niemals könnte. Was lernen wir also von dieser Frau, die im Gegensatz zur Marschallin eine tiefe, befriedigende und reife Wahl trifft? Wir sehen, dass reife Liebe sowohl sexuell als auch sehr persönlich ist und dass ihr sexueller Aspekt selbst persönlich ist, da er auf Erinnerung, Humor und einer gemeinsamen Geschichte basiert. Aus diesem Grunde hat sie eine Tiefe, die jugendliche Liebe nicht haben kann, und die der vergebliche Versuch der Marschallin, Liebe bei einem 17-Jährigen zu finden, nie erreichen könnte. Die Liebe einer alternden Frau bringt ein Gefühl für die Zeit mit sich – oder kann es mit sich bringen –, wodurch die Körper beider Liebenden zu konkreten Individuen werden statt zu phantasierten Idealen, und das ist zutiefst befriedigend, auch weil es die Annahme des

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eigenen Selbst und der eigenen Endlichkeit und der des Geliebten umfasst (wie alt er auch sei; jedoch deutlich älter als 17 Jahre!). Die Liebe einer alternden Frau hat auch einen gesellschaftlichen Kontext und politische Aspekte, die diese Liebe bereichern, aber auch begrenzen und einengen können. Für Antonius und Kleopatra ist Liebe aufgrund ihrer körperlichen und alltäglichen Textur voller Humor, aber auch tragisch, offen für große und unersetzliche Verluste.

Alternde Frauen als Filmstars Alternde Frauen wurden in Filmen völlig vernachlässigt – bzw., wenn sie überhaupt auftraten, wurden sie als Mütter und Großmütter dargestellt, nie als Partnerinnen in romantischen und sexuellen Beziehungen. Die Demografie der Generation der Babyboomer hat, in Verbindung mit der Tatsache, dass alternde Menschen eher ins Kino zu gehen scheinen als fernzusehen oder Videos anzuschauen, zu einem Nischenmarkt geführt, und wir sehen daher zahlreiche Filme über alternde Frauen, die sexuelle Beziehungen unterhalten und sich verlieben. Wir können uns die zeitgenössische Sichtweise vergegenwärtigen und gleichzeitig das Thema unserer Diskussion über reife Liebe und Zeit verfolgen, indem wir vier aktuelle Filme analysieren: Was das Herz begehrt (2003) mit Diane Keaton und Jack Nicholson in den Hauptrollen; Wenn Liebe so einfach wäre (2009) mit Meryl Streep, Alec Baldwin und Steve Martin; I’ll See You in My Dreams (Ich werde Dich in meinen Träumen sehen) (2015) mit Blythe Danner und Sam Elliott; und – um den besten Film zum Schluss zu nennen – Madame Mallory und der Duft von Curry (2014) mit Helen Mirren und Om Puri in den Hauptrollen. Zunächst einige allgemeine Beobachtungen. Das Alter der Schauspielerinnen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Filme reicht von 57 (Keaton) bis 72 Jahren (Danner). (Ich hätte auch das wunderbare Paar der 80-Jährigen Judi Dench und Maggie Smith in Best Exotic Marigold Hotel [2011] und seine Fortsetzung von 2015 in die Liste aufnehmen können – wenn diese seichten Filme nicht viel weniger interessant wären.) Frauen werden als sehr attraktiv dargestellt, und zwar sowohl für Männer in etwa ihrem eigenen Alter als auch für viel jüngere Männer (der depressive junge Swimmingpoolreiniger in I’ll See You, der in Danner verliebt ist, dies jedoch körperlich nie ausdrückt, und vor allem der attraktive, von Keanu Reeves in Was das Herz begehrt gespielte Arzt, der mit Keaton, obwohl er 20 Jahre jünger ist als sie, eine ernsthafte und längere Zeit andauernde Beziehung führt). Sie sind definitiv an Sex interessiert, nicht nur an Kameradschaft oder Gefühlen, obwohl sie letztlich Liebe dem Sex ohne Liebe vorziehen. Und die Männer reagieren auf ihre Lebendigkeit. Wir müssen aber gleich Einschränkungen machen. Alle diese Filme deuten an, dass sich alternde Frauen, wenn sie sexuell attraktiv bleiben wollen, viel gewissenhaf-

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ter um ihr Aussehen kümmern müssen als gleichaltrige Männer. Es gibt keine weiblichen Alec Baldwins oder Jack Nicholsons, mit dickem Bauch und einer Liebe zu opulenten Mahlzeiten; keine weibliche Om Puri mit narbigem Gesicht. Sie haben Falten, und besonders Mirren hält sich viel darauf zugute, dass sie keine Schönheitsoperationen gehabt hat und dass sie sich noch nicht einmal viel bewegt; aber sie sieht besser aus als im Alter von 40. Sie müssen also über einen gewissen Wohlstand verfügen, der es ermöglicht, sich um das eigene Aussehen zu kümmern. Auch wenn sie keine Königinnen sind, haben sie alle Geld – und Patricia Arquettes hervorragende Darstellung des Alterns in Boyhood (2014) zeigt, dass das Alter in einer anderen gesellschaftlichen Schicht seinen Tribut schneller fordert. Obwohl diese Filme Richard Strauss’ Lügen nicht beipflichten, schränken sie dennoch die Kriterien für fortgesetzte sexuelle Attraktivität ein, und zwar auf eine Weise, die sich nach Geschlecht und Klassenzugehörigkeit unterscheidet. Ein weiterer interessanter roter Faden, der sich durch diese Filme zieht, ist der, dass diese Frauen – abgesehen von der durch Danner dargestellten Figur, die von ererbtem Geld lebt – berufstätig sind und dies mit Freude und Erfolg. Eine Bäckereibesitzerin (Streep), eine berühmte Köchin (Mirren) und eine Bühnenautorin (Keaton). In allen drei Fällen, die zugleich die überzeugendsten und ansprechendsten Beispiele für Sexualität im Alter sind, machen die mit Kleopatra vergleichbare Intelligenz und Fähigkeiten der Frauen (ohne dabei Bodenhaftung, Humor und Verletzlichkeit auszuschließen) einen großen Teil ihrer romantischen Anziehungskraft aus. Bevor wir jedoch die in den Filmen dargestellten Formen von Liebe und Sexualität besprechen können, müssen wir sie selbst kurz vorstellen, wobei wir uns auf die zentralen Beziehungen konzentrieren: Was das Herz begehrt (2003). Keaton und Nicholson spielen ihr wirkliches Alter, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 56 und 63 Jahre. Keaton spielt eine erfolgreiche Bühnenautorin mit einer vorübergehenden Schreibblockade. Nicholson ist ein Playboy, der Beziehungen zu jüngeren Frauen sucht. Er geht mit Keatons Tochter eine Beziehung ein. Als sie für ein Rendezvous zum Strandhaus gehen, sind sie überrascht, Keaton dort vorzufinden, und zwischen Keaton und Nicholson fliegen schlagfertige und feindselige Funken. Nicholson erleidet plötzlich einen Herzinfarkt und wird im Krankenhaus von einem attraktiven, von Keanu Reeves gespielten 36-jährigen Arzt betreut, der sich in Keaton verliebt. Während er sich in Keatons Haus erholt (und da er sich von ihrer Tochter getrennt hat), wird Nicholson von Keaton in ihren Bann gezogen, und die beiden haben eine kurze Affäre, aber wie es seinem Verhaltensmuster entspricht, lässt er sie einfach sitzen, worauf sie wütend genug ist, um ihn in ihr äußerst erfolgreiches Stück aufzunehmen. Die beiden treffen sich zur Premiere des Stückes wieder – Keaton ist jetzt mit Reeves zusammen –, und dieses Mal beschließt Ni-

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cholson, zur Einsicht gebracht und einsam, dass er eine echte Beziehung will. Sie heiraten. Wenn Liebe so einfach wäre (2009). Die drei Filmstars haben zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films folgendes Alter: Meryl Streep ist 60, Alec Baldwin ist 51 und Steve Martin ist 64 Jahre alt. Streep spielt eine erfolgreiche Bäckereibesitzerin, die von Alec Baldwin, der wieder geheiratet hat, geschieden ist. Sie treffen sich wegen ihrer Kinder und beginnen eine geheime Affäre. In der Zwischenzeit verliebt sich Streep in den Architekten, der an ihrem Haus arbeitet (Martin). Schließlich endet die StreepBaldwin-Affäre und Streep und Martin werden ein Paar. I’ll See You in My Dreams (2015). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films waren Blythe Danner 72 und Sam Elliott 70 Jahre alt. Danner spielt eine reiche Witwe, die in einem schönen Haus mit Pool lebt und von einem depressiven jungen Mann versorgt wird, der sich in sie verliebt. Ihr sozialer Zirkel ist eine Gruppe von Frauen, die in einer elitären Seniorensiedlung leben; zusammen mit ihnen fängt sie an, sich mit Männern zu treffen – nachdem sie sich jahrelang nicht mehr mit Männern getroffen hat und ihr geliebter Hund gestorben ist. Sam Elliott wird beim Einkaufen auf sie aufmerksam und fängt an, um sie zu werben. Er ist ein wohlhabender Pensionär mit einer Yacht und überzeugt sie, sich mit ihm zu treffen; sie beginnen eine sexuelle Beziehung, ihre erste seit vielen Jahren. Zwischenzeitlich entdeckt sie, dank der Unterstützung von Lloyd, dem Poolboy, ihre Liebe zum Singen wieder. Elliott stirbt plötzlich an einem Herzinfarkt. Madame Mallory und der Duft von Curry (2014). Madame Mallory (Mirren, bei Veröffentlichung des Film 68 Jahre alt) leitet ein berühmtes französisches Restaurant in einer französischen Provinzstadt. Eine indische Familie kommt mehr oder weniger zufällig in die Stadt; angetrieben vom Vater (Puri, zur Zeit der Veröffentlichung 63 Jahre alt) eröffnen sie ein indisches Restaurant direkt gegenüber der Niederlassung der berühmten Köchin. Zum großen Teil geht es um die Anstrengungen des Sohnes der Familie, zu einem erstklassigen französischen Koch zu werden, um seine wechselvolle Romanze mit einer jungen Französin und seinen Aufstieg zum kulinarischen Star – schließlich mit Hilfe von Madame Mallory selbst. Auf dem Weg dorthin entsteht eine bittere und urkomische Rivalität zwischen den Restaurants und zwischen Mirren und Puri, die gegeneinander intrigieren und den jeweils anderen Stil verachten – pure Spitzenküche auf der einen Seite, bodenständiges, köstliches indisches Essen auf der anderen. Dieselben kontrastierenden Stile, die in den beiden Menschen verkörpert sind, führen nach und nach zu einer romantischen Beziehung, da Mirrens Unnahbarkeit sich angesichts von Puris geerdeter Körperlichkeit auflöst und sie seine verborgene Anmut und Liebenswürdigkeit weckt. (Die Szene, in der die beiden schweigend allein im Restaurant tanzen, ist eines Shakespeare würdig.)

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Also gut: Was beobachten wir? Zunächst lernen wir, dass sowohl Frauen als auch Männer aufhören, sexy oder romantisch zu sein, wenn sie keine Arbeit mehr haben. Die wohlwollenden Kritiken, die I’ll see you bekam, sind mir völlig unverständlich, fast so unverständlich wie das übergroße Lob des Rosenkavaliers. Die ganze Welt, die in dem Film dargestellt wird, ist langweilig, ja widerlich, und so sind auch die Menschen darin – weil es Parasiten sind. Das ist das Wort, das mir beim Anschauen des Films immer wieder in den Sinn kam. Die dargestellten alleinstehenden Frauen, Danner und ihre Freundinnen Rhea Perlman und June Squibb, haben keinerlei Interessen und führen keine echten Gespräche. Sie spielen nur Bridge und gehen zum Speed-Dating. Keine von ihnen hat auch nur ein ernsthaftes Hobby. Keine interessiert sich für Politik oder Kultur oder dafür, was in der größeren Welt passiert. Keine zeigt Altruismus oder irgendeine Art von Ehrgeiz. Genauso verhält es sich mit Elliott, der abstoßende Zigarren raucht und mit seiner Yacht prahlt. Danner und er haben einander verdient, da keiner von ihnen tiefere Gefühle oder ein erkennbares Innenleben hat. Da Danner eine gute Schauspielerin ist, deutet sie eine in Wahrheit verletzliche Person an, und die Szene, in der sie ihr sexuelles Verlangen wiederentdeckt, wäre ansprechend, wenn sie diese nicht mit einem völlig farblosen Mann spielte. Nur der glücklose Poolboy und gescheiterte Poet (Martin Starr) erregt echte Sympathie, denn nur er hat einen Traum und etwas, dem er verpflichtet ist. Die Moral dieses katastrophalen und unangenehmen Films ist, dass die menschliche Komplexität gefährdet ist: Wenn von ihr kein Gebrauch gemacht wird, geht sie verloren. Eine logische Konsequenz dieser Beobachtung ist, dass Geld keine Liebe kaufen kann, und dass keine Arbeit zu haben ein großes Hindernis für echte Liebe ist, da es Trägheit und Desinteresse am Leben begünstigt. Geld ist, bis zu einem gewissen Grad, eine gute Sache; die Liebenden in den beiden anderen Filmen sind im Leben und in der Liebe eindeutig dadurch begünstigt, dass sie ein gutes Auskommen haben und einer Arbeit nachgehen können, die ihnen wichtig ist, statt sich einfach nur durchschlagen zu müssen. Unter allen Figuren hat nur Puri eine Armutsgeschichte, und sein unbeugsames Gesicht zeigt eine besondere Art von Hingabe an die Arbeit, die durch seinen Überlebenswillen zu erklären ist. (Puri, jahrzehntelang Hauptdarsteller in Bollywood-Filmen, wo er oft Schurken gespielt hat, hat eine Shakespeare’sche­ Präsenz, die zum Teil auf die verschiedenen Leiden zurückzuführen ist, die sich in den Gruben und Linien in seinem Gesicht und den Falten an seinem Körper widerspiegeln. Er starb im Januar 2017.) Wie Puri und im Gegensatz zu Danner und Elliott sind alle anderen Liebhaber höchst lebendig, und das liegt größtenteils daran, dass sie – mit oder ohne Liebe – viel zu tun haben. Sie warten nicht darauf, dass die Liebe aus heiterem Himmel kommt,

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und keiner ist deprimiert. Sie sind exzellente Könner in ihrem Beruf, die Spitzenleistungen anstreben, und das ermöglicht es ihnen, Liebe zu finden, da sie mitten im Leben stehen. Mit anderen Worten, berufliches Engagement beeinträchtigt das Privatleben nicht, sondern wirkt sich in späteren Jahren positiv darauf aus und hält lebendig und bei Kräften. Die beiden Frauen lieben ihre Arbeit und werden dafür sehr bewundert. Puri identifiziert sich zutiefst mit dem Familienunternehmen; auch wenn er kein kreatives Talent hat, ist er ein kluger Geschäftsmann. Baldwin ist ein erfolgreicher Anwalt; obwohl wir wenig über seine Liebe zur Arbeit hören, spürt man seine intellektuelle Lebendigkeit. Wer aus der Reihe fällt, ist Martin, dessen Figur, ein erfolgreicher Architekt, eine visionäre, romantische, kreative Persönlichkeit sein soll. Aber Martin ist in dieser Rolle einfach eine Fehlbesetzung, und er sieht letztlich nur unbeholfen und wenig überzeugend aus. Der Film ist daher unausgewogen: Wir wollen, dass Streep mit Baldwin zusammenkommt. Ist Keanu Reeves aus ähnlichen Gründen (schlechte Besetzung, mangelnde Fähigkeiten als Schauspieler) als Geliebter von Keaton nicht überzeugend? Ich denke nicht. Er ist ein guter Schauspieler und spielt die für ihn geschriebene Rolle gut. Das Skript legt nahe, dass seine Jugend ein großer Nachteil ist, wenn es darum geht, seine vielschichtige Geliebte zu verstehen und ihr an Esprit und Selbsterkenntnis gleichzukommen; aber sein Alter (36) ist nicht das wirkliche Problem. Das eigentliche Problem ist seine flache, weltverbesserische Ernsthaftigkeit. Er ist ein engagierter Arzt mit wenig Humor und seine Persönlichkeit stellt keine Herausforderung dar. Er ist einfach auf eine süßliche Art langweilig. Kurz gesagt: Das Problem ist nicht, dass er ein jüngerer Mann, sondern dass er ein langweiliger jüngerer Mann ist; er wäre auch ein langweiliger älterer Mann geworden – während Nicholson bereits in jungen Jahren sehr interessant war (wie in Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst). Reife Liebe will etwas anderes. Shakespeares Einsichten erweisen sich auch in einer ganz anderen Ära als von bemerkenswerter Gültigkeit. Reife Liebe ist so unwiderstehlich, weil Menschen ihre Vergangenheit, die Wechselfälle ihres langen Lebens und einen Sinn für Komik und Tragik mitbringen, der sich aus dem Bewusstsein der gelebten Vergangenheit speist. Man könnte sagen, sie sind bereit, Menschen zu sein, da sie nicht mehr erwarten, dass alles perfekt ist, und da sie Verluste erlitten haben. Sie fühlen sich in ihrem Körper wohl, weil sie begreifen, dass dieser eine Quelle des Komischen wie des Tragischen sein kann. Die wunderbare Freude an der Sexualität in der Beziehung zwischen Streep und Baldwin stammt zu einem großen Teil aus dem Gefühl der gelebten Zeit, wobei die beiden Schauspieler sehr überzeugend eine ganze Geschichte inszenieren und sich humorvoll darin bewegen. (Dies ist ein weiterer Grund, warum die neue Beziehung mit Martin nicht überzeugt.) Tatsächlich (um ein Motiv meiner Interpretation des

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Rosenkavaliers fortzusetzen) ist ihre sexuelle Beziehung zum Teil deshalb überzeugend, weil sie die verschiedenen Phasen oder Schichten des anderen kennen. Baldwin offenbart ein kindliches Selbst, was Streep offensichtlich bereits einmal erlebt und worauf sie schon einmal angemessen reagiert hat. Die beiden anderen Frauen sind zunächst ein provokativer Gegensatz – sowohl zu ihren Männern als auch zu Streep –, da sowohl Keaton als auch Mirren anfänglich aus Selbstschutz sehr unnahbar sind. Keaton hat sich in einem gewissen Grad vom emotionalen Leben zurückgezogen: Sie lebt in ihrem einsamen Strandhaus und nimmt nur durch ihr Schreiben am Leben teil. Mirren ist so erfolgreich, dass jeder Angst vor ihr hat, und sie weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. In beiden Fällen holen verwegene und ungehobelte Männer sie durch eine Kombination aus Humor und, im Fall von Puri, anfänglicher Feindseligkeit zurück in das verletzliche Menschsein, und die beiden Frauen genießen die Wiederentdeckung ihrer eigenen Verletzlichkeit. (Es sei darauf hingewiesen, dass dies ein altes Thema romantischer Hollywood-Komödien ist, welches von Stanley Cavell, besonders in Bezug auf Katherine Hepburn, in seinem wunderbaren Buch Pursuits of Happiness (Streben nach Glück) untersucht worden ist.17) Aber es ist nicht so, dass die Männer Widerlinge sind: Die Frauen wecken ihre Fähigkeit zu Respekt, Anstand und sogar Anmut. Filme erzählen viele Lügen über das Altern und insbesondere über alternde Frauen. Früher waren sie viel stärker der stigmatisierenden Verlogenheit verpflichtet, stärker noch als Richard Strauss, der der Marschallin immerhin wunderbare Musik zu singen gibt. Das lange Leben und die Entschlossenheit einer Reihe von beeindruckenden Schauspielerinnen hat, zusammen mit Regisseuren und Drehbuchautoren, die bereit sind, ihre Geschichte zu erzählen, die Welt unserer populären Kultur der echten Welt und auch der Welt Shakespeares angenähert. Doch Moment mal! Baut dieser ganze Essay nicht auf einer Lüge auf – und zwar auf der häufigsten und vielleicht verderblichsten Lüge von allen? Das heißt, auf der gigantischen Lüge, dass die Liebe nur in ordentlichen Paaren daherkommt und dass eine Person jeweils nur eine andere Person lieben kann. Die Wahl eines neuen Geliebten bedeutet, den alten zu verwerfen, und das Schicksal einer Frau besteht darin, mit einem Mann auf immer zusammen zu sein – oder zumindest mit einem nach dem anderen. Diese Filme enden alle damit, dass die „wahre Liebe“ gefunden und ergriffen wird (oder im Fall von Blythe Danner: betrauert). Jede andere Liebe muss verbannt werden, besonders in Amerika. Das Leben ist jedoch nicht immer so sauber geordnet, und es gibt zahlreiche Glücksmöglichkeiten. Alternde Frauen sollten das eine oder andere über die Grenzen emotionaler Exklusivität gelernt haben. Warum sollte Diane Keaton zum Beispiel nicht mit Keanu Reeves und Jack Nicholson eine Beziehung haben – außer aufgrund der Tatsache, dass das Publikum eine ordentliche Auflösung

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verlangt und sich die Filmemacher deshalb gezwungen sehen, Reeves langweilig und Nicholson wesentlich interessanter zu zeichnen. Warum sollte Streep ihre Affäre mit ihrem Ex-Mann nicht fortsetzen, während sie noch herausfindet, ob Steve Martin humorvoll ist oder spielerische Züge hat? Doch auch dies würde das Publikum niemals zulassen. Diese Frauen glauben im Grunde immer noch an die alte Geschichte vom Aschenputtel – weil die Zuschauer daran glauben. Das wirkliche Leben ist besser oder kann zumindest besser sein. Zusätzlich zur Sinnlichkeit älterer Frauen sollte sich Hollywood nun einer neuen Herausforderung stellen: der wirklichen Vielfalt menschlicher Gefühle und der Freude, die aus der Offenheit für Überraschungen erwachsen kann, wenn kulturelle Konventionen über „den Einzigen“ verbannt werden.

Die Abenteuer von Benjamin Franklin, Ivana Trump und die zurückgewiesenen Liebenden aller Zeiten Saul „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt“ ist ein irritierender Aphorismus, der Benjamin Franklin zugeschrieben wird. Franklin selbst zeigte Wagemut in jedem Lebensalter. Im Alter von 23 Jahren war er ein bedeutender Verleger und später bis zum Alter von 82 Jahren Gouverneur von Pennsylvania. In seinen persönlichen Beziehungen bewies er ebenfalls Mut. Er riet Männern, älteren Frauen den Vorzug zu geben, und wir können vermuten, dass dieser Rat auf Erfahrungen beruhte, die er während der ersten Hälfte seines Erwachsenenlebens gemacht hatte. Als er älter wurde, genoss er jedoch anscheinend Beziehungen zu einer Reihe von deutlich jüngeren Frauen. Opern mögen uns zum Nachdenken über jüngere Männer mit wesentlich älteren Frauen anregen. Filme aus jüngster Zeit bestärken uns in der Einsicht, dass spontanes Liebeserleben auch für reifere Paare möglich ist, und in Fiktion und Alltag begegnen uns „Lückenpaare“, wie ich sie nennen werde, in denen der Mann wesentlich älter ist als die Frau. (Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, habe ich nicht die Absicht, meine Beobachtungen auf heterosexuelle Paare einzuschränken.) Es ist interessant, dass Ben Franklin nichts über Beziehungen zwischen Menschen gleichen Alters sagt, bei denen es am wahrscheinlichsten ist, dass sie Gemeinsamkeiten haben, während diese Paare Martha Nussbaum am meisten ansprechen. Wenn ich mir vorstelle, wie Martha den Esprit und die Zuwendung von Ben genießen würde, so denke ich hierbei entweder an eine Situation, in der sie beide in einem ähnlichen Alter sind oder in der Ben deutlich jünger ist als sie. In diesem Essay gehe ich der Frage nach, ob es besser ist, wenn das Altern Abenteuer bringt oder ob Paare lieber die emotionale Investition in ihre Beziehungen verdoppeln sollten. Meine These ist, dass wir in naher Zukunft

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noch viel mehr Beziehungen zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern sehen könnten. Ich möchte mit zwei Beobachtungen über Lückenpaare beginnen. Bei der ersten geht es um Finanzen und die zweite betrifft den elterlichen Einfluss. Es ist schwer, Beispiele für signifikante Altersunterschiede zu finden (wo die ältere Person vielleicht mehr als anderthalb mal so alt ist wie die jüngere), bei denen der ältere Partner dem jüngeren nicht größere finanzielle Sicherheit bietet. Einige jüngere Frauen mögen ältere Männer bevorzugen, weil sie interessanter sind oder über mehr Lebenserfahrung verfügen. Es ist jedoch aufschlussreich, dass wohlhabende Frauen nur selten deutlich ältere Männer der sozialen Unterschicht oder verarmte Männer interessant finden. Wenn es eine kulturelle Abneigung gegen diese „Doppellückenpaare“ gibt – von deutlich unterschiedlichem Alter und einer größeren Wohlstandslücke –, so liegt dies daran, dass man den Partnern gegenüber misstrauisch ist; die Beziehungen lassen uns befürchten, dass die Liebe hier zu einer Handelsware wird. Die Beziehung wirkt wie eine moderne Version einer Zweckehe oder sogar wie eine Geschäftsbeziehung, die hauptsächlich im Interesse der älteren Person ist; Romantiker finden diese Beziehungen selten attraktiv. Als anschauliches Beispiel kann Donald Trump dienen: Als er 31 Jahre alt war, heiratete er Ivana, die ihm altersmäßig nahestand; lange nach ihrer Scheidung, aus der sie vermögend hervorging, heiratete Ivana einen 23 Jahre jüngeren Mann. Im Alter von 47 Jahren heiratete Donald Trump in zweiter Ehe eine 30-Jährige. Und in dritter Ehe, die er im Alter von 59 Jahren einging, heiratete er eine 35-jährige Frau, mit der er eine Beziehung begonnen hatte, als sie 33 war. Das Muster ist nicht besonders ungewöhnlich für einen sehr wohlhabenden Mann und vielleicht besonders für einen, der in der Immobilienbranche und Unterhaltungsindustrie tätig ist. Für eine Frau ist es allerdings außergewöhnlich. Susan Sarandon ist eine Ausnahme, da sie zweimal einen deutlich jüngeren Mann heiratete und beide Ehen einige Jahre hielten. Sie hat bei ihrer Partnerwahl die „Seele“ als wichtiger als das Alter beschrieben. Hätte Trump dies in seinem Präsidentschaftswahlkampf gesagt, so wäre dies eine nette oder sogar strategisch geschickte Äußerung gewesen, doch seine Kommentare über Liebesdinge waren wohl eher an männliche als an weibliche Wähler gerichtet. In jedem Fall geht es hier nicht um die vertraute Beobachtung, dass Männern bei ihrer Partnersuche eine größere Altersspanne als Frauen zur Verfügung steht, sondern mehr darum, dass wohlhabende Menschen deutlich jüngere Partner anziehen. Es ist kein Zufall, dass der junge Ben Franklin sich mit älteren wohlhabenden Frauen einließ, die ihn mit einem Leben in Luxus vertraut machten. Fühlt sich eine Frau in ihren Zwanzigern zu einem älteren Mann hingezogen, sagen Beobachter oft, dass sie nach einer Vaterfigur sucht. Wenn die Frau doppelt so alt ist und der Mann ebenfalls doppelt so alt wie sie, wird es in Kommentaren dazu mit

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größerer Wahrscheinlichkeit um Reichtum und Lebenserwartung gehen. In ähnlicher und ebenso ärgerlicher Weise könnte man einem jüngeren Mann, der eine reife Partnerin findet, vorwerfen, er suche jemanden, der ihn bemuttert. Dergleichen Behauptungen sind besonders häufig, wenn die jüngere Person in jungen Jahren beide Eltern verloren hat oder verlassen wurde, aber ich finde keinen statistischen Beweis dafür, dass ein Zusammenhang zwischen der Beziehung zu einem Elternteil und dem Alter des Ehepartners besteht. Darüber hinaus zeigt meine mehr als dreißigjährige Beobachtung der persönlichen Lebensentscheidungen von Studenten, dass eine tiefgreifende Veränderung des Zusammenhangs zwischen Erziehung und Ehe stattgefunden hat. In den 1970er- und 1980er-Jahren waren die Beziehungen vieler junger Amerikaner zu ihren Eltern schwierig; es waren Zeiten der Rebellion und Entfremdung. Es war eine Ära, in der Eltern ermutigt wurden, strenge Regeln vorzugeben, weil Kinder angeblich Grenzen benötigten und sich diese wünschten. Es war auch eine Zeit des politischen und sozialen Umbruchs. Es war eine Beleidigung, einem Liebespartner zu sagen: „Du erinnerst mich an meine (oder deine) Mutter.“ Meine Generation versuchte, dem Einfluss der vorangehenden Generation zu entkommen, oder zumindest glaubte sie, dies zu tun. Filme wie Die Reifeprüfung (1967) spiegeln diese Art des Erwachsenwerdens wider. All das scheint den heutigen Studenten nicht nachvollziehbar. Ihre Eltern wurden ermutigt, unterstützend anstelle von autoritär zu sein, und es ist viel einfacher, diejenigen zu lieben, die mit uns durch dick und dünn gehen. Eltern können jetzt die besten Freunde sein und sie unterstützen anstatt Angst einzuflößen oder ständig zu (ver)urteilen. Folglich ist es völlig natürlich, wenn man einen 20-Jährigen sagen hört, er oder sie suche einen Partner, der seiner Mutter oder ihrem Vater gleicht. Die 20-Jährigen von heute möchten, dass ihre Eltern ihre Entscheidungen in Liebesdingen gutheißen. Martha beobachtet, wie Diane Keaton und Jack Nicholson in Was das Herz begehrt (2003) zusammenkommen; als ich diesen Film sah, fiel mir hingegen besonders Diane Keatons zwanghaftes Verlangen nach der Zustimmung ihrer Töchter auf, und umgekehrt. Wenn Rebellion für Lückenpaare mitverantwortlich ist, dann werden wir weniger von ihnen sehen, wenn die Generation, die so viel Unterstützung erfahren hat, in ihre reiferen Jahre kommt. Dass Eltern ihre Kinder unterstützen kann auch zu dem Trend zu späteren Eheschließungen beitragen und dazu, dass unverheiratete Kinder zu ihren Eltern zurückkehren und mit ihnen unter einem Dach leben. Diese Entwicklungen haben normalerweise etwas mit einer langen Ausbildung und einem schwierigen Arbeitsmarkt zu tun, aber es ist leicht, Ursache und Wirkung zu verwechseln, und es gibt wahrscheinlich mehrere Ursachen für jedes dieser Phänomene. Dennoch scheint eine positive Beziehung zu den Eltern zur Folge zu haben, dass Kinder sich verstärkt um ihre alternden Eltern kümmern werden. Wenn dies der Fall ist, kann sich die Wohnsituation

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unserer älteren Bürgerinnen und Bürger weiter ändern, da das Zusammenleben mehrerer Generationen wieder in Mode kommen könnte. Indem ich auf das Muster wachsender Altersabstände in Trumps Ehen aufmerksam machte, wollte ich nicht nur den verborgenen Faktor der wirtschaftlichen Abhängigkeit hervorheben, sondern auch die Tatsache, dass Alterslücken häufig in der zweiten oder dritten Ehe zu finden sind. Wenn Männer sich von gleichaltrigen Partnerinnen trennen und mit deutlich jüngeren Frauen ein neues Glück finden, werden sie oft von (älteren) Frauen verunglimpft – wogegen sie von anderen alternden Männern beneidet werden (oder denken, dass dies so ist). Kritische Beobachter halten die Männer in diesen Paaren manchmal für unreif und glauben, dass sie Schwierigkeiten haben, sich in der Lebensmitte einzurichten und dass sie sich auf ein hoffnungsloses oder sogar lächerliches Abenteuer einlassen. Eine jüngere Frau an der Seite zu haben wird den Alterungsprozess schließlich nicht rückgängig machen. Doch die gleiche Kritik könnte man auch an alternde Frauen richten. Wenn Männer dazu verdammt sind, enttäuscht zu werden, da sie unabhängig von ihren „Trophäenpartnerinnen“ altern werden, dann werden auch Frauen unabhängig von ihren Schönheitsoperationen altern – ein Thema, das in Kapitel 4 ausführlich behandelt wurde. Die Unterschiede zwischen diesen Strategien sind interessant. Erstens fordern Schönheitsoperationen keine Opfer, während bei Lückenpaaren eine verletzte Partei zurückbleibt, wenn der Partnerschaft das Ende einer langjährigen Beziehung vorausgeht. Der zweite Unterschied beinhaltet die in Kapitel 4 dargelegte Asymmetrie: Viele Frauen fürchten, dass ein jüngerer Partner ihr höheres Alter unterstreicht, während Männer sich jünger, stärker fühlen und überheblicher sind, wenn sie mit einer viel jüngeren Partnerin zusammenkommen. Verallgemeinerungen haben so viele Ausnahmen, dass es schwer ist, sie aufzustellen; aber vielleicht ist die Idee, dass es vielen Frauen eher darum geht, wie sie selbst wirken, während es Männern eher etwas bedeutet, was sie erworben oder angelockt haben, nicht von der Hand zu weisen. Lückenpaare passen nicht so leicht in das soziale Umfeld, selbst wenn kein früherer Partner zugunsten eines jüngeren verlassen wurde. Öffentliche Bezeugungen von Zuneigung sind den Beobachtern bei Lückenpaaren oft unangenehm. Der ältere Partner ist in gesellschaftliche Veranstaltungen, die von den Freunden des jüngeren Partners organisiert werden, nicht leicht einzubeziehen. Jeder der beiden Partner wird wahrscheinlich Freundschaften mit Personen seines bzw. ihres Alters pflegen, und die Freundschaftsgruppen sind weniger integriert als bei den meisten Paaren mit Partnern ähnlichen Alters. Wir gehen nicht davon aus, dass Melania Trumps Freunde ihren Ehemann, Donald, gut kennen. Es macht mich traurig, wenn ich mir vorstelle, dass sie wahrscheinlich Schwierigkeiten hatte, neue Freunde zu finden, und das Problem ist für eine First Lady noch schlimmer. Es ist schwer vorstellbar, dass sich andere

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Mütter in der Schule ihres Sohnes (Barron) mit ihr anfreunden. Und da sie als Erwachsene eingewandert ist, ist es unwahrscheinlich, dass sie viele langjährige Freunde in der Nähe hat. Sie hat auch keine Kollegen an einem Arbeitsplatz und keine andere Quelle neuer Freunde. Auch Ivana Trump, Donalds erste Ehefrau, fand nach der Trennung von Donald Trump ein jüngeres Model, und sie ging mit beträchtlichem Reichtum aus der Scheidung hervor. Donalds zweite Frau, die amerikanische Schauspielerin Marla Maples, befindet sich hingegen nicht wieder in einem Lückenpaar. Wahrscheinlich hatte sie dazu weniger Gelegenheit, da ihre Scheidung von Trump angeblich durch einen vor der Ehe abgeschlossenen Vertrag streng geregelt war. Marla wird offenbar keine Sympathie entgegengebracht, möglicherweise weil sie so verdrängt wurde, wie sie vorher eine andere Frau verdrängt hatte. In dem Mangel an Mitleid für diese abgelehnte Frau mag sich auch die Akzeptanz frei ausgehandelter Übereinkünfte widerspiegeln. Marla wusste, worauf sie sich einließ, sie hatte einem vor der Ehe abgeschlossenen Vertrag zugestimmt, sie leistete (im Gegensatz zu Ivana) keinen großen Beitrag, indem sie eines von Trumps Unternehmen leitete, und war wahrscheinlich nicht überrascht, als ihr Auftritt auf der Trump-Bühne zu Ende ging. Ivanas Situation erlaubt uns die Trennung von romantischer Ablehnung und wirtschaftlicher Abhängigkeit. Die Scheidung wirkt wie ein Vertragsbruch, wie im Folgenden noch erörtert wird; doch das finanzielle Ergebnis entschärft jeden Vorwurf eines Fehlverhaltens. Wechseln wir das Thema und betrachten wir zwei junge Menschen, die sich in einer Lebensphase kennenlernen, zu der sie sich mit dem Gedanken an eine dauerhafte und langfristige Partnerschaft tragen. Stellen wir uns vor, dass Deborah in Ben verliebt ist, und als Ben die Beziehung nach ein paar Monaten beendet, ist Deborah am Boden zerstört. So herzlos es auch klingen mag: Deborah sollte dankbar sein. Sie ist, gemäß unserem Ausgangsszenario, auf der Suche nach einem langfristigen Partner, und Ben hat Deborah geholfen, indem er sie ermutigt hat, ihren Lebensweg weiterzugehen und ihre Suche woanders fortzusetzen. Die wenigstens von uns können sich vorstellen, Menschen zu lieben, die uns nicht lieben, und so können wir vermuten, dass Deborah wahrscheinlich keine Beziehung zu Ben will, wenn dieser ihre Gefühle nicht mehr erwidert. Sie kann enttäuscht sein, aber man wird es wohl kaum eine Tragödie nennen können, nach einem Partner zu suchen, eine Beziehung aufzubauen, Zeit miteinander zu verbringen und dann zu erfahren, dass einer der beiden Partner glaubt, die Beziehung sollte enden. Keiner von uns erwartet wirklich oder will, dass jeder andere auf der Welt uns für begehrenswert und für einen passenden Partner hält. Wir möchten die Gelegenheit haben, dass die andere Person uns kennenlernen kann, aber nach einigen Monaten des Zusammenseins ist Ben wahrscheinlich in der Lage, begründet zu

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entscheiden, ob seine Beziehung zu Deborah von Dauer sein wird. Deborah hat Glück, dass Ben entschlossen und ehrlich ist; dass Ben die Beziehung beendet, ist eine positive Sache; oder zumindest behaupte ich das. (Geschichtsinteressierte Leser werden bemerken, dass Deborah der Vorname von Ben Franklins Ehefrau war. Die Ähnlichkeit endet damit allerdings, da Deborah Franklin aufgrund von Bens Auslandsreisen und Liebschaften eine Art Teilzeit-Ehefrau blieb.) Wenn ich diese optimistische Sichtweise einer Trennung verteidige, sagen mir junge Leute wie eine Deborah von heute häufig etwas wie: „Ich bin traurig, denn hätte Ben etwas mehr Zeit investiert, so hätte er erkannt, dass wir perfekt zueinander passen.“ Vielleicht. Auf der anderen Seite hat Ben ähnliche Ziele, und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass er über die Vorteile eines längeren Kennenlernens nachgedacht hat. Für jedes glückliche Ende, bei dem ein Partner den anderen davon überzeugt hat, eine Ablehnung zu überdenken und sich noch mehr Zeit für ein besseres Kennenlernen zu nehmen, gibt es wahrscheinlich drei oder vier, bei denen nach Ansicht von mindestens einem der Partner die Beziehung früher hätte beendet werden sollen, sodass es beiden möglich gewesen wäre, ihren Lebensweg fortzusetzen. Wie so häufig sagt mir mein innerer Ökonom, dass der richtige Weg, über Dinge nachzudenken, darin besteht, vorauszuschauen. Die Monate oder Jahre, die man in eine Beziehung investiert hat, sind vergangen und hoffentlich waren sie im Wesentlichen eine Bereicherung. Das Leben ist eine Reise, kein Ziel, wie das Sprichwort sagt. Das ist die Sichtweise eines optimistischen Ökonomen auf eine Zurückweisung. Dieser rosige und kontraintuitive Blick auf eine Zurückweisung erstreckt sich auch auf andere Unternehmungen, bei denen es auf die eine oder andere Art um ein Aussortieren geht. Es kann zum Beispiel gut für jemanden sein, wenn er bei seinem Job gefeuert wird, weil es eine Gelegenheit ist, sich woanders umzusehen und eine Stelle zu finden, in der man aufblühen kann. Viele Arbeitgeber kommen auch zu der Erkenntnis, dass die Entlassung eines Mitarbeiters nicht so schlimm ist, wie es scheint; häufig wird der Arbeitnehmer davon profitieren, wenn er gezwungen ist, nach etwas anderem zu suchen. Es versteht sich natürlich von selbst, dass es günstiger ist, wenn man von einem potenziellen Arbeitgeber und vielleicht sogar von einem potenziellen Partner frühzeitig abgelehnt wird. Je länger man in einer Position bleibt, desto schwieriger ist der erzwungene Abschied. Eine Arbeit zu verlieren, ist zum Teil deshalb schmerzlich, weil man viel in seine Kollegen und in die Fähigkeiten investiert hat, die für den Job erforderlich sind. Die Art von kühler, an der Suchtheorie orientierter Sicht der Zurückweisung, die ich hier vorstelle, deutet darauf hin, dass der Nutzen einer romantischen Abfuhr oder eines Wiedereintritts in den Markt mit dem Alter abnimmt. Wenn ich noch 40 Jahre Arbeit vor mir habe, dann ist die Zurückweisung durch einen Arbeit-

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geber wertvoll, weil ich mich erneut der Aufgabe widmen kann, nach einer erfüllenderen Arbeit zu suchen, wo eine beiderseitige Wertschätzung besteht. Aber wenn ich in drei Jahren in Rente gehe, ist eine weitere Suche weniger wertvoll, und die Zurückweisung durch einen Arbeitgeber wird sich vernichtend und entmutigend anfühlen. Gilt das auch für die Liebe? Die zukunftsorientierte, optimistische Ansicht über das Ende einer Beziehung ist desto schwerer zu akzeptieren, je länger die Beziehung besteht. Wenn meine Ehepartnerin mir morgen verkünden würde, dass sie nach drei Jahrzehnten Ehe weiterziehen und unsere Beziehung beenden möchte, bin ich sicher, dass ich trotz meines inneren Ökonomen nicht erfreut darüber wäre. Im Grunde sollte ich für die Zurückweisung dankbar sein; ich will, was gut für sie ist, und wenn sie sicher ist, dass ich in ihrer Lebensrechnung nicht mehr auf der Habenseite verbucht werden kann, dann sollte ich möglicherweise ihrem Urteil vertrauen. Außerdem, was wäre das Gute daran, herauszufinden, dass jemand nur deshalb bei mir geblieben ist, weil er oder sie meine Gefühle nicht verletzen wollte? Ich würde gewiss Traurigkeit empfinden und vielleicht würde ich sogar in Bitterkeit versinken, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann, da ich ein vorwärtsschauender Mensch bin. Die Frage ist, ob die unvermeidliche Traurigkeit das Ergebnis einer irrationalen, rückwärtsgewandten Berechnung ist. Die vielen Ehejahre könnten als verlogen oder verschwendet erscheinen; der abgelehnte Partner könnte sich verlassen fühlen und zugleich das Gefühl haben, dass ihm oder ihr Unrecht widerfuhr, da man ihm nicht früher gesagt hat, er solle gehen und seine Gefühle in eine andere Beziehung investieren. Aber trotzdem sollte man wohl nicht sagen, es wäre besser gewesen, nie geliebt zu haben. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt und so weiter. Vielleicht ist der Ehepartner, der geht, genauso überrascht und enttäuscht wie der, der zurückgewiesen wird. An der Traurigkeit über eine Zurückweisung nach vielen Jahren muss noch mehr dran sein. Betrachten wir zum Vergleich das Phänomen der Trauer. Hier behauptet der vorausschauende Ökonom eher ein Realist als ein Optimist zu sein. Wenn ein Freund oder ein Familienmitglied stirbt, würde eine zukunftsorientierte Person vielleicht sagen: „Ich habe diese Person geliebt, aber jetzt ist sie tot. Es macht keinen Sinn, sich deshalb schlecht zu fühlen, weil Trauer, wie Wut, eine Verschwendung von Energie ist. Ich kann von der Todesnachricht sofort zu einer vorausschauenden Haltung übergehen. Es stellt sich heraus, dass ich in diese Person zu viel investiert habe, obwohl die gemeinsame Zeit gut war.“ Aber dieser hypothetische Ökonom ist übermenschlich. Trauerrituale sind so alt und in jede Kultur eingebettet, dass sie etwas für sich haben müsse. Eine Möglichkeit ist, dass Trauer und noch mehr das laute Klagen – wie es in vielen Gesellschaften vor-

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kommt und nicht inszeniert wirken muss, sondern impulsiv und authentisch wirken kann – uns in dem Glauben bestärkt, dass es anderen nahegehen wird, wenn wir sterben. Die Erwartung, dass sie von Trauer erfüllt sein werden, wenn wir das Zeitliche segnen, erlaubt uns, uns in Bezug auf unser Leben und unsere Beziehungen mit anderen besser zu fühlen. Im Gegenzug investieren wir in diese Beziehungen, wodurch der Zusammenhalt der gesamten Gemeinschaft gestärkt wird. Wir lernen oder entwickeln uns dahin, beim Tod eines anderen eine Zeitlang innezuhalten; dies trägt zu unserem Selbstwertgefühl bei, auch wenn man sagen könnte, es sei eine Zeitverschwendung oder verhindert, dass wir in die Zukunft blicken. Eine zweite, bessere Erklärung, die auch dem zukunftsorientierten Denken des Ökonomen entspricht, lautet, dass Trauer uns hilft, unsere eigene Sterblichkeit anzunehmen. So wie die Teilnahme an einer Hochzeit zu einer Entscheidung über die Zukunft der eigenen Ehe führen kann, bietet die Trauer auf einer Beerdigung die Möglichkeit, über die Sterblichkeit nachzudenken und sich darauf zu konzentrieren, in Zukunft ein sinnvolles Leben zu führen. Eine oder sogar beide dieser Erklärungen des Verhaltens nach einem Todesfall werfen ein Licht auf die Unsicherheit, die häufig auf das Ende einer Liebesbeziehung folgt. Auf der einen Seite sollte ein zukunftsorientierter Liebender die Ablehnung als nützlichen Hinweis darauf akzeptieren, dass es an der Zeit ist, weiterzuziehen und seine Gefühle vielleicht in einen neuen Partner zu investieren. Aber der Schmerz der Zurückweisung oder einfach einer gescheiterten Beziehung kann auch für eine vorausschauende Person nützlich sein. Er unterstreicht den Wert einer Beziehung und spornt die Person an, die nächste wertzuschätzen und auch härter an ihr zu arbeiten. Deborahs Schmerz führt wahrscheinlich dazu, dass sie – und Ben – die nächste Beziehung ernster nehmen. Wenn wir älter werden, nehmen diese Betrachtungen über Liebe und Zurückweisung etwas andere Formen an. Wenn es zur Zurückweisung nach vielen Jahren kommt, ist es natürlich, wenn auch nicht zukunftsorientiert, wenn sich der abgelehnte Partner betrogen fühlt und den Eindruck hat, dass ihm oder ihr ein großes Unrecht zugefügt wurde. Wenn Ben Deborah nach 20 gemeinsam verbrachten Jahren verlässt, wird sie sich betrogen fühlen. Vielleicht sagt sie, dass sie und Ben eine Art gegenseitige Versicherung abgeschlossen haben. Sie hätte ihn nicht verlassen, wenn er krank geworden wäre, und sie hat nie nach anderen Partnern gesucht und versucht, eine bessere Partie zu machen. Auf ihre Beziehung zu Ben hatte sie sich für ihr ganzes Leben eingelassen. Wenn Ben sagt: „Ich liebe Dich einfach nicht mehr, also was soll’s?“, so sagen ihm seine Freunde vielleicht, was er hören möchte: dass wir nur einmal leben und also die Abenteuer suchen sollten, die uns aufregend erscheinen. Wenn Ben geht, weil er sich von einer jüngeren Frau angezogen fühlt, wird Deborah wahrscheinlich

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besonders das Gefühl haben, dass ihr Unrecht geschieht. Sie wird das Gefühl haben, dass sie Ben zuliebe Gelegenheiten verstreichen ließ und ihre jugendliche Anziehungskraft nicht genutzt hat; im Gegenzug hätte ihn sein innerer Kompass davon abhalten sollen, den impliziten oder expliziten Vertrag zu brechen. Doch was, wenn der alternde Ben es wirklich versucht hat? Wenn wir den Wert einer Zurückweisung anerkennen, aber auch ihren Wertverlust im Laufe der Zeit wahrnehmen, stellt sich die Frage, wann man sich in einer Beziehung oder einem Lebensprojekt stärker bemühen und wann weitere Enttäuschungen vermieden werden sollten. Wir können uns sowohl mit Ben als auch mit Deborah identifizieren. Ben weiß, dass Deborah gute Eigenschaften hat und eine loyale Partnerin ist; ihr Engagement für Ben ist wertvoll und könnte Ben sehr glücklich machen. Aber Ben muss sich entscheiden, ob er bei Deborah bleiben soll, sodass die Beziehung sich vielleicht wieder erholen kann, oder ob er nach einer anderen Partnerin Ausschau halten soll. Hängt das von Bens Alter ab? Diesbezüglich gibt es widersprüchliche Auffassungen. Auf der einen Seite sollte Ben, je älter das Ehepaar ist, desto mehr in die Rettung der Beziehung investieren, weil er mehr Schmerzen verursachen wird, wenn er sie beendet, und weil ihm weniger Jahre bleiben, in denen sich eine hypothetische andere Beziehung als wirklich besser erweisen wird als diejenige, die er bereits führt. Die gegenteilige Auffassung lautet, dass Ben nur einmal lebt, und dass es, je länger er wartet, um die Trennung zu vollziehen, umso schwieriger für ihn und Deborah sein wird, sich von der Trennung zu erholen. Es mag keine einzig richtige Antwort auf diese Frage geben, die Entscheidung scheint sich für ein alterndes Paar jedoch völlig anders als für ein junges Paar darzustellen. Eine moderne und aufschlussreiche Wendung in dieser Frage ist das das Ende von langjährigen Partnerschaften aufgrund von sexueller Orientierung. Grace and Frankie (2015), eine beliebte Netflix-Serie, geht auf diesen Punkt ein, indem sie mit der Trennung von zwei über 40 Jahre bestehenden Ehen beginnt, wobei die Männer ankündigen, dass sie ihre Ehefrauen, gespielt von Jane Fonda und Lily Tomlin, verlassen, um miteinander zu leben. Die Männer waren in den letzten 20 Jahren nicht nur Geschäftspartner, sondern auch Geliebte, und jetzt sind sie bereit, sich zu befreien und zu heiraten. Die Handlung thematisiert damit einen in der Moderne schwer zu bestreitenden Trennungsgrund, an dem niemand schuld ist. Die Serie nimmt sich auf äußerst amüsante Weise des Lebens der beiden alternden, nun wieder alleinstehenden Frauen an, die durch ihre Scheidungen zusammengebracht wurden. Die moderne Wendung des Coming out ist ein bisschen unfair. Sie hindert das Publikum daran, zu denken die Männer sollten härter an ihren langjährigen Ehen arbeiten; die Frauen sollten Verständnis zeigen und sogar dankbar dafür sein, dass die Konkurrenten keine jüngeren Frauen waren. Und für den Fall, dass das noch nicht reicht um uns zu überzeugen, dass

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es an der Zeit war, dass diese langjährigen Ehen enden, sind die Männer – gespielt von Martin Sheen und Sam Waterston – ebenso schrullig wie die Frauen, doch weniger kontrollierend und selbstbezogen. Und schließlich sind die Liebenden von ähnlichem Alter, sodass wir nicht durch den Altersabstand abgelenkt werden. Die Beziehung der Männer ist ansprechend und wir wollen, dass ihre Exfrauen erkennen, dass trotz ihres anfänglichen Schocks und ihrer Demütigung alles zum Besten ist. Wenn sie wütend sind, sollten sie darauf wütend sein, dass die Männer nicht schon viel früher ehrlich waren. Grace and Frankie mag nicht das Gewicht einer Strauss-Oper haben, doch die zentrale Idee ist glaubhaft und unterstützt die zukunftsgerichtete Sicht auf Beziehungen. Das Ende einer langjährigen Beziehung ist eher eine Chance als eine Tragödie. Ich bin geneigt zu denken, dass Ben und Deborah, wie die historischen Franklins, weiterziehen sollten, ebenso wie Grace’ und Frankies Ehemänner es tun. Aber was ist eigentlich anders, wenn eine langjährige Ehe nicht endet, weil es einer der Partner endlich wagt, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, sondern weil eine der Parteien sich verändert und Defizite in der aktuellen Beziehung erkannt hat oder Abenteuer in einer neuen Beziehung erwartet? Nach herkömmlicher Ansicht haben langfristige Partner (durch Heirat oder auf andere Weise) einen Vertrag über die gegenseitige Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten miteinander geschlossen. Anwälte könnten argumentieren, ein Verstoß gegen diesen Vertrag könne als durch die Unmöglichkeit – wie es das Vertragsrecht nennt – entschuldbar angesehen werden, wenn eine der Parteien eine sexuelle Identität entdeckt hat oder sich nun dazu bekennen kann, die mit dem früheren Vertrag nicht vereinbar war. Die Unmöglichkeit ergibt sich daraus, da sich eine dem Vertrag zugrundeliegende Annahme als falsch erwiesen hat. Doch das Gesetz besteht auch nicht auf der Einhaltung konventioneller Verträge, die nicht aufgrund von Unmöglichkeit unerfüllbar sind. Es bietet aber Rechtsmittel gegen den Vertragsbruch. Trump würde sagen, dass er, als seine Ehe mit Marla Maples endete, genauso viel gezahlt hat, wie sein (vor der Ehe geschlossener) Vertrag verlangte. Fehlt eine solche Vereinbarung, kann ein Gericht Schadensersatz wegen Vertragsbruch festsetzen. Ungewöhnlich wäre es dagegen, darauf zu bestehen, dass ein Partner in einer persönlichen Beziehung bleiben muss. Versprechen können gebrochen werden, wobei sie allerdings Schadenersatzforderungen nach sich ziehen. Dies also ist die „Lüge“, oder vielleicht eine von vielen, die Opern und Filme über alternde Männer und Frauen erzählen. Es ist nicht so, dass alternde Menschen geschlechtslos oder unattraktiv sind. Die Lüge ist, dass man wissen kann, ob ein Paar auch weiterhin sowohl Geborgenheit als auch Neues bei- und miteinander findet oder ob ein Partner oder beide sich ändern und ein völlig neues Abenteuer brauchen. Es ist einfach, Paare zu feiern, die 50 Jahre zusammengeblieben sind, auch wenn der Fest-

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redner immer darauf hinweist, dass es schwere Zeiten gegeben hat, die die beiden bestehen mussten. Sich zu freuen fällt schwerer, wenn ein Paar sich auseinandergelebt hat und die beiden ihre Lebensreise auf getrennten Wegen weitergehen. Aber vielleicht sollten wir versuchen, die Energie und den Optimismus zu feiern, die zum Beginn des nächsten Abenteuers führen. Ich vermute, dass ein Grund, warum wir Trennungen so aufreibend finden – und besonders dann, wenn ihnen die Wahl eines deutlich jüngeren Partners folgt –, darin besteht, dass wir ein starkes Bewusstsein für die Gleichstellung der Geschlechter entwickelt haben und dass unserer Erfahrung nach, wenn ein Paar sich trennt, der alternde Mann mehr romantische Möglichkeiten vor sich hat als die alternde Frau. Wenn eine solche Beziehung im Entstehen begriffen ist und das mit einem viel jüngeren Partner, scheint dies die Trennung schlimmer zu machen. Wir betrachten dies als unfair, und die einzige Möglichkeit, den verlassenen Verlierer zu schützen, besteht darin, Trennungen entgegenzutreten, indem wir lebenslangen Partnerschaften Beifall spenden und Lückenpaare missbilligen. Sollten sich Paare mit großem Altersabstand weitestgehend auf Fälle wirtschaftlicher Ungleichheit beschränken, so würden wir, wenn mehr Frauen sich dem einen Prozent anschießen und mit jüngeren Partnern zusammenkommen, Zurückweisungen auf die ein Abenteuer folgt, vielleicht weniger schlimm finden. Andererseits sehen wir vielleicht weniger Lückenpaare mit älteren Frauen, wenn Frauen (mehr als Männer) das Gefühl haben, dass sie neben einem jüngeren Partner älter aussehen. Dieses zwanghafte Streben nach Jugendlichkeit in sich selbst statt nach einem jugendlichen Partner könnte dazu beitragen, dass Paare, in denen die Frau älter ist, auch weiterhin die Ausnahme bleiben. Schließlich erhält das gegenwärtige Muster sich selbst. Wir haben viele Trumps, aber wenige Sarandons und Marschallinnen. Die französische politische Sensation Emmanuel Macron war erst 17, als er seiner (24 Jahre älteren) Frau Brigitte Trogneux zum ersten Mal einen Heiratsantrag machte. Sie wird manchmal als Macrons Coach beschrieben, aber niemals als Mutterfigur oder Gönnerin. Französische romantische Muster werden in den USA zur Kenntnis genommen, aber nur selten kopiert. In Ermangelung von Vorbildern werden alternde Frauen romantische Beziehungen zu jüngeren Partnern nur selten anstreben, oder umgekehrt. Wenn sich dies aufgrund der steigenden Anzahl aus eigener Kraft zu Wohlstand gekommener Frauen ändert, werden wir wohl eine neue Einstellung gegenüber Lückenpaaren und auch gegenüber Trennungen entwickeln. Wenn es im Älterwerden zum Teil auch darum geht, sich in der eigenen Haut wohler zu fühlen, dann sollten wir auf weitere Abenteuer dieser Art hoffen.

Anmerkungen

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Ich sage „bedeutend“, nicht „großartig“, weil viele zu Recht skeptisch gegenüber ihrer falschen Sentimentalität sind. Strauss schrieb eine bedeutende und auf keine Weise verlogene Oper, Elektra (1909). Aber da er vielleicht durch die zornige Reaktion auf dieses experimentelle und tiefgründige Werk erschüttert wurde, wandte er sich danach hauptsächlich dem Kitsch zu. Burton D. Fischer, Richard Strauss „Der Rosenkavalier“ (New York: Opera Reisen, 2011), 30. Fischer, Richard Strauss „Der Rosenkavalier“, 31. Fischer, Richard Strauss „Der Rosenkavalier“, 31. Donald Winnicott, „The Capacity for Concern“ (1963), in The Maturational Processes and the Facilitation Environment (Madison, CT: International Universities Press, 1965), 76. In früheren Zeiten gab es mehr Flexibilität – vor allem, weil viele solcher Transgenderrollen von Kastraten gesungen wurden, die reife und mächtige Männer auf glaubwürdige Weise darstellen konnten, obwohl sie in einer Sopran- oder Mezzosopranstimme sangen. E. M. Forster, Maurice (New York: Norton, 1971), 250. Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich im Folgenden auf heterosexuelle Paare konzentriere, aber ich denke, dass die Themen für homosexuelle und Transgenderpaare vergleichbar sind. Kleopatra wurde schließlich von einem männlichen Schauspieler dargestellt. Die Standardlösung, in den Schriften von Grisez, Finnis und George, besteht in der Behauptung, dass heterosexuelle Beziehungen zu einer Frau nach der Menopause „das richtige Verhalten“ beinhalten, um ein Kind zu zeugen, wenn es nur kein körperliches Hindernis gäbe. Wer weiß? Es könnte ja ein Wunder geschehen. Diese Ansicht traut Gott zu wenig Erfindungsgabe zu: Denn wenn ein Wunder dazu führen kann, dass eine Frau in den Sechzigern schwanger wird, warum sollte Gott dann nicht auch eine Schwangerschaft für zwei Männer ermöglichen, indem auf wundersame Weise neue Organe entstehen! Siehe Blakey Vermeule, Why Do We Care About Literary Characters (Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press, 2011). Julius Caesar und Coriolanus scheinen Ausnahmen zu sein, aber es ist schwierig, weitere anzuführen. Siehe Zamir, Double Vision: Moral Philosophy and Shakespearean Drama (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2007). Vergleiche Platons Erklärung, warum Gymnastik für die Jugend wichtig ist: Wenn der Körper kräftig und gut trainiert ist, kann man seine Forderungen leichter ignorieren (Der Staat II). Julias Alter wird mit fast 14 angegeben; Romeo ist ein wenig älter als sie, aber noch keine 18, da er sonst zum Militärdienst hätte eingezogen werden müssen. Um die Frage des Alters aus dem Weg zu schaffen: Historisch gesehen ist Kleopatra (69–30 v. Chr.) fast 40 und Antonius (83–30 v. Chr.) 14 Jahre älter. Was die dramatische Darstellung anbelangt, scheinen sie jedoch gleichaltrig zu sein, und Antonius hat, wie bereits erwähnt, gewiss eine infantile Seite, sodass er manchmal jünger wirkt. Die Geschichte kontrastiert Kleopatras Liebesbeziehung zu dem viel älteren Julius Caesar (100–44 v. Chr.) mit ihrer Liebesbeziehung zu Antonius, der typischerweise als kindlich

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und ein wenig passiv dargestellt wird. Aber sie hat beiden Kinder geboren (Caesarion wurde 47 v. Chr. geboren, als sie 22 war; Kleopatra Selene wurde Kleopatra und Antonius um 40 v. Chr. geboren und lebte bis 6 v. Chr.; ihr Zwillingsbruder Alexander Helios starb kurz nach seinen Eltern, ebenso wie ein jüngerer Bruder, Ptolemäus Philadelphus); ihr Alter im wirklichen Leben ist also mindestens insofern von Bedeutung. 15 Anm. d. Übersetzers: Zitiert nach http://www.zeno.org/Literatur/M/Shakespeare,+William/Tragödien/Antonius+und+Cleopatra/Zweiter+Aufzug/Fünfte+Szene" 16 Zamir, Double Vision. 17 Cambridge, MA: Harvard University Press, 1981.

Kapitel 7

Ungleichheit und eine alternde Bevölkerung Das Problem der wachsenden Ungleichheit umgibt uns von allen Seiten und hat alle Bereiche der Politik durchdrungen. Stellen arme alte Menschen ein besonderes Problem dar? Wie könnte eine Reform der Sozialversicherung die Lage zum Besseren wenden, insbesondere für Menschen, die nicht für ihren Ruhestand gespart haben? Worauf haben ältere Menschen in einer wohlhabenden und gerechten Gesellschaft Anspruch, und wie können wir ihnen diese Dinge zur Verfügung stellen?

Ungleichheit und die Armut älterer Menschen Saul Wie können wir älteren armen Menschen helfen? Die meisten älteren Amerikaner haben mehrere Wohlstandsphasen durchlebt, sodass die Generation, die jetzt in Rente geht, die reichste ist, die das Land jemals gesehen hat. Doch auch die erfolgreichste Generation hat einen Anteil an schutzbedürftigen Mitgliedern; es gibt eine Untergruppe von älteren armen Menschen und Millionen von finanziell kaum abgesicherten Rentnern, denen es nur wenig besser geht. Dieses Kapitel zeichnet ein Bild des Reichtums und der Armut unter alternden Amerikanern und schlägt eine kühne Ausweitung der sozialen Sicherheit vor. Es ist ein Vorschlag, den viele von uns, die gegenüber einer zu stark intervenierenden Regierung skeptisch sind, zunächst unplausibel oder unklug finden werden. Die Idee besteht darin, eine „Lebenskosten abdeckende Beihilfe“ anzusparen und so teure politische Grabenkämpfe sowie einen Klassenkampf zu vermeiden.

Wer sind die älteren armen Menschen? Beginnen wir mit einer Momentaufnahme des Problems und einigen Fakten zu Wohlstand und Armut in den Vereinigten Staaten.1 Mehr als ein Drittel des Privatvermögens ist im Besitz von einem Prozent der Bevölkerung; ältere Menschen sind in dieser Gruppe überrepräsentiert. Gleichzeitig hat eine Mehrheit der Erwachsenen zu geringe Ersparnisse, um eine kleinere finanzielle Notsituation zu bewältigen und ist auf die Hilfe der Regierung, von Freunden oder der Familie angewiesen. Eine knappe

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Mehrheit hat keine Ersparnisse für ihre Altersvorsorge, obwohl in dieser Kategorie – ebenso wie bei der Unfähigkeit, finanzielle Notsituationen zu meistern – der Eigenkapitalwert in Häusern nicht mitberücksichtig ist. Im Falle solcher Krisen können einige dieser Personen Vermögenswerte verkaufen oder Darlehen aufnehmen, aber viele sind dazu nicht in der Lage oder wissen nicht, wie man das macht. Fast alle älteren Amerikaner können sich auf Sozialversicherungsleistungen verlassen, da nur drei oder vier Prozent derjenigen, deren Alter über dem normalen Rentenalter liegt, überhaupt keine Sozialleistungen erhalten. Diese kleine Gruppe besteht hauptsächlich aus Personen, die länger arbeitslos waren und daher keinen Anspruch auf Leistungen erworben haben sowie aus Immigranten, die erst spät in ihrem Leben ins Land gekommen sind. Die Gruppe ist überproportional von Armut betroffen, aber – was Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit betrifft – nicht sehr untypisch für die übrige Bevölkerung dieses Alters. Es ist offensichtlich, dass die meisten Menschen, die normalerweise als ältere arme Menschen bezeichnet werden, nicht völlig mittellos sind, sondern lediglich über keine größeren Ersparnisse verfügen und nur so gut leben können, wie verschiedene Regierungsprogramme, einschließlich Medicaid und die Sozialversicherung, es ihnen ermöglichen. Die maximale jährliche Sozialversicherungsleistung für eine Person, die im Alter von 66 Jahren in Rente geht, beträgt 31.668 Dollar, doch die meisten Empfänger haben keinen Anspruch auf diesen Höchstbetrag. Die durchschnittliche Rentenhöhe beträgt nur etwa die Hälfte, wobei die Mindestkosten für den Lebensunterhalt einer einzelnen Person dieses Alters, die zur Miete wohnt, etwa 24.000 US-Dollar betragen. Die Armutsgrenze liegt deutlich darunter, während die Lebenshaltungskosten in teuren Städten viel höher sind. Die Sozialversicherungsleistung beträgt mindestens 90 Prozent des Einkommens für 22 Prozent der älteren Paare und für 45 Prozent der älteren Alleinstehenden. Diese Amerikaner sind nicht in Gefahr, zu verhungern, sie können es sich jedoch nicht leisten, weit entfernte Familienmitglieder zu besuchen, in Nationalparks zu reisen, Eintrittskarten für Konzerte zu kaufen oder viele andere Dinge zu tun, die eine Wohlstandsgesellschaft mit dem Ruhestand oder einfach mit einem Leben in Verbindung bringt, das man voll auskostet. Allerdings ist das Einkommen nicht die einzige Quelle wirtschaftlicher Sicherheit. Angesparte Vermögenswerte können verkauft werden, um den Ruhestand zu finanzieren. Leider geraten die Daten ein wenig durcheinander, wenn man versucht, Informationen über Einkommen und Vermögen zusammenzufassen. Etwa die Hälfte der Haushalte von Personen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren haben bereits ein Rentensparguthaben, die Hälfte dieser Haushalte hat einen leistungsorientierten Rentenplan (zusätzlich zur Sozialversicherung) und 36 Prozent besitzen ein unbelastetes Eigenheim. Etwa 62 Prozent der älteren Amerikaner, die aufgrund ihres Einkommens

Ungleichheit und die Armut älterer Menschen

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als arm eingestuft werden, besitzen Eigenkapital in Form ihrer Häuser, deren durchschnittlicher Wert 120.000 Dollar beträgt. Das ändert das Bild nicht sehr, wenn man den Betrag über viele Ruhestandsjahre verteilt, doch es schließt wirkliche Armut zumindest für einen großen Teil der älteren Menschen aus, deren Einkommen allein sie an die Armutsgrenze oder in ihre Nähe bringt. Diese Eigentümer können ihre Häuser beleihen, sodass ihr verfügbares Einkommen 5.000 bis 10.000 Dollar mehr als die 15.000 oder 20.000 Dollar von der Sozialversicherung beträgt, je nach Lebenserwartung und den angenommenen Zinssätzen. Viele ältere Menschen mit geringem Einkommen leben nicht allein oder sie haben ihre Häuser ihren Kindern versprochen. Familienmitglieder bieten Unterstützung, wobei davon ausgegangen wird, dass das Elternhaus nach dem Tod der älteren Generation in ihren Besitz übergeht. Über diese Vereinbarungen sind jedoch keine Daten verfügbar. Man schätzt, dass etwa zehn Prozent der 40 Millionen Amerikaner über 65 Jahre unter die Armutsgrenze fallen.

Ungleichheit unter älteren Menschen Wenn die verarmten älteren Menschen nur wenige Prozent der Bevölkerung ausmachen, warum haben wir dann nicht mehr für diese Gruppe getan? Es ist bekannt, dass ältere Bürger verlässliche Wähler und durch die AARP2 sowie andere Verbände recht gut organisiert sind. Bei der Reform des Gesundheitswesens und in anderen Bereichen schien es, als seien die Politiker den Belangen älterer Menschen gegenüber sensibel, wenn nicht sogar verpflichtet. Es mag daher überraschen, dass diese Untergruppe der älteren Armen überhaupt existiert. Es gibt mehrere Gründe, warum Armut unter älteren Menschen fortbesteht, und es ist hilfreich, diese Situation zu verstehen, um möglichst erfolgversprechende Lösungen zu entwickeln. Zunächst ist zu betonen, dass der durchschnittliche und sogar mittlere Wohlstand älterer Menschen ein Hindernis für Reformen darstellt. Am oberen Ende finden wir Warren Buffett und viele andere ältere Amerikaner unter den Reichsten. Die Medien richten ihre Aufmerksamkeit auf junge Milliardäre im Silicon Valley, aber tatsächlich sind etwa zwei Drittel der einhundert reichsten Amerikaner über 60 Jahre alt, und viele sind weit über 80. Der wichtigere Teil des Bildes erfasst jedoch normale Haushalte. Es gibt Millionen wohlhabender Menschen, die bis zur Rente Vermögen anhäufen und davon ausgehen, es in ihren Ruhestandsjahren auszugeben oder zu verschenken. Für die nichtarmen Personen steigt das Nettovermögen in der Regel bis zur Pensionierung an und erreicht einen Mittelwert von etwa 200.000 Dollar für 65- bis 69-Jährige. Es liegt bei dem etwa Fünfzigfachen für die oberen ein Prozent dieser Gruppe. Wenn wir Leistungen der sozialen Sicherheit einbeziehen (die in den Daten als Einkommen, nicht als Ersparnisse oder Vermögenswerte behandelt werden), steigen die Nettovermögens-

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werte für alle erheblich an. Diese Vermögensverteilung, die ihren Höhepunkt um das beziehungsweise kurz nach dem mittleren Rentenalter erreicht, ist völlig vorhersehbar, wenn wir das Sparverhalten für den Ruhestand berücksichtigen. Es ist ebenfalls nicht überraschend, dass die Wohlstandslücke zwischen Alt und Jung größer geworden ist. Die wachsende Ungleichheit hat viel Aufmerksamkeit erhalten, und es ist nicht befremdlich, dass die Kluft zwischen den Altersgruppen zunimmt. Vor 30 Jahren waren Haushalte, denen jemand im Alter von 65 Jahren oder mehr vorstand, zehnmal so wohlhabend wie diejenigen von jemandem unter 35 Jahren; heute ist diese Lücke so groß geworden, dass der Multiplikationsfaktor 50 beträgt. Die älteren Menschen sind reicher geworden, während die jüngeren Erwachsenengruppen ärmer geworden sind. Ältere Amerikaner haben finanziell gut abgeschnitten, indem sie in Wohnungen investierten, sie haben allerdings auch einen größeren Prozentsatz ihres Einkommens gespart und investiert als die nachfolgende Generation. Einige dieser Personen begannen ihr Berufsleben, als die Wirtschaft boomte, viele jedoch nicht. Fairerweise muss man berücksichtigen, dass viele Mitglieder der jüngeren Generation die Generationen ihrer Eltern und Großeltern auf- und sogar überholen, weil die Zahlen für den Netto- und Vermögenswert menschliches Kapital und den Wert einer Hochschulbildung nicht berücksichtigen. Die jüngeren Altersgruppen begannen ihre Karriere später im Leben. Viele junge Leute mit einem niedrigen Nettovermögen haben sich Geld geliehen, um ihre Ausbildung zu finanzieren, und die Anzeichen deuten darauf hin, dass sich dies als eine gute Investition erweisen wird. Dennoch ist es eine unumgängliche Tatsache, dass es älteren Menschen finanziell im Durchschnitt deutlich besser geht als jungen Steuerzahlern oder solchen in der Lebensmitte. Die Älteren könnten politischen Einfluss nutzen, um mehr Vorteile zu bekommen, aber die Verteilung des Reichtums auf die ältere Generation oder die Armen unter ihnen wird nicht auf Grund moralischer Forderungen erfolgen.

Das Problem der älteren Armen wird nicht mit einfachen ­ Geldübertragungen gelöst werden Es gibt verschiedene Vorschläge zur Übertragung von Wohlstand auf die bedürftigsten alten Menschen.3 Sozialversicherungsleistungen könnten von Vermögen oder Einkommen abhängig gemacht werden. Ein Vorschlag ist, an Versicherte mit niedrigem Einkommen höhere Leistungen auszuzahlen, die durch die Besteuerung der Sozialversicherung von Teilnehmern mit hohen Einkommen finanziert würden. Eine weitere Möglichkeit wäre es, Versicherten mit relativ niedrigen Einkommen zu erlauben, mit relativ hohen Leistungen vorzeitig in Rente zu gehen, an Teilnehmer mit hohem Einkommen jedoch nichts zu zahlen, es sei denn, sie hören in einem deutlich höheren

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Alter auf zu arbeiten. Der Gedanke dahinter ist, dass einkommensstarke Menschen tendenziell länger leben als einkommensschwache und oft eine Arbeit haben, die im Alter von über 70 Jahren leichter zu behalten und auszuführen ist. Man beachte, dass diese Strategien versuchen, die Umverteilung innerhalb des Sozialversicherungssystems zu finanzieren; sie haben den Zweck, Geld von relativ wohlhabenden älteren Bürgern zu „nehmen“, um es an die Armen unter den Alten zu verteilen. Das politische Hindernis ist offensichtlich: Die finanziell abgesicherten Alten sind viel zahlreicher und politisch mächtiger als die armen Alten. Ein weiterer Nachteil zu Lasten armer alter Menschen ist die Tatsache, dass der Rest der Wählerschaft eher Programme für junge Menschen fördert. Sozialwissenschaftler haben beeindruckende Daten über die Wirksamkeit früher Interventionen bei armen Kindern oder sogar Kleinkindern erhoben. Investitionen in die frühkind­ liche Bildung, das Gesundheitswesen und die Ernährung können sehr positive Auswirkungen haben, sogar in einem solchen Ausmaß, dass sie den Wählern, jenseits­ etwaiger Umverteilungsmotive, als gute Investitionen verkauft werden könnten. An zweiter Stelle stehen Investitionen in die Umschulung und die Erweiterung beruflicher Fähigkeiten von Erwachsenen, die noch viele Arbeitsjahre vor sich haben. Mit Ausnahme von kleineren Interventionen, wie etwa der Bereitstellung von Grippeimpfstoffen für gefährdete Personengruppen, ist es unmöglich, derartige Programme oder Wertübertragungen, die für ältere Menschen bestimmt sind, zu befürworten. Es gibt auf diese Vorbehalte vernünftige Antworten zugunsten von Investitionen in junge statt alte Menschen. Eine Gesellschaft kann in beide Gruppen investieren, sodass unabhängig von Haushaltszwängen nicht zwischen den beiden Gruppen gewählt werden muss. Investitionen in ältere Menschen zahlen sich möglicherweise nicht in Form von künftigen Einkommen oder Steuereinnahmen aus, aber sie können ein sozial wünschenswertes Verhalten von jüngeren Bürgern fördern, die sehen, dass sie eine faire Behandlung erwarten können, wenn sie selbst älter werden. Doch ich gehe davon aus, dass die Leser meine Auffassung teilen, dass es schwer ist, Argumente für die Investition in ältere arme Menschen vorzubringen, im Gegensatz zur moralischen Forderung, sich um diese Gruppe zu kümmern. In Bezug auf bedürftige Kinder gibt es höhere moralische und wirtschaftliche Anreize, und obwohl all diese Argumente und Gefühle nicht verhindern, dass älteren armen Menschen geholfen wird, stellen sie in einer Welt mit begrenzten Ressourcen ein ernsthaftes Hindernis dar. Ein weiterer Grund, aus dem zu erwarten ist, dass es ältere arme Menschen auch künftig schwer haben werden, ist die Tatsache, dass andere Bürger und insbesondere finanziell besser gestellte ältere Menschen ihnen oft vorwerfen, während ihrer mittleren Altersjahre nicht mehr gespart zu haben. Kinder gewinnen unser Mitgefühl, weil man ihnen schwerlich etwas vorwerfen kann. Zustimmung zu Programmen zu-

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gunsten von Kindern kann man gewinnen, indem man zeigt, dass sich diese Investition auch für Steuerzahler lohnt, da sie damit Geld sparen, das sonst später ausgegeben werden müsste. In Bezug auf ältere Menschen dürfte keines dieser Argumente Erfolg haben. Optimisten werden lieber Geld für Kinder ausgeben, und Skeptiker werden das Argument vorbringen, dass Zahlungen an arme Alte lediglich den Ansporn für die nächste Generation verringern, für ihre Rente zu sparen. Es gibt wohlbekannte und offensichtliche liberale und konservative Antworten auf diesen Vergleich. Liberale werden es für herzlos halten, armen Menschen die Schuld dafür zu geben, dass sie nicht gespart haben, und auf Umstände hinweisen, in denen Armut das Ergebnis von Unglück, unzureichender Bildung oder Krankheit, nicht von Verantwortungslosigkeit ist. Konservative werden hingegen auf Fälle hinweisen, in denen extravagante Ausgaben oder falsches Verhalten zum Abstieg in die Armut beigetragen haben. Ökonomen bezeichnen dies als ein Problem des „subjektiven Risikos“, bei dem durch einen Grundsatz oder eine Vorgehensweise selbst ein Problem eher verschärft als gelöst wird. Wenn Menschen wissen, dass sie im Alter nur dann Zahlungen bekommen werden, wenn sie arm sind, könnten sie weniger sparen, riskante Investitionen tätigen oder ihre eigene Armut anders herbeiführen. Das Problem wird noch verschärft, wenn die Übertragung von Vermögenswerten innerhalb von Familien schwer zu überwachen ist. Menschen könnten versuchen arm zu erscheinen, um davon abhängige Zahlungen zu erhalten, – selbst wenn sie Vermögenswerte absichtlich mit Familienmitgliedern geteilt oder sie auf zuverlässige Partner übertragen haben. Aus diesem Grund ist eine traditionelle Bedürftigkeitsprüfung, die eine Begrenzung der Leistungen auf der Grundlage von Einkommen und Vermögen vorsieht, nicht ausreichend. Viele Menschen, die niemals einen direkten Betrug begehen würden, fühlen sich berechtigt, jüngeren Familienmitgliedern zu helfen, wenn sie wissen, dass öffentliche Mittel zur Verfügung stehen, wenn sie im Alter von 65 Jahren als arm gelten. Schließlich ist es nützlich zu erkennen, dass die Daten über soziale Sicherheit, Wohlstand und Armut die Realität des Familienlebens nicht vollständig widerspiegeln. In vielen Familien ist es nicht vorstellbar, Rücklagen zu bilden, wenn ein anderes Familienmitglied finanzielle Hilfe bei einem medizinischen Problem, einer Hochzeit oder sogar einer Zahlungsverpflichtung für ein Darlehen benötigt. Innerhalb von Familien wird erwartet, dass finanzielle Ressourcen an die Bedürftigen gehen. In vielen Fällen erwartet derjenige, der Ressourcen abgibt, im Alter Hilfe zu erhalten; aber natürlich ist es möglich, dass die Familie über weniger Ressourcen verfügt, wenn sich diese Notwendigkeit ergibt, oder sich die Familiendynamik verändert hat. In manchen Fällen spricht dieses Verhaltensmuster gegen die Übertragung von Ressourcen an ältere Menschen. Es ist schließlich schwer zu verstehen, warum der normale Steuerzahler für die Ruhestandsbedürfnisse eines anderen aufkommen sollte, wenn dieser

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sich dazu entschlossen hat, seine verfügbaren Ressourcen für eine große Hochzeit zu verwenden. Einige Gemeinschaften haben überzogene Erwartungen nicht nur bei Hochzeiten, sondern auch bei gesellschaftlichen Debüts verschiedener Art, und es gibt keinen Grund, warum die Last dieser Bräuche vom Steuerzahler getragen werden sollte. Die Regenbogenpresse ist voller Geschichten, in denen Eltern und Großeltern die Konten steuerbegünstigter Rentenpläne leerräumen, um diese Feierlichkeiten zu etwas ganz Besonderem zu machen, was bedeutet: zu einer unglaublich teuren Angelegenheit. Andererseits wird die Unterstützung innerhalb von Familien oft durch Notsituationen oder Umstände ausgelöst, die ansonsten eine staatliche Intervention erforderlich machen oder zu hohen sozialen Investitionen führen würden. Wird zum Beispiel eine Altersvorsorge für die medizinische Behandlung eines Enkelkindes geopfert, so führt dies häufig zu längerfristigen Einsparungen bei staatlichen oder anderen Gesundheitsausgaben. Wenn private Ersparnisse verwendet werden, um einem Fami­ lienmitglied ein Auto für den Weg zur Arbeit zu kaufen, so entsteht hierdurch ein Nutzen für die Allgemeinheit, und zwar in Form von reduzierten Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung oder einfach durch erhöhte Lohnsteuereinnahmen. Aus diesem Grund sind manche Vermögenswertübertragungen an ältere Menschen eine gute Investition. Statt Verantwortungslosigkeit Vorschub zu leisten oder Sparsamkeit zu verhindern, kann das Wissen um ein Sicherheitsnetz Menschen mit Ersparnissen auch dazu motivieren, ihr Geld klug zu investieren, um im Bedarfsfall Mitgliedern der Familie helfen zu können. Einige Übertragungen von Vermögenswerten innerhalb von Familien kommen also den Steuerzahlern zugute. In anderen Zusammenhängen versucht das Gesetz echte Notsituationen von bloßem Konsum zu unterscheiden. So gibt es etwa erhebliche Strafgebühren für das vorzeitige Abheben von Geldbeträgen von steuerbegünstigten Alterskonten. Allerdings wird diese Gebühr nicht erhoben, wenn das Geld dafür verwendet wird, bestimmte medizinische oder Bildungskosten zu bezahlen, oder wenn der Empfänger über 55 Jahre alt ist und arbeitslos wird. Ebenso ist es nicht völlig unrealistisch, sich vorzustellen, dass die Umverteilung von Vermögenswerten auf ältere Menschen von dem Nachweis abhängig gemacht werden könnte, dass der Grund für die Übertragung von Vermögen innerhalb einer Familie eine medizinische Notsituation eines Mitglieds des engeren Familienkreises war. Zwar finden sich viele dieser Überlegungen in den neuesten Reformplänen zur sozialen Sicherheit wieder, eine gute Lösung sollte jedoch berücksichtigen, dass die vier Millionen älteren Armen nur ein kleiner Teil des größeren, längerfristigen Problems darstellen. Wir haben nur eine relativ kleine Gruppe älterer, armer Menschen, weil sie zu einer Generation gehören, die hart gearbeitet, gespart und von steigenden Immobilienpreisen profitiert hat. Die folgende Generation hat viel weniger gespart

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und wir werden daher vermutlich in Zukunft mit einem viel höheren Anteil armer älterer Menschen konfrontiert sein. Eine gute Lösung für das gegenwärtige Problem sollte das künftige größere also berücksichtigen. Doch bevor wir uns diesem größeren Problem und seiner Lösung zuwenden, wollen wir über die generationenübergreifende Ungleichheit im größeren Kontext nachdenken.

Intergenerationelle Ungleichheit: Von der sozialen Sicherheit zu Kriegen und zum Klimawandel Diese Diskussion über die Not der alten Armen mag vielen Lesern kaltherzig vorkommen. Ich habe behauptet, dass das Problem eine generationenübergreifende Komponente hat, weil es eine weit verbreitete Neigung gibt, sich mehr um bedürftige Kinder als um arme Großeltern zu kümmern. Es gibt aber auch ein Problem innerhalb dieser Generation, da die Generation der Großeltern, obwohl politisch mächtig, kein besonderes Mitgefühl für die wirklich Armen unter ihnen hat. Im Fall von Sozialleistungen und Steuern zeigt sich, dass Interventionen, die Ungleichheit verringern wollen, einen Keil zwischen Alte und Junge treiben können, falls die Leistungen nicht weit in der Zukunft liegen. So entstanden zum Beispiel bezahlte Elternzeit und Erhöhungen des Mindestlohns als Reaktion auf die Sorge um die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Der Rentner, der sich am unteren Ende der Vermögensverteilung befindet, dürfte mit diesen Programmen schlechter dastehen. Elternurlaub und Mindestlohn richten sich beide an Arbeitnehmer; Rentner werden von diesen Programmen keinen Nutzen haben und werden durch die höheren Verbraucherpreise, die auf diese Anweisungen an Arbeitgeber unweigerlich folgen, belastet. In seltenen Fällen könnte ein bezahlter Urlaub es einem Arbeitnehmer ermöglichen, sich um die Eltern zu kümmern, ebenso wie höhere Einkommen mit alternden Familienmitgliedern geteilt werden könnten. Doch es ist offensichtlich, dass diese wichtigen Initiativen meist nicht im Interesse der älteren Armen sind. Die Umverteilung zugunsten der alternden Armen erfolgt hauptsächlich durch Programme, die alternden Menschen insgesamt zugutekommen. Wählern im Alter von mehr als 65 Jahren kann es auf Kosten anderer Wähler verschiedentlich gelingen, Steuervorteile, Erhöhungen der Sozialversicherung und großzügigere Gesundheitsleistungen zu erwirken, doch diese Vorteile sind aufgrund ihrer hohen Kosten begrenzt – was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass die Vorteile attraktiv genug sein müssen, um ältere Wähler im Allgemeinen zu motivieren statt nur solche mit niedrigen Einkommen und geringem Vermögen. Ironischerweise sind also die breiter angelegten und teureren Programme häufig leichter umzusetzen als die gezielten und weniger teuren.

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Der Generationenkonflikt wird am deutlichsten, wenn Seniorengemeinschaften versuchen, Kinder auszuschließen, um vor allem die Kosten für die Bereitstellung örtlicher Schulen zu vermeiden, und wenn man in Gemeinden mit schulpflichtigen Kindern den älteren Nachbarn verübelt, dass sie gegen die Vergabe von Anleihen oder höhere Steuern zur Verbesserung der öffentlichen Schulen abstimmen. Im Prinzip sollten bessere Schulen zu einem Anstieg der Immobilienpreise führen, und damit älteren Bürgern zugutekommen, die ihre im Wert gestiegenen Häuser verkaufen oder beleihen können. In der Praxis ist der Anstieg der Immobilienpreise aber nur gering, und die Vergabe von Schulanleihen oder Steuererhöhungen werden daher von keinem kinderlosen Hausbesitzer als gute finanzielle Investition angesehen. Eine „Lösung“ ist die räumliche Absonderung älterer Menschen, obwohl dies älteren armen Menschen, die wahrscheinlich nicht mobil genug sind und sich den Umzug in nach Alter getrennte Gemeinschaften nicht leisten können, keine Vorteile bringt. Die schmackhaftere Lösung wäre eine Art sozialer Pakt, der Schulen über längere Zeit unterhält, wobei die alternde Bevölkerung anerkennt, dass auch sie einst von der Unterstützung der vorherigen Generation profitiert hat. Andere große öffentliche Ausgaben stellen schwierigere und oft unerkannte Probleme für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen dar. Wer hätte für den Zweiten Weltkrieg oder den Zweiten Golfkrieg (2003–2011) zahlen sollen: Die Regierungen, die in den Krieg eingetreten sind, oder die nachfolgenden Generationen, die davon profitierten? Die Antwort auf eine solche Frage hat einen dramatischen Einfluss auf die Ungleichheit zwischen den Generationen, und die Ungleichheit sollte sowohl horizontal als auch im Zeitverlauf gemessen werden. Der Umgang mit dem Klimawandel ist eine weitere potenzielle Quelle für Konflikte und Ungleichheiten zwischen den Generationen. Es ist eines der dringlichsten Probleme unserer Zeit und noch komplizierter als Kriege. In einem Krieg drängt einem häufig ein Feind das Problem auf, Umweltkatastrophen aber entwickeln sich in der Regel über längere Zeiträume und eine Gesellschaft kann entscheiden, wann sie Vorkehrungen trifft. Aus rein wirtschaftlicher Sicht könnte es einen optimalen Zeitpunkt geben, um ein Kohlendioxid emittierendes Kohlekraftwerk stillzulegen, doch politisch wäre es verlockend, die Stilllegung hinauszuzögern, um die Kosten in die Zukunft zu verschieben, in der Hoffnung, dass eine verbesserte Technologie die Situation retten wird. Grundsätzlich scheint es die beste Strategie, die Vorsorge jetzt zu ergreifen, dabei jedoch die nötigen Investitionen in die Zukunft zu verschieben, um zu verhindern, dass die finanzielle Last der Vorsorge die gegenwärtig lebenden Menschen trifft. Eine Möglichkeit dafür wäre ein Vertrag: Die künftige Generation würde die gegenwärtige Generation bereitwillig dafür bezahlen, dass sie das Kohlekraftwerk stilllegt. Eine andere Möglichkeit, die Sache zu betrachten, ist jedoch die folgende: Es

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ist falsch, dass die gegenwärtige Generation zur globalen Erwärmung beiträgt, da sie weiß, dass künftige Generationen infolgedessen leiden müssen. In der Klimapolitik geht es um Fragen des Alterns in dem Sinne, dass Probleme der Generationengerechtigkeit zum Streit zwischen älteren und jüngeren Bürgern führen können. Die Katastrophen, die von Modellen des Klimawandels prognostiziert werden, sind im Großen und Ganzen Ereignisse, die jemand in den Sechzigern nicht mehr erleben wird. Kein Wunder, dass sich Schulkinder viel mehr Sorgen um das Thema machen als die Generation ihrer Großeltern. Staatsschulden sind in der Regel gefährlich, da sie Investitionen in ineffiziente Projekte fördern und gleichzeitig Kosten in die Zukunft schieben. Doch hier könnte eine Staatsverschuldung angemessen sein: Wenn wir Vorkehrungen treffen können, die kosteneffektiv sind, dann werden langfristige Schulden zur Finanzierung dieser Projekte der heutigen Generation erkennen helfen, dass sie diese Investitionen aus der Perspektive der künftigen Erdbewohner bewerten sollten.

Ein Problem, das wir lösen können: Die älteren Armen der Zukunft Es ist nützlich, über das Problem der armen älteren Menschen auf die gleiche zukunftsgerichtete Art und Weise nachzudenken, auf die wir den Klimawandel betrachten. Für viele Menschen, die jetzt über 70 Jahre alt sind, ist das Leben ein Kampf, und sie würden von einer drastischen Ausweitung der Sozialversicherung oder anderer Programme profitieren. Aber eine Rettung der heutigen armen Alten ist nicht wahrscheinlich, weil ihre Generation als Ganze wirtschaftlich besser dasteht als die nachfolgenden. Inzwischen gibt es ein größeres – aber dennoch leichter zu handhabendes – Problem: die enorme Zahl von Amerikanern mittleren Alters, die über unzureichende Ersparnisse verfügen. Wir experimentieren zwar mit Erziehungsmaßnahmen und Anstößen in die gewünschte Richtung (und geben steuerliche Anreize), um ein verstärktes Sparen zu fördern, aber unsere Bemühungen haben wenig Erfolg. Wenn diese Generation zu alt zum arbeiten geworden ist, wird es große Probleme geben. Die horizontale Ungleichheit wird extrem sein, und diejenigen, die gespart haben, werden nicht g­ eneigt sein, ihren gleichaltrigen Mitbürgern, die nicht gespart haben, zur Hilfe zu kommen. Etwa die Hälfte der Bürger der USA im mittleren Alter verfügt über keinerlei Ersparnisse, und es gibt allen Grund zu der Annahme, dass diese Nichtsparer auch in den kommenden Jahren alles, was sie verdienen, ausgeben werden. Die politisch Klugen unter ihnen rechnen vielleicht mit einer Art Rettung, wenn das Alter eintritt. Wir, die wir vor dieser großen Gruppe von Nichtsparern altern, könnten ihnen helfen. Wir sollten ein Programm befürworten, das – gekoppelt an die Sozialversiche-

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rung – zum Sparen zwingt. In der Vergangenheit gingen die meisten Erhöhungen der Sozialversicherungsleistungen zu Lasten der Jüngeren, weil höhere Leistungen sofort wirksam, aber durch zukünftige Steuern bezahlt werden. Doch betrachten wir stattdessen den Vorschlag, die Steuern und die Leistungen der Sozialversicherung zu erhöhen, jedoch mit einer zeitlichen Verzögerung. Die Sozialversicherungsbeiträge liegen zurzeit bei 6,2 Prozent (zuzüglich weiterer 6,2 Prozent, die der Arbeitgeber zahlt) auf die ersten 118.500 Dollar des Einkommens. Stellen Sie sich vor, Sie würden die Steuer von 6,2 Prozent jedes Jahr sechs Jahre lang um ein Prozent erhöhen oder sogar zwölf Jahre lang um jährlich 0,5 Prozent, wobei die Leistungen in zehn Jahren für alle Versicherten um 500 Dollar pro Jahr steigen und diese Erhöhung dann für 20 Jahre fortbesteht. Die Idee besteht darin, der Sozialversicherung eine große Menge erzwungener Ersparnisse hinzuzufügen, um eine „Lebenskosten abdeckende Beihilfe“ zu erzielen. Die Leistungen könnten auf 40.000 Dollar pro Jahr begrenzt werden, wodurch eine Umverteilung im bescheidenen Umfang eingeführt würde. Auf lange Sicht werden die Arbeitnehmer mit mittlerem Einkommen sechs Prozent mehr Steuern zahlen, aber dieses Geld entspräche dem eines einzelnen Rentenfonds, mit einer Rentenzahlung, die für den Durchschnittshaushalt jährlich zusätzliche 10.000 Dollar erbringt. In den dazwischenliegenden Jahren werden die Steuern oder erzwungene Sparbeträge allmählich ansteigen, ebenso wie die Auszahlungen. Jemand, der 50.000 Dollar im Jahr verdient, wird gezwungen sein, zusätzlich zu den gegenwärtigen Sozialversicherungsbeiträgen zunächst 500 und schließlich 3.000 Dollar im Jahr zu sparen. Nach dem Eintritt in den Ruhestand hätte diese Person nach 40 Jahren allerdings zusätzlich etwa 173.000 Dollar angespart, genug, um daraus für den Rest ihres Lebens jährlich 10.000 Dollar zu erhalten.4 Diese Beträge beinhalten keine Erhöhungen aufgrund eines Anstiegs der Lebenshaltungskosten, die seit 1975 in der Sozialversicherung verankert sind. Nach gegenwärtigen Zahlen würde die durchschnittliche Rente für eine Einzelperson von etwa 16.000 auf 26.000 Dollar (und um 6.000 Dollar mehr für ein Paar, bei dem einer berufstätig war) ansteigen. Die Idee dahinter besteht darin, die Sozialversicherung mit einem System erzwungenen Sparens zu kombinieren, und zwar auf eine Art und Weise, die nur deshalb populär wäre, weil die Ersparnisse, genau wie die „Prämien“ der Sozialversicherung, ein zinsloses Einkommen erbringen. Bürgerinnen und Bürger im Alter zwischen 18 und 50 Jahren könnten für solche erzwungenen Ersparnisse votieren, weil die Hälfte dieser Menschen keine Ersparnisse hat und sich um ihren Lebensstandard im Alter sorgen muss, während die andere Hälfte Sorge hat, dass sie zwecks einer Umverteilung an die Nichtsparer zur Kasse gebeten wird. Diese Wähler werden nicht aufgefordert, für eine Leistungserhöhung bei denjenigen zu stimmen, die sich bereits im oder kurz vor dem Ruhestand befinden und auch wenn viele dieser jungen und mittleren

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Wähler nicht erkennen, dass sie Hilfe brauchen, können die Älteren helfen, indem sie für diese Veränderung stimmen. Einige ältere Wähler könnten einen Anreiz benötigen, um für diese tiefgreifende Veränderung zu stimmen, und dieser könnte in der bescheidenen jährlichen Zunahme der Leistungen, die in zehn Jahren beginnen würde, bestehen. Dieser Vorteil kann – angesichts der projizierten kleinen Steuererhöhungen – gerade attraktiv genug sein, um diese Wähler dafür zu gewinnen. An dieser Stelle möchte ich auch anmerken, dass Leistungen der Sozialversicherung an eine Berufstätigkeit sowie an frühere Beiträge zum System gebunden sind. Sie sind also offensichtlich nicht hilfreich für Menschen, darunter unverhältnismäßig viele Frauen, die einen Haushalt geführt und keine Steuern eingezahlt haben. Diese Frauen und ihre Familien profitieren in hohem Maße von der derzeitigen Struktur der Sozialversicherung, denn ein Ehepaar mit einem Verdiener erhält 150 Prozent der normalen Leistungen. Tatsächlich ist ein Paar mit einem Verdiener, der 70.000 Dollar im Jahr verdient, finanziell besser gestellt als eine Familie mit zwei Verdienern, von denen jeder 35.000 Dollar verdient. Generell ist die interne Rendite für „Investitionen“ (eingezahlte Steuern) in die Sozialversicherung für Paare mit einem deutlich höher als für Paare mit zwei Verdienern, obwohl sich der Abstand in den letzten Jahren verringert hat, da für Leistungen an Hinterbliebene eine Obergrenze eingeführt wurde.5 Dies ist ein Zustand, der sich ändern dürfte, da die Erwerbstätigkeit von Frauen weiterhin zunimmt und sich der gesetzgeberische Schwerpunkt unweigerlich auf Haushalte mit einem Elternteil richtet, statt die Ehe zu bevorzugen oder besonderes Mitgefühl für Witwen widerzuspiegeln. Kehren wir zurück zum Problem der armen älteren Menschen und dem Vorschlag, die Sozialversicherung zur Deckung des Lebensunterhalts durch ausreichende Rente zu verwenden, so besteht die wesentliche Idee darin, höhere Ersparnisse zu erzwingen, um eine künftige Ungleichheitskrise zu vermeiden. In der besten aller möglichen Welten entscheidet jeder Mensch für sich selbst, was er tun und wie er sein Leben führen soll, und der Staat greift nur ein, wenn diese Entscheidungen anderen Schaden zufügen. Aber wir wissen, dass in der wirklichen Welt die meisten von uns nicht still sitzen und zuschauen können oder wollen, wenn ein Unglück geschieht und andere leiden. In dem Wissen, dass sie zum Beispiel Opfer von Überschwemmungen retten muss, wird eine vernünftige Regierung die Möglichkeit, dass Menschen in Überschwemmungsgebieten Häuser bauen, einschränken oder zumindest verlangen, dass sie eine Hochwasserversicherung abschließen. In ähnlicher Weise sollte die Erwartung, wirklich armen älteren Mitbürgern helfen zu müssen, die Regierung anspornen, Spareinlagen für die Altersvorsorge zu verlangen. Ein einfacher Weg, dies zu erreichen, besteht darin, die Leistungen zu erhöhen, sodass praktisch alle Haushalte nach der Pensionierung ihre Lebenshaltungskosten durch die Leistungen abdecken

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können. Dies wiederum erfordert eine Finanzierung durch höhere Steuern, wobei diese vielleicht zutreffender als Prämien oder obligatorische Spareinlagen bezeichnet werden könnten. Sollte es uns gelingen, die Leistungen der Sozialversicherung auf die hier vorgeschlagene Weise zu erhöhen, wird es einige arme ältere Menschen geben, die in den zehn Jahren, die benötigt werden, um sich für Leistungen zu qualifizieren, nicht gearbeitet haben oder nicht arbeitsfähig gewesen sind. Diese Gruppe zum Sparen für ihren Ruhestand zu zwingen ist daher schwieriger. Zu dieser Gruppe werden auch erst spät in ihrem Leben angekommene Immigranten gehören, die keine Ansprüche erworben haben und sich auf Familienmitglieder verlassen oder sehr lange arbeiten müssen. Glücklicherweise werden viele in der Lage sein, Arbeit zu finden, da es – wie in Kapitel 2 erläutert wurde – kein verpflichtendes Rentenalter gibt; ja, sie könnten Stellen von Vollzeitbeschäftigten besetzen, die aufgrund der Erhöhung der Sozialversicherungsleistung etwas früher in Rente gehen. Mein Hauptvorschlag ist für diese Untergruppe allerdings wenig hilfreich, und sie dürfte – wie in der Vergangenheit – wahrscheinlich auch in Zukunft politisch schwach und dem Vorschlag gegenüber negativ eingestellt sein. Dieses Kapitel begann mit einer Beschreibung des Ausmaßes der Armut unter älteren Menschen. In der Überschrift wird behauptet, dass Ungleichheit – ein Thema, das von Akademikern, Bernie Sanders und der Occupy-Bewegung populär gemacht wurde – die Grundursache des Problems ist. Doch der Vorschlag, der hier gemacht wurde, besagt, dass für die meisten Menschen wahrscheinlich ein niedriges Einkommen (und ein niedriges Eigenkapital) und nicht Ungleichheit das Problem ist. Die meisten von uns sind nicht so neidisch, dass wir Bill Gates Reichtum beseitigen wollen. Solange wir genug haben, um mit unseren Familien das Leben zu genießen und vielleicht in einem vernünftigen Alter in Rente zu gehen, stehen wir dadurch, dass ein Nachbar sehr viel mehr besitzt, nicht schlechter da. Gegenwärtig besteht das Problem darin, dass es mehrere Millionen älterer Menschen gibt, die sich Dinge nicht leisten können, die der Rest von uns für selbstverständlich hält. Doch das noch größere Problem ist, dass nach uns viele Menschen, die nichts angespart haben und in ihren Eigenheimen nur über wenig eigenes Kapital verfügen, ins Rentenalter kommen werden. Wir können ihnen helfen, indem wir für ein erweitertes Sozialversicherungssystem votieren, das allen, die die erforderliche Anzahl von Jahren gearbeitet haben, einen vertretbaren Ruhestand garantiert. Für viele von uns ist es ungewohnt, ein größeres Regierungsprogramm als die Lösung eines Problems anzusehen. Aber in diesem Fall wäre die Alternative ein langer und erbitterter Kampf um den Umfang und die Art der Um-

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verteilung an die wachsende Bevölkerungsgruppe alter armer Menschen. Erzwungene Spareinlagen sind die bessere Option.

Altern und menschliche Fähigkeiten Martha Das Altern hat, wie wir betont haben, viele angenehme Aspekte und Möglichkeiten. Es bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich, die viel schwerer zu bestehen sind, wenn man arm ist. Die meisten unserer Aufsätze konzentrieren sich auf relativ wohlhabende Senioren, doch wir müssen uns jetzt der Frage stellen, wie wirtschaftliche Ungleichheit diesen Lebensabschnitt prägt. Sauls Essay erörtert das Ausmaß der wirtschaftlichen Ungleichheit unter älteren Menschen und schlägt Maßnahmen vor, um ihr entgegenzuwirken, insbesondere eine Ausweitung der sozialen Sicherheit. In diesem Aufsatz wende ich mich meinem eigenen normativen politischen Ansatz zu, dem sogenannten Fähigkeitenansatz, um zu sehen, was er uns über diesen Teil des Lebenszyklus zu sagen hat. Und ich denke, dass er uns viel zu sagen hat. Er benennt Defizite in den gegenwärtigen Strategien der USA und zeigt Bereiche auf, in denen Veränderungen erforderlich sind.

Fähigkeiten, Behinderung, Sicherheit In meiner Version schlägt der Fähigkeitenansatz grundlegende politische Prinzipien vor, die als verfassungsmäßige Rechte geschützt oder durch Gesetze abgesichert werden sollten.6 Er behauptet erstens, dass nicht lediglich der durchschnittliche Wohlstand einer Nation untersucht, sondern dass stattdessen die Möglichkeiten betrachtet werden sollten, die Menschen zur Wahl von Aktivitäten zur Verfügung stehen, die sie wertschätzen. Zweitens behauptet er sodann, dass eine Gesellschaft nicht einmal ein Minimum an Gerechtigkeit verwirklicht hat, wenn sie nicht allen ihren Bürgern einen Schwellenwert bestimmter, in meiner Fähigkeitsliste dargelegter spezifischer Möglichkeiten garantiert. Dies sind wesentliche Ansprüche, die in der Idee einer gerechten Gesellschaft enthalten sind, mit anderen Worten: grundlegende Menschenrechte.7 Der Grund für die Verwendung des Begriffs „Fähigkeiten“ ist die Betonung von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten: Menschen haben nicht nur ein Recht auf passive Zufriedenheit, sondern auf eine Reihe von Wahlmöglichkeiten. Der Fähigkeitenansatz stellt nicht auf umfassende Weise dar, welche Bedeutung oder welchen Wert das Leben hat. Er ist eng gefasst, und die Liste der verfassungsmäßigen Rechte ist begrenzt und konzentriert sich auf die wichtigsten politischen Ansprüche. Er lässt den Bürgerinnen und Bürgern viel Spielraum für andere Aktivitäten, die ihren eigenen Lebensauffas-

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sungen entsprechen. Selbst das, was die Liste als schützenwert enthält, ist ein Wahlbereich, und die Menschen können sich auf die eine oder andere Weise entscheiden. (Beispielsweise hindert die Verfügbarkeit nahrhafter Lebensmittel niemanden daran, zu fasten; die Religionsfreiheit zwingt eine nichtreligiöse Person nicht, in eine Kirche zu gehen.) Den Dingen auf der Liste liegt allerdings das Verständnis zugrunde, dass die Möglichkeiten fortlaufend gesichert werden müssen, um Sicherheit in Bezug auf die Zukunft zu fördern.8 Dies ist einer der Gründe, warum der Ansatz eng mit dem Verfassungsrecht verbunden ist. Dass man die zentralen Forderungen über die Launen einer jeweiligen politischen Mehrheit stellt, ist ein Weg, obwohl nicht der einzige, den Bürgern bezüglich dieser Forderungen Sicherheit zu geben. Ich habe an anderer Stelle dafür argumentiert, dass die Verdienste des Fähigkeitenansatzes bezüglich des Umgangs mit den Grundrechten, besonders deutlich werden, wenn wir die Ansprüche von Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt stellen.9 Da sich die Themen Behinderung und Altern erheblich überschneiden, sind die Gründe für meine Schlussfolgerung in diesem Kontext relevant. Ein Aspekt ist der gleiche Respekt und die gleiche gesellschaftliche Teilhabe. Im Gegensatz zu Ansätzen, die auf der Idee eines Gesellschaftsvertrages zum beiderseitigen Vorteil basieren, geht der Fähigkeitenansatz von der Grundidee aus, dass Richtlinien bei zentralen Ansprüchen die gleiche Menschenwürde sämtlicher Bürger respektieren müssen, ungeachtet ihrer derzeitigen wirtschaftlichen Produktivität und somit auch unabhängig davon, ob es wirtschaftliche Vorteile hat, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wir marginalisieren Menschen sonst zu schnell oder sondern sie aus, wenn wir glauben, dass sie nicht „für sich selbst aufkommen“ können. Der zweite Aspekt ist die Sensibilität für unterschiedliche Bedürfnisse. Viele Ansätze – und der von Saul scheint ein solcher zu sein – denken an Berechtigungen im Sinne einiger grundlegender „Allzweckressourcen“, wie etwa Einkommen und Besitz. Der Ressourcenbedarf von Menschen, wenn sie dieselben Stufen der Funktionsfähigkeit erreichen können sollen, ist jedoch unterschiedlich: Eine Person mit schweren Behinderungen braucht möglicherweise mehr Geld, um vollständig mobil sein zu können als eine Person mit sogenannter normaler Mobilität. Darüber hinaus benötigt diese Person nicht nur ein verfügbares Einkommen, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen, wie zum Beispiel Rollstuhlzugänge in Gebäuden und Bussen. Wenn wir uns auf das Ziel konzentrieren, jeden Menschen zu einem gewissen Maß an körperlicher Mobilität zu befähigen, gewinnen wir ein viel umfassenderes Bild von dem, was getan werden muss, um Menschen mit Behinderungen als vollwertige Bürger einzubeziehen. Gleiches gilt, wenn wir über das Altern nachdenken. Alte Menschen zeigen eine große Vielfalt in ihren Bedürfnissen, und ihre Bedürfnisse sind auch nicht

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dieselben wie die der „Durchschnittsbürger“. Legen wir also den Hauptakzent dorthin, wo er hingehört: darauf, was Menschen tatsächlich tun und sein können.

Altern und die Fähigkeitenliste Was gehört aber nun zur Anerkennung der vollkommen gleichen Würde alternder Menschen, wenn wir unser Augenmerk auf die zentralen Ansprüche in Bezug auf ein Minimum an Fähigkeiten (Möglichkeiten) richten? Und wie könnten grundlegende politische Prinzipien die unterschiedlichen Bedürfnisse und Probleme bei alternden Menschen angemessen berücksichtigen und sich damit auseinandersetzen? Gute politische Richtlinien müssen vor allem die Vielfalt und fehlende Homogenität des Lebens alternder Menschen berücksichtigen. Dies ist, wie gesagt, das unterscheidende Merkmal des Fähigkeitenansatzes. Gute politische Vorgaben müssen zweitens gegen verletzende Klischees ankämpfen und dürfen nicht in die Falle tappen, die Fähigkeiten alternder Erwachsener zu Entscheidungen und verschiedensten Aktivitäten zu unterschätzen, und gleichzeitig dazu bereit sein, über unterschiedliche und flexible Formen von Betreuung und Ersatz nachzudenken, wo dies angemessen erscheint. Der Fähigkeitenansatz hat bereits bewiesen, dass er diese Probleme für Menschen mit Behinderungen angehen kann. Und schließlich muss ein gutes Maßnahmenpaket Handlungsmöglichkeiten fördern und schützen, indem es alternde Menschen als wirkmächtige Entscheidungsträger (manchmal in einem Fürsorgenetzwerk mit anderen) ihres Lebens sieht und nicht nur als passive Leistungsempfänger. Ein guter Ausgangspunkt besteht meiner Meinung nach darin, meine Liste von zehn zentralen Fähigkeiten durchzugehen und zu fragen: „Welche Schutzmaßnahmen, welche Richtlinien brauchen wir für uns selbst und andere, wenn wir älter werden? Was könnte in einem wohlhabenden Land wie den USA eine vernünftige Grundlage für Angemessenheit sein?“ Solche Überlegungen liefern einen Überblick oder eine Themenliste, die durch weitere Arbeit und politische Diskussionen dann weiter ausgearbeitet werden kann. Die Liste ist absichtlich abstrakt gehalten, und es fehlt darauf eine Beschreibung der Mindestschwelle für die einzelnen Fähigkeiten. Dahinter steht die Vorstellung, dass verschiedene Nationen diese Skizze entsprechend ihrer Geschichte und ihren finanziellen Ressourcen unterschiedlich umsetzen werden. Ich denke, wir werden sehen, dass Sauls Vorschlag, die Sozialversicherung auszubauen, zwar eine gute Idee, jedoch nicht spezifisch genug auf die vielen Defizite in den Fähigkeiten armer älterer Menschen eingeht. Es müssen darüber hinaus noch Strategien für spezielle Problembereiche entwickelt werden.

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1. Leben. In der Lage sein, ein Menschenleben in normaler Länge zu leben; also nicht vorzeitig zu sterben oder bevor das Leben so eingeschränkt ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. Das Altern wirft eine Reihe wichtiger Fragen in diesem Bereich auf, und viele von ihnen sind Fragen der Ungleichheit. Natürlich stellt sich die drängende Frage, wer überhaupt alt werden kann. Denn wenn es um gesundheitliche Fragen und um teilweise tödliche Risiken geht, denen man ausgesetzt ist, weist unsere Gesellschaft große Ungleichheiten auf. Aber lassen Sie uns dieses größere Problem zunächst ausklammern, um uns darauf zu konzentrieren, was aus Menschen wird, die ein hohes Alter erreichen. Zuerst müssen wir die gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen betrachten. Momentan ermöglicht sie einigen alternden Menschen ein längeres Leben als anderen. Wohlhabende Menschen erkaufen zusätzliche Lebensjahre, indem sie sich eine bessere medizinische Versorgung leisten, und wir müssen über diese Ungleichheiten ausführlich nachdenken, da die Kosten medizinischer Behandlungen schnell zunehmen. Eine Form von Rationierung, die in Europa bereits akzeptiert ist, scheint unausweichlich zu sein, doch sie widerstrebt dem amerikanischen Lebensentwurf zutiefst: Das Schreckensbild von „Todesgremien“ erschüttert uns so sehr, dass eine rationale Debatte über diese Frage nicht stattfindet. Aber wir könnten zumindest darin übereinstimmen, dass wir die früher im Leben getroffene Entscheidung respektieren, keine lebensverlängernden Maßnahmen zu ergreifen. Eine zweite Frage stellt sich bei dem Ausdruck „nicht lebenswert“. Alternde Menschen verlangen als Teil eines würdevollen Todes häufig nach ärztlicher Suizidbegleitung. In fünf Staaten (Oregon, Vermont, Washington, Kalifornien, und – mit einigen Einschränkungen – Montana) gibt es bereits Richtlinien hierzu, sodass es hier eine regionale statt einer Klassenungleichheit gibt (obwohl wohlhabende Menschen es oft leichter haben, Ärzte zu finden, die ihre Hilfe heimlich anbieten). Die Kehrseite solcher gesetzlichen Regeln besteht in der sehr realen Gefahr, dass diese die Selbstbestimmung fördernde Möglichkeit genutzt wird um ältere Menschen unter Druck zu setzen und dazu zu drängen, sich aus Angst davor, zur Last zu werden, für den Tod zu entscheiden. Meine vorläufige Schlussfolgerung hierzu ist, dass die Option des assistierten Suizids für unheilbar kranke Menschen jeden Alters ein wesentlicher Bestandteil ihrer Würde ist; dass dieses Recht allerdings nicht auf Menschen ohne tödliche Krankheiten ausgeweitet und selbst für unheilbar Kranke ausgesetzt werden sollte, wenn es Hinweise auf eine geistige Behinderung gibt. Darüber hinaus müssen wir alles tun, damit das Versagen bei der Behandlung von Depressionen nicht zu einer Entscheidung für den Suizid führt, sei es nun bei tödlich oder nicht tödlich erkrankten Patienten.

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Eine weitere Frage der Würde betrifft die Pflege in einem Hospiz, bei der sowohl die mit unheilbaren Krankheiten verbundenen Leiden gelindert als auch die individuelle Würde und die familiären Beziehungen eines Patienten respektiert werden. Die Ausbildung von medizinischem Personal für eine solche anteilnehmende Behandlung ist ein vordringliches Ziel unseres Gesundheitssystems. Sie sollte auch ein allgemeines Grundrecht sein, aber steht längst nicht allen zur Verfügung. Doch wie sollte man den Schwellenwert für ein Grundrecht festlegen? Da die sozialen und wirtschaftlichen Rechte in den Vereinigten Staaten nicht in die Verfassung aufgenommen wurden, ist die Rechtswissenschaft in unserem Land auf diese Frage nicht umfassend eingegangen, doch es ist ein Bereich, in dem zunehmend geforscht wird. Staaten wie Kanada und Südafrika haben mit Formen der Zusammenarbeit zwischen Legislative und Judikative begonnen, bei denen die Judikative den Gesetzgeber zur Unterstützung einer grob ausgearbeiteten Regelung auffordert, die anschließend präzisiert wird und der dann vom Gesetzgeber Mittel zugewiesen werden. Einige Regierungen von Bundesstaaten der USA haben schon seit langem Rechte in der Verfassung verankert, deren Gewährung sehr teuer ist, wie etwa das Recht auf Bildung und zunehmend auch das Recht auf Gesundheit. Wir lernen demnach im Laufe der Zeit immer mehr darüber, wie dies erreicht werden kann. Die Richterin Diane Wood vom siebten Berufungsgericht hat Gründe dafür angeführt, dass die Fähigkeitenliste den Richtern helfen kann herauszufinden, wie sie ihre Rolle angemessen erfüllen können.10 2. Körperliche Gesundheit. In der Lage zu sein, sich guter Gesundheit zu erfreuen, einschließlich der mit Sexualität und Fortpflanzung zusammenhängenden Aspekte; angemessen ernährt zu sein; eine angemessene Unterkunft zu haben. Auch hier besteht das Hauptproblem wiederum darin, die Versorgung in einer Weise zuzuteilen, die die Gleichheit respektiert, jedoch auch die freie Wahl eines Arztes sowie das Recht der alternden Menschen, bis zu einem gewissen Punkt entscheiden zu können, ob sie ihr hart verdientes Geld für zusätzliche Gesundheitsversorgung verwenden. Länder, die den privaten Zukauf von Pflegeleistungen vollkommen verbieten (wie z. B. Norwegen), gehen wahrscheinlich zu weit. Aber die USA irren eindeutig in der entgegengesetzten Richtung. Wie Saul sagt, leisten Medicare und Medicaid nicht genug, um eine angemessene Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Viele gute Ärzte akzeptieren diese Zahlungsformen einfach nicht. Doch sollte die Option, zusätzliche Pflege zu kaufen, ebenfalls geschützt werden, und zwar bis zu einem vernünftigen Limit, über das wir uns noch einigen müssen.

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Ein Problem, dem wir uns stellen müssen, ist die Tatsache, dass die Kosten für viele Routineuntersuchungen in den USA übertrieben hoch sind, da Krankenhäuser zusätzliche Bedingungen stellen, wie etwa die, dass sie einen Krankenhausaufenthalt oder die Anwesenheit von Anästhesisten für eine routinemäßige Koloskopie verlangen, auch wenn eine Sedierung nicht erforderlich ist, und so weiter. Unsere Kosten für diese besondere Untersuchung sind doppelt so hoch wie in Europa, wie ich in meinem Essay über Stigmatisierung ausführe. Ein heikles Thema im gesamten Gesundheitsbereich ist, dass die Kosten bestimmter Maßnahmen selbst festgelegt werden. Krankenhäuser und Pharmaunternehmen sind auf Profit ausgelegte Unternehmen, und ihre Gebühren spiegeln dies wider. Sie könnten das gleiche Medikament oder dieselbe Leistung billiger anbieten, doch sie wollen Profite erwirtschaften, von denen ein Teil für Forschung und Entwicklung bestimmt sind. Wird ihnen von Politikern hingegen gesagt, dass sie etwas kostengünstiger anbieten sollen, so folgen sie dieser Anweisung normalerweise. Daher stehen zum Beispiel dieselben Medikamente für HIV/AIDS in Afrika aufgrund der Politik der Bush-Regierung zu weitaus geringeren Preisen zur Verfügung als in den Vereinigten Staaten. Kosten können demnach gesenkt werden, wenn der Bedarf groß ist und Grundrechte auf dem Spiel stehen; und dennoch sind die Profite zum Teil gesellschaftlich von Vorteil, weshalb es einen gut informierten und flexiblen Dialog zwischen Politikern und der Gesundheits- und Pharmaindustrie geben sollte, in dem mehr als bisher offengelegt wird, was etwas „wirklich“ kostet. Keine Krankenversicherung schließt eine zahnärztliche Grundversorgung ein, die mit zunehmendem Alter im Allgemeinen teurer wird, und Versicherungspläne zur Zahnbehandlung sind in der Regel teuer. Pflege im eigenen Zuhause wird ebenfalls nicht abgedeckt, sodass sich Menschen separat versichern müssen, um diese zu erhalten. Manche europäischen Länder sind uns hier um einiges voraus. Aber bei Gesundheit im Alter geht es nicht nur um die Behandlung von Krankheiten. Es geht auch um Ernährung, Erholung, Bewegung und „Wellness“-Fürsorge, womit ich Dinge wie Physiotherapie für Sportverletzungen, Fachberatung zu Ernährung und Lebensstil und so weiter meine. Unser Land ist mittlerweile viel stärker darauf ausgerichtet, da aktive Babyboomer auf ihren Forderungen bestehen, und es gibt einige Ärzte, die auf solche Probleme routinemäßig eingehen. Dennoch sind wir in diesem Bereich noch nicht gut genug ausgestattet, und es gibt hier jede Menge Ungleichheiten. Der Zugang zu nahrhaften frischen Lebensmitteln ist sehr ungleich verteilt, ebenso wie der Zugang zu Bewegungs- und Freizeiteinrichtungen. Das ist ein Problem für alle, nicht nur für ältere Menschen: Menschen, die in großen Städten leben, haben in der Regel viele Möglichkeiten zu Spaziergängen und können normalerweise in ein Fitnessstudio gehen. Aber an vielen anderen Orten hat das Auto die unbestrittene Vorherrschaft: es gibt noch nicht einmal Gehwege, und Sportanlagen sind nur mit dem

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PKW erreichbar. Für Menschen, die nicht mehr Auto fahren, ist es in Amerika schwierig, seine Gesundheit zu erhalten. Altern als einen aktiven Lebensabschnitt wahrzunehmen, bedeutet auch zu erkennen, dass wir ein großes Mobilitätsproblem haben: Menschen, die nicht Auto fahren, müssen in der Lage sein, auf irgendeine Weise von A nach B zu kommen! Viele Menschen, die zu Hause besser leben würden, ziehen in Ruhestandsgemeinschaften oder sogar in Pflegeheime um, weil sie nicht fahren können und ihr Leben dadurch unmöglich geworden ist. Dies ist ein Problem der Ungleichheit, weil Wohlhabende sich Taxis und Limousinen leisten können. Aus diesem Grund gedeihen Seniorensiedlungen, und Saul hat über einige davon gesprochen. Doch es ist nicht klar, dass sie der beste Weg sind, das einfache Problem eines gesunden Lebensstils ohne Auto zu lösen. In den meisten Ländern Europas ist es möglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf Märkte, zu Freizeiteinrichtungen, in Parks und Fitnessstudios sowie zu kulturellen Einrichtungen zu gelangen. Wir haben gewichtige ökologische Gründe, den öffentlichen Verkehr auszubauen und die Abhängigkeit vom Auto zu verringern: Treiben wir also diese beiden Möglichkeiten voran, um Fortschritte zu erzielen. Wir sollten allerdings auch die Entwicklung fahrerloser Autos unterstützen, denn sie bieten große Vorteile für Senioren und könnten zu gegebener Zeit das gesamte Mobilitätsproblem lösen. 3. Körperliche Integrität. Sich von einem Ort zum anderen frei bewegen können; vor gewalttätigen Übergriffen, einschließlich sexueller Übergriffe und häuslicher Gewalt, geschützt zu sein; Möglichkeiten zur sexuellen Befriedigung und zur Wahl in Fragen der Fortpflanzung zu haben. Menschen mit Behinderungen hatten früher keinen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, selbst wenn sie dorthin gelangen konnten, und die Vorschriften über Zugänglichkeit, die durch das Gesetz über Amerikaner mit Behinderungen (ADA – Americans with Disabilities Act) auferlegt wurden, waren auch für Senioren eine riesige Hilfe. Die Gesetze der USA zur grundsätzlichen Begehbarkeit von Gebäuden und Verkehrsmitteln für Behinderte sind relativ fortschrittlich, obwohl wir weiterhin auf einer Nachbesserung bei der Barrierefreiheit vorhandener Gebäude und Verkehrsmittel bestehen müssen. Gewalt ist für alternde Menschen, wie natürlich für alle anderen, ein ständiges Problem. Alte Menschen sind viel seltener Opfer von Tötungsdelikten als jüngere: Die entsprechenden Daten des FBI für das Jahr 2011 zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Mordes zu werden, vom 20. bis 24. Lebensjahr am höchsten ist. Danach gehen die Zahlen stark zurück und erreichen vom 65. bis zum 69. Lebensjahr einen sehr niedrigen Wert. Dies ist demnach viel mehr ein Problem der Jugend als des Alters. Dennoch kön-

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nen alternde Menschen, die sich schwächer als früher fühlen, aus Angst vor Gewalt auch in ihren Bewegungen und Wahlmöglichkeiten eingeschränkt sein. Dies ist einer der vielen Gründe, warum wir öffentliche Räume wie Parks, Straßen und Einkaufszentren sicherer machen müssen. Zum Teil ist dies auch ein Ungleichheitsproblem, da wohlhabende Menschen in sichereren Stadtvierteln und in Gebäuden mit Sicherheitspersonal wohnen können. Die Misshandlung alter Menschen ist, leider, eine häufige Form häuslicher Gewalt, und wie bei allen Formen häuslicher Gewalt ist hier eine weitaus gewissenhaftere Arbeit der Polizei zu fordern – einschließlich der unverzüglichen Reaktion auf Beschwerden über Misshandlungen in Pflegeheimen oder anderen Pflegeeinrichtungen. Sämtliche Formen der häuslichen Gewalt schränken die Handlungsfreiheit massiv ein und führen dazu, dass Menschen Angst davor haben, nach Hilfe zu suchen. Sie behindern Menschen bei ihren Lebensaktivitäten. Leider sind auch wohlhabende Senioren potenzielle Opfer häuslicher Gewalt, aber es ist zumindest unwahrscheinlicher, dass sie in schlechtere Pflegeeinrichtungen gehen müssen. Was die Themen Sexualität und Einverständnis betrifft: Dies sind wichtige Aspekte, bei denen die Forschung erst am Anfang steht. Alternde Menschen wünschen sich und brauchen ein Sexualleben. Klischees, die ältere Menschen als geschlechtslos darstellen, schaffen soziale Hindernisse und führen oft zu Schamgefühlen bei ihnen sowie dazu, dass sie ihre Bedürfnisse vielleicht selbst nicht anerkennen. Doch Menschen, die nicht gesund oder im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, haben noch zusätzliche Probleme. Dieser Lebensbereich wird in den USA durch die kreativen Untersuchungen von Alexander Boni-Saenz und in Schweden und Dänemark von Don Kulick erforscht.11 In Anerkennung der Gefahr von sexueller Ausbeutung einerseits und der Tatsache sexuellen Begehrens andererseits, schlägt Boni-Saenz zwei Mindestbedingungen für die sexuelle Einwilligung älterer Menschen mit einem bestimmten Maß an kognitiver Beeinträchtigung vor. Eine Person muss erstens über genug kognitive Fähigkeiten verfügen, um ihre Entscheidung deutlich zu machen; mit anderen Worten: sie muss über ein ausreichendes Maß von Handlungsfähigkeit verfügen; und zweitens muss irgendeine Art von sozialem Netzwerk (Familie, Freunde, Betreuer, in irgendeiner Kombination) vorhanden sein, das die Wünsche der Person interpretieren und eine Ausbeutung verhindern kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beginnt die Gesellschaft erst damit, anzuerkennen, dass Menschen mit Demenz ein Recht auf sexuelle Lust haben. Dies ist also ein Bereich, der den Kern des Selbstseins betrifft und in dem unsere Welt sich noch in einem primitiven Zustand befindet. Wie Kulick darlegt, können selbst Länder, die sich – oberflächlich betrachtet – ähneln, wie etwa Schweden und Dänemark, äußerst unterschiedliche Strategien verfolgen (Dänemark ist permissiver, Schweden eher puritanischer).

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Dies ist nicht in erster Linie ein Problem der Ungleichheit, da wohlhabende ältere Menschen sich mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit in repressiven Familien befinden wie nichtwohlhabende Menschen. Es ist jedoch ein Problem, auf das eingegangen werden muss. Kulick und Boni-Saenz stützen sich beide auf den Fähigkeitenansatz, um für eine aktive staatliche Strategie zu votieren, die Wahlfreiheit in diesem Bereich erleichtert. Boni-Saenz hebt als eine Stärke des Fähigkeitenansatzes hervor, dass er „nicht spezifische Richtlinien in sämtlichen Bereichen vorschreibt, was es Ländern erlaubt, auf unterschiedliche Art grundlegende menschliche Fähigkeiten zu garantieren“.12 Ich habe den Schwerpunkt hier auf das Zusammensein mit anderen Menschen gelegt, wir müssen allerdings auch das Problem der Privatsphäre berücksichtigen. Ein schlimmer Aspekt vieler institutioneller Einrichtungen für alte Menschen ist, dass man dort kaum noch allein sein kann. Alte Menschen werden von Pflegepersonal infantilisiert, und wenn sie nicht mehr in der Lage sind, etwas Bestimmtes für sich selbst zu tun, zum Beispiel zu gehen, wird einfach angenommen, sie seien Kinder und hätten kein eigenes Leben mehr. 4. Sinne, Phantasie und Denken. In der Lage zu sein, die Sinne zu benutzen, sich Dinge vorzustellen, zu denken und zu argumentieren – und dies auf eine „wahrhaft menschliche“ Weise, die durch eine angemessene Bildung gegeben ist und die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben sowie mathematische und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse einschließt, aber sich nicht darauf beschränkt. In der Lage zu sein, Phantasie und Denken selbstbestimmt zu verwenden, um religiöse, literarische, musikalische, usw. Werke und Ereignisse zu erleben und selbst zu gestalten. In der Lage zu sein, seinen Verstand auf eine Weise zu gebrauchen, die durch die Garantie der Meinungsfreiheit in Bezug auf politische und künstlerische Sprache und der Freiheit der Religionsausübung geschützt ist. In der Lage zu sein, angenehme Erfahrungen zu machen und unnötige Schmerzen zu vermeiden. Alternde Menschen benötigen Zugang zu kulturellen und sportlichen Veranstaltungen und Fortbildungen, haben diesen Zugang jedoch nicht immer; und doch zeigt es sich, dass sie solche Angebote zahlreich annehmen, wenn sie es können. Museen, Veranstalter von Konzerten, lokale Sportteams und Kinos sind sich dieses Marktes bewusst und bieten älteren Menschen in der Regel als Anreiz Preisnachlässe an. Diese Rabatte sollten wahrscheinlich eher allgemein gegeben werden und nicht von Bedürftigkeit abhängen, weil es stigmatisierend ist und die Privatsphäre verletzt, wenn man an der Tür seine Bedürftigkeit zugeben muss; wohlhabende ältere Menschen könnten allerdings zusätzlich etwas spenden, um die Kosten so auszugleichen. Universitäten

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verdienen bereits Geld durch Angebote der Weiterbildung, von denen viele für ältere Menschen gedacht sind, doch besteht hier weiterhin ein Ungleichheitsproblem. Lobenswert sind daher Universitäten, die interessante Programme kostenlos anbieten. In den Vereinigten Staaten führt die Dominanz des Autos auch hier zu einem großen Ungleichheitsproblem. Senioren, die keine adäquate Verkehrsanbindung und keine Fahrer haben, können kulturelle Veranstaltungen, Bibliotheken und Buchhandlungen – und oft sogar nicht einmal eine Kirche, einen Tempel oder eine Moschee – einfach nicht erreichen. Fahrerlose Autos können dies ändern; hoffen wir jedoch, dass sie keine weitere Quelle der Ungleichheit darstellen werden. 5. Emotionen. In der Lage zu sein, Beziehungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um sie sorgen, ihre Abwesenheit zu betrauern; im Allgemeinen zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Ärger zu spüren. Die eigene emotionale Entwicklung nicht durch Furcht und Angst zu beeinträchtigen. (Diese Fähigkeit zu unterstützen bedeutet, Formen der menschlichen Vereinigung zu unterstützen, von denen sich zeigen lässt, dass sie für diese Entwicklungen entscheidend sind.) Altern bringt Überraschungen mit sich, und oft ist es schwierig, mit ihnen umzugehen. Das ist zu jeder Zeit des Lebens so, möglicherweise nehmen die traumatischen Erfahrungen jedoch zu, wenn man älter wird. Durch kluge Strategien lässt sich nicht verhindern, dass Zufälle des Lebens Anlass zu Angst und Trauer geben; doch die respektvolle Behandlung durch Ärzte und Pflegepersonal sowie durch andere Menschen, mit denen Senioren regelmäßig zu tun haben, könnte einen großen Beitrag dazu leisten, lähmende Furcht und Angst zu überwinden – zum Beispiel, indem man medizinische Probleme auf eine ruhige und explizite Weise erklärt, statt auf einen älteren Menschen in Babysprache einzureden. Ich glaube, dass dies zu einem gewissen Grad ein Problem der Ungleichheit ist, da in der amerikanischen Gesellschaft die äußeren Anzeichen des Reichtums Respekt einflößen. Wenn jemand gut gekleidet daherkommt oder wenn er, nachdem er sich für eine medizinische Untersuchung entkleidet hat, wie ein gebildeter Fachmann spricht, so ist es wahrscheinlicher, dass er mit Respekt behandelt wird. Eine respektvolle Behandlung beseitigt auch unnötige Anlässe zur Wut, eine Emotion, die ich jetzt von der Liste der Fähigkeiten entfernen möchte!13 Ärzte benötigen mehr emotionale Intelligenz, und einige medizinische Ausbildungsstätten beginnen, diesem Thema Aufmerksamkeit zu schenken. Mitgefühl ist natürlich etwas völlig anderes als herablassendes Mitleid, das Ärzte viel zu oft an den Tag legen. Ein emotionales Problem, das dringend Beachtung finden muss, ist die Einsamkeit. In den USA und in Europa lebt ein Großteil der alternden Menschen allein. Ver-

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schiedene Untersuchungen bringen das Gefühl der Einsamkeit nicht nur mit Depressionen, sondern auch mit dem Rückgang der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit, der körperlichen Gesundheit und der physischen Mobilität in Zusammenhang.14 Die britische Innovation der „Silbernen Leitung“ (Silver Line), einer Rufnummer, an die sich ältere Menschen wenden können, um einfach mit einem zugewandten Gesprächspartner über ihr Leben zu reden, ist ein winziger Schritt in die richtige Richtung; um auf Einsamkeit angemessen zu reagieren ist allerdings – über meinen üblichen Vorschlag bezüglich besserer Transportmöglichkeiten hinaus – noch viel mehr erforderlich. Ich befürworte schon seit Langem ein verpflichtendes Soziales Jahr, und dies wäre ein Bereich, in dem ein solches Programm eine reiche Ernte einbringen könnte, indem es die Fähigkeiten sowohl der älteren als auch der jüngeren Menschen dadurch fördert, dass es sie zusammenbringt. 6. Praktische Vernunft. In der Lage zu sein, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und die Planung des eigenen Lebens kritisch zu hinterfragen. (Dies umfasst den Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit.) Privatsphäre, sexuelle Wahlmöglichkeit, Zugang zu medizinischer Versorgung, Zugang zu kulturellen Angeboten: all dies sind Möglichkeiten, praktische Vernunft auszuüben. Von zentraler Bedeutung ist allerdings, als eine vollwertige Person wahrgenommen und respektiert zu werden, eine Person, die tatsächlich handlungs- und entscheidungsfähig ist. Dies ist etwas, um das selbst gesunde ältere Menschen, die im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, kämpfen müssen, besonders wenn sie – da sie arm sind – nicht durch äußere Zeichen des Wohlstands Respekt erlangen können. Ein Bereich, in dem Respekt vor moralischen Urteilen für alle erfolgreich umgesetzt wurde, ist die informierte Zustimmung. Früher haben Ärzte gemäß ihrer eigenen Sicht der Interessen eines Patienten entschieden, jetzt verstehen sie jedoch den Unterschied zwischen Interessen und Rechten, und sie respektieren die Wünsche von Patienten sowie deren Patientenverfügungen. An dieser Stelle bietet es sich an, auf Vormundschaft und Entscheidungen von Stellvertretern einzugehen. Der Respekt vor moralischen Urteilen hört auch beim Verfall der kognitiven Fähigkeiten nicht auf, ein wichtiges Thema zu sein. Es gibt zahlreiche Lebensbereiche, in denen kognitiv eingeschränkte Senioren durch die Partnerschaft mit einem geeigneten Vormund oder einem erweiterten Betreuungsnetzwerk ihre Wahlmöglichkeiten ausüben können: bei der Errichtung eines Testamentes, bei sexueller Zustimmung und in der politischen Mitbestimmung (die später noch besprochen wird). Wie bei der lebenslangen Behinderung, so gilt auch hier: Entscheidungen von Stellvertretern sollten auf flexible Weise für die jeweils relevante Funk-

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tion und nur im erforderlichen Umfang ausgeübt werden. Dies ist bis zu einem gewissen Grad ein Ungleichheitsproblem, da wohlhabende ältere Menschen in der Regel Respekt von ihren Vormündern erfahren (obwohl viele von ihnen auch ausgebeutet und missbraucht werden). Ärmere alte Menschen, die kein Netzwerk von Anwälten, Pflegern und anderen angestellten Hilfspersonen einschalten können, haben es viel schwerer, von Stellvertretern unterstützte Entscheidungen zu treffen und werden viel leichter als bloße Objekte behandelt. 7. Zugehörigkeit (A) In der Lage zu sein, mit anderen zu leben und in Beziehung zu ihnen zu treten, andere Menschen anzuerkennen und Sorge für sie zu tragen, sich an verschiedenen Formen sozialer Interaktion zu beteiligen; sich die Situation eines anderen vorstellen zu können. (Der Schutz dieser Fähigkeit bedeutet, Institutionen zu schützen, die solche Formen der Zugehörigkeit entstehen lassen und fördern, und außerdem die Freiheit zu schützen, sich zu versammeln und seine politische Meinung zum Ausdruck zu bringen.) (B) Über die sozialen Grundlagen von Selbstachtung und Wertschätzung zu verfügen; in der Lage zu sein, als ein Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem der anderen entspricht. Dies beinhaltet Bestimmungen zum Verbot der Diskriminierung aufgrund von Abstammung, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft, Kaste, Religion und nationaler Herkunft. Freundschaft und Liebe, so haben wir gesagt, sind von zentraler Bedeutung für ein glückliches Leben im Alter. Dies ist ein weiterer Zusammenhang, in dem ein sozialer Dienst andere bereits erwähnte Strategien ergänzen und wertvolle neue Freundschaften entstehen lassen könnte. Auf ähnliche Weise sollten sich Erholungszentren nicht lediglich darauf konzentrieren, dieses oder jenes Programm nur für ältere Menschen einzurichten. Ältere Menschen möchten mit anderen älteren Menschen interagieren. Doch für diejenigen, die aus dem Arbeitsleben ausscheiden, besteht ein großer Verlust darin, dass sie generationenübergreifende Freundschaften verlieren, und diese sollten ebenfalls gefördert werden – nicht nur innerhalb des Netzwerks der Familie. Ein bemerkenswerter Versuch, Probleme der sozialen Isolation zu lösen, sind die Ruhestandsgemeinschaften speziell für ältere Menschen, die Saul und ich an anderer Stelle behandelt haben. Diese Gemeinschaften sind allerdings in der Regel auf relativ wohlhabende Senioren ausgerichtet. Die Fähigkeitenliste spricht von Nichtdiskriminierung, aber sie erwähnt nicht die Diskriminierung aufgrund des Alters (sie wurde vor sehr langer Zeit formuliert), die ein großes Übel ist (vgl. meinen Aufsatz über den Ruhestand). Hier griff der Fähigkeitenansatz zu kurz und sollte geändert werden!

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8. Andere Arten. Mit Sorge für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und die Welt der Natur leben zu können. 9. Spielen. In der Lage zu sein, zu lachen, zu spielen, Freizeitaktivitäten zu genießen. Ich werde die Punkte 8 und 9 der Liste gemeinsam behandeln, da in beiden Punkten große Ungleichheiten zwischen Senioren zum Ausdruck kommen, und zwar auf ähnliche Weise. Wenn sie Geld haben, können alte Menschen Reisen zu attraktiven Zielen unternehmen und sich zu anderen Freizeitaktivitäten begeben. Ärmere alte Menschen können nicht einmal in den örtlichen Stadtpark gelangen, wenn es an Verkehrsmitteln dorthin fehlt. Haustiere haben als Gefährten für viele alte Menschen eine enorme Bedeutung, und sind ein Grund, warum es normalerweise wünschenswert ist, so lange wie möglich im eigenen Zuhause zu leben. 10. Kontrolle über die eigene Umwelt. (A) Politisch. In der Lage zu sein, effektiv an politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben bestimmen; das Recht auf politische Partizipation zu haben, den Schutz der Freiheit der Rede und der Vereinigung zu genießen. (B) Materiell. In der Lage zu sein, Eigentum (sowohl Land als auch bewegliche Güter) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben; das Recht zu haben, sich gleichberechtigt mit anderen um einen Arbeitsplatz zu bewerben; die Freiheit von ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme zu haben. In der Arbeitswelt als Mensch arbeiten, praktische Vernunft ausüben und mit anderen Arbeitnehmern sinnvolle Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung eingehen zu können. In diesem Punkt werden viele Themen angesprochen, doch konzentrieren wir uns auf die politische Zugehörigkeit. Ältere Menschen sind eine sehr aktive politische Gruppe. Die AARP15 gehört zu den erfolgreichsten Lobbyorganisationen der USA, und bei Wahlen auf allen Ebenen sind Senioren als Wähler ungewöhnlich stark vertreten. Und nicht einmal das sonst übliche Transportproblem behindert in diesem Fall die Teilnahme, da Mitfahrgelegenheiten und Spezialbusse zur Verfügung stehen. Kognitive Unterstützung ist eine andere Sache. Das Gesetz zur Unterstützung der Wahlbeteiligung (Help America Vote Act) garantiert Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen den Zugang zu einem Wahllokal, besondere Unterstützung bei der Wahlentscheidung sowie Zugang für Rollstuhlfahrer, jedoch werden diese Forderungen nicht immer eingehalten.16 Auch gehen sie nicht weit genug: Dies ist wieder ein Punkt, an dem Entscheidungen durch einen Stellvertreter von entscheidender Bedeutung sind, sollten Senioren als eine Person mit einer Stimme gezählt und ihre

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Interessen voll und ganz ernst genommen werden. Alte Menschen sind in der Regel in der Lage, ihre Stimme durch Briefwahl abzugeben, auch wenn ein Stellvertreter tatsächlich den Stimmzettel ausfüllt, doch sollten Stellvertreter ermutigt werden, diese Rolle zu übernehmen. Dieser Gang durch die Fähigkeitenliste hat nur einige der Probleme angesprochen, die diskutiert werden müssen, doch sollten diese Beispiele einen Eindruck davon vermittelt haben, was die Perspektive der Fähigkeiten für die Richtlinien in Bezug auf Altern und Ungleichheit beisteuert. Wie stehen die USA im Vergleich zu anderen wohlhabenden Ländern da? Die Fähigkeitenliste deckt einige große Probleme für alternde arme Menschen auf. Ein Problem, bei dem die Vereinigten Staaten schlechter abschneiden als die meisten anderen wohlhabenden Nationen, sind die öffentlichen Verkehrsmittel, die für viele der zentralen Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung sind. Länder mit selbst in ländlichen Gegenden gut ausgebautem öffentlichem Nahverkehr (z. B. Deutschland, Finnland) sind seniorenfreundlicher. Dennoch: unsere geografische Situation ist sehr unterschiedlich. Die Erweiterung des öffentlichen Verkehrs sollte ein längerfristiges Ziel sein. Mein Vorschlag eines verpflichtenden Sozialdienstes könnte auch älteren Menschen, die sich auf ihre Familie als Transportdienst entweder nicht verlassen wollen oder nicht können, in hohem Maße unterstützen. Ein anderes, in vielerlei Hinsicht ansprechendes und möglicherweise wichtigeres Ziel ist es, das Leben in der Stadt für Senioren (und andere) attraktiver zu machen. Weit davon entfernt, die schmutzigen, von Verbrechen heimgesuchten Schreckensorte zu sein, die viele Leute sich vorstellen, sind Amerikas Städte reich an kulturellen Möglichkeiten und Gelegenheiten, menschenwürdig zu leben. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Ed Glaeser in gründlichen Analysen zeigt, haben Städte deutliche Vorteile für das menschliche Wohlergehen.17 Diese Vorteile sind für Senioren umso größer, da sie zunehmend (mit steigender Lebenserwartung) dem Risiko von Isolation und Einsamkeit ausgesetzt sind. Generell sehen sich Senioren in den USA, ebenso wie ältere Menschen in anderen Ländern, mit großen Problemen konfrontiert, wenn es um die Sicherstellung der aufgeführten Fähigkeiten geht, es sei denn, sie sind wohlhabend. Das finnische Sozialsystem wurde häufig als besser als das der Vereinigten Staaten dargestellt, weil es sicherstellt, dass Senioren so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben können, indem sie häusliche Pflege und andere kostenlose oder kostengünstige staatliche Hilfen nutzen (Reinigung, Einkaufen). Solche Maßnahmen, so wird überzeugend behauptet, mildern den Stress, der ansonsten die familiären Beziehungen belasten könnte.18 Alle diese Maßnahmen, wie hervorragend sie auch sein mögen, sind in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten zerbrechlich. So wurden beispielsweise die Vorkehrungen des finnischen Systems, die in der Vergangenheit sehr gelobt wurden,

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in letzter Zeit stark eingeschränkt.19 Viele Krankenhäuser und Seniorenheime werden geschlossen, wodurch Familien wieder belastet werden. Die Finnen machen zunehmend die Erfahrung eines zweistufigen Systems, sodass nach der Philosophin Sara Heinämaa Menschen mit hohen Renten und großem Grundbesitz gut, andere hingegen in Armut leben. Der Fähigkeitenansatz ist eine nützliche Ergänzung zur sozialen Sicherheit, auf die Saul den Schwerpunkt gelegt hat. Indem wir uns konkreter in die verschiedenen Aspekte eines sinnvollen Lebens hineindenken, hilft uns dies, die Schwachstellen moderner Gesellschaften zu erkennen, und daraus folgen spezifische politische Vorschläge, die eine einfache Erhöhung der Leistungen der Sozialversicherung nicht erreichen würde. Der Schwerpunkt, den die Philosophin auf die anzustrebenden Ziele legt, ergänzt den Realismus des Ökonomen! Sämtliche Länder müssen jedoch einen gesellschaftlichen Konsens darüber erreichen, welche Arten der Pflege älterer Menschen grundlegend genug sind, um als Grundrechte gelten zu können, die nur in schlimmsten Notsituationen eingeschränkt werden dürfen. Da keine Nation bislang über die Rechte der älteren Menschen gründlich nachgedacht hat, existiert kein solches gesichertes Verständnis. Zum umsichtigen Altern gehören Gruppensolidarität und der Wille zum Protest, die im Laufe der Zeit vielleicht einen Konsens über Grundrechte herbeiführen können. Es ist diese Idee der Grundrechte, die für den Fähigkeitenansatz wesentlich ist. Mit der Zeit können seine Ideen dem öffentlichen Vernunftgebrauch die Richtung weisen – allerdings nur dann, wenn es überhaupt öffentliche Diskussionen und Debatten gibt! Das beherrschende Gefühl, dass der Verlust von Fähigkeiten im Alter nur „natürlich“ ist, ist ein großes Hindernis für die Diskussion, die wir dringend brauchen.

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Für einen Überblick über das Problem und einige Daten zu älteren Armen, siehe Ellen O'Brien, Ke Bin Wu und David Baer, Older Americans in Poverty: A Snapshot (Washington, DC: AARP, 2010). Anm. d. Übers.: American Association for Retired Persons, Vereinigung amerikanischer Pensionäre. Ann Alstotts Buch A New Deal for Old Age: Toward a progressive Retirement (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2016) diskutiert einige dieser Strategien. Alstott vertritt die Auffassung, dass Altersrenten von der Art des Arbeitsplatzes abhängig sein sollten, da weniger wohlhabende Senioren oft anstrengenderen Arbeiten nachgehen. Dies ist wahrscheinlich politisch nicht durchsetzbar und würde in jedem Fall zu verschwenderischer intensiver politischer Lobbyarbeit führen, da verschiedene Gruppen versuchen würden, die zusätzlichen Vorteile zu erhalten. Diese Beträge spiegeln einen vorsichtig angenommenen Zinssatz von 2,3 Prozent wider. https://www.ssa.gov/oact/NOTES/ran5/an2004-5.html https://www.ssa.gov/oact/NOTES/ ran5/an2004-5.html (interne Raten für Erträge zur Sozialversicherung); https://www.ssa. gov/policy/docs/ssb/v70n3/v70n3p89.html (Witwen und Sozialversicherung). Ich entwickle meine eigene Version des Fähigkeitenansatzes in drei Büchern: Frauen und menschliche Entwicklung: der Fähigkeitenansatz; Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit; und Fähigkeiten schaffen: Neue Wege zur Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Letzteres enthält außerdem eine Diskussion der Unterschiede zwischen meiner Version des Ansatzes und derjenigen von Amartya Sen sowie eine umfassende Bibliographie. Zu Rechten und Fähigkeiten, siehe Nussbaum: „Capabilities, Entitlements, Rights: Supplementation and Critique“, Journal of Human Development and Capabilities 12 (2011), http://www.nytimes.com/2016/09/06/health/lonliness-aging-health-effects.html? Siehe Jonathan Wolff und Avner De-Shalit, Disadvantage (New York: Oxford University Press, 2007) und meine Zustimmung zu ihrer Arbeit in Fähigkeiten schaffen: Neue Wege zur Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Siehe Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Frankfurt 2006. Siehe Diane Wood, „Constitutions and Capabilities: A (Necessarily) Pragmatic Approach“, Chicago Journal of International Law 2 (2010), Artikel 3. Alexander Boni-Saenz, „Sexuality and Incapacity“, Ohio State Law Journal 75 (2015), 1201–53; Don Kulick und Jens Rydström, Loneliness and Its Opposite: Sex, Disability, and the Ethics of Engagement (Durham, NC: Duke University Press, 2015), und „A Right to Sex?“, die Besprechung von Boni-Saenz in New Rambler, 18. April 2015, http://newramblerreview.com/book-reviews/gender-sexuality- studies/a-right-to-sex. Boni-Saenz, „A Right to Sex?“. Siehe mein Buch Zorn und Vergebung (Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2016). Zusammengefasst in http://www.nytimes.com/2016/09/06/health/lonlinessaging-healtheffects.html?

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15 Anm. d. Übers.: American Association of Retired Persons, Vereinigung der amerikanischen Pensionäre. 16 Siehe meinen Aufsatz „The Capabilities of People with Cognitive Disabilities“, Metaphilosophy 40 (2009), 331–51, wieder abgedruckt in Cognitive Disability and Its Challenge to Moral Philosophy, hrsg. von Eva Kittay und Licia Carlson (Malden, MA: Wiley-Blackwell, 2010), 75–96. 17 Ed Glaeser, Triumph of the City: How Our Greatest Invention Makes Us Richer, Smarter, Greener, Healthier, and Happier (New York: Penguin, 2012). 18 Anu Partanen, The Nordic Theory of Everything: In Search of a Better Life (NewYork: Harper Collins, 2016). 19 Korrespondenz mit der Philosophin Sara Heinämaa.

Kapitel 8

Großzügig sein Was sind gute Wege, sich selbst zu verewigen? Steigert es den Wert des Geldes, wenn man mit dem Verschenken länger wartet? Wie sollen wir Wohlstand weitergeben, wenn Kinder und Enkelkinder in unterschiedlichen finanziellen Situationen leben? Was haben wir über verschiedene Arten von Vermächtnissen und über Altruismus zu denken? Können wir lernen, gut zu sein, oder ist es zu spät?

Paradoxien der Großzügigkeit (Lösungen eingeschlossen) Saul Stellen wir uns vor, wir befinden uns in der glücklichen Situation, wohlhabend zu altern. Es ist unwahrscheinlich, dass wir das gesamte Geld, das wir verdient oder auf andere Weise erworben und angespart haben, ausgeben werden. Die größte noch verbleibende finanzielle Sorge besteht dann wahrscheinlich darin, dass wir die eigene Lebenserwartung nicht kennen, oder nicht wissen, in welchem Zustand wir uns in den letzten Lebensjahren befinden werden. Es wäre möglich, eine Versorgungsrente zu erwerben, um ein garantiertes Einkommen für den Fall zu haben, dass man länger als erwartet lebt, doch die wohlhabendsten Menschen werden sich eher Gedanken darüber machen, was ihren Kindern oder den von ihnen bevorzugten Wohltätigkeitsorganisationen zufallen wird. Die meisten Menschen, die finanziell abgesichert sind, bereiten sich auf das Alter und sogar auf die möglichen Kosten einer die eigenen Kräfte aufzehrenden Krankheit vor. Die meisten unter den wohlhabendsten Menschen „sparen zu viel“; tritt der Tod nicht in einem extrem hohen Alter ein, fällt ihr Vermögen an ihre Ehepartner, Kinder und die von ihnen bevorzugten Wohltätigkeitsorganisationen. Hat man das Glück, gesund zu sein, dann hat man wahrscheinlich auch ohne Vermögen mehr Freizeit, wenn man älter wird. Der Ruhestand bietet einem die Möglichkeit, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und sich für unterschiedliche gute Zwecke zu engagieren. Zeit ist schließlich Geld. Ich werde abschließend auf einige wichtige Unterschiede zwischen Zeit und Geld eingehen, vorläufig genügt es jedoch sich bewusst zu machen, dass man sowohl Geld als auch Zeit geben kann, und was ich über Geld sagen werde, gilt auch für die Zeit. Die Planung für nicht-finanzielle Vermögens-

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werte ist ebenso wichtig wie für finanzielle Vermögenswerte, obwohl die Planung in Bezug auf letzteres einfacher ist, da Geld – anders als Zeit – Zinsen einbringt und leicht aufgeteilt werden kann. Dieses Kapitel entwickelt zwei Ideen zur Übertragung von Vermögen von wohlwollenden begüterten Menschen an ihre Verwandten oder wohltätige Organisationen. Diese Ideen werden am besten verständlich, wenn man zwei „Paradoxien der Großzügigkeit“ genauer untersucht. Die erste betrifft die Strategie, Geschenke hinauszuzögern, um für das Schenken relevante Informationen zu erhalten, und geht dann zu der paradoxen Frage über, wie diese Verzögerungsstrategie einem rationalen Schenken Platz machen kann. Praktischer formuliert besteht die Idee darin, eine Entscheidung zu treffen, wann man sich von Vermögenswerten trennen sollte. Die zweite Paradoxie geht von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Norm aus, die ich in meinem Essay in Kapitel 1 über König Lear erörtert habe, die Aufteilung so vorzunehmen, dass jeder Begünstigte dasselbe erhält. Wenn kein behindertes Kind mit speziellen Bedürfnissen betroffen ist, sind heute die meisten Menschen der festen Überzeugung, dass sie ihre Kinder gleich behandeln sollten, besonders wenn es um das Erbe geht. Diese Gleichbehandlungsnorm wurde vielleicht entwickelt, um Streit unter Geschwistern zu verringern, doch akzeptieren wir einfach, dass sie tief verwurzelt ist. Die Gleichbehandlung muss nicht eigens verteidigt werden. Es wird sich aber zeigen, dass diese egalitäre Einstellung zur Folge hat, dass Menschen Begünstigten, die sie eigentlich besonders unterstützen wollen, weniger Geld zukommen lassen, als sie gerne wollten. Die Paradoxie zeigt sich, wenn wir selbst nicht so umverteilen, wie wir es uns von der Regierung wünschen. Hieraus ergibt sich eine Strategie, die einige Leser in Bezug auf ihre eigenen Nachlasspläne vielleicht übernehmen möchten. Die erste Paradoxie ist ein wenig theoretisch und erfordert ein grundsätzliches Nachdenken über Aufschub und Optionen im Allgemeinen. Ökonomen gehen davon aus oder stellen fest, dass die meisten Menschen bezahlt werden müssen, um angenehme Dinge hinauszuzögern. Wenn Elon einen neuen Wagen haben möchte, würde er ihn wahrscheinlich lieber heute als erst in zwei Jahren haben. Zahlt ihm hingegen eine Bank einen Zinssatz, der höher ist als die für Neuwagen erwartete Preissteigerung, könnte er sein Geld sparen, das neue Auto in zwei Jahren kaufen; dann hätte er etwas Geld übrig, um es anderweitig auszugeben. Ökonomen sagen, dass die Zukunft diskontiert wird, wenn auch sicherlich von manchen Menschen mehr als von anderen. Es gibt Ausnahmen von diesem Verhaltensmuster. Doch wenden wir uns nun der Philanthropie zu, wobei wir davon ausgehen, dass die unmittelbare Freude der verzögerten Befriedigung vorgezogen wird. Elon kann heute für eine gute Sache Geld spenden, oder er kann die Spende aufschieben, das Geld selbst anlegen und später wohltätig sein. Die Abzinsung legt zwei

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Gründe nahe, warum er eher heute als später spenden sollte. Erstens wird er – in dem Maße, in dem es ihm Freude macht, anderen zu helfen oder Bezeugungen von Dankbarkeit zu erhalten – diese Befriedigung früher statt erst später erleben. Elon wird möglicherweise auch von einer Berücksichtigung der Spende bei der Steuererklärung profitieren, die wertvoller ist, je früher er sie bekommt. Langfristig kann er auch seine Erbschaftssteuern verringern, indem er vor seinem Tod,1 der jederzeit eintreffen kann, Geschenke macht. Zweitens wird der eventuelle Empfänger, dem er hilft, früher statt später profitieren. Auf der anderen Seite können die gleichen Argumente, auf einer anderen Ebene vorgebracht, eine Verzögerung begründen. Wenn Elon die Spende verzögert, schließlich jedoch den Hauptbetrag und das, was er durch seine Investition gewinnt, verschenkt, so wird er später mehr Gutes tun, als er jetzt tun kann. Ein Empfänger wird jetzt davon profitieren, wenn er das Geld heute spendet, ein anderer glücklicher Empfänger könnte in Zukunft allerdings noch mehr Hilfe bekommen, wenn Elon die Spende verzögert. Aus dieser Perspektive sollte ein Spender das Geben jetzt und das Geben zu einem späteren Zeitpunkt gleich bewerten – es sei denn, der Spender möchte die Freude des Schenkens gleich genießen und das Wohlergehen der Begünstigten miterleben. Das Gleiche könnte für die Zeit gelten: Jemand kann sich jetzt freiwillig für eine gute Sache engagieren oder – mit guter Planung – mehr Arbeitsstunden investieren, um jetzt Geld zu verdienen, damit er sich eine vorzeitige Pensionierung leisten und später mehr Zeit verschenken kann. Elon kann in gewissem Umfang wählen, ob die wohltätige Organisation, die er unterstützen will, zur Finanzierung ihrer Arbeit sowohl das laufende als auch aus Schenkungen stammendes Einkommen verwendet. Möchte er beispielsweise Stipendien an einer Universität unterstützen, dann weiß er sicher, dass die Universität über ein Stiftungsvermögen verfügt und wahrscheinlich nicht jeden Dollar ausgibt, den sie in einem bestimmten Jahr von Gebühren zahlenden Studenten und Spendern erhält. Die Universität erhält eine höhere Investitionsrendite als die meisten Spender: zum einen, da sie von der Größe ihres Investmentfonds profitiert, und zum anderen auch, weil sie eine von der Steuer befreite Einrichtung ist. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, ob das Geld des Spenders in den Händen der Wohltätigkeitsorganisation schneller wächst als in denen des Spenders. Ich erinnere mich an ein Gespräch in Shanghai in den frühen 2000er-Jahren, als ich um eine große Zuwendung von einem potenziellen Spender für meine Universität warb. Er führte mich in mehrere Fabriken, die er errichtet hatte. Ich erfuhr, dass diese Fabriken unter seiner Leitung seit mehreren Jahren jährlich 40 Prozent Profit einbrachten. Mein potenzieller Spender hatte mich eingeladen, ihn zu besuchen, aber nun fragte er mich, ob meine Universität ebenfalls in der Lage sei, Geld um 40 Prozent wachsen zu lassen. Wenn nicht, sagte er, stünden wir dann nicht alle besser da, wenn er seine Spende an die Universität hinauszögerte, um

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uns später noch viel mehr geben zu können? Damals antwortete ich ihm, dass die Rendite aus seiner Investition in unsere Universität, wenn er uns das Geld für Stipendien und Forschung geben würde, tatsächlich viel mehr als 40 Prozent betragen würde, wegen all der guten Dinge, die unsere Absolventen und Dozenten leisten würden. Ich war auf dieser Fundraising-Reise nur teilweise erfolgreich, auch weil der Spender und ich wussten, dass es schwer ist, eine Investition mit 40-prozentiger Rendite zu übertreffen. Die Universität hätte den Großteil der Spende investiert und einen geringeren Ertrag erzielt, als das Geld in den Händen des Spenders verdiente. Es ist verlockend zu sagen, dass man lieber gleich statt zu einem späteren Zeitpunkt spenden sollte, weil wir die Philanthropie fördern sollten – und dass „später“ für viele Menschen zu „niemals“ werden könnte. Jemand, der großzügig Zeit oder Geld verschenken möchte, sollte eigentlich jetzt investieren und später mehr geben, doch Präferenzen oder Sichtweisen ändern sich häufig. Mein Freund in China hätte vielleicht 40 Prozent pro Jahr verdient und uns fünf Jahre nach unserem Gespräch 26 Millionen Dollar gegeben. Dann hätte es mich beglückt, dass er sich nicht von den fünf Millionen Dollar trennte, als ich das erste Mal angefragt hatte. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass andere gemeinnützige Organisationen, Unternehmen oder Familienprojekte in der Zeit, in der er das Geld verdiente mit dessen Spende er noch abwarten wollte, sein Interesse erregt hätten. Natürlich hätte er sehen können, was für eine großartige Arbeit unsere Universität in der Zwischenzeit geleistet hätte, und sich daraufhin entschließen können, noch mehr zu spenden, als er anfänglich vorgeschlagen hat, doch es ist ebenso möglich, dass ein Spender, der das Spenden hinausgezögert hat, in den folgenden Jahren desillusioniert wird und sein Geld dann für eine andere Sache spendet. Dieser Grund für die Verzögerung wird am besten als Optionswert bezeichnet. Der Spender gleicht dem Besitzer eines Optionsscheins, der durch Warten gewinnt, da er im Laufe der Zeit zusätzliche Informationen über alternative Investitionen bekommt. In diesem Fall übertrumpft der Optionswert wahrscheinlich jedes Argument für eine sofortige Spende; das Warten hat den Nutzen, dass man mehr Informationen gewinnt, und außerdem, dass er eine höhere Rendite als die Universität erzielen kann. Die einzigen Kosten bestehen darin, dass er die Freude daran, etwas Gutes zu tun, aufschiebt. Die Universitäten nehmen sich dieses Problems gerne an, indem sie Zusagen über künftige Spenden annehmen und feiern, wobei ein formelles Versprechen allerdings den Optionswert für den Spender reduziert oder aufhebt. Es ist offensichtlich, dass hier eine Paradoxie vorliegt. Wenn es sinnvoll ist, Spenden aufzuschieben, um mehr über mögliche Alternativen zu lernen, sollte man eine Spende in jedem Zeitraum auf den nächsten verschieben, bis der Aufschub unendlich ist und man sich nie von seinem Vermögen trennt.2 Die Paradoxie beruht auf der

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Tatsache, dass es teuer ist, sein Testament und andere Formalitäten der Vermögensübertragung zu überarbeiten. Es ist nicht so, als könnte man die Spende bis zum Augenblick unmittelbar vor dem Tod aufschieben und sich dann – mit so vielen Informationen, wie man je haben wird – zwischen den wohltätigen Organisationen entscheiden. Sobald man eine Spende hinauszögert, kann es schwer werden, sie jemals zu tätigen. Eine wirklich wohltätige und großzügige Person sollte sich über das Problem besser nicht zu viele Gedanken machen. Bevor wir diese Paradoxie der Großzügigkeit weiter untersuchen, sollten wir festhalten, dass Optionen heute von jungen Menschen mehr geschätzt werden als von den vorhergehenden Generationen. Ich nenne diese um die Jahrtausendwende Geborenen manchmal „Generation O“, wobei „O“ für Optionen steht. Zwei aussagekräftige Beispiele sind das steigende Heiratsalter und die Abneigung der jüngeren Generation, auf Einladungen verbindlich zu antworten. In Bezug auf Partnersuche und Heirat mag die Option einfach wertvoller sein als vor 20 Jahren, weil Mobilität und technologischer Wandel die Suche nach neuen Partnern erleichtert haben. Tinder und andere Apps auf Smartphones machen es leicht, Leute zuerst oberflächlich kennenzulernen, dann aber in persönlichen Begegnungen, die den Rendezvous früherer Zeiten ähneln. Diese Treffen sind häufig oberflächlich oder reine Flirts und eine Form der Freizeitbeschäftigung, vielleicht weil jede Bindung der Option oder der Möglichkeit im Wege steht, zu einem späteren Zeitpunkt jemand „besseren“ zu treffen. Als ich 25 Jahre alt war, bestand der Optionswert, eine Heiratsentscheidung um ein Jahr aufzuschieben, darin, dass jemand im Laufe dieses Jahres etwa fünf oder zehn neue Leute kennen lernen konnte. Heute kann diese Zahl leicht fünfmal so groß sein, sodass der Wert des Aufschubs viel größer ist.3 Die Generation O ist allerdings nicht nur ein Produkt der Smartphones. Ein weithin beobachtetes Phänomen und eines, das den Älteren unhöflich erscheint, ist die Tatsache, dass junge Leute sich sträuben, auf Einladungen eine definitive Antwort zu geben, es sei denn mit einem „Danke, vielleicht werde ich kommen.“ Wenn junge Menschen eingeladen werden, verhalten sie sich so, als ob jede feste Zusage eine außerordentliche, alternative Gelegenheit vereiteln würde, die ihnen jeden Moment über den Weg laufen könnte. Sogar die Antwortquote auf Hochzeitseinladungen ist viel niedriger als vor ein oder zwei Generationen. Gesellschaftliche Konventionen haben sich in Richtung eines zwanglosen Zusammentreffens entwickelt, ohne dass eine feste Anzahl von Gästen eingeplant werden müsste. Alternde Menschen empfinden Optionen hingegen als weniger wertvoll, ganz unabhängig von technologischen und anderen Veränderungen. Der fundamentale Grundsatz der Optionstheorie lautet, dass eine Option mit der Dauer ihrer Verfügbarkeit sowie mit der Unbeständigkeit des Werts des ihr zugrundeliegenden Vermögens-

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werts oder der Chancen, die man mit ihr erwerben kann, an Wert zunimmt. Eine Option ist eine aufgeschobene Entscheidung, und dieser Aufschub ist umso wertvoller, je weiter die künftigen Alternativen auseinandergehen und je länger der Zeitraum ist, in dem man all dies beobachten kann, bevor man eine Entscheidung trifft. Ältere Menschen haben weniger Zeit und weniger Gewissheit hinsichtlich ihrer Gesundheit, daher legen Menschen im Alter einen geringeren Wert auf Optionen. Optionen kommen ins Spiel, wenn wir über unser Vermächtnis nachdenken und darüber, wie wir in der Welt Gutes tun können. Es ist natürlich, dass ältere Menschen Spuren hinterlassen wollen. Jüngere Menschen sorgen sich vielleicht mehr um die Zukunft, aber paradoxerweise tendieren ältere Menschen (insbesondere wenn sie wohlhabend sind), weil ihre Zeit begrenzt ist, eher dazu, etwas Konkretes dafür zu tun. Kehren wir zurück zur Paradoxie der Großzügigkeit. Es scheint vernünftig, das Spenden aufzuschieben – aber die zugrundeliegende Logik hat keinen Endpunkt. Lässt sich diese Paradoxie auflösen, indem wir davon ausgehen, dass sich die Welt verbessern wird, sodass Philanthropie jetzt erforderlicher ist, als sie es in Zukunft sein wird? Nicht wirklich, weil es dann irrational sein könnte, überhaupt etwas zu spenden; sämtliche wohltätige Spenden sollten auf die Gegenwart gerichtet sein, dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden. Genauer gesagt sollten Wohltäter die Geschwindigkeit berechnen, mit der Hungersnöte verschwinden oder sich der Lebensstandard der Armen verbessert, und dann die Mittel (oder die Zeit) den Zeitabschnitten zuweisen, wo diese am nötigsten erscheint, ohne aber in den weniger schlimmen Zeiträumen gar nichts zu spenden. Ein Ausweg aus diesem Zwiespalt oder Rechenalbtraum besteht darin, an die Anreize philanthropischer Organisationen zu denken und an die Notwendigkeit, sie im Auge zu behalten. Es ist plausibel, dass Organisationen ihre eigenen Möglichkeiten, Gutes zu tun, unterschätzen werden, weil diejenigen, die sie leiten, umso besser dastehen werden, je mehr unmittelbare Ergebnisse sie erzielen. Stiftungen können eine Art Kontrollfunktion für diese Organisationen haben, wobei sie den Wohltätern die Möglichkeit geben, ein Gefühl der Unsterblichkeit zu erleben, weil ihre Spenden scheinbar bis in alle Ewigkeit Gutes tun werden. Mit anderen Worten, eine Möglichkeit, Wohltätigkeitsorganisationen zu verstehen, besteht darin, dass wir ihnen die Lösung des Problems anvertrauen, finanzielle Ressourcen auf verschiedene Zeiten und Hilfe benötigende Situationen zu verteilen. Lange nachdem wir nicht mehr existieren, wird es sie noch geben und sie können von den Optionen Gebrauch machen, die wir nutzen würden, wenn wir umfassend informiert wären. Damit diese Übertragung effektiv ist, muss man diesen Organisationen vertrauen oder ihre Führungskräfte darin bestärken, die Werte und Präferenzen ihrer Wohltäter zu übernehmen. Die meisten Großspender an Universitäten zeigen großes Vertrauen in die Universitäten, die sie unterstützen, allerdings ist es nicht so groß, dass sie es den

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Universitäten überlassen würden, wie sie ihre Gelder zeitlich verteilen. Die Regeln der Universität selbst – die für die Spender attraktiv sein sollen – legen fest, dass die Spendengelder langsam und kontinuierlich ausgegeben werden sollen. Stiftungsgelder sollen dauerhaft erhalten bleiben; dies unterstützt das Gefühl des Spenders, sich auf dem Wege der Philanthropie unsterblich zu machen, und es übt Kontrolle über die Universitätsbeamten aus, die ansonsten dazu neigen, zu viel auszugeben. Sie tragen nichts zur Lösung des Problems bei, dass mehr Geld ausgegeben werden muss, wenn der Bedarf am größten oder der Ertrag der Stiftungsgelder am höchsten ist. Dies wird erreicht, indem zu diesen Zeiten um neue Spenden geworben wird. Wäre eine Heilungsmöglichkeit für eine bestimmte Form von Krebs in greifbare Nähe gerückt, so können wir sicher sein, dass Spender sich großzügig erweisen würden. Um es in Worten der Optionstheorie auszudrücken: Mit zuverlässigen Informationen über eine derartige Investition in die medizinische Forschung nähme selbst mein Freund in Shanghai an, dass die Finanzierung der Forschung eine bessere Investition als seine sehr profitablen Fabriken darstellen würde. Ein weiterer Ausweg aus dieser Paradoxie der Großzügigkeit besteht in der Erkenntnis, dass der Optionswert des Aufschubs die späteren Präferenzen eines Wohltäters begünstigt. Vielleicht sollte Elon erkennen, dass sich seine karitativen Neigungen mit der Zeit ändern werden, und es ist nicht notwendigerweise der Fall, dass der ältere Elon weiser als sein gegenwärtiges Selbst ist. Ein Grund dafür, eher früher als später zu spenden, ist der, dass man auf diese Weise dem späteren, reumütigen Selbst zuvorkommt. Ökonomen und Philosophen ringen mit diesem Problem der nicht festgelegten Präferenzen, doch statt sich in diese Diskussion einzumischen, soll hier lediglich festgestellt werden, dass es einfacher ist, Geld an Wohlfahrtsorganisationen zu geben, an die man im Alter von 60 Jahren glaubt – oder zumindest das Geld verbindlich zuzusagen, selbst wenn man darauf besteht, es zu einer höheren Rendite zu investieren und die Vermögenswerte dann später zu übertragen –, als bis zum 90. Lebensjahr alles festzuhalten und erst dann mit der philosophischen Frage zu ringen, wie man einiges Geld denjenigen guten Zwecken zuführt, die das frühere Selbst favorisierte. Die Paradoxie der Großzügigkeit kann relevant werden, wenn man Geschenke oder Vermächtnisse an Personen statt an philanthropische Zwecke in Betracht zieht. In Kapitel 1 ging es um die Gründe, warum wir unsere Ersparnisse bis zu unserem Tod festhalten wollen, selbst wenn wir Kinder oder andere Personen haben, die wir unterstützen oder verwöhnen wollen. Ein wichtiger Grund ist, dass man selten weiß, wie viele Lebensjahre einem noch verbleiben, und es ist oft besser, sich während des Lebens selbst zu versorgen und dann nach seinem Tode großzügig zu sein, statt Vermögen wegzugeben und sich dann auf andere verlassen zu müssen.

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Doch nehmen wir einmal an, dass eine Spenderin, Amy, mehr als genug beiseitegelegt hat, um für sich selbst zu sorgen; sie erwartet, dass sie Sozialleistungen erhalten wird, und sie hat genug Ersparnisse, um auf alle Eventualitäten, einschließlich eines langen Lebens, vorbereitet zu sein. Abgesehen von philanthropischen Spenden hat Amy entschieden, einen erheblichen Betrag ihrer Ersparnisse ihren Kindern zu geben. Sollte sie ihnen (bei Nutzung der Vorteile von Schenkungssteuerfreibeträgen) jährliche Geldgeschenke machen und damit ihre Eigenständigkeit fördern, indem sie die Übertragung größerer Beträge bis zu ihrem Tod zurückhält? Oder sollte sie das Umgekehrte tun und schon heute große Geschenke machen, da ihre Begünstigten das Geld lieber früher als später bekommen würden? Wenn sie sich dafür entscheiden, das Geld zu investieren, besteht kein Unterschied, ob sie es tut oder ihre Kinder, es sei denn, eine Generation trifft bessere Investitionsentscheidungen als die andere. Doch das Geld könnte ihren Lebensstress verringern oder ihnen Möglichkeiten eröffnen, die sie ansonsten nicht hätten. Ein Geschenk in der Gegenwart könnte es einem von Amys Kindern ermöglichen, ein Haus zu kaufen, in einen erfüllenderen Beruf zu wechseln oder eine Firma zu gründen – und diese Dinge wären ohne die finanziellen Mittel, die Amy zur Verfügung stellen kann, nicht realisierbar. In Kapitel 1 haben wir, als wir Lehren aus König Lear zogen, die Wechselwirkung zwischen solchen Geschenken und der kindlichen Dankbarkeit betrachtet. Macht Amy früher oder später umfangreiche Geldgeschenke, dann muss sie bereit sein herauszufinden, wie viel den anderen am Umgang mit ihr wirklich liegt oder ob sie für ihr Geld geliebt wird. Unter ansonsten vergleichbaren Bedingungen ist es klar, dass ein Geschenk an einen geliebten Menschen früher und nicht später gegeben werden sollte. Hat man mehr als genug für sich selbst, warum sollte man dann warten, wenn ein Aufschub den geliebten Begünstigten schlechter dastehen lässt? Die Freude am Geben kann auch wertvoller sein, wenn sie eher früher als später erlebt wird. Es wäre absurd, einem Kind oder Erwachsenen zu sagen: „Ich könnte dir dieses Jahr ein Geburtstagsgeschenk machen, aber ich habe beschlossen, das Geld zu sparen und dir nächstes Jahr ein teureres zu machen.“ Es ist nicht nur so, dass diese Logik bis zum Tod gültig bleibt, im Einklang mit der Paradoxie der Großzügigkeit, sondern es ist ebenfalls so, dass der Empfänger die Zukunft diskontiert und mehr Nutzen aus einem Geschenk zieht, das er jetzt erhält. Ein Wirtschaftswissenschaftler würde es ein wenig anders ausdrücken: Schenkt der Spender dem Begünstigten Geld, kann auch der Empfänger entscheiden, das Geld zu sparen und Zinsen zu verdienen, um in Zukunft größere Ausgaben damit abdecken zu können. Die Kalkulation der meisten Empfänger wird so aussehen, dass sie mehr Gewinn aus einem sofortigen Konsum ziehen, als sie aus den Zinserträgen ziehen würden. In dieser Hinsicht sind Kinder nicht wie philanthropische Organisa-

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tionen. In den meisten Fällen kennen wir unsere Kinder gut und benötigen keine zusätzliche Zeit, die uns zu einer fundierten Entscheidung helfen würde. Ihre zukünftigen finanziellen Umstände kennen wir allerdings nicht, und dies ist eine Unsicherheit, der wir uns jetzt zuwenden. Die zweite Paradoxie der Großzügigkeit hat mehr mit Familienangelegenheiten und seltsamerweise mit der Einstellung des Individuums zum Staat zu tun. Betrachten wir zunächst den Fall, in dem eine wohlhabende Person drei Kinder in unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen hat, von denen jedoch keines in Gefahr ist, zu verhungern oder auf wichtige medizinische Versorgung verzichten zu müssen. Vielleicht hat Amy 300.000 Dollar zu verteilen und Amys drei Kinder, Fiona, Jock und Prince, haben im vergangenen Jahr 300.000, 52.000 bzw. 120.000 Dollar verdient. Fiona arbeitet in der Finanzwirtschaft, Jock trainiert Sportteams in Sekundarschulen und Prince ist Direktor einer Privatschule. Amy tendiert dazu, ihr Geld gleichmäßig zu verteilen, obwohl ihr bewusst ist, dass ihr Geschenk oder Vermächtnis Jocks Leben viel stärker verändern wird als das der beiden anderen. Ihre Freunde ermutigen sie zur Gleichbehandlung mit den bekannten Argumenten. Amys Kinder haben ihre eigenen Entscheidungen über ihre Karriere und ihren Lebensstil getroffen, und kein Kind sollte Geld „verlieren“, weil ein anderes sich dafür entschieden hat, ein Sporttrainer oder Künstler ohne regelmäßige Einkünfte zu sein. Möglicherweise bewundert Amy die Karriere von Prince am meisten, besonders wenn er eine lukrativere Stelle aufgegeben hat, um mit Kindern zu arbeiten. Die herrschende gesellschaftliche Konvention sieht allerdings vor, diese Zustimmung nicht finanziell zum Ausdruck zu bringen. In ähnlicher Weise wäre es seltsam oder sogar pervers, Jock finanzielle Mittel vorzuenthalten, weil er eine sehr wohlhabende Person geheiratet hat. Aber was, wenn Jock zehn Kinder hat und die anderen jeweils eins, ohne dass ein wohlhabender Ehepartner im Hintergrund steht? Die meisten Leute in Amys Situation würden sich an das Prinzip der Gleichverteilung halten. Wenn Amy besondere Vorlieben hat, kann sie denen in ihrem Konsum und ihren philanthropischen Entscheidungen folgen; geht es jedoch um die Weitergabe von Vermögenswerten an ihre Kinder, hat die Gesellschaft eine starke Norm der Gleichbehandlung entwickelt, um das elterliche Verhalten zu kontrollieren. Wenn Amy 3 Millionen Dollar zu verteilen hat, ist es wahrscheinlicher, dass sie einen Teil dieses Geldes in einer auf Gleichbehandlung bedachten Weise verteilt – allerdings direkt an ihre Enkelkinder. Indem sie es an ihre Enkelkinder verteilt, kann Amy sich an die Gleichbehandlungsnorm halten, auch wenn sie dabei raffiniert die Generation überspringt, die sie nicht wirklich gleichbehandeln möchte. Amy möchte ihr Vermögen nicht ungleich an ihre eigenen Kinder verteilen, einmal weil diese ihre eigenen Entscheidungen getroffen haben, jedoch auch, weil sie befürchtet, dass dies

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zu Ressentiments zwischen den Geschwistern führen könnte. Andererseits hat sie Jock vielleicht zu einer großen Familie ermutigt, oder sie sieht einfach keinen Grund dafür, dass einige ihrer Enkel weniger Chancen in ihrem Leben haben sollten als die anderen. Ihr wurde zugeredet, sie solle alle ihre Kinder gleich lieben, doch Amy würde dasselbe über ihre Enkelkinder sagen – und wenn dies so ist: Warum sollte sie ihr Vermögen dann nicht gleichmäßig an sie verteilen? Wenn man sie fragte, würde sie wahrscheinlich sagen, dass sie die Sache anders sehen würde, wenn ihr reichstes Kind, Fiona, mehr Kinder hätte als die anderen. Es wäre unwahrscheinlich, dass Amy eine Generation überspringt und ihr Vermögen gleichmäßig an ihre Enkelkinder weitergibt, wenn dies denjenigen Zweig der Familie begünstigen würde, der finanziell bereits am besten dasteht. Doch da ihr Kind mit dem niedrigsten Einkommen die meisten Kinder hat, kann die Gleichbehandlungsidee einen nützlichen Zweck erfüllen. Stellen wir uns das Problem etwas schwieriger vor und zwar so, dass diese Enkel alle erwachsen sind und dass zwei von Jocks Kindern viel bedürftiger sind als ihre Geschwister und die anderen Enkelkinder. Amy erkennt, dass diese beiden Enkelkinder von ihrem Vater keine zusätzliche Unterstützung erwarten können. Nun steckt sie in einer Zwickmühle. Trifft sie für diese beiden Enkelkinder eine besondere Vorsorge und verteilt dann den Rest ihres Vermögens auf ihre eigenen drei Kinder, so werden sich die anderen Enkelkinder (und ihre Eltern) wahrscheinlich ungerecht behandelt fühlen. In der Tat wird Amy selbst wahrscheinlich denken, dass sie gegen ein grundlegendes Verständnis von Liebe und Gleichbehandlung verstoßen hat. Wenn 300.000 Dollar zu verteilen sind, dann könnte es sein – wenn sie jedem ihrer Kinder 50.000 Dollar gibt und den Rest dann an die zwölf Enkel verteilt, sodass jedes Enkelkind 12.500 Dollar bekommt – dass dies nicht genug ist, um für das Leben der beiden, die es am nötigsten haben, einen wesentlichen Unterschied auszumachen. Und das Gleiche gilt auch, wenn sie ihr gesamtes Vermögen gleichmäßig auf ihre Kinder verteilt und keines der Enkelkinder auf irgendeine Weise direkt begünstigt. Ein ähnliches Problem stellt sich in Bezug auf entferntere Verwandte. Nehmen wir nun einmal an, allen Kindern und Enkeln von Amy ginge es gut, aber zwei der fünf Kinder ihres Bruders hätten es sehr schwer. Wenn Amy allen diesen fünf Neffen und Nichten einen Teil ihres Vermögens schenkt, werden ihre eigenen Kinder sich wahrscheinlich vernachlässigt fühlen und verärgert sein, weil fünf Begünstigte eine Menge Geld aufbrauchen. Kümmert sie sich hingegen in besonderer Weise um die beiden Bedürftigen, so könnten deren Geschwister und möglicherweise auch Amys eigener Bruder darauf negativ reagieren. Ich habe Fälle erlebt, in denen ein Wohltäter in Amys Situation eine sehr spitzfindige Formulierung in sein Testament aufnahm, zum Beispiel: „Ich hinterlasse jedem meiner Nichten und Neffen, die ordinierte Pastoren sind, 100.000 Dollar“, oder „die im heiligen Land Israel leben“, oder „die auf der Farm der Vorfahren

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unserer Familie in South Dakota arbeiten“. Je länger vor seinem Tod – wenn noch nicht feststeht, wer die berechtigten Empfänger sein werden – der Wohltäter dies tun kann, desto wahrscheinlicher ist es, dass er es vermeiden kann, Gefühle zu verletzen; im Großen und Ganzen führt eine ungleiche Verteilung jedoch zu Verärgerung. Irgendjemand wird sicher annehmen, dass seine Schwester oder sein Bruder die Tante oder den Elternteil in Richtung einer Sonderbehandlung beeinflusst oder dass der Begünstigte seine finanzielle Not übertrieben hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Amy nicht riskieren möchte, dass es unter ihren Verwandten zu Feindseligkeiten kommt. Sie wird ihren Neffen und Nichten wahrscheinlich nichts hinterlassen, obwohl sie sich wünscht, dass zweien von ihnen geholfen werden könnte. Das Endergebnis ist auf die Stärke der Norm der Gleichbehandlung zurückzuführen. Man bedenke, dass es nur wenige Familien gibt, in denen Geschwister in ihren Zwanzigern zusammenkommen und vertraglich vereinbaren, das Geld, das sie verdienen, untereinander zu verteilen – oder alles, was sie erben, der am wenigsten wohlhabenden Person zu geben. Ich halte diese Verhaltensnorm für paradox, denn wären die Steuern höher und der Wohlfahrtsstaat deutlich weiter entwickelt gewesen, so wäre es plausibel, dass der Staat öffentliche Mittel für die beiden sich in finanziellen Schwierigkeiten befindenden Kinder des Bruders bereitgestellt hätte. Mit ein wenig Fantasie könnten wir uns eine an Bedürftigkeit orientierte Regierung vorstellen, die Amys Geld nimmt und es an diese beiden Verwandten verteilt, wenn auch als Teil eines wesentlich umfangreicheren Besteuerungs- und Umverteilungsplans. Das Paradoxe oder Ironische hieran ist, dass Amy bessere Informationen hat als die Regierung. Die finanzielle Sicherheit ihrer Verwandten kann Amy am besten beurteilen, da sie die Gründe, warum manche von ihnen zu kämpfen haben, kennt, und ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussicht auf eine finanzielle Zuwendung (oder ein Vermächtnis) die unerwünschte Wirkung hat, die Arbeitsleistung der Begünstigten zu verringern, oder sie überhaupt erst in eine Situation zu bringen, in der sie Hilfe benötigen. Die Regierung kann derartige Dinge schlecht in Erfahrung bringen, und dies ist der Grund, warum viele sozial engagierte Bürger großzügigere Umverteilungsprogramme missbilligen. Wir kennen bereits die Erklärung dieser „veridikalen“ (wie Logiker es nennen) Paradoxie der Großzügigkeit. Es ist die Tatsache, dass die Partei, die am besten zur Umverteilung qualifiziert ist und durch die größte Zuneigung zu allen beteiligten Familienmitgliedern motiviert ist, auch diejenige ist, die den meisten Anlass zu Ressentiments und familiärer Uneinigkeit gibt. Die Norm der Gleichbehandlung, zunächst innerhalb der unmittelbaren und dann innerhalb der weiteren Familie, ist stark, selbst wenn die gleichen Personen oder Kräfte sich wünschen würden, dass die Regierung im größeren Maßstab egalitäre Verhältnisse herbeiführt. Das Ergebnis ist, dass weder Amy noch die Regierung umverteilen wird. Sie vertraut nicht darauf, dass die Regie-

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rung in ihrem Namen umverteilt, und sie lehnt es ab, selbst eine Umverteilung durchzuführen, da sie familiäre Ressentiments befürchtet. Hat man die Ironie begriffen, die in Amys Position liegt, kann ihr Problem gelöst werden. Eine gezielte Umverteilung ist wünschenswert, doch das Problem ist, dass Amy nicht selbst ein Kind oder eine Nichte in einer Gruppe ähnlich gestellter Familienmitglieder bevorzugen sollte. Die Lösung – wenn Amy darauf zurückgreifen möchte – besteht darin, einer dritten Partei mit genügend emotionaler Distanz zur Familie und dennoch mit ausreichend gutem Urteilsvermögen und guter Information eine Vollmacht zu erteilen, in Amys Sinne zu handeln. Zum Beispiel kann Amy einem engen Freund Geld anvertrauen und folgende Anweisung geben: „Bitte lass dieses Geld in den von mir festgelegten Investmentfonds mit niedrigen Gebühren, doch überprüfe regelmäßig, ob meine Kinder oder die Kinder meines Bruders finanzielle Probleme haben. Sollte zum Beispiel ein Neffe Hilfe bei der Bezahlung von Studiengebühren benötigen oder sich ein anderer die Anzahlung für ein bescheidenes Haus nicht leisten können, und sind nach deinem Urteil meine Kinder und meine anderen Neffen und Nichten finanziell deutlich besser gestellt, dann gib dieser Person maximal 25.000 Dollar. Du kannst der Familie sagen, dass dies meine Anweisungen waren, und dass ich für finanzielle Notlagen einen Investmentfonds hinterlassen wollte, um in genau solchen Krisensituationen zu helfen. Befindet sich zehn Jahre nach meinem Tod noch Geld in diesem Fonds, verteile es bitte unter meinen Kindern.“ Möglicherweise braucht Amy einen Anwalt, um diese Anweisungen aufzusetzen und um ihre Freundin abzusichern, damit sie für ihre Entscheidungen nicht persönlich haftbar gemacht werden kann. Ich denke nicht, dass jeder in Amys Situation als Entscheidungsträger eine dritte Partei einsetzen sollte. Je mehr man allerdings zu einer Umverteilung neigt, umso eher kann man im kleinen Maßstab und auf selbstbestimmte Weise umverteilen, indem man einen Freund oder einen anderen Vermittler dafür einsetzt. Eine andere Möglichkeit, die hier vorgeschlagene Lösung zu betrachten, besteht darin, dass sich hierdurch der Optionswert von Amys Vermögen erhöht. Durch eine dritte Partei kann Amy den Zeitraum ihrer Option sogar über ihren Tod hinaus verlängern, sodass eine Entscheidung über eine Umverteilung erst getroffen werden muss, wenn ausreichende Informationen über die finanziellen Umstände der verschiedenen Familienmitglieder vorliegen. Die Frage der Philanthropie muss einem kein Kopfzerbrechen bereiten. Ebenso wie die meisten Investoren einen indexgebundenen Investmentfonds mit geringen Bearbeitungsgebühren finden sollten, in dem sie ihr Geld anlegen können, können sich die meisten Menschen mit karitativer Gesinnung auf relativ effiziente große Wohltätig-

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keitsorganisationen als Vermittler verlassen, der unter den guten Zwecken wählt und die Verteilung für sie übernimmt. Vielen von uns fällt es jedoch leichter, wohltätig zu sein, je mehr wir uns mit den guten Zwecken, die wir unterstützen, auseinandersetzen und je besser wir uns damit auskennen. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie eine übermäßig rationale Person das Verschenken von Geld und sogar von Zeit endlos verzögern und sich schließlich selbst um das Vergnügen bringen kann, anderen zu helfen. Wenn wir das Glück haben, in den Jahren unseres Ruhestands finanziell abgesichert zu sein, dann sinkt, obwohl wir die Anzahl dieser Jahre nicht kennen, der Optionswert, der im Festhalten an überschüssigem Vermögen besteht, und es ist an der Zeit, nicht nur über unsere Nachkommen, sondern auch über philanthropische Zwecke nachzudenken. Dies könnte unsere beste Möglichkeit sein, die Welt etwas besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben. Ein einfacher Ausweg aus der ersten Paradoxie der Großzügigkeit besteht in der Annahme, dass der gesellschaftliche Nutzen einer sorgfältig durchdachten philanthropischen Spende größer ist als der Gewinn, der durch Investitionen zu erzielen ist. Die zweite Paradoxie der Großzügigkeit legt ihrerseits nahe, dass es sinnvoll ist, nicht ganz bis zum Schluss zu warten, wenn man den Familienmitgliedern Geld überträgt, obwohl es in manchen Situationen ratsam ist, Geld beiseitezulegen und einen Außenseiter zu bitten, diese Mittel dann zu verteilen, wenn sich ein geliebter Mensch in einer finanziellen Notsituation befindet. Und was die Zeit betrifft, so sind die meisten Menschen in der Lage, gute Zwecke auszumachen und ihre Zeit dafür einzusetzen, vor allem nach dem Ausscheiden aus der Vollzeitbeschäftigung. Ihre überschüssigen Ressourcen sind Zeit, Arbeit und Enthusiasmus, zusätzlich zu dem – oder anstelle des – angesparten Vermögens. Der Ruhestand bietet mehr Zeit für Freundschaften und Hobbys – und auch mehr Zeit, sich freiwillig zu engagieren, um anderen zu helfen. Wenn die Zeit sich nicht mehr leicht über Jahre verschieben lässt, dann verschwindet ein Teil der ersten hier diskutierten Paradoxie. Die zweite Paradoxie kann sich auch dadurch auflösen, dass freiwillige Arbeit für Familienmitglieder geleistet wird. Wenn Amy, nachdem sie in Pension gegangen ist, Jock dadurch hilft, dass sie sich um seine kleinen Kinder kümmert, werden sich Fiona und Prince wahrscheinlich nicht hintergangen fühlen. Ob das daran liegt, dass man mit dem Geschenk seiner Lebenszeit fast immer jemanden verpflichtet, sodass die beiden Geschwister die Zeit von Amy vielleicht gar nicht in Anspruch nehmen wollen; oder weil es offensichtlich ist, dass Amy den Einsatz ihrer Zeit nicht einfach aufsparen und verschieben kann, so scheint die Entstehung von Ressentiments bei ungleichen Geschenken von Zeit weniger wahrscheinlich als bei ungleichen Geldgeschenken. Es ist offensichtlich, dass Menschen, die das Glück haben, philanthropisch tätig sein zu können, große Freude daran haben, anderen zu helfen. Ebenso berichten die

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meisten Menschen, die ihre Zeit freiwillig für gute Zwecke einsetzen, dass diese Tätigkeit zu ihren befriedigendsten Lebenserfahrungen gehört. Wir sollten auch sie als Menschenfreunde betrachten und den Wert der Zeit, die sie beitragen, anerkennen. Wie bei der mit Enkelkindern verbrachten Zeit ist diese Erfahrung sowohl für den Spender als auch für den Empfänger wertvoll – und oft frei von den Paradoxien der Großzügigkeit.

Altern und Altruismus Martha Auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass es immer dasselbe wäre wie das Göttliche, sondern indem es, wenn es alt wird und vergeht, ein anderes, seiner selbst ähnliches neues Wesen hinterlässt. – Platon, Symposion 208a In Platons Symposion erklärt die weise Priesterin Diotima dem jungen Sokrates den Altruismus und die Kreativität der Menschen. Sie führt diese Tugenden auf das Bewusstsein unserer Sterblichkeit zurück. Wir erkennen irgendwann, dass wir sterben werden; weshalb wir uns bemühen, etwas zurückzulassen, das uns ähnlich ist, sodass wir nach unserem Tod, zumindest auf irgendeine Weise, in der Welt bleiben. Diese Strategie macht es erforderlich, darüber nachzudenken, wer man ist und wofür man steht, auch wenn man dieses Thema nicht bis in die allerletzten Konsequenzen durchdenkt. Manche Menschen – und dies sind nach ihr die am wenigsten fantasievollen – meinen, sich nur durch Kinder ersetzen zu können, sodass sie diese in die Welt setzen. (In der Kultur der griechischen Antike, in der die Körper von Frauen stark abgewertet wurden, zählte die Tatsache, dass diese Strategie eine heterosexuelle Reproduktion erforderte, für Plato als starkes Gegenargument.)4 Andere streben höheren Zielen nach. Einige richten ihr Augenmerk auf die Erziehung junger Menschen und versuchen, Seelen in Übereinstimmung mit dem zu formen, was sie für wertvoll halten. Diese Strategie hält er für besser, sie hat allerdings den Nachteil, dass sie den Kontakt von Angesicht zu Angesicht erfordert, weshalb sie nicht sehr weit in die Zukunft reicht. Weise Menschen versuchen daher, ihre Vision in Systemen der Wissenschaft, der politischen Regierungsführung oder der Philosophie eine konkrete Form zu geben und so Strukturen zu schaffen, die sehr wohl extrem lange Zeiträume überdauern können – wie es bei Platons Ideen ja tatsächlich der Fall ist. Entscheidend ist jedoch, dass der Welt zahlreiche Vorteile daraus erwachsen, dass wir uns unseres eigenen Todes bewusst sind, Vorteile, die vielleicht auf keine andere Weise entstehen könnten.

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Zu Diotimas Bild könnte man sogleich viele skeptische Fragen stellen. Ist die Geburt eigener Kinder wirklich ein so unzulänglicher Weg, sich in der Welt zu verewigen? Allgemeiner gefragt: Konzentriert sich ihre Strategie nicht zu sehr auf das heraus­ragende Individuum, das eine bestimmte persönliche Vision zu einem vollständigen System zusammenfassen kann, und vernachlässigt sie dabei nicht gemeinschaftliche Aktivitäten, bei denen die Rolle des Einzelnen ohne die Beiträge anderer nichts ist? (Wir erinnern uns vielleicht daran, dass ich in meinem ersten Essay erwähnt habe, dass Sartre dieselbe Frage an Simone de Beauvoir gerichtet hatte, wobei seine Schlussfolgerung, dass nur gemeinschaftliche Aktivitäten gute Identitätsträger sind, auf ihre Weise zu eng zu sein schien.) Vor allem aber könnte man die Frage stellen: Wo ist echter Altruismus? Die Person, die Diotima sich vorstellt, scheint nur zufällig anderen Gutes zu tun, als Resultat eines egoistischen Projekts. Gibt es nicht mehr, wonach wir streben sollten, wenn wir älter werden? Wir könnten auch fragen, ob Diotima nicht in einseitiger Art nur die Vorteile des Bewusstseins unserer Sterblichkeit erwähnt. Gibt es kein Problem, das wir zu vermeiden versuchen sollten? In diesem Aufsatz diskutiere ich einige Alternativen. Zunächst unterscheide ich verschiedene Arten von Altruismus und ordne Diotimas Vorschlag ein. Danach erörtere ich die mögliche Kehrseite des Bewusstseins unserer Sterblichkeit und diskutiere, inwieweit die Angst ein Hindernis für den Altruismus darstellt, welche mit zunehmendem Alter in der Regel zunimmt und die, wie ich meine, mehr destruktiv als kreativ ist. (Hier wende ich mich Platons Gegner Epikur zu, der behauptet, dass die Angst vor dem Tod für viele der schlimmsten Übel des Lebens verantwortlich ist.) Im Anschluss daran bespreche ich Altruismus in persönlichen Beziehungen und stelle die Frage, wie alternde Menschen sich mit fortschreitender Zeit gegenüber den ihnen vertrauten Menschen verhalten sollten. Schließlich kehre ich zu Diotimas Thema zurück und frage mich, wie wir mit zunehmendem Alter über unseren Beitrag zum Leben der Welt, das nach unserem Leben weitergeht, denken sollten.

Varianten des Altruismus Viele Menschen tun mehr oder weniger zufällig etwas Gutes für die Welt, während sie sich auf ein im Wesentlichen selbstsüchtiges Ziel konzentrieren. Die Soziologin Kristen Monroe bezeichnet solche Menschen als „Unternehmer“, weil ein typisches Beispiel hierfür eine Person ist, die reich oder einflussreich zu werden versucht und zugibt, dass dies ihr Hauptmotiv ist, deren Arbeit oder Entdeckungen jedoch gesellschaftlich nutzbringende Auswirkungen haben.5 Selbst hier stellt sich die Situation komplexer dar, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Manche Unternehmer

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würden überhaupt kein Projekt verfolgen, das moralisch verderbliche Auswirkungen haben könnte, für andere ist es immerhin ein großer Pluspunkt, dass die Auswirkungen wahrscheinlich gut sein werden. Das Hauptmotiv ist dennoch der persönliche Gewinn. In die zweite Gruppe, die „Philanthropen“, können wir mit Monroe diejenigen einordnen, die einer guten Sache oder guten Sachen dienen wollen und oft auch deren inneren Wert wirklich schätzen, die aber dennoch irgendeinen persönlichen Gewinn erwarten. (In allen Gruppen sollten wir den Typ des Altruismus in Bezug zum realistisch erwartbaren Gewinn definieren, nicht in Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse, die in gewissem Grade vom Zufall abhängen.) Dieser persönliche Gewinn könnte in einem guten Ruf zu Lebenszeiten bestehen; es könnten aber auch Gegenleistungen derjenigen sein, denen man Unterstützung gewährt hat. Es könnte ein Gefühl persönlicher Befriedigung aufgrund des Gedankens sein, dass man etwas Gutes tut. Oder es könnte die von Diotima beschriebene Form von etwas Gutem sein: eine Form von Unsterblichkeit. (Man beachte, dass die Unsterblichkeit verschiedene Formen annehmen kann: für Diotima ist es erforderlich, dass man etwas Wertvolles schafft, manche wünschen sich stattdessen in erster Linie einen unsterblichen Ruf. Dichter spielen häufig auf letzteres Motiv an, obwohl sie, wie es nur menschlich ist, wahrscheinlich annehmen, dass ihre Werke einen inhärenten Wert besitzen.) Die einflussreichsten zeitgenössischen Beschreibungen altruistischen Verhaltens stammen aus den Wirtschaftswissenschaften, und gemäß den üblichen ökonomischen Darstellungen ist jeder Altruismus entweder unternehmerisch oder philanthropisch. Diese Beschreibungen versuchen auf vielfältige Weise zu erklären, dass Altruismus mit dem Modell der Person als einem rational selbstinteressierten Akteur, der seinen bzw. ihren erwarteten Nutzen maximiert, vereinbar ist. Als eigentliches Ziel der altruistischen Handlung wird persönlicher Nutzen angesehen; die Handlung wird als instrumentelles Mittel zu diesem Zweck angesehen. Derartige Erklärungen sind selbst innerhalb der Wirtschaftswissenschaften nicht unumstritten. So argumentiert Amartya Sens berühmter Aufsatz „Rational Fools“ von 1977 zum Beispiel, dass solche Erklärungen das Verhalten von Menschen nicht verständlich machen können, die aus Sympathie oder Engagement ihr persönliches Wohlergehen opfern.6 Die Einführung einer komplexeren Darstellung menschlicher Motivation in der Ökonomie hätte seines Erachtens weitreichende Konsequenzen für zahlreiche ökonomische Modelle. In jüngerer Zeit hat die These von Sen durch die empirische Forschung in der Verhaltensökonomie deutliche Unterstützung erfahren: Menschen verhalten sich tatsächlich auch dann altruistisch, wenn ihnen keine Belohnung winkt. Was ist diese weitere Form des Altruismus? Monroe richtet ihr Augenmerk auf Menschen, die für andere Gutes tun, obwohl sie dabei mit einem hohen Todesrisiko

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oder mit negativen Auswirkungen für ihr Ansehen und ihre Familie rechnen müssen. Ihre wichtigsten Beispiele sind Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben. Die Retter waren Teil einer Gesellschaft, die ihre Taten verunglimpfte. Sie riskierten den Tod und den Statusverlust ihrer Familie. Sie gingen ein großes Risiko ein, während sie in Sicherheit hätten leben können. Sie suchten auch keine religiösen Belohnung in einem himmlischen Leben. Monroe gelangt zu der Schlussfolgerung, dass sie handelten, wie sie handelten, weil sie es einfach als das Richtige empfanden. Die Ergebnisse der Studie von Monroe stimmen mit der umfassenderen, von Samuel und Pearl Oliner durchgeführten empirischen Untersuchung von Menschen überein, die andere gerettet haben.7 Lebensretter sind ungewöhnliche Individuen, wobei eines ihrer ungewöhnlichen Merkmale ist, dass sie sich nicht als etwas Besonderes ansehen. Immer wieder sagen sie, dass sie genau das taten, was sie glaubten, tun zu müssen. Der Fall ist analytisch wertvoll, denn nur in solchen Extremfällen können wir eine klare Unterscheidung zwischen „Philantropen“ und selbstlosen Altruisten erkennen, Menschen, die aufgrund des inhärenten Wertes der guten Tat und der dadurch geretteten Personen Gutes tun. Wir sollten jedoch erwarten (und die Literatur über dieses Verhalten legt dies nahe), dass selbstloser Altruismus eine ganz alltägliche Angelegenheit sein kann, die auch das ganz normale Verhalten vieler liebender Eltern, Freunde und Mitbürger umfasst. Es ist jedoch noch eine weitere Unterscheidung zu treffen. Es gibt in Wirklichkeit zwei verschiedene Arten von selbstlosem Altruismus. Im ersten Fall führt die Person die gute Tat aus, weil es eine gute Tat ist – also ist die Handlung in diesem Sinne selbstlos –; dennoch ist es ihr wichtig, dass sie die Person ist, die diese gute Tat ausführt. Wenn ich mir meinen aristotelischen Hut aufsetze, würde ich sagen, dass sie die Tat als Bestandteil eines gelungenen menschlichen Lebens wählt. So will sie tatsächlich soziale Gerechtigkeit um ihrer selbst willen fördern, aber es ist ihr trotzdem wichtig, dass sie diejenige ist, die soziale Gerechtigkeit unterstützt. Sie möchte dasjenige tun, was das Gedeihen ihrer Kinder fördert; doch sie will, dass diese als Ergebnis ihrer ausgezeichneten Pflege gedeihen. Diese Art von Altruismus ist aufrichtig selbstlos: Die Person sucht weder nach Ansehen oder Befriedigung, noch nach einem Weiterleben nach dem Tod: Sie will lediglich die gute Handlung ausführen. Aber sie möchte es selbst machen: Wir können nicht beschreiben, was sie will, ohne ihr „Ich“ hinzuzufügen. Der zweite Typ ist auf subtile Weise davon unterschieden. Die Person will ebenfalls das Gute um seiner selbst willen, ihre Sorge um ihre eigene Beteiligung an seiner Realisierung nimmt jedoch ab. Um es mit den Worten des Philosophen Bernard Williams auszudrücken: Ihre Wünsche sind „Nicht-Ich-Wünsche“.8 Wie Williams anmerkt, sind diese Fälle häufig im Zusammenhang mit testamentarischen Verfügungen zu beobachten: Eine Person möchte, dass es ihrem Kind gut geht und dass es ohne

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materielle Sorgen leben kann – und es ist nur zufällig, dass ihre Handlungen zu diesem Ergebnis beitragen. Oder sie möchte, dass ein bestimmtes Gemälde angemessen ausgestellt wird – und wieder ist ihr eigener Beitrag dabei nebensächlich. Testamentarische Verfügungen sind allerdings nicht ganz eindeutig klassifizierbar, da es tatsächlich die eigene Handlung der Person ist, die das gewünschte Ergebnis fördert. Es ist schwierig, „Nicht-Ich-Altruismus“ von einem selbstlosen Altruismus zu unterscheiden, bei dem das „Ich“ wichtig ist – und sogar von der noch egoistischeren philanthropischen Version, in der man posthum nach der Befriedigung eines gegenwärtigen selbstsüchtigen Verlangens strebt (etwa nach einer Art von Unsterblichkeit). Aber wir können zumindest erkennen, dass es hier einen Unterschied gibt, und dass es zum Beispiel für viele Umweltschützer ein Gut an sich ist, die Erderwärmung zu stoppen, auch wenn sie selbst wenig oder gar nichts dazu beitragen können. Es gibt demnach vier Möglichkeiten: (1) Eine egoistische Handlung, die aus eigennützigen Motiven ausgeführt wird, resultiert tatsächlich in etwas Gutem für andere. (2) Von einer Handlung, die aus einer Mischung aus eigennützigen und selbstlosen Motiven ausgeführt wird, kann vernünftigerweise erwartet werden, dass sie in Gutem für andere resultiert.9 (3) Von einer Handlung, die um anderer Menschen (oder um eines unpersönlichen Wertes) willen ausgeführt wird, kann vernünftigerweise erwartet werden, dass sie anderen nützt, und die Person sieht ihre eigene Beteiligung an der Handlung als wichtig an. (4) Von einer Handlung, die um anderer Menschen (oder um eines unpersönlichen Wertes) willen ausgeführt wird, kann vernünftigerweise erwartet werden, dass sie anderen nützt, und die Person sieht ihre eigene Beteiligung an der Handlung nicht als wichtig an. Sowohl (3) als auch (4) sind Formen von echtem Altruismus. Aber (2), die von Platon gelobte Form des Altruismus, ist ebenfalls nicht schlecht. Gemischte Motive sind keine schlechte Sache, wenn sie gute Projekte anregen, die ansonsten vielleicht nicht entstehen könnten. Platons Form scheint dem reinen Altruismus von (3) sehr nahe zu kommen, indem die Person Projekte auswählt, die sie schätzt und sie deshalb als geeignete Träger für ihr Nachleben hält. (Er ignoriert Fälle, in denen Menschen skurrile und wenig wertvolle Projekte fördern könnten, nur weil sie sich ihnen verbunden fühlen.) Platon scheint mir Recht zu haben: Menschen werden oft von dem Wunsch, ihre Spuren in der Welt zu hinterlassen, zum Altruismus geführt, und solche Wünsche stellen

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einen Anreiz für selbstloses Verhalten dar, selbst wenn es nicht vollkommen frei von egoistischen Zügen ist.

Der einschränkende Einfluss der Angst Platon behauptet, dass das Bewusstsein der Sterblichkeit in erster Linie zu guten Dingen führt. Auch wenn Menschen mit Kindern nicht seine Favoriten sind, sorgen sie sich, auf der untersten Stufe von Platons Leiter, immerhin um die Welt und ihre Zukunft und tun etwas, um sie besser zu machen. Er spricht über das Bewusstsein der Sterblichkeit, doch redet er nicht wirklich über die Angst. Angst stellt jedoch für seine optimistische Sicht der Art und Weise, auf die das Bewusstsein der Sterblichkeit unser Verhalten beeinflusst, ein Problem dar. Die Angst vor dem Tod war der antiken griechischen Kultur schwerlich unbekannt. Epikur, ein Philosoph, der unmittelbar nach Platons Tod schrieb, nahm an, dass die Angst vor dem Tod das zentrale Problem des menschlichen Lebens sei. Er bezeichnete den Tod als „das schrecklichste aller Übel“ und behauptete, dass diese Angst Menschen dazu veranlasse, sich religiösem Aberglauben zu unterwerfen – was seinerseits Anreize für sehr schlechtes Verhalten schafft. Sein römischer Schüler Lukrez beginnt sein wunderbares Gedicht Von der Natur der Dinge (De rerum natura), indem er die Opferung Iphigenies durch Agamemnon beschreibt, die von den Priestern befohlen wurde. Die Grundidee der Epikureer ist, dass wir eine so große Angst vor dem Tod haben, dass wir der organisierten Religion zu viel Macht über unser Leben geben und bereit sind, alles zu tun, was Priester uns sagen, ohne für uns selbst zu denken. In einem späteren Abschnitt seines Gedichts behauptet Lukrez, dass wir auch andere irrationale Dinge tun, um den Tod abzuwenden. Wir sammeln geizig Geld an und denken, dass Reichtum uns unsterblich macht – doch Reichtum macht uns nur besessen und gierig nach mehr. Wir ziehen in den Krieg gegen andere Nationen, in der irrationalen Vorstellung, dass die Eroberung von Territorium uns vor dem Tod schützt – aber Gewalt führt nur zu weiterer Gewalt und gipfelt in einem blutigen Gemetzel.10 Auf dem Höhepunkt dieses Abschnitts seines Gedichts malt sich Lukrez aus, dass Menschen, um Schlachten zu gewinnen, mit Löwen und Tigern in den Kampf ziehen – und dann wenden sich diese Tiere gegen ihre „Herren“ und verschlingen sie. Wir haben verstanden: Die Angst vor dem Tod führt zu sinnlosen, selbstzerstörerischen Handlungen, die schlecht für die Welt als ganze sind – es ist nicht Diotimas glückliche Welt des kreativen Altruismus. Über Platons Idee des „Schönen“, die für sein Verständnis der Kreativität von zentraler Bedeutung ist, soll Epikur gesagt haben: „Ich habe auf das Schöne gespuckt.“

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Wer hat Recht? Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen wir über die Angst nachdenken. Epikur und Lukrez legen nahe, dass Angst und besonders die Angst vor dem Tod eine besonders starke und unkontrollierte Leidenschaft ist, die das rationale Denken trüben und zu zwanghaftem und sogar bizarrem Verhalten führen kann. Platon nimmt dieses Problem einfach nicht zur Kenntnis. So wie er die Sache sieht, sind die Menschen angesichts des Todes ziemlich ruhig und in der Lage, vernünftig zu planen. Wir müssen zugeben, dass Platon – was einen Großteil unseres Lebens betrifft – Recht zu haben scheint: Wir gehen unseren Beschäftigungen nach, und das Bewusstsein unserer Sterblichkeit schwebt zwar im Hintergrund, aber hindert uns nicht daran, nützliche Dinge zu tun. Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass es Zeiten gibt, in denen die Angst durchbricht: zum Beispiel angesichts von Krankheit oder beim Verlust eines Ehepartners oder Elternteils, und wir stehen sozusagen vor dem Abgrund. Epikur versteht das. Ein Dialog, der fälschlicherweise Plato zugeschrieben wird, aber tatsächlich von einem Schüler Epikurs verfasst wurde, stellt einen älteren, sehr gelassenen Schüler des Sokrates dar, der plötzlich mit der Aussicht auf seinen unmittelbar bevorstehenden Tod konfrontiert ist. Axiochus ist am Boden zerstört und wälzt sich in Todesangst auf dem Boden. Als „Sokrates“ ihn daraufhin fragt, was mit all den Argumenten geschehen sei, die er von ihm (natürlich in Wirklichkeit von Platon) gelernt habe, bekennt Axiochus: „Jetzt, wo ich der schrecklichen Sache gegenüberstehe, schleichen sich all meine feinen und klugen Argumente davon und geben ihren Geist auf.“11 Epikur setzt sich mit Platon auseinander, und er bringt ein gutes Argument vor. Wenn die Angst vom Verstand Besitz ergreift, wird er borniert, und die Menschen vergessen dann leicht ihre hohen Ideale und klugen Argumente. Die moderne Biologie bestätigt diese Einsicht. Die neurowissenschaftliche Erforschung der Wurzeln der Angst zeigt uns, dass es sich um eine ungewöhnlich primitive Emotion handelt, die – statt auf vernünftige Überlungen – häufig auf vorrationale, durch die Evolution fest in uns verdrahtete Auslöser reagiert.12 Es ist sehr wahrscheinlich die einzige Emotion, die allen Tieren gemeinsam ist, und die Angst einer in der Falle gefangenen Ratte ist von der menschlichen Angst nicht so verschieden, wie wir – die wir unsere Art gerne als etwas Besonderes sehen – gerne glauben möchten. Le Doux behauptet nicht, dass seine evolutionäre Geschichte uns ein vollständiges Bild der Rolle liefert, die die Angst im menschlichen Leben spielt. In vielen Fällen ist Angst offensichtlich stärker kognitiv vermittelt, getrieben von Gefahren, an die wir zu glauben gelernt haben oder von deren Bedeutung man uns überzeugt hat – der Grund, warum Aristoteles Angst in seiner Rhetorik so viel Aufmerksamkeit schenkt und Rednern Anweisungen darüber gibt, wie man sie hochpeitscht oder vermindert. Doch gerade im Zusammenhang mit Tod und Schmerz steht die primitive Ichbezogenheit

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der Angst im Mittelpunkt. Beschreibungen von kriegerischen Auseinandersetzungen machen deutlich, wie die Gefahr das Bewusstsein von Soldaten einschränkt und sie auf ihren eigenen Körper und seine unmittelbare Umgebung zurückwirft und kaum an etwas darüber hinaus denken lässt.13 Eine derartige seelische Verfassung kann moralisches Verhalten beeinträchtigen – ein Grund dafür, weshalb Soldaten so intensiv für die Aufgabe trainiert werden, ihre Kameraden zu retten, und darin, ihren Körper mit dem ihrer Kameraden und ihr Selbst mit der Einheit als Ganzes zu identifizieren. Die Tatsache, dass dieses Training oft Früchte trägt, beweist nicht, dass Angst keine Gefahr für den Altruismus darstellt: Allein die Tatsache, dass es notwendig ist, zeigt die riesige Gefahr, die durch Angst entsteht. Wenn ein solch rigoroses Training unterbleibt, führt Angst häufig zu totalem Egoismus. Der Philosoph Adam Smith verdeutlicht diesen Punkt, indem er sich eine freigiebige Person in Europa vorstellt, die von einem Erdbeben in China erfährt. Zunächst ist sie sehr aufgewühlt und trauert um die leidenden Menschen. Wahrscheinlich wäre sie bereit, einer Wohltätigkeitsorganisation online Geld zu spenden, um zu helfen, wenn sie diese Möglichkeit hätte. Aber dann, so stellt Smith sich vor, erfährt sie, dass ihr am nächsten Tag ein Finger amputiert werden muss. All ihre großzügigen und menschenfreundlichen Gefühle sind augenblicklich verschwunden. Sie kann nicht mehr schlafen. Und „die Vernichtung dieser riesigen Menschenmenge scheint ihr weniger interessant zu sein als dieses armselige eigene Unglück.“14 Die Angst lässt den Geist zusammenschrumpfen und fesselt ihn an die selbstbezogenen Gedanken. Wie die Schriftstellerin Iris Murdoch in ihrem Roman Der schwarze Prinz schreibt: „Angst charakterisiert das menschliche Tier mehr als alles andere … Glücklich diejenigen, die sich dieses Problems immerhin bewusst sind, und kleinste Anstrengungen unternehmen, um diese den Verstand trübende Sorge unter Kontrolle zu halten.“ Wir haben es mit zwei Ansichten über die Angst vor dem Tod zu tun. Platon sagt, dass sie der moralischen Belehrung zugänglich ist und die Menschen im Allgemeinen dazu bringt, Energie in die Verbesserung der Welt der Zukunft zu investieren. Epikur sagt, dass sie wesentlich primitiver und unkontrollierbar ist: Sie verdunkelt die Sicht und bringt die Menschen dazu, sich anderen gegenüber destruktiv zu verhalten, in dem irrigen Glauben, dass sie auf diese Weise über den Tod triumphieren können. Beide Ansichten haben etwas für sich. Platon hat Recht, dass Menschen auf der Suche nach einer Art von Unsterblichkeit Gutes tun – doch er unterschätzt die lähmende und desorientierende Macht der Angst, die Epikur richtig sieht. Epikur hat Recht, was die Gefahren der Angst betrifft, wobei er die Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs einfach ignoriert. Wie können wir platonischen Altruismus fördern und epikureische Destruktivität abwehren?

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Wenig vielversprechend erscheint der Weg, den Epikur selbst gewählt hat. Er glaubt, dass die Angst vor dem Tod – wenn die Menschen nur klar begreifen würden, dass die Person mit dem Tod endet und nie wieder zurückkommen kann – einfach verschwinden wird; weshalb er sich einen großen Teil seiner philosophischen Laufbahn mit kosmologischen und physikalischen Argumenten beschäftigt, die diesen Punkt angeblich beweisen. Obwohl er in vielerlei Hinsicht ein tiefblickender Psychologe ist, versteht er hier, ungeachtet all seiner subtilen metaphysischen Argumente, einfach nicht, wovor die Menschen wirklich Angst haben. Meine Aussagen zu Altruismus auf dem Schlachtfeld geben eine fruchtbarere Richtung des Weiterfragens vor. Es ist offensichtlich möglich, die Menschen so an altruistisches Verhalten zu gewöhnen, dass sie die Einflüsterungen der Todesangst ignorieren und sich zu ihren Mitmenschen gut verhalten. Zu allen Zeiten und überall war die Herstellung eines solchen verbindlichen und tief verankerten Zusammenhalts ein Hauptziel jedes erfolgreichen militärischen Unternehmens. Wir können dies vielleicht verallgemeinern, indem wir über eine Gewöhnung an die Tugend nachdenken, die sich über das ganze Leben erstreckt. Wenn Menschen dazu erzogen werden, bestimmte Ziele und Ideale zu ehren, andere Menschen und gute Zwecke zu lieben, und wenn diese Verpflichtungen durch Unterricht, Gewöhnung und elterliche Liebe tief in ihnen verwurzelt sind, dann kann es der Tugend gelingen, die Todesangst zu überwinden und platonische anstatt epikureische Ergebnisse hervorzubringen. Diese Methode impliziert eine schlechte Nachricht für alternde Menschen: Sie besagt im Grunde, dass es für sie zu spät ist. Entweder man ist ein guter Mensch oder man ist es nicht, und die Samen eines guten oder schlechten Charakters wurden schon früh gesät. Die antiken griechischen Ansichten über den Charakter übertreiben allerdings das Ausmaß unserer psychischen Unbeweglichkeit. Manche christlichen Ansichten übertreiben in die andere Richtung, indem sie behaupten, dass es jederzeit möglich ist, neu zu beginnen und ein anderer Mensch zu werden. Doch subtilere christliche Ansichten (ebenso wie verwandte Ansichten anderer Religionen) stellen diese Neuausrichtung nicht als einen einfachen Prozess dar: Sie empfehlen ein geduldiges Streben, sich von Selbstbezogenheit und Gier zu lösen, was ständige Wachsamkeit und Meditation erfordern kann. Wenn alternde Menschen also vorbereitet sein wollen, wenn die Angst vor dem Tod zuschlägt, so sollten sie sich in diesem Streben üben. Eine ergänzende Strategie ist die „Vorabverpflichtung“. Odysseus verlangte, ihn an den Mast zu binden, damit er den Gesang der Sirenen hören konnte, ohne dadurch verführt zu werden, sein Schiff auf Grund laufen zu lassen. Ökonomen haben diesen Fall verallgemeinert und die Kategorie der Vorabverpflichtungen geschaffen: Möglich-

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keiten, uns Dinge tun zu lassen, die wir im Moment nicht tun wollen.15 Ein gutes Beispiel hierfür ist es, wenn ein bestimmter Betrag automatisch vom Gehaltsscheck abgezogen und auf ein Rentenkonto überwiesen wird: Im jeweiligen Moment würde man das Geld vielleicht impulsiv für irgendwelche Konsumgüter ausgeben, wenn es jedoch zu mühsam ist, diese kluge Strategie zu ändern, behält man sie bei. Ein zentrales Beispiel für das Eingehen einer Vorabverpflichtung ist natürlich das Aufsetzen eines Testaments. Testamente sind ohnehin eine gute Sache, da ihr Fehlen normalerweise für alle Menschen, die einem am Herzen liegen, von Nachteil ist. Doch sie sind vor allem ein Weg, mit dem sich sicherstellen lässt, dass die eigenen Werte und Verpflichtungen Geltung behalten und von momentanen Befürchtungen nicht einfach ausgehebelt werden können. Testamente können geändert werden; es kostet jedoch Mühe, und so sind Testamente eine Möglichkeit zu verhindern, kurzfristigen Launen nachzugeben. Testamente können jedoch, selbstverständlich, gute wie schlechte Dinge begünstigen. Sie können Verwandte auf faire oder unfaire Weise belohnen. Sie können aufgrund sorgfältiger Überlegung entstehen oder Ressentiments und Ärger ausdrücken, die sich über ein ganzes Leben hinweg angestaut haben. Diese allgemeine Strategie wird daher wenig fruchtbar sein, wenn wir nicht wesentlich genauer definieren können, wie wir versuchen sollten der Zukunft gegenüberzutreten, gute Gewohnheiten zu entwickeln und ethische Verpflichtungen zu festigen, sowohl in Bezug auf unseren engeren Kreis als auch die übrige Welt.

Altruismus in engen Beziehungen Altruismus in engen Beziehungen bedeutet, nicht manipulativ zu sein, Menschen nicht als Mittel zu benutzen, sondern sich darum zu bemühen, sie wahrzunehmen, wie sie sind, und ihnen um ihrer selbst willen zu dienen, als Menschen, deren Wohlergehen einen Eigenwert hat. Nun, das ist natürlich in jedem Alter eine gute Art, Menschen zu behandeln. Was ist das Besondere am Älterwerden, das diese Art von Altruismus zu einer Herausforderung macht? Wenn Menschen älter werden, brauchen und lieben sie weiterhin ihre Freunde und Familienmitglieder; mit der Zeit können sie jedoch abhängiger von anderen werden, als es umgekehrt der Fall ist. Selbst wenn sich die alternden Menschen nicht in dem egozentrischen Angstzustand befinden, den ich bereits beschrieben habe, kann es sein, dass sie aufgrund täglicher Beschwerden, leichter Schmerzen, mangelnder Mobilität und Angst vor abnehmenden Fähigkeiten vornehmlich mit sich selbst beschäftigt sein. Sie können reizbar und der Umgang mit ihnen schwierig sein. Sie können auch die Angst haben, nicht mehr akzeptiert zu werden, weil sie nicht mehr die

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Person sind, die sie einmal waren. Und schon die bloße Tatsache, dass man auf die Hilfe anderer angewiesen ist, wird häufig als eine Verringerung der eigenen Handlungsfähigkeit und des Selbstseins empfunden. Bis zu einem gewissen Grad können kluge staatliche Maßnahmen diese Sorgen vermindern: durch die Förderung einer fortgesetzten Mobilität. Die Beziehungen innerhalb von Familien werden durch sinnvolle politische Interventionen (gute und flächendeckende öffentliche Verkehrsmittel, häusliche Pflege) erleichtert, die es ermöglichen, dass Menschen weniger auf die Pflege durch ihre Familien angewiesen sind. In gewissem Maße muss auch die Arbeitswelt angepasst werden, um arbeitenden Erwachsenen flexiblere Arbeitszeiten zu ermöglichen, wenn sie Pflegeaufgaben übernehmen müssen, wodurch ihre Belastung verringert wird. Doch hinsichtlich der Beziehungen selbst und der Art von Tugenden, die es alternden Menschen ermöglichen, selbstlos und den geliebten Personen gegenüber großzügig zu sein, gibt es noch vieles zu bedenken. Wenn wir hier über Altruismus nachdenken, haben wir dieselben vier Möglichkeiten, die ich in meiner allgemeinen Behandlung des Themas beschrieben habe. (1) Eine alternde Person könnte geliebte Menschen gut behandeln, um ein egozentrisches Ziel zu erreichen: zum Beispiel, um sie zu mehr Hilfeleistungen und Pflege zu bewegen. Das ist, wie gesagt, kein wirklicher Altruismus, und ich werde dieses Thema nicht weiter diskutieren. (2) Dann gibt es einige alternde Menschen, deren Interesse – wie bei Platons Ehepaaren – in erster Linie auf ihre eigenen bleibenden Spuren in der Welt in Form von Kindern und Enkeln gerichtet ist und die im Dienst dieser Unsterblichkeit das Wohlergehen ihrer Kinder fördern. Schließlich gibt es noch die von mir beschriebenen zwei Arten von reinem Altruismus. Da mein Thema ist, wie sich in der Interaktion mit geliebten Menschen eine Gewohnheit des guten Verhaltens entwickeln kann, werde ich mich auf das konzentrieren, was ich als Typ (3) bezeichnet habe: alternde Menschen behandeln die von ihnen geliebten Menschen gut, weil sie dem Wert dieser Art des Handelns verpflichtet sind, und weil sie die Menschen um ihrer selbst willen lieben. Altruismus ist zum Teil eine finanzielle Angelegenheit, und ich habe Sauls Ausführungen zu diesem Aspekt wenig hinzuzufügen. Aber es ist auch eine viel alltäglichere Sache, die darin besteht, das Glück von geliebten Menschen zu fördern. Welche Eigenschaften oder Gewohnheiten ermöglichen dies? Der erste Punkt ist der, dass man sich auf den Kontrollverlust vorbereiten sollte, lange bevor er eintritt, und nicht König Lear nacheifert, der süchtig danach ist, alles und jeden zu kontrollieren, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben. Wechselseitige Abhängigkeit ist ein Merkmal des gesamten menschlichen Lebens, häufig ein wunder-

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schönes; indem Menschen ihren Wert schätzen und lernen, sich an ihr zu freuen, bereiten sie sich auf die größere Abhängigkeit vor, die mit dem Alter eintreten kann. Zweitens sollten sich alternde Menschen auch auf emotionale Selbstkontrolle konzentrieren. Ehrlichkeit hat einen Wert, aber Ehrlichkeit bedeutet nicht, mit jeder Angst, jedem Ärger und jeder Klage einfach herauszuplatzen. Unsere auf Selbstoffenbarung fixierte Kultur hat die Tatsache, dass eine Aussage über die eigenen Gefühle alles andere als neutral ist, in gewisser Weise vergessen. Eine solche Aussage stellt Anforderungen an andere. Altruismus gegenüber geliebten Menschen beinhaltet als entscheidenden Aspekt, dass man ihnen eine Menge der negativen Emotionen, die man fühlt, erspart. Menschen, die nicht jede ihrer Emotionen offen ausdrücken, werden in der amerikanischen Kultur manchmal als kalt empfunden, als hätten sie keine tiefen Gefühle und als seien sie nicht verwundbar durch tief empfundene Bedürfnisse, Sehnsucht und Angst. Oft ist die tiefere Liebe jedoch diejenige, die sich nicht ständig selbst verkündet oder Forderungen stellt, die mit derartigen Proklamationen verbunden ist. Zurückhaltung ist Gnade. Drittens ist der Versuch, sich die Perspektive der geliebten Menschen zu eigen zu machen, hier ebenso entscheidend, wie im Leben sonst auch; doch es kann besonders schwer sein, wenn man älter wird, und zwar aufgrund des unsere Sichtweise verengenden Einflusses der Angst, die es uns sehr schwer machen kann, uns von unserer eigenen Perspektive zu distanzieren. Sich bewusst zu machen, wie sich unsere Kinder und Enkelkinder sowie unsere jüngeren und älteren Freunde fühlen und was sie wollen, ist eine Übung, die man jeden Tag ausführen sollte. Das Führen eines Tagebuchs – nicht über die eigenen Gefühle, sondern über die anderer – kann dies unterstützen; jedoch führen nur wenige Menschen solche Tagebücher, ob in Notizbüchern oder auf Blogs, die meisten ziehen es stattdessen vor, das eigene Ich Überhand gewinnen zu lassen. Es ist ein Gemeinplatz, dass man ein Glas als halb leer oder halb voll ansehen kann, dennoch ist diese alte Idee wahr und gibt nützliche Hinweise. Wir alle kennen Menschen, ob alternd oder nicht, die in allem, was sie umgibt, einen Anlass für Klagen oder Traurigkeit finden. Sie sind immer unglücklich und vertreiben dadurch andere Menschen. Es ist viel besser, sich daran zu gewöhnen, die positive Seite zu sehen. Das ist allerdings schwieriger, wenn man älter wird, denn es gibt einige wirklich schlimme Dinge – gesundheitliche Probleme, Schmerzen und die Aussicht auf den Tod – mit denen man sich auseinandersetzen muss. Dennoch ist die Konzentration auf die guten Aspekte des Lebens eine hervorragendes Mittel, selbst glücklicher zu sein und andere glücklicher zu machen. Vielleicht ist die größte Bereicherung für den Altruismus, wenn man älter wird, ein Sinn für Humor. (In diesem Punkt bekommen wir weder Hilfe von Platon noch

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von Epikur.) Man könnte denken, dass dies eine Sache ist, die nicht kultiviert werden kann, aber es ist möglich und sollte unser Leben lang, auf einfache Weise dadurch geschehen, dass man sich angewöhnt, die komische oder absurde Seite der Dinge zu sehen; so kann man manche Dinge urkomisch und vergnüglich finden, die ansonsten als peinlich, abstoßend oder düster erscheinen könnten. Durch Filme, das Fernsehen und Romane den eigenen Sinn für das Lächerliche zu schärfen, ist eine großartige Vorbereitung auf die Tragikomödie des Alters.

Wie wir in die Zukunft der Welt hinein überleben Bei Altruismus geht es jedoch nicht nur darum, wie wir diejenigen behandeln, die wir lieben. Wie Platon weise bemerkt, wollen wir in irgendeiner Weise in die Zukunft der Welt involviert sein, Spuren hinterlassen, und wir wünschen uns, dass unser Leben einen Unterschied gemacht hat. Dies ist ein immerwährendes Thema der Philosophie, und es wird normalerweise auf sehr unbefriedigende Weise abgehandelt. Von Platon bis Simone de Beauvoir (deren Ansichten ich in Kapitel 1 diskutiere) zählen sich Philosophen zu einer Elite und sie stellen sich diese Spuren in der Welt als den kreativen Beitrag eines herausragenden Individuums vor. Mit anderen Worten: Nur wenige Menschen können Altruisten sein. Simone de Beauvoir kommt sogar zu dem Schluss, dass aus diesem Grund nur wenige ausgesuchte Menschen den Schrecken und die Verzweiflung des Alterns überwinden können. Dies ist eine sehr enge und einseitige Vorstellung davon, wie man zur Zukunft der Welt beiträgt. Viele wertvolle Beiträge geschehen zusammen mit anderen: Man beteiligt sich an einer Bewegung oder einem Projekt, das im Laufe der Zeit Früchte trägt. Die Umweltbewegung, die Tierschutzbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, eine Armee, die einen gerechten Krieg führt, eine künstlerische, eine religiöse Organisation – all diese und zahllose andere Gruppenbemühungen sind Möglichkeiten, für die Zukunft der Welt zu arbeiten, wobei „ganz normale“ Menschen einen wertvollen Beitrag leisten können. Einige herausragende Beiträge, wie die Werke Platons, sind Produkte eines einzelnen; viele andere gleichen jedoch eher einer mittelalterlichen Kathedrale, die im Laufe der Jahrhunderte durch die schrittweisen Beiträge vieler Menschen erbaut wurde. Wie ich darüber hinaus bereits in Kapitel 1 angemerkt habe, wertet die Position von Simone de Beauvoir und Platon ungerechterweise sämtliche Arten von Beiträgen ab, die Nichtphilosophen für die Zukunft der Welt leisten: Kinder bekommen und erziehen, Kinder oder ältere Schüler unterrichten, Kollegen bei ihrer Arbeit helfen und so weiter. Man kann sich auf eine genuin altruistische Weise betätigen und das Wohl anderer Menschen als Selbstzweck fördern, und zwar auf vielfache Weise und

Altern und Altruismus

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in jeder gesellschaftlichen Situation, die unsere Begabungen und Lebensumstände nahelegen. Dies gilt im Alter ebenso wie in früheren Lebensabschnitten. Am auffälligsten ist, dass diese Position den Wert der wirtschaftlichen Aktivität vernachlässigt oder verunglimpft. Ich bin mir sicher, dass sowohl Platon als auch Simone de Beauvoir (aus verschiedenen Gründen: griechisches Elitedenken in dem einen, Marxismus im anderen Fall) meinen, Geldverdienen sei minderwertig und trivial. Doch sie haben Unrecht. Keine Nation, keine gute Sache oder Organisation kann ohne wirtschaftliche Aktivität gedeihen. Oskar Schindler rettete mehr Juden das Leben, indem er als Geschäftsmann aktiv war und Nazi-Beamte bestach, als andere durch guten Willen und wohlgemeinte Bemühungen gerettet haben. Es ist ziemlich beeindruckend, die gegenwärtige Begeisterung unseres Landes für Alexander Hamilton zu erleben, dessen Credo war, dass ein guter Zweck ein starkes Finanzsystem und eine zentralisierte Bank erfordert. Hamilton hatte Recht, und die Menschen, die dazu beitrugen, die Wirtschaftsstruktur der Vereinigten Staaten aufzubauen, oder die innerhalb dieses Systems arbeiteten, verdienen großes Ansehen. Einige dieser Leute sind solche Unternehmer, deren Motivation der persönliche Profit ist; ihr Beitrag für andere Menschen ist bloß ein Nebenprodukt. Aber es ist offensichtlich auch möglich, wirtschaftliche Tätigkeit als eine Form von echtem Altruismus zu praktizieren. Man kann sich darauf konzentrieren, wie das eigene Produkt, Unternehmen oder die eigene Erfindung die Welt bereichert – was einer Form von platonischem Altruismus entspricht. Oder man kann sich, auf einfachere Weise, auf das Wohl seiner Angestellten konzentrieren, wie Oskar Schindler dies tat, oder auf das Wohl seiner Kollegen, wenn man kein Manager ist, und für ein gut geführtes anständiges Unternehmen sorgen, das Menschen fair behandelt und auch zum Wachstum der Wirtschaft beiträgt, als ein Weg, einen positiven Beitrag für die Welt zu leisten. Solche Gedanken werden in der Philosophie, die den bloßen Geldverdiener als einen minderwertigen Personentyp geringschätzt, nur selten gedacht. Aus diesem Grunde hatten die Philosophen der Vergangenheit ein sehr unvollständiges Bild vom Altruismus. Altruismus ist zu jeder Zeit eine schwierige Herausforderung, da Menschen im Grunde egozentrisch sind. In der Kindheit wenden sie sich anderen nur zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu. Wenn Kinder älter werden, lernen sie – sofern sie geliebt und gut erzogen werden – andere als Selbstzweck zu lieben. Wenn ihre Erziehung wirklich gut ist, dann lernen sie, sich um Menschen außerhalb des Kreises ihrer unmittelbaren Familienmitglieder und Freunde zu kümmern, und um allgemeine Anliegen, woraus eine Reihe von Verpflichtungen resultieren, die anderen Menschen Nutzen bringen. Doch das Altern birgt für uns alle das Risiko, uns in eine zweite Kindheit zu führen, in der die gebieterischen Forderungen des eigenen Selbst und der

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unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse den guten Gewohnheiten, die wir im Laufe unseres Lebens ausgebildet haben, im Wege stehen und uns von unserem Wertekosmos abschneiden. Wir alle müssen uns dieser moralischen Gefahr bewusst sein, um so gut wir können dagegen anzukämpfen – idealerweise mit Anmut, Humor und Demut.

Anmerkungen 1

Ändert diese Aussage die Planung des eigenen Nachlasses, sollte man sich an einen Anwalt wenden. Wenn ich Vermögenswerte besitze, deren Wert gestiegen ist, ist es häufig vorteilhafter, sie nicht zu verkaufen oder zu verschenken, weil für den Zinsgewinn im Todesfall keine Einkommenssteuer fällig wird. 2 Mit der Zeit ist es ein bisschen komplizierter. Die Zurückstellung kann fortgesetzt werden, bis der Spender meint, dass nur noch so viel Zeit verbleibt, wie er oder sie zu verschenken beabsichtigt. 3 In die entgegengesetzte Richtung geht die Vorstellung, dass die Suche nach einem Partner in der modernen Welt einfacher ist. Würde das Heiratsalter sinken, könnten wir sagen, dies läge daran, dass man viele Menschen treffen und sich dann entscheiden kann. Aber die Tatsache, dass das Heiratsalter steigt, legt nahe, dass die vermeintlichen Möglichkeiten wichtiger sind als eine optimale Suche. 4 Platons starke Präferenz für die Liebe unter Männern war in der Kultur seiner Zeit weit verbreitet. Viele Männer heirateten und setzten Kinder in die Welt, während intensive Liebesbeziehungen anderen Männern vorbehalten blieben, doch Platon empfiehlt diese Alternative nicht: in seinem Dialog Phaedrus regt er an, dass Männerpaare ihr gesamtes Leben miteinander verbringen. 5 Siehe Kristen Renwick Monroe, The Heart of Altruism (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1996), besprochen von Nussbaum in New Republic, 28. Oktober,1996, 36–42. Die Rezension wurde in Nussbaum, Philosophical Interventions (New York: Oxford University Press, 2012) wieder abgedruckt. 6 Amartya Sen, „Rational Fools: A Critique of the Behavioral Foundations of Economic Theory“, Philosophy and Public Affairs 6 (1977), 317–44, Wiederabdruck in Sen, Choice, Welfare and Measurement (Oxford: Blackwell, 1982), 84–106. 7 Samuel P. Oliner und Pearl M. Oliner, The Altruistic Personality: Rescuers of Jews in Nazi Europe (New York: Free Press, 1988). 8 Bernard Williams, „Egoismus und Altruismus“, in Williams, Probleme des Selbst (Stuttgart: Philipp Reclam Verlag, 1978). 9 „Vernünftigerweise“ ist hier wichtig, weil es sich im Gegensatz zum ersten Fall um ein intelligentes Streben nach dem Guten handelt; eine Person, die sich lediglich täuscht, möchte ich nicht als nicht-altruistisch bezeichnen. 10 Siehe meine detaillierte Diskussion dieser Passagen in The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1994), Kapitel 8. 11 Pseudo-Platon, Axiochus. 12 Siehe Joseph Le Doux, Das Netz der Gefühle (Deutscher Taschenbuchverlag, 2001). Eine weitergehende Diskussion seiner Arbeit findet man in meinem Buch Die neue religiöse

Anmerkungen

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Intoleranz: Ein Ausweg aus der Politik der Angst (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015), Kapitel 2. 13 Für ein klassisches Beispiel siehe Die neue religiöse Intoleranz, 33. 14 Smith, Theorie der moralischen Gefühle (Felix Meiner Verlag, 2010). Siehe Ronald Coase, „Adam Smith’s View of Man“, Journal of Law and Economics 19 (1976), 529–46. 15 Siehe Jon Elster, Ulysses and the Sirens (Cambridge: Cambridge University Press, 1979).

Sachregister AARP (American Association of Retired Persons; Vereinigung amerikanischer Pensionäre) Solidarität gefördert durch 133 Lobbying und politische Mobilisierung 75, 138, 205, 228 Abfindungen, hohe („Goldene Handshakes“) 56 adaptive Präferenzen 30, 67, 70 ff. Adelman, Janet 20 Afroamerikaner 29, 111, 129 Alpha Kappa Alpha Seniorengemeinschaft 167 „Altensprache“ 130 ältere arme Menschen ältere reiche Menschen kontrastiert mit 208 Auswirkungen der Alterstrennung auf Familiendynamik und 208 geschätzte Populationsgröße von 204 Medicaid und 204 Prognosen über zukünftige Generationen von 209 Schuldzuweisungen 208 soziale Sicherheit und 204 späte Immigranten und 215 Altersdiskriminierung Siehe auch verpflichtender Ruhestandseintritt Ausnahmen von Gesetzen betreffend der 29 Fähigkeitenansatz in Bezug auf Rechte 227 Fälle von Einstellung und Entlassung 48 ff., 58 Gesetze der USA gegen 12, 48 ff., 54 Mindestanforderungen für das Rentenalter 56 Stereotypen und 29 unterstützende gesellschaftliche Klischees 73 Altruismus. Siehe auch Philanthropie alternde Individuen und 160, 183, 187 „egoistische“ Formen von 250 enge Beziehungen und 255 ff. in Kriegssituationen 249, 254 Motivationen von 251 „nicht-egoistische“ Formen von 250 Platon über 246 f., 253, 258 Retter von Juden im Holocaust und 249 selbstlose Formen von 250 unternehmerische versus philanthropische ­ Formen von 247 f. Vorabverpflichtungen und 255 wirtschaftliche Tätigkeit und 248, 259 Alzheimer-Krankheit 18 ff., 90. Siehe auch ­

Demenz Americanah (Adichie) 111 Angels in America (Kushner) 21 Angst vor Afroamerikanern 127 Aristoteles über 252 f. vor dem Tod 247, 251 f. Ekel im Vergleich zu 126 Juden 127 Antisemitismus 69, 127 Antonius und Kleopatra (Shakespeare) 14, 178, 180 f., 183 f. Arbeit Fähigkeitenansatz und 227 f. Freundschaft und 104 Gründe für 26, 30 Liebe zur und Sinnfindung durch 30 Aristoteles über Angst 252 über Erinnerung und rückwärtsgewandte Emotion 146 normative Verallgemeinerung und 23 über Poesie 22 über die Tragödie 25 Arquette, Patricia 185 Arzneimittelzulassungsbehörde der USA 116 Atticus. Siehe unter Über das Altern; Über die Freundschaft auctoritas (sozialer Einfluss) 91, 105 Augen, Schönheits-OPs an den 110, 115 Axiochus 252, 260 Anm. 11 Babyboomer, Generation der Aktivität im Alter betont von 221 Altern und 124, 139 Körper-Stigmatisierung und 124 ihre Weigerung, in den Ruhestand zu treten 71 Wellness und 221 Brooks, Peter 16 Baldwin, Alec 14, 184 ff. Bauchdeckenstraffung 119, 135 Beauvoir, Simone de 25, 27 ff., 183, 247, 258 f. Bedauern Definition von 145 Griechische Tragödie und 143 guter Rat und 163

Sachregister Jüdisch-christliches Denken und 145 künftige Entscheidungen und 164 rückwärtsgewandter Charakter des 145 Stoizismus und 143 Behinderungen Altern und 217 alternde Körper und 128 Angst und 128 Bekämpfung der Formen von 218 der Körper und 128 Diskriminierung von Personen mit 73 Ekel in Bezug auf 128 Ekel. Siehe auch Scham Ekel-Stigma und 128 ethnische Herkunft und 133 Fähigkeitenansatz (FA) zu den Rechten und 217, 219 Frauenfeindlichkeit und 138 geistige Behinderungen 130, 220 Gesetz über Amerikaner mit Behinderungen 74 Homophobie und 73 in öffentlichen Schulen 74 Klasse und 219 primärer Ekel und 126 projektiver Ekel und 126 f. Selbst-Ekel und 138 Sterblichkeit und 128 Tiere und 126 f. universelle Gegenstände von 130 Zugang zu öffentlichen Gebäuden und 129, 223, 229 Being Mortal (Gawande) 47 Anm. 18 bengalische Hungersnot, große 71 Bentham, Jeremy 88 Beschneidungen 112 f., 119 Best Exotic Marigold Hotel (Film) 184 Besteuerung Erbschaften und 235 Philanthropie und 235, 240 Renten und 50 f., 56 Soziale Sicherheit und 62, 64 Bildungsroman, Genre 146 Billy Budd (Britten) 176 Blechman, Andrew D. 159 Boni-Saenz, Alexander 223 Botox 110, 135 ff. Boyhood (Film) 185 Bradley, Joseph 22 f., 29 Bradwell, Myra 22, 24, 26 Bräunung der Haut 110 f.

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Britten, Benjamin 176 Brustvergrößerung 112, 114 ff., 118 Burbage, Richard 16 Bush, George W. 221 Butor, Michel 13, 156, 158, 161 Caesar, Julius 95 f., 107 Anm. 5, 201 Anm. 10 Cato. Siehe unter Über das Alter Cavell, Stanley 189 Cervantes, Miguel de 108 Anm. 22 Chinesische Amerikaner 167 f. Christentum 145 Cicero Marcus (Sohn) und 85 Quintus (Bruder) und 144 Trauer von 78 Tullia (Tochter) und 78, 82 ff., 144 Über das Altern und 11f., 25, 27, 76 ff. Über die Freundschaft 87 rückwärtsgewandte Emotionen und 143 Cleanthes 88 Clodius 95 Cohn, Roy 21 Da Ponte, Lorenzo 174 Dalits (hinduistische Kaste, früher als die „Unberührbaren“ bezeichnet) 129 Dänemark 224 Dankbarkeit anstelle von Vertrauenswürdigkeit 39 für Erbschaften 43 für philanthropische Spenden 39, 102 guter Charakter verbunden mit 39 König Lear und 38 f. Danner, Blythe 184 ff. Darmspiegelungen (Koloskopie) 124 f., 221 Das andere Geschlecht (S. de Beauvoir) 27 f. Das Tagebuch der Anne Frank 101 Dating-Websites 118, 123 De Agri Cultura (Über den Ackerbau) (Cato) 89 De Amicitia (Über die Freundschaft) (Cicero). Siehe Über die Freundschaft De Senectute. Siehe Über das Alter Demenz, die König Lear und 12, 17 ff. Sex unter Menschen mit 223 verschiedene Formen von 26 Demütigung 104 f., 167, 199 Dench, Judi 184 Depressionen Cicero und 78

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Sachregister

Tod von Freunden als Ursache von 76 Trauer und 164 Einsamkeit und 226 im Alter 138 Selbstmord und 219 Der Rosenkavalier (Strauss) Lückenpaar dargestellt in 172 Marschallin in 172 ff. Octavian in 172 ff. Sex und 171 ff. Der schwarze Prinz (Murdoch) 253 Der Zeitplan (L’Emploi du temps, von Michel Butor) 156 Deutschland 229 „Dichterliebe“ (Schumann) 24 Die Hochzeit des Figaro (Mozart) 173 Die Odyssee (Homer) 254 Die Reifeprüfung (Film) 176, 192 Die Troerinnen (Euripides) 143 Diotima 246 ff., 251 Dolabella 144 Eifersucht, 182 Siehe auch Neid Eine Theorie der Gerechtigkeit (John Rawls) 66 Eines langen Tages Reise in die Nacht (Eugene O‘Neill) 142, 152, 164 Einsamkeit 83 f., 226, 229 Elektra (Strauss) 172, 201 Anm. 1 Elliott, Sam 184, 186 ff. Elster, Jon 70 f. Elternzeit 210 Emotionen. Siehe rückwärtsgewandte Emotionen Ennius 77 Entscheidungen von Stellvertretern 227 ff. Epikur 144, 247, 251 ff., 258 Epikureismus 81, 108 Anm. 8 Erbschaften Betreuungsaufgaben und 39 f. Dankbarkeit für 43 egalitäre Normen in 234 Enkelkinder und 241 f. entfernte Verwandte und 40 Erstgeburtsrecht und 36 König Lear und 32 ff. königliche Nachfolgeregelungen und 37 Optionswert und 236, 239 Philanthropie als Alternative zu 245 Steuern auf 235 Testamente und 41, 45, 237 Treuhandmodell für 40

verzögerte Verteilung und 43, 236 Zeitpunkt von 43, 236 Erkenntnis Freundschaft und 10 Liebe und 183 Ernährung 28, 30, 71, 136 f., 207, 221 Erstgeburtsrecht 36 Euripides 143 Facebook 98 Fähigkeiten, menschliche. Siehe Fähigkeitenansatz Fähigkeitenansatz (FA) ältere Menschen und 218 Altersdiskriminierung und 227 ärztlich unterstützte Selbsttötung und 219 f. behinderte Menschen und 217, 219 emotionale Entwicklung und 225 f. Fähigkeit zum Vernunftgebrauch und 226, 228 Freizeitaktivitäten und 228 f. Freundschaft und 228 Garantien bestimmter Möglichkeiten gemäß dem 217 Gewaltfreiheit und 223 gleiche Menschenwürde aller Bürger und 218 Handlungsfähigkeit geschützt durch 217, 223 körperliche Gesundheit und körperliche Unversehrtheit betont durch 221 f. politische Partizipation und 228 Recht auf ein Leben normaler Länge und 219 ff. Recht auf Zugehörigkeit und 227 f. Sensibilität gegenüber veränderten Bedürfnissen und 218 städtisches Leben und 222 f. Stereotypen bekämpft durch 218 Verfassungsrecht und 217, 220 Vormundschaft und 226 f. Falten. in Japan 122 ältere Prominente und 185 mögliche Schönheit von 13, 109, 120 Stigmatisierung in Bezug auf 130 als Ausdruck von Weisheit 9, 109, 123 Feminismus 113, 127, 138 „Ferkelchen“ (Großmutter von Martha Nussbaum) 147 Fettabsaugung 119 Feudalismus 70, 73, 138

Sachregister Finnland ältere Bevölkerung in 70 geringe Ungleichheit in 70 Gesundheitswesen in 68 obligatorischer Renteneintritt in 67 öffentliche Verkehrsmittel in 229 Pflege in 68 Renten in 68 Sozialsystem in 68 Fischer, Burton 172 Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst (Film) 188 Foakes, R. A. 18 Fonda, Jane 198 Forster, E. M. 177 Frank, Anne 101 Franklin, Ben 190 ff. Franklin, Deborah 194 ff. Frauenfeindlichkeit 125, 127, 139, 176 Frauenliebe und -leben (Schumann) 24 Freud, Sigmund 127 Freude und Lust Freundschaft und 80, 94, 98, 102, 107 körperliche Lust 127 Mutterschaft und 22 Philanthropie und 46, 234 ff. rückwärtsgewandte Emotionen und 143 f. Freundschaft als Versicherungsvertrag 102 f. Anzahl der Freunde 98 f. auctoritas (sozialer Einfluss) und 91, 105 Cicero über 76 ff. consensio (Übereinstimmung) und 79, 81, 86 f. dissensio (Verschiedenheit) und 81, 85 Facebook und 98 Fähigkeitenansatz und 228 Freuden der 80, 94, 98, 102, 107 Freundschaften am Arbeitsplatz und 104 gemeinsamer Nutzen und 103 im Alter 76 ff. instrumenteller Charakter von 102 Klatsch und 81, 86, 94 f. Komplementarität und 81 Kriminelle und 100 Lückenpaare und 193 Nachdruck der Eltern auf das Angewiesensein der Kinder auf 97 f. Organspende und 106 Rat und 99 f., 104, 107 rechtswidriges Verhalten und 100 Risiken eingehen für die 100 ff., 106

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Selbsterkenntnis und 10 sich gegenseitig Aufziehen in der 80 f. Stoizismus und 98 ff. Über das Altern und 76 ff. Umgang mit Trauer und Verlust in der 77 und das Lösen von Problemen, die kollektive Aktionen erfordern 106 Vertrauen und 99 f. Vertrauenswürdigkeit und 104 Wohlwollen und 99 f. zwischen Personen unterschiedlichen Alters 31, 73 Gaines, Barbara 17 f., 21 Gedächtnis Auswirkungen des Alterns auf das 90, 132 f. rückwärtsgewandte Emotionen und 149 f. Gegenwartsverhaftung rückwärtsgewandte Emotionen im Vergleich zu 164 f., 168 Studentenleben und 167 Hedonismus und 13, 159 Seniorenwohngemeinschaften und 13, 165 ff. Mängel von 159 Vorteile der 165 f. „Generation O“ 237 Geschlecht und Charakter (Weininger) 29 Geschlechtsumwandlung, Operationen zur 114 Gesetz über Amerikaner mit Behinderungen 74, 223 Gesichtsstraffungen 115 Gespräche in Tusculum, (Tusculanae disputationes) (Cicero) 169 Anm. 1 Gesundheitswesen Altersvorsorge für Notfälle 46 für Rentner 59 Handlungsfreiheit, Fragen zu 222 in den Vereinigten Staaten 67 ff. in Finnland 68 informierte Zustimmung und 226 Kosten von 221 Krankenversicherung und 68, 221 f. Medicaid und 68, 204, 220 Medicare und 68, 220 Pflege und 221 f. Pharmaindustrie und 221 private Zukäufe von medizinischen Leistungen 220 Stereotypen 132 f. ungleiche Verteilung im 219 f. Zahnpflege und 221 Gielgud, Johannes 16

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Sachregister

Glaeser, Ed 229 Goerne, Matthias 24 Gorgias 88 Grace and Frankie (Fernsehprogramm) 198 f. Großbritannien Gesetze gegen homosexuelle Sodomie 177 Klassenstigmatisierung in 128 königliche Erbfolge in 37 obligatorische Rentengesetze in 71 Telefonservice für alte Menschen („Silver Line“) 226 Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung in 112 Haare, Wiederherstellung der 115 Hamilton, Alexander 259 Handlungsfähigkeit Fähigkeitenansatz und 224 f. Gesundheitswesen und 222 Simone de Beauvoir über Altern und 28, 30 Stereotypen, die alternde Menschen ihrer H. berauben 30, 255 f. Harvard University 69 häusliche Gewalt 222 f. Haustiere 228 Heinämaa, Sara 28, 230 Hepburn, Katherine 189 HIV/AIDS-Medikamente 221 Hobbys 92, 165 f., 245 Hofmannsthal, Hugo von 173 f., 178 Holocaust, der 165 Homophobie 128, 139 Hormontherapien 114 Hospiz, Pflege im. Siehe Pflege Humor 32, 81 f., 103, 109, 173 f., 180, 183 ff., 188 ff., 257 f. Husserl, Edmund 28 I’ll See You in My Dreams (Film) 184, 186 f. Indianer 111 Industrielle Revolution 70 Isokrates 88 Israel 62, 242 Ivy Acres, Seniorenwohngemeinschaft (North Carolina) 167 Jackson, Glenda 16 Jacobi, Derek 16 Jaffa, Harry V. 47 Anm. 17 Jahrtausendwende, Generation der 237 Japan 122 f.

Jones, Chris 17 Joyce, James 162 Juden 22, 29, 112 f., 127, 249, 259 Judentum 145 Kanada 220 Kant, Immanuel 88 Keach, Stacy 16 Keaton, Diane 184 ff., 188 ff., 192 Klatsch und Tratsch Über das Alter und 81, 94 ff. Antonius und Kleopatra und 180 Freundschaft und 97 Kleopatra. Siehe Antonius und Kleopatra Klimawandel 210 ff. Klischees. Siehe auch Stigmatisierung bezüglich der Juden 22, 127 bezüglich ethnischer Minderheiten 22 Fähigkeitenansatz in Bezug auf Rechte und 217 Frauen betreffend 22, 137, 161 gesundheitliche Folgen von 132 f. Gruppensolidarität als Mittel zur Bekämpfung 133 Gruppentrennung als Mittel zur Bekämpfung von 133 im Hinblick auf alternde Menschen 26, 29, 73, 132 f., 218, 224 f. Konformität durchsetzen mit 22 Muslime betreffend 22 positive Formen von 12, 132 Selbsteinschätzungen beeinflusst durch 137 Koch, John 147 König Lear (Shakespeare) berühmte Schauspieler in der Hauptrolle von 16 f. Betonung von Kontrolle und Autorität in Aufführungen von 19 ff. Cordelia, Charakter in 17, 19, 34 ff., 38 Erbschaftsfragen in 32 ff. Fragen der Dankbarkeit in 38 f. Goneril, Charakter in 17 f., 34, 46 Lears Altern, als Thema in Aufführungen von 16 ff. Lears Demenz, impliziert in Aufführungen von 12, 17 ff. Lears Eitelkeit in 33 f., 37 ff. Lears königliche Untertanen in 33, 35 Inszenierung in Chicago (2014) von 17 Regan, Charakter in 17 ff., 34 Verallgemeinerungsfragen in Bezug auf 21 ff.

Sachregister völlige Zerstörung, als Thema in Aufführungen von 16 ff. KonTrolle Einfluss des Alterns auf 167 Fähigkeitenansatz und 228 f. König Lear und 16 ff. Korea 110, 135, 137 Körper, der Antonius und Kleopatra und 181 Ekel und 13, 124 f. Fähigkeitenansatz und 220 ff. Romeo und Julia und 179 f. Stigma und 13, 109 ff., 125 Übungen und 90, 97, 122 Kulick, Don 223 La Vieillesse (Das Alter, von Simone de Beauvoir) 27 Labioplastik 113 Langella, Frank 116 LASIK-Chirurgie 110, 115 Lateinamerikaner 26 Le Doux, Joseph 252 Leisureville (Blechman) 159 Les Adieux (Beauvoir und Sartre) 27 Levy, Becca 136 Liebe. Siehe auch Romantische Beziehungen alternde Frauen und 171 ff. Familie und 154 Gegenseitigkeit und 180 männlich-männliche Formen von 177 rückwärtsgewandte Emotionen und 149 Selbsterkenntnis und 183, 188 Trauer und 150, 160 zum eigenen Körper 124, 138 f. zur Arbeit 67 Lithgow, John 16 Lückenpaare Antonius und Kleopatra und 178 Der Rosenkavalier und 171 ff. elterliche Dynamik und 192 finanzielle Überlegungen und 191 Franklin und 191 geschlechtsspezifische Aspekte von 190, 193 Gründe für die Entstehung von 191 f. Prominente und 190 ff. Trennungen von 194, 200 Was das Herz begehrt und 184 f., 192 Lukrez 251 f. Lutheraner 167

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Madame Mallory und der Duft von Curry (Film) 14, 184, 186 Maples, Marla 194, 199 Martin, Steve 14, 184, 186, 190 Maurice (Forster) 177 McKellen, Ian 16 McNulty, Charles 18 Medicaid 68, 204, 220 Medicare 68, 220 Menstruation 127 Mill, John Stuart 72 Miller, William Ian, 127 f. Mindestlohngesetze 210 Mirren, Helen 184 ff., 189 Misshandlungen älterer Menschen 223 mittleres Ruhestandsalter in den USA 12 Auswirkungen auf die Renten 62, 64 nach Beruf 61 Vermögensverteilung und 206 Monroe, Kristen 247 ff. Moosehaven, Seniorengemeinschaft (Florida) 167 Mozart, Wolfgang Amadeus 173 f. Murdoch, Iris 253 Muslime 22, 30, 113 Nasenkorrektur 110 ff., 114 f., 135 nationaler Dienst, Vorschläge zum obligatorischen 229 Natur und das Natürliche 18, 72, 111, 129, 133, 136 ff., 230, 238 Neid. Siehe auch Neid auf Juden 127 auf wohlhabende Personen 216 und Männer mit jüngeren romantischen Partnern 193 von Menschen in Seniorengemeinschaften 169 Nicholson, Jack 184 ff., 188, 190, 192 Nierentransplantationen 101 Nietzsche, Friedrich 21, 160 normative Verallgemeinerung 23 f. Norwegen 220 O’Neill, Eugene 13, 142, 152, 164, 169 Anm. 9. Siehe auch Eines langen Tages Reise in die Nacht O’Neill, James 169 Anm. 9 verpflichtende Pensionierung. Siehe Pensionierung Octavia 181 f.

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Sachregister

Ödipus in Colonus (Sophokles) 89 Öffentliche Verkehrsmittel 51, 222, 229, 256 Oliner, Samuel und Pearl 249, 260 Anm. 7 Olivier, Laurence 16 Online-Dating 118, 123 Operationen. Siehe kosmetische Chirurgie Optionswert 236 f., 239, 244 f. Organspende 101 Orwell, George 128 Pensionierung Abwenden möglicher Demütigungen durch 104 adaptive Präferenzen und 71 Finnland und 68 freiwillige Altersvorsorge als Alternative zu 50 generationenübergreifende Freundschaften verhindert durch 31, 73 leistungsorientierte Pensionen als Alternative zu 53 plötzliche Veränderungen durch 28 rechtlicher Schutz als Einwand gegen 50 Stigma und 71 Verbot in den USA für die meisten Formen von (Siehe auch Altersdiskriminierung) 50 Vertragsfreiheit als Alternative zu 50 Perlman, Rhea 187 Pflege 32 ff., 68, 110, 118, 133, 135 ff., 220 ff., 230 f., 249, 256 Philanthropie. Siehe auch Altruismus aufgeschobene Formen von 14, 234, 236, 238 Dankesbekundungen für 39 Erbschaften als Alternative zu 245 freiwillige Arbeit und 67, 245 Freude an 234 Optionswert und 239 posthume Vermächtnisse als Anliegen der 250 Stiftungen und 235 Universitäten als Empfänger von Geschenken 238 f. Piaf, Edith 108 Anm. 20 Piercings 113 ff., 119 Piloten 48, 50 plastische Chirurgie. Siehe kosmetische Chirurgie Platon lange Lebensdauer von 88 normative Verallgemeinerung und 23 über Altruismus und Selbstverwirklichung 246 f., 250 f., 254, 259

über das Bewusstsein der Sterblichkeit 246 f., 251 über Liebe unter Männern 260 Anm. 4 Plummer, Christopher 16, 18 Pompeius 95 primärer Ekel 126 projektiver Ekel 126 f., 129 Proust, Marcel 146, 157 f. Psychoanalyse 145 f., 159, 161 Puri, Om 184 ff. Pursuits of Happiness (Streben nach dem Glück) (Cavell) 189 Putnam, Hilary 66 Quintus (Bruder von Cicero) 144 „Rational Fools“ (Rationale Trottel) (Sen) 248, 260 Anm. 6 Rawls, John 66 Reeves, Keanu 184 ff., 188, 190 Renten. Siehe auch Sozialversicherung Abfindungen, hohe („Golden Handshakes“) und 56 Angestellte im öffentlichen Sektor und 64 Angestellte im privaten Sektor und 56 beitragsorientierte Pläne und 56 Besteuerung von 50 f., 56 durchschnittliches Renteneintrittsalter, beeinflusst durch 50 f., 55 f. geschlechtsspezifische Regeln bezüglich 62 in Finnland 68 Leistungsobergrenzen bei Weiterbeschäftigung und 208 leistungsorientierte Pläne und 53 Unterfinanzierung von 53 zu Beginn des 20. Jahrhunderts 51 Rhetorik (Aristoteles) 142, 252 Rhinoplastik 111 f. Romantik 160, 191 Romantische Beziehungen. Siehe auch Liebe alternde Partner und 200 Antonius und Kleopatra und 178 ff. I’ll See You in My Dreams und 184, 186 f. Lückenpaare und 190 ff. Madame Mallory und der Duft von Curry und 14, 184, 186 Romeo und Julia und 14, 178 ff. Was das Herz begehrt und 184 f., 192 Wenn Liebe so einfach wäre und 14, 184, 186 Romeo und Julia (Shakespeare) 14, 178 ff. Rozin, Paul 126

Sachregister Rückblick. Siehe auch rückwärtsgewandte Emotionen Altern und 13 Christlicher Glaube und 145 der Roman und 158, 161 Freude und 143, 149 Sinnstiftung und 160 f. Stolz und 149 rückwärtsgewandte Emotionen. Siehe auch Rückblick Altern und 13 Aristoteles über 146 Bedauern und 145 Cicero über 143 der Roman und 158, 161 Der Zeitplan und 156 ff. destruktives Potenzial 154 f. Eines langen Tages Reise in die Nacht und 152 ff. Griechische Tragödie und 143 Jüdisch-christlicher Glaube und 145 Liebe und 153 neue Herausforderungen als Alternative zu 153 Pessimisten und 164 Präsentismus verglichen mit 160 Proust und 146, 157 f. Psychoanalyse und 159, 161 Schuld und 149, 151 Selbsterkenntnis und 156 Trauer und 151 Vergeltungswünsche und 152 Vergnügen von 148 Zorn und 151 Zufriedenheit und 148 Zukunftsentscheidungen und 154 Russell, Bertrand 88 Salome (Strauss) 172 Sarandon, Susan 191, 200 Sartre, Jean-Paul 27, 31, 247 Scham. Siehe auch Ekel der Körper und 13, 124 f. Gruppensegregation als Mittel zur Bekämpfung von 133 Sexualität bei älteren Menschen und 223 Schindler, Oskar 259 Schönheitsoperationen. Siehe auch die spezifischen Verfahren Alter und gewünschte Erscheinung und 115 geschlechtsspezifische Natur von 114, 136

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Häufigkeit bei Senioren 115 f. Häufigkeit in den USA 110 Häufigkeit in Korea 110 Kosten im Zusammenhang mit 110, 137 Minderheiten-Mehrheit-Gruppendynamik und 112 Minderjährige und 114 f. prominente Personen und 185 Regierungsverordnung zu 110 Ruhestandsgemeinschaften und 121 f. Stigma als Grund für 13 Schuldgefühle Definition von 149, 151 Eines langen Tages Reise in die Nacht und 154 ff. ihr rückwärtsgewandter Charakter 143, 145, 151 ff. jüdisch-christliches Denken und 145 Stoizismus und 143 Trauer und 164 Überlebende von Traumatisierungen und 165 Zorn auf sich Selbst und 149, 151 zukünftige Entscheidungen und 151 Schumann, Clara 24 Schumann, Robert 24 Schweden 223 Scofield, Paul 16 Selbstdarstellung 98, 114, 117, 123, 144 Sen, Amartya 70, 248 Seneca 143, 169 Anm. 1 Briefe an Lucilius über Ethik 169 Anm. 1 Seniorengemeinschaften autofreie Natur 222 f. demografische Spezialisierungen im Marketing für 159, 168 Einsamkeit in 102 Freizeitaktivitäten und 121, 134, 168 frühe Beispiele von 51 Gegenwartsverhaftung und 159 Kinder ausgeschlossen von 165, 211 kosmetische Chirurgie und 121 f. Sexualität und 121, 167 Sexualität Altern und 128, 159, 167, 177, 224 Analverkehr 128 Demenzkranke und 224 Der Rosenkavalier und 14, 171 ff. infantile Aspekte von 175 lesbische Sexualität 73, 128 Lückenpaare und 190 Naturrechtsphilosophie und 177

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Sachregister

Seniorengemeinschaften und 121, 167 Zustimmung und 223 sexuelle Belästigung, Richtlinien 72 sexuelle Orientierung 73, 133, 167, 198, 227 Shakespeare, William. Siehe einzelne Werke Sheen, Martin 199 „Silver Line“ (britischer Telefonservice für ältere Menschen) 226 Sinatra, Frank 17 Smith, Adam 127, 253 Smith, Maggie 184 Sokrates 246, 252 Sophokles 89, 153 Soziale Sicherheit ältere arme Menschen und 64, 203 Angestellte, ausgenommen von 52 f. Anstieg der Lebenshaltungskosten und 204, 214 f. Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts und 204, 215 Leistungsstruktur von 51 f. Reformvorschlag zum obligatorischen Sparen und 64, 203, 213 Reformvorschläge in Bezug auf 209 f. Renteneinkommen als Ergänzung zu 206 Steuern zur Unterstützung der 213 wohlhabende Arbeitnehmer und 203 Zahlungsfähigkeit der 62 Squibb, June 187 Starr, Martin 187 Sterblichkeit. Siehe auch Tod Ekel und 126 Platon über das Bewusstsein der 246 f., 251 Stigmatisierung und 139 Trauer und 197 Stigmatisierung. Siehe auch Ekel; Klischees adaptive Präferenzen und 29, 71 alternde Körper und 13, 109 ff., 125 alternde Menschen und 71, 89 Bekämpfung von Formen der 125 deskriptive Verallgemeinerung und 23 Ekel-Stigmatisierung und 125 ff. ethnische Zugehörigkeit und 127 gesellschaftliche Klasse und 128 homosexueller Männer 128 obligatorischer Ruhestand und 71 Selbststigmatisierung 131, 136 Sterblichkeit und 139 Vorurteile und 26, 32 Stoizismus emotionale Kategorien innerhalb des 143 Freundschaft und 78

Strauss, Richard. Siehe einzelne Werke Streep, Meryl 14, 184 ff., 188 ff. subjektives Risiko 208 Südafrika 220 Südkorea 110 Suizid, ärztliche Begleitung bei 219 Symposion (Platon) 246 Tätowierungen 110, 112, 114, 119 f. Testamente 226, 255 The Villages (Florida) Seniorenwohnanlage Freizeitaktivitäten in 168 Gegenwartsverhaftung und 165 Mittleres Einkommen der Bewohner von 166 schnelles Wachstum von 166. Schönheitschirurgie und 119 Thomas, Clarence 29 Tod, der Altruismus und 31, 39, 43 Angst vor dem 11, 89 beitragsorientierte Renten 56 Depression und 78, 219 Diskussion darüber in Über das Altern 78, 82, 89 Diskussion darüber in Über die Freundschaft 77, 93 leistungsorientierte Renten 53 Würde und 219 Tomlin, Lily 198 f. Trauer Annehmen von Verlusten und 93, 150, 164 Depressionen und 76 Die Troerinnen 143 Fähigkeitenansatz und 225 f. Frauenliebe und -leben und 24 Freundschaften und 77 Griechische Tragödie und 143 Hinweise zu 164 Phasen der 150 rückwärtsgerichtete Natur der 13 Sterbefälle und 150 Stoiker über 143 Über die Freundschaft und 77 Trump, Donald 191, 194 Trump, Ivana 190 ff. Trump, Melania 193 Tullia (Tochter von Cicero) 78, 82 ff., 144 Über das Altern (Cicero) „Lady Ochsenaugen“ (Clodia) diskutiert in 95 „Sampsiceramus“ (Pompeius) diskutiert in 94 f.

Sachregister Atticus in 11 f., 76 ff., 93 ff., 105 ff. auctoritas (sozialer Einfluss) diskutiert in 91, 105 Cato in 11, 27, 30, 73, f., 76, 88 ff., 97 Charakter Scipios in 77 convivium diskutiert in 92, 94, 97 der Charakter Laelius in 77 die Briefform von 11 f., 27, 76 ff. die Stimme diskutiert in 91, 94 Ennius zitiert in 77 Freundschaft diskutiert in 94 Julius Caesar diskutiert in 95 f. Klatsch in 94 f. Landwirtschaft diskutiert in 92 Niveau geistiger Aktivität bei älteren Menschen 89 f., 92, 97 Niveau physischer Aktivität bei älteren Menschen 89 f. Pomponia in 144 Stigmatisierung älterer Menschen diskutiert in 91, 93 Tod diskutiert in 82, 89, 93 über das Jammern und Klagen bei älteren Menschen 92 über Hobbys 92 f. über Krankheit 82 Über die Freundschaft (Cicero) Atticus in 11 f., 76 ff., 93 ff., 105 ff. Geld diskutiert in 80 f. Laelius in 77 Scipios Tod berichtet in 77 Sich gegenseitig Aufziehen in 80 f. Stoische Sicht der Freundschaft kritisiert in 78 f. Tod von Tullia (Ciceros Tochter) diskutiert in 78, 82 ff., 144 Trauer und Verlust konfrontiert in 78, 82 ff., 144 Vertraulichkeit diskutiert in 78 f. Wohlwollen diskutiert in 79 Übungen, körperliche Altern und 122, 134, 137 körperliche Veränderungen durch 122 Muskelfitness und 30 Physiotherapie und 221 Über das Altern über 90 f. Ulysses (James Joyce) 162 Ungleichheit ältere arme Menschen und 207 f. Automobilkultur und 222 f., 225

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Besteuerungssystem der sozialen Sicherheit und 213 Bildung und 208 des Vermögens 203 f. Einkommensniveaus in den USA und 64, 203 ff. Ernährung und 207 Elternurlaub und 210 f. Finnlands niedrigeres Niveau der 70 Gesundheitswesen und 219 f. in den Bereichen Kultur und Freizeit 222 f. Klimawandel und 211 f. Lebenserwartung, beeinflusst durch 207 Mindestlohngesetze und 210 Naturalisierung von 138 Rentengesetze und -standards als Faktor von 61 zwischen den Generationen 210 ff. Vormundschaft und 227 Universitäten Emeriti 72 Lehrbeauftragte und 60 Ruhestand und 56, 60, 69 f. „safe spaces“ und 167 Stiftungen 235 Unsere Körper, wir selbst (Our bodies, Ourselves) 138 USA (Vereinigte Staaten von Amerika) ältere arme Menschen in den 204 ff. Automobilkultur in den 222 Diskriminierung älterer Arbeitnehmer in den 48 ff. durchschnittliches Renteneintrittsalter in den 50 f., 55 f. Einkommensungleichheit in den 64, 203 ff. Fähigkeitenansatz die Grundrechte betreffend 217 Gesundheitsversorgung in den 68 Häufigkeit von Schönheitsoperationen in den 110 Jugendkultur in den 72 Rentengesetze und -standards in den 61 städtisches Wohnen in den 222 f. Verbot der Altersdiskriminierung in den 48 ff., 75 Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung in den 112 wirtschaftlicher Wohlstand in den 116 f., 203 ff.

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Sachregister

Vaginoplastik 113, 119 Vereinigtes Königreich. Siehe Großbritannien Vergangenheitsverhaftung 162 f. Versorgungsrenten beitragsorientierte Pensionen im Vergleich zu 52, 56 Gebühren für 41 Reformvorschläge für die Sozialversicherung und 52 Zahlungsstruktur von 40 f., 45 Vertragsfreiheit. Siehe obligatorische Pensionierung Von der Natur der Dinge (De rerum natura, Lukrez) 251 Vorabverpflichtungen 255

Williams, Bernard 249 Winnicott, Donald 175 „Winterreise“ (Schubert) 24 Wohltätigkeitsorganisationen. Siehe auch Philanthropie als Treuhänder 40 Dankbarkeit ausgedrückt durch 34 Optionswert und 239 Stiftungen und 235, 238 f. Vermächtnisse an 46, 233 ff. Werbung um Spenden an 46 Wood, Diane 220 Wright, Richard 29

Wahlgesetz der USA, Zusätze zum 228 Was das Herz begehrt (Film) 184 f., 192 Waterston, Sam 16, 199 weibliche Genitalverstümmelung 112 Weininger, Otto 29 Weisheiten Altern und 12 f., 90, 105, 163 auctoritas (sozialer Einfluss) und 105 Falten als Indikator für 9, 109, 123 Klischees in Bezug auf 132 Marschallin in Der Rosenkavalier und 172 f., 177 Wenn Liebe so einfach wäre (Film) 14, 184, 186 Whitman, Walt 139, 162

Zamir, Tzachi 178 ff. Zorn Eines langen Tages Reise in die Nacht und 155 f. Schuld und 151 vergangenheitsorientierte Formen von 151, 155 f. Vergeltung und 149, 151 zukunftsorientierte Formen von 152 Zwangspensionierung. Siehe verpflichtende Pensionierung Zweiter Golfkrieg (Irakkrieg) 211 Zweiter Weltkrieg 62, 211, 249

Yando, Larry 17 f., 21