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German Pages 288 Year 2023
Mila Brill Lokale
Urban Studies
Mila Brill arbeitet im Bereich der kulturellen und politischen Bildung und studierte Soziologie und Ethnologie in Bonn, Lima und Luzern. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind qualitative Methoden empirischer Sozialforschung, Stadtforschung und Emotionssoziologie.
Mila Brill
Lokale Alltagskulturelle Esspraktiken in der diversen Stadt
Die vorliegende Studie wurde durch die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Juli 2022 unter dem Titel »Bad Godesberger Lokale. (Zu)Ordnungen alltagskultureller Esspraktiken in der diversen Stadt« als Dissertation angenommen. Sie entstand im Rahmen des durch das BMBF-Programm »Die Sprache der Objekte. Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen« geförderten Verbundprojektes »Esskulturen. Objekte, Praktiken, Semantiken« (Vorhabennummer 01UO1823A) im Teilprojekt »Urbane Esskulturen und integrative Praktiken«.
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Inhalt
Abbildungsverzeichnis ....................................................................7 Vorwort .................................................................................. 9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk...........................13 Zum Thema: Essen im Alltag .......................................................... 14 Zum Forschungsstand: Essen mit Unbekannten ...................................... 24 Zum Zugriff: Essen in der Stadt ....................................................... 31 Zur Methode: Forschung zwischen Feld und Zuhause.................................. 40
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Städtische Alltäglichkeiten in Bad Godesberg...................................... 59 Sozialraum Bad Godesberg........................................................... 60 Esskultur im Stadtbezirk ............................................................. 85 Bewohner:innen und Besucher:innen ................................................. 93 Essen in der Krise: Exkurs zur Corona-Pandemie .................................... 106
3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Halböffentliche Vergemeinschaftung ...............................................111 Frühstück in der Kirche, Mittagessen im Verein ....................................... 112 Der Rahmen ›Kochtreff‹ .............................................................122 Geteiltes Essen, Konflikte und Freundschaften ....................................... 131 Praktiken in geteilten Räumen ...................................................... 143
4. 4.1 4.2 4.3 4.4
(Un)Erwartete Begegnungen .......................................................149 Von Sommerfest bis Weihnachtsmarkt ............................................... 151 Der Rahmen ›Stadtfest‹ ............................................................ 163 Wirtschaft, Nachbarschaft und Segregation .......................................... 171 Praktiken der Distanzbewältigung ................................................... 184
5. Orientierende Orte................................................................. 193 5.1 Zwischen Bonner Republik und ›orientalischer‹ Küche ................................194 5.2 Der Rahmen ›Gastronomie‹ ........................................................ 205
5.3 Erinnerungen, Deutungen und Bewertungen ..........................................214 5.4 Repräsentation von (Zu)Ordnungen ................................................. 229 6. 6.1 6.2 6.3 6.4
Multiskalare Ordnung alltagskultureller Praktiken ................................ 235 Zum Zwischenstand ................................................................ 236 Autoethnografische Modellanalyse .................................................. 240 Zusammenführung: Zum Modell der Ordnung alltagskultureller Situationen ........... 249 Ethnografische Ergebnisse zu Bad Godesberg ........................................251
7.
Fazit und Ausblick ................................................................. 257
Literatur ................................................................................261 Quellen (Zeitungsartikel) .............................................................. 275 Anhang................................................................................. 279
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22:
Der Bezirk Bad Godesberg mit Stadtteilen ...................................... 41 Zeichnung Interview 09 (April 2019) ............................................. 81 Konstante gastronomische Orte im Bezirk (Stand 2019).......................... 90 Gastronomische Typen im Bezirk (Stand 2019) .................................. 91 Raumbezogene Zuschreibungen in der Gastronomie (Stand 2019) ................ 92 Nutzungspräferenzen Innenstadt, Fokus Besucher:innen (Stand 2020) ........... 97 Nutzungspräferenzen Innenstadt, Fokus Langzeit-Bewohner:innen (Stand 2020) .105 Bei dem Kochtreff der Jugendlichen (Juni 2019) ................................ 115 Zu Mittag gibt es gefüllte Paprika (Juni 2019) ................................... 117 Zwei Brotsorten beim Frauencafé (April 2019) ................................... 119 Notizen zum christlichen und zum islamischen Vortrag (Juni 2019) ..............120 Das gastronomische Angebot auf dem Stadtfest (September 2018) ..............154 Auf dem Theaterplatz sind Tische aufgebaut (September 2018) ..................156 Auf dem Nikolausmarkt (Dezember 2018) .......................................158 Sitzgelegenheiten auf dem Streetfood-Markt (März 2019) ........................160 Das gastronomische Angebot auf dem Streetfood-Markt (März 2019) ............. 161 Zeichnung Interview 20 (Juli 2019)..............................................209 Zeichnung Interview 24 (Februar 2020) ......................................... 211 Zeichnung Interview 01 (Februar 2019) ..........................................225 Multiskalarer Verweisrahmen Bad Godesbergs ..................................232 Auf der dritten Leitbildkonferenz (März 2019) ...................................245 Zwei Kommentare zum Moltkeplatz (März 2019) .................................245
Vorwort
Der Begriff der ›Orientierung‹ hat seine etymologischen Ursprünge in der französischen Bezeichnung dafür, sich nach Osten (der Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs) auszurichten. Karten beispielsweise galten dann als ›orientiert‹, wenn der ›Orient‹ (und damit Jerusalem) oben lag. Orientierung betrifft im alltäglichen Wortgebrauch heute nicht mehr ›den Orient‹ – und doch weist die Etymologie des Begriffs auf die grundsätzliche Relationalität des Orientierens hin: Ich kann meine eigene Position nur in Bezug auf Referenzpunkte bestimmen, und je konkreter diese Referenzen, umso genauer meine eigene Positionsbestimmung. Die Referenzen können physischer oder geografischer Natur sein (wie der Sonnenaufgang), sie können aber auch auf den symbolischen Gehalt einer Ausrichtung hinweisen (wie im Fall von Jerusalem). Manche der Referenzen, mit denen sich die eigene Position bestimmen lässt, sind eher individueller, andere kollektiver Natur. Damit ist gemeint, dass einige Referenzen nur von wenigen Personen so gedeutet werden, wie ich sie von meiner Position aus definiere, und ich bei anderen davon ausgehen kann, sie mit größeren Personengruppen zu teilen. Ich selbst verstehe mich beispielsweise (unter anderem) als Bonner Anwohnerin, als Forscherin und als Frau. Ich gehe davon aus, dass in meinem alltäglichen Umfeld viele Personen, die ich kenne oder die mir zufällig im öffentlichen Raum begegnen, ebenfalls Bonner Anwohner:innen sind, sich als solche verstehen und grob das gleiche damit meinen wie ich. Die Menge derjenigen, die mein Verständnis von mir als Forscherin teilen, schätze ich deutlich kleiner ein. Dass ich selbst mich als Frau verstehe, scheint mir wiederum eine mit vielen geteilte Einschätzung, wohingegen der Inhalt dessen, was ich unter ›Frau-Sein‹ verstehe, wohl stärker von anderen subjektiven Definitionen abweicht als im Fall der Kategorie ›Bonner Anwohner:in‹. Die Fragen, mit denen ich mich im Folgenden als Forscherin auseinandersetze, ergeben sich aus der Überlegung, dass solche individuellen und kollektiven Positionsbestimmungen, die durch geteilte Referenzpunkte verbunden sind, eine lokale Ordnung erzeugen, die zugleich den Rahmen für Positionierungen vorgibt. ›Ordnung‹ meine ich also nicht normativ, statisch oder unflexibel, sondern als Überbegriff für geordnete und ungeordnete Zustände, ordnende Prozesse und Ordnungsvorstellungen. Ordnung und Orientierung sind vor allem in den Bereichen des so-
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zialen Lebens zentral, die weder Raum noch Zeit für langwierige, komplexe Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse bieten – also im Alltag. Alltägliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass darüber wenig nachgedacht, gesprochen und nicht zuletzt auch wenig geforscht wird. Besonders deutlich zeigt sich das im Fall des Essens. Dafür, dass das Essen einen Großteil des Tagesablaufes jedes Menschen bestimmt (und für viele darüber hinaus noch dessen Produktion, Zubereitung etc.), erhält es wenig öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Die folgende Studie ist im Rahmen eines Verbundprojekts verschiedener Disziplinen entstanden, das sich dieser Lücke zuwandte. Zwischen 2018 und 2021 arbeiteten Religions- und Literaturwissenschaftler:innen, Anthropolog:innen und Soziolog:innen der Universitäten Koblenz und Bonn gemeinsam mit Mitarbeiter:innen aus dem Landesmuseum Koblenz im Forschungsprojekt »Esskulturen. Objekte, Praktiken und Semantiken« (gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung) zusammen1 . Im Bonner Teilprojekt »Urbane Esskulturen und integrative Praktiken« unternahm ich eine Stadtbezirksstudie zu Bad Godesberg. Diesem Stadtbezirk wandte ich mich deshalb zu, weil er durch seine lokalhistorische Vergangenheit und die gegenwärtige diskursive Polarisierung auffiel – denn er gilt zugleich als Anzugspunkt für wohlhabende, internationale wirtschaftliche und politische Eliten und als segregierter Problemvorort Bonns. Am Fall gastronomischer Lokale in Bad Godesberg wird die Notwendigkeit alltäglicher lokaler Ordnungsbildung und individueller Orientierung besonders deutlich. So beschreibt eine meiner Interviewpartner:innen beispielsweise ihre Einschätzung, der Bezirk unterliege einem Wandel, der als Verdrängung eines ehemaligen (nicht genauer definierten) kulinarischen Angebots durch »orientalischarabische Küche« wahrgenommen würde: If2 : »Es ist natürlich hier wiederum eine Ballung der, ich sag jetzt mal, orientalischarabischen Küche. Und es ist eine Ballung der verschleierten Frauen. Also das wird glaube ich nicht von jedem als Chance oder als neues Angebot, mit dem man sich mal befassen könnte, wahrgenommen, sondern eher als: ›Und die haben jetzt auch noch unser unsere Kneipe weggedrängt‹.« (Interview 08, Z. 325ff.)
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Ausgangspunkt war die wissenschaftliche Aufarbeitung der Sammlung Alex Poignards (1921 – 2017). Der belgische Süßwarenfabrikant sammelte keine systematische Auswahl besonders wertvoller Stücke, sondern eine Mischung von über 50.000 Gegenständen der Alltagskultur des 19. Jahrhunderts. Während viele museale Sammlungen außeralltägliche Wertgegenstände fokussieren, führte die Beschäftigung mit dieser Sammlung in der Verbundforschung zu dem besonderen Augenmerk auf alltägliche Praktiken. If bezeichnet die weibliche (f) Interviewte im Interview 08 (I). Die Interviews sowie deren Maskierung werden genauer in Teilkap. 1.4 eingeführt.
Vorwort
Andere meiner Gesprächspartner:innen beschreiben den gleichen Prozess ganz anders, und gerade diese Vielfältigkeit in den Ordnungsvorstellungen, die sich im begrenzten Raum Bad Godesbergs ergeben, ist für die folgende Studie fruchtbar. In der Analyse esskultureller Praktiken und Situationen wird klar werden, was die hier zitierte Interviewte mit »orientalisch« meint, inwieweit das Einfluss auf ihr alltagspraktisches Handeln hat und wie sie sich selbst in ihrer Umgebung positioniert und orientiert. Das Forschungsdesign der Studie entspricht dem methodologischen Ansatz der Grounded Theory und greift für die Datenerhebung auf ein grundsätzlich ethnografisches Vorgehen zurück. Konkret bedeutet dies, dass die Ansichten der hier Zitierten im weiteren Verlauf der Studie mit zahlreichen anderen Einschätzungen kontrastiert werden. Ich strebe so eine Art ethnografische Kartierung des alltäglichen Lebens im Bezirk an. Ziel ist es, dass diese Kartierung letztendlich unterschiedlich ausgerichtet werden kann, ohne ihren Sinn zu verlieren. Aufgebaut ist die Kartierung in mehreren Schritten. In der Einleitung führe ich zunächst genauer auf das Thema esskultureller Praktiken in einem diversen Stadtbezirk hin (1.1), erarbeite aus dem aktuellen Forschungsstand drei Leitfragen für die Analyse (1.2) und kläre konzeptuelle (1.3) sowie methodische und forschungspraktische Aspekte meines Vorgehens (1.4). Im zweiten Kapitel stelle ich den Stadtbezirk Bad Godesberg vor und konzentriere mich dabei auf die Lokalgeschichte und gegenwärtige Lage (2.1), das esskulturelle Angebot im Bezirk (2.2) sowie dessen Anwohner:inen und kurz- oder längerfristige Gäste (2.3). In einem Exkurs wende ich mich der Corona-Pandemie und deren Implikationen für die Forschung und deren Ergebnisse zu (2.4). Es folgen drei empirische Fallstudien, von denen sich eine mit halböffentlichen Kochtreffs (3), eine mit esskulturellen Situationen im öffentlichen Raum der Godesberger Innenstadt (4) und eine mit der kommerziellen lokalen Gastronomie des Bezirks (5) beschäftigt. Das sechste Kapitel bezweckt entsprechend dem Ansatz der Grounded Theory eine Zuspitzung der Analyseergebnisse auf ein empirisch fundiertes Modell der Situierung alltagskultureller Praktiken. Dafür fasse ich den Zwischenstand der Analyseergebnisse zusammen (6.1), stelle eine exemplarische autoethnografische Situationsanalyse vor (6.2), und abstrahiere das analytische Vorgehen daraufhin vom Einzelfall. Ergebnis davon ist ein Modell der multiskalaren Ordnung alltagskultureller Praktiken (6.3). In einer ethnografischen Zusammenfassung thematisiere ich die Schlüsse, die sich daraus für Bad Godesberg ergeben (6.4). Im Fazit diskutiere ich die Gültigkeit und Grenzen der Erkenntnisse der Studie über das ethnografische Untersuchungsfeld hinaus. Ich habe mich primär als Forscherin mit der Kartierung des alltäglichen, diversen Zusammenlebens in Bad Godesberg beschäftigt. Als Ethnografin bin ich dafür mal allein, mal in Begleitung durch den Bezirk gelaufen und gefahren, habe kurze Gespräche und stundenlange Interviews geführt, an organisierten Veranstaltungen und spontanen öffentlichen Begegnungen teilgenommen und eine Reihe schriftli-
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cher, bildlicher und kartografischer Dokumente genutzt und selbst erstellt. Ich war also zwangsläufig auch mit weiteren Bestandteilen meiner persönlichen Positionsbestimmung an der Forschung beteiligt. Deren Einfluss versuche ich in der folgenden Studie transparent zu machen und produktiv zu nutzen. Unter anderem bedeutet dies den Einbezug sozialer Gefühle, die bei mir und anderen in der Feldforschung aufgetreten sind. Darum wird es später genauer gehen, an dieser Stelle möchte ich lediglich einem ganz bestimmten sozialen Gefühl Ausdruck verleihen: der Dankbarkeit. Mein Dank gilt allen Bewohner:innen und Besucher:innen Bad Godesbergs, die ihr Essen mit mir teilten und mir Einblicke in ihren Alltag und ihre Einschätzungen und Meinungen gewährten. Neben meinen Tischnachbar:innen und Gesprächspartner:innen aus der Feldforschung zählt dazu erstens mein Betreuer Clemens Albrecht, der mich immer wieder dazu anregte, meinen wissenschaftlichen Orientierungssinn zu schärfen, ohne das Alltägliche aus dem Blick zu verlieren. Zweitens unterstützten mich die Bewohner:innen und Besucher:innen meiner Wohngemeinschaft auf bewusste und unbewusste Weise – von unschätzbarem Wert ist diese alltägliche Unterstützung immer, besonders deutlich wurde mir dies während den schwierigen Umständen der Corona-Pandemie. Drittens danke ich allen Begleiter:innen, die mir für kürzere oder längere Ausflüge ins Feld folgten, besonders Louisa Rosenkranz, Patrick Binding, Baydaa Layla, Khaled Ali, Lisanne Riedel, Fabian Fries und Moritz von Stetten. Da zur Situierung der eigenen Position nichts hilfreicher ist als ein Blick von außen, möchte ich mich dafür bei Karoline Noack und Susanne Frank bedanken. Ohne die vielen Kommentare und Anregungen derjenigen, mit denen ich Teile der Studie darüber hinaus besprochen habe, wäre sie nie in diese endgültige Form gelangt. Dafür danke ich meiner Schwester Lea, Maria Mothes und den Verbundmitgliedern sowie allen weiteren Vorab-Leser:innen. Ein besonderer Dank gilt meinem täglichen Kumpanen Jonas.
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
Essen ist eine alltägliche Praktik. Was mehrfach täglich wiederholt wird, einen Tag nach dem anderen, erhält selten bewusste Aufmerksamkeit. Wendet man sich solchen routinierten Praktiken einmal zu, fallen jedoch schnell die Unterschiede einzelner Situationen und die vielen verschiedenen Varianten des alltäglichen Essens ins Auge. Es stellt sich die Frage nach der Ordnung des Alltags – und dies nicht nur auf individueller Ebene, sondern vor allem in Bezug auf das Zusammenleben mit bekannten und unbekannten Personen in einem städtischen Umfeld. Das folgende Kapitel leitet in eine solche Betrachtung scheinbar reibungslos ablaufender Alltagskultur ein und spürt den soziologischen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen nach, die sich daraus ergeben. In Teilkapitel 1.1 führe ich das Thema der Studie ein und erläutere den interaktionistisch orientierten Ansatz. Die beteiligten Individuen einzelner Interaktionen, aber auch die sie umgebenden Räume und die von ihnen genutzten Gegenstände dienen als empirischer Zugang zum Thema. Insbesondere die Arbeiten Erving Goffmans eignen sich für die angestrebte ethnografische Anwendung: Die Begriffe der Situation, der Interaktion, der Kopräsenz sowie des Alltags sind für die Hinführung zum Thema zentral. Den Begriff des Alltags spezifiziere ich daraufhin unter Rückgriff auf Michel de Certeaus praxistheoretische Ausformulierung. Im zweiten Teil der Einleitung (1.2) erarbeite ich auf der Basis dieses thematischen Zuschnitts anhand des Forschungsstandes die Leitfragen dieser Studie. Sie betreffen esskulturelle Situationen im städtischen Raum. Eine Leerstelle in der Forschung zu urbaner Esskultur zeigt sich dabei in Bezug auf periphere städtische Räume. Ich wende mich deshalb dem Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg zu, der einen Kontrastfall zu großstädtischen Zentren bildet. In Teilkapitel 1.3 verdeutliche ich, wie sich die Leitfragen hinsichtlich einer ethnografischen Anwendung auf den Stadtbezirk operationalisieren lassen. Ich führe dafür das räumlich und materiell sensible konzeptuelle Instrumentarium ein, das aus der stadtsoziologischen Chicago School hervorgegangen ist. Da das Forschungsdesign der Studie der Grounded Theory entsprechend angelegt ist, werden methodologische Hintergründe mit der Erarbeitung konzeptueller Grundbegriffe verknüpft. Das abschließende Teilkapitel (1.4) beschreibt den methodischen Zugang zum Feld und zeichnet den forschungsprak-
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tischen Verlauf der Datenerarbeitung und Analyse nach, der die Basis der weiteren Studie bildet.
1.1 Zum Thema: Essen im Alltag »Ich finde halt, essen tun ja fast alle Menschen gerne. Also es gibt ja wenige, die gezwungenermaßen essen, ne?« (Interview 13, Z. 91) Diese rhetorische Frage stellt mir eine Gesprächspartnerin im Interview. Für sie ist Essen eher genüssliches Erleben als physiologische Pflichterfüllung – auch wenn klar ist, dass die Nahrungsaufnahme notwendig ist, um dem Körper jedes weitere Erleben überhaupt erst zu ermöglichen. Wer nicht gerne isst, wird nicht von außen dazu gezwungen, sondern vom Hunger: dem körperlichen Aufruf, dem eigenen Organismus das Fortbestehen zu ermöglichen. Für die Interviewte ist jedoch zumeist nicht Hunger, sondern die Aussicht auf Genuss Anlass zum Essen. Dies gilt besonders dann, wenn das Essen geteilt wird. Sie erzählt weiter von ihrer Erfahrung. Es geht um das Treffen zum Essen mit ihr bis dahin unbekannten Nachbarinnen1 : Nf: »Und es ist ja auch so ein sinnlicher Genuss eigentlich, zu essen und schön zu kochen, was Tolles zu kochen. Und das hat uns dann schon sehr zusammengeschweißt, diese Essensgeschichten. Es war für alle sehr interessant, wir sind alle sehr neugierige Menschen. Klar, Schweinefleisch haben wir jetzt nicht gekocht, aber gemeinsam etwas zuzubereiten unter der Anleitung von jemandem…und die Gerichte waren wirklich alle ausgefallen und toll und es ist inzwischen auch so, dass wir die dann zuhause auch mal nachkochen.« (Interview 13, Z. 92ff.) Weitere Aspekte des Essens kommen zur Sprache: gemeinsame Mahlzeiten mit Unbekannten, Tabus und Speiseregeln wie das Vermeiden von Schweinefleisch, Gewohnheiten und deren Wandel, die Rollenverteilung bei der Zubereitung, das Kochen zuhause. Ausgangspunkt ihrer Beschreibung bildet die Erkenntnis, dass allen Menschen das Bedürfnis nach Essen gemeinsam ist, und vielen auch der Genuss daran; dass sich also beides gut teilen lässt. Die Interviewte beschreibt, das Teilen des Essens habe sie und ihre Nachbarinnen »zusammengeschweißt«.
Hinführung zum Thema Georg Simmel (2001 [1910]) nutzt eine ähnliche Beobachtung in seinem Essay über die »Soziologie der Mahlzeit«, um am Beispiel des Essens eine Analyse von sozialer 1
Der Kontext des hier zitierten Interviews wird in Kapitel 3 genauer dargestellt.
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
Gemeinschaft und deren Entstehung zu entwickeln. Er zeigt auf, dass Essen in der praktischen Umsetzung stets auf das Zusammenspiel zweier allgemeiner anthropologischer Gegebenheiten verweist. Einerseits ergebe sich eine Unterscheidbarkeit einzelner Individuen und ihrer Körper dadurch, dass »was der einzelne ißt, […] unter keinen Umständen ein anderer essen« kann, worin sich die »exklusive Selbstsucht des Essens« (ebd., 140) zeige. Andererseits sei gerade deshalb die soziale Organisation von gemeinsamem Essen notwendig, die über die »Gewöhnung an das Vereinigtsein« (ebd.) eine Möglichkeit eröffne, physisch begründeten Individualismus durch gemeinschaftliche Normen und Regeln zugunsten einer kollektiven Ordnung zu verarbeiten. Die Interviewte betont, dass Essen nicht nur Ernährung, sondern auch Genuss bedeutet. Sie ergänzt in ihrer Beobachtung die physiologische Ebene des Essens um eine soziale. Ebenso wird bei Simmel unterstrichen, dass die gemeinschaftliche Organisation des Essens sich nicht darin erschöpft, Ressourcenkonflikte in der Nahrungszufuhr zu vermeiden. Vielmehr geht es ihm darum, aufzuzeigen, wie in der praktischen Umsetzung einer gemeinsamen Mahlzeit in einem zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen die individuell-körperliche Identität der Essenden hinter ihre kollektiv-normierte Zugehörigkeit zur Tischgemeinschaft zurücktritt – der »zusammenschweißende« Effekt. Seine Analyse ergibt, dass dafür eine Normierung der »Form« nötig sei. Damit gemeint ist einerseits eine praktische, zeit-räumliche »Regelmäßigkeit« und andererseits eine »ästhetische Stilisierung« (ebd., 142), die die Gestaltung einer gemeinschaftlichen Mahlzeit über eine reine Sättigungsveranstaltung für einzelne Essende hinausgehen lässt. Die Ergebnisse von Simmels Analyse des gemeinschaftlichen Essens, deren Plausibilität sich in den alltagsnäheren Formulierungen des Interviewzitats spiegelt, bilden die Basis für das Grundinteresse dieser Studie. Simmels frühe Untersuchung deutet auf die Verbindung zwischen individuellen Esspraktiken und darüber transportierten kollektiven ästhetischen Repräsentationen hin. Seine Analyse ist deshalb so zentral, weil sie (anders als andere Beschäftigungen mit dem Essen2 ) ihren Fokus klar auf die Relationen einerseits zwischen Individuen, andererseits zwischen Individuum und Gemeinschaft legt. Um die These Simmels von der praktischen und ästhetischen Organisation des Essens zu explizieren, lassen sich also zwei Ebenen unterscheiden: die Ebene individueller körperlich2
Simmels Arbeiten zum Essen lassen sich als soziologische Theoriearbeit mit empirischer ›Füllung‹ lesen. Ein anders gelagerter Zugang zum Essen ergibt sich, wenn entweder allgemeingültige, anthropologische Aussagen im Fokus stehen (so beispielsweise in der Philosophischen Anthropologie bei Helmuth Plessner (2003 [1970] oder Arnold Gehlen (1940)), oder spezifische zeithistorische Entwicklungen analysiert werden (beispielsweise zum Zivilisationsprozess bei Norbert Elias (1976 [1939]). Zum Überblick über die soziologische Beschäftigung mit dem Essen vgl. Barlösius 2016. Außerdem spielt Ernährung in der strukturalistischen Ethnologie eine zentrale Rolle, s. dazu FN 8 in diesem Kapitel.
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materieller Praktiken rund um die Nahrungsaufnahme sowie die Ebene kollektiver Repräsentationen ästhetischer Urteile durch ›Geschmack‹. Beide Ebenen und ihre Beziehung zueinander ergeben die Esskultur3 , die die rein physiologische Nahrungsaufnahme umgibt. Ich möchte im Folgenden beide Ebenen aufnehmen und dabei die Bewegung vom Individuum zur Gemeinschaft und zurück nachvollziehen, die Simmel (2001 [1910]) in der »Soziologie der Mahlzeit« beschreibt. Als ethnografisch vorgehende Soziologin4 verbinde ich eine soziologische Grundfrage – die nach dem Verhältnis von Individuum und Gruppe – anhand esskultureller Praktiken mit der ethnologischen Grundfrage nach den Zeichen und Deutungen von Zugehörigkeit5 . Die Verbindung dieser beiden Grundfragen basiert auf der These, dass die Analyse esskultureller Praktiken und Repräsentationen Schlüsse auf das Zusammenleben der eingangs erwähnten Nachbarinnen erlaubt. Allgemeiner gesprochen ergibt sich ein Zugriff auf den alltagspraktischen Umgang mit sozialer wie räumlicher Nähe und Distanz. Thema dieser Studie sind esskulturelle Praktiken und Repräsentationen. Es geht darum, nachzuzeichnen, wie unterschiedliche Menschen in einem Stadtbezirk im Alltag zusammenleben, sich orientieren, Ortsbezug aufbauen, Konsum-
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Unter Kultur verstehe ich im Anschluss an Arjun Appadurai (1996) die Dimension alltäglicher Praktiken, die Unterschiede zwischen verschiedenen möglichen Praktiken als situativ verkörpert und lokal eingebettet beschreibbar macht. Appadurai spricht von »situated and embodied difference« (ebd., 13), wobei diese prozessual gedachte Unterscheidbarkeit einen entscheidenden konzeptuellen Vorteil hat: »it is a useful heuristic that can highlight points of similarity and contrast between all sorts of categories: classes, genders, roles, groups, and nations. When we therefore point to a practice, a distinction, a conception, an object, or an ideology as having a cultural dimension (notice the adjectival use), we stress the idea of situated difference, that is, difference in relation to something local, embodied, and significant.« (ebd., 12) Ich beschreibe mich hier als Soziologin, da sich die theoretische Rahmung dieser Studie vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) aus soziologischer Begriffsarbeit speist. Das Grundinteresse an sozialen Nähe- und Distanzverhältnissen formuliere ich also zunächst aus einer soziologischen Perspektive, greife aber in den stärker empirischen Teilen der Studie ebenso auf kulturanthropologische und ethnologische Methoden und Erkenntnisse zurück. Ich bewege mich damit konstant zwischen Disziplinen, die durchaus ähnliche Themen behandeln und dabei oft die gleichen Werkzeuge verwenden. Auch die theoretischen Bezüge beider Disziplinen liegen eng beieinander, weshalb ich von mir hier ebenso gut als soziologisch informierte Ethnografin sprechen könnte. Ich bezwecke mit dem Fokus auf ›Zugehörigkeit‹ weniger die Anwendung kollektiver Identitätsvorstellungen auf einzelne Individuen (für eine kritische Analyse solcher Zuschreibungsprozesse vgl. u.A. Anderson 1983; Barth 1998 [1969]), und will vor allem vermeiden, dass individuelle Identität auf einige wenige, widerspruchsfreie Merkmale reduziert gedacht wird (vgl. Wolf 1993). Stattdessen verstehe ich Zugehörigkeit als eine Möglichkeit der Beschreibung wandelbarer (und wandernder) »Ortsbezogenheit« (Binder 2010, 203), durch die Differenzen, die Individuen unterscheiden erlauben, in lokale Ordnungen gebracht werden (vgl. hooks 2009; Brah 1996; Massey 1994).
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
entscheidungen treffen, Zugehörigkeit ausdrücken und ihre Nachbar:innen dabei beobachten und beurteilen. Was dafür auf lebensweltlicher, alltagskultureller Ebene herausgefunden werden muss, ist auch für den Alltag wissenschaftlicher Arbeit von Bedeutung: Warum scheinen manche Dinge, Akteur:innen und Orte relevant, andere aber nicht? Und dieser Frage vorgelagert: Sind es neben Dingen, Menschen und Räumen auch Ideen oder Praktiken, die Orientierung erlauben und eine Ordnung ergeben? Diese epistemologischen (und in einem zweiten Schritt methodologischen) Fragen möchte ich mit anderem Fokus stellen, um die Herangehensweise dieser Studie sowie ihre Ergebnisse verständlich zu machen.
Epistemologische Hintergründe Um unterschiedliche Positionen ausfindig machen und die Relationen zwischen ihnen beschreiben zu können, frage ich mich: Für wen scheinen welche Dinge, Akteur:innen und Orte relevant? Welche Gründe gibt es dafür und welche Gruppierungen von Zugehörigkeiten ergeben sich daraus? Und wie verhält sich meine forschende Perspektive dazu? Was sich die oben zitierte Interviewte beim Tischdecken genauso fragt wie ein:e Gastronom:in bei der Gestaltung eines Restaurants, frage ich auch: Aus welchen Elementen ergeben sich die Zusammenstellungen, die dann spezifische Nutzungsarten erlauben und wer wird damit auf welche Weise angesprochen?6 Im Gegensatz zur Interviewten oder zum:r Gastronom:in muss ich jedoch als Ethnografin keine Entscheidung für einen einzigen Dekorations- oder Einrichtungsstil treffen. Gerade die Brüche und Unterschiede darin, wie Menschen sich in ihrer räumlichen und sozialen Umgebung orientieren, sind Gegenstand der folgenden Beobachtungen. Die epistemologische Grundlage dafür, die ich hier kurz skizzieren möchte, bietet die Ausformulierung pragmatistischer Grundannahmen im symbolischen Interaktionismus.7 Um beim Beispiel des Tischdeckens zu bleiben: Ausschließlich anhand der Auswahl des Essbestecks lassen sich tatsächliche Nutzungssituationen nicht prognostizieren. Ebenso wenig reicht es aus, die Gäste der Mahlzeit nach ihrer Wahrnehmung zu befragen, um eine allgemeingültige Deutung des Dekorationsstils (inklusive der Intention der Gastgeberin) zu erhalten. Aus interaktionistischer Perspektive werden Deutungen stattdessen als Leistungen zwischen Personen (erweiterbar um Dinge, Räume, …) verstanden. Auch die praktische
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Vgl. dazu auch die ethnografische Perspektive Daniel Millers (2005), die vom Reiz der »humility of things« (ebd., 5) bestimmt ist. Der symbolische Interaktionismus schließt insbesondere an die relativistische Richtung des philosophischen Pragmatismus an. Zentral dafür sind die Idee der »Wahrheit des Wissens« (William James) sowie das Interesse an der »Produktivität der Überwindung ungewisser Situationen« (John Dewey) (zit.n. Diaz-Bone 2013, §6ff.).
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Nutzung materieller Bedingungen (wie vorhandener Stühle, Messer und Gläser) wird als räumlich und zeitlich situierte Interaktion in einem Gefüge prozessualer Relationen aufgefasst. Für die Beobachtung esskultureller Praktiken und ihrer Deutungen, die ich anstrebe, ergeben sich daraus zwei entscheidende Weichenstellungen. Erstens gehe ich mit George Herbert Mead (1934) davon aus, dass sich die persönliche Identität einzelner Individuen und das kollektive, gesellschaftliche Zusammenleben aus einer unauflösbaren, stetigen Wechselbeziehung heraus (fort)entwickelt. Das eingangs beschriebene Essen mit unbekannten Nachbarinnen ist aus dieser Perspektive eine interaktive Situation, in der sowohl das Selbstverständnis der beteiligten Individuen als auch die Form ihres Zusammenlebens in einer Nachbarschaft aktualisiert (im Sinne von geschaffen, gefestigt oder verändert) werden. Zweitens folge ich Herbert Blumer (1969) darin, soziale Interaktionen wie das Nachbarinnen-Essen als Situationen zu betrachten, in denen zusätzlich auch interpretative Bedeutungen – zum Beispiel von einzelnen Zutaten, Zubereitungsweisen oder dem Dekorationsstil – geschaffen, gefestigt oder verändert werden können.
Zuschnitt des Forschungsthemas Der symbolische Interaktionismus liefert über diese epistemologischen Weichenstellungen hinaus einige zentrale Begriffe, die dem genaueren Zuschnitt der Studie und der Definition des Themas dienen. Dazu zählen zunächst die Begriffe ›Situation‹ und ›Interaktion‹. Interaktionen, nach Erving Goffman (1959) die Begegnung zweier oder mehrerer Menschen, die einander zugewandt sind, ergeben soziale Situationen: Mit dem Terminus Situation bezeichnen wir diejenige räumliche Umgebung, und zwar in ihrem ganzen Umfang, welche jede in sie eintretende Person zum Mitglied der Versammlung macht, die gerade anwesend ist (oder dadurch konstituiert wird). Situationen entstehen, wenn gegenseitig beobachtet wird, sie vergehen, wenn die zweitletzte Person den Schauplatz verlässt. (Goffman 1971, 29) Situationen sind also gedacht als räumlich und zeitlich definierte Einheiten der gleichzeitigen Anwesenheit mehrerer Personen. Das pragmatistische Grundverständnis zeigt sich darin, dass Goffman soziale Begegnungen stets als situiert, das heißt als in einer Situation befindlich und sie gleichzeitig schaffend, beschreibt (s. ebd., 32). Außerdem enthält seine Definition der Situation eine räumliche Sensibilität, auf die ich später zurückkommen werde und die für das methodische Vorgehen der Studie entscheidend ist. Sie äußert sich darin, dass Goffman auf die Problematik der Gleichzeitigkeit verschiedener Normensysteme an einem Ort (also in einer Situation) hinweist. Als Beispiel wählt er den Deutungskonflikt zwischen Tourist:innen und Ortsansässigen:
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
Wir kennen alle den Definitionskonflikt jener Situation, wo Sommertouristen ihre Feriennonchalance auf die Läden und Lokale ihres Ferienortes ausdehnen wollen und die Ortsansässigen ihr gepflegtes Geschäftsdekorum wahren möchten. (ebd., 31) Der hier beschriebene Konflikt wird in der ethnografischen Beobachtung weiter unten wiederholt eine Rolle spielen. Denkbar sind solche Deutungsunterschiede aber auch in anderen Größenordnungen, wenn beispielsweise beim Nachbarinnen-Essen verschiedene Vorstellungen von Höflichkeit beim Tischgespräch nebeneinanderstehen. Unterschiedliche Deutungsmuster, die in einer sozialen Situation Anwendung finden und durchaus auch in Widerspruch zueinander geraten können, nennt Goffman »Rahmen« (1974b). Solche Deutungsrahmen stellen für das Individuum Bezüge zu Bekanntem her und ermöglichen eine Einschätzung der eigenen Rolle in der Situation. Sie erlauben im Zusammenspiel der gleichzeitig Anwesenden die Handhabung alltäglicher Begegnungen. Damit deuten sich zwei weitere zentrale Goffman’sche Begriffe an: ›Alltag‹ und ›Kopräsenz‹. Mit der Fokussierung auf den Alltag formuliert Goffman die Überzeugung, dass »alltägliche Straßenszenen, […] kleine Interaktionen, die genauso schnell vergessen sind, wie sie zustande kamen« (Goffman 1971, 193), eine Untersuchungsebene für die soziologische Betrachtung ergeben, die Schlüsse auf die »öffentliche Ordnung« (ebd.) erlaubt. Eigentlich unauffälliges, »normales« Verhalten (Goffman 1971, 16), also solches, das nicht aktiv sanktioniert wird, rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Goffman schreibt, alltägliche, öffentliche Begegnungen erfüllten eine orientierende Rolle für das Individuum. Dabei ergäben sich individuelle Überzeugungen »in bezug auf die Rechte und den Charakter von Personen« (1974a, 194): Jene grundlegenden Überzeugungen statten das Individuum weniger mit einer Anleitung zum Handeln aus […], als vielmehr mit einer Anleitung für seine Wahrnehmungsfähigkeit, einer Anleitung, die ihm sagt, was in einer bestimmten Situation geschehen kann und wozu Stellung zu nehmen für es ratsam ist. (ebd., 251) Alltägliche Interaktionen schaffen Situationen, in denen zu beobachten ist, woran sich Individuen in ihren Praktiken orientieren und wie sie darüber Zugehörigkeit anzeigen. Es geht um das Verhältnis von Praktiken und deren Deutungsvarianten in Bezug auf individuelle Orientierung, kollektive Zugehörigkeit und öffentliche Ordnung. Dafür nötig ist Kopräsenz, und zwar insbesondere die Kopräsenz verschiedener Personen jenseits von privaten, intimen Beziehungen. Goffman legt den Fokus seiner theoretischen wie empirischen Arbeit klar auf das, was er »öffentliches Leben« (»public life«, ebd., 9ff.) oder die öffentliche Ordnung nennt, also auf »jene Situationen, in denen Unbekannte und bloß Bekannte füreinander körperlich in Er-
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scheinung treten – Situationen, in denen Ordnung als solche zum zentralen Problem werden kann.« (ebd., 14f.) Ich konzentriere mich im Folgenden dementsprechend auf Situationen außerhalb des privaten Raumes. Ich halte diesen nicht für grundsätzlich uninteressant, doch unterscheiden sich jenseits davon Praktiken ebenso wie deren Deutungen potenziell stärker. Wenn meine oben zitierte Interviewpartnerin den Tisch für die noch unbekannten Nachbarinnen deckt, lässt sich ihr Umgang mit Differenzen in den erwartbaren und unerwarteten Nutzungs- und Deutungsvarianten besser beobachten, als wenn ihre Kinder sich zum (sicherlich auch nicht immer gleich ablaufenden, aber eher routinierten) Mittagessen an den Tisch setzen. Handelt es sich dann noch – wie im Fall der im Zitat beschriebenen Situation – nicht um den Tisch in ihrer eigenen Küche, sondern um den eines kirchlichen Gemeindehauses, kommen materielle und logistische Unwägbarkeiten hinzu. Je mehr Unbekanntes in der jeweiligen esskulturellen Situation verarbeitet werden muss, umso offensichtlicher wird für alle Beteiligten – also auch für mich als Forscherin –, was individuelle Selbstverständlichkeiten, deren Beurteilungsvarianten von außen und mögliche Kompatibilitäten oder Konflikte sind. Im eigenen Wohnraum ist man tendenziell (zumindest auf körperlich-praktischer Ebene) mit weniger Unbekanntem konfrontiert als jenseits davon. Ich interessiere mich in der empirischen Untersuchung deshalb ausschließlich für esskulturelle Situationen außerhalb des privaten Raumes. Mir geht es im Anschluss an Goffman um die Art alltagspraktischer, öffentlicher Ordnung, die er als das »Wie« der Gesellschaft beschreibt (1971, 20). Auch wenn der Begriff des Alltags bei Goffman zentral verwendet wird, ist er dort über die synonyme Verwendung mit öffentlichen, normalen, »kleinen« Interaktionen nur vage definiert. Was genau sind also alltägliche Situationen? Um dies zu klären, kann es helfen, erneut aufzugreifen, was Simmel als zweiten entscheidenden Aspekt neben der praktischen, zeit-räumlichen Regelmäßigkeit des Essens nennt. Auch wenn deutlich geworden ist, dass situative und interaktive Praktiken hier im Fokus stehen, soll die ästhetische Stilisierung des Essens nicht vorschnell aus dem Blick geraten. Was alltäglich ist, gilt als ›normal‹. Dafür braucht es normierte Geschmacksvorstellungen. Die Frage nach Ästhetik und Repräsentation kollektiver Geschmacksvorstellungen wird stärker als in pragmatistisch geprägter Forschung vor allem in (post)strukturalistischer Tradition behandelt8 . Damit wurde sie im Französischen
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Es ist vermutlich schwieriger, Autor:innen dieser Denkrichtung zu finden, die sich nicht mit dem Thema Essen auseinandergesetzt haben, als solche erschöpfend aufzulisten, die es getan haben – von Claude Lévi-Strauss über Mary Douglas bis hin zu Roland Barthes gibt es kürzere Essays oder ganze Studien zur Mahlzeit, zur Gastfreundschaft, zu Tabus und Regeln beim Essen. Einen guten Überblick bietet der Sammelband »Theorien des Essens« (Kashiwagi-Wetzel und Meyer 2017).
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lange Zeit prominenter diskutiert als im englischsprachigen Raum. Besonders bei Pierre Bourdieu wird deutlich, dass, wenn es um das auf den ersten Blick subjektive Einschätzen von Schönheit, Qualität oder Wert geht, nicht durch Zufall auf den Begriff des Geschmacks zurückgegriffen wird – auch wenn seine Anwendung sich maximal noch metaphorisch auf den Geschmackssinn bezieht. Deutlicher als in Bezug auf andere Sinneswahrnehmungen wie verschiedene Sichtweisen oder Perspektiven, aber auch Gehör- oder Geruchsempfindungen scheinen unterschiedliche Geschmäcker im Subjekt begründet zu liegen. Was man sieht, hört oder riecht, ist offensichtlich positionsabhängig. Es ist wenig erstaunlich, dass eine Geruchsoder Geräuschquelle unterschiedlich wahrgenommen wird, je nachdem, wie weit man davon entfernt ist. Noch banaler wird das Bild der Positionsabhängigkeit in Bezug auf den Sehsinn, wie es an der Verwendung des Perspektivbegriffs deutlich wird. Spreche ich von meiner Perspektive, ist immer schon mit gemeint, dass es auch andere Perspektiven gibt, die entweder von anderen oder von mir selbst eingenommen werden können. Beim Geschmack ist das anders: Ob ich hier oder dort, gestern oder heute ein und das Gleiche esse, sollte rein geschmacklich keinen Unterschied machen. Mein Urteil darüber muss – wenn es von anderen Urteilen abweicht – auf den ersten Blick an meiner subjektiven Geschmackswahrnehmung hängen. Bourdieus (1984 [1979]) Analyse der habituellen Unterschiede in den frühen 1970er Jahren in Frankreich dreht sich also auch deshalb explizit um den Begriff des Geschmacks, weil die Argumentation einen Schritt weitergeht, als einfach nur von unterschiedlichen Perspektiven zu sprechen. Das, was Simmel aufteilt (in individuelles Schmecken und kollektives Essen), fasst Bourdieu wieder zusammen und weist darauf hin, dass selbst scheinbar subjektive Geschmacksurteile von der habituell verkörperten Sozialisation durch Herkunft und Umwelt bestimmt sind. Radikal ist das insofern, als dass Bourdieu den Einfluss sozialer Relationalität bis in körperlich-individuelle Wahrnehmung hinein beobachtet. Man kann alltagskulturelle Praktiken über diese Relationalität erklären; individuelle Unterschiede im praktischen und explizit auch körperlich-materiellen Handeln ergeben sich dann aus dem Zusammenspiel verschiedener habitueller Prägungen. Allerdings besteht wie bei jeder theoretisierenden Abstraktionsleistung die Gefahr, diese Radikalität zulasten ethnografischer Sensibilität durchzusetzen. Die entsprechende Kritik an einer dogmatischen Verwendung des Habitus-Begriffs findet sich bei Michel de Certeau (s. 1984, 59). De Certeau schlägt vor, die strukturierende Theoriebildung nicht so weit fortzutreiben, dass empirische Unberechenbarkeiten ausgeblendet werden, sondern den kreativ-taktischen, stets situativen Umgang Einzelner mit bestehenden habituellen Strukturen zu fokussieren. Er weist darauf hin, dass in der analytischen Verarbeitung empirischer Beobachtungen stets sichtbar bleiben sollte, dass die beobachteten Handlungen und Individuen von der Analyse aus forschender Perspektive autonom waren, sind und bleiben.
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Die Orientierung an der empirischen, immer auch Widersprüche enthaltenden ethnografischen Beobachtung findet bei de Certeau ihren Ausdruck im Alltagsbegriff.9 Im direkten Anschluss an Goffman und den Pragmatismus (s. de Certeau 1984, XVf.) kritisiert er deterministische Analysen von Konsumkultur, in denen handelnden Individuen keine kreativen Freiheiten eingeräumt werden.10 Anstelle einer einseitigen Fokussierung auf die Macht von Produktionsverhältnissen schlägt de Certeau vor, das ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, was er als »sekundäre Produktion« bezeichnet: The presence and circulation of a representation (taught by preachers, educators, and popularizers as the key to socioeconomic advancement) tells us nothing about what it is for its users. We must first analyze its manipulation by users who are not its makers. Only then can we gauge the difference or similarity between the production of the image and the secondary production hidden in the process of its utilization. (ebd., XIII) Mit dem Hinweis darauf, dass (ebenso wie sprachliche Kompetenz und performatives Sprechen nicht gleichzusetzen sind) ›offizielle‹ Repräsentationen sich von ihren Nutzungsvarianten unterscheiden können, werden Praktiken und Repräsentationen hier von de Certeau in ein spezifisches Verhältnis gesetzt. Dies spezifiziert den Themenzuschnitt dieser Studie weiter: Ich fokussiere mich auf alltägliche Nutzungspraktiken, also auf sekundäre Produktion im esskulturellen Bereich. Wollte man diesen Fokus in die alte sozialtheoretische Dichotomie von Handlung und Struktur einordnen, wäre die Nähe zum mikrosoziologischen, interpretativen Ansatz der Handlungstheorien größer. Das bedeutet aber nicht, dass diskursive Strukturen, Zeichensysteme, Symbole, Deutungen und Repräsentationen nicht weiter von Interesse sind. Simmel weist neben der praktischen Regelmäßigkeit des Essens auf seine ästhetische Stilisierung hin, Bourdieu auf den Habitus und Goffman auf Normensysteme – all diese Aspekte sollen aus der Analyse alltäglicher Praktiken nicht ausgeschlossen werden. Mit dem pragmatistischen Grundver-
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Dieses Bekenntnis einer Zuwendung zum (oft auch als anti-elitär romantisierten) ›Normalen‹ formuliert wohl nicht nur de Certeau in der Widmung seines Buches »To the ordinary man«, sondern im Grunde jede Abgrenzung von funktionalistischen Sozialtheorien und die damit einhergehende Fokussierung auf die Schütz’sche Lebenswelt (s. Schütz und Luckmann 2003 [1975]). De Certeau räume ich hier deshalb so viel Platz ein, weil er die programmatische Betonung des Alltags vor allem im zweiten Band zu »The Practice of Everyday Life« gemeinsam mit Luce Giard und Pierre Mayol (de Certeau, Giard, und Mayol 1998) konsequent umsetzt, und dabei Themen in den Fokus stellt, die auch für diese Studie zentral sind: Konsum, Essen, und das Leben (und Gehen) in der Stadt. De Certeaus Interesse liegt dabei nahe am Appadurai’schen Kulturbegriff (s. FN 3 in diesem Kapitel): Auch er spricht davon, verortbare Differenzen im Handeln unterschiedlicher Personen ausfindig machen zu wollen (s. de Certeau 1984, XIII).
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ständnis im Hinterkopf wird klar, dass sich handelnde Individuen in Interaktionen auf bestehende Symbole beziehen, deren Bedeutung sie in ihrer Praxis kommentieren, bestätigen oder verändern können (vgl. Schützeichel 2015, 54ff.). Wenn beispielsweise auf dem gedeckten Tisch des Nachbarinnen-Essens eine Vase steht, ist für mich als Ethnografin zunächst nicht eindeutig zu erkennen, worum es sich dabei handelt. Steht die Vase immer dort, sodass sie den Nachbarinnen kaum auffällt? Ist sie bewusst gestaltete Dekoration und wurde von der Interviewten mitgebracht? Oder ist sie gar ironische Gestaltung, um den Geschmack neuer Gäste zu testen? Interessierte man sich für die Vase an sich, ließe sie sich kulturhistorisch untersuchen. Entstammt sie einem bestimmten Set von Porzellan, können Überlegungen dazu angestellt werden, welche allgemeinen Stilvorstellungen sie unabhängig von ihrem situativen Einsatz repräsentiert. Ich fokussiere mich, wenn ich von Repräsentationen spreche, aber auf eine stärker subjektfokussierte Ebene. Mich interessiert im Fall der Vase, welche Verweise die am Nachbarinnen-Essen beteiligten Personen darin erkennen und wie diese Verweise in Beziehung stehen: Wird sie in Beziehung zur kirchlichen Gemeinde gesetzt? Oder sind sich alle einig, dass damit die Schichtzugehörigkeit der Interviewten angezeigt wird? Wenn ja, welche Vorstellungen von Schichtung herrschen in der Tischgemeinschaft vor? Deuten manche Gäste die Vase als Teil einer gemütlichen Einrichtung, während sie anderen den Unterschied zum eigenen Zuhause in Erinnerung ruft? Und wird dies als willkommene Abwechslung oder als Zeichen der Nicht-Zugehörigkeit zu einer vermuteten Gruppe (der übrigen Gäste) bewertet? Ich interessiere mich neben der Beobachtung alltagskultureller Praktiken insbesondere für Repräsentationen von Zugehörigkeit, die in esskulturellen Situationen entstehen. Entsprechend der ›Warnung‹ de Certeau’s lässt sich davon ausgehen, dass diese Repräsentationen nicht von allen Beteiligten gleich gemeint sind und verstanden werden. Gerade dieser Vielschichtigkeit inklusive der Überschneidung zu kollektiver Symbolik und konflikthafter Differenz im Verständnis von Repräsentationen wende ich mich zu. Thema der Studie sind alltagskulturelle Esspraktiken inklusive repräsentativer Aspekte der Zugehörigkeit sowie ihr Verhältnis zur Handhabung mal näherer, mal distanzierterer sozialer Beziehungen außerhalb des privaten Raumes. Bisher habe ich versucht, die theoretischen Hintergrundannahmen dieser Themensetzung deutlich zu machen. Im folgenden Teilkapitel verorte ich das Thema der Studie in Bezug auf bestehende empirische Forschung und entwickele daran anschließend drei zentrale Forschungsfragen.
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1.2 Zum Forschungsstand: Essen mit Unbekannten Aus dem Interesse am Zusammenspiel praktischer und repräsentativer Aspekte esskultureller Situationen außerhalb des privaten Raums ergeben sich verschiedene Forschungsbereiche, die das Thema dieser Studie konkretisieren und verorten helfen. Dazu zählen Studien zu Esspraktiken im Allgemeinen, die sich einer möglichst großen Bandbreite an Unterthemen und Fokussierungen widmen (vgl. Albala 2013), aber insbesondere solche, die explizit eine praxistheoretische Perspektive einnehmen (vgl. Warde 2016; 2014). Ich schließe innerhalb dieses Rahmens an die Beschäftigung mit Konsumpraktiken und Zugehörigkeit (vgl. Hage 1997; May 1996) sowie mit Materialität und Räumlichkeit an (vgl. Borgerson 2009; Miller 2005; Mintz und Du Bois 2002; Mintz 1996; Appadurai 1996; 1986). Spezifischer auf räumlich-materielle Gegebenheiten zugeschnitten, lassen sich die Forschungsstränge zum privaten Raum11 vom Essen außerhalb des Privaten unterscheiden12 . Diese Studie lässt sich letzterem Bereich zuordnen. Außerhalb des privaten Raumes sind weitere thematische Konkretisierungen in der empirischen Forschung zu beobachten. Im Fokus stehen hier solche, die sich mit städtischem Zusammenleben beschäftigen (zum generellen Zugang vgl. Edwards, Gerritsen, und Wesser 2021; Low und Ho 2018; Bell und Valentine 1997).
Essen aus praxistheoretischer Perspektive In der Soziologie wurde das Essen in den 1960er Jahren als Bestandteil der Wirtschaft und in den 1970er Jahren als Teilbereich von Konsumkultur untersucht. Durch den konsequent praxistheoretischen Blick Alan Wardes ergab sich schließlich eine Rejustierung der zunächst übermäßig ökonomistischen und dann kulturalistischen Beschäftigung mit Konsum (s. Neuman 2019, 79ff.). Warde tritt im Einklang mit de Certeau dafür ein, Konsum weder als reinen Ausdruck wirtschaftlicher Beziehungen noch ausschließlich als Aspekt von Identitätsrepräsentationen zu betrachten, sondern sowohl Bedeutungen als auch Materielles und damit praktische Kompetenzen anzuerkennen: The study of eating necessarily addresses both physiological and aesthetic aspects of taste. It also points up some important differences between cultural analysis
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Vgl. beispielsweise mit dem Fokus auf Erziehung Cavelti und Schmid 2020, auf Gender-Beziehungen Szabo 2017; Counihan 1999, oder mit dem Fokus auf Migration Flack 2020; Marte 2007; Kershen 2002; Law 2001. Zum Verhältnis von (nationaler) Mehrheit und Minderheiten vgl. Möhring 2014; 2012; 2007, in der Kombination mit Klassenverhältnissen Parzer und Astleithner 2018; Parzer, Astleithner, und Rieder 2016; Cappellini, Parsons, und Harmann 2015, sowie zur Repräsentation von Nationalität Barras und Guillaume 2013; Karaosmanoglu 2013; Lu und Fine 1995.
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and practice theory, especially in relation to preferences conceived as articulated liking for particular items. It is hard to say that one likes a food that one has not eaten; the practical experience (participating in an eating event) of its consumption is a precondition for passing judgement, and new foods usually provoke discussion. (Warde 2014, 287f.) Warde zeigt über die sowohl physiologische als auch ästhetische Beschreibung und Klassifizierung zahlreicher esskultureller Aspekte auf, dass Situationen des Essens auf praktischer Ebene einerseits hoch komplex, andererseits relativ schwach reguliert sind (s. Warde 2016, 7). Sie sind ein Beispiel dafür, wie alltägliche Routinen weniger durch strenge Vorgaben von außen als durch das Zusammenspiel individueller Wiederholung und situativer Anpassung stabilisiert werden (s. ebd., 99). Diese Vielschichtigkeit in der praxistheoretischen Beschreibung von Essen wirft die Frage auf, wie Beteiligte und Beobachter:innen entscheiden, was ›Essen‹ bedeutet und was nicht; wie sie erkennen, was als nächstes zu tun ist; wie sie bewerten, was sie selbst und andere tun oder unterlassen. Diese Fragen nach Erkennbarkeit und Zielgerichtetheit routinierten Handelns greife ich in der empirischen Analyse (insb. In Kap. 3) wieder auf. Warde selbst findet eine Antwort durch das Konzept der »compound practice« (ebd., 49ff.). Er schreibt, der Überlappung verschiedener praktischer Bereiche sowie deren poröser Grenzen könne man im Fall von Esspraktiken nicht damit gerecht werden, sie als Praxisform trennscharf von anderen abzugrenzen, wie es im Fall »integrativer Praktiken« (Schatzki 1996) auf einer Ebene darunter – zum Beispiel für den Vorgang ›Kochen‹ – durchaus möglich sei. Stattdessen seien sowohl die materiellen Zusammenstellungen als auch die performative Ausübung von Praktiken des Essens als Überschneidungspunkte verschiedener, autonomer integrativer Praktiken (wie beispielsweise Ernten, Einkaufen, Verkaufen, Kochen, Dekorieren oder Speisen) zu verstehen. Betrachtet man Essen als compound practice, wird klar, dass es nicht ausreicht, lediglich den Moment des Verspeisens einer Mahlzeit in den Blick zu nehmen, sondern unterschiedliche, damit verbundene Aspekte untersucht werden müssen. Dazu zählen zum Beispiel das Präsentieren von Gerichten, Tischgespräche, die Gestaltung und Wahrnehmung der Inneneinrichtung von Restaurants etc. Wenn ich mich selbst oder auch Gesprächspartner:innen im Feld frage, wann ›Essen‹ beginnt und wann es endet, oder welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ich von ›Essen‹ sprechen kann, ist es schwer und darüber hinaus wenig erkenntnisbringend, klare Grenzen zu definieren. In der empirischen Analyse beschäftige ich mich deshalb mit esskulturellen Situationen im weiteren Sinne und beziehe (insb. In Kap. 4) die soziale und räumliche Umgebung einzelner alltagspraktischer Interaktionen mit ein.
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Esskultur und Zugehörigkeit In Bezug auf die Forschung zu esskultureller Materialität und der damit verbundenen Repräsentation von Zugehörigkeit lässt sich wie bereits erwähnt zwischen Studien zum privaten Raum und solchen, die darüber hinausgehen, unterscheiden. Natürlich können Zuschreibungen, Praktiken und Rollenerwartungen, die im privaten Raum eine Rolle spielen, auch auf Interaktionen außerhalb des eigenen Zuhauses Einfluss nehmen und umgekehrt. Ein Beispiel ist die Analyse von GenderBeziehungen im Kontext von Esspraktiken, die sich weder auf den privaten noch den nicht-privaten Raum beschränken lässt. Ich betrachte private und nicht-private Formen von esskulturellen Praktiken also als miteinander verbunden. Das spezifische Interesse an esskulturellen Situationen außerhalb des eigenen Zuhauses definiere ich hier wie bereits angedeutet deshalb über die räumliche Abgrenzung zum Wohnraum (nicht über eine Gegenüberstellung von rein privaten und vollständig öffentlichen Bereichen des Lebens). Außerhalb des privaten Wohnraums lassen sich Situationen, die zur Handhabung und Repräsentation, und damit zur Festigung oder zum Wandel von Gruppenbeziehungen beitragen, schlicht besser beobachten. Dies zeigen Studien wie die Michael Parzers, der sich mit ethnisierten Konsumpraktiken in Wien beschäftigt. Parzer und andere (Parzer und Astleithner 2018; Parzer, Astleithner, und Rieder 2016) machen deutlich, dass Lebensmittelgeschäfte häufig nationale oder ethnische Marker verwenden, die neben anderen Gruppen von Konsument:innen auch solche anziehen, die ihre Einkaufspraktiken entlang kosmopolitischer Distinktionsmerkmale ausrichten. Diese »consumption of alterity« (Parzer, Astleithner, und Rieder 2016, 32) diene den Kund:innen nicht nur als Merkmal, um ›Mehrheit‹ und ›Minderheit‹ oder ›ethnische Zugehörigkeit‹ zu unterscheiden, sondern vor allem zur Abgrenzung gegenüber nicht kosmopolitisch orientierten Gruppen und damit zur Sicherung der eigenen sozialen Position innerhalb der urbanen, oberen Mittelschicht (vgl. auch Emmison 2003). Es lässt sich beobachten, dass anhand esskultureller Konsumpraktiken ganz unterschiedliche Kategorisierungen und Zuschreibungen feststellbar sind – wie ›ethnische‹, nationale, aber auch auf Alter oder Gender bezogene –, deren Einbindung und Verflechtung mit ökonomischen Beziehungen nicht aus dem Blick geraten sollte. Ich betrachte sowohl ökonomische Beziehungen als auch ethnische Zuschreibungen als relevant für mein Forschungsinteresse. Dennoch ist mein Untersuchungsfeld nicht dadurch definiert, die spezifische Ebene wirtschaftlicher Netzwerke in ihrer Wirkung auf ethnisch definierte Praktiken außerhalb des eigenen Zuhauses hervorzuheben. Ein breiter, ausdifferenzierter Forschungsstrang, der sich dieser Ebene widmet, lässt sich unter dem Stichwort der Untersuchung von
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›ethnic business‹13 zusammenfassen. Zwei grundsätzliche Differenzen unterscheiden diesen Bereich von dem hier verfolgten Interesse. Erstens liegt der Fokus bei der Erforschung von ethnic business aufseiten der Produzent:innen. Mir geht es hingegen wie in Teilkapitel 1.1 erläutert um esskulturellen Konsum, spezifischer um die alltagspraktischen Formen sekundärer Produktion im Sinne de Certeaus. Zweitens will ich ethnische Zuschreibungen, sofern sie dafür relevant werden, zwar beobachten und analysieren, nicht aber im Vorhinein selbst vornehmen. Ich halte mich dabei an die Kritik am methodischen Nationalismus (s. Wimmer und Glick Schiller 2002), der bestimmte Forschungsergebnisse durch die zuvor festgelegten Vergleichsparameter entlang nationaler Grenzen unmöglich macht. Diese Kritik lässt sich auf die Erforschung von ›Migrant:innen‹ ebenso übertragen wie auf ethnische Zuschreibungen zu Personengruppen oder wirtschaftlichen Bereichen (vgl. Çağlar und Glick Schiller 2018; Amelina 2017). Das Konzept des ethnic business eignet sich insofern nur schlecht für die Analyse esskultureller Nutzung von Gastronomie, als dass Zugehörigkeiten ausschließlich auf ein Merkmal – das der ›Ethnie‹ – reduziert beobachtet werden können. Die Erforschung von Kleinstunternehmer:innen als Angehörige einer ethnisch definierten »Nischenökonomie« (vgl. u.A. Yavuzcan 2002) schließt an die Vorstellung einer »ethnischen Stratifikation« (Shibutani und Kwan 1965, 23f.) der Wirtschaft an. Sie fokussiert Prozesse der Homogenisierung in als stabil und klar umrissen gedachten »ethnischen Gruppen« (für eine Kritik an diesem statischen Verständnis vgl. Barth 1998 [1969]). Ich konzentriere mich hingegen mehr auf Differenzierungsprozesse auf mikrosoziologischer Ebene. Ich betrachte alltagskulturelle Unterschiede zwischen Individuen weder als Hindernisse auf dem Weg zu einer funktionalen, vollständig integrierten Einheitsgesellschaft (die als angestrebtes Ideal in vielen Studien zu ethnic business angelegt ist), noch als Möglichkeit zur ökonomischen Selbstversorgung von exkludierten Gruppen (wie es im Konzept der ›ethnischen Enklaven‹ mitschwingt). Alltagspraktiken lassen sich nur schwerlich ausschließlich anhand der Grenzen ethnischer Zuschreibungen ordnen. Außerdem besteht selbst dort, wo solche ethnisch definierten Kategorien eingesetzt werden, ein stetiger Wandel und Austausch (vgl. Hirschauer und Boll 2017, 10f.). Diesen Austausch, gemeint als eine Art Tauschwirtschaft der Zugehörigkeiten, bezeichnet Michel de Certeau (1986) in einem ganz 13
Alternativ im deutschsprachigen Raum auch ›ethnische Ökonomien‹, ›ethnische Enklaven‹ etc. (vgl. Aigner 2012; Ceylan 2006; Haberfellner 2000). Ethnische Zuschreibungen betreffen bei Weitem nicht nur migrierte Personen(gruppen), dennoch wird häufig auch synonym von »migrantischen Ökonomien« gesprochen (Everts 2008). An dieser teils synonymen Verwendung zeigt sich die Vagheit der Begrifflichkeiten – ich kann schließlich durchaus eine ethnische Zugehörigkeit beanspruchen oder einer ethnischen Zuschreibung ausgesetzt sein, ohne direkte oder indirekte Migrationserfahrungen zu haben (vgl. Yildiz 2013, 95ff.). Meines Erachtens eignen sich ›ethnische‹ oder ›migrantische‹ Zuordnungen deshalb als im Vorfeld gesetzte Variablen der Unterscheidung von Personen und deren Praktiken nur schlecht.
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anderen, eher differenzierungstheoretischen Sinn als »économies ethniques«14 . Das Konzept liegt begrifflich nah an den oben genannten Studien. De Certeaus Verwendung erlaubt es jedoch, die Nutzung ethnischer Markierung in alltäglichen Konsumpraktiken weder auszublenden noch der empirischen Analyse vorschnell deterministische Vorstellungen von homogenen Eigenschaften ›ethnischer Gruppen‹ voranzustellen. Die Naturalisierung ethnischer Markierungen durch die Forschung wird damit vermieden. Rogers Brubaker (2007) beschreibt einen solchen, reflektierten Umgang mit der Spannung zwischen praktisch beobachteter »Alltagsethnizität« (ebd., 10) und akademischem »Commonsense-Gruppismus« (ebd., 16ff.): »Kategorien der ethnopolitischen Praxis« sollten nicht unhinterfragt als »Kategorien der gesellschaftlichen Analyse« verwendet, und stattdessen klar zwischen situativ beobachteten »Gruppen« und analytischen »Kategorien« unterschieden werden (ebd., 20ff.). Daran halte ich mich in meiner Analyse.
Urbane Esspraktiken Studien, die sich mit dem Thema ethnic business beschäftigen, stecken ihr Untersuchungsfeld über das zentrale Merkmal der Ethnie ab. Sie definieren also die Gruppe der Forschungsteilnehmer:innen über eine ethnische Kategorisierung. Ich beschäftige mich nun weder mit einer bestimmten ›ethnischen Gruppe‹ (übrigens ebenso wenig mit religiösen oder nationalen Gruppen15 ) noch mit Einzelpersonen. Stattdessen ist mein Untersuchungsbereich durch die Bezirksgrenzen Bad Godesbergs bestimmt: Ich analysiere lokale Nutzungspraktiken und damit verbundene Deutungen von Anwohner:innen des Bezirks. Die Kategorie, die die Gruppierung meiner Forschungsteilnehmer:innen definiert, ist eine räumlich-administrative. Anwohner:innen eines begrenzten geografischen Gebiets können ganz unterschiedlich handeln, denken und wahrnehmen. Mögliche Zugehörigkeitsmerkma14
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In seinem essayistisch gehaltenen Artikel von 1986 tritt de Certeau dafür ein, in der soziologischen Analyse eine historische Perspektive und deren Schwerpunkt auf Klassenbeziehungen mit einer ethnologischen Perspektive und deren Fokussierung symbolisch-kultureller Genealogien zu vereinen. Um weder Alltagskultur noch wirtschaftliche Beziehungen auszublenden, spricht er in Bezug auf den notwendigen Lernprozess im Umgang mit Differenzen und Diversität von »ethnischen Ökonomien«. Derartige Kategorien unterscheiden sich darin, wie die jeweiligen Zugehörigkeitskriterien organisiert sind (s. Hirschauer und Boll 2017, 8). Ähnlich wie ethnische verweisen jedoch auch religiöse oder nationalstaatliche Zuschreibungen auf räumlich definierte Herkunftsvermutungen, was in der Vorstellung von esskultureller ›Authentizität‹ eine große Rolle spielt. Ich komme später darauf zurück, hier sei nur schon einmal darauf verwiesen, dass sich mein grundsätzlich praxistheoretischer Blick auch in diesem Bereich insofern äußert, als dass ich Religion oder Nationalstaatlichkeit nur dort in die Analyse aufnehme, wo sie von situativer, alltagspraktischer Relevanz ist (zu Religion vgl. McGuire 2008; zu Nationalstaatlichkeit vgl. Kaschuba 2001).
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le stehen gleichwertig nebeneinander, statt dass das Nebeneinander verschiedener Nutzungsarten des Stadtbezirks auf einen kausalen Effekt abhängig von einem einzigen Merkmal (der ›Ethnie‹, der Religion, der Staatsbürgerschaft, …) begrenzt erscheint. Ich betrachte die Personen, mit denen ich Gespräche geführt und Beobachtungen gemacht habe, nicht zuerst als Teilnehmer:innen an der Wirtschaft oder an ethnisierten Ausschnitten davon, aber auch nicht als Teile einer religiösen Gemeinschaft, einer über das Alter definierten Kohorte etc., sondern als sehr unterschiedliche, aber nah beieinander wohnende Teilnehmer:innen am lokalen Zusammenleben in einem Stadtbezirk (mit durchlässigen ›Rändern‹). Die Aspekte, die für die Repräsentation von Zugehörigkeit aufgerufen werden, sind empirisch zu beobachten (statt konzeptuell festzulegen). Solche Verweise thematisiere ich eingehender in der Analyse (insb. In Kap. 5). Ich wende mich den Anwohner:innen eines Stadtbezirkes zu, da über die Aufmerksamkeit für den städtischen Raum die Sensibilität für das Nebeneinander verschiedener Praktiken und Deutungen immer schon enthalten ist. Das Paradebeispiel für einen solchen Ansatz findet sich in der Untersuchung des (maskierten) britischen Ortes Winston Parva. Norbert Elias und John L. Scotson (2002 [1965]) entwickeln anhand dieser Fallstudie ein »empirisches Paradigma« (ebd., 10) von sozialräumlichen Nachbarschaftsbeziehungen. Sie beobachten klar trennbare Zonen, nach denen sich die lokal Etablierten von den hinzugekommenen Außenseiter:innen unterscheiden lassen. Im Bezirk Bad Godesberg sind keine derart klar getrennten Bereiche aufzufinden. Die pars pro toto-Dynamik, nach der den Etablierten die Eigenschaften der »Minorität der Besten« und umgekehrt den Außenseiter:innen diejenigen der »Minorität der Schlechtesten« zugeschrieben wird (ebd., 250), wird sich dennoch als relevant erweisen (s. dazu genauer Teilkap. 2.1, insb. FN 2). Um in Bad Godesberg nicht nur zwischen Etablierten und Außenseiter:innen, sondern zwischen mehr als zwei Perspektiven auf das städtische Zusammenleben unterscheiden zu können, konzentriere ich mich auf mikrosoziologischer Ebene auf die Diversität esskultureller Praktiken und Situationen im Bezirk. Studien an der Schnittstelle von Stadtforschung und Forschung zu esskulturellen Praktiken, an die sich dafür anknüpfen lässt, gibt es einige. In der englischsprachigen Literatur sind das zum Beispiel die Analyse der räumlichen Repräsentation historischer Prozesse in Cafés in Beirut (s. Nassif 2019), der nachbarschaftlichen Entwicklung von lokalen »food cultures« in Toronto (Johnston, Rodney, und Szabo 2012, 1092ff.), des kulinarischen »home buildings« in Sydney (Hage 1997, 4) oder der Imagination von geografischen Bezügen im alltäglichen, gastronomischen Konsum in London (s. May 1996). Im deutschsprachigen Raum finden sich neben den bereits erwähnten Arbeiten Michael Parzers Studien zur Rolle gastronomischer Kleinstunternehmer:innen für die Stadtentwicklung in Halle (s. Çağlar und Glick Schiller 2018, Kap. 2), zum Zusammenhang von Gastronomie und Gentrifizierung in Berlin
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(s. Stock 2013) oder zu Raumkonflikten um als solche wahrgenommene ›ethnische‹ Enklaven in Mannheim (Baumgärtner 2009, Kap. 8). Listet man die hier genannten Städte auf – Beirut, Toronto, Sydney, London und auch Halle, Berlin oder Mannheim – fällt auf, dass Fragen nach der Rolle esskultureller Praktiken und Repräsentationen im urbanen Raum bisher vor allem in Bezug auf Hauptstädte, Wirtschaftszentren im Sinne von »global cities« (Sassen 2001) oder zumindest doch Großstädte untersucht wurden. Natürlich heißt das nicht, dass großstädtisches Leben überall gleich aussieht oder dass sich auch nur innerhalb einer einzelnen Großstadt von einer einheitlichen Alltagsgestaltung unabhängig vom jeweiligen Stadtteil ausgehen ließe. Allen genannten Studien ist jedoch gemeinsam, dass die lokalen Kontexte der Forschung in infrastrukturell gut angebundenen städtischen Zentren angesiedelt sind und oft sowohl von außen als auch von Anwohner:innen als »kosmopolitisch« (Parzer und Astleithner 2018, 1121), »multikulturell« (Baumgärtner 2009, 94) oder auch »kosmomultikulturell«16 (Hage 1997, 13ff.) beschrieben werden. Eine Leerstelle in der Forschung zeigt sich dort, wo es um Städte, Bezirke oder Stadtteile geht, die außerhalb großstädtischer Zentren liegen und in denen Kosmopolitismus zumindest nicht völlig unbestritten ein Synonym für städtisches Zusammenleben bedeutet. Dieser Lücke wende ich mich mit meiner Studie zu. Der Bezirk Bad Godesberg stellt ein kontrastives Untersuchungsfeld im Vergleich zu Beirut, London und gerade Berlin dar. Er liegt durch seine Position an der südlichen Grenze sowohl der Stadt Bonn als auch des Landes Nordrhein-Westfalen schon geografisch in einer doppelten Peripherie. Hinzu kommt der lokalhistorische Hintergrund des mehrschrittigen Statusverlustes: Als ursprünglich international beliebter Kurort wurde die ehemalige Stadt Bad Godesberg zunächst in die Hauptstadt Bonn eingemeindet und verlor anschließend durch den Hauptstadtumzug ihre repräsentativen Funktionen. Vor Ort ergaben sich Gruppengrenzen und Zugehörigkeitsmerkmale, die deutlich komplexer gestaltet sind, als ausschließlich auf Etablierte und Außenseiter:innen (s.o.) zu verweisen. Die aktuelle Situation des Bezirks und seiner Anwohner:innen sowie deren Hintergründe thematisiere ich genauer in Kapitel 2.
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Ghassan Hage (1997) verleiht mit diesem Begriff seiner Kritik am »multiculturalism without migrants« (ebd., 17) Ausdruck. Damit ist gemeint, dass kosmopolitische Praktiken vor allem im kulinarischen Bereich selten mit dem Austausch zwischen migrierten und nicht-migrierten Personen zu tun haben: »In the cosmo-multicultural version of things, if an area is more multicultural than another, this appears to have less to do with who inhabits it, who makes a home for themselves in it, and the degree of interaction between different cultural subjects within it, and more to do with what multicultural commodities are available on its markets and who has the capacity to appreciate them.« (ebd., 29)
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
Forschungsfragen Ich rekapituliere noch einmal: Thema der Studie sind alltagskulturelle Esspraktiken sowie ihre repräsentativen Aspekte, die daraufhin untersucht werden, welche Rolle sie für die Handhabung von sozialer und räumlicher Nähe und Distanz haben. Ich wende mich dabei dem Raum außerhalb des eigenen Zuhauses zu, spezifischer den räumlichen (und lokalhistorischen) Gegebenheiten eines Stadtbezirks außerhalb von großstädtischen Zentren. Aus der bestehenden Forschung zu esskulturellen Praktiken lässt sich schließen, dass erstens auch scheinbar routiniertes Alltagshandeln wie Essen komplex ist, aktiv erarbeitet werden muss und dabei Unsicherheiten und Konflikte auftreten können; dass zweitens esskulturelle Praktiken das Ein- und Ausüben von Repräsentationen der Zugehörigkeit in Bezug auf ganz verschiedene Merkmale erlauben (welche das sind ist empirisch zu klären); und dass drittens esskulturelle Praktiken im städtischen Raum in ihrer Unterschiedlichkeit und räumlichen Koexistenz ethnografisch beobachtbar sind, wobei periphere Stadtbezirke in der Forschung bisher kaum thematisiert werden. Den methodischen Implikationen ethnografischen Forschens in der Stadt sowie dem Zugriff darauf wende ich mich im nächsten Teilkapitel zu. Im Anschluss an den Forschungsstand lassen sich zunächst drei Leitfragen formulieren: 1. Unter welchen Umständen und auf welche Weise finden Begegnungen von individuellen esskulturellen Alltagspraktiken im Stadtbezirk statt? 2. Wie wird das geteilte gastronomische Alltagsleben des Stadtbezirks bezogen auf die Repräsentation von Zugehörigkeiten erfahren und gedeutet? 3. Wie wirken das praktische Zusammenleben und die Repräsentation esskultureller Zugehörigkeiten im Stadtbezirk aufeinander?
1.3 Zum Zugriff: Essen in der Stadt Die drei Leitfragen lassen sich durch ihren Fokus auf Praktiken am besten durch ein grundlegend ethnografisches Vorgehen operationalisieren. Zur Erhebung und Auswertung der empirischen Daten, die dieser Studie zugrunde liegen, habe ich methodologische und konzeptuelle Anregungen verschiedener Ausrichtungen genutzt, sodass die Analyse schon der Form nach keine ›klassische‹ Ethnografie ist. Sie gliedert sich vielmehr in themenbezogene Fallstudien. Dennoch sind meine Antworten in Bezug auf die Fragen nach Alltag, Zugehörigkeiten und städtischem Zusammenleben ethnografische Antworten. In diesem Teilkapitel mache ich deutlich, was das bedeutet – wie ich also mit den Lücken zwischen dem bereits eingeführten praxistheoretischen Verständnis von ›Essen‹, meiner Teilnahme an einer Situation wie dem Nachbarinnen-Essen (s. Teilkap. 1.1) und der Verschriftlichung der analyti-
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schen Verarbeitung umgegangen bin. Bei körperlichen Vorgängen fällt die Distanz der Erfahrung im Feld zur schriftlichen Verarbeitung besonders ins Auge: Die ethnografische Beobachtung tritt beispielsweise bei einem Mittagessen zwangsläufig hinter die situative Teilnahme zurück. Schriftliche Notizen müssen im Nachhinein angefertigt werden. Anne Honer (2011) spricht deshalb von »beobachtender Teilnahme« (ebd., 60ff.) statt von ›teilnehmender Beobachtung‹ (wie in der Ethnografie üblich). Ich gehe im Gegensatz zu dem von ihr begründeten Ansatz »lebensweltlicher Ethnografie« (Honer 1993) zwar nicht davon aus, dass ich mit dieser Art der beobachtenden Teilnahme eine »existenzielle« Innensicht (Hitzler und Eisewicht 2016, 40ff.) aus der Perspektive der übrigen Feldteilnehmer:innen erwerbe, denn dafür sind ihre Körper, ihre Praktiken und ihre Sinndeutungen zu weit entfernt von meiner eigenen Person. Der Begriff der beobachtenden Teilnahme betont dennoch treffend, dass meine auch körperliche Involviertheit in der ethnografischen Teilnahme einen Einfluss auf ihre analytische Verarbeitung hat. Grundsätzlich orientiere ich mich bei der Beschreibung der Arbeitsschritte, mit denen die Lücken zwischen Teilnahme, Verschriftlichung und Analyse überwunden werden können, an einer Analogie Daniel Millers. Als ethnografischer Erforscher materieller Kultur muss er einerseits mit dem hegelianischen Materialitätsverständnis (s. Miller 2005, 8ff.), andererseits mit der liebevollen Weihnachtsdekoration eines älteren britischen Ehepaars (s. ebd., 32ff.) umgehen können, und vor allem mit der Distanz zwischen beidem. Er beschreibt seine Strategie in der Präsentation seiner Ergebnisse als transparentes Auf- und Abwandern zwischen den verschiedenen Ebenen eines Tals (mit einer durchaus kritischen Note denjenigen gegenüber, die die dünne Luft auf der Bergspitze für die reinste halten). Das Wandern zwischen Abstraktionsebenen dient dazu, Analyseergebnisse theoretisch rückzubinden, ohne die empirische Bodenhaftung zu verlieren. Durch das Beschreiben des »Pfades«, der dabei beschritten wird, wird die Argumentation zum transparenten Angebot, das von verschiedenen Positionen aus diskutiert werden kann (ebd., 10). Diese Art des ethnografischen (Be)Schreibens hat den Vorteil, dass es auch für ein Publikum interessant ist und bleibt, das der theoretischen Argumentation nicht folgen will, da es im Optimalfall durch seine empirische Dichte eine Reinterpretation aus anderer Perspektive ermöglicht (vgl. Graeber 2009, VIIf.). Ich versuche, dies dadurch zu erleichtern, dass ich neben Beschreibungen meiner forschenden Perspektive im Fließtext auch Direktzitate aus Feldprotokollen17 , Interviews sowie anderen Materialien aus dem Feld nutze.
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Diese Protokolle sind nicht nur von mir selbst verfasst worden. Louisa Rosenkranz, Patrick Binding, Khaled Ali und Baydaa Layla haben als Hilfskräfte des Projektkontextes (s. Teilkap. 1.4) ebenfalls Beobachtungen durchgeführt, die ich mit dem Ziel der »integrity of information« und damit zwangsläufig in meine Perspektive ›übersetzt‹ (Star und Griesemer 1989, 397f.) in die Analyse einbezogen habe.
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
Ethnografie zwischen Soziologie und Ethnologie Der Fokus auf unterschiedliche Perspektiven zählt zu den frühen Ausgangspunkten der Ethnografie. Die Transparenz in Bezug auf die eigene Forschungspraxis ist hingegen eine eher jüngere Entwicklung. Sowohl in der Ethnologie als auch in der entstehenden Soziologie bestimmen zum Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftspolitische Umstände die ethnografische Forschung: Die Frage nach kulturellen Differenzen in der Ethnologie wird vor allem unter spätkolonialen Bedingungen angewandt, um Unterschiede ›fremder‹ zur jeweiligen ›eigenen Kultur‹ der Ethnolog:innen herauszufinden und damit koloniale Herrschaftsansprüche wissenschaftlich wahlweise zu legitimieren oder kritisch zu kommentieren. In der soziologischen Anwendung ethnografischer Forschung auf den städtischen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht es weniger um den kolonial geprägten ›Kulturvergleich‹ und stattdessen stärker um migrationsbedingte Unterschiede innerhalb eines geografisch umrissenen Gebiets. Doch auch hier herrschen Vorstellungen einer (evolutionären) Ordnung vor, mit weiter und weniger weit ›fortgeschrittenen‹ städtischen Zonen (vgl. Burgess 1967, 55f.). Während Ernest Burgess die ursprünglich sozialarbeiterischen, anwendungsorientierten Kartierungsmethoden des settlement movement (s. Residents of Hull-House 1895) rund um dessen Vertreterin Jane Addams zu zunehmend quantifizierten Sozialraumanalysen weiterentwickelt (vgl. Hennig 2012, 112ff.), erarbeiten andere Autor:innen im Umfeld Robert Parks das ethnografische Erforschen der eigenen städtischen Umgebung als eine Art Gegenbewegung zur bisher stark christlich geprägten, melioristischen Soziologie. Statt sich mit den drei großen C’s, »Charity, Crime, Correction« (Lindner 2007, 240) zu beschäftigen, entwickelt diese Schule der ethnografischen Stadtsoziologie ein »romantisches Interesse am wirklichen Leben« als »Reaktionsbildung auf den aufgeklärten Neo-Puritanismus, dessen akademischer Repräsentant die evangelikale Soziologie« ist (ebd., 242). Die Ethnografie sowohl in den Kolonialgebieten als auch in der städtischen Umgebung wird zum Gegenpol christlicher, missionarischer Arbeit. Trotz dieses spezifischen zeithistorischen Kontextes ist die Ethnografie der Chicago School um Ernest Burgess und Robert Park durch ihre Fokussierung auf alltägliche, städtische Räume ein wichtiger Orientierungspunkt für diese Arbeit. Die empirischen Studien innerhalb des sozialökologischen Rahmens, den Park und Burgess gemeinsam für die Chicagoer Stadtforschung entwickeln (s. Park, Burgess, und McKenzie 1967), unterscheiden sich methodisch kaum von ethnologischen Arbeiten. Park vermittelt seinen Student:innen ähnliche Forschungspraktiken, wie sie in der Ethnologie üblich werden. Zentral ist dabei die teilnehmende Beobachtung, in den Worten Parks beschrieben als »getting your hands dirty in real research« (zit.n. Bulmer 1984, 97). Etwa zeitgleich ergeben sich in den 1920er Jahren in der britischen Ethnologie (vgl. Evans-Pritchard 1937; Malinowski 1922; Rivers Rivers 1906) sowie in
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der US-amerikanischen Soziologie (vgl. Cressey 1932; Anderson 1923; Flynt 1907) ähnliche Wendungen. Beide Disziplinen entwickeln ihre Methodologie in den kommenden Jahrzehnten weiter. In beiden Disziplinen erhält die Reflexion der Positionalität der Forschung besondere Aufmerksamkeit. Die veränderte geopolitische Lage und der wachsende Einfluss postkolonialer Stimmen befeuerte dies. Spätestens seit dem Erfolg der Reflexivität in Lévi-Strauss’ »Traurigen Tropen« (1978 [1955]) und der Auseinandersetzung mit den Tagebüchern Malinowskis (1967) ist es in der Ethnologie Sitte, nicht nur die eigene Position im Feld, sondern auch die zum Feld offenzulegen und für die Leser:innen transparent zu machen (vgl. u.A. Mintz 1985, 23ff.). Durch die Krise der Repräsentation (s. Marcus und Fischer 1986, 7ff.) und die daran anschließenden Debatten (vgl. u.A. Clifford und Marcus 1986) wird das dichte Beschreiben (s. Geertz 1973) als besondere Stärke der Ethnografie hervorgehoben.
Ethnografie vs. Stadtplanung In der Ethnologie schließen methodische Innovationen an gesellschaftspolitische Veränderungen und Debatten an. Parallel dazu wendet man sich auch in bestimmten Bereichen der Soziologie vom Ideal der urbanen Optimierung ab, hin zu der Zielvorstellung einer stärker deskriptiven Interpretation. Die ethnografische Stadtforschung positioniert sich wie auch schon in ihrer Anlage in der frühen Chicago School18 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer durchaus konstruktiven Konfliktstellung gegen die stärker quantitativ forschende Stadtplanung. Ein sprechendes Beispiel zu den Konfliktlinien in dieser Zeit19 bildet die Konfrontation von Jane Jacobs (1961) als Ethnografin des alltäglichen New Yorker »sidewalk lifes« (ebd., 59) und Aktivistin gegen geplante Flächensanierungen mit dem Stadtplaner Robert Moses und seinem Ziel der autogerechten Stadt. Das sozialökologische Verständnis20 der frühen Chicago School liegt sowohl Moses’ als auch Jacobs’ Haltung zugrun18
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Schon Park wendet sich u.A. in seinem einflussreichen City-Aufsatz (1967) gegen Planungsaktivitäten, die seiner Einschätzung nach individuelle Einflüsse beispielsweise von Einzelhändler:innen unterschätzen. Die Professionalisierung der Planung bildet einen Gegenpol zu seiner eigenen Beschäftigung mit städtischem Raum (s. ebd., 5). Der Betonung von Standortfaktoren, die sich daraus ergibt, stimmt er zu, widerspricht aber der Zielvorstellung, daraus handlungsleitende Prognosen bilden zu können. Auch in der deutschsprachigen Stadtforschung verlaufen die Fronten ähnlich: Ihre als »kritisch« bezeichnete Ausrichtung will in Abgrenzung zur »Stadtplanungssoziologie« der 1960er Jahre »die nur allzu freiwillig akzeptierte In-Dienst-Nahme durch die planende Verwaltung« vermeiden (Häußermann und Siebel 1978, 486) und stellt soziale Ungleichheit in den Vordergrund der Analyse. Die Chicago School geht im Anschluss an Park (1967) von einer Ökologie des knappen Raumes aus, wobei die notwendige Kommunikation im Umgang mit dieser Konkurrenzsituation eine spezifische kulturelle Struktur schaffe. Park betrachtet die Deskription dieses sozialökologi-
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de. Danach sind zeit-räumliche Prozesse in der Stadt insofern spezifisch, als dass physische Infrastruktur, Gebäude und Freiflächen in einer stetigen wechselseitigen Anpassungsleistung an darin und dazwischen lebende Personen errichtet, erhalten oder verändert werden. Moses steht für eine Position, die daraus schließt, man müsse diesen Prozess möglichst gut planen und die Pläne möglichst gut umsetzen. Jacobs vertritt die Gegenposition, deren Einschätzung lautet, man müsse den Prozess lediglich beobachten, miterleben und dadurch verstehen. Städtische Ethnografie lässt sich als ein Interesse an dem Nebeneinander verschiedener Perspektiven in einem begrenzten geografischen Raum verstehen. Sie beschreibt eine alltagsnahe Innensicht und erlaubt damit Beobachtungen anderer Qualität als die Sicht von außen. Spezifisch an einer planenden Art der Beobachtung (wie durch Robert Moses) ist, dass ein Vergleich stattfinden muss, um die Stadt als Einheit zu definieren und beschreibbar zu machen. Beim Betrachten einer Einheit vermutet man innen Homogenität, in Abgrenzung nach außen. Einheiten kann man ganzheitlich bewerten, man kann sie mit sich selbst zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt vergleichen. Eine solche Art der Beobachtung findet gewissermaßen von einem erhöhten Aussichtspunkt statt, mit Blick auf andere Städte oder umliegende Gebiete. Dieser Beobachtungsmodus betrachtet die Stadt mit dem »tourist gaze« (Urry 2001) als Skyline, als Ganzes, durchaus mit ihren spezifischen Eigenschaften, aber in der Wirkung auf die Beobachter:innen doch als Gesamteindruck. Der ethnografischen Innensicht, wie ich sie anstrebe, geht es eher um die Stadt als Lebensraum. Dieser Raum mag eigene Logiken haben, die im Vergleich mit anderen Städten auffallen würden, doch ein solcher Vergleich steht im alltäglichen Leben im Hintergrund. Der Blick von innen (wie durch Jane Jacobs) erwartet Heterogenität und findet sie auch – Entscheidungen fallen hier nicht nur in Bezug auf Image, Planung und Ästhetik, sondern stärker bestimmt durch alltägliche Erlebnisse und Emotionen. Walter Benjamin (1991 [1926–1940]) nennt diesen Modus der Beobachtung den allegorischen Blick (s. ebd., 54): Der Flaneur21 will nicht primär ein Ziel erreichen, sondern schenkt dem Weg analogisierende Aufmerksamkeit. Alles steht für etwas: ein Park für eine Person, ein Geruch für ein Gerücht, ein Straßenzug für eine Sorge. Im Gegensatz zu den Souvenirs eines:r Tourist:in erhalten solche Eindrücke
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schen, »funktionale[n] Beziehungsgeflecht[s]« als Ziel der soziologischen Analyse (Lindner 2007, 78), und bezieht die materiell-räumliche Ebene deshalb gemeinsam mit Ernest Burgess methodisch aktiv mit ein. Grundannahme ist die »Entsprechung von Baulichkeit, Lebenswelt, Erscheinungsbild und Kultur« (Hennig 2012, 101). Es ist kein Zufall, dass das Thema des:r Fußgänger:in in der Stadt immer wieder auftaucht, wo es um eine ethnografische Innensicht geht. De Certeau (1984) spricht von »walking rhetorics« um deutlich zu machen, dass es neben dem städteplanerischen »concept of a city« eine weitere Ordnungsebene in der Stadt gibt. Als Beispiel für solche ortsbildenden Praktiken nennt er das Gehen. »They (Anm.: »spatial practices«) weave places together. […] They are not localized, it is rather they that spatialize.« (ebd., 97, s. auch Teilkap. 4.4)
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aber durch ihr Nebeneinander und teils auch durch ihre kontrastive Widersprüchlichkeit ihren besonderen Wert. Diese erlebte Innensicht erwartet (oder betont) also Diversität – in den Worten Jacobs: »Cities are, by definition, full of strangers« (1961, 30).
Essen in städtischer Gesellschaft Jacobs nimmt damit einen Aspekt auf, der schon Simmel beschäftigt. Hier zeigt sich die Kontinuität des Einflusses von Simmel in der US-amerikanischen Stadtsoziologie seit Park und Burgess. In der »Soziologie der Mahlzeit« nutzt Georg Simmel (2001 [1910]) die Mahlzeit als Fall, anhand dessen er eine Analyse von sozialer Gemeinschaft entwickelt. Den idealtypischen Komplementärbegriff der Gesellschaft22 behandelt Simmel in ähnlicher Form über einen inhaltlichen Zugang: den der Stadt (1995a [1903]). Wie auch für den Fall gemeinschaftlichen Essens (s. Teilkap. 1.1) nähert er sich der Stadt auf verschiedenen Ebenen an. Er thematisiert die Stadt als geografischen Bereich mit bestimmten materiell-räumlichen Eigenschaften (insbesondere einer hohen Dichte von Anwohner:innen), als ästhetische Ansammlung einer Vielzahl von Repräsentationen sowie als moderne Form sozialer Organisation, die die Beziehung zwischen Gruppen ebenso wie zwischen Individuum und Gruppe bestimmt (s. Frisby 1992, 116). Simmel liefert damit eine bis heute einflussreiche Definition von ›Stadt‹, als eine Art Charakterisierung für alles ›vor der Haustür‹ (was bei Goffman als public life bezeichnet wird, s. Teilkap. 1.1), für das individuelle Leben und die Gruppenbeziehungen außerhalb des privaten Raums, inklusive der drei Analyseebenen des Räumlich-Materiellen, des Ästhetischen und des Sozial-Interaktiven. Seine Erkenntnis, dass das räumlich nahe Zusammenleben mit sozial distanzierten Individuen eine spezifische Qualität der Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen sowie zwischen verschiedenen Gruppen ergibt, gipfelt im Bild des blasierten Städters. Damit wird ein Individuum beschrieben, das außerhalb des Privaten keine gemeinschaftlichen Beziehungen eingeht, beim Durchschreiten städtischer Räume also höchstens instrumentalisierte Nähe zulässt. Dieses idealtypische Bild eines vollständig vergesellschafteten Auftretens lässt sich (wie jeder Idealtyp) empirisch nicht in Reinform beobachten. Auch in der Stadt treten Individuen als ganze Personen auf. Gerade wenn man außerhalb des eigenen Zuhauses etwas isst oder andere dabei beobachtet, durchbricht das die Blasiertheit, indem körperliche Bedürfnisse oder physischer Genuss sichtbar werden. Erving Goffman
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Ferdinand Tönnies (1991 [1887]) stellt gemeinschaftliche Beziehungen, in denen die Handlungen des:r Einzelnen am übergeordneten Zweck eines sozialen Ganzen orientiert sind, gesellschaftlichen, also instrumentalisierten Beziehungen gegenüber. Anschließend an Helmuth Plessner (2002 [1942]) kann man Tönnies’ Unterscheidung als Idealtypen lesen, eher denn als evolutionär geordnet. Ich folge hier dieser typologischen Lesart (vgl. Albrecht 2017, 1357f.), da ich davon ausgehe, dass beide Formen gleichzeitig bestehen können.
1. Einleitung: Alltag, Ordnung und Esskultur im Stadtbezirk
schlägt deshalb vor, ein Individuum in der Stadt einerseits als »Fortbewegungseinheit«, gleichzeitig aber auch als »Partizipationseinheit« zu verstehen (1974a, 25). Die Vorstellung, Individuen bewegten sich als Fortbewegungseinheiten auf den Wegen zwischen ihren primär funktional bestimmten Lebensbereichen durch die Stadt, entspricht grob Simmels Idee des blasierten Städters. Goffman ergänzt dieses Bild aber um eine zweite Ebene: Individuen könnten, so schreibt er, entweder in einem Miteinander oder als Einzelne zu Partizipationseinheiten im öffentlichen Austausch werden und damit Akteur:innen der Handhabung von Kopräsenz zwischen Unbekannten (s. 1974a, 43ff.). Wenn Anwohner:innen ihren Wohnraum verlassen, lässt sich also auch in einem städtischen Umfeld nicht davon ausgehen, dass sie gewissermaßen mit dem Anziehen der Jacke ihre Persönlichkeit ablegen. Interaktionen außerhalb vom Zuhause sind Teil des public life und wirken auf die beteiligten Individuen ebenso wie auf die öffentliche Ordnung im Goffman’schen Sinne zurück. Vor allem Innenstadtbereiche sind solche, die nicht ausschließlich zum Durchschreiten aufgesucht werden, sondern auch, um ein Eis zu essen, eine Falafeltasche auf die Hand zu kaufen, einen Kaffee zu trinken, sich selbst zu zeigen und andere dabei zu beobachten. Jane Jacobs (1961) Analyse des sidewalk lifes beschreibt, dass sich die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Privatheit und öffentlichem Kontakt in ihrer Nachbarschaft vor allem über kleine, alltägliche Praktiken der Begegnung auf dem Bürger:innensteig erhält (ebd., 59). Jacobs betont, dass soziale Interaktionen in der Stadt nicht ausschließlich auf anonymer Blasiertheit beruhen, sondern im Gegenteil auch persönliche Involviertheit unterschiedlicher Intensität erlauben und sogar erfordern. Als Anwohnerin und Ethnografin fragt sie: »how cities work in real life« (ebd., 4). Mit dem Hinweis, Städte seien per definitionem »voller Fremder« (s.o.), betont Jacobs, dass sich die Anwohner:innen voneinander unterscheiden und soziale Distanz trotz der räumlichen Nähe zwischen ihnen besteht. Ein einheitliches Bild wird hier explizit nicht angestrebt. Interaktionen sind trotz der sozialen Distanz möglich und nötig. Damit wird deutlich, dass der Fokus auf städtisches Zusammenleben einerseits die Dichte von Begegnungen im public life in den Blick nimmt, andererseits aber auch die Diversität der Verweise auf Zugehörigkeit, die dabei aufgerufen werden. Ich selbst nehme in der ethnografischen Bearbeitung der Forschungsfragen einen an Jacobs und Goffman orientierten, planungskritischen23 Blick ein. Das Essen außerhalb des privaten Raumes ist ein Bereich, in dem sich Planbarkeitsversprechen besonders schlecht einlösen lassen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Gastronomie ein höchst dynamischer Wirtschaftsbereich mit zahlreichen 23
Zu einer allgemeineren Kritik von Planung aus sozialtheoretischer Perspektive, die die hier getroffene Entscheidung für eine planungskritische Haltung mitbegründet, vgl. Tenbruck 1972.
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Neugründungen und Schließungen ist. Die ethnografische Fokussierung auf den Bereich esskultureller Praktiken und Repräsentation eher als auf gastronomischökonomische Planbarkeit erlaubt es, alltägliche Situationen außerhalb des privaten Raums zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Ich betrachte Stadtbewohner:innen also vor allem in ihrem Auftreten als Partizipationseinheit (und weniger als blasierte Fortbewegungseinheiten). Ihre Praktiken und Deutungen, die alltägliche Begegnungen ordnen helfen, sind die zentralen Aspekte der Esskultur im städtischen Raum, die untersucht werden sollen. Zwangsläufig ergibt sich durch das ethnografische Beschreiben ein vielstimmiges, komplexes Bild. Während bei der Beobachtung von außen die sozialwissenschaftliche Kapazität für Komplexität eher über Vergleichsdimensionen genutzt wird, eignet sich für die Beobachtung von innen die Analyse der internen Relationen zwischen Ungleichem. Die Besonderheit des hier angestrebten ethnografischen Forschens sehe ich darin, mit überdurchschnittlich viel Differenz zurechtzukommen – mit großer Diversität also.
Multiskalare Diversität Der Diversitätsbegriff ist (neben Heterogenität, Ungleichheit, Differenz, …) eine von mehreren Möglichkeiten, das Phänomen der sozialen Distanz in räumlicher Nähe greifbar zu machen, welches sowohl Simmel als auch Jacobs und Goffman als charakteristisch für städtisches Zusammenleben beschreiben. Wie viele andere wissenschaftliche Konzepte wird der Diversitätsbegriff (neben inner-akademischen Diskussionen) in öffentlichen Debatten verwendet und bezeichnet dann oft das angestrebte Ziel von breiter Zugänglichkeit bestimmter gesellschaftlicher Bereiche. Wenn ich von Diversität spreche, nutze ich den Begriff hingegen nicht primär als ideologische Zielbestimmung, sondern zunächst als ethnografische Beschreibungskategorie, die das Wechseln zwischen Perspektiven innerhalb eines Raumes unterschiedlicher Zugehörigkeiten erlaubt. Steven Vertovec beschreibt Diversität als das Zusammenspiel von »structural configurations«, »discursive representations« und »interactional encounters« (2015, 15ff.). Das entspricht der Unterscheidung von Analyseebenen in Bezug auf esskulturelle Situationen, wie ich sie bereits eingeführt habe. Ich gehe in Kapitel 2 zunächst auf die lokalhistorischen Gegebenheiten ein, die Vertovec als »structural configurations« beschreibt. Der Fokus der ethnografischen Fallstudien (Kap. 3 bis 5) liegt dann auf praktischen Interaktionen (»encounters«), wobei auch die darin aufgerufenen Repräsentationen von Zugehörigkeit (»representations«) von Interesse sind. Praktiken und Interaktionen im Alltag begreife ich im Sinne Goffmans als zentral für Situationen der Erarbeitung, Aufrechterhaltung und des Wandels des public life. Mit Simmel wird klar, dass der städtische Raum außerdem eine spezifische Qualität der Gleichzeitigkeit von materiell bestimmtem Raum, interaktiver Dichte und
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diversen Deutungen aufweist. Spezifiziert durch den planungskritischen Impuls ethnografischer Stadtforschung ergibt sich die auf diverse Esspraktiken fokussierte Analyse einer komplexen (städtischen) Umwelt. Diese komplexe Umwelt ist aus unterschiedlichen Perspektiven verschieden organisiert. Mich interessieren nun vor allem solche Unterscheidungen, die Zugehörigkeiten ausdrücken. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es aus ethnografischer Perspektive auf ein konkretes, situiertes Untersuchungsfeld wenig Sinn macht, spezifische Variablen der Unterscheidbarkeit (wie ›Ethnie‹, Religion, …) im Vorhinein festzulegen, sondern diese sich aus der empirischen Beobachtung ergeben sollten. Dennoch blende ich solche makrosoziologischen Kategorien nicht vollständig aus, wenn sie für alltagspraktisches Handeln relevant werden. Während räumliche Grenzen in sozialökologischen Studien oft weitestgehend als materielle Entsprechung sozialer Grenzen gedeutet werden, betonen Ayşe Çağlar und Nina Glick Schiller (2018) aufbauend auf der New Urban Sociology, dass Bezüge unterschiedlicher Größenordnung auf verschiedenen Ebenen lokale Netzwerke und explizit auch situative Alltagspraktiken bestimmen. Konkret schlagen die Autor:innen vor, einzelne geografische Gebiete als multiskalar geordnet zu denken. Im Anschluss an Saskia Sassen (2001) schreiben sie: We use the term »multiscalar« as shorthand to speak of sociospatial spheres of practice that are constituted in relationship to each other and within various hierarchies of networks of power. […] Networks and the social fields they constitute may be locally or regionally situated, or they may extend nationally, transnationally, or supranationally, as in the case of the EU, or may span the globe. In their daily reach, all interpersonal networks may not be transnational in the sense of cross-border connections or be multiscalar, that is, linked to actors based in multiple distinct domains of power. However, in our daily lives we all participate in social fields that extend beyond the local. (Çağlar und Glick Schiller 2018, 8f.) Methodologisch bedeutet dies, dass über das Betrachten eines lokalen Ortes auch geografisch weiter gespannte Beziehungen deutlich werden können. Entscheidend ist, dabei die Skalen analytisch möglichst klar auseinanderzuhalten, um den lokalen Spezifika des alltäglichen Lebens gerecht werden zu können und gerade nicht auf globale Erklärungsmuster zurückzugreifen. Dem zugrunde liegt die Überlegung, dass verschiedene Gruppen im Stadtbezirk durch Beziehungen verbunden sind, die sich materiell vor Ort äußern, aber zugleich auf andere Orte verweisen. Eine Erforschung dieser Beziehungen wird durch eine »multisighted ethnography«24 (ebd., 10f.) möglich, die verschiedene lokale Perspektiven einbezieht und deren Innensicht auf das Alltagsleben und darin ausgedrückte Zugehörigkeiten kontrastiert. 24
Die Autorinnen sprechen hier von »multisighted« statt von »multisited«, um zu betonen, dass mit lokal verorteter Forschung immer auch unterschiedliche Blickwinkel einhergehen, deren Beziehungen zueinander sowie zur Situierung der Forschung untersucht werden müssen.
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Ich fasse das konzeptuelle Instrumentarium für den Umgang mit unterschiedlichen Personen(gruppen) im alltäglichen städtischen Zusammenleben noch einmal zusammen. Aus der Chicago School übernehme ich das sozialökologische Interesse an räumlichen Grenzen und Distanzen sowie die Erkenntnis, dass innerhalb der dadurch entstehenden Räume Bewegung und dazwischen Mobilität herrscht, die sich zu betrachten lohnen. Wendet man den sozialräumlichen Zusammenhang, den die Chicago School zum Ausgang ihrer städtischen Ethnografien nimmt, nun pragmatisch (statt deterministisch), wird noch einmal deutlicher, warum ich einerseits alltagskulturelle Praktiken, andererseits Repräsentationen der Zugehörigkeit als zentrales Thema dieser Studie betrachte. Praktiken – wie beispielsweise das gemeinsame Decken eines Tisches – bilden Interaktionsordnungen und sind zugleich räumlich, zeitlich und sozial situiert. Kulturelle Repräsentationen – zum Beispiel die Bezeichnung eines Restaurants – sind Teil der Situierung solcher Praktiken, verweisen aber über die Situation hinaus auf Orte, historische Ereignisse oder Gruppen. Die Wechselbeziehungen zwischen beidem sind deshalb der Bereich, der Schlüsse auf die interne Differenzierung des Stadtbezirks ebenso wie auf dessen Einbettung in größere Zusammenhänge erlaubt. Von der New Urban Sociology und insbesondere dem multiskalaren Ansatz in der Stadt- und Migrationsforschung lässt sich lernen, dass deshalb eine Situierung des lokalen Kontextes geboten ist, um Bezüge und Abhängigkeiten verschiedener Größenordnung nach außen, aber auch der diversen Differenzierung ins Innere einbeziehen zu können. Die geografische Einheit, in die ich mich als Ethnografin begebe, ist wie schon erläutert der Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg. Wie sich meine Forschungspraxis gestaltet hat, erläutere ich im folgenden Teilkapitel. Vor der Situierung des Bezirks als Ganzem (in Teilkap. 2.1) gehe ich also auf die übergeordnete Situierung meiner eigenen ethnografischen Forschung ein.
1.4 Zur Methode: Forschung zwischen Feld und Zuhause Bad Godesberg ist nicht einfach ein Stadtbezirk von Bonn. Auf die Hintergründe dieser Einsicht komme ich in Kapitel 2 noch genauer zu sprechen. Aber auch ohne die Lokalgeschichte Godesbergs zu kennen, fällt schon bei einer Durchsicht von Zeitungsberichten auf, dass der Bezirk in der lokalen Presse nicht nur als einer von vier Teilen von Bonn behandelt wird. Er taucht regelmäßig als Einzelfall auch in der überregionalen Nachrichtenlandschaft auf. Diese Berichte dienten mir neben weiteren Schrift-, Bild- und Videoquellen wie Reiseführern, Fotobänden, Fernsehreportagen oder Youtube-Videos als erster Zugang zum Feld. Es ist durchaus üblich, auf diese Weise eine ethnografische Feldforschung vorzubereiten. Wichtig scheint mir daran, erstens einen Überblick über die Außen- und Innensicht relevanter Themen in Bezug auf das Feld zu erhalten und diesen bei Gesprächen im Feld als Aus-
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druck von ernst gemeintem Interesse auch anwenden zu können. Zweitens sollten sich so stets diskursive Schwerpunktsetzungen, die sich auf die eigene Beobachtung übertragen können, kritisch reflektieren und gegebenenfalls anpassen lassen. Ich betone dies deshalb, weil sich die Leitfragen dieser Studie in einem solchen Prozess der Auseinandersetzung und auch der Abgrenzung mit bestehenden Bildern und Diskursen von und in Bad Godesberg ergeben haben.
Abb. 1: Der Bezirk Bad Godesberg mit Stadtteilen
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
Forschungsdesign und Feldzugang Mein Forschungsdesign folgte den Grundregeln der Grounded Theory (s. Glaser und Strauss 2006 [1967]). Zur Auswahl der Situationen für Beobachtungen sowie für die Analyse meines ethnografischen Materials nutzte ich aus diesem »TheorieMethoden-Paket« (Diaz-Bone 2013, §9) vor allem die Grundbestandteile des theoretischen Samplings, des mehrschrittigen Kodierens und des Spezifizierens und Reflektierens von Zusammenhängen in Memos. Entscheidend ist dabei, dass diese drei Bestandteile nicht sequenziell geordnet nacheinander stattfinden, sondern sich wechselseitig befruchten und gleichzeitig ablaufen. Sowohl das Sampling als
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auch das Kodieren sind geleitet von der »Methode des ständigen Vergleichens« (Strübing 2014, 15), sodass sich durch das Kontrastieren von Daten eine Darstellung von Unterschieden und Ähnlichkeiten ergibt. In der Erhebung ebenso wie in der Analyse der empirischen Daten ist die Suche nach Kontrasten zentral. Dieser Ansatz ist für den Stadtbezirk Bad Godesberg besonders ertragreich, da dieser von starken Kontrasten geprägt ist – zum Beispiel in der Architektur oder in seiner diskursiven Darstellung (s. dazu genauer Kap. 2). Mir wurde schnell klar, dass eine Kontrastierung Godesbergs mit weiteren Stadtbezirken in der Analyse nicht nötig war, da in Bezug auf die Leitfragen schon in Godesberg selbst kontrastive Positionen aufzufinden waren. Eine theoretische Sättigung gilt in der Grounded Theory dann als erreicht, wenn die empirische Basis der Analyse konzeptuelle Repräsentativität25 gewährleistet, also solche kontrastiven Positionen ausgemacht werden können. Dazu dient die Dimensionalisierung der durch das Kodieren herausgearbeiteten Kernkategorien (s. Strübing 2014, 22). Ich habe mich wie auch von Strauss (s. 1991, 34) immer wieder angeregt in Erhebung und Analyse nicht starr an das methodische Verfahren der Grounded Theory gehalten, sondern die Analysestrategien im direkten Zuschnitt auf das Interesse und die empirische Basis der Forschung genutzt. Konkret bedeutet dies, dass ich das Anliegen der Strauss-Schülerin Adele Clarke26 einbeziehe, drei Aspekten stärker als in der klassischen Grounded Theory gerecht zu werden: erstens den materiellen Bestandteilen eines Forschungsfeldes, zweitens dessen diskursiver Ordnung und drittens der transparenten Situierung der Forschung als Ganzer in Bezug zum untersuchten Feld. Ihr methodologischer Vorschlag eines situationsanalytischen Vorgehens (s. Clarke 2005) fokussiert im Einklang mit den in Teilkapitel 1.3 erläuterten Ansprüchen der ethnografischen Reflexivität die relationale Situierung verschiedener Typen von erhobenen Daten. Die Erfahrungen des:r Forscher:in werden ebenso wie Leerstellen in den Daten aktiv in die Analyse mit einbezogen.27 Clarke nutzt dafür verschiedene Arten von Kartierungen, die den gesam-
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Konzeptuelle Repräsentativität ist in Abgrenzung zur stichprobenbezogenen Repräsentativität quantitativer Forschung zu verstehen (s. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, 212). Adele Clarke hat bei Anselm Strauss promoviert und schließt direkt an seine Arbeiten an. Sie lässt sich damit in die Reihe Chicagoer Soziolog:innen einordnen, die sich eingehend mit qualitativer, empirischer Sozialforschung beschäftigt haben. Clarke betont entsprechend ihrer pragmatistischen Perspektive ihr vor allem von Barney Glaser distanziertes Verständnis der Grounded Theory. Nach den gemeinsamen Arbeiten Barney Glasers und Anselm Strauss’ entstanden zunehmend Differenzen zwischen den beiden. Strauss betonte später in Zusammenarbeit mit Juliet Corbin die »Veränderbarkeit der Phänomene« (Przyborski und WohlrabSahr 2014, 198). Clarke versteht sich als Teil dieser konstruktivistischen Weiterentwicklung (s. Clarke 2003, 559). Damit weist die Forschung eine gewisse Nähe zum autoethnografischen Arbeiten auf. Autoethnografische Anregungen nehme ich insofern auf, als dass ich eigene Reflexionsprotokolle
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ten Forschungsprozess konzeptuell rahmen.28 Diese Kartierungen ersetzen weder die empirische Erhebung in Form von ethnografischer Teilnahme, inklusive Interviews und der Sammlung von Dokumenten oder Dingen, noch deren Auswertung (s. ebd., 85). Sie leiten vielmehr den Prozess der Analyse, der sich grundsätzlich an die basalen Schritte der Grounded Theory insbesondere in der Strauss’schen Linie ihrer Weiterentwicklung hält. Eine Eigenart dieses Vorgehens besteht darin, dass sich das Forschungsinteresse im Austausch mit dem Feld spezifiziert und weiterentwickelt. Nachdem ich einige Zeit mit der Lektüre von Artikeln und ähnlichem verbracht hatte, begann ich 2018 mit ersten Feldbesuchen. Beim zweiten Aufenthalt nahm ich den jährlich ausgerichteten Französischen Markt zum Anlass, den verkehrsberuhigten Innenstadtbereich Alt Godesbergs (s. Abb. 1) kennenzulernen. Ich notierte: Bei der Anfahrt frage ich mich, ob gerade Sperrmüll ist: Vereinzelt stehen Möbel in großen Haufen am Straßenrand, vor allem in Bahnhofsnähe und teils vor Einrichtungsläden. Der Bahnhof wirkt von innen wie eine Baustelle. Außen, am Türmchen, in dem, wie ich aus einem Zeitungsbericht weiß, seit Jahrzehnten ein deutsches Ehepaar wohnt, hängt eine große Deutschlandfahne. Der Weg vom Bahnhof zum Französischen Markt führt an verschiedenen Geschäften vorbei: Agenturen, die auf Arabisch und Deutsch die Vermittlung möblierter Appartements anbieten, Friseursalons, kioskähnlichen Läden, einer brasilianischen Bar, einem asiatischen Imbiss usw. (FP 12.09.2018, Brill, Z. 4ff.) Entsprechend der Grounded Theory wusste ich zu diesem Zeitpunkt zunächst einmal, dass ich mich für Bad Godesberg als Stadtbezirk, für esskulturelle Praktiken sowie deren materielle Bestandteile und vage für Zugehörigkeit und Gruppenbildung und -abgrenzung interessierte. Ich war auf der Suche nach Orten, die sich für eine teilnehmende Beobachtung eigneten und nach Personen, die zu Interviews bereit waren. Parallel versuchte ich, meine Forschungsfragen in diesen ersten Besuchen
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zur Analyse nutze. Für einen Überblick über die entsprechende Methodologie s. Ellis, Adams, und Bochner 2011. Die Nutzung kartografischer Analysetechniken ist in der städtischen Ethnografie eine altbewährte Methode. Nicht nur Clarke nutzt ›maps‹, schon für Park und Burgess waren die Kartierung von »urban areas« ein zentraler Bestandteil ihrer Forschung (Burgess 1967). Das Kartieren sozialer Beziehungen wird jedoch mit Blick auf das Ziel der reflexiven und transparenten Forschung problematisch, wenn im jeweiligen Ergebnis unklar bleibt, ob die räumlich dargestellte soziale Distanz metaphorisch oder mathematisch zu interpretieren ist. Ich halte mich deshalb – übrigens in großer Nähe zu den Ursprüngen der Sozialkartierung rund um Jane Addams – für die Frage nach der Raumsensibilität ethnografischer Forschung an Anregungen aus der »critical cartography« (Roberts 2016; 2015; Risler und Ares 2013; Wood 1992). Diese rückt den Prozess der Kartierung eher als die eine Karte, die einen vollumfänglichem Repräsentationsanspruch transportiert, in den Vordergrund.
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im Feld zu verfeinern und auf Feldrelevanzen auszurichten. Warum notierte ich in dieser Situation also gerade diese Auswahl an Eindrücken? Sperrmüll, Unordnung, Baufälligkeit, Deutschlandfahne, Wohnen auf Zeit, arabische Beschriftungen, Bars und Imbisse? Diese Sammlung an Stichworten bietet eine treffende Zusammenstellung der Themen, die immer wieder in Zeitungsartikeln in und über Bad Godesberg behandelt wurden und werden. Ohne mir dessen beim Schreiben des Protokolls bewusst zu sein, rekurrieren meine ersten Eindrücke vom Stadtbezirk also auf das diskursiv geprägte Bild, das sich aus meiner vorhergehenden Recherche zusammensetzte. Ich möchte am Beispiel des Sperrmülls kurz verdeutlichen, wie ich diese Art der Annäherung, Reflexion und Analyse als Zugang zum Feld und zur Operationalisierung meiner Forschungsfragen nutzte. Müll deshalb, weil der Zusammenhang zu Esskultur hier gerade nicht offensichtlich ist – und aus dieser frühen Beobachtung abgeleitete Fragen mit der Zeit dennoch zentral für das Thema dieser Studie wurden. Dass mir der Müll (tatsächlich war an diesem Tag Sperrmülltermin im Bezirk, wie ich später nachschaute) auffiel, liegt daran, dass unzulässig an die Straße gestellte Möbel und Abfälle in zahlreichen Artikeln in der lokalen Presse zum Thema gemacht wurden. Selbst in einem FAZ-Artikel kommt das Thema zur Sprache (s. Q Burger 2016)29 . Der Artikel ist betitelt mit »Gewalt liegt in der Luft«, begleitet wird er von einer Bilderstrecke mit Fotos von einer Frau in Niqab, einem Polizeiauto und drei Porträts von einem Ehrenamtlichen, einem Pfarrer und Juppi Schäfer. Juppi Schäfer betrieb in Godesberg in den 1970er Jahren die Rockkneipe »Underground«, in der 1973 die damals noch unbekannte Band Queen spielte (s. Q o.V. 2018), führte Regie bei einigen in Godesberg gedrehten Filmen (u.A. »Kaputt in Godesberg«, s. Q Wenzel 2018) und gründete 2012 die Partei »Die Godesberger«, für die er 2014 in die Bezirksvertretung gewählt wurde. Schäfer, 2018 verstorben, gilt im Bezirk als umstrittene Persönlichkeit, aber auch als »Godesberger Original« (ebd.). Mittlerweile wurde der Weg zur Godesburg (einer Burgruine mit Restaurantbetrieb) im Innenstadtbereich des Bezirks nach ihm benannt. Schäfer wird im FAZ-Artikel wie folgt zitiert: »Wir haben nichts gegen Ausländer, nur gegen Leute, die sich nicht benehmen können«, sagt Schaefer. »Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links – wir sind die Mitte und wollen unserer Stadt aus Verbundenheit und Heimattreue dienen.« Als ihre wichtigsten Anliegen bezeichnen die Godesberger eine »belästigungsfreie Fußgängerzone«, womit sie auf die vollverschleierten Frauen anspielen. »Die Burka ist herabwürdigend für alle Frauen, eine Provokation. Es müsste ein
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Zitationen, die sich auf Zeitungsberichte statt auf wissenschaftliche Literatur beziehen, sind durch ein vorangestelltes Q markiert. Das Quellenverzeichnis folgt auf das Literaturverzeichnis.
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Vermummungsverbot geben«, sagt Schaefer. Zudem setzt sich seine Partei für »rechts- und wohnverträglichen Medizintourismus« ein. Dreihundert inoffizielle Kurzzeitwohnungen gebe es schon in Bad Godesberg. »Jede freie Wohnung wird von Arabern gekauft und dann für 6000 Euro bar auf die Hand an Medizintouristen vermietet.« Für die anderen Eigentümer und Mieter beginne dann die Hölle auf Erden. »Der Müll wird in den Flur geworfen. Regelmäßig tropft es durch die Decken, weil Araber das Badezimmer mit dem Schlauch ausspritzen, wenn vorher ihre Frauen drin waren.« (Q Burger 2016) In dem Zitat finden sich zahlreiche diskursive Aspekte und Strategien der Abwertung, die in Kapitel 2 aufgenommen und eingeordnet werden. Schäfer spricht hier unter anderem von Müll, auch in vielen anderen Artikeln wird er immer wieder zum Thema Sperrmüll und Unordnung »im Stadtbild« zitiert (vgl. u.A. Q Müller-Münch 2016a). Mein Interesse an Zugehörigkeit, Gruppenbildung und -abgrenzung über esskulturelle Praktiken gewann damit gleich zu Eingang der Feldforschung eine entscheidende Schärfung. Auch wenn es Schäfer nicht zentral um Esskultur ging, äußerte er sich am Rande dennoch häufig negativ über gastronomische Orte, die er als ›orientalisch‹ wahrnahm (vgl. ebd.). Die Kritik an dem kulinarischen Angebot in der Innenstadt und das Wettern über den Müll lässt sich in einen Zusammenhang setzen, wenn es um die Frage nach dem alltagskulturellen Erleben von öffentlichem Leben im Stadtbezirk geht. In Godesberg, so wurde mir klar, sind bestimmte Vorstellungen der Ordnung des öffentlichen Lebens aus einzelnen Perspektiven nicht (mehr) in alltagskulturellen Situationen repräsentiert, womit lokale Orientierung (und damit Sauberkeit und Sicherheit) zu einem zentralen Thema im Stadtbezirk wird. Mary Douglas (1985 [1966]) weist darauf hin, dass Schmutz und Unordnung nie als absolut, sondern stets als Abweichung der Umwelt von subjektiven Vorstellungen zu verstehen sind. Aufräumen wird damit zu einer Praktik der Ordnungsbildung (oder -wiederherstellung) (s. ebd., 12ff.). Ihre ethnografischen Betrachtungen lassen sich auf Schäfers Ärger über den Müll übertragen. Rückblickend ist das Herausstellen von Sperrmüll zu bestimmten Terminen aus meiner forschenden Perspektive eine solche organisierte, etablierte Form des Aufräumens in Stadtteilen, also aktiver Teil des Herstellens einer Ordnung. Schäfer jedoch sieht Sperrmüll als Unordnung und stellt in einem zweiten Schritt zwischen Müll und »Arabern« eine direkte Beziehung her. Er nutzt damit eine Strategie, um seine Ordnungsvorstellung (eines christlichen, politisch autonomen, wohlhabenden Godesbergs) materiell zu legitimieren: Ein Zitat, das geradeheraus seine (an anderer Stelle deutlich gemachte, vgl. Q Müller-Münch 2016a) grundsätzliche Ablehnung arabischsprachiger Nachbar:innen formuliert, hätte in dem Artikel aus gutem Grund vermutlich keine Erwähnung gefunden. Das Narrativ des ›abrutschenden‹ Stadtbezirks jedoch wird von der Pres-
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se aufgenommen und findet in Schäfers Betonung von Dreck, Müll und Unordnung seinen illustrierenden Ausdruck. Subjektive Grenzziehungen zwischen Gruppen, die im Bezirk teils mit großer Vehemenz kommuniziert werden, so wurde mir durch die Reflexion der Betonung des Sperrmülls klar, würden in der Arbeit in ihrer Bedeutung für das Feld ernst genommen werden müssen, sollten aber nicht meine eigene ethnografische Beobachtungspraxis bestimmen. Douglas schreibt, übrigens in großer Nähe zu ihren Erkenntnissen zu Speiseregeln und -tabus (vgl. Douglas 2017 [1972]): Ich glaube, daß die soziale Umwelt, wie sie sich die Menschen vorstellen, von Trennlinien durchzogen ist, die anerkannt werden müssen und die die anderen Menschen in solche einteilen, mit denen man verbunden ist, und solche, von denen man getrennt ist. […] Wo jedoch Trennlinien gefährdet sind, treffen wir auf Verunreinigungsvorstellungen, die ihnen zu Hilfe kommen. […] Wer verunreinigt, verfällt einer doppelten Verurteilung: einmal, weil er die Trennlinie überschritten hat, und dann, weil er andere gefährdet. (Douglas 1985 [1966], 182) Damit wird verständlich, warum die beiden meistdiskutierten Themen in Bad Godesberg gerade in dieser Verbindung einerseits Ordnung, andererseits Sicherheit sind (s. dazu auch Teilkap. 2.1). Der Diskurs darum verweist auf einen Wandel der »Trennlinien«, die aus manchen Perspektiven nicht mehr dazu ausreichen, alltagskulturelle Erlebnisse im städtischen Raum individuell einzuordnen und die eigene Rolle darin zu verorten. Diese frühe Erkenntnis war auf zwei Ebenen immens wichtig für die weitere Arbeit an meinem Forschungsinteresse. Erstens verdichtete sich darin ein diskursives Bild von Bad Godesberg – als unordentlich, sogar unsicher –, das inhaltlich als empirisches Material (und explizit nicht als die Forschung strukturierender Ausgangspunkt) in die Analyse eingehen würde. Zweitens stellte ich fest, dass auf einer abstrakteren Ebene Ordnungsvorstellungen und deren Konkurrenz und Wandel sehr wohl ein Aspekt sein sollten, der durch seine hohe Relevanz im Feld einen passenden Zugang zum empirischen Material ergeben würde. Weshalb dieser Zugang sich vor allem auf das Essen gut anwenden ließ, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wo man gerne isst: an sauberen, sicheren Orten; und das umso mehr, wenn man das Zubereiten und damit die Kontrolle über die rein physiologische Sicherheit des Essens aus der Hand gibt. Was nun sauber und sicher ist, ist, wie Douglas beschreibt, positionsabhängig (darauf komme ich später detaillierter zu sprechen). Doch nicht nur das, umgekehrt dient die Markierung von etwas als ›dreckig‹ oder ›unordentlich‹ dazu, eine Trennlinie zu bilden und doppelt zu legitimieren: erstens als Herstellung einer Ordnung und zweitens als Sicherheitsversprechen. So erhielt mein Interesse an räumlicher Ordnung eine Konkretisierung aus der frühen Beschäftigung mit dem Feld: Ich fokussierte mich zunehmend auf Ordnungsvorstellungen und die entsprechenden Zuordnungen von esskulturellen
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Praktiken und Repräsentationen einerseits zu Orten, andererseits aber auch zu Individuen und Gruppen.
Schritte der Datenerhebung und -auswertung In ähnlicher Weise wie hier am Fall des Sperrmülls gezeigt, passte ich in den weiteren Schritten im Feld das Forschungsinteresse sowie das methodische Vorgehen den dazugewonnenen Erkenntnissen an (ganz im Sinne des theoretischen Samplings der Grounded Theory; zu der wechselseitigen Befruchtung unterschiedlicher Forschungsphasen vgl. Strauss 1991, 46). Neben dem Besuch von kulinarisch ausgerichteten Stadtfesten im Stadtbezirk zählte zu den ersten Erhebungsschritten, dass ich systematisch jeden der dreizehn Stadtteile Bad Godesbergs mit dem Fahrrad abfuhr und gastronomische Orte unterschiedlicher Art in einer Karte verzeichnete (s. Abb. 3). Begleitend protokollierte ich meine Beobachtungen in den jeweiligen Stadtteilen, wie hier in Friesdorf, dem »Margarineviertel«30 im Nordwesten von Bad Godesberg: Hinter der Bahnlinie ist es dörflich, Ein- bis Mehrfamilienhäuser, oft mit großem Garten, angrenzend an den Stadtwald. Verschiedene Hinweise auf viele gutsituierte ÖkoFamilien: Hambacher-Forst-Fahnen und -Plakate hängen an mehreren freistehenden Häusern, Lastenräder stehen im Vorgarten, auf der Straße größere Mittelklassewagen. Im Leyenhof bestätigt sich die Beobachtung: Direkt im Hof, mit Kaninchenkäfigen, Traktorstellplatz und Blumenbeeten an den Seiten, gibt es einen kleinen Supermarkt mit Bioprodukten und Produkten vom Hof. […] Sowohl Kund:innen als auch Angestellte scheinen viel Zeit für alle zu haben, das Verkaufsgespräch an der Kasse wird von Lächeln, Nachfragen und Kommentaren zur Kälte draußen begleitet. Um die Ecke in der Annaberger Straße geht die Dorfatmosphäre zum kleinstädtischen Zentrum über: Am Eingang der Straße gibt es die Bäckerei Markmann, […] Am Platz gibt es eine weitere Markmann-Bäckerei im Eingangsbereich des Edekas. Innen und außen gibt es Sitzgelegenheiten. Auf den etwa zehn (eng bemessenen) Plätzen im Innenraum machen Kund:innen ›Pause‹ oder warten darauf, dass sie an der Reihe sind. Ein Rentner mit rheinischem Dialekt trinkt Kaffee, liest den Generalanzeiger, beobachtet den Verkauf der Backwaren, unterhält sich mit einem Edeka-Kassie-
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Diese Bezeichnung ergibt sich aus dem Bild der sparsamen Friesdorfer:innen, die entgegen der Gewohnheiten der besser gestellten Bewohner:innen der Godesberger und Bonner Innenstadtbereiche Margarine statt Butter aßen (Interview 02, Z. 65ff.). Das Bild lässt sich vermutlich auf die Lage des ehemals armen Dorfes im Grenzbereich zwischen Bonn und Godesberg vor dessen Eingemeindung zu Anfang des 20. Jahrhunderts zurückführen (s. Strack 1990, 24f.).
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rer (erkennbar am Kittel), der mit Blick auf die Kassensituation Pause macht und Tee trinkt. Ein zweiter älterer Mann kommt dazu, sie unterhalten sich über einen neu zu besetzenden Vorstandsposten und die Planung einer Veranstaltung eines Sportvereins, und bunt wechselnde weitere Themen. Als eine der beiden jungen Kassiererinnen nach Hause geht, verabschiedet sie sich vom ihr offensichtlich vertrauten Rheinländer, sie macht einen Witz über seinen Kaffee, klopft ihm auf die Schulter, und sagt »Bis morgen«. (FP 22.10.2018, Brill, Z. 5ff.)
Mein Bild Godesbergs, das anfangs stark auf dessen diskursive Darstellung ausgerichtet war, diversifizierte sich damit zwangsläufig. Neben der Kartierung ergab sich aus meinen Fahrradfahrten (teils auch Gängen zu Fuß) durch die einzelnen Stadtteile und den damit zusammenhängenden Beobachtungen eine wichtige Ergänzung des Eindrucks, den die vorherige Presserecherche erzeugt hatte. Friesdorf, dessen ›Dorfzentrum‹ ich hier beschreibe, ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich in den infrastrukturellen und baulichen Gegebenheiten der Stadtteile deren unterschiedliche Eingemeindungsgeschichte zunächst in die entstehende Stadt Bad Godesberg (zwischen 1899 und 1935, s. Strack 1990, 10) und dann 1969 in die neue Hauptstadt Bonn zeigt. Die Auseinandersetzung mit der Stadtteilgeschichte, deren Ergebnisse ich in Teilkapitel 2.1 zusammenfasse, machte mich auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, der die Forschungsausrichtung beeinflussen sollte. Ich stellte fest, dass Konkurrenz und Wandel von Ordnungsvorstellungen alltagskultureller Praktiken in Bad Godesberg rückblickend nicht unabhängig von der Ortsgeschichte und gegenwärtig nicht unabhängig von Prozessen der Stadtentwicklung betrachtet werden können. Beides rahmt alltagskulturelle Situationen, wie die oben beschriebene Situation im Eingangsbereich des Friesdorfer Supermarktes, die so weder in der Godesberger Innenstadt noch im Villenviertel hätte entstehen können. Auf die Unterschiede zwischen den Godesberger Stadtteilen und die Relevanz dieser Unterschiede komme ich später zurück. Hier ist zunächst festzuhalten, dass sie helfen, das Bild eines unordentlichen, unsicheren Bezirks zu diversifizieren und diskursive Dynamik mit materieller, gebauter Umwelt sowie darin verorteten Alltagspraktiken in eine Beziehung zu setzen. Die Kontrastierung von beidem nutzte ich vertieft durch lokalhistorische Quellen und die bereits erwähnten Zeitungsartikel dazu, eine Situationskartierung im Sinne Clarkes (2003, 87ff.) zu erarbeiten. Diese Kartierung diente mir dazu, Merkmale festzulegen, anhand derer ich meine Interviewpartner:innen auswählte. Leitfadengestützte, aber dennoch recht offen gehaltene Interviews bildeten den nächsten Erhebungsschritt. Ziel war es, meine Kartierung gastronomischer Orte mit Anwohner:innen-Perspektiven zu kontrastieren. Ich wählte deshalb Gesprächspartner:innen aus, die die Vielfalt der in der Si-
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tuationskartierung deutlich gewordenen Gruppen von Anwohner:innen widerspiegelten (zur Definition des Untersuchungsfeldes über das Merkmal ›Anwohner:in‹ s. Teilkap. 1.2). Diese Kartierung ergänzte ich laufend, sodass sich daraus letztendlich eine Akteur:innenübersicht in Bezug auf mein Forschungsinteresse ergab, die die Basis für das Teilkapitel 2.3 bildete. Bei den Interviews ließ ich mit der Aufforderung, eine Skizze von Bad Godesberg anzufertigen und Orte, an denen man essen kann, einzutragen, Karten zeichnen. Im Hintergrund standen die Zielsetzungen kritischer Kartografie (s. dazu FN 28 in diesem Kapitel), die hier darauf ausgerichtet waren, das Interview einerseits für Gesprächspartner:innen ohne langjährige Deutschkenntnisse31 zugänglicher zu machen sowie insgesamt den Gesprächsfluss zu befördern. Andererseits sollten die räumlichen Ordnungsvorstellungen des Stadtbezirks nicht ausschließlich vermittelt durch sprachliche Erläuterungen abgefragt werden (vgl. Götz und Holmén 2018; Gould und White 2002; Lynch 1960). Ich achtete darauf, die Interviews im Sinne des »unique adequacy requirement« (Garfinkel 1976, zit.n. Bergmann 1981, 16) nur in der Rahmung auf meine Erkenntnisinteressen und im Detail stärker auf die jeweiligen Interviewpartner:innen auszurichten, sodass verschiedene Teile des Leitfadens je nach Partner:in mehr oder weniger Raum einnahmen. Die Interviews unterschieden sich dadurch stark voneinander, gingen aber möglichst gut auf die Themen ein, zu denen der:die Partner:in jeweils am meisten zu sagen hatte32 . Beispielsweise sprach ich mit einem Vereinsangehörigen vor allem über das kulinarische Angebot auf Stadtfesten im Innenstadtbereich, mit einem jungen Mann, der seit einem Jahr in Deutschland im Asylverfahren war, hingegen mehr darüber, inwieweit Essen für ihn einen regionalen Bezug zu Sehnsuchtsorten einschloss. Die Kartierungen, die neben den Interviews entstanden, wurden eingescannt, die Interviews transkribiert und beides für die Auswertung durch mehrere Kodierdurchgänge aufbereitet. Außerdem protokollierte ich die Gesprächsumstände sowie meine Eindrücke der Interviews, wie beispielsweise hier:
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Insbesondere die Bitte um die Aufnahme des Interviews wirkte auf viele Nicht-Erstsprachler:innen zunächst einschüchternd. Die Bestätigung, dass das Deutschniveau keine Rolle spielt, war oft mehrfach nötig. Ich machte letztendlich gute Erfahrungen mit der Zeichnungsaufforderung als atmosphärischem ›Wellenbrecher‹. Außerdem erstellte ich für die Gesprächspartner:innen, deren Erstsprache nicht Deutsch war, eine Einwilligungserklärung in einfacher Sprache, um besser verständlich zu machen, was unterschrieben wurde und was der Zweck der Forschung war. Das Ziel sowohl der Karten als auch der Interviews war nicht deren Vergleichbarkeit, sondern situative Aussagekraft. Ich akzeptierte dementsprechend alle Reaktionen auf meine Zeichnungsaufforderung ohne ›Sanktionen‹ – einige Male wurden beispielsweise Kopien oder bestehende Karten hinzugezogen, in den meisten Fällen nicht, einmal wurde das Zeichnen aktiv abgelehnt.
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Am begrüßt freundlich, die Interviewsituation scheint er zu kennen, die Einwilligungserklärung unterschreibt er, ohne sie zu lesen und kommentiert, das verkomme zu Formsache, meine Erklärung dazu bestätigt er, insgesamt findet er es gut und notwendig, dass das gemacht wird. Das Kartenzeichnen regt ihn zu einem Erzählen über mehrere Minuten an, ohne dass ich etwas frage. Vereinsaktivitäten und Medizintourismus werden genannt. Insgesamt hat er eine sehr differenzierte Sicht auf Probleme Godesbergs, die Probleme, die er nennt, sind die zu erwartenden. Er unterscheidet stellenweise Medizintouristen von ansässigen Menschen, »die nur arabisch aussehen, aber schon immer hier wohnen«, letztendlich sind die Arcadia-Passagen und die Bonner Straße dann aber doch »arabisches Gebiet«. Spannend, mitzuerleben, wie innerhalb eines kurzen Gesprächs komplexitätsreduzierende Kategorien greifen und die zuvor differenziert beschriebene Lage vereinfachen. Städtebauliche Auswirkungen auf die beschriebene »Offenheit« mancher arabischer Lokale und derer in der Arcadia-Passage berücksichtigt er nicht bzw. nur in der positiven Variante (»da sind große Fenster, da kann man sehen, was drinnen passiert.«). Er unterscheidet »Godesberger« vs. »Araber« (im Zentrum), Zugezogene/Neureiche/obere Mittelschicht (Rüngsdorf, Plittersdorf) vs. Zugezogene/Migrationshintergund/Unterschicht (Pennenfeld, Lannesdorf). Mehlem, Muffendorf, Schweinheim bleiben für sich. Ebenso Heiderhof, »tote Gegend«. Interessante Zuspitzung: In den Wohngebieten wohnhaft werden differenzierte Kategorien mit Schichtzugehörigkeiten beschrieben, in Bezug auf die Kund:innen im Zentrum werden diese zu »Godesbergern« und »Arabern«. Außerdem spannend: Die ökologische Metaphorik in Bezug auf die Stadt und einzelne Stadtteile, immer wieder spricht er von belebt, pulsierend, tot, absterben etc. (FP 05.02.2019, Brill, Z. 5ff.) Auch wenn ich diese Protokolle anders als die Interviewtranskripte nicht zur Auswertung in den Kodierdurchläufen nutzte, wird hier deutlich, wie eng Reflexion, weitere Erhebungsschritte und Theoriearbeit zusammenhingen: Der Aspekt der ökologischen Metaphorik im ersten Interview beispielsweise führte zu einer stärkeren Rückbindung meines eingangs formulierten Forschungsinteresses an die sozialökologische Stadtsoziologie (s. Teilkap. 1.3).
Reflektierte Emotionalität im Feld Aus den frühen Interviews ergab sich für mich die Notwendigkeit, neben der Anpassung der Forschungsausrichtung an neue Erkenntnisse immer wieder meine eigene Rolle im Feld zu reflektieren. Ich saß hier nun Menschen gegenüber, die anders als bei ethnografischer (oder auch ausschließlich interviewbasierter) Forschung außerhalb des Lebensumfeldes des:der Forscher:in auf Deutungsmuster verwiesen, die nicht nur Teil ihres, sondern auch meines Alltags waren und sind. Zwar war ich (noch) keine Godesberger:in, dennoch berührten viele der Themen der Interviews
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Fragen, deren Beantwortung auf Aspekte verwies, die mir als Person eher vertraut waren denn als Forscherin: Religion, Arbeit, Nachbarschaftsleben etc. In den Interviews war ich stärker als mir bis dahin bekannt mit Einschätzungen konfrontiert, die zwar nah an meiner persönlichen Lebensrealität lagen, diese jedoch vollkommen anders bewerteten als ich selbst. Ich entschied mich dafür, für die Dauer der jeweiligen Interviews eine möglichst hohe Nähe zum:r Gesprächspartner:in zu vermitteln, um eine kommunikative anstelle einer konfrontativen Atmosphäre und situatives Verständnis für die jeweils geäußerte Position zu erreichen. Ich spreche bisher synonym von Interviews und Gesprächen, da diese Strategie dazu führte, dass ich im Gespräch weder als neutrale Beobachterin noch als ich selbst auftrat. Stattdessen wählte ich eine Rolle selektiven Engagements: Mit manchen Frauen sprach ich aus einer weiblichen Perspektive, mit einigen Diplomat:innen als gerne reisende Weltenbummlerin, mit einem jungen Geflüchteten als junge Person in der beruflichen Ausbildungsphase, mit einer Gemeindeangehörigen als protestantisch erzogen und mit vielen Vereinsangehörigen als zivilgesellschaftlich Engagierte. Meine Rolle war nie vollständig entkoppelt von und nie vollständig deckungsgleich mit meiner Alltagsidentität. Die Interaktionen in den Gesprächssituationen ergaben so zwangsläufig auch emotionale Regungen meinerseits, die ich im Verlauf der Forschung in zunehmendem Maße als analytischen Zugang mit einbezog. Notwendig wurde dies spätestens zu dem Zeitpunkt, als ich selbst zu einer Anwohnerin Godesbergs wurde. Anders als in ›klassischer‹ ethnografischer Feldforschung geschah mein Umzug ›ins Feld‹ Ende 2019 nicht mit einer klaren zeitlichen Begrenzung entsprechend den Erfordernissen der Forschung, sondern als Verschiebung meines persönlichen Lebensmittelpunktes auch über den Zeitraum der Forschung hinaus33 . Noch deutlicher als bisher zeigte sich, dass das Forschen im eigenen Lebensumfeld einen spezifischen Umgang mit persönlichen Meinungen, Gefühlen und interaktiven Reaktionen erfordert. Nun ist die Frage nach persönlichen Gefühlen und emotionalen Interaktionen in der Feldforschung ebenso alt wie die Entwicklung von teilnehmender Beobachtung als sozialwissenschaftlicher Methode selbst – ein prominentes Beispiel sind die schon erwähnten posthum veröffentlichten Tagebücher des Ethnografen Bronislaw Malinowski (1967). Darin zeigt sich, dass neben dem Einfühlungsvermögen, der Empathie und der Nähe zu Forschungsteilnehmenden ebenso starke negative Gefühle in Bezug auf das Feld auftreten können.
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Die Tatsache, dass es neben meiner Forschung ›zufällig‹ zu einer Reihe von WG-Gründungen in Bad Godesberg innerhalb meines sozialen Umfeldes – überwiegend Studienabsolvent:innen Ende 20 – kam, deute ich als Ausdruck eines städtischen Veränderungsprozesses, der vor allem mit dem Generationenwechsel in den eingemeindeten Dörfern rund um die Godesberger Innenstadt sowie mit steigenden Mietpreisen in Bonn selbst zusammenhängt.
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Statt sie aus der Forschung in ein Tagebuch auszulagern, scheint es mir transparenter und darüber hinaus auch produktiver, diese Ebene einzubeziehen und weder einseitig Momente der emotionalen Nähe noch der Distanz zum Feld auszublenden. Das gilt insbesondere für die Auswertung und Analyse erhobener Materialien, ebenso aber für das Auftreten im Feld. Ich hielt mich deshalb nicht nur in den Interviews, sondern auch in den darauffolgenden Phasen beobachtender Teilnahme an einen Hinweis der Malinowski-Schülerin Audrey Richards: The fieldworker of today is taught to be »neutral«, to show no emotion, and to express no views, but this is in fact very difficult for a participant observer. I myself sitting, in what I hoped was the conventional pose of poker-face, and blank psycho-analytical, shock-proof visage, was startled by an informant in an area where religious factions were political factions and political feelings ran high. My visitor suddenly shouted: »You! You say you are not a Protestant, not a Catholic and not a Muslim. There isn’t such a person!« and he stumped off. (1968, 189) Ich stellte ähnlich wie Richards fest, dass der Zugang zum Feld als Anwohnerin statt als ›objektive Dritte‹ mir Einsichten – gerade zum Thema alltagskultureller Praktiken – erlaubte, die meine forschende Perspektive zwar definierten, aber nicht behinderten. Dies galt sowohl in der Wahrnehmung von außen als auch für meine eigene Reflexion. So begegneten mir immer wieder Versuche, mich als Vertreterin der ›Wissenschaft‹ in lokalpolitische Vorhaben einzubinden, mich als jungen Menschen für die an alternden Mitgliedern leidende Vereinsarbeit einzubinden oder meine Forschungsarbeit als Zeichen der Bedeutsamkeit des Stadtbezirks hervorzuheben (vgl. Q Cornelius 2020; Q Wenzel 2019). An anderer Stelle nahm man mich als ›junges Mädchen‹ wahr, sodass mir die Welt erklärt wurde (was mir sehr gelegen kam). Hin und wieder wurde mir auch ein Nebenjob angeboten, wenn, so geäußert in einem informellen Gespräch, »du mal eine Auszeit von dem ganzen Schulkram willst« (was mich in meiner Professionalität kränkte). Umgekehrt stellte ich fest, dass meine persönlichen Wahrnehmungsgewohnheiten mindestens ebenso stark auf die erhobenen Daten einwirkten wie die Tatsache, dass ich als blonde, junge, meist freundliche Forscherin widerstreitenden Zuschreibungen (im Spektrum von ›einschüchternder Wissenschaftlerin‹ bis ›naivem Mädchen aus der Nachbarschaft‹) ausgesetzt war. So notierte ich beispielsweise beim Kartieren des Stadtteils Pennenfeld: »Endlich ein normaler Stadtteil«. Zuvor hatte ich das Godesberger Villenviertel kartiert und musste mich nun damit auseinandersetzen, weshalb sich dort eine vage Wut und beim Übergang nach Pennenfeld34 dann Erleichterung in mir breitgemacht hatte. Ich spürte in Bezug auf die baulich-atmosphärischen Unterschiede zwischen Villenviertel und Planbausiedlung eine Art »class resentment«
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Um den Stadtteil geht es genauer in Kap. 5.
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(Barbalet 1992), das weniger mit meiner Forschung denn mit mir als Person zu tun hatte. Im Protokoll hielt ich fest: Pennenfeld wirkt auf mich wie der Inbegriff des Durchschnitts. Einige freistehende Einfamilienhäuser, einige Reihenhäuser, Mehrfamilienhäuser, ein Plattenbau-Hochhaus, dazwischen Grünflächen und kleiner Einzelhandel. Neben dem Hochhaus findet man »Zum Steinofen«, geschmückt mit einer bunten Mischung aus (teils imitierten) türkischen, griechischen und italienischen Gegenständen. Die Betreiber sind freundlich, bitten mich aber, abends wiederzukommen, dann sei es viel schöner. (FP 19.12.2018, Brill, Z. 5ff.) Später, in der Reflexion, notierte ich: Pennenfeld wirkt auf mich bisher wie der »normalste« Stadtteil Godesbergs – und erinnert mich stark an Bilderstöckchen (Anm.: Der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin). Entweder empfinde ich diese Art von Wohngegend also als normal, weil sie das für mich ist, oder sie bildet tatsächlich eine Art ›Durchschnitt‹ ab. Was wahrscheinlicher ist, ist für mich schwer zu beurteilen. Interessant ist, dass ich von Pennenfeld als neuer ›Problemzone‹ gehört habe. Wenn es darum geht, fällt es mir schwer, persönliche Erfahrungen mit Stadtteilstigmatisierung auszublenden. Ich fühle mich mit angegriffen, wenn Menschen von außen über Stadtteile urteilen, die sie kaum kennen, auf mich wirkt das weltfremd bis arrogant (gefestigt durch die immer wiederkehrende erstaunte Nachfrage aus meinem persönlichen Umfeld: »Was? Du kommst aus Bilderstöckchen?«, was für mich klingt, als erwarte man dort alles außer ›normalen Menschen‹). (RP 19.12.2018, Brill, Z. 15ff.) Die Reflexion meiner persönlichen, emotionalen Regungen machte mich darauf aufmerksam, dass ästhetische, materielle und bauliche Gegebenheiten in ihrer orientierenden Rolle nicht zu unterschätzen sind. Wenn selbst ich als mit institutioneller Legitimierung ausgestattete Forscherin mich im Villenviertel eines gewissen Unwohlseins nicht erwehren konnte, wie sollte man dann erwarten, dass der Stadtteil von (nicht in Villen lebenden) Tourist:innen frequentiert würde (was im Bezirk problematisiert wird, da der Weg vom Bahnhof zur Gastronomie am Rheinufer durch das Villenviertel führt und die Rheinpromenade als touristisch schlecht genutzt gilt)? Ebenso unwahrscheinlich wird es aus dieser Perspektive, dass ein:e Bewohner:in des Villenviertels die etwa fünfzehn Gehminuten entfernte Pizzeria im Pennenfelder Hochhaus aufsucht.
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Materialkorpus und Aufbau der Analyse So legte ich den Fokus im ersten Auswertungsschritt der Interviewmaterialien und Protokolle darauf, Nutzungspräferenzen und Bewegungsprofile in Bezug auf esskulturelle Orte ausfindig zu machen, um diese in eine Beziehung mit materiellräumlichen Aspekten35 setzen zu können. Die Ergebnisse dienten mir zur Typisierung von Anwohner:innengruppen abhängig von ihrem Nutzungsverhalten der Godesberger Gastronomie und werden in Teilkapitel 2.3 vorgestellt. Neben der Kodierung erarbeitete ich eine Karte der Nutzungspräferenzen36 , die mir zur Auswahl von gastronomischen Betrieben diente, an denen ich längere teilnehmende Beobachtungen durchführen wollte. Ich wählte dafür einerseits temporäre Orte esskultureller Situationen aus, andererseits konstante Orte, also vor allem Restaurants und Imbisse (zur Unterscheidung verschiedener Typen von esskulturellen Situationen in Bad Godesberg s. Teilkap. 2.2). Entscheidend für die Auswahl war das Ziel, Orte der Überschneidung verschiedener Bewegungsprofile ausfindig zu machen und diese mit Orten eher homogener Nutzung zu kontrastieren. Wichtig schien mir dabei, die Merkmale ›homogener‹ und ›heterogener‹ Nutzung aus dem empirischen Material zu erarbeiten und nicht (wie in Teilkap. 1.2 ausführlich erläutert) vorempirisch festzulegen. Deshalb war der Schritt der Kartierung und Typisierung eine entscheidende Vorbereitung der Auswahl der Orte für längere Detailbeobachtungen. Ab März 2019 sprach ich mit einzelnen gastronomischen Betrieben ab, dass entweder die Hilfskräfte des Forschungsprojektes oder ich für mehrstündige Beobachtungen an verschiedenen Tagen und zu unterschiedlichen Uhrzeiten anwesend sein würden. Wir nutzten einheitliche Beobachtungsprotokolle mit festgelegten Kategorien, die dennoch Freiheit in der Ausformulierung der Beobachtungen erlaubten. Die beobachtende Teilnahme wechselnder Beobachter:innen im gleichen Kontext zeigte sich als sehr ertragreich, vor allem in Bezug auf Interaktionen auf verschiedenen Sprachen, von denen mir solche auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch zugänglich waren, für Baydaa Layla und Khaled Ali außerdem auf Arabisch. Die Beobachtungsprotokolle verwendete ich in gleicher Weise wie die bisherigen Materialien zur Kodierung und tiefergehenden Analyse. Darüber hinaus besuchte ich weiterhin kulinarisch ausgerichtete Veranstaltungen in der Innenstadt
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Ich fasse räumliche und materielle Aspekte hier zusammen, da ich damit das allgemeine Interesse an räumlicher (statt zeitlicher) Ordnung ausdrücken möchte. Gemeint sind also Anordnungen von Gegenständen, ebenso wie von Straßenzügen, Gebäuden etc. Für die Organisation des Datenmaterials sowie die Kodierung nutzte ich Atlas.ti. Ebenfalls zum Einsatz kam die Datenbanksoftware FileMaker sowie das geografische Informationssystem QGIS. Mit QGIS habe ich, sofern nicht anders angegeben, alle Karten erstellt, die in den folgenden Kapiteln abgebildet sind. Basis sind die Kartendaten der freien Weltkarte OpenStreetMap (URL: openstreetmap.org/copyright, zuletzt aufgerufen am 17.01.2023)
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und auch in anderen Stadtteilen und nahm über mehrere Monate an zwei regelmäßig stattfindenden Kochtreffs unterschiedlicher Kontexte teil. Insgesamt ergab sich ein Materialkorpus aus über 50 Feldprotokollen (FP) und 24 Interviewtranskripten inklusive handgezeichneten Karten, die ich zur systematischen Auswertung nutzte. Ergänzend nutzte ich Fotografien, einige Videos, die bereits erwähnte Datenbank mit über 200 Zeitungsartikeln sowie knapp 40 Memos, die ich hier als Reflexionsprotokolle (RP) bezeichne. Zur Übersicht findet sich im Anhang eine Liste der Erhebungsschritte und der sich daraus ergebenden Materialien, die zur Kodierung genutzt wurden. Die Auswertung erfolgte im Wechselspiel mit den Erhebungsschritten.37 In zwei Kodierdurchgängen entstand die oben genannte Typologie von Nutzungsgruppen. Dazu kodierte ich alle Interviews zunächst offen mit Attributen zur selbst- und fremdbeobachteten Nutzung öffentlicher Essorte der Interviewpartner:innen (z.B. zum Thema zeitliche Nutzung, Qualitätsmerkmale oder Stabilitätseinschätzung). Daraus erarbeite ich in einem zweiten Durchgang vier Nutzungsgruppen (s. Teilkap. 2.3). In einem dritten Kodierdurchgang aller Materialien erarbeitete ich eine Grundstruktur, in der ich zwischen allgemeinen Informationen, Kodes zu Nutzungspraktiken, zu Präferenzen von Nutzungsgruppen und zu alltagskulturellen Sinnkonstruktionen unterschied. Aus den Ergebnissen dieser Kodierdurchläufe legte ich ein Kodeschema fest, indem ich die bestehenden Kodes clusterte und diese Cluster dann den Leitfragen zuordnete. Ich nutzte die Kode-Cluster schließlich jeweils für einen finalen Kodierdurchlauf, indem ich alle Feldprotokolle (und direkt damit verbundene Interviews) in Bezug auf Praktiken mit den bestehenden Kategorien der Cluster neu kodierte. Alle Kartenzeichnungen und die damit verbundenen Interviews kodierte ich mit den auf Repräsentationen bezogenen Kategorien erneut. So ergab sich die Aufteilung der analytischen Ergebnisse in drei empirische Kapitel, in denen ich das ethnografische Material anhand von exemplarischen Fallstudien, aber auf Basis des gesamten Materialkorpus vorstelle: Kapitel 3 und 4 beziehen sich auf die erste, praxisfokussierte, Kapitel 5 auf die zweite, repräsentationsfokussierte Ebene. Durch die gegenseitige Befruchtung von Feldphasen und konzeptueller Arbeit ergab sich insgesamt eine Konkretisierung der Leitfragen. Ordnungsvorstellungen und die entsprechenden Zuordnungen von esskulturellen Praktiken und Repräsentationen einerseits zu Orten, andererseits aber auch zu Individuen und Gruppen rückten in den Fokus. Es zeigte sich, dass Konkurrenz und Wandel von Ordnungsvorstellungen alltagskultureller Praktiken in Bad Godesberg sich rückblickend nicht
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In der Phase des offenen Kodierens der ersten empirischen Materialien werden in der Grounded Theory Kontrastfälle für eine höhere Variation für die weitere Erhebung ausgewählt; im zweiten, axialen Kodiervorgang werden Zusammenhänge überprüft; und im dritten, selektiven Kodierschritt werden Lücken geschlossen, also einzelne, stützende Fälle für die Detailanalyse relevanter Bereiche erhoben (s. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, 212).
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unabhängig von der Ortsgeschichte und gegenwärtig nicht unabhängig von Prozessen der Stadtentwicklung betrachten lassen. Außerdem machte mich die Reflexion meiner persönlichen, emotionalen Regungen im Feld darauf aufmerksam, dass ästhetische, materielle und bauliche Gegebenheiten in ihrer orientierenden Rolle nicht zu unterschätzen sind und Nutzungspräferenzen und Bewegungsprofile in Bezug auf esskulturelle Orte mitbestimmen. Zur Situierung Bad Godesbergs und seiner historisch und aktuell diversen Zusammensetzung (im Sinne von structural configurations, s. Teilkap. 1.3) komme ich deshalb im nächsten Kapitel. Die besondere Diversität Bad Godesbergs konkretisiert die Leitfragen für die Fallstudien weiter: Unter der Bedingung von großen Differenzen in alltagskulturellen Praktiken werden Spannungen mit dem Bild eines reibungslosen Ablaufes von Situationen im städtischen Zusammenleben erwartbar. In Kapitel 3 wende ich mich deshalb dem Spannungsverhältnis zwischen Diversität und dem praxistheoretischen Fokus auf routinierten Praktiken zu, in Kapitel 4 dem zwischen Diversität und der Handhabung von Kopräsenz in der öffentlichen Ordnung, in Kapitel 5 dann den Spannungen zwischen Diversität und Repräsentationen der Zugehörigkeit. Im sechsten Kapitel komme ich so zu einer Zusammenführung der Bedeutung von esskulturellen Praktiken sowie Repräsentationen in Bezug auf lokale Ordnungen in einem diversen Stadtbezirk.
Situierung der Forschung Im Sinne der transparenten Situierung meiner Forschungsarbeit wie Adele Clarke sie fordert (s.o.) sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Forschung in einen Projektund Veranstaltungszusammenhang eingebunden war. Neben der Feldforschung organisierte ich Veranstaltungen, nahm Stellung in Zeitungsberichten (vgl. Q Cornelius 2020; Q Wenzel 2019)38 und tauschte mich mit anderen Projektbeteiligten aus. Nimmt man räumliche Ordnungen ernst, ist es nicht verwunderlich, dass diese Aktivitäten direkte Wechselwirkungen auch im Feld erzeugten: Zwischen meinem Büro und dem Feld lagen schließlich nicht mehr als sechs U-Bahn-Stationen. Die Nähe von Forschungsstandpunkt und -feld birgt die Gefahr einer Vermischung von Ebe-
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Neben anerkennenden Rückmeldungen durch Anwohner:innen in zahlreichen Anrufen und Mails und Freude über die dem Bezirk zuteil werdende wissenschaftliche Aufmerksamkeit hatten diese Zeitungsberichte auch kritische Anmerkungen zur Folge – beispielsweise den ernst zu nehmenden Hinweis, dass es schön wäre, »einen praktischen Nutzen öffentlich finanzierter Forschung für Steuerzahler in Bad Godesberg zu erhalten« (so an mich herangetragen in einer Mail vom 29.01.2020). Ich bemühte mich, solche Anregungen als Irritation meines Forschungsalltags zu nutzen und gleichzeitig, in den Antworten ein möglichst realistisches Bild der Möglichkeiten und Grenzen qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung zu vermitteln.
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nen, kann aber auch (ähnlich wie die analytische Reflexion emotionaler Regungen) einen privilegierten Zugang ergeben. Beispielsweise konnte ich erste Analyseergebnisse mit Anwohner:innen Bad Godesbergs bei zwei Diskussionsveranstaltungen (einer in der Universität am 15.01.2020 sowie einer im Feld am 22.01.2020) diskutieren und gewann daraus kritische Rückmeldungen und neue Interviewpartner:innen. Ich besprach Erlebnisse als neue Anwohnerin mit dem ebenfalls ins Feld gezogenen Betreuer dieser Studie und konnte so meine Perspektive mit der eines zugezogenen Bewohners des Villenviertels kontrastieren. All diese kritischen Reaktionen dienten mir immer wieder als Irritation meines eigenen Forschungsalltags und machten mich auf einzubeziehende Perspektiven aufmerksam. Nicht zuletzt konnte ich meine Thesen in Lehrforschungsprojekten überprüfen, so beispielsweise durch einen Rundgang mit Studierenden, der auf das Thema Gentrifizierung ausgerichtet war. Ich bat die Studierenden, die zu großen Teilen zum ersten Mal in Bad Godesberg waren, um eine Verschriftlichung ihrer Eindrücke, wie hier: Die Straßenführung um den Bahnhof, Richtung Kurpark, wirkt chaotisch und unsortiert. […] Der Kurpark wirkt hingegen ordentlich und gepflegt. Erstaunt war ich, dass im Trinkpavillon Mitarbeiter waren, mitten am Tag unter der Woche. […] Hier scheint sich wer zu kümmern. Vermutlich ehrenamtlich. Auch lag Heimatliteratur aus. Es ist ein Interesse vorhanden an Bad Godesberg. Es erinnert mich vage an die (Ideal-)Vorstellungen dörflicher Gemeinschaften. Die Materialität scheint dem zu widersprechen. Alle Häuser, von denen es durchaus verschiedene Arten gibt, wirken zumindest in einem gleich: Sie sind städtisch. Egal ob altes Fachwerkhaus oder der mit Passagen durchlöcherte und mit Schaufenstern gekleidete Wulst im ›Stadtzentrum‹. Dieser letztere hinterlässt zudem einen Eindruck, den Kurorte oder auch Ferienorte schon des Öfteren auf mich hatten: Künstlichkeit. Nicht als rein negativ. Sondern eher im Sinne eines mit Willen durchgeführten Gesamtplanes, mit Konzept. Auch das gehobenere Wohnviertel, in welchem viele alte Diplomatenvillen stehen, wirkt – trotz der im Vergleich zu den bisherigen Gebäuden großen Unterschiede im Stil – in einem spezifischen Sinn städtisch: Viele Häuser haben Einkaufsläden oder Restaurants im Erdgeschoss, alle haben eine nach vorne, zur Straße hin ausgerichtete (repräsentative) Fassade. Es sind Stadtvillen. Am Kreisel und am Bahnübergang, wo die ominöse ›Schwelle‹ Godesbergs sein soll, spüre ich gerade die nicht. Insgesamt leuchtet die Zwei-Welten-Idee (Anm.: s. dazu Teilkap. 2.1) nicht so recht ein – zumindest nicht in der gegebenen Selektion der Orte, die wir besucht haben. Es gibt vielleicht viele ausländische Restaurants und andere Läden, aber unmittelbare daneben auch konventionelle. Es scheint im Zentrum keine oder nur wenig Segregation der Ge-
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schäfte zu geben. Mir fällt eher eine andere Spaltung ins Auge: Zwischen der »städtischen« materiellen Gestaltung und dem scheinbar eher »dörflichen« Engagement der Godesberger. (FP 23.04.2019, anonyme:r Studierende:r, Z. 207ff.) Meinen eigenen Analyseergebnissen entsprechend lässt sich hier herauslesen, dass das diskursive Bild eines unsicheren, unordentlichen oder auch ›geteilten Godesbergs‹ zwar stets einen diskursiven Referenzpunkt in der Betrachtung des Stadtbezirks bietet (in enger Nähe zu den oben beschriebenen Sorgen um Sicherheit und Ordnung im Bezirk), jedoch nicht direkt durch konkretes Erleben gefüllt wird. Zur Situierung ist dieses Bild entscheidend, weshalb ich es im folgenden Teilkapitel tiefergehend einführen möchte. Ich vollziehe damit einen Prozess nach, den ich selbst in der Forschung durchlaufen habe: Zunächst beschäftigte ich mich eingehend mit dem diskursiven Bild Godesbergs, und stand dann ähnlich wie die:der oben zitierte Student:in vor der Schwierigkeit, dass ich dieses Bild in der empirischen Erhebung nicht bestätigt sah. Ich bezog schließlich das diskursive Bild lediglich als einen von vielen Aspekten der Rahmung alltäglicher Praktiken im Stadtbezirk in die Analyse mit ein.
2. Städtische Alltäglichkeiten in Bad Godesberg
Der Stadtbezirk Bad Godesberg wurde bereits als die geografische und administrative Einheit benannt, innerhalb deren Grenzen ich mich den Forschungsfragen der Studie zuwende. Einige Aspekte der »configurations« (Vertovec 2015, 15) des Bezirks sind schon angeklungen: Es bestehen große sozialstrukturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Anwohner:innengruppen, der Bezirk liegt geografisch in der doppelten Peripherie Bonns und Nordrhein-Westfalens und hat mit der Eingemeindung nach Bonn und dem Hauptstadtumzug nach Berlin in kurzer Zeit zwei einschneidende Statusveränderungen erlebt. Die diskursive Darstellung Godesbergs ist sowohl in der Außendarstellung als auch in Diskussionen innerhalb des Bezirks umkämpft und stark polarisiert. Im Sinne einer ethnografischen Vorstellung dieser Hintergründe wende ich mich im folgenden Kapitel der materiellen und diskursiven Verfassung des Bezirks und dessen Esskultur zu. Dafür stelle ich den Sozialraum Bad Godesberg zunächst genauer vor (2.1). Von einem ›Sozialraum‹ spreche ich, um das sozialökologische Grundverständnis der Verknüpfung räumlicher und sozialer Beziehungen in Anlehnung an die Chicago School (und damit auch an Simmel, insb. 1995b [1903], s. auch Teilkap. 1.3) zu betonen. In Bezug auf Bad Godesberg bedeutet dies, dass ich mich dem Bezirk nicht aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive annähere, sondern als Ethnografin. Die Bestandteile der lokalhistorischen Erzählungen, die ich thematisiere, sind also nach ihrer Relevanz für gegenwärtige Anwohner:innen ausgesucht. Im zweiten Teilkapitel (2.2) werden die unterschiedlichen Schauplätze esskultureller Praktiken und Interaktionen im Bezirk vorgestellt, ob zu einmaligen und regelmäßigen Anlässen oder in der kommerziellen Gastronomie. In 2.3 wende ich mich vier Nutzer:innengruppen dieser kulinarischen Landschaft Bad Godesbergs zu. Abschließend gehe ich in einem kurzen Exkurs zur Corona-Pandemie auf die besonderen Einflüsse gesamtgesellschaftlicher Krisen auf die Gastronomie und esskulturelle Praktiken im Bezirk ein (2.4).
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2.1 Sozialraum Bad Godesberg Godesberg heißt Godesberg, weil die heutige Altstadt des Bezirks um eine kleine vulkanische Erhebung angesiedelt ist, die schon ubische German:innen nutzten, um der Gottheit Wodan (oder auch Godan) zu huldigen. Auf dem Hügel wurde nach der römischen Eroberung eine der ersten christlichen Kirchen der Gegend erbaut. Über ein Jahrtausend später folgte dann 1210 der Bau der Godesburg, die von dort an stetig erweitert wurde (s. Dick 1830, 7ff.). In der historischen Beschreibung des Godesberger Lehrers Lambert Dick fällt auf, dass sich schon früh das Bild entwickelte, Godesberg sei ein besonders anziehender Ort für kurzzeitige Gäste und längerfristig Zuziehende. Dick schreibt: »Vielleicht mochte sich schon damals durch den geweihten Berg, so wie durch die schöne Lage angezogen und gelockt, an dem Fuße desselben einzelne Ubier ansiedlen, […]« (ebd., 6). Amtlichen Ausdruck erhielt dieses Bild durch die Ernennung Godesbergs zum ›Bad‹ im Jahr 1926 (s. Strack 1990, 10). Dem voraus ging die Initiative des Kölner Kurfürsten Maximilian Franz, der den Ort Ende des 18. Jahrhunderts zum Kurort ausbaute. Es entstanden ein Ballsaal (die Redoute), ein Theater, Brunnen- und Badeanlagen, Logierhäuser, Restaurants und nicht zuletzt eine Spielbank. Diese wurde 1818 mit Gründung der Universität Bonn wieder geschlossen, zum Schutz der Studenten, die stattdessen die Godesberger Gaststätten frequentierten. Noch heute bekannt im Bezirk ist beispielsweise das Lokal der Wirtin Ännchen Schumacher. Sie betrieb Ende des 19. Jahrhunderts die Gaststätte am Fuß des Godesbergs, wo sich verfeindete Burschenschaften begegneten. Berühmt ist das seit 2015 leer stehende »Ännchen« deshalb für den »Godesberger Burgfrieden« rheinischer Studenten (s. Q Köhl 2018).
Vom Kurort zum Diplomat:innenviertel Neben den Studenten der nahen Universität zog der Kurort Godesberg als Sommersitz wohlhabende Pensionär:innen an – nicht zuletzt auch deshalb, weil er durch die linksrheinische Eisenbahnanbindung nach Köln und zu anderen Großstädten als gut erreichbar, durch die Kureinrichtungen und die gezielte Ansiedelung ausschließlich »rauchloser Industrie« (Strack 1990, 9) aber dennoch als ruhig und erholsam galt. Zwischen 1800 und 1900 kamen nicht nur viele Kurgäste in den Ort, es vervielfältigte sich auch die Einwohner:innenzahl Godesbergs sowie der umliegenden Dörfer Friesdorf, Mehlem, Rüngsdorf, Plittersdorf, Muffendorf, Schweinheim und Lannesdorf mehrfach. Ergebnis war unter anderem die Entstehung des ersten Villenviertels rund um die Godesburg sowie des zweiten, heute noch so bezeichneten Stadtteils des Villenviertels östlich davon zwischen der nach wie vor bestehenden Bahnlinie und dem Rheinufer (s. ebd.). Der Bonner Professor Herbert Strack (ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied des Godesberger Vereins für Heimatpflege und Heimatgeschichte) beschreibt die beiden entstehenden Villenviertel als »Pensiono-
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polis« (ebd.) – ein treffender Begriff, auf den ich in Teilkapitel 2.3 zurückkommen werde. Am 1. Juli 1935 erhielt Bad Godesberg schließlich Stadtrechte. Zuvor waren die sieben Dörfer teils im Einvernehmen, teils gegen Widerstände eingemeindet worden. Nun unter den Bedingungen der NS-Zeit wurde Godesberg erneut zum Ziel wohlhabender Eliten. Die lokalhistorischen Arbeiten Stracks und anderer halten sich kurz, wenn es um die Verflechtungen der jungen Stadt mit dem NS-Regime geht. Bekannt ist jedoch, dass Godesberg »den Ruf eines Lieblingsaufenthaltsortes von Adolf Hitler, der oft im »Rheinhotel Dreesen« abstieg«, erlangte (ebd., 10) und deshalb 1938 die Konferenz Hitlers mit Chamberlain in eben diesem Hotel stattfand. Später fungierte das durch die SS beschlagnahmte Hotel als Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald, in der knapp über 100 »Angehörige des diplomatischen wie des konsularischen Corps« (Schloßmacher 2007, 235) teils mit Familie laut dem ekuadorischen Zeitzeugen C. de Avecedo in einer Art »goldenem Käfig« (zit.n. Schloßmacher 2007, 235) inhaftiert waren. Heute ist das Hotel nach wie vor im Familienbesitz Dreesen und bietet einen der wenigen gastronomischen Betriebe am Godesberger Rheinufer an. Die Inhaftierung prominenter internationaler Häftlinge wie der Schwester des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle soll dazu gedient haben »nicht nur für das Hotel sondern auch für die gesamte Stadt Bad Godesberg einen gewissen Schutz vor alliierten Bombenangriffen« (ebd., 253) zu erreichen. Tatsächlich wurde die Stadt im Verlauf des Zweiten Weltkriegs selten Ziel alliierter Bombardements, obwohl sie mit 30.000 Einwohner:innen zu den größeren Orten in der Region gehörte. Am 8. März 1945 wurde Godesberg so nahezu unzerstört den US-Truppen übergeben (s. ebd., 235). Das Hotel Dreesen wurde zum Quartier wechselnder Truppen der Alliierten und nahm schließlich Geflüchtete und Vertriebene auf. 1949 mussten diese umziehen, um Platz für die französische Hochkommission zu machen. Während die britische Hochkommission in Köln ihren Sitz nahm, zog die amerikanische Kommission bald von Frankfurt ebenfalls nach Bad Godesberg in eine dafür neu gebaute Wohnanlage in Plittersdorf inklusive Kirche, Kindergärten, Schulen und weiterer Infrastruktur nach US-amerikanischem Vorbild. Heute beschäftigt die Zukunft des Wohnviertels nicht nur einen gemeinnützigen Verein (»Rettet die amerikanische Siedlung Plittersdorf e.V.«), sondern auch viele Anwohner:innen. Die genauen historischen Hintergründe sind dabei nicht immer klar, umso mehr sind Kindheitserinnerungen älterer Bewohner:innen Godesbergs mit dem Viertel verbunden, wie dieser Gesprächsausschnitt mit einer gebürtigen Godesbergerin zeigt. Sie kennt den Namen der Siedlung – HICOG (für High Commissioner of Germany) – ohne ihn genau einordnen zu können und weiß ebenfalls um die aktuellen Probleme der dortigen Bewohner:innen:
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Yf: »Und da ist ja auch noch die Hickhock-Siedlung, die ja inzwischen schon unter Denkmalschutz steht. Die gleiche Siedlung wurde nochmal eins zu eins in Tannenbusch gebaut […]. Das ist also nach den amerikanischen Baustilen damals gebaut worden, Hickhock war ja ein Amerikaner. Also was ganz Modernes, in dem Sinne was ganz Modernes. Aber heute eben total überholt, weil da leider nie saniert worden ist. Die haben erheblichen Sanierungsstau in der Hickhock und das ist das Problem.« (Interview 24, Z. 246ff.)
Das Zitat deutet darauf hin, wie eng sich die Verbindung des persönlichen Alltags, der Stadtentwicklung und der politischen Ereignisse der Nachkriegszeit in Godesberg gestalteten. Die Tatsache, dass der Baubestand gerade in den Villenvierteln gut (und deutlich besser als in Bonn) erhalten war, führte dazu, dass sich hier in den Jahren ab der Wahl Bonns zur Bundeshauptstadt 1949 knapp 100 diplomatische Kanzleien ansiedelten. Ein Großteil der über 10.000 Diplomat:innen Bonns lebte und arbeitete also in den 1950er und 1960er Jahren in Bad Godesberg. Die kurfürstlichen Bauten wurden außerdem für Staatsempfänge und ähnliches genutzt (s. Wenzel 2010, 6). Das alte Bild vom Anzugspunkt für Reiche und Mächtige setzt sich in die Zeit der Bonner Republik fort: Was Versailles für Paris sei, sei Godesberg für Bonn, so wird der französische Botschafter Francois Seydoux de Clausonne im Botschaftsreiseführer Michael Wenzels zitiert (s. ebd.). Infolge der Ausrichtung der lokalen Infrastruktur auf Kurgäste in der Kaiserzeit wurde Godesberg schon früh zum Treffpunkt nationaler und internationaler Eliten. Zwei Tendenzen fallen besonders ins Auge. Einerseits ist Godesberg seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger konstant von einem Phänomen betroffen, das andere Orte dieser Größe eher modehaft und damit für kürzere Zeitabschnitte beeinflusst: dem Tourismus, auch in der spezifischen Form der Einrichtung von Zweitwohnsitzen wie im Falle der Sommerresidenzen besonders wohlhabender Gäste. In Godesberg treffen immer schon Tourist:innen, zeitweise dort Wohnhafte und generationenweise dort wohnende Familien aufeinander. Andererseits zieht sich auch die besondere Altersstruktur durch die Geschichte des Ortes. Nicht nur zu Zeiten der Universitätsgründung in Bonn wurde die Godesberger Altstadt vor allem von jungen (studierenden) und alten (pensionierten) Menschen genutzt. Die Fortsetzung zeigt sich heute darin, dass in Godesberg sowohl überdurchschnittlich viele Bildungseinrichtungen, einige mit angeschlossenen Internaten, als auch auf Senior:innen ausgerichtete Wohnformen liegen. Sowohl Internate als auch Senior:innenwohnheime haben mit dem (Kur-)Tourismus insofern Überschneidungspunkte, als dass auch diese Bereiche auf residenzielles Wohnen ausgerichtet sind. In der Tourismusforschung wird zwischen residenzieller Mobilität (»Ortswechsel mit der Intention der Niederlassung«) und zirkulärer Mobilität (»Ortswechsel mit der Intention der Rückkehr«) unterschieden (Spode 2017, 26f.). Diese Unterschei-
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dung greift hier nicht ganz, da für derart hypermobile Gruppen wie Diplomat:innen und jährlich verreisende Kurgäste (und zwangsläufig auch für Kriegsgefangene) der Lebensverlauf nicht von vielen kurzen Reisen und wenigen langfristigen Umzügen geprägt ist, sondern stattdessen von einer Art von Mobilität, die dazwischen liegt. Damit wird auch die Definition von touristischen Aufenthalten als außeralltäglich aufgeweicht: In einem Kurort ist der Umgang mit Gästen Alltag, ebenso wie für Diplomat:innen das Reisen und Umziehen zum Alltag gehört. Dennoch ist der Begriff der residenziellen Mobilität aufschlussreich für die lokalhistorischen Hintergründe Bad Godesbergs. Außergewöhnlich für den Ort ist, dass über mehrere Jahrhunderte residenzielle, also weder vollständig konstante noch völlig temporäre Wohnformen im Zentrum bestimmend und in den umliegenden, ehemaligen Dörfern zumindest präsent waren und sind. Für eine Kleinstadt von der Größe Bad Godesbergs ist dies unüblich. Das häufig bediente Bild von der Enge und Bescheidenheit der Zeit der Bonner Republik erhielt in der Kombination mit dem positiv konnotierten Bild Bad Godesbergs eine Abwandlung: Hier wurde mit deutlich positiverem Vokabular von einer Atmosphäre der persönlichen Vertrautheit, Nähe und Direktheit gesprochen. Verständlich wird dies, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Bad Godesberg in der Nachkriegszeit nur in begrenztem Maße nationale politische und wirtschaftliche Eliten in »piefige Privatbauten« (Q Kolakowski 2009) wie den schlichten Bonner Kanzlerbungalow einzogen und in weit größeren Anteilen internationale Vertreter:innen in äußerst repräsentativen Bauten Einzug hielten. Die Etablierung von Bad Godesberg als diplomatisch ausgerichteter Nachbarstadt der neuen Hauptstadt führte zu einem erneuten Bauboom. Statt neuer Residenzen rückte dabei aber vor allem die öffentliche Infrastruktur in den Vordergrund. Die politischen Repräsentant:innen brauchten nun nicht nur Wohnraum und erholsame Parks, sondern einen Angestelltenapparat und schnelle Verkehrswege. Inwieweit sich lokale Anwohner:innen (vor allem Kartoffelbäuer:innen mit landwirtschaftlich genutztem Besitz zum Rheinufer hin) von den Neubauten für die Kurgäste zur Kaiserzeit beeinflusst sahen, lässt sich heute schwer nachvollziehen. Umso dichter ist die Quellenlage, wenn es um den zweiten Umbau Bad Godesbergs geht – bis heute speisen sich daraus vor Ort engagierte Skepsis bis hin zu offener Ablehnung gegenüber Städteplaner:innen und der Stadtverwaltung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dieser Umbau Godesbergs den Zeitabschnitt in der Lokalgeschichte markiert, der von den ältesten Generationen der Anwohner:innen in großen Teilen noch miterlebt wurde und mit entsprechenden persönlichen Meinungen und Erinnerungen verbunden ist. 1964 wurde der Bau der Plansiedlung Heiderhof (eines der sogenannten »Demonstrativbauvorhaben des Bundesministeriums für Wohnungswesen und Städtebau«, s. Thünker 1969) im Westen der Stadt in Angriff genommen, um Wohnraum für zuziehende Bundesbedienstete zu schaffen. Die neuen Wohnungen dienten
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auch dazu, die angespannte Wohnungslage in Godesberg selbst zu entlasten, denn durch das zweite große Bauvorhaben, die Altstadtsanierung, verschwand dortiger Wohnraum. Die Altstadt, bis dahin noch hauptsächlich bestehend aus kleinen Fachwerkbauten und in Bezug auf die ehemaligen bäuerlichen Anwohner:innen auch Knolleveedel (Kartoffelviertel) genannt, wurde im Zuge der Sanierung fast vollständig abgerissen (s. Strack 1990,11). Es entstand das Altstadtcenter, eines der weniger populären Bauten des Architekten Gottfried Böhm.1 Der Abriss und Neubau des Zentrums geschah innerhalb von knapp zwanzig Jahren und wurde im Vergleich zu anderen Innenstadtsanierungen schnell durchgeführt. Entscheidend war das Anliegen, eine mehrspurige Verbindungsstraße aus Godesberg hinaus in das Umland zu schaffen (die Burgstraße, s. Abb. 1), wo mehr Wohnraumkapazitäten verfügbar waren. Das Altstadtcenter, ein Gebäudekomplex aus roten Klinkersteinen, ersetzte mit mehreren Ebenen und Passagen die ehemaligen Gassen. Die Godesburg wurde durch einen Anbau ergänzt, der aufgrund seiner massiven, unverputzten Bauweise rund um die Burgruine den Spitznamen »Betonkräjelchen« (kleiner Betonkragen) erhielt (Strack 1990, 11f.). Ein Anwohner, der den Umbau miterlebt hat, beschreibt, wie historische Bauten wie das oben bereits erwähnte Lokal »Ännchen« durch die Sanierung umgesetzt wurden. Seiner Einschätzung nach verlor die Innenstadt damit ihre »Seele«: Am: »Man hätte es anders lösen können, aber damals war viel mit Abriss. Auch die Häuser, die Sie gegenüber vom Ännchen sehen – das war vorher ein Viertel, ich glaube, das hieß Knolleviertel. Das wurde dann alles abgerissen, war seelenlos. Zum Teil wurde das da bei dem McDonalds an der Ecke wieder aufgebaut, aber es lebt nicht so richtig.« (Interview 01, Z. 329ff.) Viele Anwohner:innen äußern heute noch ihr Unverständnis in Bezug auf die damaligen Baumaßnahmen. Auch über Godesberg hinaus gilt die Altstadtsanierung in Kombination mit der Errichtung der Plansiedlungen Heiderhof und Plittersdorf als ein emblematisches Beispiel für die städtebaulichen Eigenheiten der 1960er Jahre, die sich durch den hohen Wohnraumbedarf und die funktionalistische Ausrichtung auf die autogerechte Stadt auszeichnen (s. auch Teilkap. 1.3). Das Bild vom schönen, idyllischen Bad Godesberg erhielt durch die Altstadtsanierung eine erste Abwandlung. Immer wieder werden auch überregional ebenjene Baumaßnahmen genannt, wenn generelle Kritik an der Nachkriegsarchitektur geäußert wird. So wird 1
Nicht nur viele Godesberger Anwohner:innen waren mit dem Verlauf des Umbaus unzufrieden: Ein Zeitungsbericht zitiert Gottfried Böhms Sohn Peter Böhm wie folgt: »Allerdings habe die Familie keine guten Erinnerungen an die Bauzeit des Wohn- und Geschäftskomplexes im Herzen Godesbergs: »Die grundsätzliche Planung stammt zwar von meinem Vater, aber es gab viel Uneinigkeit zwischen ihm und dem Auftraggeber.« (zit.n. Q Elbern und Jakob 2020b)
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beispielsweise in einer Reihe der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel »Es war einmal eine Stadt« (Q Käppner 2015) das versetzte »Ännchen« mit drastischem Vokabular beschrieben: Unter dem tiefgezogenen Dach wirkt das einsame, alte Haus, als ducke es sich vor der epochalen Hässlichkeit seiner Umgebung. Es rauscht nicht die Linde, sondern der Verkehr. Direkt hinter dem »Aennchen« führt eine mehrspurige Straße unter einem scheußlichen Betonriegel hindurch stadtauswärts. Grau, Zement, Billigshops. (ebd.) Auf die umstrittene Flächensanierung der Altstadt folgte 1969 ein vor Ort noch stärker debattierter Einschnitt in die Lokalgeschichte: Bad Godesberg wurde im Zuge der kommunalen Neugliederung durch das »Bonn-Gesetz« (Landesregierung Nordrhein-Westfalen 1969) in die Hauptstadt eingemeindet und bildete fortan einen der vier Bezirke Bonns (neben Beuel, Bonn und Hardtberg). Viele kommunalpolitische Vertreter:innen sahen und sehen sich seither in der Bonner Stadtverwaltung schlechter gestellt als zuvor. Das Bild Godesbergs nach innen und außen veränderte sich weiter: Zu den vor Ort teils mit Überraschung, teils mit Schrecken miterlebten Umbaumaßnahmen gesellte sich die Rede von der Vernachlässigung durch die Stadt Bonn, ausgelöst durch die Statusveränderung von der Stadt zum Bezirk (auch aktuell immer wieder in der lokalen Presse nacherzählt, vgl. Q Hagenberg-Miliu 2019). Eine Kontinuität zeigt sich unabhängig vom Umbau und von der Eingemeindung darin, dass der Bezirk nun auch offiziell zur Hauptstadt gehörte und damit wie bisher Schauplatz politischer Repräsentation war.
Das Narrativ des Niedergangs Dies änderte sich 1990 mit der deutschen Vereinigung und dem Hauptstadtbeschluss von 1991. Berlin war nun Hauptstadt, sodass nach dem Parlament und Teilen der Regierung bis 2000 ein Großteil der Behörden und Bundeseinrichtungen aus Bonn wegzog. Für Bad Godesberg bedeutete dies, dass in den 1990er Jahren nach und nach auch die Botschaften nach Berlin umzogen. Trotz finanzieller Ausgleichsmaßnahmen im Umfang von 1,4 Milliarden Euro für die ehemalige Hauptstadtregion (s. Bundesrepublik Deutschland 1994, 2) fürchteten viele Anwohner:innen und Kommunalpolitiker:innen einen Niedergang der Region. Der Erhalt zahlreicher Behörden inklusive der entsprechenden Arbeitsplätze in Bonn sowie die Ansiedelung von Deutscher Post und Telekom konnten den Eindruck eines erneuten Statusverlust in Bad Godesberg nur bedingt ausgleichen. Ein Interviewpartner formuliert den häufig geäußerten Eindruck, nach dem gerade Godesberg nach der Eingemeindung nun ein zweites Mal vernachlässigt wurde:
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Fm: »Zum Strukturwandel in Bonn wird ja immer gesagt, Mensch, Bonn hat das toll geschafft, und die Kompensation, und alles super, ne? Aber wenn es dann um Godesberg geht, muss man das immer so zusätzlich sehen, vor allem weil eben Godesberg mit über siebzigtausend Einwohnern ja fast sowas wie eine eigene Stadt ist. Und dieser Mitarbeiter von der IHK sagte jetzt vor Kurzem, es gäbe auch Verlierer im Rahmen dieses Strukturwandels, und das wären Bad Godesberg und die Taxifahrer.« (Interview 05, Z. 37ff.) Eine Besonderheit Godesbergs in der Umgestaltung nach dem Hauptstadtumzug zeigt sich darin, dass hier vor allem diplomatische Sitze ansässig waren, zahlreiche Immobilien also in ausländischem Staatsbesitz waren und erst Stück für Stück verkauft wurden (und werden): Fm: »Es hat bei vielen Ländern sehr, sehr viele Jahre gedauert, bis sie ihre ehemaligen Botschaften und Gebäude verkauft hatten. Es war also ein langwieriger Prozess, aus recht einfachen Gründen, die haben gesagt, wir haben jetzt keine Eile und gucken mal, vielleicht steigen die Preise, und in drei Jahren kriegen wir mehr Geld für die Immobilie. Also du hast jetzt hier keine dreihundert Gebäude leer stehen gehabt, wir haben da heute noch etwa zehn bis zwölf leer stehende ehemalige Botschaften, das ist eine sehr übersichtliche Zahl, die verteilt sich auf den Stadtbezirk. Das ist peu a peu runtergegangen, diese Anzahl. Also Leerstände sind einfach unschön, das erinnert jeden wenn du da langgehst, an der ehemaligen Botschaft von ich-weiß-nichtwas vorbei, und das steht leer seit Jahren…das verursacht natürlich so ein negatives Gefühl, das ist aber dumm gelaufen, an uns hat nun keiner gedacht, die gehen weg und dann stehen hier leere Immobilien.« (Interview 05, Z. 64ff.) Später beschreibt mein Interviewpartner den »Phantomschmerz«, der sich daraus ergebe. Damit geht es nicht mehr um die Lokalgeschichte, sondern um ihre Auswirkungen auf die diskursive Darstellung Godesbergs nach innen und außen: Fm: »Das war ja nicht von einem Tag auf den anderen, aber es war ja klar, der große Umzug kommt. […] Im Sommer 99 ziehen wir nach Berlin, das war das Datum und da hat sich eigentlich der größte Teil auch dran gehalten. Also man kann sagen, alles war klar, ich sage mal, 80 Prozent sind wirklich im Jahre 99 weggezogen, und der Rest ist dann noch so dahingebröckelt in den Jahren danach. Und gerade mit dem Stadtbild im Zentrum Godesbergs…das ist dieser Phantomschmerz, den die meisten Godesberger haben. Dieses Bunte, Multikulturelle, was weggebrochen ist an dieser Identität. Das ist ein echter Verlust und wenn du heute oder seit vielen Jahren dann im Gegensatz zu diesem Bunten heute dann nur noch vor allem diese voll vermummten Araber
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siehst, dann tut das natürlich weh, weil das so ein krasser Gegensatz ist. Das ist keine Kompensation.« (Interview 05, Z. 92ff.) Hier werden zwei Argumente geäußert, die im Bezirk höchst einflussreich waren und sind: Erstens wird Godesberg als Verlierer des Hauptstadtumzugs verstanden, was die nach wie vor kritische, ablehnende Haltung vieler Anwohner:innen gegenüber der Bonner Stadtverwaltung erklärt. Der doppelte Statusverlust von der Stadt zum Bezirk und vom repräsentativen Teil der Hauptstadt zum peripheren Wohngebiet macht Godesberg zu einem Sonderfall einer »disempowered city«, wie Çağlar und Glick Schiller sie beschreiben: Acting within a revived historical memory of their city’s past importance in their nation-state and beyond, city leaders demonstrate an explicit consciousness of the loss of power. They refer in their urban narratives to times in which their city and its residents shared greater prosperity and significance. (Çağlar und Glick Schiller 2018, 13) Der Bezirk hat gleichzeitig einen Bedeutungsverlust auf institutioneller Ebene und einen Bedeutungswandel durch hohe Mobilität und Diversität der Anwohner:innen erlebt. In Reaktion darauf entwickelte sich das Narrativ des Niedergangs der ehemaligen Stadt Bad Godesberg. Es baut auf der nostalgischen Trauer über das »Dahinbröckeln« der repräsentativen Funktionen des Stadtbezirks auf. Das Erinnern an die »alten Zeiten« ist in Bad Godesberg nicht nur bei Kommunalpolitiker:innen eng mit dieser repräsentativen Vergangenheit verbunden, wie mir bei einem Restaurantbesuch mit einer Runde Alteingesessener2 ganz zu Beginn meiner Feldforschung klar wurde. Erst nach einer Weile verstand ich in dieser Situation, dass es sich bei »unserem Willy« nicht (wie bei vorherigen Nennungen) um einen ehemaligen Klassenkameraden, sondern um Willy Brandt handelte: 2
Ich verwende den Begriff ›alteingesessen‹ ausschließlich da, wo er als Selbstbeschreibung genutzt wird. In bestimmten Kreisen in Bad Godesberg zählt es als Kompliment, wenn man ›alteingesessen‹ genannt wird. Stärker als vom Alter (ich habe viele ›Alteingesessene‹ unter 50 kennengelernt) ist die Bezeichnung meiner Beobachtung nach davon abhängig, dass schon die Elterngeneration in Godesberg gelebt hat, und man zumeist das ganze Leben, zumindest aber Jugend und junges Erwachsenenalter in Godesberg verbracht hat und nun (wieder) dort wohnhaft ist. Viele der ›Alteingesessenen‹ haben als Kinder ehemaliger Botschaftsangestellter einen Migrationshintergrund im Sinne der Definition des Statistischen Bundesamtes (URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migr ation-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html, zuletzt aufgerufen am 06.12.2021). Zum Alteingesessenenstatus, der gerade dann interessant wird, wenn er lokal nicht direkt als Gegensatz zu migrationsverbundenen Kategorisierungen genutzt wird, vgl. auch Elias und Scotson 2002 [1965], 10f.
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Es wird ein letztes Getränk bestellt, Gäste von anderen Tischen, die die Gruppe kennen, kommen dazu. Fotos werden herumgegeben, man spricht von »unserem Willy«, davon, dass man früher zu den Politikern aufgeblickt habe, auch kritisch, aber bewundernd, und dass das ja heute eher anders sei, da sei kein Vertrauen mehr, man wisse ja gar nicht genau, was die eigentlich machten. Es geht schnell um das Bonn-Berlin-Gesetz. Stefan3 kennt sich sehr gut aus. Die Vereinbarung stehe im Koalitionsvertrag, deshalb sei es ganz wichtig, dass jetzt eine Regelung gefunden werde, sonst würde sich keine Regierung mehr darauf einlassen. Stefan meint, Bonn und die Region würden einen kompletten Wegzug deutlich spüren, die Maklerin glaubt das nicht, dann kämen eben andere Wirtschaftszweige, so wie bisher auch, die DHL, die Telekom. Man erinnert sich an den Umzug der Regierung, man habe eine Katastrophe erwartet, die dann schließlich ausgeblieben sei. Aber den Bach runtergegangen ist es schon ein bisschen, schließt man. Die Diskussion wird unübersichtlich, man merkt ihr die vielen persönlichen Emotionen und Erfahrungen der Beteiligten an. Ich denke, derartige Gespräche beschließen vermutlich regelmäßig Abende in ähnlichen Runden in Godesberg. (FP 26.01.2019, Brill, Z. 125ff.) Daran, dass viele meiner Gesprächspartner:innen in Bezug auf die Regierung der Bonner Republik von einem »Wir« sprechen (so auch im Interviewzitat oben), zeigt sich die starke Identifikation mit nationalem und internationalem politischem Geschehen in Bad Godesberg. Viele Anwohner:innen zwischen 50 und 70 verbinden Kindheitserinnerungen mit der Zeit der Bonner Republik, was nostalgische Gefühle der Nähe zu damaligen Politiker:innen erzeugt: Xm: »Als kleiner Junge habe ich an der Straße gestanden und gewunken, schulmäßig abkommandiert, als der Kennedy eben in Godesberg in die Kennedyallee fuhr, die dann hinterher so hieß. Ja so war es, ne? Wenn die Queen oben auf dem Petersberg war, dann wusste meine Mutter haargenau, dass sie sogar ihr Teewasser mitgebracht hatte. Also das war schon Teil des Lebens, ne?« (Interview 23, Z. 105ff.) Teil dieser nostalgischen Sicht auf die Bonner Republik ist die Betonung der Internationalität Bad Godesbergs. So heißt es beispielsweise im Botschaftsreiseführer: »Multikulti war hier schon längst Realität, bevor der Rest der Nation den Begriff 3
Wenn in Feldprotokollen oder Interviewzitaten Personennamen genannt werden, sind diese maskiert. Eigennamen (beispielsweise von Restaurants) sind bei bloßer Nennung grundsätzlich nicht maskiert, werden jedoch schützenswerte Hintergrundinformationen erwähnt, sind auch Eigennamen maskiert.
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zum ersten Mal hörte.« (Wenzel 2010, 80). Paradox scheint, dass diese Internationalität sich auch nach dem Hauptstadtumzug in Bad Godesberg fortsetzt – internationale Schulen, Anwohner:innen und eine Infrastruktur, die auf wohlhabende Gäste ausgelegt ist, gibt es schließlich nach wie vor –, nun aber von vielen der Alteingesessenen abgelehnt wird. Damit komme ich zum zweiten Argument, dass das Narrativ vom Niedergang Bad Godesbergs bestimmt. Der oben zitierte Interviewpartner spricht von einem Phantomschmerz, mit dem er einerseits den Abriss der Altstadt beschreibt, andererseits aber auch den Verlust des Eindrucks der »bunten Multikulturalität« im »Stadtbild«. Immer wieder wird in Zeitungsberichten, in Gesprächsrunden und im persönlichen Austausch ein Prozess beschrieben, der von außen schwierig nachzuvollziehen ist: Die ehemalige, als bunt und international beschriebene Multikulturalität sei ersetzt worden durch eine »Duokulturalität«. Die Formel ›von multikulti zu duokulti‹ begegnet mir im Feld überall. Mal grenzen sich meine Gesprächspartner:innen davon ab, mal bestätigen sie die These dieses Austausches, alle jedoch beziehen sich darauf. Das Narrativ wird in folgendem Interviewausschnitt gut deutlich: Dm: »In der Zeit bis dahin waren wir eine Multikultistadt von verschiedenen Diplomaten, die hier gewohnt und gelebt haben, also bunt, in allen Farben. Danach war es zwar immer noch multikulti, allerdings sind dann die ganzen oder die meisten Diplomaten dann eben nach Berlin mit umgezogen, und hier in Bad Godesberg sind viele arabische Menschen übrig geblieben. Weil nämlich Bonn oder Bad Godesberg die längste Ära hatte mit Gastarbeitern. Hier sind die ersten türkischen Gastarbeiter eingewandert quasi […]. Seit der Zeit hat sich Bad Godesberg dadurch verändert, dass es eben nicht mehr international oder multikulti war sondern nur noch duokulti, das heißt also arabisch und deutsch, und das bedingt dadurch, dass irgendwann mal ein schlauer Bürgermeister von Bonn erklärt hat, Bad Godesberg wird Gesundheitsstandort von Bonn, und sich hier viele Kliniken angesammelt haben, die dann hier auch speziell arabische Gäste aufgenommen haben. Da gibt’s einen extra Tourismus dafür, sodass in arabischen Ländern dann Leute angeworben werden, um in Bad Godesberg diese Kliniken zu besuchen. Das hat dann ein bisschen überhand genommen und Bad Godesberg wurde überschwemmt von arabisch- oder arabisch-nordafrikanisch-stämmigen Leuten, die dann also hier das Stadtbild verändert haben, sehr zum Leidwesen mancher alteingesessener Bad Godesberger.« (Interview 03, Z. 60ff.) Mit »multikulti« werden Diplomat:innen unterschiedlichster Herkunft bezeichnet, während von meinem Gesprächspartner heute nur noch »Deutsche« und »arabischnordafrikanisch-stämmige Leute« wahrgenommen werden. Die offensichtliche Leerstelle in der Argumentation ist die Religion. An der gemeinsamen Nennung
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von der Bezeichnung »türkische Gastarbeiter« mit den Begriffen »arabisch« und »nordafrikanisch« zeigt sich, was mit »duokulti« gemeint ist. Alltagssprachlich reproduziert wird hier die These des »clash of civilizations« (Huntington 1996) zwischen christlicher und islamischer Religion: Das Narrativ des Niedergangs von Bad Godesberg entfaltet eine Gegenüberstellung der ehemaligen christlich geprägten, internationalen diplomatischen Zusammenarbeit mit der aktuellen Unvereinbarkeit von christlich versus islamisch bestimmtem Alltagsleben im Bezirk. Dabei wird jedoch nicht klar benannt, worin sich diese Unvereinbarkeit äußert. Auf lokaler Ebene vollzieht sich in dem Narrativ die »Islamisierung des Islams« (Al Azmeh 1996, zit.n. Amirpur 2011, 197), indem »der Westen seinen eigenen Islam« konstruiert (ebd.) und ganz unterschiedliche Personengruppen verschiedener Religionszugehörigkeit in der Kategorie ›muslimisch‹ als Antagonist:innen einer lokalen ›deutschen Kultur‹ zusammengefasst werden. In Bad Godesberg führt dies dazu, dass die Zuschreibung religiöser Zugehörigkeiten zu einer der beiden ›Seiten‹ eine hohe alltagspraktische Relevanz erhält. Im öffentlichen Raum kommt es immer wieder zu abwertenden Äußerungen in Bezug auf diese Unterscheidung (die als im Feld relevante und diskursiv etablierte, aber nicht als analytische Unterscheidung aus forschender Perspektive zu verstehen ist, s. dazu auch FN 15, Kap. 1). Illustriert wird die Argumentation nicht nur in dem oben genannten Zitat mit der Gegenüberstellung der Kleidung von »großen schwarzen Frauen, die in bunte Gewänder gekleidet waren« (Q Müller-Münch 2016b) und muslimischen Frauen, »allesamt hochverschlossen, das Gesicht verdeckt hinter dichten Hijabs, umhüllt von schwarzen Burkas« (ebd.), sondern auch in zahlreichen Zeitungsberichten. Diese Kontrastierung ist empirisch nicht gerechtfertigt. In der Godesberger Fußgänger:innenzone lässt sich sehr gut beobachten, wie unterschiedlich (und bunt) Kleidungsvarianten ausfallen können, die aus religiösen oder auch nicht-religiösen Gründen eine Kopfbedeckung bei Frauen mit einschließen. Der aufgebaute Kontrast erfüllt jedoch wirkmächtig die Funktion, zunächst die vorgeblich kosmopolitische Grundhaltung der eingenommenen Perspektive deutlich zu machen, um eine mögliche Kritik der dann folgenden Abwertung islamischer Kleidungskonventionen vorwegzunehmen. Das Narrativ wird häufig in dem Versuch eingesetzt, einem allgemeinen Rassismusvorwurf dadurch zu entgehen, dass es sich eindeutig und ausschließlich auf Zeichen islamischer Religionsausübung bezieht.4
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Ich komme in Kap. 5 darauf zurück, wie sehr somatische Ausdrücke von Differenz wie »language, clothing, gender, food or race« (Appadurai 2006, 104) betont werden, wo Vorstellungen einer kulturell und religiös vollständig integrierten, national definierten Gemeinschaft ins Wanken geraten, und inwieweit dies spezifisch in Bad Godesberg von Relevanz ist.
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Medizintourismus und Jugendkriminalität Hintergrund des beschriebenen Narrativs sind insbesondere zwei lokalhistorische Entwicklungen, die eng mit der spezifischen Rolle residenziellen Wohnens in Bad Godesbergs und daran anknüpfend mit der eigentümlichen Altersstruktur verbunden sind. Erstens führte die bestehende Infrastruktur, die auf residenzielles Wohnen ebenso ausgelegt war wie auf Pflege und Gesundheit dazu, dass in der Zeit nach dem Hauptstadtumzug tatsächlich (wie im Interviewausschnitt beschrieben) eine spezifische Form des medizinischen Tourismus zum wirtschaftlichen Standbein Godesbergs erklärt wurde. Zweitens spitzte sich die Situation der dauerhaft oder zeitweise im Bezirk wohnenden Schüler:innen insofern zu, als dass Jugendkriminalität zum zentralen Problem des Stadtbezirks definiert wurde. Hintergrund war der Tod eines Schülers nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung am Godesberger Bahnhof. Zunächst zum Stichwort ›Medizintourismus‹, das in manchen der Zitate bereits angeklungen ist: Damit gemeint sind Reisende, die (ähnlich wie Kurgäste) regelmäßig für längere Zeitabschnitte nach Bad Godesberg kommen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen. Wenn es sich um Behandlungszeiträume von mehreren Wochen oder sogar Monaten handelt, werden dafür häufig die Ferienzeiten der jeweiligen Herkunftsländer genutzt, damit Familienmitglieder und insbesondere Schulkinder mit verreisen können. Während die Behandelten in den jeweiligen medizinischen Einrichtungen übernachten, sind Begleiter:innen zumeist in der Innenstadt untergebracht, von der aus eine gute Verbindung mit dem öffentlichen Nahverkehr zu den medizinischen Standorten besteht. Die größten Einrichtungen mit insgesamt knapp 800 Betten (das Rehabilitationszentrum Godeshöhe, die private Gezeiten Haus Klinik sowie das Waldkrankenhaus der Johanniter) liegen in direkter Nachbarschaft im Stadtteil Schweinheim. Hinzu kommen zahlreiche private Kliniken auch im Zentrum Bad Godesbergs, vor allem für Chirurgie und Augenheilkunde. Neben den schon bestehenden Hotels und Pensionen etablierte sich durch die hohe Nachfrage anfangs vor allem aus Libyen, den Arabischen Emiraten und Katar, später auch aus Russland um die 2000er Jahre in Godesberg ein Tourismussektor, der spezifisch auf die Bedürfnisse der Angehörigen medizinischer Patient:innen ausgerichtet war und ist. Dazu zählen Büros zur Vermietung von möblierten Appartements, Shuttleservices etc. Auch die noch aus Hauptstadtzeiten hochpreisigen Shoppingangebote (Boutiquen, Juwelier:innen, Kosmetik, Apotheken) in der Innenstadt profitierten von der neuen Kund:innengruppe. Aus der Kombination des Wegzugs ehemaliger Anwohner:innen und den neuen Tourist:innen entstand ein Geschäftsmodell: Ähnlich wie in anderen tourismusorientierten städtischen Gegenden (die jedoch häufig eher im großstädtischen Kontext verortet sind) bot es sich an, den frei gewordenen Wohnraum vor allem in der Innenstadt nicht an dauer-
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hafte Mieter:innen, sondern über Airbnb oder über die lokalen Vermietungsagenturen zeitweise zu vermieten. Wie auch in anderen Kontexten wird diese Mietform von dauerhaften Anwohner:innen kritisiert (vgl. Q Ottersbach 2019; Q Reichert 2019; Q Steeger 2019). Hinzu kommt, dass Patient:innen aus den Arabischen Emiraten und aus Katar staatliche Unterstützung erhalten, wenn eine Behandlung notwendig ist und deren Abwicklung durch die noch bestehenden Außenstellen der jeweiligen Botschaften in Bonn infrastrukturell gut funktioniert. Dauerhafte Anwohner:innen konkurrieren also in den Godesberger Innenstadtbereichen seit der Jahrtausendwende mit Tourist:innen, deren Reisekosten subventioniert sind, wodurch das Mietenniveau anstieg. Trotz einer ausführlichen Diskussion dieser Thematik in der lokalen Presse ist es schwierig, verlässliche Zahlen zu finden. Auskünfte dazu gab mir auch ein wirtschaftswissenschaftlicher Experte zum Thema ausschließlich mündlich, da es offizielle Zahlen lediglich auf Landesebene gebe und er seine eigenen Forschungsergebnisse nur gegen Bezahlung mitteile. Seine Einschätzung lautet: Für Godesberg wichtig sind Katar und die Arabischen Emirate, da deren Botschaften im Bezirk liegen. Die libysche Botschaft hatte bis letztes Jahr noch eine Außenstelle mit Gesundheitsbüro in Godesberg, seit ihrer Schließung ist Libyen kein Einzugsgebiet für Medizintourist:innen mehr. Grundsätzlich erhalten die Patient:innen aus ihren Staaten einen wöchentlichen Voucher, der von ihrem Status im Heimatland abhängt. Grobe Schätzung: Zwischen 2.000 und 5.000 (ohne Währungsangabe, ich vermute Euro) wöchentlich. Der Höhepunkt scheint 2012 gewesen zu sein, aktuell sinken die Zahlen, vor allem aus den arabischen Emiraten, Erklärung: Dem Staat gefalle das Verhältnis Deutschlands zu Katar und Iran nicht. (FP 26.02.2019, Brill, Z. 12ff.) Das Thema Wohnungen kommentiert er insofern, als dass seiner Kenntnis nach nur ein Teil des Voucher-Geldes in Hotels gehe und ein anderer Teil dieser staatlichen Gelder von Botschaftsangehörigen in deren private Tasche umgeleitet würde, indem sie eigene Immobilien in Godesberg privat an Tourist:innen vermieteten: Da die Botschaftsangehörigen selbst davon profitierten, ließen sie sich nicht dazu bewegen, zur Ausstellung der Voucher ausschließlich Hotel-Rechnungen zu akzeptieren. Alle Dienstleister:innen, die irgendwie im Umfeld des Medizintourismus operierten, seien im »Bakschisch-System«, da halte jede:r die Hand auf, auch die Shuttle-Fahrer:innen erhielten ihre Aufträge nur gegen Zahlung. […] Zu den Bereichen rund um den Tourismus: Direkte Medizinprodukte werden natürlich stark nachgefragt (Apotheken etc.), indirekte auch (Gesundheitsprodukte), außerdem Luxusgüter, er nennt Juwelier:innen als Beispiel. Auf die Frage nach dem Essen sagt er, dafür mieteten die meisten ja gerade ihre Wohnungen, um selbst Essen machen zu können, die Hotel-
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gäste essen im Hotel, die Krankenhauspatient:innen im Krankenhaus. Hier der Hinweis: Wenn man privat unterkomme, könne man das Voucher-Geld für anderes nutzen, da werde viel getrickst. Restaurants seien nur interessant, wenn sie arabisch oder indisch seien, wegen der religiösen Essensregeln. (FP 26.02.2019, Brill, Z. 21ff.) Insgesamt schließt der Experte, durch weniger staatliche Unterstützung der Patient:innen sowie durch geopolitische Umstände würden die Zahlen in den nächsten Jahren weiter sinken, der Höhepunkt Godesberg als Medizinstandort sei mittlerweile vorbei. Noch zu Beginn der 2000er Jahre setzte sich mit dem Medizintourismus aber die Tendenz im Bezirk fort, beliebtes Ziel für wohlhabende Gäste zu sein, die weiterhin residenzielle Wohnformen bevorzugen und darüber hinaus von der international und mehrsprachig ausgelegten Infrastruktur aus Hauptstadtzeiten profitieren. In den darauffolgenden Jahrzehnten verstärkte sich die Ausrichtung der innerstädtischen Einkaufs- und Dienstleistungsangebote auf das kaufkräftige arabischsprachige Publikum. So verwenden heute viele der Restaurants, aber auch Supermärkte im Zentrum deutsche, englische und arabische Beschriftungen. Der Tourismus bringt dem Godesberger Einzelhandel wichtige und wohlhabende Kundschaft, so sind sich Interessenvertreter:innen einig, wie auch mein oben bereits zitierter Gesprächspartner feststellt: Dm: »Die Bad Godesberger Geschäftsleute profitieren von den Touristen und medizinischen Gästen, die nach Bad Godesberg kommen, weil die sehr viel Geld haben und damit auch sehr viel Geld in Bad Godesberg lassen.« (Interview 03, Z. 49f.) Dennoch sorgt das Narrativ von der Bewegung von der »Multikulti-« zur »Duokulti-Stadt« dazu, dass Ablehnung gegenüber den Tourist:innen im Allgemeinen und den Ausdrücken ihrer Religionszugehörigkeit im Besonderen geäußert wird. Obwohl die Mietpreise steigen und die teuersten Wohngegenden Bonns auch heute noch in Godesberg liegen, stärkt diese Ablehnung die Geschichte vom ›Niedergang‹ Bad Godesbergs, die sowohl im Stadtbezirk, als auch darüber hinaus immer wieder in der Presse aufgegriffen wird. Auch in Romanen und Theaterstücken findet das Narrativ Verwendung (vgl. Zeh 2017). Ein Theaterstück Ingrid Müller-Münchs (2009), uraufgeführt im Godesberger Theater und anschließend als Buch veröffentlicht, etablierte ein Stichwort, das später in lokalen Debatten den Zusatz ›-Theorie‹ erhielt und damit immer wieder zur Stärkung des Niedergang-Narrativs herangezogen wird: die »Zwei Welten«. Damit komme ich zum zweiten oben genannten Aspekt der jüngeren lokalhistorischen Entwicklung Bad Godesbergs: der Situation der jugendlichen Anwohner:innen. Müller-Münch skizziert in ihrem Theaterstück typisierte Darstellungen pu-
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bertärer Internatsschüler:innen aus wohlhabendem Elternhaus auf der einen und mehrsprachiger, mit Geldnöten beschäftigten städtischen Schüler:innen mit Migrationshintergrund auf der anderen Seite. Der Untertitel »Portrait einer Stadt, geprägt von Angst und Arroganz« fasst zusammen, worum es geht: um Gewaltausbrüche zwischen Jugendgruppen unterschiedlicher sozialstruktureller Stellung. Darin begründet sich die zentrale Problemdiagnose des Stücks, nach der Bad Godesberg an ausufernder Jugendkriminalität leide und sich zu einem Stadtbezirk entwickele, dessen unterschiedliche Stadtteile »Parallelwelten« (Q Kanthak 2009) ohne Verbindungspunkte seien. Auch hier ist es ähnlich wie im Fall des Medizintourismus schwierig, jenseits der aufgeladenen öffentlichen Debatte an qualifizierte Aussagen zu den lokalhistorischen Hintergründen des Stücks zu gelangen. Auf die spezifische Situation jugendlicher Bewohner:innen des Stadtbezirks, auch aus einer Innensicht, gehe ich deshalb genauer ein. Kennt man Bad Godesberg nur aus Zeitungsberichten der letzten Jahre, so könnte man meinen, der Bezirk setze sich mehrheitlich aus jungen Menschen zusammen. Die Rede ist mal von »Jugendgruppen« (Q Klingelhöfer 2017), mal von der »saudischen Jugend« (Q Vallender und Elbern 2016) oder von »jugendlichen Migranten« (Q Akyol 2011). Junge Menschen sind spätestens seit dem Theaterstück Müller-Münchs zumindest in der regionalen Presse eine besonders sichtbare und viel diskutierte Gruppe. Bevölkerungsstatistisch lässt sich das nicht erklären, der Stadtbezirk weist mit 12,8 % der Bewohner:innen im Alter zwischen sechs und 18 (s. Bundesstadt Bonn 2019, 11) relativ zu Bonn und auch Deutschland eine wenig auffällige Dichte von Jugendlichen auf. Dass junge Menschen in dem Stadtbezirk dennoch besondere Aufmerksamkeit erhalten, liegt weniger an der Anzahl der tatsächlich dort gemeldeten Jugendlichen, sondern an einem Zusammenspiel aus zwei Aspekten. Erstens werden Jugendliche in der Presse unabhängig vom konkreten Fall Bad Godesbergs häufig als deviante Gruppe problematisiert und in der öffentlichen Diskussion mit anderen umstrittenen Themen wie Sauberkeit und Sicherheit verknüpft. Eine Erklärung findet sich in Howard Beckers Beschreibung der »Outsiders« (1966). Becker macht darauf aufmerksam, dass Regeln zumeist von Älteren für Jüngere gemacht werden, zu letzteren also weniger passen (s. ebd., 17) und ihre Befolgung bei Jugendlichen als Teil des Sozialisierungsprozesses zugleich stärker kontrolliert wird: »Rules tend to be applied more to some persons than others.« (ebd., 12). Diese allgemeine Feststellung hat einen besonders hohen Erklärungswert für die Wahrnehmung der spezifischen Nutzung des städtischen Raums durch Jugendliche in Bad Godesberg. Zweitens werden nämlich einzelne Orte um die Innenstadt des Bezirks stärker von Jugendlichen genutzt, als der durchschnittliche Anteil an der Bewohner:innenstruktur es erwarten lassen würden. In Godesberg halten sich nicht nur jugendliche Anwohner:innen regelmäßig für einen Großteil ihres Alltags auf, sondern auch nicht dort wohnhafte oder gemeldete Schüler:innen. Neben der üb-
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lichen Schullandschaft gibt es drei internationale Schulen (französisch-, englischund chinesischsprachig) sowie ein jesuitisches und fünf private Internate5 – und das auf einer Fläche von nur knapp 32km2 . Die dort unterrichteten Schüler:innen sind im Normalfall am Wohnort der Eltern gemeldet (nach §11 des Bürgerlichen Gesetzbuches) und fallen also aus der Statistik heraus. Dennoch nutzen sie öffentliche Räume in der Innenstadt und in den Gegenden um die Schulen und Wohnheime, im Fall von Internatsschüler:innen ohne alltägliche familiäre Anbindung außerdem eher sichtbar als Jugendgruppen denn als Kinder im Familienverbund. Eine Sozialarbeiterin beschreibt im Interview6 ihre Beobachtung einer ablehnenden, rebellischen Haltung in Bezug auf diese Orte. Gleichzeitig sind jedoch vor allem Parks beliebt bei jungen Menschen und wichtig für das »Wohlfühlen« im Bezirk: Y1: »Gibt es das auch aktiv? Also so eine aktive Ablehnungshaltung?« Gf: »Ja, aber ich glaube, die ist auch dadurch geschürt, dass das Internatsleben dann auch abgelehnt wird. Und das ist natürlich dann stark verknüpft, wenn der Lebensort so stark mit Schule verknüpft ist, dann kann man das schon nachvollziehen, dass man vielleicht auch mal mehr meckert oder so. Also ich würde sagen, dass viele hier gerne auch draußen unterwegs sind, also ich würde sagen, das ist auch mit ein Punkt, ob man sich hier wohl fühlt oder nicht, und ich erlebe da jetzt nicht irgendwie, dass die Angst haben sich hier in Bad Godesberg abends zu bewegen oder so. Da ist eine sehr große Selbstsicherheit vorhanden, finde ich.« (Interview 06, Z. 297ff.) Durch die Mischung aus hoher Beliebtheit mancher Orte bei den jugendlichen Anwohner:innen und Schüler:innen sowie der Problematisierung und Kontrolle ihres Verhaltens ergibt sich die starke Betonung von Jugendkriminalität in der Presse und darüber auch in der Kommunalpolitik und -verwaltung. 2016 kulminierte die Debatte um Jugendkriminalität, die zuvor schon stellenweise mit der Diskussion um Fragen islamischer Religionsausübung verknüpft wurde, in einer diskursiven Explosion7 rund um den Kriminalfall Niklas P. Der 17-jährige Schüler starb nach einem Angriff durch drei Täter an den Folgen mehrerer Tritte gegen seinen Kopf. 2017 5
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Vgl. das Schulverzeichnis der Stadt Bonn (URL: https://www.bonn.de/themen-entdecken/bi ldung-lernen/schulverzeichnis.php, zuletzt aufgerufen am 20.01.2023), sowie Websites privater Träger. Zum besseren Verständnis der Sichtweise jugendlicher Anwohner:innen habe ich aus forschungspraktischen Gründen ein Interview mit einer jungen, gut vernetzten Sozialarbeiterin geführt. Meine Gespräche mit Minderjährigen im Feld konnte und wollte ich ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten nicht aufnehmen, sie fließen aber dennoch im Hintergrund in die Darstellung ein. Der Begriff der diskursiven Explosion stammt von Foucault (1983 [1976], 23), und bezeichnet ursprünglich das gesamtgesellschaftliche Aufbrechen des Tabus und der Sprachlosigkeit in
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wurde der Hauptangeklagte nach einem langwierigen Prozess voller gegensätzlicher Zeug:innenaussagen, Ermittlungsdefizite durch Personalmangel und begleitet durch hohe mediale Aufmerksamkeit (vgl. Q Zenge 2017; Q Brink 2017; Q Leue 2016; Q Müller-Münch 2016a; 2016b) freigesprochen. Die Vorbemerkung des vorsitzenden Richters im Landgericht im Prozess ein Jahr nach der Tat machte deutlich, wie sehr das Verfahren von öffentlichem Druck begleitet war. Er sprach von einer »Dämonisierung des Angeklagten« (zit.n. Q Frigelj 2017) und fasste zusammen: »Das Verfahren wurde instrumentalisiert. Personen aus Kirche, Politik und Medien haben sich in Szene gesetzt.« (zit.n. Q Path 2017). Der Staatsanwalt selbst beantragte als Hauptkläger unterstützt durch die Nebenklägerin (die Mutter des Opfers) letztlich aufgrund mangelnder Beweislage den Freispruch des Angeklagten. Dennoch wurde sowohl im Bezirk als auch darüber hinaus als Reaktion auf den Freispruch ein Scheitern der Rechtsstaatlichkeit angeprangert. Besonders lokale Akteur:innen, die schon zuvor öffentlich mit der Diagnose aufgetreten waren, Bad Godesberg sei ein segregiertes »Pulverfass« (Q Hannemann 2010), nutzten den unaufgeklärten Fall, um mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen. Auch Jahre nach dem Kriminalfall hat diese diskursive Explosion rund um Kriminalität im Bezirk immer noch eine hohe Relevanz vor Ort. Neben Maßnahmen wie dem Einrichten eines Jugendcafés oder städtischer Auftragsforschung zu Gewaltprävention bei Jugendlichen8 ist eine für alltägliche Interaktionen im Stadtbezirk einflussreiche Folge die konstant hohe Polizeipräsenz. Die bereits zitierte Sozialarbeiterin sieht darin ein schrittweises Verdrängen von Jugendlichen aus den innerstädtischen Parks ohne Ausweichmöglichkeiten: Gf: »Also die Polizeikontrollen sind würde ich sagen ein großes Thema für viele Jugendliche, weil sie natürlich sehr, sehr häufig hier kontrolliert werden. Dadurch, dass die Polizeipräsenz sehr stark vertreten ist, gerade in den Parks in Bad Godesberg. Also da bekommen wir häufiger mal Geschichten von erzählt. […] Y1: »Und wie wird das so wahrgenommen? Von den Jugendlichen?« Gf: »Also schon als so ein Bedrängen, würde ich sagen, also dass man halt nicht mehr in Ruhe mal im Park sitzen kann. Es wird dann wirklich gesagt, ›ich wurde ja schon
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Bezug auf Sexualität. In Godesberg geht es um eine viel kleinere Größenordnung, passend scheint mir der Begriff der Explosion aber dennoch, da hier von wenigen Ereignissen ausgehend in recht kurzer Zeit ein neues Diskursthema mit entsprechenden Regelungen, Grenzziehungen und Parteien aufbrach. Auch in diesem (lokal begrenzten) Fall ergibt sich eine »grenzenlos wuchernde Ökonomie des Diskurses« (ebd., 40). Die Stadt Bonn vergab als Reaktion auf den Kriminalfall Niklas P. 2017 den Auftrag zur Erarbeitung eines gesamtstädtischen Gewaltpräventionskonzepts an den Marburger Sozialpsychologen Prof. Dr. Ulrich Wagner, vgl. Pressemitteilung der Stadt Bonn vom 25.11.2019 (URL: https://www.bonn.de/pressemitteilungen/2019/november/gewaltpraeventionskonze pt-fuer-die-stadt-bonn.php, zuletzt aufgerufen am 10.09.2020) (FP 28.11.2018, Brill).
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zehn, fünfzehn Mal kontrolliert, und da war nichts‹. So, dann fragen die sich natürlich auch, was das für einen Sinn macht, ne? Es ist ja auch ein Stück weit eine Verdrängung, weil sich die Jugendlichen dann natürlich überlegen, ›okay, gehe ich jetzt noch in den Kurpark, oder erspare ich mir das und gehe irgendwo anders hin, suche mir einen neuen Ort?‹ Genau.« Y1: »Aber gibt es solche Orte, wo du sagen würdest, dass es vielleicht nicht so abseits liegt, aber dass man da auch mal in einer Gruppe mit Jugendlichen sitzen kann, ohne dass man beäugt wird?« Gf: »Hm, das weiß ich nicht, ob das in Bad Godesberg geht. Also tatsächlich, weil wirklich viel Polizeipräsenz da ist.« (Interview 06, Z. 105ff.) Unabhängig von der Bewertung des Falles und der darauf folgenden öffentlichen Debatte sowie der beschriebenen Maßnahmen lässt sich feststellen, dass im Nachgang das Bild Godesbergs nach außen endgültig den Sonderstatus eines abgerutschten Viertels erhielt. Immer wieder wird von Godesberg auch als »Brennglas der Gesellschaft« gesprochen (Q Brink 2017). In diesem Kontext wird auf das Bild der Enge aus der Zeit der Bonner Republik Bezug genommen. Es wird diagnostiziert, in Godesberg gerieten die ›zwei Welten‹ aufgrund der hohen räumlichen Nähe in Konflikt. Auf die Problemdiagnose folgten in den kommenden Jahren Lösungsstrategien ausgehend von unterschiedlichen Seiten.
Problemdiagnosen und Lösungsstrategien Bis hierhin möchte ich festhalten, dass die Stadtbezirksentwicklung nach dem Hauptstadtumzug in Bad Godesberg zu einer hoch polarisierten Debatte darum führt, wie der Bezirk nun zu definieren sei. Die emotionale Aufladung, die spätestens seit dem Fall Niklas P. die Diskussionen um die Situationsdefinition Bad Godesbergs umgibt, macht auch vor mir als Forscherin nicht halt. Während der Erhebungsphase notiere ich in einem Reflexionsprotokoll: Ich verstehe langsam, was theoretische Sättigung heißt. Langsam kann ich beim Transkribieren der Interviews voraussagen, wie die Argumentation weitergeht, obwohl sie meiner persönlichen Einschätzung in allem entgegensteht. Bei der Gruppe älterer, mal wichtig gewesener Deutscher ohne Migrationshintergrund mit Auslands- und Regierungserfahrung läuft die Verknüpfung von vier Themenbereichen immer gleich ab. Medizintourismus – Migration – Sauberkeit – Sicherheit. Die Erzählung geht so: Schritt eins, es war einmal die Bundeshauptstadt Bonn, dann kam der Umzug mit all den Sorgen und Ängsten, die er hervorrief. So schlimm wurde es nicht, es kamen ja DHL und Telekom und der Medizintourismus. Schritt zwei,
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der Medizintourismus ist gut für Bad Godesberg, er brachte Kaufkraft und Nachfrage nach Immobilien, soweit ist das ja erst einmal Marktwirtschaft. Aber der Medizintourismus bleibt nicht für immer, und jetzt kommt der für mich nur mit tiefliegendem Rassismus zu erklärende Übergang zu Schritt drei, das Problem was sich daraus langfristig ergibt, ist, dass Sauberkeit und Sicherheit vernachlässigt werden. Es gibt Einbrüche, Prügeleien, Schwarzarbeit, Geldwäsche, Zweckentfremdung von Wohnraum, und das alles ausgehend von den Medizintouristen und ihrem »helfenden Umfeld«. Schritt vier, die da wären: die Migranten. So. Jetzt hat man plötzlich eine Verbindung hergestellt vom reichen Katari, der sich in Godesberg behandeln lässt, unterstützt von übrigens seiner, nicht der deutschen Regierung, und das Preisniveau so in die Höhe treibt, dass ich mir nichts mehr leisten kann, und dem migrantischen Kriminellen, der in mein Haus einbricht und vermutlich auch noch Sozialhilfe aus meinen Steuergeldern bezieht. Was zur Hölle. Warum denke ich, das ist Rassismus? Weil diese beiden, Katari und Migrant genau nichts miteinander verbindet, außer dass sie etwas dunklere Haut haben als ich. Maximal noch einer irgendwie verwandten religiösen Richtung angehören, obwohl Verwandtschaft von Konfessionen im Islam glaube ich kein Thema ist, zu dem der gemeine Godesberger irgendeine Art von Ahnung hat. Ich weiß nicht, ob es schlimmer ist, die Bösartigkeit von Menschen ihrer Hautfarbe, ihrer Sprache, oder ihrer Religion zuzuschreiben. Gefährlicher Mix, den kennen wir doch, gerade hier. Und das alles obwohl selbst die nicht gerade integrationsenthusiastische Godesberger Lokalredaktion Tag für Tag herunterbetet: Bad Godesberg steht gut da, gute Entwicklung, teils teuerste Lage Bonns, Leitbildprozess, Aufmerksamkeit wächst, Kriminalstatistik war die letzten Jahre nie auffällig, ist es auch heute nicht, wir kreisen trotzdem täglich mit Polizeiautos um alle dunklen Parks denn wir wissen ja, Angst ist subjektiv und das ist auch OK. Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? Der ist ja weg, umgezogen mit der Botschaft nach Berlin, also niemand mehr. Wer hat Angst vor der schwarz verschleierten Frau? Alle. Sie steht aber nicht für die Unterdrückung der Frau, was stört ist nicht so sehr der schwarze Schleier, sondern eher die teure Handtasche und die goldene Uhr. Sorgen der Elitenablösung, die wirklich erstaunliche Lösung: Die Konstruktion des migrierten arabischen Millionärs, der mit Klein- und Bandenkriminalität den deutschen Rechtsstaat unterläuft. Guter Stoff für eine herrlich abstruse Karikatur, wenn es nicht so traurig wäre. (RP 29.01.2020, Brill, Z. 3ff.)
In dem stark emotional aufgeladenen Protokoll wird deutlich, dass die Situationsdefinition Godesbergs als abrutschender, segregierter Bonner Stadtbezirk Widersprüche zum Bild eines wohlhabenden, wahlweise als idyllisch oder kleinstädtisch empfundenen Kurorts enthält. Diese führen nicht nur aus meiner forschenden Perspektive, sondern auch für Anwohner:innen zu Verwirrung. Es scheint unsicher,
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wie die Umgebung zu definieren ist. Die alltagskulturellen Erlebnisse passen nicht immer zu den gängigen Narrativen, woraus sich der von vielen Seiten geäußerte Wunsch nach einer Neudefinition des eigenen Lebensumfeldes ergibt. Das (aus einer soziologischen Perspektive unmöglich zu erreichende) Ziel einer neuen, auf die Zukunft gerichteten Identitätsdefinition des Bezirks ohne Widersprüche manifestiert sich ab 2016 im sogenannten Leitbildprozess. Auf Antrag der FDP hin stellt der Ausschuss für Finanzen und Beteiligung der Stadt Bonn ein Budget zugunsten des Stadtbezirks zur Verfügung. 2018 wird nach vorheriger Ausschreibung ein Stadt- und Regionalplanungsbüro damit beauftragt, mithilfe eines Bürger:innenbeteiligungsverfahren ein allgemeines Leitbild für den Bezirk sowie ein integriertes Stadtteilentwicklungskonzept für den Innenstadtbereich zu entwickeln. Das Beteiligungsverfahren wird lokal insgesamt stark kritisiert und bezieht vor allem Akteur:innen ein, die schon im Bereich der Bezirksentwicklung engagiert sind, sodass die Rückmeldungen kein breites Bild aus unterschiedlichen Anwohner:innenperspektiven vermitteln können.9 Das 2020 im Stadtrat beschlossene Leitbild beschränkt sich entsprechend auf allgemeine Zielvorstellungen wie eine »lebendige Mitte«, eine »Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls« oder »Respekt und Toleranz« (Mölders et al. 2019). Es gliedert sich aber in einen Prozess ein, in dem die Brisanz der beschriebenen Debatten vor allem durch die langsam nachlassende Aufmerksamkeit der überregionalen Presse an Hitzigkeit verlieren. Einflussreiche Akteur:innen im Stadtbezirk sind dennoch nach wie vor auf den ›Problembereich‹ insbesondere zwischen den Rheinvierteln und der Innenstadt fokussiert. So beschreibt einer meiner Gesprächspartner, der auch im Fall Niklas P. immer wieder medial zu Wort kam, seine Hoffnung für die zukünftige Entwicklung Godesbergs sei es, dass die gegenwärtigen innerstädtischen Anwohner:innen zunehmend durch Student:innen verdrängt würden, um die »soziale Frage« (Interview 09, Z. 152) zwar nicht zu lösen, wohl aber aus dem Innenstadtbereich nach außen zu verlagern, wie es auch andernorts der Fall sei: Jm: »Und was besonders an Bad Godesberg ist: Normalerweise haben Sie anders als jetzt von mir gerade dargestellt die sozialen Brennpunkte in einem Stadtteil immer am Rand, also in Satellitensituationen. Und dadurch, dass sich diese Situation aber jetzt in der Innenstadt ergeben hat, diese Innenstadt mit ihren Läden und diesen kleinen Wohnungen abgesackt ist, haben Sie jetzt das Problem. Wenn Sie eine soziale
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Den Bürger:innenbeteiligungsprozess und daran anschließende Maßnahmen habe ich begleitend zur Feldforschung beobachtet und entsprechende Veranstaltungen protokolliert (FP 17.11.2018, Rosenkranz und 26.03.2019, Brill), da er im Bezirk unvermeidliches Thema war und durch die Erarbeitung eines innerstädtischen Entwicklungskonzeptes außerdem langfristig direkten Einfluss auf die gastronomische Landschaft Bad Godesbergs haben wird.
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Brennpunkt-Situation außerhalb, also am Rande haben, ist es nicht notwendig gegeben, dass sich die Bevölkerungsgruppen begegnen. Wenn aber in der Mitte eines Stadtbezirks diese soziale Spannung sichtbar wird, heißt das, jeder Weg, den Sie nehmen in diesem Stadtbezirk, wenn Sie nicht in Ihrem eigenen Viertel bleiben, führt immer durch den sozialen Brennpunkt, oder zumindest in diese soziale Konfliktsituation. Und es gab ja diesen Vorfall Niklas Pöhler, das liegt hier an dieser Linie der B9, die also den Stadtteil zerteilt. Hier an der B9 entlang, das ist so der unattraktivste Streifen. Hier (Anm.: auf der einen Seite der B9 und der Bahnlinie) haben Sie die Hanglage, hier (Anm.: auf der anderen Seite) haben Sie die Rheinlage und hier haben wir eben die sozialen Brennpunkte. Sagen wir, ein Brennpunkt ist zu viel gesagt, das würde manche, die da wohnen jetzt falsch kategorisieren. Aber hier haben wir einen deutlichen sozialen Unterschied zu diesen beiden Teilen. Und Sie haben hier beispielsweise das Aloisiuskolleg, also eine Privatschule, Sie haben hier die nächste Privatschule, hier haben Sie eine Privatschule (Anm.: in der »Hanglage«), so, das heißt also, wer auch immer von der Rheinlage dort zur Privatschule will, der muss immer hier durch diese Situation durch. Und der Tod von Niklas Pöhler findet genau hier auf der Grenze statt. […] Von daher hat das so eine schicksalhafte Signalwirkung. Und das macht eben diese Sozialproblematik aus, die soziale Schere ist von keinem, der in Bad Godesberg lebt, zu übersehen, wird immer als Wirklichkeit auch wahrgenommen und bestimmt damit auch die Bewertungen, die Aussagen der Bevölkerung, weil Sie dem gar nicht aus dem Weg gehen können. Von der Spanne her ist das vielleicht extrem, aber vielleicht gar nicht so untypisch für Stadtbezirke heute, das werden Sie ja woanders auch finden, aber dass sich das hier eben in dieser Mittellage abspielt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich die sozialen Schichten begegnen, dass sie sich aneinander reiben, dass sie sich fremd gegenüber stehen, und dass sich dann eben auch Aggressionen entladen. Wenn Sie von hier aus mit hochgestelltem Lacoste-Hemd zur Privatschule gehen, dann dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass jemand, der die Hose auf halb acht hat und eben nicht das Geld seiner Eltern, um auf die Privatschule zu gehen, sich provoziert fühlt.« (Interview 09, Z. 108ff.) Seine Beschreibungen ergänzt der Interviewte um eine zeichnerische Darstellung, in dem der ›Problembereich‹ zwischen »Rheinlage« (östlich) und »Hanglage« (westlich) durch die Schraffur markiert wird (Abb. 2). Laut Mietpreisspiegel von 2020 ist der Wohnraum entlang der B9 tatsächlich günstiger ist als in den Außenbereichen Bad Godesbergs10 . Damit liegen billige10
Vgl. den Mietpreisspiegel des Dezernats für Planung, Umwelt und Verkehr der Bundesstadt Bonn von 2020, URL: https://www.bonn.de/medien-global/amt-62/Bonner-Mietspiegel-202 0.pdf, zuletzt aufgerufen am 16.01.2023.
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re Wohngegenden nicht wie in den übrigen Bezirken Bonns am Rand, sondern in der Mitte des Bezirks. Man muss (unabhängig von der stark schematisierten Darstellung beteiligter Personen) der Bewertung dieser Tatsache als problematisch, gar pathologisch, die im Interview geäußert wird, nicht folgen (vgl. kritisch dazu Niedermüller 2004). Eine Lösung im Sinne einer Verdrängung der jetzigen Mieter:innen aus dem Innenstadtbereich durch einen Gentrifizierungsprozess würde nicht nur Gewinner:innen hervorbringen. Vor allem würde es das Konfliktpotenzial im öffentlichen Leben nicht lösen, das sich wie oben beschrieben insbesondere ablehnend gegen Zeichen islamischer Religionsausübung (eher als gegen Schichtzugehörigkeit) wendet.
Abb. 2: Zeichnung Interview 09 (April 2019)
Darüber hinaus stellt die infrastrukturelle Trennung der Godesberger Stadtteile längst nicht für alle Anwohner:innen eine alltagspraktische Trennung von Lebensbereichen dar, sondern wird wie hier im Interview beschrieben von vielen erst einmal als bauliche Grenze und dann in einem zweiten Schritt als diskursives Argument wahrgenommen:
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Fm: »Das ist dann das Einzugsgebiet, dann gehen die Leute da rüber, gehen vom Rheinviertel ins Kino, auf dem Markt einkaufen, für weitere Einkäufe in die Innenstadt, und dann kommen sie wieder zurück und wollen ihre Ruhe haben.« Y1: »Ok. Das mit der Trennlinie habe ich jetzt schon häufiger gehört, ist das irgendwann so entstanden? Oder ist das schon immer so?« Fm: »Das ist schon immer so, weil, irgendwann hat man die Bahnlinie so gebaut. Man hat die Bahnlinie gebaut, und das trennt natürlich, genauso wie der Rhein trennt, gut, der Rhein trennt ein bisschen dramatischer als die Bahn, weil da gibt’s ja noch die ein oder andere Unterführung, immerhin. Aber ansonsten gibt’s halt Schranken, die nerven. Das kennt ja jeder Bonner, ne? Nicht nur in Godesberg.« Y1: »Das heißt, es ist nicht so, dass sich das hier stärker getrennt hat?« Fm: »Naja stärker ist es irgendwann geworden, als sich hier das ganze Viertel verändert hat, ne? Also da habe auch ich das erste Mal dieses Theaterstück gesehen, als das Thema Jugendgewalt aufkam und Zwei Welten, da hat man das irgendwie stärker wahrgenommen als früher, ne? Zu meinen Schulzeiten vor dreißig Jahren habe ich das nicht als besondere Trennlinie wahrgenommen. Aber wie trennend das ist, nimmt auch jeder anders wahr. Also für mich ist das so: Ich bin da, ich gehe hin und her, und denke mir nichts dabei.« (Interview 05, Z. 425ff.) Hier wird deutlich, dass sich jenseits diskursiver Narrative (wenn auch nicht unabhängig davon, wie die Bemerkung zum Theaterstück »Zwei Welten« zeigt) Alltagspraktiken vieler Anwohner:innen über Jahre entwickeln und auf materiell-bauliche Gegebenheiten stoßen, mit diesen aber pragmatisch umgehen, ohne zwangsläufig die Polarisierung öffentlicher Debatten in die eigenen alltagspraktischen Entscheidungen zu übernehmen. Nicht zu unterschätzen ist dennoch, dass die gebaute Umwelt und das alltägliche Bewegen darin als Argument in aufgeladenen Debatten genutzt werden kann, um symbolische Grenzen zu festigen. Die Diagnose von den Godesberger ›Parallelwelten‹ erhält durch die Bahnlinie eine physisch sichtbare Verortung und wird so legitimiert – dass ganz Bonn durch die gleiche Bahnlinie getrennt ist, wie auch der Interviewte bemerkt, scheint dabei kaum von Belang. Insgesamt zeigt sich, dass das diskursive Bild Godesbergs und die daran anschließenden Strategien der Stadtbezirksplanung und -entwicklung maßgeblich aus einer spezifischen Perspektive und von einzelnen Akteur:innen bestimmt werden.11 Die bis hierhin dargestellten Bestandteile der lokalen Geschichte sind vor allem für Anwohner:innen von Bedeutung, die sich im Alltag stark mit dem Bezirk 11
Andere Perspektiven werden in aktuellen Veröffentlichungen aufgemacht. 2021, nachdem ich die empirische Erhebung im Feld bereits abgeschlossen hatte, erschienen gleich zwei autobiografische Bücher von Autorinnen, die unter anderem von ihrem Aufwachsen in Godesberg in Bezug auf andere als die bisher beschriebenen zentralen Aspekte erzählen (vgl. Ofo-
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beschäftigen und damit identifizieren und darüber hinaus auch emotional aufgeladene Bezüge zur Lokalgeschichte haben. Vor kurzer Zeit in den Bezirk Umgezogene kennen diese naturgemäß weniger genau und messen ihr im Vergleich mit den eigenen Alltagserlebnissen tendenziell weniger Bedeutung zu. Auf die unterschiedlichen Gruppen von Anwohner:innen in Bad Godesberg und ihre Perspektiven auf den Alltag im Stadtbezirk gehe ich im Teilkapitel 2.3 ein. Zu betonen ist bis hierhin, dass zahlreiche Anwohner:innen die beschriebenen Debatten nicht stetig im Alltag thematisieren oder damit in direkte Berührung kommen. Für ein Verständnis der Rahmung esskultureller Situationen sind einige lokalhistorische Bedingungen aber dennoch in ihren indirekten Auswirkungen auf alltägliche Begegnungen entscheidend. Die zentralen Bestandteile, die den Rahmen meiner ethnografischen Beobachtungen, meiner Gespräche und Interviews zu esskulturellen Situationen sowie deren Auswertung bilden, fasse ich deshalb noch einmal zusammen: Erstens lässt sich durch die lange Geschichte Godesbergs als Treffpunkt nationaler und internationaler Eliten davon ausgehen, dass ein gewisser Bedarf an hochpreisiger Gastronomie mit der Eignung für repräsentative Anlässe bestand und immer noch besteht. Religiöse Speiseregeln (z.B. halal) haben dabei gesamtgesellschaftlich in den letzten Jahren ebenso wie vegane oder vegetarische Beschränkungen der Ernährung an Bedeutung gewonnen, sind im Bezirk jedoch mit polarisierten Narrativen verbunden. Zweitens ist Godesberg wirtschaftlich auf den Tourismus ausgerichtet und darauf angewiesen, sodass ein nicht zu unterschätzender Teil der esskulturellen Interaktionen im öffentlichen Raum zwischen lokalen Dienstleister:innen und reisenden Gästen stattfindet. Drittens haben die verschiedenen Bau- und Umbauphasen Godesbergs eine spezifische Infrastruktur entstehen lassen: Der Innenstadtbereich ist rein baulich unübersichtlich, andererseits sind in Form der Plansiedlungen, aber auch der Villenviertel sowohl im teuren als auch im günstigen Bereich preislich homogene Wohnviertel entstanden (die deshalb nicht für homogen in Bezug auf andere Merkmale gehalten werden sollten), sodass diese Stadtteilgrenzen in die Analyse gastronomischer Nutzungspraktiken mit einbezogen werden müssen. Viertens ist Godesberg schon immer von einer hohen Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung geprägt, insbesondere in der Form extrem mobiler, internationaler Anwohner:innen, die auf den an sich dynamischen Bereich der gastronomischen Branche trifft. Lokale, die sich lange halten, haben also eine Sonderrolle im Bezirk. Fünftens ist für manche, weniger mobile Anwohner:innen die hohe Bedeutung repräsentativer Orte und Bauten, die auf die politische Vergangenheit Bad Godesberg verweisen, nicht zu unterschätzen. Aus dieser Perspektive herrscht eine starke Skepsis gegenüber Bonn, aber auch Berlin als neuer Hauptstadt vor, da der Bezirk als disempowered riatta Ayim 2021; Dardan 2021). Inwieweit diese Diversifizierung des Diskurses das Bild von Bad Godesberg nach innen und außen verändert, bleibt abzuwarten.
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city wahrgenommen wird. Häufig (aber durchaus nicht immer) geht mit dieser Haltung eine Ablehnung von Zeichen islamischer Religionsausübung sowie allgemein gegenüber vermuteten Eigenschaften neu hinzuziehenden Gruppen einher. Beides wird oft als Teil eines übergeordneten Prozesses gedeutet, und zwischen Muslim:innen, Migrant:innen und insbesondere arabischsprachigen Tourist:innen wird kaum bis gar nicht differenziert. Wie eingangs bereits betont ist die Kenntnis dieser lokalgeschichtlichen Rahmung alltagskultureller Situationen wichtig für die analytische Verortung, aber nicht vollständig bestimmend für deren interaktiven Verlauf und perspektivabhängig von mal größerer, mal geringerer direkter Relevanz für die Beteiligten. Die Frage nach der lokalen Rahmung meiner Forschung abschließend zitiere ich aus einem Reflexionsprotokoll, in dem ich zum Ende meiner Beschäftigung mit den Hintergründen des Stadtbezirks 2019 meine Außenperspektive zu diesem Zeitpunkt resümiere: Für mich als Außenseiterin ist Bad Godesberg ein Stadtbezirk zwischen Rhein und Wald, der an der Autobahn beginnt und bis zum Ende von Mehlem reicht. Dazwischen liegen über zweihundert Möglichkeiten, im öffentlichen Raum zu essen. Sie weisen eine hohe Vielfalt von quantitativen (Preis, Menge, Platz, Uhrzeiten,…) und qualitativen (Regionalbezüge, Personal, Kundschaft, Ausstattung,…) Merkmalen auf, Kategorisierungen sind entlang von jedem dieser Merkmale oder – noch schlimmer – entlang hunderter Merkmalkombinationen möglich. Aus dieser Perspektive erstaunt es, wenn klare Linien gezogen werden, wenn aus der Vielfalt einzelne Vergleichsfälle herausgenommen, beschrieben, und andere ignoriert (auch im Sinne von »nicht kennen«) werden. Wenn es Konflikte gibt, wo es scheint, die Vielfalt sei groß genug, um frei zu wählen. Wenn ich manchen der Anwohner:innen zuhöre, wird jedoch klar: Die Konflikte sind nichts, was vermieden werden will, einem verängstigt-erbosten Godesberger vorzuschlagen, er solle die Koblenzer Straße doch einfach meiden, wenn sie ihm nicht gefällt und eine der (grobe Schätzung) neunhundert anderen Straßen Godesbergs zum Spazieren oder einzelne der zweihundert anderen Essmöglichkeiten wählen, bringt nicht viel. Der Konflikt will nicht gelöst werden, und schon gar nicht vermieden. Wenn ich eine alteingesessene Godesbergerin fragen würde, wie ein Lokal aussähe, wovon es umgeben und von wem es besucht würde, das sie selbst gestalten könnte – ich bin mir sicher, dass sich ein zur Beschreibung passender Ort in Godesberg finden ließe. Ich könnte, aus meiner ganz persönlichen Perspektive, sagen: Godesberg hat kein Problem, der Zwei-Welten-Konflikt ist ein Pseudokonflikt in den Köpfen einzelner älterer Herren, für die ein Döner das Nationalgericht von Arabien ist. Damit wäre aber wenig gewonnen. Denn zumindest institutionell gesehen sind diese älteren Herren diejenigen, die die Mehrheit in Godesberg repräsentieren. Und diese Herren sind in
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Teilen die Söhne der unteren Angestellten in den ehemaligen Botschaften. Von Hause aus überzeugt von politischem (!) Dialog, erreichbar durch den Kontakt zwischen repräsentativen Personen. Lauter Mini-Diplomaten, die versuchen, die zwei Welten die sie (dummerweise entlang religiöser anstelle von politischen Linien und damit repräsentationsimmun) wahrnehmen, zu vereinen und über Jahrzehnte frustriert von der Unvereinbarkeit ihrer Konstruktion sind – damit gleichzeitig aber auch immer noch etwas zu tun, für etwas zu kämpfen, gegen etwas zu wettern haben. Diejenigen, die in Dialog gebracht werden sollen, sind aber längst im vielstimmigen Dialog, in Kirchen, in Vereinen, in Schulen, in Ehen, in Imbissen und Restaurants. Problem: Nicht im politischen Dialog. Damit wird der gewünschte Zwei-Welten-Dialog zum Alte-Herren-Monolog und alle anderen unterhalten sich einfach woanders. Problematisch wird das, wenn der Monolog der Repräsentativen die städtische Umgebung der Religiösen bestimmt. Denn dann wird die Moschee zur Hinterhofmoschee und das Restaurant zum unrestaurierten Imbiss, obwohl die Kirchen sich leeren und die Dorfkneipen schließen. Und dann sind die zwei Welten auf einmal real, auch und gerade für die, die einfach nicht geantwortet haben auf den Monolog. (RP 25.02.2019, Brill, Z. 3ff.) Hier wird noch einmal deutlich, wie ich mich in den unterschiedlichen Phasen der Datenerhebung und -auswertung immer wieder mit dem diskursiven Bild Bad Godesbergs und dessen Varianten auseinandergesetzt und versucht habe, es mit empirischen Ergebnissen und Erlebnissen in Einklang zu bringen. Letztendlich lässt sich beides nicht widerspruchsfrei vereinen, vielmehr bietet es sich an, die unterschiedlichen Bilder Bad Godesbergs auf die Ebene der übrigen empirischen Daten abzusenken. Damit kann man beides (eigene Beobachtungen und solche von anderen) nebeneinander betrachten, wie es im Alltag schließlich auch Anwohner:innen tun.
2.2 Esskultur im Stadtbezirk Im Folgenden möchte ich die Bandbreite der Orte abbilden, die diesen Anwohner:innen für ihre Alltagsgestaltung ebenso wie für ihre diskursiven Projektionen zur Verfügung steht. Sucht man in Bad Godesberg nach der Begegnung von individuellen, esskulturellen Alltagspraktiken, zeichnen sich drei grundsätzlich verschiedene Rahmungen von Situationen ab: Erstens gibt es einige regelmäßig eingerichtete Veranstaltungen, die an Orten stattfinden, die stets nur temporär auf esskulturelle Nutzung ausgerichtet sind (Kochtreffs, Stadtteilcafés, Vereinstreffen, religiöse Feste etc.; s. dazu Kap. 3). Zweitens werden zu einmaligen Anlässen Stadtfeste, Weihnachtsmärkte etc. (s. dazu Kap. 4) veranstaltet. Drittens findet ein Großteil alltäglicher esskultureller Interaktionen in der Außen- oder Innengastro-
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nomie des Bezirks statt, also in konstant an einem spezifischen Ort befindlichen Restaurants, Imbissen etc. (s. dazu Kap. 5). Konstante gastronomische Räume sind von einer klaren kommerziellen Ausrichtung bestimmt; regelmäßig eingerichtete, aber nur temporär kulinarische Räume tendenziell eher nicht. Einmalige kulinarische Veranstaltungen wie Stadtfeste sind Mischformen und beinhalten sowohl kommerziell bestimmte, als auch auf einen nicht-kommerziellen Aufenthalt ausgelegte Räume. Gastronomie, kulinarische Veranstaltungen sowie regelmäßige Treffen gibt es grundsätzlich überall. Unterschiedliche esskulturelle Praktiken und deren repräsentative Verweise lassen sich nicht nur in Bad Godesberg untersuchen. Und doch ist der Stadtbezirk von einigen Eigenschaften geprägt, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Dazu zählt einerseits die hohe Heterogenität der Anwohner:innen in Bezug auf die Aufenthaltsdauer im Bezirk, die ökonomischen Ressourcen und das Alter, die ein höchst diverses Publikum für das esskulturelle Angebot ergeben. Manche Orte sind so auf einzelne, eher homogene Gruppen ausgerichtet, an anderen begegnet sich ein heterogenes Publikum mit ganz unterschiedlichen esskulturellen Praktiken. Andererseits führt die Kombination aus lokaler Geschichte und diskursiver Aufladung zu einer besonderen Rolle ›arabischer Esskultur‹. Ich verstehe diesen Begriff als diskursive Konstruktion eines Gegenbegriffs zu ›alteingesessener Esskultur‹. Aus forschender Perspektive scheint es selbst im lokal begrenzten Anwendungsfeld Godesbergs – wie bei jeder Verknüpfung geografischer und kultureller Grenzziehungen – unmöglich, klar zu definieren, worum es sich bei ›arabischer Esskultur‹ handelt und welche Vorteile eine solche Kategorie gegenüber anderen Einteilungen bietet (beispielsweise ›Levante-Küche‹, ›islamische Esskultur‹, ›maghrebinisches Essen‹, ›kurdische Küche‹ etc.). Gleiches gilt für den Gegenbegriff der ›alteingesessenen Esskultur‹, der mal auf ›gutbürgerliche Küche‹, mal auf ›Traditionslokale‹ und mal auf ›rheinische Esskultur‹ Bezug nimmt. Die Kategorie ›arabisch‹ hat in Godesberg aber eine hohe alltagspraktische Relevanz und wird sowohl als Fremdwie auch als Selbstzuschreibung nicht nur in Bezug auf das Essen beansprucht. So beschreiben viele meiner Gesprächspartner:innen wie schon deutlich geworden ist, dass sie sich in Godesberg wahlweise wohlfühlen oder eben nicht wohlfühlen, weil es ›arabisch geprägt‹ sei. Zumeist wird damit auf die Sprache Bezug genommen, wie auch in diesem Interviewausschnitt: Y1: »Wie findest du hier die Innenstadt?« Vf: »Ich finde es schön, wie meine Heimat, immer viele Leute.« […] Y1: »Und was brauchst du, damit du dich zuhause fühlst?«
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Vf: »Weil ich hier viele Leute Arabisch sprechen höre,als ob man in Syrien leben würde.Sie sprechen alle Arabisch, Kurdisch, Türkisch, nicht nur Deutsch. Man fühlt sich hier nicht so, als sei man anders. Man fühlt sich, als würde man in diese Umgebung gehören.« 12 Vf: »Ja, ich höre viele Leute Arabisch reden und andere Kurdisch.« […] Uf: »Dann hat man das Gefühl, man gehört hierher. Wir gehören hierher, wir fühlen uns nicht so fremd, nicht so einsam.« (Interview 21, Z. 637ff.) Schnell wird hier die Kategorie ›arabisch‹ aufgelöst und es geht eher um eine Vielfalt an unterschiedlichen Sprachen in Abgrenzung zu Räumen, in denen ausschließlich Deutsch gesprochen wird. Dennoch lässt sich zumindest sprachlich mehr oder weniger klar begrenzen, welche regionalen oder nationalstaatlichen Dialekte sich dem Arabischen zuordnen lassen. Geht es um das Essen, wird diese Eingrenzung schwieriger und regionale Kategorisierungen überlagern sich, wie in dieser Diskussion über verschiedene Rezepte für einen Bulgur-Salat: Uf: »Ja, man kann das anders machen. Das ist so ein typisch arabisch-libanesisches Rezept. Bei dem kurdischen Rezept macht man das gleiche, aber mehr Tomaten, mehr Bulgur. Für uns schmeckt das natürlich auch besser. Weil es nicht so trocken ist, nur mit Petersilie ist es richtig trocken. […] Meine Mutter hat da so eine Schüssel gemacht, ganz groß.« Uf: »Kennst du itsch oder esch?« Vf: »Auf Kurdisch sagen wir donck, das heißt itsch oder esch.« Uf: »Also kurdisches Tabouleh.« Vf: »Ja.« Y1: »Wenn jemand einen Teller bringt, würdet ihr wissen ob das arabisch ist oder kurdisch, oder nach welchem Rezept das gemacht ist?« Vf: »Ich glaube kurdisches Tabouleh gibt es im Restaurant nicht.« Y1: »OK, aber wenn jemand das macht, merkt ihr den Unterschied?« Uf: »Wir merken das, ja.« Y2: »Ist das wie das armenische itsch/esch oder anders?« Vf: »Es ist wie das türkische.« Y2: »Also gibt man nur Bulgur und Tomaten dazu, wie bei den Armeniern?« Vf: »Nein, wir geben noch mehr Gemüse dazu.« Uf: »Salat, Petersilie, Gurke. Und wir schneiden es so klein wie die Petersilie beim Tabouleh aber ein bisschen gröber.« 12
Während des Interviews wurde Deutsch, Arabisch und Kurdisch gesprochen. Kursiv gesetzte Zitate sind im Original Arabisch und wurden in der Transkription von Baydaa Layla übersetzt. Die kurdischen Gesprächsteile fanden nur zwischen den beiden Interviewten statt und wurden nicht übersetzt.
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Y2: »Ich habe es noch nie gegessen.« Vf: »Grüne Zwiebel.« Uf: »Schnittlauch.« Vf: »Und Petersilie.« Uf: »Petersilie, Salat.« Vf: »Salat, Tomaten.« Y2: »Gurke auch.« Vf: »Gurke? Nein, nein. Gurke, nein. [Kurdisch] Y1: »Was hast du gesagt?« Uf: »Ich habe gesagt, ich dachte auch, wir machen das mit Gurke.« (lacht) (Interview 21, Z. 333ff.) Immer wieder fällt auf, dass sowohl arabisch- wie auch nicht arabisch-sprachige Anwohner:innen unterschiedliche regionale Bezüge zusammenfassen. Die Kategorie ›arabisch‹ wird (vor allem in Bezug auf die Gastronomie) eher als Abgrenzung zu alteingesessenen Lokalen denn als akkurate Beschreibung einer spezifischen Küche genutzt. So nennt eine deutsch- und arabisch-sprachige Gesprächspartnerin beispielsweise auch den »Pakistani«, den »Afghanen« und den »Türken« nach dem einführenden Satz, es seien »alles Araber« in Godesberg. Die Gegenkategorie sind »die anderen lokalen Angebote«: Sf: »Also es sind alles Araber hier. Ich kenne mich ja nicht mit den ganzen anderen lokalen Angeboten aus, aber mein Eindruck ist, überwiegend haben wir jetzt arabische Restaurants. Aber müsste man mal auszählen, das ist nur mein Erleben. Man kann die ja mal auflisten, hast du ja inzwischen gemacht, OK, hier ist ja der Pakistani, da hinten ist der Afghane, hier ist der eine Türke, da hinten weiß ich nicht, der ist doch glaube ich auch arabisch. Ich würde sagen, es ist schon stark arabisch geprägt, und das sind auch alles arabische Umsätze.« (Interview 19, Z. 1071ff.) Mit »anderen lokalen Angeboten« sind einerseits andere räumlich zugeordnete Lokale gemeint – allen voran ›italienische‹, aber beispielsweise auch ›mediterrane‹ oder ›asiatische‹. Andererseits bezieht die Interviewte sich auf den Gegenbegriff ›alteingesessener Esskultur‹, worunter viele Anwohner:innen in erster Linie Kneipen mit gutbürgerlicher Küche und rheinischen Spezialitäten verstehen, zumeist in Kombination mit einer gewissen lokalen Traditionsverbundenheit und der Vorstellung von gastronomischer und ökonomischer ›Einfachheit‹. Worum es sich genau handelt, ist ähnlich wie im Falle der ›arabischen Esskultur‹ auch für die ›alteingesessene Esskultur‹ nur schwer zu beantworten. Bei der Frage nach den kulinarischen Bestandteilen wird schnell auf andere Bereiche wie die Verbindung
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zum Karneval oder zum gemeinsamen Fußballgucken ausgewichen. Vor allem wird die Eigenschaft der ›Arme-Leute-Küche‹ aus der Nachkriegszeit betont: Km: »Es (Anm.: rheinische Küche) ist das, was es heute auch immer noch gibt, nämlich den Sauerbraten, den klassischen, der früher wohl vom Pferd gemacht worden ist. Ja dann Himmel und Äd, die Variante mit Blut- und Leberwurst, Kartoffelpüree und Apfelmus. Das ist auch eigentlich eine Küche von armen Leuten, die sich aber dann wieder was erlauben konnten sozusagen. Eintöpfe natürlich, jeglicher Art, das ist so die rheinische Küche, also keine filigrane Küche, ich glaube die gab’s nirgendwo, weil man sich einfach erstmal ernähren musste. Es musste für jeden was dabei sein, Reibekuchen mit Speck, solche Geschichten.« (Interview 10, Z. 171ff.) Generell wird unter dem Stichwort ›alteingesessener Esskultur‹ zumeist weniger über konkrete Lokale oder Gerichte und stattdessen über einen Verlust oder das Fehlen von gastronomischen Angeboten im Vergleich zu einem besseren Zustand in der Vergangenheit gesprochen: Xm: »Also es kommt ja immer sehr drauf an, mit wem Sie dann da sprechen. Wenn Sie eben mit dem, ich sage das jetzt mal in Anführungszeichen, weißen alten Mann reden, dann ist es natürlich eine andere Situation als wenn Sie sagen wir mal mit Studenten reden würden. […] Also für die Gruppe zu der ich jetzt mich selber zähle […] fehlt mir eine durchaus offene aber auf den Heimatwurzeln irgendwie basierende und die aufbauende Gastronomie, die uns auch ein bisschen Raum lässt für dieses Heimatthema. Und wo wir uns ganz schnell da wiederfinden. Weil, wenn Sie aus Köln kommen wissen Sie haargenau, nach dem zweiten Kölsch ist alles gelaufen, da weiß man sofort wo vorne und hinten ist und wer neben einem steht und der erzählt einem alles, ne? […] Alles andere ist dann auch eher die Stadtentwicklung insgesamt, und dann ist schon die Frage, wieviel Gastronomie verträgt dieser Innenstadtbereich, da müssen wir die Gesamtsituation des stationären Einzelhandels und die Verwertung dieser Immobilien, dieser stadtnahen Immobilien, also die Funktionalität einer Innenstadt sehen. Und die Funktionalität einer Innenstadt ist sicherlich zunehmend definiert über anderes als nur über Einkaufen, […] als Erlebnisraum ja. Als Begegnungsraum, hm, ist es so? Als Begegnungsraum nicht. Also das sind so Dinge, da gehören dann so ein paar identitätsstiftende Gebäude und aber auch eben Anlässe dazu.« (Interview 23, Z. 235ff.) Im Zitat wird auch deutlich, wie eng die Wahrnehmung der Innenstadtentwicklung mit dem vorhandenen gastronomischen Angebot verknüpft ist, was durch Presseberichte noch geschürt wird (vgl. Q o.V. 2021; Q Elbern und Jacob 2020a; Q Jacob 2020; Q o.V. 2020; Q Elbern 2019a; Q Jacob 2019; Q Elbern 2019b).
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Individuelle Einschätzungen der gastronomischen Landschaft in Bad Godesberg unterscheiden sich teils stark, abhängig von den jeweiligen Nutzungspraktiken und Bewegungsprofilen im Stadtbezirk, auf die ich in Teilkapitel 2.3 eingehe. Folgt man aber zunächst nicht den individuellen Deutungen von Anwohner:innen, was nun ›arabisch‹ sei bzw. welche anderen Kategorien sich zur Beschreibung gastronomischer Orte nutzen lassen, bietet es sich an, sich an der öffentlich sichtbaren Selbstbeschreibung der jeweiligen Orte zu orientieren. Zum Ausgangspunkt der empirischen Analyse soll deshalb zunächst eine Vollerhebung13 konstanter und temporärer Orte esskultureller Interaktionen im Stadtbezirk Bad Godesberg dienen, um einen Überblick über das tatsächliche lokale Angebot zu gewinnen.
Abb. 3: Konstante gastronomische Orte im Bezirk (Stand 2019)
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
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Die Vollerhebung bezieht sich auf den Stand des Angebots im Bezirk im Frühjahr 2019. Wie bereits erwähnt handelt es sich bei der Gastronomie um einen höchst dynamischen Wirtschaftssektor, sodass es seitdem viele Schließungen und Neueröffnungen im Bezirk gab. Die Erhebung dient demnach nicht als aktuelles Verzeichnis, sondern als standbildartige Trendanzeige, die als solche auch nach einzelnen Veränderungen ihre Gültigkeit behält.
2. Städtische Alltäglichkeiten in Bad Godesberg
Neben den einzelnen temporären esskulturellen Veranstaltungen (ca. zehn einmalige Veranstaltungen pro Jahr und ca. fünf regelmäßige Treffs) gibt es im ganzen Bezirk verteilt auf die Innenstadt und die umliegenden Stadtteile insgesamt rund 200 konstante gastronomische Einrichtungen (Abb. 3), wobei nur solche mit dauerhaften Sitzmöglichkeiten gezählt wurden (Bäckereien mit einer Verkaufstheke zum Beispiel nicht, solche mit Sitzbereich hingegen schon). Etwa ein Viertel davon lässt sich als Restaurant mit Bedienung am Platz typisieren, außerdem gibt es jeweils rund 20 Cafés, Imbisse mit Sitzgelegenheiten und Bäckereien mit angeschlossenem Cafébereich, die zusammen genommen ein weiteres Drittel der konstanten gastronomischen Orte ergeben. Etwa ein Fünftel lässt sich keinem spezifischen Typ zuordnen oder vereint unterschiedliche Typen zu hybriden Formaten (s. Abb. 4).
Abb. 4: Gastronomische Typen im Bezirk (Stand 2019)
Ein gewisses gastronomisches Angebot gibt es in allen dreizehn Stadtteilen, wobei die meisten Lokale um die ehemaligen Dorfkerne angesiedelt sind. Vor allem Friesdorf, Plittersdorf, Rüngsdorf, Lannesdorf und Mehlem lassen die früheren Dorfkerne noch deutlich erkennen. Eine besondere gastronomische Nutzung des Rheinufers wie in anderen Städten und Stadtteilen üblich, lässt sich in Godesberg nicht beobachten. Die höchste Dichte an Lokalen besteht wenig überraschend um und in der innerstädtischen Fußgängerzone in Alt-Godesberg (s. Abb. 3). Rund ein Drittel der konstanten gastronomischen Orte nutzt eine nationale Selbstzuschreibung, wobei insgesamt 16 unterschiedliche Nationalitäten aufgerufen werden, allen voran Italien mit 19 Lokalen. Regionale Zuschreibungen gibt es in Bezug auf nationale Regionen (wie ›galizisch‹), aber auch transnationale Regio-
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nen (wie ›asiatisch‹). Die Beschreibung als ›rheinisch‹ wird dabei am häufigsten und insgesamt für neun Lokale verwendet, dicht gefolgt von sieben ›arabischen‹ Lokalen. Auch städtische Benennungen werden genutzt, so beispielsweise in Bezug auf Bad Godesberg, Damaskus oder Barcelona. Manche Bezeichnungen vereinen verschiedene räumliche Bezüge, beschreiben das jeweilige Lokal explizit als international oder verzichten (bei etwa einem Viertel) auf räumliche Zuordnungen (s. Abb. 5).
Abb. 5: Raumbezogene Zuschreibungen in der Gastronomie (Stand 2019)
Rund drei Viertel aller gastronomischen Betriebe greifen auf eine explizite räumliche Zuordnung unterschiedlicher Größenordnung zurück. Auf die Frage, weshalb solche Zuschreibungen gerade für das Essen eine derart hohe Bedeutung haben, komme ich in Kapitel 5 zurück. Hier fällt zunächst auf, dass die diskursive Unterscheidung von ›alteingesessener‹ und ›arabischer‹ Esskultur nur einen Ausschnitt der esskulturellen Situation Bad Godesbergs abbildet. Angelehnt an die ›Zwei-Welten-Theorie‹ oder die These des clash of civilizations (s. Teilkap. 2.1) wird so zwischen lokaler, rheinischer (christlich geprägter) und auswärtiger, arabischer (islamisch geprägter) Esskultur unterschieden. Wenn man aber regionale, städtische und nationale Zuschreibungen zusammennimmt, die von Anwohner:innen grob als dem arabischsprachigen Raum zugehörig wahrgenommen werden könnten, handelt es sich um nur 14 Lokale. Restaurants, die im weitesten Sinne Referenzen zum Bezirk, zur Stadt Bonn, zur rheinischen Region oder zu Deutschland nutzen, gibt es insgesamt 39. Die übrigen knapp 150 Lokale verwenden keine oder ande-
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re räumlichen Bezüge. Es wird klar, dass das gastronomische Angebot in dieser Hinsicht deutlich diverser aufgestellt ist, als die diskursive Gegenüberstellung von ›arabischer‹ und ›alteingesessener‹ Esskultur es vermuten lässt. Betrachtet man nur den Ausschnitt der Fußgänger:innenzone in der Innenstadt, findet das diskursive Bild schon eher eine Begründung: 12 der 14 Lokale mit arabischen Referenzen sind hier verortet und neun der 39 regional zugeschriebenen Lokale. Dennoch eröffnen auch hier über 40 Lokale andere oder keine räumlichen Referenzen, die raumbezogene Diversität im gastronomischen Angebot findet sich also in den Stadtteilen ebenso wie in der Innenstadt. Weder diese quantitative Erfassung des tatsächlichen Angebots noch die Analyse seiner diskursiven Darstellung beantwortet allerdings die Frage nach alltäglichen Nutzungsweisen von Anwohner:innen. Die hier beschriebene gastronomische Situation bildet lediglich die Grundlage für unterschiedliche mögliche esskulturelle Nutzungspraktiken im städtischen Raum, auf die ich nun genauer eingehen werde.
2.3 Bewohner:innen und Besucher:innen Anhand der Lokalgeschichte Bad Godesbergs zeigt sich deutlich, was für sozialräumliche Einheiten im Allgemeinen gilt: Die Grenzen der Einheit verändern sich und damit auch die Elemente, die sie einschließen. Sie sind zu bestimmten historischen Zeitpunkten mal klarer, mal weniger klar, zeitweise mehr oder weniger Diskussionsthema, und vor allem werden sie immer wieder neu gezogen. Dabei bleibt die neue Grenze mit der alten im Gespräch. Wovon wird sich heute abgegrenzt, wovon morgen? Wo verläuft die Trennlinie, für wen schafft sie Klarheit, für wen Unsicherheit? Was sind die zentralen Elemente innerhalb der Grenzlinie, die die Einheit jetzt ausmachen? Welche davon sind schon lange da, welche sind neu, welche haben ihre Position geändert, welche werden für die Zukunft erhofft oder gefürchtet? Die Grenzen der Einheit ›Godesberg‹ sind nicht nur diachron wandelbar, sie sind es auch synchron – das wird in den unterschiedlichen Perspektiven auf das esskulturelle Angebot des Bezirks deutlich. Verwunderlich ist das nicht. In Bad Godesberg leben Menschen, die unterschiedlich eng mit dessen historischen Phasen und spezifischen Orten verbunden sind – sie leben alle gleichzeitig, im ›gleichen‹ Raum. Rekurs nehmend auf das Teilkapitel 1.3 lässt sich davon ausgehen, dass soziale Distanzen mit räumlichen in einer Beziehung stehen. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Darstellung dieser Beziehung schnell schematisch wird, wenn man versucht, sie zu sehr vom Einzelfall zu abstrahieren – denn auch wenn sich viele Kneipen mit gutbürgerlicher Küche in den ehemaligen Dorfkernen befinden und viele arabisch beschriftete Restaurants in der Innenstadt, wäre es unzutreffend, davon auszugehen, Innenstadtnutzer:innen seien ›arabisch‹ und Stadtteilkernnutzer:in-
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nen ›alteingesessen‹. Anders als vielleicht noch zur Zeit Burgess’ und Parks steht in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung heute eher eine differenzierte Darstellung als eine zuspitzende Polarisierung von Erkenntnissen im Vordergrund. Deshalb versuche ich im Folgenden, unterschiedliche, zeitgleiche Perspektiven auf ein und denselben Raum – Bad Godesberg – deutlich und verständlich zu machen. Im Hintergrund steht die Annahme, dass Raumwahrnehmung positionsabhängig und dadurch im Austausch mit einer anderen Position potenziell immer konfliktgeladen oder zumindest kommunikationserfordernd ist (s. auch Teilkap. 1.3). Jenseits der schon beschriebenen lokalen Strategien des Aufeinander-Abstimmens von Situationsdefinitionen und Raumwahrnehmungen (kommunalpolitische Maßnahmen, Bürger:innenbeteiligung etc.) existiert eine weitere, alltagskulturelle Ebene, auf der ein solcher Austausch zwischen verschiedenen Positionen stattfindet. Wie in Teilkapitel 1.1 ausführlich erläutert ist diese Ebene der alltäglichen, unauffälligen Interaktionen diejenige, mit der ich mich beschäftige. Um diese Ebene beobachten zu können, muss aber klar sein, wie die Alltagsgestaltung aus unterschiedlichen Positionen überhaupt aussehen kann. Dafür stelle ich im Folgenden auf der Basis des beschriebenen esskulturellen Angebots in Bad Godesberg vier kontrastierte Profile der Nutzung des städtischen Raumes vor.
Besucher:innen und Pendler:innen Im Teilkapitel 2.1 ist deutlich geworden, wie sehr Besucher:innen schon immer einen wichtigen Bestandteil Godesbergs ausmachen. Ich betrachte sie als relevante Teilgruppe der Nutzer:innen des öffentlichen Raumes in Godesberg, denn auch wenn sie nicht im engeren Sinne zu den Anwohner:innen des Bezirks zählen, handelt es sich in großen Teilen um Personen, die sich regelmäßig dort aufhalten und auf die vor allem die innerstädtische Gastronomie sowie die Außengastronomie am Rhein ausgerichtet sind. Insbesondere eine Gruppe fällt in ihrer diskursiven Repräsentation auf: die der Medizintourist:innen14 . Auf die Gründe, aus denen besonders Patient:innen der Kliniken Godesbergs als entscheidende Gruppe von Besucher:innen wahrgenommen werden, bin ich oben bereits eingegangen. Es handelt sich nach den wenigen verfügbaren Studien für 2013 noch um jährlich 900 Personen, mittlerweile um deutlich weniger (s. Q Köhl, Franz, und Jacob 2015), insgesamt
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Es sind 2012 laut einer IHK-Studie (deren Ergebnisse aufgrund der geringen Teilnehmer:innenzahl eher als Trendanzeige denn als statistisch genaue Größen verstanden werden sollte) in Bonn 40 % der Medizintourist:innen Wiederholungsgäste. Rund 21 % bleiben dabei über vier, 26 % über zwei Monate, und 28 % über einen Monat. Rund 99 % der Patient:innen werden bei ihrer Reise begleitet, zumeist von ein bis vier Personen, bei 14 % von fünf bis acht Personen. Wer nicht stationär untergebracht ist, nutzt in der überwiegenden Mehrheit kurzzeitvermietete Apartments (s. IHK Bonn/Rhein-Sieg 2014, 23).
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vor allem aus den Arabischen Emiraten, Katar, Saudi Arabien, Libyen und Russland (s. IHK Bonn/Rhein-Sieg 2014, 22). Weitere Tourist:innengruppen oder auch aus anderen Gründen Anreisende werden in der Presse wie auch in wirtschaftswissenschaftlichen Studien auf Bezirksebene kaum thematisiert. Lediglich Interessenvertreter:innen des innerstädtischen Einzelhandels betonen die wirtschaftliche Bedeutung der Nutzer:innen aus dem erweiterten Einzugsgebiet Bad Godesbergs, vor allem Wachtberg. Nicht zuletzt durch die infrastrukturellen Gegebenheiten des Innenstadtbereichs bestimmt noch eine weitere Gruppe dessen alltägliche Nutzung. Büroangestellte arbeiten entweder im Bundesviertel im Norden des Bezirks (s. Abb. 1), direkt im Innenstadtbereich oder verteilt im Bezirk vor allem in öffentlichen Einrichtungen sowie in der Banken-, Versicherungs- und Immobilienbranche (s. Amt für Wirtschaftsförderung 2020). Sie verbringen ihre Mittagspause größtenteils in der gut erreichbaren Godesberger Innenstadt. Diese regelmäßigen Besucher:innen15 werden in Gesprächen über den Stadtbezirk kaum thematisiert, dennoch ist ihre Relevanz gerade für das gastronomische Angebot offensichtlich. So bieten die meisten der innerstädtischen gastronomischen Betriebe auf sie ausgerichtete Mittagsmenüs an. Zahlen zur wirtschaftlichen Relevanz der Tourist:innen und der Angestellten lassen sich kaum finden, jedoch wurde in meinen Gesprächen mit Gastronom:innen immer wieder auf beide Gruppen verwiesen, sodass sich davon ausgehen lässt, dass sie einen kaufkräftigen Teil der kulinarischen Nachfrage vor allem im Stadtzentrum bilden: Om: »Also wir sind ja hier eigentlich auf das Mittagsgeschäft ausgerichtet, also wir haben ja ganz normale Ladenöffnungszeiten, von neun bis 19 Uhr. Warme Küche gibt es immer von elf bis 15 Uhr, freitags bis 18 Uhr; und es sind in erster Linie eben Menschen, die Mittag essen möchten. Es sind natürlich hier Leute aus der Stadt, aus den anderen Geschäften, Leute die vielleicht in den umliegenden Büros arbeiten, die halt hier in die Innenstadt kommen um hier ihren Mittagstisch einzunehmen, aber auch ältere Leute, auch Rentner. […] Also wir haben hier einen ganz guten Zulauf, es hat sich sehr gut eingespielt, wir können das auch sehr gut planen mittlerweile, wissen also, wann so die Stoßzeiten sind, auch was die wechselnden Gerichte angeht, also das wird alles sehr gut angenommen.« (Interview 14, Z. 63ff.)
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Auch hier gibt es keine Zahlen auf Bezirksebene, für Angestellte in ganz Bonn gilt jedoch ein Prozentsatz von 58 % an Einpendler:innen (vgl. den Pendleratlas der Bundesagentur für Arbeit, URL: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Ange bote/Pendleratlas/Pendleratlas-Nav.html, zuletzt aufgerufen am 04.08.2021).
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Die Angestellten, die zur Arbeit nach Bad Godesberg pendeln, haben in ihren Nutzungspräferenzen des esskulturellen Angebots viel mit den touristischen Besucher:innen des Bezirks gemeinsam. Die Zeit, die sie nicht auf der Arbeit oder auf dem Weg dorthin verbringen, nutzen sie für den Aufenthalt in der Innenstadt. Auch Besucher:innen sind zumeist auf das Zentrum des Bezirks fokussiert, da es einerseits wenig Gründe gibt, die umliegenden Wohngebiete aufzusuchen und andererseits das Zentrum mit Bus-, Stadtbahn-, Regionalbahn- und sogar Fernverkehrstation am besten angebunden ist. Sowohl für Tourist:innen als auch Angestellte muss das Essen praktisch sein. Es darf also nicht zu lange dauern, nicht zu weit vom Zentrum entfernt liegen und nicht zu anstrengend sein – schließlich will man sich entweder bei dem Besuch des Bezirks oder bei der Arbeit eine möglichst entspannende Pause gönnen. Angestellte frequentieren häufig in kleinen Gruppen wechselnd stets die gleichen Lokale, wobei Abwechslungsmöglichkeiten im Angebot bei schneller Orientierung geschätzt werden. Auch Besucher:innen halten sich gerne an ›sichere‹ Angebote, was einerseits durch Empfehlungen, eigene Erfahrungen oder im Fall bestimmter Speiseregeln (wie vegan, halal etc.) durch die entsprechende Beschriftung eines Lokals erreicht wird. Mehr als andere Nutzugsgruppen sind sowohl Tourist:innen als auch Angestellte in ihrer Pause daran interessiert, dass ein reibungsloser Ablauf im Vordergrund des Services steht. Freundliche Unverbindlichkeit und kommerzielle Effizienz lassen sich in der Innenstadtgastronomie dadurch eher beobachten als beispielsweise in einer auf Stammkundschaft ausgerichteten Kneipe in der Peripherie des Bezirks, wo andere Aspekte im Fokus stehen. Zeitlich konzentriert sich die gastronomische Nutzung von Tourist:innen und Angestellten auf die Mittagszeit, vereinzelt auch auf den Abend oder auf ein Gericht auf die Hand für zwischendurch. Das Preisniveau ist höher als bei anderen Gruppen, da Tourist:innen sich zumeist auf einem Ausflug befinden, der positiv in Erinnerung bleiben soll und bei dem man sich etwas gönnt; und auch Angestellte belohnen sich nicht selten mit einem guten Mittagessen für getane und bevorstehende Arbeit. Hinzu kommt, dass die Besucher:innen Godesbergs eine entscheidende Zielgruppe für kulinarische Feste und allgemeine Stadtfeste im Innenstadtbereich bilden. Genauer gehe ich darauf in Kapitel 4 ein. Hier ist zunächst von Interesse, dass sich auch im Bereich der temporären Essmöglichkeiten die Nutzungspräferenzen von nicht dauerhaft im Bezirk wohnhaften Personen auf den Innenstadtbereich fokussieren. Die beliebtesten temporären und konstanten Orte, an denen Gruppen von außerhalb Godesbergs essen, sind auf der Karte (Abb. 6) abgebildet. Ich fasse Pendler:innen und Tourist:innen in der Legende unter der Bezeichnung ›Besucher:innen‹ zusammen, da beide Gruppen nicht im Bezirk wohnhaft sind und sich dadurch von den anderen Nutzer:innen der Gastronomie unterscheiden.
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Abb. 6: Nutzungspräferenzen Innenstadt, Fokus Besucher:innen (Stand 2020)
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
Jugendliche und Geflüchtete Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Jugendliche in Godesberg eine diskursiv viel thematisierte Gruppe bilden. Sie sind zwar über mehrere Jahre im Bezirk wohnhaft, haben ihrem Alter entsprechend aber erst seit den 2000er Jahren persönliche Erfahrungen mit der Bezirksentwicklung gemacht. Entladungen des Konfliktpotenzials zwischen jüngeren und älteren Bewohner:innen Godesbergs konnte ich in alltäglichen Begegnungen im Bezirkszentrum immer wieder beobachten. Auch die Repräsentation damit verbundener Themen in der Presse, in der Kommunalpolitik und in Meinungen von Einzelpersonen in Bad Godesberg ist anhaltend hoch. Sonja Preissing macht ausgehend von der ethnografischen Erforschung eines Kölner Stadtbezirks darauf aufmerksam, dass der »Wirklichkeitseffekt« (Champagne
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2005, zit.n. Preissing 2019, 133) solcher medialer Repräsentation zur Verfestigung und notgedrungenen Aneignung eines bestimmten Bildes ›der Jugend‹ in einem medial umrissenen städtischen Gebiet führen kann: Dafür werden Einzelsituationen immer wieder innerhalb eines schon bestehenden diskursiven Bildes gedeutet und dann auch als Selbstbeschreibung performativ umgesetzt. Inwieweit das für einzelne in Godesberg wohnhafte Jugendliche relevant ist, ist schwer zu beurteilen. Eine kollektive Identitätsbestimmung über heroisierte Kriminalität wie sie in anderen Stadtbezirken Bonns durchaus der Fall ist16 , konnte ich in Gesprächen und Beobachtungen zumindest nicht feststellen17 . Diskursiv mit den kriminalisierten Jugendlichen im Bezirk verknüpft werden immer wieder Kategorien wie insbesondere männliche ›Migranten‹ oder ›Ausländer‹ (zu dieser häufigen Vermischung vgl. Bukow et al. 2007). In meinen Interviews, aber auch in der Presse sowie in kommunalen oder städteplanerischen Veröffentlichungen werden dementsprechende Narrative reproduziert – bei gleichzeitigen Berichten über die positive Entwicklung der Kriminalstatistik für den Bezirk. Daraus ergibt sich eine schwer zu überblickende diskursive Lage aus Sicherheitsversicherungen und Unsicherheitsempfinden. Ein Beispiel zu deren akademischer Reproduktion liefert ein Mitarbeiter des bereits erwähnten Gewaltpräventionskonzeptes. Bei einem Expert:innenrundgang zum Konzept leitet er ein: Wir als Expert:innen wüssten ja alle, dass man sich manchmal unabhängig von Kriminalstatistiken unsicher fühle, »zum Beispiel durch Jugendliche oder Geflüchtete«, deshalb setze das Projekt bei der Jugendarbeit an. (FP 28.11.2018, Brill, Z. 23f.) Weshalb hier nun »Jugendliche und Geflüchtete« gerade in dieser Kombination genannt werden, hat verschiedene Hintergründe. Tatsächlich gibt es einen gewissen Anteil minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter, der sich jedoch in ganz Bonn nach dem Königsteiner Schlüssel auf nur 230 Jugendliche beläuft18 . Um diesen kleinen
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Vgl. beispielsweise den Hardtberger Rapper Sugar MMFK, der insbesondere in seinem Song »City of God« (2021) klassische Inhalte des Straßen-Rap mit einer Thematisierung Bonns Vergangenheit als ehemaliger Hauptstadt verknüpft. Gruppen wie der nach einer Razzia 2013 viel diskutierte Godesberger Ableger der Rockergruppe »Black Jackets« gehören zu den extremen Ausnahmen. Sie sind Alter und Organisationsstruktur nach außerdem eindeutig der Organisierten Kriminalität (s. die Definition des Bundeskriminalamtes, URL: https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereic he/OrganisierteKriminalitaet/organisiertekriminalitaet_node.html, zuletzt aufgerufen am 20.01.2023) statt der Jugenddelinquenz zuzuordnen. S. die Stellungnahme der Bonner Stadtverwaltung zum Thema vom 25.10.2016, URL: http:// www2.bonn.de/bo_ris/daten/o/pdf/16/1613064ST2.pdf, zuletzt aufgerufen am 04.08.2021.
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Anteil geflüchteter Jugendliche kann es also in dem Zitat kaum gehen. Wahrscheinlicher ist, dass Geflüchtete ähnlich wie Jugendliche hier im Sinne Howard Beckers (s. Teilkap. 2.1) durch ihre outsider-Position unverhältnismäßig viel diskursive Aufmerksamkeit erhalten, insbesondere in der Verbindung zu Kriminalität und Unsicherheitsempfinden. Ähnlich wie für einen Teil der Godesberger Jugendlichen gilt auch für erwachsene Geflüchtete19 , dass sie bevölkerungsstatistisch nicht repräsentiert sind: In der offiziellen Bevölkerungsstatistik tauchen nur Personen mit Zuwanderungshintergrund20 auf, die an einem privaten Wohnsitz gemeldet sind. Dabei handelt es sich in Godesberg nicht zuletzt durch die bereits erläuterte internationale Vergangenheit des Bezirks um etwa ein Drittel der Bewohner:innen (s. Bundesstadt Bonn 2020, 10) – Geflüchtete sind das aber nicht. Asylsuchende Bewohner:innen in Übergangswohnungen oder Erstaufnahmeeinrichtungen fallen heraus. Nach Angaben aus einem Treffen des »Runden Tisch Flüchtlingshilfe« leben davon in Bad Godesberg derzeit ca. 1800, offizielle Plätze in der Zentralen Unterbringungseinheit im Bezirk gibt es 480, die hauptsächlich durch Personen kurz vor der Abschiebung (beispielsweise nach Albanien oder Kosovo) belegt sind21 . Mit solchen informellen Zahlen gerech-
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Damit ist hier die juristisch definierte Untergruppe von Migrant:innen gemeint, die einen Asylantrag gestellt haben und sich im laufenden Verfahren befinden oder Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention (§ 3 Asylgesetz), Asylstatus nach dem Artikel 16a des Grundgesetzes, subsidiären Schutzstatus (§ 4 Asylgesetz) oder Duldungsstatus (§ 60a Aufenthaltsgesetz) erhalten haben. Um diese Gruppen mit verschiedenen Antrags- und Bescheid-Status im Asylverfahren zusammenzufassen, lässt sich von Geflüchteten sprechen. Damit werden Personen mit doppelter oder ausländischer Staatsangehörigkeit bezeichnet. Die verschiedenen bürokratischen Kategorisierungen führen nicht selten zu Begriffsverwirrungen. So wird im öffentlichen Diskurs beispielsweise oft undifferenziert von ›Migrant:innen‹ gesprochen, ohne dass klar definiert wird, wer genau damit gemeint ist. Ähnlich steht es um die Kategorisierung über den ›Migrationshintergrund‹. Der von Ursula Boos-Nünning geprägte Begriff eignet sich für statistische Zwecke, um Personen zu beschreiben, von denen ein Elternteil nicht von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft hat (s. El-Mafaalani 2018, 50ff.). Über die Nutzung in deskriptiver Statistik hinaus hat der Begriff aber wenig Gehalt und wird deshalb im Folgenden nicht verwendet. Grundsätzlich mache ich keinen analytischen Unterschied zwischen ›Migrant:innen‹ und ›Nicht-Migrant:innen‹, sondern betrachte unterschiedliche Formen der biografischen Mobilität, die im Bezirk alltagspraktisch relevant sind. Anders als die Kategorie der ›Migrant:innen‹ weist die Kategorisierung als ›Geflüchtete‹ auf eine solche spezifische Form der Mobilitätserfahrung hin: Geflüchtete sind erst vor Kurzem in Godesberg angekommen, ihre Aufenthaltsdauer ist ungewiss und wird nicht von ihnen selbst bestimmt, so wie auch ihre alltagspraktische, kurzfristige Mobilität durch den Geflüchtetenstatus beschränkt ist. Der Status hat damit direkte Auswirkungen auf esskulturelle Alltagspraktiken. FP 18.03.2019, Brill, Z. 27ff., sowie Interview 12, Z. 34ff., s. auch die Website des Einrichtungsträgers (URL: https://www.drk-betreuungsdienste-westfalen.de/referenzen/landesgemeins chaftsunterkuenfte/zue-bad-godesberg.html, zuletzt aufgerufen am 14.07.2020).
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net handelt es sich im Bezirk maximal um einen Bevölkerungsanteil Geflüchteter von rund 2 %. Eine besondere Beziehung zu Straffälligkeit lässt sich nicht finden22 . Statistisch lässt sich der Zusammenhang zwischen jugendlichem Alter, Fluchterfahrung und Kriminalität, der im oben genannten Zitat die Zusammenfassung von Jugendlichen und Geflüchteten legitimiert, in Bad Godesberg nicht belegen. Ich fasse Jugendliche und Geflüchtete hier ebenfalls zusammen, allerdings nicht in Bezug auf Kriminalität, sondern auf ihr Nutzungsverhalten kulinarischer Angebote im Bezirk. Dies ist nicht zuletzt durch die Devianz zur ›Mehrheit‹ und damit einhergehenden Sanktionierungen in Godesberg ähnlich gelagert. Eine Gemeinsamkeit junger und geflüchteter Menschen ist dafür besonders relevant. Beide Gruppen sind kurzfristig (hier gemeint: für mehrere Jahre) im Bezirk wohnhaft, häufig in den peripheren Stadtteilen. Beide nutzen einerseits speziell auf sie ausgerichtete temporäre Essangebote in den Stadtteilen und andererseits konstante Essmöglichkeiten in der Innenstadt. Hinzu kommt, dass sowohl Jugendliche als auch Geflüchtete über weniger ökonomische Ressourcen für auswärtiges Essen verfügen als andere Gruppen. Jugendliche und Geflüchtete halten sich also an den gleichen Orten auf – nicht, weil sich Einzelpersonen besonders ähnlich sind, sondern weil sie gemeinsamen äußeren Bedingungen unterworfen sind. Beide Gruppen sind im Innenstadtbereich häufig Abwertungen ausgesetzt, die eng mit den Sicherheitsbedenken älterer Bewohner:innen in Verbindung stehen. So beschreibt eine gerade volljährige Gesprächspartnerin ihre Haltung zu Diskriminierungserfahrungen in alltäglichen Situationen in Godesberg: ?f: »Wir erkennen euch auch wirklich an, wir haben einfach die Diskriminierung vonseiten der Gesellschaft zu vermindern. Sonst ziehen sich die Leute zurück. Wir haben jetzt auch an der Uni so eine Gruppe, wir nennen uns Kanacks. Kanacks, die Ausländer halten zusammen, die Kanaken sozusagen halten zusammen. Das ergibt sich einfach so, das ist dann wieder diese Gruppenbildung, hier weiß ich, hier habe ich meinen safe space. Hier muss ich mich nicht weiter erklären, und hier find ich Hilfe von Gleichgesinnten, ist leider so.« (Interview 19, Z. 917ff.) Ebenso wie an der Universität fühlt sich die Zitierte auch grundsätzlich im Auftreten in der Gruppe ihrer Freund:innen sicherer. Deutlich wird daran, dass ähnlich
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Arjun Appadurai (2006) erklärt die Verbindung von quantitativer Überbetonung und Kriminalisierung durch die »anxiety of imcompleteness«, die er als charakteristisch für Mehrheitsdenken in Bezug auf besonders kleine Minderheiten und ihre »minor differences« beschreibt (ebd., 8). Die Sorge um die Unvollkommenheit der Mehrheit, die Appadurai benennt, erklärt die diskursive Überbetonung von »small numbers«, die sich sowohl in Bezug auf Geflüchtete als auch auf Jugendliche beobachten lässt.
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wie im Fall der oben beschriebenen Verdrängung Jugendlicher aus dem zentral gelegenen Kurpark die Frage danach, wer wo als legitime:r Nutzer:in betrachtet wird, für Jugendliche und Geflüchtete eine besondere, alltagspraktische Relevanz erhält und damit auch esskulturelle Entscheidungen mitbestimmt. Wie bereits beschrieben ergibt sich daraus für die Nutzungspräferenzen beider Gruppen, dass vor allem explizit auf junge oder geflüchtete Menschen ausgerichtete esskulturelle Veranstaltungen frequentiert werden. Darauf komme ich in Kapitel 3 zurück. Für die Innenstadtnutzung lässt sich festhalten, dass längere Aufenthalte von Gruppen im zentralen Innenstadtbereich durch die beschriebene diskursive Lage impliziten und expliziten Sanktionen unterliegen können und dadurch für Jugendliche ebenso wie für Geflüchtete weniger infrage kommen. Genutzt werden also auch im Bereich der Gastronomie vor allem solche Orte, von denen bekannt ist, dass man dort willkommen ist. Die meisten liegen in den äußeren Bereichen der innerstädtischen Fußgänger:innenzone (s. auch Kap. 5).
Familien und religiöse Communities Neben den Personen, die für einige Jahre in Godesberg wohnen oder den Bezirk regelmäßig besuchen, gibt es natürlich auch solche, die ihren Lebensmittelpunkt für Jahrzehnte in Bad Godesberg haben (ohne jedoch selbst vor Ort aufgewachsen zu sein). Zwei Gruppen dieser mittelfristigen Bewohner:innen fallen in ihrer Nutzung des gastronomischen Angebots auf: Familien und praktizierende Angehörige religiöser communities. Der alltagspraktische Fokus der Lebensführung liegt bei beiden eher als bei den bisher genannten Gruppen im Privaten, sodass das Essen außer Haus außergewöhnliche Anlässe markiert. Familien mit Kindern leben zumeist in den peripheren Stadtteilen, da dort entsprechender Wohnraum verfügbar ist. Innenstadtaufenthalte sind oft stärker funktional auf das Einkaufen ausgerichtet als auf längeres Verweilen. Familien greifen auch aus finanziellen Gründen tendenziell auf Angebote des Essens auf die Hand oder auf Cafés zurück. Sie nutzen die darüber hinausgehende Gastronomie eher zu besonderen Anlässen und beanspruchen damit sowohl im Innenstadtbereich als auch in den Stadtteilzentren weniger Raum im Bereich des auswärtigen Essens als die anderen bisher genannten Gruppen. Mitglieder religiöser communities weisen ähnliche Nutzungspraktiken auf. Sowohl innerhalb der christlichen Gemeinden23 als auch der islamischen Vereine24 23
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Neben der American Protestant Church in Plittersdorf sind das vor allem die katholischen Gemeinden im Rheinviertel, Burgviertel und im Südviertel des Seelsorgebereichs Bad Godesberg, sowie vier evangelische Kirchengemeinden des Kirchenkreises Bad Godesberg-Voreifel. Es handelt sich um vier Vereine, die Gebetsräume oder Moscheen betreiben und sich teils grob national zuordnen lassen: Die Fatih-Moschee gilt als türkisch, die Al-Ansar-Moschee als marokkanisch, die Salam Moschee als syrisch beeinflusst (wobei sie divers genutzt wird). Au-
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(welche die beiden größten religiösen Gruppen innerhalb Godesbergs ausmachen) hat das Essen zuhause eine hohe alltagspraktische Relevanz. So beschreiben Mutter (Vf) und Tochter (Uf) einer muslimischen Familie im Interview, dass sie selten auswärts essen: Vf: »Aber manchmal mache ich zuhause auch Döner.« Uf: »Ja, das machen wir auch. Meine Mutter mag nicht draußen essen.« Vf: »Ja.« Y1: »Und warum nicht?« Uf: »Sie sagt, es ist nicht sauber.« Vf: »Ja, ich kann nicht im Restaurant essen, ich mache das Essen lieber zuhause.« Uf: »Und meine Mutter kann ehrlich gesagt sehr gut kochen. Wenn sie was kocht und wenn ich das gleiche draußen esse, gefällt es mir deswegen draußen nicht so ganz.« (Interview 21, Z. 985ff.) Eine andere Gesprächspartnerin, deren Familie sowohl islamische als auch christliche Praktiken ausübt, beschreibt ihren Eindruck wie folgt: Nf: »Also ich glaube, dass die meisten muslimischen Familien selber zuhause frisch kochen. Also sagen wir mal, in 99 Prozent der Fälle gehen die sicherlich auch mal essen, ohne Frage, aber die kochen glaube ich meistens wirklich zuhause frisch. Auch wenn sie berufstätig sind, glaube ich, dass sie dann eben nicht voll berufstätig sind, sodass das nicht mehr funktionieren würde.« Y1: »Und bei nicht muslimischen Familien?« Nf: »Ich glaube, dass eben bei vielen nicht muslimischen Familien, wo beide berufstätig sind, dass man da schon mal eher essen geht. Oder dass viele sich da eben schon drauf einstellen, und was Fertiges machen, was Schnelles, zumindest unter der Woche. Ja, schnelle Gerichte, und es ist ja inzwischen auch bei vielen Familien so, dass die Kinder auch lange in der Schule sind. Ich sehe das bei uns selbst, also bei meinen Großen damals gab es noch nicht so lange Schule und auch nicht so lange Kindergarten. Jetzt ist der Kleine halt bis 16 Uhr in der Schule, mit Mittagessen […].« (Interview 13, Z. 265ff.) In den Interviewzitaten wird deutlich, dass gerade Frauen in religiösen Familien die Ernährung als ihnen zugeordnete Aufgabe betrachten, die zwar möglicherweise durch die Berufstätigkeit eingeschränkt, aber nicht vollständig aufgegeben wird. Alltäglich werden gastronomische Orte kaum genutzt. Sowohl in den Stadtteilen als ßerdem gibt es die Gebetsräume des Hauses der Generationen in Mehlem. Zur Geschichte und gegenwärtigen Situation islamischer Organisationen in Bonn und spezifisch auch in Godesberg vgl. Chbib 2017.
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auch im Zentrum dient die Gastronomie vor allem zum Ausrichten von Feierlichkeiten. Zu besonderen Anlässen eignen sich Restaurants, die größere Tischgesellschaften zulassen. Wichtig ist dann weniger der effiziente Service als der verlässliche, persönliche und im besten Fall liebevolle Umgang. Zu solchen besonderen Anlässen zählen einerseits familiäre Feierlichkeiten, andererseits aber auch religiös bestimmte Anlässe wie beispielsweise das Einnehmen eines Ramadan-Menüs in den innerstädtischen Restaurants und Imbissen. Entsprechende Menüs werden in der Godesberger Fußgänger:innenzone im Fastenmonat an verschiedenen Stellen angeboten. Für Mitglieder der islamischen communities ist auch darüber hinaus entscheidend, dass Speiseregeln sicher eingehalten werden. Ein dementsprechendes Angebot lässt sich vor allem in den peripheren Teilen der Fußgänger:innenzone finden. Außerhalb von solchen besonderen Anlässen wird die alltägliche Praktik des Zuhause Essens bei Familien ebenso wie bei Mitgliedern religiöser Communities durch temporäre esskulturelle Veranstaltungen im Rahmen religiösen oder nachbarschaftlichen Engagements ergänzt. Darauf gehe ich in Kapitel 3 genauer ein. Temporäre esskulturelle Situationen auf Stadtfesten in der Innenstadt werden ebenfalls genutzt, worauf ich in Kapitel 4 zurückkomme.
Alteingesessene und Pensionär:innen ›Alteingesessene‹ kamen schon mehrfach zur Sprache und zählen neben den Jugendlichen zu der diskursiv meist thematisierten Gruppe (vgl. u.A. Q Brockschnieder 2018; Q Frigelj 2016). In Godesberg bezeichnen sich als alteingesessen vor allem Personen, die dort geboren und aufgewachsen sind und nach wie vor in der Nähe ihres Geburtsortes leben. Viele von ihnen haben das Rentenalter erreicht – mit über 20 % der Bewohner:innen hat der Bezirk den größten Anteil an über 65-Jährigen in Bonn. Der Anteil der Deutschen ohne Zuwanderungshintergrund oder ausländischer Staatsangehörigkeit liegt in dieser Altersklasse mit rund 86 % weit über dem entsprechenden Anteil bei den Jugendlichen, der nur 48 % beträgt (s. Bundesstadt Bonn 2020, 13). Die Betonung des Alteingesessenen-Status ergibt sich auch durch die internationale Lokalgeschichte des Bezirks, da sich damit kaum mobile Personen von den aktuell und historisch hochmobilen Gruppen (Politiker:innen, Tourist:innen, Geflüchteten,…) abgrenzen. Die Kategorie ist in ihrem Fokus auf lokaler Stabilität klar eine mobilitätsbezogene (vgl. Hüttermann 2018, 10, s. auch FN 2 in diesem Kapitel). Entscheidend für ihre Nutzung des gastronomischen Angebots ist, dass sie durch den hohen Stellenwert des Wohnorts im eigenen Lebensverlauf eine besonders detaillierte Wahrnehmung ihrer städtischen Umwelt haben. Wichtig ist hier der Faktor Zeit: Je länger ein Betrieb an Ort und Stelle ist, umso eher wird er in das Gesamtbild Bad Godesberg aufgenommen. Dieses Gesamtbild hat ei-
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ne hohe emotionale Bedeutung für einzelne Alteingesessene, wie in folgendem Zitat deutlich wird: Fm: »Das liegt, wenn du hier den Weg runter gehst, auf der Ecke. Das ist ein sehr schönes altes Haus, ein sehr schönes Lokal. Da steht quasi die Veränderung der Gastronomie für die Veränderung der Realität hier. In dem Haus war früher – also wenn ich früher sage, heißt das bis 1999 – jahrzehntelang da der klassische Italiener auf der Ecke. In dem Fall konntest du hingehen, klar, eine Pizza zum Mitnehmen, das war schon ein italienisches Lokal, aber du konntest alles auch mitnehmen. Rückwirkend betrachtet war es einfach schlicht, schön. So, und was hast du heute? Den Edel-Italiener, für die Maseratis und Ferraris und die Herrschaften fahren da vor und lassen es sich da gut gehen. Ich sage das nicht, weil ich den Wirt nicht mag oder so, mit dem habe ich früher Fußball gespielt, alles gut. Nur, ich kann mir das nicht leisten.« (Interview 05, Z. 329ff.) Die Alteingesessenen haben oft weniger ökonomische Ressourcen für auswärtiges Essen zur Verfügung als beispielsweise Tourist:innen oder Angestellte, messen der Gastronomie aber einen hohen Stellenwert für ihre Alltagsgestaltung zu. Viele frequentieren Stammlokale und gerade für alleinstehende, ältere Personen ist das Essen Gehen wichtiger Bestandteil des sozialen Alltags. Genutzt werden dafür vor allem die Lokale in den Stadtteilzentren, da diese vom Wohnort zu Fuß erreichbar sind, teils aber auch die in den äußeren Innenstadtbereichen. Lokale, die aktuell leer stehen oder endgültig geschlossen sind, zählen für die Alteingesessenen zu Orientierungspunkten, die immer wieder in Gesprächen und auch in der lokalen Presse genannt werden (s. Abb. 7). Darin ähnlich ist ihnen eine weitere Gruppe von Langzeitbewohner:innen Bad Godesbergs, die zwar einen deutlich mobileren Lebensverlauf aufweisen, dennoch aber dort aufgewachsen und nach beruflicher Abwesenheit an ihren Geburtsort zurückgekehrt sind: Pensionär:innen aus der Zeit der Bonner Republik. Extremfälle in Bezug auf ihre Mobilitätserfahrungen sind Ex-Diplomat:innen, aber auch niedere Beamt:innen oder in der Wirtschaft Angestellte kommen im Rentenalter häufig wieder zurück nach Godesberg, das trotz des Imageschadens nach wie vor den in Teilkapitel 2.1 erwähnten Ruf des bequemen Pensionopolis hat. Auch die Pensionär:innen, die oft bestimmte Zeitabschnitte der Entwicklung des Bezirks nicht persönlich miterlebt haben, orientieren sich an Lokalen der Vergangenheit (vgl. Trenz 2021). Außerdem werden, ähnlich der ehemaligen beruflichen Betätigung, in Klubs und an spezifischen gastronomischen Orten eigene repräsentative Öffentlichkeiten geschaffen. Viele der wohlhabenden Senior:innen lassen sich vor allem abends, aber auch mittags regelmäßig in der innerstädtischen, höherpreisigen Gastronomie sehen. Sie gehören also mit den Besucher:innen zu den wichtigsten Nutzer:innen der zentralen Innenstadt. Ähnlich wie im Falle der Alteingesessenen werden auch
2. Städtische Alltäglichkeiten in Bad Godesberg
Stammlokale in den Stadtteilen frequentiert. Bevorzugte Wohngebiete der Pensionär:innen sind vor allem das Villenviertel und Rüngsdorf am Rhein, sodass sich auf diese Bereiche auch deren Nutzung esskultureller Angebote jenseits der Innenstadt fokussiert. Kulinarische Stadtfeste werden von beiden Gruppen besucht, teils jedoch mit offen kritischer Haltung gegenüber den Veränderungen, die im Bezirk konstatiert werden (s. dazu Kap. 4).
Abb. 7: Nutzungspräferenzen Innenstadt, Fokus Langzeit-Bewohner:innen (Stand 2020)
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
Insgesamt zeigt sich die Unterscheidung des momentanen und längerfristigen biografischen Mobilitätsniveaus der Bewohner:innen und Besucher:innen als geeignetes Merkmal, um Nutzungspraktiken des esskulturellen Angebots voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen. Es ist deutlich geworden, dass sich Nutzungsprofile danach unterscheiden lassen, wie lang sich Personen im Stadtbezirk aufhalten und für wie lange es sich dabei jeweils um ihren alltäglichen Lebensmittelpunkt handelt. So ist das gastronomische Angebot der zentralen Bereiche der Innenstadt vor allem auf kurzzeitige Besucher:innen ausgerichtet und wird außer-
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dem von den wohlhabenden Teilen der Langzeitbewohner:innen mitgenutzt. Die äußeren Bereiche der Innenstadt werden von den kurzzeitigen und mittelfristigen Anwohner:innen zum auswärtigen Essen aufgesucht, während die Stadtteilzentren dafür im Alltag von Langzeitbewohner:innen und zu besonderen Anlässen auch von mittelfristig Ansässigen bevorzugt werden. Die temporären kulinarischen Veranstaltungen in den Stadtteilen sind oft auf die Bedürfnisse spezifischer Untergruppen (wie Jugendlicher oder auch Frauen, s. Kap. 3) zugeschnitten. In der Innenstadt stehen Besucher:innen im Vordergrund, wobei auch mittel- und langfristige Bewohner:innen die Veranstaltungen frequentieren (s. Kap. 4). Abschließend möchte ich festhalten, dass sich in der Betrachtung der unterschiedlichen Gruppen, die sich durch Einkommen, Alter, Familienstand oder auch Religiosität ergeben, zeigt, dass die Aufenthaltsdauer und -art in Godesberg Ähnlichkeiten im esskulturellen Verhalten hervorbringt.
2.4 Essen in der Krise: Exkurs zur Corona-Pandemie Bisher habe ich anhand historischer und ethnografischer Beobachtungen ein Bild des Stadtbezirks Bad Godesberg und seiner Anwohner:innen (und Besucher:innen) entworfen. Nun ist es eine Eigenart von zeiträumlichen Prozessen, dass sie unbeeindruckt von einmal fixierten Bildern einer sozialen und zeiträumlichen Realität nie stehenbleiben, sondern sich weiter verändern. Ihr Wandel kann schneller oder langsamer ablaufen. Meist behält das fixierte Bild eine gewisse Gültigkeit auch bei Veränderungen einzelner Bestandteile. Selten ergeben sich Einschnitte in so hoher Taktung, dass sie in kurzer Zeit einen grundlegenden Unterschied im Bild bewirken. Dies ist jedoch zum Ende meiner Erhebungsphase im Feld mit dem Beginn der Corona-Pandemie25 geschehen. Auch wenn sich abzeichnet, dass gerade auf mikrosoziologischer Ebene nach einem ersten Ausnahmezustand vieles wieder in altbekannte Ordnungen zurückkehrt und wirklich langfristiger Wandel durch die Pandemie erst in einiger Zeit rückblickend zu erkennen sein wird, möchte ich hier einen Exkurs zu eben diesem Ausnahmezustand einschieben. Grund dafür ist, dass sich in den verschiedenen Phasen der Pandemie-Bekämpfung, vor allem aber in den Wochen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 Ordnungsvorstellungen und deren praktische Auswirkungen gerade durch die abrupte Abweichung vom Normalzustand in großer Deutlichkeit zeigten.26 Hinzu kommt, dass der Umgang mit der 25
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Im März 2020 erklärte die WHO die Verbreitung der Infektionskrankheit COVID-19 zu einer Pandemie. In Deutschland trat die Krankheit in mehreren Wellen auf, es erfolgten entsprechende Maßnahmen. Basis des gesamten Exkurses sind die FP 31.03.2020, Brill, 01.04.2020 Brill, 04.04.2020 Brill, sowie die unterschiedlichen Coronaschutzverordnungen des Landes NRW und darauf bezogene Amtsblätter der Bundesstadt Bonn (u.A. Amtsblatt Nr. 13, 16. März 2020 und Amtsblatt
2. Städtische Alltäglichkeiten in Bad Godesberg
Corona-Pandemie über die spezifische Lage hinaus sichtbar macht, wie sich ein Krisenzustand auf alltagspraktisches Handeln auswirken kann. In Bad Godesberg mussten ebenso wie überall sonst die gastronomischen Lokale ihre Sitzgelegenheiten sowie jeden Service, der über das Anbieten von Speisen zum Mitnehmen hinausging, im ersten Lockdown (Mitte März bis Mitte April 2020) schließen. Daraus ergab sich in der Innenstadt wie auch in den Stadtteilzentren weniger Laufkundschaft. Außerdem war durch die generelle Verunsicherung in Bezug auf das Corona-Virus die schwindende alltagspraktische Experimentierfreude deutlich zu bemerken. Kund:innen kauften hauptsächlich das Notwendigste an ihnen gut bekannten Orten ein. Man fragte sich doppelt und dreifach, welcher Gang vor die Tür wirklich nötig war, womit das public life im Goffman’schen Sinne zeitweise fast vollständig zum Erliegen kam. Die Frage nach der Sicherheit hielt Einzug auch in ernährungspraktische Entscheidungen. Essen, das von einer unbekannten Person zubereitet wird, schien potenziell gefährlich. Dieser Eindruck verstärkte sich in Kombination mit anderen, schon zuvor bestehenden verunsichernden Aspekten, wie zum Beispiel sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten. Die wegfallenden Kund:innen führten schnell zu einer akuten Bedrohung der finanziellen Basis gastronomischer Lokale. Im Umgang damit zeigten sich deren unterschiedliche Hintergründe deutlicher als im Alltag vor Corona: Als Lieferdienst auch im ersten Lockdown geöffnet blieben vor allem inhaber:innengeführte Lokale, bei denen das Weiterarbeiten auch ohne Lohn die beste Alternative schien, um laufende Kosten decken zu können. Filialen von größeren Ketten blieben geschlossen, teils wurden sie damit auch ganz aufgegeben (wie beispielsweise eine von zwei McDonalds-Filialen im Bezirk, die etwa ein Jahr nach dem ersten Lockdown gänzlich schloss). Wo die Aufgabe des Standorts keine in Betracht zu ziehende Möglichkeit war, gerieten Inhaber:innen und Mitarbeiter:innen unter Druck: Ein Restaurant, das erst im letzten Jahr eröffnet hat, hat Plakate ausgehängt, auf denen es um Bestellungen zur Rettung der Mitarbeiter:innen bittet. Was vorher undenkbar war – finanzielle Schwierigkeiten offen kommunizieren – ist plötzlich in Ordnung und alle haben Verständnis, denn der Feind ist ein gemeinsamer. Der Inhaber steht selbst hinter dem Tresen, lächelt freundlich-verzweifelt, und vertreibt sich die Zeit damit, unsichtbar Flecken auf der Glasfront wegzuwischen. […] In Amirs Restaurant ist die Stimmung ähnlich. Als ich ankomme, ist gerade seine Steuerberaterin da. Sie hat richtig vermutet, dass er vor lauter Sorge vergisst, am Monatsende wie üblich den Kontoauszug an das Finanzamt zu schicken. Sie geht für ihn zur Bank und erledigt alles. Er erzählt, einen Privatkredit hätten sie und viele weitere Stammkund:innen ihm auch schon angeboten, aber das will er nicht annehmen. 16, 18. März 2020, URL: https://www.bonn.de/service-bieten/aktuelles-zahlen-fakten/amtsb latt.php, zuletzt aufgerufen am 08.12.2021).
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[…] Er ist offen wie nie: 4800€ laufende Kosten pro Monat habe er. 1500€ Miete, 700€ Strom und Gas, 600€ Krankenversicherung, ein bisschen Einkauf, der Rest sind Personalkosten für seine Aushilfe. Er wird die 5000€ Soforthilfe beantragen, und Steuervorauszahlungsstundung. Er sei sehr dankbar für die Hilfe, seine generelle Meinung ist, auch über ihn selbst hinaus: Kreditvergabe würde mehr helfen, dann bekäme wenigstens das Land das Geld zurück. […] Solidarisch sind denke ich vor allem die, die eine persönliche Beziehung zu Amir haben: Die Nachbar:innen, die ihn seit zwanzig Jahren kennen. Es zeigt deutlich, was ich auch schon vorher vermutet habe: Amir als Person ist wichtig für das Umfeld, nicht sein Laden. Der auch, das Essen ist lecker, aber vor allem er selbst ist derjenige, den die Kundschaft unterstützen will. Natürlich vor allem die, die jetzt nicht selbst von existenziellen Sorgen geplagt sind, das heißt, Anwohner:innen des Villenviertels. […] (FP 31.03.2021, Brill, Z. 42ff.) In der akuten Krisenbewältigung fielen insgesamt zwei Pole auf: Es gab die stabilen Betriebe mit Rücklagen, die schließen und später mit neuer Besetzung wieder öffnen konnten. Auf der anderen Seite standen die flexiblen, prekären Betriebe, bei denen das Personal so sehr an schwierige Umstände gewöhnt ist, dass schnell umgebaut und angepasst wurde. Die Betriebe, die sich in der Mitte befinden, nicht recht flexibel und nicht recht stabil, mussten dauerhaft schließen. Amirs Lokal ist ein Beispiel für die seltenen Fälle, die aufgrund ihrer basalen Ausstattung sowohl flexibel, dennoch schon lange vor Ort und damit im Kund:innenstamm stabil sind. Solche Lokale reagierten im Kleinen schnell auf die wechselnden Regelungen nach dem ersten Lockdown und gingen ohne größere allgemeine Umstellungen durch die Krise. Nach dem ersten Lockdown veränderte sich das Nutzungsverhalten öffentlichen Essens im weiteren Pandemieverlauf insofern, als dass die generelle Alltagsmobilität durch Homeoffice etc. nachließ und das Essen unterwegs für Büroangestellte damit kaum noch notwendig war. Essen in der Öffentlichkeit wirkte in den ersten Monaten der Pandemie leicht wie eine Zurschaustellung eines unnötigen Ansteckungsrisikos. Es dauerte einige Zeit, bis dies wieder ohne kleine Sanktionierungen wie offensive Blicke möglich war und auch umgesetzt wurde. Ein volles Jahr nach Beginn der Pandemie und den entsprechenden Regelungen je nach Infektionslage zeigte sich ein routinierterer Umgang als noch in den beschriebenen ersten Wochen. Bestehen blieb die deutlich geringere Nutzungsfrequenz in vielen Betrieben. Schon zu Beginn der Pandemie zeichnete sich ab, dass viele Angestellte im gastronomischen Bereich durch das Netz der sozialen Absicherung fallen würden: Der Mitarbeiter erzählt, er sei der einzige, der aktuell arbeitet von den 13 Angestellten, außer ihm gebe es nur noch eine Aushilfe zum Spülen und Aufräumen. Sein Chef habe 9000€ Soforthilfe für drei Monate bekommen – für den Betrieb, die Mitarbei-
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ter:innen seien jetzt fast alle arbeitslos. 9000€ ist der Betrag für Selbstständige mit 0 bis fünf Beschäftigten. Das heißt, entweder hat sich der Chef erst einmal selbst versorgt, oder die 13 Mitarbeiter:innen arbeiten stundenweise so wenig, dass sie gemeinsam nur fünf volle Stellen ergeben. Gut möglich ist eine Mischung aus Teilzeitund Aushilfskräften. Beides spricht für ein eher prekäres Beschäftigungsverhältnis im Normalzustand, sicher ist, dass der Betrieb möglicherweise überlebt, die Angestellten jetzt aber erst einmal definitiv arbeitslos bleiben, da derzeit maximal zwei Mitarbeiter:innen gebraucht werden. (FP 04.04.2021, Brill, Z. 5ff.)
Ähnlich wie im Bereich konstanter gastronomischer Lokale zeigte sich auch für temporäre kulinarische Veranstaltungen, dass sie durch die pandemiebedingten Maßnahmen stark eingeschränkt wurden. Stadtfeste, Nachbarschaftsinitiativen und lokale Treffs wurden abgesagt, ausgesetzt oder verloren ihre organisationale Basis vorbereitender Treffen. Essen lässt sich nicht in den digitalen Raum verlagern. So beschränkten sich die ›Ausweichmanöver‹ in diesem Bereich auf Mailverteiler, Aushänge etc., in denen darauf hingewiesen wurde, wie die aktuelle Lage ist und wann wieder mit einer Aufnahme der bisherigen Aktivitäten zu rechnen sei. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie wurde sowohl durch die Versuche, regelmäßige Treffen oder Veranstaltungen aufrecht zu erhalten oder wieder einzuführen, als auch durch deren Aufgabe deutlich, dass esskulturelle Veranstaltungen auf gemeinsamer, körperlicher Anwesenheit an einem Ort basieren. Sie sind mit Hygiene- und Abstandsregelungen also besonders schwer zu kombinieren. Weshalb geteilte Praktiken in körperlicher Nähe diese zentrale Rolle in esskulturellen Interaktionen erhalten, behandele ich im folgenden Kapitel. Die empirische Basis der Analyse stammt aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, weshalb ich an manchen Stellen auf den Wandel der beschriebenen Rahmungen durch die Pandemie hinweise. Grundsätzlich ist an der Analyse der vor-pandemischen Situation aber auch abzulesen, welche Relevanz alltagspraktisches Handeln für das Zusammenleben im Stadtteil hat, inwieweit darauf also in dem Einstellen auf die Pandemie und in ihrer Nachbereitung Rücksicht genommen werden sollte. Jenseits der Corona-Krise und den Aspekten, die dadurch deutlicher hervorgetreten sind (wie die Sorge darum, ob auswärtiges Essen sicher und den persönlichen Vorstellungen entsprechend zubereitet wird) oder sich verändert haben (wie die Schließungen oder die Verstärkung der Ausrichtung auf Lieferdienste), möchte ich den Rahmen, in dem ich die Beobachtungen der folgenden Fallstudien gemacht habe, noch einmal zusammenfassend darstellen. In diesem Kapitel habe ich die lokalhistorischen Hintergründe Bad Godesbergs, die diskursive Darstellung des Stadtbezirks nach außen und innen sowie sein esskulturelles Angebot und dessen unterschiedliche Nutzungsweisen je nach Aufenthaltsdauer vor Ort eingeführt.
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Wenn ich mich im Folgenden Situationen esskultureller Interaktionen zuwende (Kap. 3 und 4) oder später esskulturellen Repräsentationen und deren Bewertungen (Kap. 5), dann steht diese Einführung im Hintergrund. Aus pragmatischer Perspektive ist entscheidend, dass diese Rahmung einzelner Situationen Referenzen anbietet, auf die einzelne Beteiligte in ihren Handlungen und in deren Reflexion und Deutung unterschiedlich zugreifen können. Steven Vertovec (2015) versteht deshalb unter Diversität als analytischem Konzept wie in Teilkapitel 1.3 bereits erwähnt nicht nur unterschiedliche Interaktionen und Repräsentationen, sondern eben auch (prozessual veränderliche) structural configurations: materielle und institutionell gefestigte Bedingungen, die die Anwohner:innen Godesbergs in ihren Alltagspraktiken sowie in ihrer sozialen und physischen Mobilität beeinflussen (s. ebd., 15). Für das öffentliche Leben und insbesondere für esskulturelle Interaktionen und Repräsentationen im Bezirk sind diese strukturellen Konfigurationen stark von der Zuspitzung seiner lokalhistorischen Entwicklungen im Narrativ des Niedergangs mit dem Ergebnis der Diagnose zweier, getrennter ›Welten‹ (wahlweise der Rede von der ›Parallelgesellschaft‹, etc.) bestimmt. In Bad Godesberg wird das alltägliche, öffentliche Leben sowohl materiell (historisch über die hohe Bedeutung residenziellen Wohnens sowie aktuell über die Gestaltungsmaßnahmen des Leibildprozesses) als auch institutionell (über die Verfestigung des diskursiven Bildes als Problembezirk innerhalb Bonns) mit Bezug auf die ›Zwei-Welten-Theorie‹ gerahmt (s. Teilkap. 2.1). Das Narrativ des Niedergangs wird von langfristig kaum mobilen Anwohner:innen je nach politischer Ausrichtung entweder als überzeugende Erklärung der Folgen von »Überfremdung« im Bezirk (FP 26.03.2019, Brill, Z. 72f.) oder als Hinweis auf »eine neue Form von bürgerlichem Rassismus« (laut der ehemaligen Bezirksbürgermeisterin Simone SteinLücke, zit.n. Q Frigelj 2016) gedeutet. Stärker mobile Anwohner:innen, die damit deutlich kürzere Zeit im Bezirk verbringen, messen dem Narrativ weniger bis keine Bedeutung zu (s. Teilkap. 2.3), nehmen aber an der öffentlichen Debatte dazu auch weniger teil, womit ihre unaufgeregte Haltung kaum institutionalisiert vertreten wird. In Bezug auf das esskulturelle Angebot im öffentlichen Leben ergeben sich so zwei grundsätzlich unterschiedliche Wahrnehmungen. Immobile Nutzer:innen neigen dazu, entsprechend dem für sie prominenten Narrativ (unabhängig von dessen Bewertung) zwischen ›arabischer‹ und ›alteingesessener‹ Küche zu unterscheiden (s. Teilkap. 2.2). Aus der Sicht der stärker mobilen Nutzer:innen bietet sich statt diesen zwei Kategorien von Angeboten ein einziges Angebot dar, das durch seine hohe interne Diversität in räumlichen Verweisen auffällt.
3. Halböffentliche Vergemeinschaftung
Die erste der eingangs formulierten Leitfragen lautet, wie sich das praktische Zusammenleben im Stadtbezirk Bad Godesberg gestaltet, unter welchen Umständen und auf welche Weise sich also individuelle, esskulturelle Alltagspraktiken überschneiden. Den (Deutungs-)Rahmen solcher Situationen der Begegnung gibt unter anderem der im vorherigen Kapitel beschriebene lokalhistorische Kontext vor. Darin enthalten sind massive, statische Elemente wie die Stadtvillen im Villenviertel, aber auch explosive Wolken wie der Kriminalfall Niklas P. Es spielen nun aber noch weitere Aspekte eine Rolle für deren jeweilige Einordnung und Deutung. Für die beteiligten Interaktionspartner:innen bieten sich beispielsweise durch unterschiedliche biografische Erfahrungen oder subjektiv verschiedene Sinneswahrnehmungen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an. Auf diese reflexive, interpretative Ebene der Beteiligten möchte ich später anhand der Analyse von Interviews und Gesprächen eingehen (Kap. 5). Genauso wie Anwohner:innen, Gastronom:innen oder Passant:innen erarbeite aber auch ich als Forscherin direkte Deutungen und Interpretationen der von mir beobachteten oder miterlebten Situationen und Gespräche. Darum wird es in den folgenden zwei Kapiteln gehen: Meine eigene, beobachtende Teilnahme als Ethnografin im Feld (s. Teilkap. 1.4) macht Prozesse sichtbar, die der Deutung und Bewertung der direkt Beteiligten vorgelagert sind. Ich analysiere hier Praktiken und Interaktionen (noch nicht die Aussagen darüber). Es wird darum gehen, die Frage nach der Überschneidung individueller, esskultureller Alltagspraktiken zwar vermittelt durch das übliche ethnografische ›Messinstrument‹, die (zwangsläufig subjektive) Wahrnehmung des:r Forscher:in, nichtsdestoweniger aber systematisch und geschärft durch die theoretische Rückbindung zu beantworten. Die folgende Fallstudie zu halböffentlicher Vergemeinschaftung über esskulturelle Praktiken besteht aus drei analytischen Schritten. In Teilkapitel 3.1 beschreibe ich zunächst zwei kontrastive Fälle von Kochtreffs, die ich während meiner Feldforschung begleitet habe, und halte mich dabei eng an die entsprechenden Feldprotokolle. In 3.2 erarbeite ich anhand dieser Fälle, aber abstrahiert von der reinen, ethnografischen Beschreibung Eigenschaften der Rahmung von Interaktionen und esskulturellen Praktiken in Kochtreffs, die ich im Anschluss an Étienne Wenger (1998)
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als »communities of practice« verstehe. In 3.3 komme ich unter Einbezug weiterer theoretischer Bezüge zu einer Unterscheidung von geteilten Praktiken, konfligierenden Praktiken und solchen persönlicher Interaktion. Diese Unterscheidung geht über die Vorstellung gemeinschaftlicher Praktiken hinaus. Das Zwischenfazit der Fallstudie zur ersten Leitfrage dieser Studie bildet abschließend das Teilkapitel 3.4.
3.1 Frühstück in der Kirche, Mittagessen im Verein Sucht man nach der Überschneidung individueller Alltagspraktiken, können grundsätzlich zahllose esskulturelle Situationen Aufschluss geben. Interessant wird es aber vor allem dann, wenn diese einzelnen Praktiken in diversen Biografien verortet sind (s. Teilkap. 1.3). Je unterschiedlicher die Kontexte sind, in denen die esskulturellen Praktiken erstmals eingeübt und erlernt wurden, umso eher ist zu erwarten, dass deren Varianten der Ausübung voneinander abweichen. Der praxeologische Fokus auf Erkennbarkeit, Zielgerichtetheit und Routine bekommt so eine besondere Relevanz. Wie genau erkennen die miteinander Beschäftigten, was gerade getan wird? Wie beteiligen sie sich selbst daran? Wie wird mit Widersprüchen und möglichen Konflikten umgegangen? Und in welchen Kontexten lassen sich solche Situationen der gemeinsamen, aber potenziell unterschiedlichen Praxis überhaupt finden? Für das Zubereiten und Verzehren von Essen, das Warde als »compound practice« (2016, 86) bestehend aus vielen einzelnen Praktiken, beschreibt, gilt eine Gleichzeitigkeit von hoher Komplexität in der individuellen Ausübung und geringer Regulierung durch allgemeingültige Normierung (s. ebd., 7). Selbst innerhalb kleinster, vergleichsweise homogener sozialer Gruppen wird je nach Anlass und Rahmung des Essens zwischen verschiedenen Formalisierungsgraden, geselliger oder vereinzelter Stimmung, schneller oder langsamer Ausübung etc. changiert. Esskulturelle Situationen werden zwar durch Individuen, Gruppen, Institutionen und Etikette gerahmt (s. ebd., 90), doch die innere Varianz ist hoch – kein Mensch isst immer gleich. Hinzu kommt, dass zum Essen eben nicht nur das körperliche Einverleiben von Nahrungsmitteln gehört, sondern auch das vorherige Zubereiten, das Umgehen mit Besteck, das Gespräch nebenher, das Verhalten danach oder das Abräumen. Insgesamt folgt aus dieser komplexen mehrschichtigen Praxis eine Beanspruchung der Sinne, des Bewegungs- und Verdauungsapparates sowie des sozialen Verhaltens zugleich. Schon im Privaten, beispielsweise im eigenen Wohnraum, wird den Essenden also viel abverlangt. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass das Essen immer gelingt. Essen als mehrschichtige Praxis außerhalb des eigenen Wohnraums ist noch mehr Abweichungspotenzial ausgesetzt und erfordert umso mehr Ressourcen zum Ein- und Ausüben. In Kapitel 2 habe ich angedeutet, dass vor allem die kurz- und mittelfristigen Anwohner:innen die innerstädtische Gastronomie deutlich weniger nutzen als Be-
3. Halböffentliche Vergemeinschaftung
sucher:innen und Langzeit-Bewohner:innen. Für Jugendliche und Geflüchtete sind kommerziell bestimmte esskulturelle Räume durch die geringen finanziellen Ressourcen weniger gut zugänglich. Ähnliches gilt für größere Familien, für die das Essen Gehen in der Innenstadt außerdem einen hohen logistischen Aufwand bedeutet. Viel eher werden Angebote in den Stadtteilen genutzt, insbesondere solche, die explizit auf einzelne Gruppen zugeschnitten sind und damit die Anwesenheit einzelner Personen nicht erst legitimiert werden muss. Ein spezifischer Typ solcher esskultureller Situationen außerhalb des privaten Raumes, aber auch jenseits der innerstädtischen Öffentlichkeit enthält gewissermaßen die alltagskulturelle Umsetzung einer praxistheoretischen Erkenntnis: Kochtreffs werden häufig bewusst da eingesetzt, wo es vermeintliche Unterschiede wahlweise zu thematisieren, zu nivellieren oder zu überwinden gilt. Zum expliziten Ziel von Kochtreffs wird erhoben, eine zuvor nicht oder nur eingeschränkt bestehende Gemeinsamkeit zu erzeugen, indem Rezepte, Zutaten, Zeit und schließlich auch die Gerichte selbst geteilt werden. Die Teilnehmenden solcher Treffs bezwecken etwas, was die Lerntheorie eine »community of practice« (Wenger 1998) nennt: das Einrichten einer Gruppe, in der Individuen gemeinsame Praktiken ausüben und Werkzeuge, Wissen und Themen diskutieren und (weiter)entwickeln, wobei die gemeinschaftliche Zielsetzung materiell schon im Teilen von Raum, Zeit und Objekten vorweggenommen wird. Um das Erarbeiten von Gemeinschaft über geteilte Praktiken zu untersuchen, habe ich in Bad Godesberg mehrere solcher Kochtreffs ausfindig gemacht. An zwei davon habe ich systematisch und jeweils über die Dauer von mehreren Terminen beobachtend teilgenommen. Einer der beiden Treffs fand wöchentlich, der andere monatlich statt; bei dem einen trafen sich hauptsächlich männliche Jugendliche, bei dem anderen vor allem ältere Frauen. Mit Beginn der Corona-Pandemie wurden die Treffs zeitweise ausgesetzt und sobald möglich wieder veranstaltet, oft jedoch mit weniger Teilnehmenden als zu meinen Beobachtungszeiten. Der Kochtreff für Jugendliche wird1 von einem Verein zur Unterstützung minderjähriger Geflüchteter organisiert2 . Vereinssitz ist ein verwinkeltes Gebäude in industrieller Umgebung im Übergangsgebiet zwischen Bad Godesberg und dem 1
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In den Fallbeschreibungen in diesem und den folgenden Kapiteln verwende ich das ethnografische Präsens, im Bewusstsein der berechtigten Kritik daran seit der Writing Culture-Debatte (vgl. insb. Clifford und Marcus 1986, s. auch Teilkap. 1.3). Mir geht es bei der Nutzung um die stilistische Unterscheidbarkeit primär ethnografisch-beschreibender und eher analytischer Teile der Kapitel. Mit dem Präsens wird also lediglich die Gegenwart der ethnografischen Forschungssituation, kein allgemeiner, statischer Zustand einer beobachteten ›Kultur‹ repräsentiert. Dem zugrunde liegt die Unterscheidung von »realism as genre« und »realism as epistemology« (Hastrup 1990, 49f.). Basis der Beschreibung des Kochtreffs für Jugendliche ist das FP 08.07.2019, Brill sowie beschreibende Teile aus den Interviews 12, 16, 18, 20.
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Bonner Innenstadtbezirk. Das Gebäude hat einige Mängel und ist für viele der Vereinsaktivitäten zu klein, doch der vorhandene Platz wird mit hohem persönlichem Einsatz der Beschäftigten kreativ genutzt, dekoriert und an die Zielvorstellungen der eigenen Arbeit angepasst. Es geht vor allem um Beratung und Weiterbildung von jugendlichen Geflüchteten im Prozess des Ankommens in Deutschland. Der Bildungsanspruch betrifft so verschiedene Ebenen wie den Spracherwerb, bürokratische Abläufe oder die Nutzung von Kondomen, die auf allen Toiletten inklusive Infozetteln ausliegen. Drei Statusgruppen nutzen die Räumlichkeiten: die hauptamtlich Angestellten (in der überwiegenden Mehrheit junge Frauen), die ehrenamtlich Engagierten (darunter viele pensionierte Langzeitanwohner:innen) und die Nutzer:innen des Betreuungsangebots (vor allem, aber nicht ausschließlich männliche, minderjährige Geflüchtete). Das explizit als interkulturell beschriebene gemeinsame Essen findet jeden Montag statt. Angeleitet wird es von einer hauptamtlichen Mitarbeiterin, einer Ehrenamtlichen und einer jungen Geflüchteten, die als ehemalige Nutzerin des Vereins in ein Nebentätigkeitsverhältnis übernommen wurde und zusätzlich zu dem Kochtreff auch an anderen Tagen der Woche für Mitarbeiter:innen und Nutzer:innen Essen zubereitet. Jeden Montag wird in dem Verein also zunächst zusammen eingekauft und dann gemeinsam in der Küche gekocht. Anschließend wird im größten der Vereinsräume, der gleichzeitig das Büro einer Mitarbeiterin ist, gedeckt und gegessen. Zum Schluss wird aufgeräumt und gespült. Die Küche ist in einem Vorraum des Treppenhauses zum oberen Stockwerk eingerichtet, sodass zwischen Arbeitsflächen und Kochflächen dauerhaft Durchgangsverkehr herrscht. Das einzige Fenster in der Küche lässt sich nicht öffnen, zur Belüftung müssen deshalb hin und wieder die Türen zum Flur und zum Treppenhaus geöffnet werden. Die Tür zum Flur und Richtung Ein- und Ausgang ist eine Glastür. Ihr gegenüber steht eine Sitzecke, die einzige Sitzgelegenheit im Verein außerhalb der Büroräume. Daraus ergibt sich, dass hier Begrüßungen, Verabschiedungen und kurze Gespräche stattfinden. Immer wieder lassen sich auch auf einen Termin wartende Jugendliche nieder. Der Einkauf ab ca. 13:00 Uhr wird trotz der offenen Einladung an alle Nutzer:innen letztendlich zumeist von den drei Hauptverantwortlichen allein bewältigt. Der gemeinsame Kochprozess beginnt also erst in der Sitzecke. Die verantwortlichen Frauen sitzen hier, trinken Kaffee oder Tee, unterhalten sich mit den ankommenden Jugendlichen, bis eine von ihnen je nach Gericht entscheidet, dass es Zeit ist, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Das Kochen findet hauptsächlich im Stehen an den Arbeitsflächen statt, aber auch der Tisch wird genutzt. Einrichtungsgegenstände und Küchengeräte sind mit deutschen Vokabeln beschriftet. Einen klaren Anfangszeitpunkt gibt es nicht, auch keine klare Rollenverteilung. An manchen Tagen setzt sich das Essen aus verschiedenen Beiträgen unterschiedlicher Personen zusammen, manchmal bringt eine der drei Frauen eine Idee für das Hauptgericht mit. Hin und wieder übernimmt dies eine:r der Nut-
3. Halböffentliche Vergemeinschaftung
zer:innen. Da am Mittag entsprechend eingekauft werden muss (die Kosten übernimmt der Verein), finden die Absprachen einige Tage vorher statt. In der Sitzecke werden keine genauen Pläne kommuniziert, stattdessen steht die Person, die sich für das Hauptgericht verantwortlich fühlt, auf und beginnt mit ersten Vorbereitungen. Auf Nachfrage kann man unterstützen, Gemüse schneiden, Backbleche vorbereiten oder später dann Kochendes umrühren etc. Die hauptamtliche Mitarbeiterin übernimmt nebenher das erzieherische Eingreifen und den Einbezug der Jugendlichen. Die Atmosphäre ist dennoch locker und entspricht eher einem teils unübersichtlichen Kommen und Gehen in einer Großfamilie als einer pädagogischen Veranstaltung.
Abb. 8: Bei dem Kochtreff der Jugendlichen (Juni 2019)
Das Kochen dauert mehrere Stunden, manchmal werden spontan Salate oder ein Nachtisch ergänzt, wie auf dem Bild (Abb. 8) ein selbstgemachter Pudding aus Speisestärke und Milch, den ein Jugendlicher durch seine Arbeit bei einer großen Kantine zuzubereiten weiß. Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen stoßen dazu, unterhalten sich und gehen wieder hinaus. Wer länger in der Sitzecke bleibt, wird früher oder später einbezogen oder freundlich, aber bestimmt nach draußen geschickt. Besonders der hauptamtlichen Mitarbeiterin ist es wichtig, dass sowohl Männer als auch Frauen in der Küche mithelfen und nicht die Frauen für die Männer kochen. Weitere Ideen stehen im Hintergrund, wie mir berichtet wird:
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Mm: »Ja also wir haben das schon ziemlich lange. Aber wir haben halt damals – ich weiß gar nicht mehr, seit wann haben wir das? Seit vier Jahren bestimmt schon, würde ich meinen. Weil wir auch gemerkt haben, viele der Geflüchteten kommen nach der Schule hier angerannt, angehetzt quasi, und haben einen Kohldampf, und haben aber einen Termin für die Nachhilfe. Und ja, mit einem leeren Bauch, da kann man sich einfach nicht gut konzentrieren. Genau, und da haben wir halt gesagt, das ist einerseits damit auch wirklich die Konzentration besser funktioniert, deshalb bieten wir das an, und weil halt Essen auch was ist…viele können zumindest ein leckeres Rezept kochen. Das ist dann so, futtern wie bei Muttern, manchmal. Und das gibt Halt, das glaube ich schon, auch das Gefühl, dass man hier ankommt und es ist halt für die Jugendlichen, wenn sie selber das Rezept auch vorgeben können, natürlich auch eine schöne Form der Wertschätzung. Dass man anerkannt wird und dass man eben auch was beisteuern kann, dass man hier nicht nur der Gast ist in der hiesigen Gesellschaft und ganz unten in der Hierarchie, sondern…das hat was mit Augenhöhe zu tun, meine ich doch.« (Interview 12, Z. 321ff.)
Die interviewte Person nennt Sättigung und Konzentrationsfähigkeit, Erfolgserlebnisse, Beteiligung auf Augenhöhe, Selbstermächtigung und ein Gefühl von Ankommen, Familie und Zuhause als Ziele des Kochtreffs. Die Ideen, mit denen der Treff eingeführt wurde, werden aber beim Kochen nicht explizit thematisiert, sie stehen eher im Hintergrund. Unterschiedliche Speiseregeln und genderspezifische Rollenverteilung sind die einzigen mit dem Essen verbundenen Themen, die immer wieder in den Gesprächen aufkommen. Auch das geschieht aber nur dann, wenn es sich situativ aus den Praktiken ergibt: wenn es beispielsweise darum geht, den Tisch zu decken, einige der männlichen Jugendlichen zunächst sitzen bleiben, und dann von den Frauen aktiv dazu aufgefordert werden, mitzuhelfen. Sobald sich abzeichnet, dass das Hauptgericht (oder die verschiedenen Gerichte) bald fertig sind, werden so von allen Anwesenden Teller, Besteck, Gläser und Karaffen mit Leitungswasser in den benachbarten Raum gebracht und auf dem großen Tisch verteilt. Zwischen 16:00 und 16:30 Uhr treffen immer mehr Nutzer:innen ein. Sobald alles fertig vorbereitet ist, werden auch die Mitarbeiter:innen informiert. Zum Essen kommen zwischen zehn und 15 Personen zusammen. Da oft bis kurz vor dem Essen nicht sicher ist, für wie viele Personen genau gekocht wird, gibt es zusätzlich zum Gericht zumeist eine Sättigungsbeilage wie Reis, die am nächsten Tag noch weiter genutzt werden kann. Stets werden auch mehrere Packungen Lavash (dünnes Fladenbrot) auf den Tisch gelegt, das nicht nur zum Verzehr, sondern auch zum Aufnehmen des Essens mit der Hand genutzt wird.
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Abb. 9: Zu Mittag gibt es gefüllte Paprika (Juni 2019)
Sobald das Essen auf dem Tisch steht (Abb. 9), bedienen sich alle und fangen an zu essen. Es gibt kaum sichtbare Benimmregeln, jede:r tut mehr oder weniger, was er:sie will. Man muss aktiv nachfragen, wenn man etwas herübergereicht bekommen will, der Umgang ist jedoch freundlich und alle achten darauf, nur so viel zu nehmen, dass für jede:n etwas da ist. Manche machen Fotos von den Gerichten, beschäftigen sich mit ihren Handys oder unterhalten sich in Kleingruppen. Die Gesprächspartner:innen ergeben sich vor allem durch die unterschiedlichen Erstsprachen. Zwar bevorzugen es die hauptamtlichen Mitarbeiter:innen, wenn Deutsch gesprochen wird und weisen zwischendurch darauf hin, doch das Essen wird auch von ihnen eher als Pause denn als offizieller Termin verstanden, sodass die Gespräche auf anderen Sprachen (vor allem Dari, Farsi und Urdu) nicht unterbrochen werden. Die Essenden bedanken sich bei den Köch:innen, es ergeben sich Gespräche über die Gerichte und die Zubereitung. Wenn alle fertig sind, wird abgeräumt und dazu aufgefordert, den Hauptamtlichen beim Spülen zu helfen. Wer Termine hat, darf gehen und auch darüber hinaus herrscht keine strenge Kontrolle. Es reicht aus, dass sich ein oder zwei helfende Nutzer:innen finden. Weniger spontan und deutlich stärker organisatorisch überformt geht es in dem Kochtreff zu, bei dem sich ehemals Mütter von Kindern zweier zusammengelegter Grundschulen und heute ältere Frauen aus dem gleichen Einzugsgebiet treffen3 .
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Basis der Beschreibung des Kochtreffs für Frauen sind die FP 15.04.2019, Brill, 14.06.2019, Brill sowie beschreibende Teile aus den Interviews 13 und 19.
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In diesem Fall ist die Zielsetzung vor allem der interreligiöse Dialog. Passend dazu ist der Treffpunkt das Gemeindehaus einer evangelischen Kirche. Die Treffen finden monatlich an wechselnden Vormittagen unter der Woche statt und werden stets von einer Teilnehmerin über einen Email-Verteiler angekündigt. Zusätzlich werden Freundinnen und Bekannte mündlich eingeladen oder an den Termin erinnert. In den ersten Jahren wurde bei den Treffen noch hauptsächlich gemeinsam gebacken oder gekocht und gegessen. Mittlerweile wird im Vorfeld festgelegt, um welches Thema es geht: Manchmal bringen sich einzelne Teilnehmerinnen mit vorbereiteten Referaten ein, wahlweise wird ein übergeordnetes Motto festgelegt, an dem sich die Gespräche orientieren, oder ein Ausflug wird organisiert. Der Ablauf des bevorstehenden Treffens wird in der Einladung angekündigt. Falls es kein festes Thema gibt, ist es üblich, dass man ein gemeinsames Frühstück zubereitet. Das Frühstück rahmt aber auch die thematischen Treffen. Einzelne Frauen, darunter die Küsterin, sind schon morgens im Gemeindehaus und treffen erste Vorbereitungen. Einige Bestandteile des Frühstücks werden in der Küche frisch zubereitet, andere werden eingekauft oder von zuhause mitgebracht. Beim Termin zum Thema ›Brot‹ beispielsweise backen zwei Frauen gemeinsam Rosinenbrötchen und kleine Brote. Sie übernehmen wechselnd verschiedene Arbeitsschritte und delegieren weitere Aufgaben an ankommende Frauen. Diejenigen, die sich länger kennen und in der gemeinsamen Küchenarbeit routiniert sind, bringen sich ein. Neue Teilnehmerinnen, zumeist mitgebrachte Freundinnen, werden angewiesen, den Tisch zu decken oder bleiben im Vorraum stehen und begrüßen und unterhalten sich. Der Küchenbereich ist von dort aus offen einsehbar, sodass ein informelles Ein- und Aussteigen in die Gespräche möglich ist. Der Weg von der Küche in den Gemeindesaal führt durch den Eingangsbereich, wer neu ankommt findet sich also gleich zwischen den Besteck hin und her tragenden Frauen wieder und kann sich eingliedern. Man steigt sofort in persönliche Gespräche ein, es wird nach Verwandten gefragt, nach Festen, Urlauben und allem, was seit dem letzten Treffen geschehen ist. Das Essen wird nebenher weiter zubereitet. Nur wenn Entscheidungen getroffen werden müssen oder kleine Irritationen über Verantwortlichkeiten auftreten, wird kurz darüber gesprochen. Dazu dienen vor allem Deutsch und Arabisch. Die meisten Teilnehmerinnen sprechen beide Sprachen (Arabisch überwiegend in levantinischen Dialekten), manche aber auch nur eine davon, außerdem Türkisch oder Farsi. Eile hat dabei niemand, erst wenn der Tisch detailreich gedeckt und dekoriert ist, stellen einzelne Teilnehmerinnen fest, dass langsam Zeit zum Essen ist. Es wird Kaffee und Tee zubereitet und alle Anwesenden setzen sich an die lange Tafel im Gemeindesaal. Immer noch kommen weitere Frauen dazu, manche werden dank ihrer Anmeldung per Mail von der Gruppe erwartet, andere nehmen spontan teil. Neben dem vor Ort zubereiteten Gebäck stehen Aufstriche auf dem Tisch, die meisten davon sind selbstgemacht und wurden von den Teilnehmerinnen mitgebracht. Genaue Absprachen dazu gibt es keine, sodass von manchem zu viel da ist und später wie-
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der mitgenommen wird. Zwei Frauen haben verschiedene Arten von selbstgemachten Fladenbroten mit Kräutern mitgebracht, die sie als palästinensische Variante eines in vielen arabischsprachigen Ländern beliebten Brotes beschreiben. Dazu gibt es Schafskäse und Oliven (Abb. 10).
Abb. 10: Zwei Brotsorten beim Frauencafé (April 2019)
Auch an anderen Terminen beginnt das Frühstück schließlich damit, dass die Teilnehmerin, die per Mail eingeladen hat, kurz um Ruhe bittet und alle begrüßt. Sie kündigt die Planung für die nächsten Monate an und berichtet von persönlichen Neuigkeiten ehemaliger Teilnehmerinnen, außerdem weist sie auf das Thema des jeweiligen Treffens und dessen Ablauf hin. Stehen Referate an, wird zunächst in lockerer Atmosphäre gegessen und dann dazu übergegangen. Die Themen haben oft einen religiösen Bezug, einmal geht es um prominente Frauenfiguren im Koran und in der Bibel (s. Abb. 11), andere Male um festliche Anlässe im Islam und im Christentum oder den Vergleich von Hochzeitsritualen. Es bleibt aber auch stets Zeit für spontane Beiträge wie beispielsweise der Urlaubsbericht einer Teilnehmerin, bei dem Fotos herumgehen und über Sehenswürdigkeiten in den Golfstaaten gesprochen wird. Die Gespräche beim Essen wechseln zwischen privaten und allgemeinen Themen hin und her. Es wird deutlich, dass viele der Frauen über Jahre eine diskussionsfreudige Freundschaft aufgebaut haben, sodass es leichtfällt, von eigenen Erfahrungen zu gesellschaftspolitischen Fragen überzugehen und umgekehrt. Gerade die regelmäßig teilnehmenden Frauen sind geübt darin, in Gespräche einund wieder auszusteigen. Manchmal ergibt sich daraus eine große Diskussionsrunde quer über den Tisch, dann spaltet die Runde sich wieder in Gespräche mit den
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Sitznachbarinnen oder Freundinnen auf. Die zweisprachigen Frauen können sich am meisten beteiligen, wohingegen diejenigen, die nur eine Sprache sprechen, sich eher in die deutsch- oder arabischsprachigen Zweier- oder Dreiergespräche einbringen. Die fluide Gesprächssituation führt häufig zu Abbrüchen, was aber niemanden stört. Umgekehrt hat das Herumreichen von Aufstrichen, Brotkörben, Kaffeekannen etc. die Wirkung, die einzelnen Gespräche wieder zu verbinden. Immer wieder wenden sich die Teilnehmerinnen aktiv dem Essen zu und unterhalten sich über Zubereitungsweisen einzelner Bestandteile des Frühstücks. Insgesamt geht es recht laut zu und vor allem wird viel gelacht.
Abb. 11: Notizen zum christlichen und zum islamischen Vortrag (Juni 2019)
Bei den Referaten ist deshalb hin und wieder das aktive Bitten um Ruhe der einladenden Teilnehmerin nötig. Nach einer Weile wächst die Aufmerksamkeit für die thematischen Beiträge. Zum Ende hin gehen die eingeworfenen Zwischenfragen und deren Beantwortung durch die jeweilige Referentin in eine allgemeine Diskussion über. Meinungsverschiedenheiten werden offen besprochen, führen aber nicht zum Konflikt. Auch während der thematischen Auseinandersetzung wird weiter Kaffee und Tee getrunken und vereinzelt gegessen. Das Herumgeben von einzelnen Körben oder Kannen um den Tisch findet also weiter statt und fördert die freundliche Zugewandtheit zwischen den Sitznachbarinnen. Die Zusammensetzung der Runde wird dabei ebenso wie bei dem Kochtreff der Jugendlichen durch die Routine als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und nicht explizit thematisiert. Dennoch
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sind sich, wie sich auf Nachfrage ergibt, die Teilnehmerinnen des spezifischen, um das Essen organisierten Formats durchaus bewusst: Nf: »Ich glaube einfach, dass das Essen grundsätzlich eine große Rolle gespielt hat in den Anfängen. Oder überhaupt, Essen bedeutet ja auch Gemeinschaft und gemeinschaftliches Genießen. Und inzwischen sind wir so eine…also zumindest der Teil von uns kennt sich schon ewig und wir haben auch eine gute Freundschaft und auch wenn wir in manchen Dingen nicht immer einer Meinung sind herrscht halt auch eine große Toleranz und Akzeptanz. Und wir haben auch schon viele Sachen gemeinsam einfach gemacht, es gibt auch so Themenabende manchmal, Koran für Christen erklärt, und umgekehrt, Bibel erklärt, wo dann auch Islamwissenschaftler kommen. Und das haben wir zum Teil auch schon zusammen besucht. Also es waren vielleicht nicht alle da, aber viele, und wir haben an der Fahd-Akademie Feste besucht gemeinsam, und wir haben uns schon auch sehr viel mit diesen Themen auseinandergesetzt. Und ich denke wir kennen untereinander auch die Meinungen relativ gut und auch die Gegensätze, aber auch die Gemeinsamkeiten. Und Essen ist finde ich für alle Kulturen ja auch eine Gemeinsamkeit, ne? Also es ist ja eigentlich in jedem Land so, dass dieses Essen, dieses gemeinsame Essen auch doch einen sehr hohen Stellenwert hat. Auch in den Familien. Also ich glaube das ist was, was eben auch allen Kulturen gemeinsam ist, vielleicht den ganz modernen zum Teil nicht, die dann so einsam vor sich hin essen. Da nimmt das so ein bisschen ab, aber eigentlich ist es ja schon in den Kulturen so, dass dieses gemeinsame Essen eben auch die Gemeinschaft stärkt.« (Interview 13, Z. 179ff.) Die Interviewte erwähnt hier die vergemeinschaftende Wirkung von Essen, die freundschaftlich begründete Toleranz von unterschiedlichen Meinungen, das Interesse am interreligiösen Dialog und die Abgrenzung von individualisierter Esskultur, die sie als »modern« beschreibt. Gerade in dem letzten Aspekt wird ein im Hintergrund stehendes Auswahlkriterium für die Teilnehmerinnen deutlich: Da es sich um einen Vormittagstermin unter der Woche für weibliche Interessierte handelt, sind nicht nur Männer, sondern auch arbeitende Frauen faktisch ausgeschlossen. Aktiv thematisiert wird das nicht, dennoch ergibt sich daraus, dass überwiegend Hausfrauen oder Rentnerinnen an dem Treff teilnehmen, deren (familiärer) Alltag je nach Person mehr oder weniger stark auf religiöse Wertvorstellungen ausgerichtet ist. Zum Ende des Treffens wird wieder mehr über private und familiäre Themen gesprochen. Einzelne Teilnehmerinnen brechen auf, diejenigen, die am meisten Zeit haben, bleiben da und räumen auf. Das Essen, das übrigbleibt, wird verpackt und den anderen mitgegeben, wobei alle darauf achten, besonders die Dinge mitzunehmen, die sie nicht selbst zubereitet haben. Die Küsterin und die einladende Teilnehmerin bleiben meist am längsten, jeweils unterstützt durch wechselnde andere Frauen.
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Beide Kochtreffs, sowohl der für Jugendliche als auch der für Frauen, werden zu besonderen Anlässen nach draußen verlegt. Im Sommer machen die Frauen häufig Picknicks am Rhein. Bei dem Verein der Geflüchtetenhilfe wird jährlich ein Grillfest in der Rheinaue veranstaltet. Gemeinsam ist den beiden Formaten aber vor allem, dass sie außer bei derartigen Sonderveranstaltungen regelmäßig an einem gleichbleibenden Ort stattfinden und der Zugang weder öffentlich noch kommerziell, aber auch nicht rein privat geregelt ist. So ergeben sich wiederkehrende Situationen der Begegnung von Personen, die sich ohne diesen Anlass nicht oder nur mit anderen teilnehmenden Einzelpersonen treffen würden. Zwar weichen der Turnus und die Organisationsform und Rollenverteilung leicht voneinander ab. Beide Treffs eröffnen aber gleichermaßen einen nicht-privaten Raum, der das gemeinsame Einüben und Ausüben von unterschiedlichen Esspraktiken ermöglicht. Wie eingangs beschrieben werden einerseits persönliche Zubereitungsweisen geteilt und wertgeschätzt. Andererseits werden nationale, generationale, genderspezifische und religiöse esskulturelle Praktiken thematisiert und insbesondere im Fall der Frauencafés zum Diskussionseinstieg genutzt. Es gibt einige ähnliche Formate im Bezirk, die auch in Interviews außerhalb der beiden beschriebenen Fälle immer wieder Erwähnung fanden. Im folgenden Teilkapitel weise ich deshalb auf einige Eigenschaften von Kochtreffs hin, die die Art und Weise spezifizieren, in der sich bei solchen Anlässen individuelle, esskulturelle Alltagspraktiken überschneiden.
3.2 Der Rahmen ›Kochtreff‹ Treffen sich Menschen außerhalb der eigenen Küche zum Kochen, stehen dabei wie oben bereits angedeutet manchmal vage, oft aber auch sehr konkrete Vorstellungen der positiven Auswirkungen von geteilten Praktiken unterschiedlicher Einzelpersonen im Hintergrund. Diese Einschätzung findet in Kleingruppen Anwendung, aber auch in kommunalen Formaten oder in Forschungsprojekten, die die vergemeinschaftende Wirkung von geteilten esskulturellen Praktiken als Basisannahme schon voraussetzen (vgl. das HERA-Projekt »FOOD2GATHER. Exploring foodscapes as public spaces for integration«). Außer im Bereich von Nachhaltigkeitsinitiativen (vgl. Hennchen und Pregerning 2020; Marovelli 2019; Betz 2016)4 gibt es allerdings kaum Studien dazu, wie genau solche Begegnungen unterschiedlicher Praktiken ablaufen und welche Eigenschaften und Auswirkungen sie im lokalen Kontext tatsächlich haben. Abgeleitet aus den oben eingeführten Fällen und erweitert um Beobachtungen und Aussagen aus 4
Diese Arten von Kochtreffs werden hier nicht behandelt, da sie ihren Fokus eher auf Produktion, Lieferketten und Konsum von Lebensmitteln legen, als auf die sozialen Interaktionen beim Essen, und damit anderen Kontextbedingungen unterliegen.
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anderen Gesprächen und Interviews im Feld gehe ich hier deshalb auf drei Teilfragen genauer ein: In welchen Kontexten wird die Rahmung als Kochtreff von Einzelpersonen und Kleingruppen bewusst eingesetzt (1)? Wie wird die Begegnung potenziell unterschiedlicher Praktiken aus einer mikrosoziologischen, interaktionsfokussierten Perspektive organisiert (2)? Welche Ansprüche stehen hinter der Teilnahme an den Kochtreffs und inwieweit werden sie umgesetzt (3)? Bezüglich der Teilfrage der Kontexte (1) lässt sich zwischen zwei Figurationen5 unterscheiden: Entweder steht die Eröffnung eines Begegnungs- und Gesprächsraums für Einzelpersonen mit einer Gemeinsamkeit im Vordergrund, oder der Dialog zwischen verschiedenen Gruppen wird fokussiert. Im Fall des Frauencafés beispielsweise haben die Teilnehmerinnen zwar ganz unterschiedliche Hintergründe und beschäftigen sich aktiv mit interreligiösem Dialog, für das Format des Treffens werden aber zwei Gemeinsamkeiten betont. Erstens handelt es sich um einen rein weiblichen Begegnungsraum, zweitens nimmt er explizit auf die Nachbarschaft in einem Godesberger Stadtteil Bezug. Die Entscheidung, ob Dialog oder Gleichheit in den Vordergrund gestellt werden, ist eine bewusst erarbeitete: Nf: »Wir haben auch die ersten Wochen und Monate sehr viel über Religion und über die Unterschiede eigentlich gesprochen, und diskutiert, immer wieder […] und dann haben wir gesagt nee, wir müssen davon weg, immer über diese Religion zu diskutieren, wir müssen uns mit den normalen Dingen des Lebens befassen.« (Interview 13, Z. 72ff.) Beim Kochtreff für minderjährige Geflüchtete ist die Figuration eine andere. Die meisten Teilnehmer:innen befinden sich in einer ähnlichen Lebenslage, im Fokus des Treffens stehen aber formal verschiedene Regional- und Nationalküchen. Hier geht es also um interkulturellen Dialog, denkbar wäre auch ein interreligiöses oder intergenerationales Format. Grundlage bildet die Diversität der Teilnehmer:innen, Unterschiede werden betont und bewusst wertgeschätzt. Andererseits kann die Grundlage dafür, dass Gleichheit fokussiert wird, Nachbarschaft, Freundschaft oder eine geteilte religiöse, genderspezifische oder nationale Zuschreibung sein. An den beiden Fällen zeigt sich, dass bei der Organisation eines Kochtreffs häufig eingangs die Dialogfiguration gewählt wird. Längerfristige, routinierte Treffen lassen sich jedoch besser mit einer Gemeinsamkeit begründen, die es zu pflegen
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Ich verwende hier den Elias’schen (2018) Begriff der Figurationen um ihre von den Teilnehmenden in Bezug aufeinander gewählte, veränderbare Qualität zu betonen (gewissermaßen eine Ebene unter der Goffman’schen Rahmung als Kochtreff, denn dieser Rahmen bleibt ja bestehen). Man könnte auch von Konstellationen sprechen, dieser Begriff ist im Vokabular Wengers jedoch für den communities of practice übergeordnete organisationale Netzwerke vorgesehen (s. Wenger 1998, 126ff.).
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gilt. So ergibt sich bei konstanteren, regelmäßig stattfindenden Formaten eine Tendenz zur gleichheitsbetonten Figuration. Auch beim interkulturellen Essen verändert sich der Fokus von der Ursprungsfiguration zu einem Treffen für Angehörige und Nutzer:innen des Vereins. Explizit auf Dialog fokussierte Formate lassen sich im Stadtbezirk ebenfalls finden, hierbei handelt es sich aber um Einzelveranstaltungen. Mit Wenger lässt sich diese Verschiebung des Fokus von Dialog auf Gleichheit bei regelmäßigen Treffen in der Abgrenzung zu Einzelevents als Entstehen einer community of practice deuten und verstehen. Einzelveranstaltungen erfüllen das Kriterium einer auf Wiederholung ausgelegten und damit Vertrauen hervorbringenden Beziehungsform nicht. Ihnen fehlt schlicht die Zeit, einen Lernprozess zu erzeugen, der geteilte Fähigkeiten, Bewertungskategorien und letztendlich Identitätsbezüge möglich macht (s. Wenger 1998, 125). Umgekehrt wird klar, warum Kochtreffs dazu neigen, sich von einer dialogfokussierten Figuration auf eine gleichheitsbetonte Figuration umzustellen: The members of an incipient community of practice may belong to very different localities of practice to start with, but – after sustaining enough mutual engagement – they will end up creating a locality of their own, even if their backgrounds have little in common. (ebd., 130) Nun stellt sich die Teilfrage, wie genau die Kollektivierung, die Erarbeitung einer eigenen »locality«, in und durch die gemeinsamen Praktiken auftritt. Wie werden konkrete Interaktionen und Praktiken organisiert und ausgeübt? (2) Auffällig an der Rahmung als Kochtreff ist der halböffentliche6 Zugang. Für die Teilnahme sind keine formalen Zugangsbeschränkungen festgelegt. Wer sich angesprochen und eingeladen fühlt, wird eher über die Kommunikation von Ausschluss- als über konkrete Einschlusskriterien geregelt. Im Frauencafé sind Männer grundsätzlich ausgeschlossen, ohne dass es eine direkte Einladung an alle Frauen der Nachbarschaft gibt. Bei dem Treffen der geflüchteten Jugendlichen sind nicht mit dem Verein Verbundene ausgeschlossen, was aber umgekehrt nicht bedeutet, dass alle Kontakte des Vereins eingeladen sind. So ergibt sich eine begrenzte Gruppengröße, wobei die Gruppe als solche nicht streng definiert ist. Diese flexible Gruppenzusammensetzung bewirkt mehr als das reine Aufrechterhalten des Eindrucks von Offenheit: Dadurch, dass der Einzugskreis von potenziell Teilnehmenden deutlich größer ist, als die real Beteiligten an jedem Einzeltermin, lässt sich die Regelmäßigkeit der Treffen gut erhalten, auch wenn Personen aussteigen. Es entsteht nur in geringem und handhabbarem Maß Enttäuschung, Frustration oder Überlastung, wenn einzelne Aufgaben zu viel Raum erhalten oder um6
Der Begriff der Halböffentlichkeit wird im Folgenden aus der Empirie abgeleitet definiert. Anregungen dazu bietet auch Gabriele Sturms (2018) Beschäftigung mit halböffentlichen Räumen in der Stadt Bonn.
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gekehrt Einzelpersonen keine dauerhafte Verantwortung übernehmen. Bei beiden Kochtreffs ergibt sich eine aktive Teilnehmendenzahl, die zwischen zehn und 20 Personen schwankt. Es handelt sich um keine feste, immer ›funktionierende‹ Größe und doch ist die Gruppengröße nicht völlig arbiträr. Solange es möglich ist, an einem langen Tisch in einem entsprechend großen Raum zu sitzen, ist ein Kochtreff praktikabel. Mehr als grob 20 Personen dürfen es also mit den Ressourcen eines Stadtteils ohne große Veranstaltungsräume nicht werden. Treffen sich vier oder fünf Personen, kommt es andersherum nur selten dazu, dass sich Parallelaktivitäten oder –gespräche ergeben. Genau das ist aber eine der Besonderheiten eines Kochtreffs, auf die ich später noch genauer eingehen werde (3.3). Eng mit der beschriebenen Gruppengröße verbunden ist die hauptsächliche Nutzung von mündlicher Einladung zum Treffen. Das unterscheidet die regelmäßigen Kochtreffs unter anderem von Einzelveranstaltungen, zu denen über Flyer und ähnliches Werbematerial eingeladen wird. In beiden beobachteten Fällen ist die mündliche Einladung ein Aspekt, der auch nach mehrjähriger Routine nicht aufgegeben, sondern maximal um weitere Informationswege wie Mailverteiler oder Aushänge ergänzt wird. Die persönliche Informationsweitergabe bewirkt, dass tatsächlich auch bei jedem Treffen Personen anwesend sind, wobei zudem nur äußerst selten Teilnehmende auftauchen, die nicht schon mit mindestens einer anderen Person in einer direkten, persönlichen Beziehung stehen. Die Einführung von Neuen ist wechselnd Aufgabe jedes:r Einzelnen und muss dementsprechend nicht formalisiert oder standardisiert werden. Diese Eigenschaft ist entscheidend für Kochtreffs mit anfänglichem Dialogkontext und erwartbarer Diversität der Teilnehmenden. Die erste Teilnahme kann sich für jede:n anders gestalten. Sie ist gesichert durch den persönlichen Kontakt. Fehler, Missverständnisse oder Widersprüche zwischen eigenen und anderen Praktiken sind folglich kein grundsätzliches Problem und können mit einer schon vertrauten Person besprochen werden. Ebenso wie Zugang und Einladung bewegt sich auch die Zeitplanung zwischen großer Freiheit und wenigen, aber klaren und verbindlichen Regeln. Es gibt zwar eine definierte Anfangszeit, die im Fall der beobachteten Treffs gesichert durch einzelne Teilnehmende zuverlässig eingehalten wird, doch wer darüber hinaus wann eintrifft, wird jedem:r Einzelnen überlassen und beeinträchtigt die Abläufe nicht. Infrastrukturell wird diese Flexibilität durch die Angliederung der Kochtreffs an bestehende Einrichtungen erreicht. In beiden Küchen ist alles da, was für das grundlegende Erreichen des Ziels (Zubereiten von basalem Mittagessen/Frühstück) ohne großen Aufwand nötig ist. Wie elaboriert das Essen am Ende wird, ist davon abhängig, wer wann erscheint und wieviel Mithilfe sich einstellt. Wenn es wenig Unterstützung gibt, stellt das aber nicht das gesamte Format des Treffens in Frage. Für die Mehrheit der Teilnehmenden gilt so eine äußerst flexible Rollenverteilung. Man kann sich je nach Termin unterschiedlich intensiv einbringen, mal eine führende Rolle übernehmen und mal unbeteiligt daneben sitzen. Dieser Wechsel
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führt in der Gruppe nicht zu Verwirrung, sondern ist im Format angelegt und erwünscht. Er bewirkt, dass sich kleinere Interaktionen ergeben, bei denen wie oben bereits angedeutet einzelne Teilnehmende parallel zu anderen Kleingruppen miteinander arbeiten und sprechen. Ebenso ist es möglich, dass Unbeteiligte, wie zum Beispiel wartende Jugendliche im gleichen Raum, flexibel einbezogen werden. Die spontane Aufteilung der Verantwortung für einzelne Aufgaben gelingt insgesamt nur dann, wenn es ein zuverlässiges back up in Form von Leerstellen füllenden Verantwortlichen gibt. Im Fall des Jugendtreffs sind das die hauptamtlich Angestellten, die ihre Verantwortung aber auch jederzeit bereitwillig an Freiwillige abgeben. Im Fall des Frauencafés sind es einzelne, schon lang beteiligte Frauen ohne bestimmte formale Position. Außerdem sind Vermittlungsfiguren notwendig. In beiden beobachteten Fällen geht es bei der Vermittlung um sprachliche Übersetzung, aber auch um die bereits erwähnten Unterschiede der Religion, des Alters und ganz individuell in der Erfahrung mit den anstehenden Aufgaben. Im Frauencafé beispielsweise übernimmt diese Rolle eine Frau, die sowohl einige der nur deutschsprachigen als auch manche der nur arabischsprachigen Teilnehmerinnen gut und persönlich kennt. Gibt es sprachliche Verständnisfragen, oder Unsicherheiten darin, wie man bestimmte Dinge zubereitet, welche weiteren Arbeitsschritte anstehen etc., wird von beiden Seiten aus zumeist sie angesprochen, um zu vermitteln. Bei dem Essen im Verein gibt es ebenfalls zwei Personen, die zwischen der hauptamtlichen Mitarbeiterin als Organisatorin und den teilnehmenden Jugendlichen stehen: Mm: »Dann die Yasmin, die hatte hier als Ehrenamtliche angefangen, die spricht auch Urdu, die kommt eigentlich aus Pakistan, was dann wieder auch manche Afghanen sprechen, ein bisschen Urdu. Also so vom Kulturraum passt das irgendwie ganz gut rein, und jetzt seit einem knappen Vierteljahr ist noch die Amelia dabei, die ist aus Albanien, genau, die ist jetzt also auch mit ihrer Family auch hier.« (Interview 12, Z. 302ff.) Unabhängig davon, wer bei den einzelnen Treffen die momentane Leitung übernimmt, werden Zubereitungsschritte unter den übrigen Anwesenden aufgeteilt. Die Koordination funktioniert über die leitende Person, ist aber auch darauf angewiesen, dass die Einzelpersonen kleine Entscheidungen selbst und ohne Absprachen durch die eigenverantwortliche Beobachtung der anderen treffen. Die Gerichte, die Zutaten sowie die Zubereitungsweisen variieren stark je nach Treffen. Entscheidend ist die generelle Orientierung an einer Kombination unterschiedlicher Speiseregeln: In beiden beobachteten Fällen wird stets darauf geachtet, dass halal und vegetarisch essende Personen eingeschlossen werden. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass das Essen modular zusammensetzbar ist und nicht mit den eigenen Speiseregeln kompatible Teile problemlos weggelassen werden können.
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Was die Hauptbestandteile des Essens angeht, trifft man sich bei dem kleinsten gemeinsamen Nenner, wobei Ergänzungsmöglichkeiten durch Lebensmittel, die nicht für alle essbar sind, ebenfalls unproblematisch sind. In der Zubereitung für andere stellt sich vor allem durch die persönliche Freundschaft eine höhere Bereitschaft ein, Regeln zu umgehen, als für sich selbst. Sowohl im Frauencafé als auch bei den Jugendlichen gab es Situationen, in denen Einzelpersonen Zutaten verarbeiteten, die sie selbst nicht essen. Ein junger Geflüchteter berichtet, dass er auch bei seiner Arbeit in einer Kantine regelmäßig Gerichte kocht, die nicht halal sind, und er deshalb daran gewöhnt ist: Rm: »Ja, ich kann das alles.« Y1: »Ok. Aber du selber isst schon eher halal, oder? Oder isst du auch Schwein?« Rm: »Ja. Ich esse halal, aber wenn es bei meinem Job um Schwein geht oder so, ist mir das egal. Ich mag es, mit allem zu arbeiten, dann macht mir das manchmal nichts aus. Ich mache das mit Handschuhen, aber manche machen es gar nicht. Aber ich arbeite gerne mit allem. Mit Schwein oder Rindfleisch oder Hühnchen, bei mir ist das egal.« (Interview 18, Z. 74ff.) Grundvoraussetzung für das gemeinsame Essen ist es also, einerseits abweichende Speiseregeln bei den anderen Teilnehmenden zu akzeptieren und andererseits auf Respekt und Sensibilität im Umgang mit den eigenen Regeln zu vertrauen. Kontrolle in Bezug auf die tatsächliche Einhaltung beim Kochen wird in beiden der schon seit Jahren etablierten Treffs nicht ausgeübt. Jede:r verlässt sich sowohl auf das Wissen um die Regeln als auch um die ehrliche Kommunikation über Zutaten und Zubereitungsweisen, wenn er:sie nicht mitgekocht hat. Neue, möglicherweise unsichere Teilnehmenden gliedern sich in dieses bestehende Gefüge ein, was nur durch den Vertrauensvorschuss der oben bereits genannten persönlichen Eintrittskontakte möglich ist. Häufige Interessensbekundungen an unterschiedlichen Praktiken unterstützen das gegenseitige Vertrauen. Die wechselnden Ressourcen, die sich durch die jeweiligen leitenden Personen ergeben, werden für die übrigen Teilnehmenden zur Quelle für neues Wissen und neue Praktiken. Die Bereitschaft zum Lernen ist damit eine weitere Grundvoraussetzung, wie auch Wenger abstrahiert vom Rahmen des Kochtreffs für communities of practice im Allgemeinen betont (s. Wenger 1998, 7ff.). Durch die Orientierung der Treffen an den wechselnden Ressourcen und Bedürfnissen der aktiv Teilnehmenden (anstelle einer Ausrichtung z.B. auf ein noch zu erreichendes, größeres Publikum oder Ziel) erhalten die Kochtreffs hohe Stabilität auch über lange Zeiträume. Die Erarbeitung von Gemeinsamkeit (vor allem in der Abwendung von eingangs in Dialog tretenden Unterschieden) braucht diese regelmäßigen, verlässlichen, aber dennoch flexiblen Treffen. Die hier beschriebene Organisation der gemeinsamen Praktiken erfordert einen halböffentlichen Zu-
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gang. Damit meine ich abgeleitet aus den Beobachtungen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber einer großen Menge von Einzelpersonen, mit einer Teilnehmenden-Definition ex negativo (keine Männer, keine Unbeteiligten,…). Praktisch umgesetzt wird dieser Zugang über die vor allem mündliche Einladung persönlicher Kontakte, die netzwerkartig um längerfristig engagierte Vermittlungs- und Vertrauenspersonen angeordnet ist. Gerade mit dem Anspruch, Unterschiede zu verarbeiten oder in Dialog treten zu lassen, der häufig am Anfang eines Kochtreffs steht, ist dieses Vertrauensnetzwerk notwendig. Damit komme ich zu der Teilfrage der Ansprüche und Wirkung von Kochtreffs (3). Wenger schreibt, dass communities of practice über das wiederholte gemeinsame Arbeiten beginnen, Wissen und Kompetenzen aufeinander abzustimmen und über die Materialität der Praktiken zu (auch darüberhinausgehenden) geteilten Definitionen und Zielvorstellungen zu kommen. Dieses »knowing in practice« (ebd. 134ff.) betrifft bei den Kochtreffs vor allem den gemeinschaftsbildenden Anspruch, der sowohl hinter der Dialogfiguration als auch hinter der Gleichheitsfiguration steht. Bei den Treffen bilden sich Expert:innen für den praktischen Umgang mit Unterschieden (des Alters, der Religion, des Geburtsortes,…) in alltäglichen Bereichen wie der Ernährung. In beiden beobachteten Fällen beziehen sich die gemeinsamen Zieldefinitionen primär auf die Wertschätzung der Zubereitung von Essen von anderen durch persönlichen, körperlichen Genuss und Sättigung. Wenn man genießt, was gemeinsam oder von anderen zubereitet wurde, dient das zur Ermutigung der jeweiligen Verantwortlichen. Damit dies gelingt und keine Konflikte oder Abwertungen auftreten, wird aktiv nach Grundlagen für einen gemeinsamen Geschmack gesucht. Erweiterungen der persönlichen Esspraktiken werden positiv bewertet. Kombiniert ergeben sich Situationen, in denen ein Teil der Gruppe bestimmte Zubereitungsweisen teilt und darüber persönliche Erfahrungen, Erinnerungen und Sehnsüchte austauscht, während für einen anderen Teil der Gruppe das Gericht eine willkommene Neuheit bedeutet. Dies dient einem weiterreichenden Ziel: im Fall des Vereins der Erziehung und Bildung der Jugendlichen, im Fall des Frauencafés der Weiterbildung in christlichen und islamischen Themen. Ein weiteres praktisches Ziel neben der Auslebung von Wertschätzung und gemeinsamer Bildung ist die Entschleunigung und Vergemeinschaftung7 zunächst rein funktionaler Alltagsbeziehungen (Vereinsmitglieder respektive Nachbarinnen). Bestehende Infrastruktur wird genutzt, begrenzt verfügbare Materialien (spezifische Zutaten und Küchengeräte) werden ausgetauscht und Kompetenzen in der Zubereitung geteilt. Dadurch werden bei allen Beteiligten zeitliche Kapazitäten in der alltäglichen Ernährung frei. Dieser Überschuss wird als Einstieg genutzt, um beispielsweise 7
Vergemeinschaftung ist hier im Sinne Tönnies’ und in der Weiterentwicklung bei Weber als affektuell bestimmter Gegensatz zu zweck- oder wertrationalen Beziehungen gemeint (s. Albrecht 2017, s. auch FN 22, Kap. 1). Näheres zu dieser Unterscheidung folgt in Teilkap. 3.4.
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die Mitarbeiter:innen des Vereins kurzzeitig von ihren Aufgaben zu entbinden, um dann auch länger als funktional notwendig beisammen zu sitzen und persönliche Beziehungen untereinander und zu den Jugendlichen zu pflegen. Diejenigen, die die zentralen Vermittlungs- und Vertrauenspositionen unter den Teilnehmenden einnehmen, haben außerdem weitere Zielvorstellungen ihres individuellen Engagements im Hinterkopf: Sie verorten sich innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozesses. Mit Wenger gesprochen: What can be called knowledge, therefore, is not just a matter of local regimes of competence; it depends also on the orientation of these practices within broader constellations. (Wenger 1998, 141) Aus der Beobachtung der beiden Fälle ergibt sich, dass die Gruppen der Teilnehmenden deshalb so fluide gut besucht und damit auf Dauer stabil sind, weil sich die gemeinsam Essenden während dem Kochen, Auf- und Abräumen und Essen gerade nicht als Integrations-Protagonist:innen fühlen. Damit würden Praktiken und Gespräche unvermeidlich politisiert, was auf Dauer überlastend und schwer in den Alltag einbaubar wäre. Ich will Wenger mit dieser Beobachtung nicht widersprechen – lokales Wissen und geteilte Praktiken sind durchaus (und bei einigen Teilnehmenden ganz bewusst) in einem breiteren Kontext verortet. Doch der Kochtreff ist kein Dialogkreis, bei dem nebenher gegessen wird – eher umgekehrt. Das Essen versteckt sowohl Anspruch als auch Wirkung hinter den oben genannten primären Zieldefinitionen: Genießen und Wertschätzen. Auf Nachfrage hin wird deutlich, dass die generelle Verortung entscheidend für die Motivation zum Engagement in den verantwortungsvolleren, zentralen Positionen innerhalb der community ist: Nf: »Na also die Gesellschaft hat sich schon weiter verändert, also ich glaube, dass die Mischung einfach schon noch größer geworden ist. Aber ich glaube, dass sich auch viel im Positiven geändert hat, weil es inzwischen sehr viele Institutionen gibt, die auch positive Dinge einfach versuchen zu bewerkstelligen. Mit so Minisachen wie dem Frauencafé natürlich, aber es gibt ja auch hier diesen Verein […] also ich glaube grundsätzlich, dass hier im Stadtteil inzwischen recht viel passiert und recht viele Leute auch ein gutes Miteinander haben, und dass eigentlich prozentual gesehen es die Geringeren sind, die nach wie vor Probleme damit haben.« (Interview 13, Z. 428ff.) Dass der Großteil der Teilnehmenden sich statt der ideologischen Hintergründe in Praktiken und Gesprächen auf das primäre Ziel des gemeinsamen Essens fokussiert, wird aber nicht problematisiert, sondern als Stärke betrachtet. Die Kochtreffs werden also nicht zufällig häufig in Kontexten eingerichtet, in denen gesellschaftspolitische Diskussionen relevant sind und die individuelles Engagement hervorbringen. Einzelpersonen, von denen die Idee und die Organisation der
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basalen Infrastruktur ausgeht, erhalten ihre Motivation aus dieser Verortung in breiteren Kontexten und bauen über persönliche Kontakte ein Netzwerk um sich herum auf, das sich flexibel weiterbewegen kann. Diese Besonderheit der Bildung über verzweigte persönliche Kontakte macht klar, warum die Teilnehmenden von Kochtreffs oft Menschen sind, die wenig in den Nutzungsgruppen kommerzieller Gastronomie auftauchen (s. Teilkap. 2.3). In den Interviews zeigt sich, dass es in Godesberg gerade ältere Frauen und Jugendliche sind, die kaum Zugang zur Gastronomie haben (s.u.A. Interviews 6, 13, 19). Diese Gruppen können Kochtreffs im Alltag besser und eher nutzen als die Gastronomie, da sie weniger ökonomische Ressourcen erfordern. Außerdem sind sie vor allem durch die familienähnliche Organisation der gemeinsamen Praktiken stärker gemeinschaftlich ausgerichtet. Das Vertrauen, das bei den Kochtreffs in Bezug auf die gegenseitige Achtung von unterschiedlichen Speiseregeln herrscht sowie die geringen Kosten bilden eine höhere Zugänglichkeit für die beiden genannten Gruppen. Grundlage dafür sind persönliche Beziehungen, die bei den Treffen gepflegt werden. Die primären Zieldefinitionen werden im Normalfall erreicht: das individuelle Genießen der Speisen, das Wertschätzen der Anderen und die gemeinsame Weiterbildung. Auch der sekundäre Anspruch, aktiver Teil eines größeren Integrationsprozesses zu sein, wird durch die Verstetigung freundschaftlicher Beziehungen innerhalb der Gruppe erreicht, wenn auch in Bezug auf flexibel ein- und austretende Personen. Die Kochtreffs sind keine feste Gruppe intimer Freund:innen, vielmehr wird das Verhältnis von Einzelpersonen zur Gemeinschaft der Teilnehmenden freundschaftlich gestaltet, was durch direkte Freundschaften gestärkt wird, diese aber nicht zwingend erfordert. Zu den eingangs genannten Teilfragen dieses Kapitels nach den Kontexten, der praktischen Umsetzung und den Zieldefinitionen von Kochtreffs lassen sich folgende Erkenntnisse zusammenfassen: Erstens zeigt sich in Übereinstimmung mit Wengers Konzept der community of practice, dass das regelmäßige geteilte Kochen und Essen Gemeinsamkeiten betont und Unterschiede in der Ausgangsfiguration (z.B. interkulturell, interreligiös, intergenerational) in den Hintergrund treten lässt. Zweitens beruhen die Treffen auf einer simplen, verlässlichen Infrastruktur (sowohl materiell als auch personell). Wer wie teilnimmt, wird über persönliches Vertrauen, einen halböffentlichen Zugang und flexible Rollenübernahme organisiert. Drittens teilen die Anwesenden die Ziele des Genusses, der gegenseitigen Wertschätzung und der Weiterbildung. An den beiden Fallbeispielen zeigt sich, dass diese Ziele dank der regelmäßigen Treffen über mehrere Jahre erreicht werden und sich die eher dialogfokussierte Ausgangsfiguration so tatsächlich auf eine gemeinsamkeitsfokussierte Figuration umstellt. Deutlich wird aber auch, dass das nicht einfach einer vagen, intrinsischen Eigenschaft des Essens geschuldet ist. Nicht jede Initiative zum gemeinsamen Kochen erzeugt so verhältnismäßig stabile communities of practice wie hier beschrieben. Esskultur ist nicht an sich vergemein-
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schaftend, ganz im Gegenteil hält sie durch ihre Komplexität als compound practice (s.o.) großes Konfliktpotenzial bereit, auf das ich später noch eingehen möchte. Aus den beobachteten Fällen schließe ich, dass das Essen dann zu einem vergemeinschaftenden Bereich des nachbarschaftlichen Alltags wird, wenn sowohl körperliche Arbeit als auch Genuss als Ausgangspunkte für Diskussionen über alltägliche Lebensführung und darüber hinausgehende Wertesysteme genutzt werden. Es zeigt sich, dass bei den Kochtreffs das Essen in modulare Arbeits- und Konsumschritte geteilt wird, die damit spontan von verschiedenen Personen ausgeübt und konzertiert werden können. Diese Beobachtung weist auf eine Unterscheidung von Praktiken, geordnet nach wachsender Distanz in den intersubjektiven Beziehungen, hin. Diese Arten von Praktiken sind auch in anderen konkreten Ausübungsformen denkbar, denn das Kochen und Essen zeigt sich in den Kochtreffs als gut praktikable, aber durchaus nicht als einzigartige Form, Gemeinsamkeit zu erarbeiten. Den zugrunde liegenden allgemeineren Praktiken widme ich mich im folgenden Teilkapitel.
3.3 Geteiltes Essen, Konflikte und Freundschaften In Rahmen wie dem interreligiösen Frauencafé oder dem Kochtreff für jugendliche Geflüchtete werden regelmäßig Situationen erzeugt, in denen Menschen mit verhältnismäßig weit voneinander abweichenden Alltagspraktiken aufeinandertreffen. Aus der Beobachtung solcher Situationen abgeleitet schlage ich eine Unterscheidung von drei Arten von Praktiken vor: erstens geteilte, also gleichzeitig und am gleichen Ort von verschiedenen Personen gemeinsam ausgeübte Praktiken; zweitens konfligierende Praktiken, also solche, die ebenfalls gleichzeitig und am gleichen Ort stattfinden, sich aber widersprechen und damit einen Konflikt auslösen; und drittens Praktiken persönlich vermittelter Interaktion, wobei mit höherer zeiträumlicher Distanz verschiedene Handlungen ausgeführt werden, diese aber über direkte, interaktive Praktiken organisiert werden. Ich betrachte die Übergänge zwischen diesen Arten von Praktiken als fließend, sie sind jedoch nach wachsender Distanz angeordnet.
Geteilte Praktiken Zunächst zu den geteilten Praktiken: Hierbei handelt es sich um diejenigen Praktiken, die kaum höhere zeiträumliche Nähe zwischen den Beteiligten erlauben und zusätzlich aufeinander ausgerichtet sind (diese Ausrichtung erzeugt einen qualitativen Unterschied beispielsweise zwischen einem gemeinsamen Frühstück und zwei aneinander gedrängten Personen in einer überfüllten U-Bahn, die zufällig gleichzeitig in ihr Brötchen beißen):
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Die Küsterin deckt den Tisch, Birgit wuselt herum und bereitet Teig vor, Fatima knetet anderen Teig. Das Rezept stammt von Birgit, während des Gesprächs fragt Fatima immer wieder nach, Birgit gibt Anweisungen, die Fatima aber ihrer Einschätzung nach umsetzt und ergänzt, wie sie selbst bestimmte Teigsorten macht. Sie formt Brötchen aus dem ersten Teigklumpen, Birgit schiebt sie in den Ofen, dann gibt sie Rosinen zu dem Quarkteig hinzu. Birgit beobachtet, wie viele, Fatima findet später, es seien zu wenige, und gibt mehr dazu. Nach Augenmaß wie sie sagt, beide sind sich einig, dass sie nie genau antworten können auf die Frage, wie viel von was, sondern nach Gefühl entscheiden. Beide lachen viel, vor allem Fatima. Sie formt Brötchen aus dem Rosinenteig und bestreicht sie mit Eigelb, auch das auf Hinweis von Birgit. Währenddessen werde ich kurz begrüßt, alle sind freundlich, aber beschäftigt. Die Küsterin verteilt Kräuterbutter und Frischkäse rund um kleine Keramiktöpfchen, in denen jeweils ein Dinkelbrötchen gebacken wurde. Der Frischkäse wird mit kleinen Möhrenstückchen so dekoriert, dass er wie ein Küken aussieht. Ich helfe, die Brötchen und die Teller auf dem Tisch drüben im Gemeindesaal zu verteilen. Die Küche, in der gearbeitet wird, ist offen zum Eingangsfoyer hin, es ist hell, durch das Fenster sieht man den Kindergarten. Es ist Platz für vier arbeitende Frauen in der Küche, dazwischen wird Kaffee und Tee gemacht. Fatima und Birgit haben zuhause vorbereitete Brote mitgebracht. Fatimas Brot sind palästinensische Fladen mit geriebenem Thymian, Essigbaumgewürz und Sesam, Birgits ist ein dunkles Mischbrot. Sie sprechen kurz darüber, wie sie sie vorbereitet haben. Birgit betont bei allem, wie lange es dauert: die Brötchen heißen 35-MinutenBrötchen, das Brot ist ein 5-Minuten-Brot. (FP 15.04.2019, Brill, Z. 9ff.)
In dieser Situation zu Beginn eines der Treffen des Frauencafés überschneiden sich drei Arbeitsvorgänge: Der Tisch wird gedeckt, es werden Brötchen gebacken und Rosinenbrötchen aus einem Quarkteig zubereitet. Ich möchte mich auf die zwei backenden Frauen in der Küche konzentrieren, die dort mit zwei verschiedene Brötchensorten beschäftigt sind. Grundsätzlich könnte jede von ihnen sich auf einen der beiden Vorgänge festlegen, stattdessen tun sie beides zusammen. So ist es möglich, den vorgeheizten Ofen mit begrenztem Platz, die unterschiedlichen Backzeiten und verschiedenen Vorbereitungsschritte aufeinander abzustimmen. Birgit und Fatima schauen sich beim Backen gegenseitig über die Schulter, greifen sich zwischen die Hände und unterhalten sich ohne Pause über die Arbeitsschritte, die sie in dem Moment ausführen. Was getan wird, wird gewissermaßen sprachlich verdoppelt, sodass Fatima auch dann weiß, was Birgit tut, wenn sie gerade auf ihren Teigklumpen statt zu ihr herüberschaut und umgekehrt. Beide stellen sicher, dass sie mit dem Ergebnis zufrieden sind und es also später ohne Sorge den anderen Frauen anbie-
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ten können, indem sie sich freundlich, aber bestimmt korrigieren, Unsicherheiten direkt äußern und Ratschläge geben und annehmen. Die Ratschläge brauchen keine Argumentation. Es reicht, dass die andere sie äußert, wie sich an den Rosinen zeigt: Auf Rückfrage meinerseits, warum die Menge korrigiert wurde, antworten beide, das sei »Gefühl«. Es geht also um subjektive Einschätzungen und persönliche Routinen, die ohne weitere Gründe als solche anerkannt werden. Mögliche Hierarchieunterschiede, die sich daraus ergeben könnten, dass die Rezepte von Birgit stammen und sie die Zubereitung also schon kennt, werden ausgeglichen, indem Birgit sich aktiv zurückhält und die Entscheidung über die Arbeitsschritte Fatima überlässt. Fatima wiederum fordert die Unterstützung Birgits aktiv ein, kommentiert sie und setzt Hinweise mit viel Gelächter um, ebenso auch umgekehrt. Das Lachen distanziert beide von der Umsetzung von Korrekturen, ohne, dass sie sie verweigern: Beide finden Unterschiede lustig im Vergleich zu der eigenen Routine, was wiederum in genau diesem, freundschaftlichen Verhältnis von der jeweils anderen nicht als verletzend, sondern als spaßig und Anlass zum Lernen gedeutet wird. Damit, dass Fatima dauerhaft beschreibt, welche Dinge sie selbst anders gewohnt ist, ordnet sie sich Birgit nicht als Person unter. Wohl aber richtet sie ihre Handlungen nach ihren Hinweisen aus, da sich beide auf das Rezept Birgits geeinigt haben und setzt sie letztendlich doch ihrer eigenen Einschätzung nach um. Diese Art, einzelne Handlungen zu verschränken, ist nur möglich, weil es kein Publikum in Form von unbeteiligten Dritten gibt. Damit entsteht kein Vergleich von, sondern eine Interaktion zwischen zwei Positionen. Zwar sind die Küsterin und ich anwesend, wir sind aber mit dem Tischdecken beschäftigt, also nach außen hin uninteressiert an den Handlungen Birgits und Fatimas. Würde die gleiche Situation zwischen den beiden in einer Kochshow im Fernsehen stattfinden oder gar für ein Showpublikum ›humoristisch‹ überspitzt, ergäbe sich leicht eine ganz andere Dynamik. Fatima und Birgit sind unbeobachtet in der Küche zunächst Freundinnen, die gemeinsam backen, und bringen ihre unterschiedlichen esskulturellen Gewohnheiten dem untergeordnet ein, ohne Nationalität, ›Ethnie‹ oder Religion aktiv zu thematisieren – aber auch, ohne sie aktiv zu vermeiden, solche Zuschreibungen erscheinen hier einfach nebensächlich. Vor einem unbeteiligten Publikum würde von ihrer persönlichen Beziehung abstrahiert. Im Vordergrund stünde dann möglicherweise, dass eine palästinensische, muslimische Frau nach dem Rezept einer deutschen, christlichen Frau Brötchen backt (unabhängig davon, ob die beiden sich selbst so identifizieren). Die Hinweise würden zu Anweisungen, die Umsetzung zur Aneignung, das Scherzen zur Rebellion. Lachen ohne persönliches Vertrauen zwischen zwei Positionen, die sich gegenüberstehen und von einer dritten Position aus verglichen und bewertet werden, wird schnell zum Auslachen und damit zur hierarchisierenden Abwertung, vor allem wenn das Publikum mit lacht. Das bei Simmel (1992 [1908], 111ff.) theoretisch ausformulierte Sprichwort »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte« funktioniert als Deutungshilfe auch umgekehrt. Wenn ein:e
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Dritte:r lacht, dann liegt für eine:n der beiden anderen nahe: momentan wohl nicht mit mir, sondern über mich. Natürlich kann man sich von solchen Abwertungsgefühlen in vielen Kontexten abgrenzen. In einem Kontext, in dem es wie bei dem Kochtreff aber um den Übergang vom Dialog zwischen unterschiedlichen Personen oder Gruppen zur Gemeinschaft der Teilnehmenden geht, wären derartige Erfahrungen hinderlich. Das Entstehen eines Publikums bei Interaktionen von zwei Personen wird beim Kochtreff systematisch vermieden, indem verschiedene Arbeitsabläufe gleichzeitig durchgeführt werden. Das parallele Backen und Tischdecken dient als Vorbereitung für das daran anschließende Tischgespräch. Den praktischen Übergang bildet das Frühstück – eingangs sind alle vorrangig mit dem Essen beschäftigt, Stück für Stück entstehen Kleingespräche mit den Sitznachbar:innen (ohne Publikum) und je weniger Aufmerksamkeit das Essen bekommt, umso weiter entwickelt sich eine Gruppendiskussion. Ebenso hinderlich wie die Triade mit zwei Beteiligten und einer unbeteiligten Person wäre der Anspruch Einzelner, vollständig in der Gemeinschaft aufzugehen. Das implizite Wissen darum zeigt sich bei Fatima und Birgit an der Art und Weise, wie sie die Vorbereitung aufteilen: Die eher simplen Brötchen, die in einzelnen, einfachen Schritten zubereitet werden, werden vor Ort gemacht, als gemeinschaftliches Werk. Jede bereitet aber auch zuhause etwas vor, das für die eigene Ernährung als Symbol dienen und ebenso symbolisch geteilt werden kann. Für beide Frauen bedeuten die Brote ein Gefühl von Zuhause, im Falle Fatimas eine Erinnerung an ihren Geburtsort in Palästina8 : Fatima erklärt, in Palästina, aber auch in anderen arabischen Ländern würde alles mit Thymian gemacht. Man könne auch einfach Fladenbrot nehmen, und es in eine Paste aus Olivenöl, Thymian, Essigbaumgewürz (sumach, )اﻟﺴﻤﺎقund Sesam tunken. Die kleinen Brote isst man mit Schafskäse (in der Runde wird er »weißer Käse« genannt) und Oliven, die großen zusammengeklappt ohne etwas dazu. Man trinke dazu normalerweise schwarzen Tee, sagt Fatima, und dann: »Wenn man Thymian und Öl zuhause hat, muss niemand hungern.« Die Oliven hat sie aus Palästina mitgebracht, ein Gespräch über das Mitbringen von Nahrungsmitteln mit dem Flugzeug entwickelt sich. Alle lachen darüber, dass es üblich ist, auch literweise Olivenöl mitzubringen. (FP 15.04.2019, Brill, Z. 44ff.)
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Palästina wird hier als Bezeichnung der Herkunft Fatimas aus der ethnografischen Beobachtung übernommen. Mit der Nutzung bezwecke ich keine Positionierung zum Israelisch-Palästinensischen Konflikt – ebenso wie bei anderen nationalstaatlichen Bezeichnungen in den ethnografischen Passagen geht es mir um die möglichst dichte Beschreibung von in den entsprechenden Situationen genutzten nationalen (regionalen, ›ethnischen‹,…) Bezügen und Zuschreibungen. Analytisch aufgegriffen wird dieser Aspekt insbesondere in Kap. 5.
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An dem Beispiel wird deutlich, was mit geteilten Praktiken gemeint ist. Ausdrücklich nicht gemeint und außerdem unrealistisch ist das vollständige Konvergieren aller Beteiligten in ihren Handlungen. Stattdessen bedeutet das Teilen hier, ein oder mehrere gemeinsame Handlungsziele zu haben, und das möglichst in einem wiederkehrenden, routinierten Rhythmus. So entsteht eine selbstreflexive Gruppe, bei der verschiedene Personen gleichzeitig und am gleichen Ort mit dem eigenen Körper an einer Reihe von sich überschneidenden Praktiken beteiligt sind. Unbeteiligte werden einbezogen, die Intensität und Art des persönlichen Engagements bleibt aber jeder:m selbst überlassen. Damit sind geteilte Praktiken die genaue Entsprechung dessen, was Wenger als Grundlage einer community of practice beschreibt. Dazu ergeben sich jedoch zwei Ergänzungen: Erstens können geteilte Praktiken eingebettet in andere Kontexte, also in den später genannten Formen von Praktiken enthalten sein. Zweitens kann es vorkommen, dass geteilte Praktiken wie im Frauencafé oder bei den Jugendlichen im Kochtreff den Normalfall ausmachen, aber dennoch einzelne Situationen ›misslingen‹. Damit meine ich, dass Irritationen auch in routinierten Gruppen durchaus häufig auftreten und kleine Konflikte erzeugen. Für diesen Fall ist zu betonen, dass sich die verschiedenen Formen der Praktiken nicht generell ausschließen oder widersprechen. Sie sind nicht vorstrukturiert und festgeschrieben und können somit nur gelingen oder misslingen. Stattdessen überlagern sie sich: So können konfligierende Praktiken beispielsweise während einer grundsätzlich geteilten Praktik auftreten.
Konfligierende Praktiken Bei konfligierenden Praktiken herrscht nämlich eine ganz ähnliche Nähe vor wie bei den geteilten Praktiken. Auch hier sind sich die Beteiligten zeiträumlich nah und richten ihre Handlungen grundsätzlich aufeinander aus, jedoch geraten diese in Widersprüche und lösen damit potenziell Konflikte aus: Das Kochen läuft nebenher, vor allem Yasmin merkt man die Routine an, trotz großen Mengen. Laura verlegt sich vor allem auf erzieherisches Eingreifen: Die Jungs, die herumsitzen, müssen helfen, oder die Küche verlassen. […] Beim Kochen ist Platz für persönliche Gespräche, immer mehr Jungs trudeln ein. Laura erzählt, sie versuchen, sie auch zum mitkochen und späteren aufräumen zu motivieren, einige kommen aber vor allem zum Essen. Das wird geduldet, aber in familiär offenem Umgang sarkastisch kommentiert. Wer hier anders sozialisiert ist, introvertierter, höflicher, weniger direkt, muss entweder verwirrt oder belustigt den Kopf schütteln oder wahlweise mitmachen und umsozialisieren. Ich beobachte beides. Ein Gespräch bleibt mir in Erinnerung: Ein junger Afghane […] kommt in die Küche und erzählt, er habe sich verlobt. Allgemeine Verwirrung, Yasmin und andere Jungs machen Witze, zuerst wird er nicht ernst genommen. Dann wird klar, entweder bleibt
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er trocken bei der »Lüge«, oder es stimmt. Seine Freundin sei für ihn zum Islam konvertiert. Laura explodiert, das scheint für sie nicht ungewöhnlich, ich erschrecke trotzdem: Na dann könne er sie ja nicht wirklich lieben, wenn er sie dazu bringen würde, so einen Mist zu machen. Gespräch beendet, der Jugendliche verlässt den Raum. (FP 08.07.2019, Brill, Z. 33ff.) Zunächst wird an diesem Bespiel aus dem Kochtreff des Vereins noch einmal deutlich, dass Unbeteiligte auch hier einbezogen werden und damit ein wertendes Publikum innerhalb des geteilten Raumes möglichst vermieden wird. Es wird bevorzugt, dass Jugendliche später kommen oder draußen warten, als dass sie schon früher dabei sind, ohne mitzuhelfen. Laura deutet das Nicht-Mithelfen in Bezug auf Geschlechterrollen als Teil ihrer Erziehungsaufgabe. Egal ob ein Jugendlicher nicht hilft, weil er müde, überfordert, pubertär rebellisch ist, oder das Helfen tatsächlich als Widerspruch zu seiner Männlichkeit versteht, die Kommentare Lauras gehen stets in die letztgenannte Richtung. Ihre persönliche Meinung zu gesamtgesellschaftlichen Diskussionen vermischt sich dabei mit ihrer Rolle als Lehrerin im Verein. Einerseits ist das die Besonderheit des Kochtreffs: Hier treten die Beteiligten eben nicht in ihren Rollen auf, sondern als ganze Personen, inklusive subjektiver Meinungen. Das hat in der überwiegenden Mehrheit der einzelnen Situationen geteilte Praktiken und freundschaftliche Gespräche zur Folge. Andererseits ergibt sich in der hier beobachteten Situation deshalb ein Konflikt. Ein Jugendlicher berichtet aus seinem persönlichen Leben, dass er sich verlobt habe und seine Freundin dafür zum Islam konvertiert sei. Während Yasmin und die übrigen Jugendlichen die Nachricht erst als provokanten Scherz aufnehmen (vor allem, da der Jugendliche recht jung ist), konfrontiert Laura ihn lautstark mit ihrer Einschätzung, das Konvertieren zum Islam sei im Allgemeinen eine Dummheit und dass er im Falle seiner Freundin daran schuld sei, sei ein persönlicher Fehler seinerseits. Ich möchte an dieser Stelle nicht den Wertekonflikt thematisieren, um den es in den Aussagen vor allem von Lauras Seite geht. Stattdessen interessiert mich hier die Performanz des Konfliktes, die körperlichen Praktiken, die über das Gesprochene hinausgehen.9 Der Widerspruch, der hier in einem Streit kulminiert, ist nämlich auch in anderen Momenten deutlich beobachtbar. Laura ist laut, offen und direkt. Beim Sprechen gestikuliert sie, fasst ihr Gegenüber hin und wieder an oder tritt auf ihn:sie zu. Sie spricht aus, was sie denkt und schaut einem in die Augen. Für sie bedeutet das ein respektvolles Umgehen auf Augenhöhe, da sie keine Geheimnisse hat 9
Der Hinweis darauf, dass beim Sprechen illokutionäre Akte (s. Searle 1976), also Handlungen mithilfe sprachlicher Äußerungen, vollzogen werden, stammt aus der Sprechakttheorie (vgl. Austin 1962; Searle 1971). In der soziologischen Adaption wird der Begriff der Performativität über das linguistische Interesse hinaus auch auf nicht-sprachliche, zum Beispiel körperliche Interaktionen bezogen (zum Überblick vgl. Alkemeyer 2019).
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und zu allen im Raum ehrlich ist. Hinzu kommt, dass Deutsch eine ihrer zwei Erstsprachen ist, sie also keine Schwierigkeiten hat, sich schnell, gewandt und selbstbewusst auszudrücken. Auch wenn sie nicht dauerhaft darauf konzentriert ist, hat sie die Zubereitung des Essens nebenher im Blick und fühlt sich dafür verantwortlich, dass letztendlich alles zufriedenstellend vorbereitet ist. Wenn ihr Lücken in der Vorbereitung auffallen, übernimmt sie also selbst Aufgaben oder delegiert sie an andere Anwesende im Raum. Sie steht auf, setzt sich, sucht Dinge heraus, wann und wo sie es für sinnvoll befindet. Im Frauencafé würde das nicht weiter auffallen, sogar der Norm entsprechen. Doch hier im Verein zeigt sich ein Kontrast zu vielen der Jugendlichen. Einige der eintreffenden Teilnehmer:innen sind ruhig, antworten nur, wenn sie direkt angesprochen werden und führen Aufgaben eher auf Hinweise aus, als dass sie selbst die Initiative ergreifen. Viele bleiben am Eingang stehen oder setzen sich an den Rand des Tisches, um Yasmin und Laura nicht im Weg zu sein. Respektvoller Umgang bedeutet für jede:n etwas anderes; ein Jugendlicher beispielsweise berichtet, dass ihm das direkte Ansprechen und Anschauen besonders von Frauen äußerst respektlos erscheint: Qm: »Wirklich, ich habe nur auf den Boden geguckt. Ich hatte einen Vormund bekommen, eine Frau, die hat gesagt, guck mir doch mal in die Augen. Ich so: Das ist so respektlos! Ich sage: Ich kann nicht. Und damals konnte ich kein Deutsch, aber wir haben auf Englisch so ein bisschen gesprochen. Ich habe zum Vormund gesagt, ich kann nicht. Und dann mit der Zeit…jetzt kann ich es immer noch nicht. Jetzt habe ich Augenblickkontakt, aber nicht so wie die Deutschen.« (Interview 16, Z. 279ff.)
Der offene, häufig sarkastische Umgang, den vor allem Laura und Yasmin mit den Jugendlichen pflegen, wirkt auch in der körperlichen Umsetzung immer wieder überfordernd für einzelne Angesprochene. Verstärkt wird das durch die unterschiedlichen Sprachniveaus im Raum. Zumeist werden missverstandene Witze oder Anweisungen nach einer Weile problemlos aufgeklärt, oft dadurch, dass manche der schon besser Deutsch sprechenden Jugendlichen in beide Richtungen übersetzen. In der oben beschriebenen Situation zeigt sich aber auch, dass in diesem Widerspruch von körperlich-interaktiven Zeichen von respektvollem Umgang miteinander durchaus Konfliktpotenzial liegt. Gerade dann, wenn heikle Themen verhandelt werden, kann ein solcher Konflikt ausbrechen. Ein potenziell für beide Seiten konstruktives Gespräch über die Verlobung des Jugendlichen wird unmöglich, da das wortkarge, ernste Auftreten in Kombination mit der Nachricht des Jungen auf Laura als Provokation, und deren laute, konfrontative Reaktion auf ihn wiederum derart respektlos und einschüchternd wirkt, dass er den Raum gleich wieder verlässt.
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Der Widerspruch im körperlichen Auftreten während Gesprächen, aber auch insgesamt bei den verschiedenen Arbeitsvorgängen des Kochens ergibt in dem Kochtreff immer wieder kleine Konflikte zwischen einzelnen Praktiken. Man könnte meinen, damit sei ein Gegensatz zu den vorher beschriebenen, geteilten Praktiken aufgezeigt. Stattdessen ordne ich diese Mikrokonflikte als den geteilten Praktiken sehr ähnlich ein. Grund dafür ist, dass das Umgehen mit konfligierenden Praktiken immer noch der Bildung einer lokalen Ordnung dient. Auch wenn der Jugendliche in der oben genannten Situation den Raum verlässt und Laura ihre Aufgabe beim Kochen kurz vernachlässigt – das Kochen geht um sie unbeirrt weiter. Zum Essen sind in dieser und in den folgenden Wochen wie immer zahlreiche Jugendliche anwesend. Es ist denkbar, dass ein Kochtreff eingerichtet wird und aufgrund von konfligierenden Praktiken nach einem ersten Treffen nicht weitergeführt wird oder es durch Konflikte in der Zubereitung gar nicht erst zum gemeinsamen Essen kommt. In diesem Fall könnte man von misslungenen Praktiken des Kochens sprechen. Häufiger sind Beispiele des Nicht-Gelingens aber dort, wo größere Distanz zwischen den Beteiligten herrscht. Hierauf möchte ich später noch genauer eingehen (Kap. 4). An dieser Stelle ist festzuhalten, dass konfligierende Praktiken mit großer zeiträumlicher Nähe einhergehen und »Risse, Unterbrechungen, Um-, Ab- oder Zusammenbrüche« (Alkemeyer 2019, 291) zwar abbilden, aber »gelingenden Ordnungsbildungen« (ebd.) nicht grundsätzlich im Wege stehen10 . Eine theoretisch rückgebundene Erklärung dafür bietet Aladin El Mafaalani (2018) mit der populären Tischmetapher11 . Sie steht dafür, dass an einem Tisch, an dem immer unterschiedlichere Menschen zusammensitzen, neue Regeln erarbeitet werden müssen, ohne dass der Prozess aufgrund seines Konfliktpotenzials als trennend bewertet wird – tatsächlich handele es sich um ein Zusammenwachsen: »Die zentrale Folge gelungener Integration ist ein erhöhtes Konfliktpotenzial.« (ebd., 76). Das Nicht-Austragen von Konflikten bedeute Desintegration (s. ebd., 79), also eine höhere Distanz als das Streiten selbst. Die Grundidee ist nicht neu, sie ist überall dort zu finden, wo Konflikte in den Fokus geraten. El Mafaalani nennt zwei prominente Formulierungen: das Tocqueville-Paradoxon, nach dem 10
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Für eine systemtheoretische Ausformulierung der ordnungsbildenden Produktivität von Konflikten und Widersprüchen s. Luhmann (1984): »Aber zugleich hat der Widerspruch genug Form, um die Anschlußfähigkeit des kommunikativen Prozessierens von Sinn doch noch zu garantieren. Die Reproduktion des Systems wird nur auf andere Bahnen gelenkt.« (ebd., 508) Diese Metapher begegnete mir – bemerkenswert für soziologische Literatur – zum ersten Mal nicht im Gespräch mit Wissenschaftler:innen, sondern in einem frühen Interview im Feld mit einer direkt von der zugrunde liegenden These Betroffenen (das heißt hier: eine muslimische, mehrfach migrierte Frau). Sie scheint also in ihrer Verarbeitung zahlreicher soziologischer Theoriebezüge auch über das Fach hinaus plausibel zu sein.
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wachsende soziale Nähe die Sensibilität gegenüber Ungleichheiten erhöht, und Sigmund Freuds »Narzissmus der kleinen Differenz« (ebd., 110). Ob in der Formulierung Freuds, Tocquevilles, oder in der Tischmetapher; zugrunde liegt die Erkenntnis, dass zunächst eine Beziehung und eine gewisse Nähe zwischen zwei Positionen hergestellt sein muss, damit Widersprüche überhaupt sichtbar werden. Konfligierende Praktiken können also auch in einer community of practice auftreten, sie sind dort sogar zu erwarten. Schließlich ergibt sich ein materiell-physischer Konflikt schon dann, wenn zwei Hände zugleich nach einem Korb greifen. Ähnlich wie bei widersprüchlichen Aussagen, zu denen im Dialog eine Synthese gefunden werden kann, können aber auch konfligierende Praktiken aufgelöst werden. Im oben beschriebenen Beispiel wäre dies ein Mittelweg der körperlichen, vor allem auf Lautstärke und Blickkontakt bezogenen Kommunikationsformen; für den Korb wäre es eine Lösung, ihn abzustellen und einzelne Dinge herauszunehmen. Ein weiteres Beispiel ist die Einigung auf basale Zutaten sowohl im Frauencafé als auch im Verein, die keinen Speiseregeln der Teilnehmenden widersprechen. Geteilte und konfligierende Praktiken sind die beiden Arten von Praktiken, die die größte zeiträumliche Nähe der Beteiligten erfordern. Innerhalb der beiden Kochtreffs sind aber auch bereits Beziehungen aufgefallen, die eine höhere Distanz aufweisen. In 3.2 wurde kurz auf die Vermittlungsfiguren zwischen den distanzierteren Teilnehmenden eingegangen. Diesen Aspekt erweiternd komme ich zur dritten eingangs genannten Art, zu den Praktiken persönlicher Interaktion.
Praktiken persönlich vermittelter Interaktion In der Analyse der Rahmung des Kochtreffs ist die entscheidende Bedeutung persönlicher, freundschaftlicher Beziehungen zwischen einzelnen Teilnehmenden deutlich geworden. Solche Beziehungen müssen nicht zwingend darin bestehen, sich dauerhaft in zeiträumlicher Nähe zueinander zu befinden. Wohl aber müssen hin und wieder Situationen interaktiver Praktiken entstehen, um die Freundschaft zu aktualisieren. Diese Art der Praktiken erlaubt ein etwas geringeres Maß an Nähe als konfligierende oder geteilte Praktiken. Man muss nicht stundenlang gemeinsam kochen: Ein im Vorbeigehen ausgetauschter Gruß kann dafür reichen, da es hier nicht um enge Freundschaften, sondern eher um freundschaftliche Beziehungen geht, die sich in persönlichen Interaktionen äußern. Sie können, ebenso wie die beiden anderen Arten, in Überlagerungen auftreten – beispielsweise mit kommerziellen Interaktionen, auf die ich im nächsten Kapitel (4.) genauer eingehen werde. Sie bilden damit den Übergang zu in der Tendenz distanzierteren Praktiken als den bisher behandelten. Das Beispiel einer solchen Situation, in der sich persönliche und kommerzielle Praktiken überschneiden, stammt aus der Neueröffnung eines kleinen, kneipenähnlichen Restaurants, in dem auch Kulturveranstaltungen stattfinden. Ich stelle hier ein Beispiel aus einer anderen Rahmung als bei den
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Kochtreffs vor. Auf den ersten Blick handelt es sich beim Kontext der Situation um kommerzielle Gastronomie. Tatsächlich treffen hier aber Stammkund:innen in ähnlicher Regelmäßigkeit aufeinander wie die Teilnehmer:innen der Kochtreffs. Das Beispiel beschreibt eine Übergangsform zu höherer Distanz: Detlev steigt um kurz nach 20:00 Uhr mit Susanne auf die Bühne und eröffnet, von ihr angeleitet, den Abend. Er bedankt sich bei allen für ihr Erscheinen, weist kurz auf seinen Geburtstag hin, und bedankt sich bei allen Mitgliedern der »Crew« einzeln, dazu zählen die Mitarbeiter:innen an der Bar, am Bonverkauf, ein »portugiesischer Freund«, der die Bar vertäfelt hat, ein Freund, der die Bühne gebaut hat, Umut in der Küche, und weitere Personen. Hinweise auf das geplante Programm, die Geschichte des Lokals und die Schließung und Neueröffnung scheinen nicht nötig, alle Anwesenden scheinen dazu genug zu wissen, um einzelne Andeutungen zu verstehen. Es wird darauf hingewiesen, dass ein zweites Lokal aufgemacht wird, womit sich die Inhaber und ihre »Crew« aber entgegen kritischer Stimmen nicht übernehmen würden. Dann eröffnet der Inhaber das kalte und warme Buffet, das im Vorraum der Kegelbahn aufgebaut ist, und kündigt musikalische Beiträge an. Es gibt Applaus, und es bildet sich eine Schlange zum kostenlosen Buffet. (FP 11.11.2018, Brill, Z. 33ff.) Hier überschneiden sich verschiedene Rahmungen: Der Wirt Detlev feiert zugleich seinen Geburtstag und die Neueröffnung seines Lokals. Während seine Mitarbeiter:innen die kommerziellen Interaktionen wie den Verkauf von Wertbons für die Getränke übernehmen, wechselt Detlev selbst zwischen gastronomischen Dienstleistungen, Organisationsfragen und persönlichen Gesprächen hin und her. Das Publikum besteht aus engen Freund:innen, die Geschenke mitbringen, erweiterter Stammkundschaft aus dem früheren Betrieb und einigen wenigen Neukund:innen oder Interessierten wie mir selbst. Auch diejenigen, die nicht direkt mit Detlev befreundet sind, werden aber als solche behandelt und angesprochen. Das Buffet ist kostenlos, es scheint hier wie eine Art Gegengabe einerseits für die Geschenke, andererseits für die vorausgesetzte Loyalität zu seinem Lokal. Marcel Mauss zitiert in seinem Essay über die Gabe eingangs aus dem altnordischen Gedicht Hávámal, darin enthalten ist die Zeile: »Dem Freunde sollst du Freundschaft bewahren, Gabe mit Gabe vergilt!« (Mauss 1968 [1950], 16). Mit der Einladung zum Buffet soll dementsprechend erreicht werden, dass die gegenseitige, freundschaftliche Gabenbeziehung auch zukünftig weitergeführt wird und Kund:innen in Zukunft sein Lokal besuchen und unterstützen. Ebenfalls ganz im Sinne Mauss’ werden Statusinformationen zum kostenlosen Buffet vom Schenkenden gleich mitgeliefert: Detlev weist darauf hin, dass es zu wenig geben könnte, revidiert aber sogleich und sagt, es sei für alle genug da. Als Effekt davon nehmen sich längst nicht alle Gäste etwas und wenn, dann wenig. Es wird klar, dass Detlev als vertraute, freundschaft-
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liche Ansprechperson wahrgenommen werden will, dennoch aber wirtschaftlich von seiner Kundschaft abhängig ist und sich mit der Neueröffnung nicht in der sichersten ökonomischen Lage befindet. Das Essen hat der Koch Umut zubereitet, nicht Detlev selbst. Darin besteht der deutliche Unterschied zu einem tatsächlichen Gastmahl, denn hinter der scheinbar freundschaftlichen Einladung stehen ökonomische Beziehungen und Abhängigkeiten. Diese Rollenvermischung ist nicht unüblich und zeigt sich in kleinen, inhaber:innengeführten Restaurants häufig, wenn auch weniger deutlich als zu der hier beschriebenen Gelegenheit. Wirt:innen, die den Fokus des Geschäfts auf Stammkundschaft legen (vor allem solche in peripheren Lagen), sind oft auf persönlichfreundschaftlicher Ebene ansprechbar. Sie wechseln spontan und mit hoher Virtuosität zwischen kommerziellen und persönlichen Interaktionen. Diese Flexibilität ist entscheidend für den Effekt, den Jane Jacobs (1961) mit der Figur des »public characters« beschreibt (ebd., 63ff.). Sie betont den Unterschied von »sidewalk life« und »togetherness«, denn während man in letzterem Falle viel oder nichts teile und damit zwangsläufig Gruppen bilde, sei das »sidewalk life« gut geeignet für städtische, lose Integration: It is possible to be on excellent sidewalk terms with people who are very different from oneself, and even, as time passes, on familiar public terms with them. Such relationships can, and do, endure for many years, for decades; they could never have formed without that line, much less endured. They form precisely because they are by-the-way to people’s normal public sorties. (ebd., 62) Träger:innen dieser ›Bürgersteig-Kontakte‹ sind selbsternannte öffentliche Charaktere. Solche Persönlichkeiten dürfen nicht mit zu vielen oberflächlichen Kontakten überbelastet werden und gewisse bauliche Grundvoraussetzungen (d.h. vor allem die Ermöglichung von Laufkundschaft) müssen erfüllt sein. Im Normalfall kann die öffentliche Persönlichkeit dann eine wichtige Position in der Nachbarschaft einnehmen: His main qualification is that he is public, that he talks to lots of different people. In this way, news travels that is of sidewalk interest. Most public sidewalk characters are steadily stationed in public places. They are storekeepers or barkeepers or the like. (Jacobs 1961, 68) Für Detlev sind Praktiken, die mit einer solchen Rolle einhergehen, zentral. Dazu zählt das vor dem Lokal Sitzen und Vorbeigehende grüßen, das Führen von kurzen, spontanen Gesprächen auch ohne erwartbare kommerzielle Interaktion, das zum Tisch Begleiten von Gästen, gepaart mit persönlichen Nachfragen und kleine Geschenke aufs Haus. Die freundschaftliche Umgangsweise ist dabei nicht auf Bekannte beschränkt, jeder mögliche Gast wird in dieser Art behandelt. Meister:innen
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des Aufbauens solcher persönlichen Interaktionen begegnen mir in zahlreichen Situationen im Feld: Ich setze mich im Innenhof der Passage auf eine Bank, und werde von hinten angesprochen: Zwei rauchende Männer vor einem Eiscafé rufen »Hallo«, und wollen wissen, ob ich mit dem Fahrrad gekommen bin. Ich habe sie vorher Spanisch sprechen gehört und nutze das als Gesprächseinstieg – Volltreffer, der deutsche Eiscafébesitzer ist vor wenigen Monaten mit seiner venezolanischen Frau von einer Reise mit Stationen auf der ganzen Welt wiedergekommen, die er Anfang der 90er gleich nach der Lehre begonnen hat. Der andere Mann ist der Besitzer des italienischen Restaurants gegenüber. Er spricht kaum Deutsch, aber auf einem Italienisch-Spanisch-Mix geht das Gespräch weiter. Der Eiscafébesitzer verwickelt alle vorbeikommenden Personen in kurze Gespräche und führt dabei das Gespräch mit uns weiter. (FP 15.01.2019, Brill, Z. 18ff.) Bemerkenswert ist, dass hier keine Konkurrenz zwischen den Lokalen zu herrschen scheint und auch darüber hinaus am Auftreten der beiden Inhaber keine Ausrichtung ihrer Praktiken auf kommerzielle Ziele sichtbar ist. Es wird zumindest von ihrer Seite aus keine deutliche Trennung zwischen persönlichen und kommerziellen Kontakten kommuniziert. Man kann sich zu ihnen setzen, bekommt einen Kaffee aufs Haus und die vollständige Lebensgeschichte des Eiscafébesitzers erzählt. Aber nicht nur Inhaber:innen von kommerziellen Gastronomiebetrieben wenden diese Art der Praktiken an, um ihre Stammkundschaft aufzubauen und über persönliche Interaktionen an das Lokal zu binden. Auch bei den Vermittlungsfiguren in den Kochtreffs lässt sich ähnliches beobachten. Einige der Teilnehmenden bieten den übrigen einen Vertrauensvorschuss, indem sie mit körperlichen Gesten und privaten Aussagen eine freundschaftliche Beziehung als schon bestehend signalisieren, die eigentlich erst noch aufgebaut werden müsste. Tatsächlich geschieht das gar nicht zwingend. Weder die Beziehung zwischen dem Eiscafébesitzer und mir, noch andere solcher Beziehungen werden tatsächlich über lange Zeit ausgebaut und intensiviert. Doch die Möglichkeit besteht und die Verlässlichkeit der potenziell stets wiederholbaren persönlichen Interaktion reicht aus, um für den Moment Vertrauen auf beiden Seiten herzustellen. Dafür ist, wie auch Jacobs schreibt, eine gewisse zeiträumliche Routine vonseiten der public characters vonnöten. So wie einzelne der Teilnehmerinnen im Frauencafé verlässlich zu jedem Termin die Küche aufschließen, muss auch der Eiscafébesitzer einen gleichbleibend großen Teil seiner Arbeitszeit rauchend und Kaffee trinkend vor der Tür verbringen, um als ansprechbar sichtbar zu bleiben. Ebenso wie für geteilte und konfligierende Praktiken gilt auch für Praktiken persönlicher Interaktion zwischen Einzelpersonen und public characters, dass sich die unterschiedlichen Arten überlagern und überschneiden können. Allen gemeinsam
3. Halböffentliche Vergemeinschaftung
ist, dass sie zeiträumliche Nähe zwischen den Beteiligten erfordern. In den Praktiken persönlicher Interaktion deuten sich jedoch auch solche Praktiken an, die eine höhere Distanz erlauben – im Falle kommerzieller Interaktionen beispielsweise ist die Verlässlichkeit, immer die gleiche Person an immer dem gleichen Ort vorzufinden, weniger entscheidend. Darauf gehe ich in Kapitel 4 genauer ein. Zuvor werden hier abschließend die bisherigen Erkenntnisse zu Praktiken in geteilten Räumen zusammengefasst.
3.4 Praktiken in geteilten Räumen Ausgangspunkt dieses Kapitels bildete das Interesse an den Umständen und Arten der Überschneidung individueller, esskultureller Alltagspraktiken. Dafür wurde zunächst geklärt, wo sich solche Situationen der Überschneidung finden und als Basis für die ethnografische Analyse beobachten lassen. Etienne Wengers Konzept der communities of practice bot die Anregung, regelmäßige Treffen von Einzelpersonen ausfindig zu machen, in denen routiniert Zeit, Raum, materielle und persönliche Ressourcen geteilt werden. Aus dieser theoretischen Perspektive war zu erwarten, dass sich unter den Umständen geteilter Praktiken gemeinschaftliche Zieldefinition und damit eine Gruppenidentität bilden. Für den Bereich esskultureller Praktiken diente der Rahmen des Kochtreffs als Fallbeispiel (3.1). Durch die in Godesberg beobachteten Fälle des interreligiösen Frauencafés und des interkulturellen Mittagessens für geflüchtete Jugendliche wurde deutlich, dass das Zusammentreffen von Menschen mit unterschiedlichen esskulturellen Gewohnheiten Reibungen hervorbringen kann. Es zeigte sich, dass Kochtreffs häufig gerade dort eingerichtet werden, wo ein heterogener Kontext das Bedürfnis nach Dialog zwischen verschiedenen Positionen entstehen lässt. Der Wunsch nach dem Entstehen einer community steht also zumeist am Anfang solcher Treffs (eher als dass eine schon bestehende Gruppe einen Kochtreff einrichtet). Als entscheidende Eigenschaft der beobachteten Kochtreffs ergab sich, dass durch die Treffen ein nicht primär kommerzieller und nicht primär öffentlicher Raum erzeugt wird, der aber deutlich über die private Sphäre der beteiligten Einzelpersonen hinausgeht. Damit kann erreicht werden, dass genügend persönliches Vertrauen, aber auch genügend Flexibilität vorhanden ist, um langsam und mit der Zeit den Fokus von der dialogfokussierten Ausgangsfiguration auf eine gemeinschaftliche Figuration umzustellen. Diese Umstellung erscheint in einem Kontext von hoher Diversität (interreligiös, interkulturell, intergenerational, zwischen verschiedenen Statusgruppen, …) besonders relevant (3.2). Grundfragen, die sich aus einer praxistheoretischen Perspektive ergeben, erhalten in diversen Kontexten so ein ganz neues Gewicht. Kollektive Erkennbarkeit, Zieldefinitionen und Routine sind zentrale Elemente, die durch diese Perspektive erklärbar werden. Jedoch ist
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gerade durch die hohe Diversität von Einzelpersonen zunächst zu klären, ob die genannten Elemente überhaupt gemeinschaftlich erarbeitet werden können. Wird innerhalb einer heterogenen Gruppe allgemeine Erkennbarkeit der geteilten Praktiken erreicht und wenn ja, wie? Werden gemeinsame Zieldefinitionen erarbeitet? Und wie werden Konflikt und Routine zusammengebracht? In der Analyse des Frauencafés und des Mittagessens für Jugendliche standen zunächst die geteilten Praktiken im Sinne Wengers im Vordergrund. Praktiken des Kochens und Essens gelangen in den beobachteten Situationen stets. Es ging dabei dennoch nicht immer reibungslos zu, wohl aber soweit erfolgreich, dass am Ende zwischen zehn und fünfzehn Personen gemeinsam frühstückten oder zu Mittag aßen und dabei teils stärker persönliche, teils thematisch intensive Gespräche führten. In Übereinstimmung mit dem Konzept der community of practice zeigte sich, dass vor allem durch die Regelmäßigkeit über Jahre hinweg bei den Treffen Gemeinsamkeiten betont werden und Unterschiede in den Hintergrund treten. Infrastrukturell sind die Kochtreffs auf eine verlässliche personelle und materielle Basis angewiesen, die die flexible Spontaneität der übrigen Rollenverteilung trägt. Persönliche Einladungen, erweiterte Freund:innennetzwerke und der halböffentliche Zugang über die Gruppendefinition ex negativo regeln die Organisation der Teilnehmenden. So ergeben sich als primäre und kollektive Zieldefinitionen der subjektive Genuss, die gegenseitige Wertschätzung und die gemeinschaftliche Weiterbildung. Es deutete sich aber auch an, dass Konflikte und distanziertere Formen von Praktiken in den grundsätzlich geteilten Räumen der Kochtreffs nicht ausgeblendet werden sollten. Theoretisch formuliert ist die Kritik am »Gelingensbias der Praxistheorie« unter anderem bei Alkemeyer (2019). In der empirischen Analyse fiel auf, dass auch wenn insgesamt gelingende Praktiken beobachtet werden, konfligierende Praktiken als Teil einzelner Situationen nicht unwahrscheinlich sind. So dienen die geteilten Praktiken der communities of practice hier als Ausgangspunkt für eine Unterscheidung von drei Arten beobachteter Praktiken, die sich problemlos überschneiden können, generell jedoch nach wachsender zeiträumlicher und auch sozialer Distanz zwischen den Beteiligten angeordnet sind. Geteilte Praktiken sind solche, die kaum höhere zeiträumliche Nähe zwischen den Beteiligten erlauben und zusätzlich aufeinander ausgerichtet sind (wie zum Beispiel das Formen von Teig zu Brötchen). Bei konfligierenden Praktiken herrscht eine ähnliche Nähe vor, jedoch geraten Praktiken hier in Widersprüche und lösen damit potenziell Konflikte aus (wie der zwischen extrovertierter und introvertierter Körperlichkeit). Praktiken persönlicher Interaktion erlauben hingegen ein geringeres Maß an Nähe. Es geht dabei um das situative Aktualisieren von freundschaftlichen, vertrauensvollen Beziehungen, das sich in persönlichen Interaktionen äußert (beispielsweise durch Geschenke aufs Haus durch Wirt:innen). Diesen drei unterschiedlichen Arten von Praktiken gemeinsam ist, dass sie im Vergleich zu anderen denkbaren Arten mit mehr Distanz (siehe dazu Kap. 4) in geteilten Räumen auf-
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treten und dafür Einzelpersonen aktiv in Interaktion miteinander treten müssen. Die Praktiken persönlicher Interaktionen deuten bereits den Übergang zu offeneren Räumen an, aber auch für solche Interaktionen ist es nötig, dass die Beteiligten situativ aufeinandertreffen und ihre Handlungen in relativ hoher zeiträumlicher Nähe aufeinander ausrichten. Die entscheidende Besonderheit von Praktiken in geteilten Räumen ist also, dass sie persönliche Beziehungen zwischen einzelnen Individuen über einen längeren Zeitraum entweder voraussetzen oder zur Folge habe. Bei den Kochtreffs und auch in anderen Situationen, in denen derartige Praktiken genutzt werden, werden zwar Räume geteilt – und doch geht es hier ganz klar nicht um private Räume, sondern um halböffentliche. Wenn sich Alltagspraktiken wie das Kochen oder Essen diverser Individuen zu wiederkehrenden, verlässlichen Terminen über einen langen Zeitraum überschneiden, lässt sich das weder als private noch als öffentliche Situation beschreiben. Mit halböffentlichen Räumen meine ich hier also nicht einfach Räume, die irgendwo im Übergangsbereich zwischen privatem und öffentlichem Zugang verortet sind. Sie ergeben qualitative Unterschiede in den dort ausgeübten Praktiken, die eher gemeinschaftlicher denn gesellschaftlicher Art12 scheinen. Sowohl das Frauencafé als auch das Mittagessen im Verein erinnern an familiäre Mahlzeiten, sind damit aber natürlich nicht gleichzusetzen. (3.3) Es ist deutlich geworden, dass dieser Eindruck ein Ergebnis jahrelanger, regelmäßiger Treffen mit einer spezifischen Organisation der Praktiken über die Vernetzung persönlicher Kontakte ist und nicht ›einfach so‹ durch eine mystische, gemeinschaftsbildende Kraft des geteilten Essens erreicht wird, durch die zweckrationale Beziehungen plötzlich affektuell werden. Clemens Albrecht (2017) weist im Hinblick auf die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf die Paradoxie vermeintlicher Individualisierung hin, denn: »ein höheres Maß an individueller Freiheit lässt sich nur durch vertiefte Formen sozialer Bindung institutionalisieren, mit Plessner formuliert: mit der sozialen Distanz wächst der Bedarf an Nähe.« (ebd., 1361). In diesem Sinne kann man das Entstehen einer community of practice inklusive kleinen Konflikten und distanzierteren Beziehungsformen innerhalb der Kochtreffs als vergemeinschaftende Bewegung deuten, als Gegenbewegung zur Individualisierung. Albrecht nennt solche laborhaften Vergemeinschaftungsversuche, die wie in den Fallbeispielen in primär funktionale Alltagsbeziehungen (z.B. Lehrer:innenund Schüler:innen-Beziehung im Verein) eingebettet sein können, im Anschluss an Max Weber »sekundäre Gemeinschaften« (ebd., 1360). Das heißt hier, dass zwischen den Beteiligten der Treffen zwar ein zweckdienlicher Interessensverbund geschlossen wird (eingangs mit dem Ziel des Dialogs), die Praktiken des Umgangs miteinander aber überwiegend persönlich-affektueller Art sind. 12
Zur Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft s. FN 22, Kap. 1 oder auch FN 7 in diesem Kapitel.
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Aus der Beobachtung der Kochtreffs ergibt sich, dass diese spezifische Form sekundärer, also gewählter Gemeinschaft, über Jahre aufrechterhalten werden kann, wenn sie keine kommerzielle Steigerungslogik entfaltet. Die Kochtreffs sind explizit nicht auf Wachstum, Professionalisierung oder Kommerzialisierung ausgelegt. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass die Teilnehmenden nicht versuchen, ihr ›Modell‹ des Zusammenseins in geteilten Räumen über die Gruppe hinaus auszudehnen. Bedenkt man die Folgen, die eine Vergesellschaftung beispielsweise des Frauencafés in Form eines offiziellen Stadtteilcafés hätte, wird aber klar, dass sich die Art der Praktiken der Beteiligten damit grundsätzlich verändern würde. Würde das Format des Kochtreffs auf eine andere Ebene gehoben, würden Praktiken hoher Nähe zwar immer noch auftreten, doch auf Dauer überwiegen würden zwangsläufig solche mit höherer Distanz. Hier zeigt sich ein Skalierungseffekt, der schon durch eine Aufhebung der Begrenzung der Gruppengröße ausgelöst werden könnte. Albrecht fragt in Bezug auf das »Strukturproblem der Balance zwischen zwei unterschiedlichen anthropologischen Funktionslösungen« danach, wie »sich die Paradoxie zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Bedürfnis nach Distanz strukturell regeln« lässt (Albrecht 2017, 1359). Aus einer multiskalaren Perspektive auf das Zusammenleben in Städten (s. Çağlar und Glick Schiller 2018, s. auch Teilkap. 1.3) bietet sich eine Antwortmöglichkeit in der skalenabhängigen Überschneidung unterschiedlicher Arten von Praktiken. Wendet man das Konzept der Multiskalarität auf einer mikrosoziologischen Ebene an, ist es denkbar, dass Vater und Kind im Restaurant über geteilte Praktiken gemeinsam eine Pizza in kleine Stücke schneiden, der Vater zugleich in konfligierender Praktik der Mutter das dafür nötige Messer aus der Hand genommen hat, sich die Beziehung zum Kellner dabei professionell-kommerziell gestaltet und die Nachbar:innen an den Nebentischen ignoriert werden. Die in diesem Kapitel beschriebenen Arten von Praktiken bezeichnen dann solche, die sich in relativer zeiträumlicher Nähe und durch direkte Interaktionen zwischen Einzelpersonen abspielen. In wachsender Distanz vom gewählten Standpunkt können diese gleichzeitig durch andere Arten von Praktiken überlagert werden. Darum wird es im folgenden Kapitel gehen. Doch trotz Überlagerungen und fließenden Übergängen zwischen geteilten, konfligierenden und persönlich-interaktiven Praktiken ist deren typologische Unterscheidung aufschlussreich, wie sich an der Analyse der Kochtreffs zeigt. Kochtreffs sind die Umsetzung halböffentlicher Vergemeinschaftung im Bereich esskultureller Praktiken. Ähnliche Formate in anderen alltagskulturellen Bereichen sind ebenfalls denkbar. Eine Folge dieser sekundären Gemeinschaften in halböffentlichen Räumen in heterogenen, diversen Kontexten ist, dass über erweiterte, freundschaftliche Netzwerke Praktiken geteilt und Konflikte in einer grundsätzlich vertrauten Umgebung verarbeitet werden. Begrenzt
3. Halböffentliche Vergemeinschaftung
wird diese Form der Integrationsleistung13 dadurch, dass sie nur für Kleingruppen funktioniert, Einzelpersonen ohne schon bestehende persönliche Anbindung tendenziell ausschließt und unter Bedingungen der Kommerzialisierung kaum realisierbar ist. Eine Übergangsform zwischen dieser Art der sehr persönlichen, aber dadurch auch exklusiven community of practice und den in Kapitel 4 behandelten Praktiken bilden die der persönlichen Interaktion, die in der Wirt:innenrolle personifiziert ist. Offen ist bisher noch die Frage geblieben, wie diese Formen des praktischen Zusammenlebens auf eine allgemeinere, stadtgesellschaftliche Ebene zurückwirken. Diese Frage wird in der Verbindung mit der Analyse der reflexiven Aussagen und Meinungen der Bewohner:innen Godesbergs in Kapitel 5 sowie im zusammenführenden sechsten Kapitel wieder aufgegriffen.
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Integration ist bisher nicht genauer eingeführt worden. Ich nutze den Begriff hier nicht im Sinne aktueller gesellschaftspolitischer Diskurse, sondern ausgehend von einem stärker theoretischen, basalen Verständnis der Festigung von sozialen Netzwerkbindungen (vgl. dazu Luhmann 1998a, 618–634).
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4. (Un)Erwartete Begegnungen
Im Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in einer begrenzten, räumlichen Umgebung ergeben sich zwangsläufig Interaktionen und direkte Begegnungen zwischen »Unbekannte[n] und bloß Bekannte[n]« (Goffman 1974a, 14, s. auch Teilkap.1.1). Doch gleichzeitig am gleichen Ort zu sein, erfordert in vielen Kontexten auch keine explizite Interaktion. Georg Simmel (1995a [1903]) nennt die Gewöhnung daran die »geistige Haltung der Großstädter« (ebd., 122), die sich als formale Reserviertheit äußert. Simmel versteht dies als Blasiertheit und in seinem zeitgeschichtlichen Kontext als Eigenart großstädtischen Zusammenlebens im Kontrast zur Kleinstadt. Die Dichte an möglichen sozialen Beziehungen, die Simmel in den Großstädten des angehenden 20. Jahrhunderts untersucht, ist heute dank hoher Bevölkerungsdichte sowie mobilisierender physischer und digitaler Infrastruktur aber nicht mehr nur in London oder Berlin gegeben. Auch auf Stadtbezirksebene wie in Bad Godesberg lässt sich Simmels Beschreibung der Vereinzelung insofern anwenden, als dass zeiträumliche Nähe hier nicht einfach mit sozialer oder sozialstruktureller Nähe gleichzusetzen ist. Dass die physische Nähe für die sozialen Beziehungen dennoch nicht völlig irrelevant ist, betont wiederum die empirische Chicagoer Stadtforschung mit ihrer Idee der Stadt als Mosaik kleiner, benachbarter Welten (s. Teilkap. 1.3). Wie gestalten sich also solche alltäglichen Begegnungen in der städtischen Öffentlichkeit, bei denen nicht schon die Voraussetzung sozialer Nähe gegeben ist? Sie gehen sicher nicht vollständig in Simmels Blasiertheit des:r Einzelnen auf, aber ebenso wenig ergeben sie klar trennbare, in sich homogene kleine Welten im Sinne der Chicagoer »natural areas«, in denen sich laut Robert Park (s. 1967, 7) nur Menschen mit sozialstrukturell und ethnisch zugeschriebener Nähe begegnen. Erving Goffman (1974a) weist darauf hin, dass Begegnungen zwischen Unbekannten diejenigen Situationen erzeugen, in denen außerhalb von Institutionen und jenseits von expliziten Äußerungen oder Debatten die öffentliche Ordnung thematisiert und damit stabilisiert oder ins Wanken gebracht werden kann (s. auch Teilkap. 1.1). Auf mikrosoziologischer Ebene ist der überwiegende Teil der Begegnungen, die sich in der Bad Godesberger Innenstadt beobachten lassen, dementsprechend komplex und fragil. Sie liegen genau zwischen Simmels Bla-
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siertheit und den kleinen Welten der Chicago School: Das Publikum der Innenstadt ist äußerst divers. Dennoch ist das Einzugsgebiet so klein, dass es durchaus zu erwarten ist, zufällig den:die Nachbar:in, eine:n Verwandten oder eine:n Freund:in zu treffen – dauerhaft im gleichen Maße reserviert kann man die Fußgänger:innenzone also nicht durchschreiten, vollständig allen Mitmenschen zugewandt aber auch nicht. In hoher, bewusst gewählter physischer Nähe ergeben sich wie im vorherigen Kapitel analysiert zwangsläufig immer wieder geteilte, konfligierende oder persönlich-interaktive Praktiken in der direkten Überschneidung individueller und potenziell stark heterogener Alltagskultur. Wie Simmels Idee der Reserviertheit andeutet, werden aber schon durch etwas mehr Distanz und weniger Zugewandtheit auch andere Formen von Praktiken im Umgang mit dieser Überschneidung möglich. In diesem Kapitel soll es deshalb um Praktiken gehen, bei denen Einzelpersonen nicht (wie im vorherigen Kapitel beschrieben) unvermeidlich in direkte Interaktionen miteinander treten. Dennoch teilen diese diversen Einzelpersonen einen, wenn auch größeren, zeiträumlichen Kontext. Die »Handhabung von Kopräsenz« (Goffman 1974a, 43) mit Unbekannten oder oberflächlich Bekannten erfordert nicht unbedingt direkte Gespräche oder explizite Interaktionen, wohl aber finden auch hier face-to-face-Begegnungen statt. Auch wenn Berührungen oder Gespräche normalerweise vermieden werden, sind Innenstadtbesucher:innen füreinander in physischer Nähe sichtbar. Die erste Leitfrage danach, wie sich das praktische Zusammenleben im Stadtbezirk Bad Godesberg gestaltet, beziehe ich im Folgenden also auf öffentliche Situationen mit höherer zeiträumlicher Distanz der Beteiligten als bei den in Kapitel 3 beschriebenen Praktiken. Sie zeichnen sich neben der Kopräsenz mit Unbekannten eher durch die Möglichkeit aus, auf Bekannte zu treffen, als durch deren Realisierung. Für die Untersuchung solcher Situationen greife ich auf die Protokolle meiner beobachtenden Teilnahme an esskulturellen Veranstaltungen in der städtischen Öffentlichkeit Bad Godesbergs zurück. Ich beschreibe in Teilkapitel 4.1 drei Stadtfeste anhand der ethnografischen Beobachtung in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (2018 und 2019). In 4.2 wende ich mich ähnlich wie im dritten Kapitel zu Kochtreffs der allgemeinen Rahmung möglicher Begegnungssituationen auf Stadtfesten zu und orientiere mich dabei an den Überlegungen Goffmans zur Handhabung von Kopräsenz mit Unbekannten. Ergänzend zu den bisher unterschiedenen Formen von Praktiken komme ich in 4.3 abstrahiert von den Fallbeispielen auf Praktiken der kommerziellen Interaktion, sowie auf parallele und getrennte Praktiken zu sprechen. Abschließend fasse ich die Ergebnisse zur Leitfrage nach dem praktischen Zusammenleben im Bezirk in Teilkapitel 4.4 zusammen.
4. (Un)Erwartete Begegnungen
4.1 Von Sommerfest bis Weihnachtsmarkt Die Kombination aus einer urbanen, hohen Anwohner:innendichte, und deren individualisierter und damit unterschiedlicher Alltagsgestaltung wirft aus praxistheoretischer Perspektive die Fragen auf, wie deren Überschneidung organisiert wird, wodurch sie bestimmt ist und inwieweit einzelne Praktiken auf das Zusammenleben im Stadtbezirk zurückwirken. Bisher stand die Erarbeitung kollektiver Erkennbarkeit von geteilten Praktiken, deren Zielgerichtetheit und Routine inklusive dadurch auftretender Konflikte im Vordergrund. Aber ebenso liegt es in meinem Interesse, formal-distanziertere Praktiken, Praktiken der Abgrenzung oder solche der Nichtbeachtung nuanciert zu untersuchen, schließlich besteht der soziale Alltag ebenso aus aktiv-persönlichen, wie aus zahlreichen passiven und oberflächlicheren Begegnungen. Auch wenn letztere unauffällig scheinen und selten explizit thematisiert werden, laufen sie keineswegs einfach nebenher und schon gar nicht ›von selbst‹ ab. Ganz im Gegenteil, denn: wenn Individuen in unmittelbare Nähe anderer Individuen kommen, wird durch die Territorien des Selbst ein weitgespanntes Netz von Stolperdrähten auf dem Schauplatz hervorgerufen, das die Individuen aufgrund ihrer einzigartigen Ausstattung zu überwinden vermögen. (Goffman 1974a, 152) Als »Territorien des Selbst« bezeichnet er die situativ variablen, immer aber räumlich und sozial lokalisierbaren Grenzen, auf die ein Individuum Anspruch erhebt und eigene Einflussnahme erwartet (ebd., 54ff.). Goffman beschreibt also, dass sich Ansprüche in der Raumnutzung in einer gut besuchten Fußgänger:innenpassage potenziell überall überschneiden und somit zahlreiche kleine Grenzüberschreitungen vermieden, ausgehandelt oder entschuldigend erklärt werden müssen. Möglich ist das ohne allzu großen kommunikativen Aufwand routiniert durch kleine Gesten, Körpersprache, oder in Goffman’scher Terminologie, durch »leibgebundene Kundgabe« (ebd., 32). Ähnlich wie im direkten Austausch stellt sich auch hier die Frage, inwieweit ein gegenseitiges Verständnis erschwert wird, je diverser die Kontexte der sich begegnenden Personen sind. Wo der Körper und dessen Bewegungen im Raum zur zentralen Konfliktvermeidungsstrategie werden, lohnt sich der Blick auf das Essen. Beim Essen werden körperliche Praktiken besonders sichtbar, da sie Raum benötigen, und zusätzlich intimer, fragiler und damit sowohl bedrohlicher als auch bedrohter als andere Praktiken (wie das Warten an einer Bushaltestelle) sind. Nicht zuletzt deshalb gibt es Menschen, denen das Essen im städtischen Raum grundsätzlich unangenehm ist, oder die ungern dem Anblick unbekannter Essender ausgesetzt sind. Ein materielles Entgegenkommen bieten trennende Möbel und blickgeschützte Sitzecken in der Gastronomie. Und doch wird teils durch logistische Zwänge (wie weite Anfahrtswege zur Arbeit), teils durch praktische Überlegungen (wie die Zeitersparnis) und teils
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durch Experimentierfreude mit Gerichten, die man selbst nicht zubereiten kann, immer mehr außer Haus gegessen. Durch die Corona-Pandemie hat sich dieser Trend verstärkt auf To Go-Gerichte und Außensitzbereiche verlagert. Gerade in den Sommermonaten bietet es sich an, zugunsten weniger strengen Hygieneregeln und geringerer Ansteckungsgefahr draußen statt im inneren gastronomischen Bereich zu essen. Das Essen nicht nur außer Haus, sondern tatsächlich auch im Freien gehört aber nicht erst seit der Pandemie zu den zentralen Bereichen, wegen derer Innenstädte aufgesucht werden1 . Daraus ergibt sich eine Konkretisierung der ersten Leitfrage, unter welchen Umständen und auf welche Weise sich individuelle, esskulturelle Alltagspraktiken überschneiden. Die Vorhersehbarkeit des Handelns Unbekannter, die eine:n Fremde:n in Goffmans Worten zu jemandem machen »an den man sich ohne Verlust an Selbstachtung anpassen kann« (1974a, 33), kann erschwert sein, wenn sprachliche ebenso wie körpersprachliche Gesten im öffentlichen Umgang von hoch diversen Individuen ausgeübt werden. Das Essen als Bereich alltäglicher Konsumentscheidungen und -praktiken macht abweichende Körperpraktiken und die damit verbundene Raumnutzung temporär sichtbar. Neben explizit als Begegnungsräumen (wie den Kochtreffs) eingerichteten Orten findet auch in Räumen, die kommerzielle Aktivitäten erlauben, ein großer Teil alltäglicher Begegnungen zwischen Unbekannten statt. Einige kommerzielle Räume sind zum Beispiel was das Preisniveau angeht so exklusiv, sodass dort zumindest im Bereich ökonomischer Ressourcen keine hohe Diversität zu erwarten ist. Betrachtet man jedoch Zusammenschlüsse unterschiedlicher kommerzieller Einrichtungen, zum Beispiel in einer Fußgänger:innenzone, wird damit ein möglichst breites, also stark heterogenes Publikum angesprochen, das einzelne Orte nutzen oder sich in deren Zwischenräumen aufhalten kann. Es geht im Folgenden deshalb um einen Typ esskultureller Situationen außerhalb des privaten Raumes, der zwar 1
Spezifisch für Bad Godesberg vgl. die IHK-Befragung »Vitale Innenstädte« von 2018, in der die Gastronomie neben Einkaufen, Behördengängen und Kulturangeboten zu den wichtigsten Nutzungsgründen der Innenstadt gezählt wird (https://www.ihk-bonn.de/filea dmin/dokumente/Downloads/Branchen/Einzelhandel/Praesentation_Pressegespraech_V itale_Innenstadt_Bad_Godesberg_2018.pdf, zuletzt aufgerufen am 12.11.2021). Allgemein zur Häufigkeit des Kochens zuhause und außer Haus vgl. den jährlichen Ernährungsreport des Bundesministeriums. Bis 2019 steigt die Zahl der Gastronomie-Besuche (s. Ernährungsreport 2019, URL: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ Ernaehrungsreport2019.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.01.2023). Seit Beginn der CoronaKrise steigt der Anteil derjenigen, die regelmäßig zuhause kochen oder Lieferdienste in Anspruch nehmen wieder an (s. Ernährungsreport 2020, 2021 und 2022, URL: https://www .bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ernaehrungsreport-2021.pdf, https://w ww.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ernaehrungsreport-2020.pdf, http s://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ernaehrungsreport-2022.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.01.2023).
4. (Un)Erwartete Begegnungen
kommerziell bestimmt ist, bei dem aber die Anwesenheit auch ohne kommerzielle Partizipation möglich ist. Diese Art von Situationen lässt sich grundsätzlich in Fußgänger:innenzonen und Innenstädten beobachten, besonders offensichtlich wird sie am Beispiel von Stadtfesten. Um einen Zugang zu Begegnungen in der städtischen Öffentlichkeit zu finden, habe ich an verschiedenen solcher Stadtfeste in Bad Godesberg beobachtend teilgenommen. Es handelt sich um das stets im Spätsommer vom Godesberger Stadtmarketing veranstaltete offizielle Stadtfest Bad Godesbergs, um den Nikolausmarkt in der Adventszeit sowie um den Streetfood-Markt, der immer im Frühjahr im gleichen Bereich der Innenstadt durch eine Unternehmer:innengesellschaft aufgebaut wird. Alle drei Stadtfeste finden fest etabliert jährlich statt. Meine Beobachtungen fokussieren sich auf Veranstaltungen in den Jahren 2018 und 20192 . Das »Bad Godesberger Stadtfest«, das jährlich zum Ende des Sommers stattfindet, weist im Namen auf die Eingemeindungsproblematik hin, die in Teilkapitel 2.1 bereits beschrieben wurde: Man feiert kein Bürger:innen-, Straßen- oder Stadtteilfest, wie in anderen Stadtbezirken in der Nähe, sondern ein Stadtfest. Der Name ergibt sich durch die Veranstalter:innen. Die Organisation des Festes zählt zu den Hauptaktivitäten des Godesberger Stadtmarketings (auch hier wird dem Namen nach eine Stadt – kein Bezirk – repräsentiert). Es handelt sich um einen gemeinnützigen Verein, der seit 2002 als Zusammenschluss des City-Marketings und einer Werbegemeinschaft die Fußgänger:innenzone im Zentrum Alt Godesbergs als kommerziellen, innerstädtischen Standort bewirbt und vernetzt. Mitglieder sind zahlreiche Godesberger Geschäfte und Betriebe, darunter auch einige Restaurants. Die Adressen der Mitglieder geben Aufschluss über die Zusammensetzung, die Ausrichtung und Zielvorstellungen des Vereins: Die zentrale, von vielen lang ansässigen Geschäften gesäumte Koblenzer Straße als Längsachse der Innenstadt ist deutlich unterrepräsentiert, mit vier Mitgliedern aus dem medizinischen Servicebereich, einer Buchhandlung und dem lokalen Redaktionsbüro des Generalanzeigers. Der Fokus der Standortförderung des Vereins liegt auf der Querachse, die vom Bahnübergang am Theater vorbei zum Einkaufszentrum führt. Dies ist also auch der Bereich, in dem sich das Stadtfest erstreckt. Den ›Eingang‹ zu dem Fest im Spätsommer bildet der U-BahnAufgang in der Nähe des Bahnhofs in der Alten Bahnhofstraße, weiter geht es auf
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Basis der Beschreibung des Stadtfestes sind die FP 12.09.2018, Brill, 14.09.2018, Brill, 20.09.2019 Ali, 27.09.2019, Layla; für den Nikolausmarkt das FP 17.12.2018, Brill; für den Streetfood-Markt FP 30.03.2019, Brill sowie insgesamt zum Thema Stadtfeste die beschreibenden Teile aus den Interviews 1, 3, 6, 21, 23. Meine eigenen Beobachtungen auf den Stadtfesten wurden von den studentischen Hilfskräften Khaled Ali, Baydaa Layla und Louisa Rosenkranz ergänzt und vertieft. Genaueres zum methodischen Vorgehen in der Verschränkung verschiedener Beobachter:innenprotokolle findet sich in Teilkapitel 1.4.
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der anderen Seite der Längsachse über den Theaterplatz bis hin zu dem Einkaufszentrum Fronhofer Galeria am gegenüberliegenden Ende des verkehrsberuhigten Innenstadtbereichs. Die Alte Bahnhofstraße ist durch den Teil des Stadtfestes belegt, der auch schon einige Tage vorher und nachher den »Französischen Markt« bildet. Neben den ansässigen Geschäften, die teils zusätzliche Verkaufstheken und Sitzgelegenheiten vor ihren Ladenlokalen aufgebaut haben, sind Verkäufer:innen aus Frankreich mit Produkten wie Wurst, Käse, Trockenobst, Oliven und Seife angereist – vorzugsweise mit solchen Waren, die sich lang halten und bei der längeren Rundreise über deutsche Märkte nicht verderben. Den Übergang zum Theaterplatz bilden die Bäckereien auf den Ecken sowie die Eiscafés, die die Straße mit ihrem Außensitzbereich säumen. Auf dem Platz selbst ist eine Bühne aufgebaut und die Mehrzahl der Verkaufstheken ist auch hier gastronomischer Art. Vereinzelt gibt es außerdem Schausteller:innen, Deko-, Schmuck- oder Werbestände beispielsweise von medizinischen Einrichtungen aus dem Bereich um die Godesberger Innenstadt herum. Das kulinarische Angebot reicht von mobilen Getränke- und Cocktailbars über Zuckerwatte und Reibekuchen bis hin zu Flammlachs und Gözleme (gefülltes Fladenbrot).
Abb. 12: Das gastronomische Angebot auf dem Stadtfest (September 2018)
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
4. (Un)Erwartete Begegnungen
Weiter geht es in südwestlicher Richtung durch die Fußgänger:innenpassage hin zum Platz vor der Fronhofer Galeria. Dort ist eine zweite Bühne aufgebaut, wiederum mit Getränke- und Speiseständen sowie mit Sitzgelegenheiten in der Mitte des Platzes. Auch hier säumen die Außensitzbereiche von mehreren Eiscafés den Platz. Die Verbindungen zwischen dem Französischen Markt, dem Theaterplatz und dem Platz vor dem Einkaufszentrum werden zum Spazieren und zu einzelnen Käufen ›auf die Hand‹ genutzt. Außerdem sind die Außensitzbereiche gut besucht, von hier aus kann man das übrige Publikum beobachten. Die Sitzgelegenheiten auf den Plätzen werden für längere Ess- und Trinkpausen genutzt, auch mitgebrachte Speisen werden an den Bierbänken verzehrt, die nicht explizit einem einzelnen Stand zugeordnet sind. Das Publikum besteht vor allem aus älteren Einzelpersonen, Paaren und Familien mit Kindern. Jugendliche besuchen das Stadtfest kaum. Viele der Besucher:innen sind Anwohner:innen aus der Umgebung, aber ich unterhalte mich auch vereinzelt mit aus der Region Angereisten, die stets einen persönlichen Bezug zu Bad Godesberg haben. Auch internationale Tourist:innengruppen sind unterwegs, ebenso wie Patient:innen aus den umliegenden Reha-Einrichtungen und Krankenhäusern, die häufig von mehreren Familienmitgliedern begleitet werden und hauptsächlich Arabisch oder Russisch sprechen. Das Bühnenprogramm richtet sich an das sitzende Publikum, das vor allem aus älteren, rheinischen Dialekt sprechenden Ehepaaren besteht. Zur Eröffnung des Festes auf dem Theaterplatz tritt der in der Nähe wohnende Kabarettist Konrad Beikircher (auf Kölsch) auf und nach einigen Redebeiträgen wird Freibier ausgeschenkt. In die Schlange zum von Beikircher angestochenen Fass stellen sich zunächst ausschließlich ältere Männer, später kommen auch andere Besucher:innen dazu. Tourist:innen und Patient:innen der Kliniken bleiben mit Abstand im Bereich des Durchgangsverkehrs stehen und beobachten das Geschehen für eine Weile, bevor sie weitergehen. Vor allem durch den starken Fokus der zentralen Stände auf den Alkoholausschank ergibt sich eine unterschiedliche Nutzung der einzelnen Bereiche des Stadtfestes: Rheinische Paare, zumeist zwischen 50 und 70, nutzen die Plätze und die für das Fest aufgebauten Sitzgelegenheiten auf den Plätzen sowie an den beiden ›Enden‹ des Bereichs und machen den Großteil des Publikums in den Zeiten aus, in denen die beiden Bühnen bespielt werden. Die übrigen Besucher:innen des Festes nutzen vor allem die Durchgangsbereiche in den verbindenden Straßenzügen und am Rand der Plätze. An den Ständen lassen sich verschiedene Speisen bestellen. Die meisten eignen sich, um sie unterwegs zu essen (wie Kartoffelspiralen am Spieß3 , Zuckerwatte
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Diese Spieße sind ein Beispiel dafür, dass Speisen auf Märkten insbesondere durch social media einem gewissen Vereinheitlichungsdruck unterliegen. So kommen und gehen einzelne Angebote wie die Kartoffelspiralen modehaft.
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oder Pommes Frites), andere erfordern es, dass man sich hinsetzt (wie Flammkuchen oder Ofenkartoffeln). Vor allem bei frittierten Waren zeigen sich Personen, die vegan oder halal essen, oft unsicher, ob die Gerichte ihren Speiseregeln entsprechen oder tierische Fette genutzt werden.
Abb. 13: Auf dem Theaterplatz sind Tische aufgebaut (September 2018)
Einige Besucher:innen fragen nach, andere kaufen kein Essen an den Ständen, sondern greifen auf die Eiscafés oder Bäckereien zurück. Wo dem äußeren Bild und der Beschriftung der Stände nach zu vermuten ist, dass Gerichte aus muslimisch bestimmten Regionen angeboten werden, gilt die Unsicherheit in Bezug auf islamische Speiseregeln nicht. Hier wird von den meisten Kund:innen vorausgesetzt, dass die Gerichte unabhängig von den individuellen religiösen Praktiken der Verkäufer:innen schon allein dem üblichen, regionalen Rezept nach halal sind. Von solchen Ständen gibt es zwei: einen Feinkoststand mit Pasten und Fladenbrot sowie einen Stand, an dem frisch Gözleme zubereitet werden. Generell nutzen viele der Stände die offen einsehbare Zubereitung vor Ort, um einerseits Publikum anzuziehen und andererseits frische Speisen anbieten zu können: Am Stand eines kurdisch-deutschen Kulturvereins werden auf einer Saç (große, runde Mischung aus Herdplatte und Pfanne) gut sichtbar frisch Gözleme (Teig, Spinat, Petersilie, Feta) zubereitet, der Teig wird ebenfalls vor Ort gemacht und verarbeitet. Außerdem gibt es Salate, Obst, Gemüse und frisch zubereiteten Tee. […] Ich trinke Tee und unterhalte mich mit den Verkäufern. […] Ein Verkäufer ruft mir zu: »Wenn Sie Zeit haben, bleiben Sie ein bisschen hier sitzen, dann kommen mehr Kunden.«, ich inter-
4. (Un)Erwartete Begegnungen
pretiere, er meint Kunden wie mich, blond, weiß. Ich werde aufgefordert, ein Preisschild für den Tee zu schreiben, ich nehme an, weil von mir eine ordentliche Handschrift erwartet wird. Am Stand komme ich mit Lucie Scarabeo ins Gespräch, sie ist Ehefrau mehrerer Diplomaten gewesen (Ex-Jugoslavien, Italien) und hat lange in Bad Godesberg gelebt. Wir sprechen zunächst über Börek (da sie im Gözleme am kurdischen Stand Börek zu erkennen meint), und berichtet, wie sie selbst Börek zubereitet (als Auflauf im Backofen, mit Schichten aus Teig, Feta und Spinat), sie sagt Bö-rék und Fétt-a. Sie hat einen schwer zuzuordnenden Dialekt oder Akzent, den ich später als durch ihren Ex-Mann inspirierten bewussten oder unbewussten Versuch, italienisch zu klingen, deute. Sie erzählt, sie koche nur mediterran, und empfiehlt mir einige italienische Restaurants, jeweils mit Vornamen der ihr bekannten Köche und Übersetzung des Restaurantnamens. Als sie erfährt, dass ich ein Projekt zu Esskulturen in Bad Godesberg durchführe, entschuldigt sie ihre einseitig italienischen Empfehlungen und beginnt, über die Veränderung Bad Godesbergs zu sprechen. Dabei betont sie die neuen Billigläden auf der Koblenzer Straße (Anm.: der Längsachse) und die Niqabs, die für sie ein Problem darstellen, da sie ihrem Gegenüber bei einem Gespräch in die Augen schauen können müsse. Während sie das sagt, nimmt sie entschuldigend ihre große, verspiegelte Sonnenbrille ab. Sie stellt sich vor als Lucie (französische Aussprache) Scarabeo (italienische Aussprache, mit Übersetzung: Käfer) […]. (FP 14.09.2018, Brill, Z. 33ff.)
Die Begegnung mit Lucie Scarabeo weist darauf hin, dass überdurchschnittlich viele ehemalige Diplomat:innen und deren Familien, ebenso wie frühere Botschaftsangestellte in Godesberg leben und auch auf dem Stadtfest anzutreffen sind. Auffällig ist, dass diesen Anwohner:innen die Bezirksentwicklung, die sie zumeist durch ihre Aufenthalte im Ausland nur mit großen Zeitsprüngen selbst miterlebt haben, enorm wichtig ist und sie sie tendenziell als negativ zu bewertenden Abwärtstrend deuten (siehe dazu auch Teilkap. 2.1). Vor allem Pensionär:innen definieren sich stärker über den Bezirk als über die Stadt Bonn, und werden in den Reden und in der Bewerbung des Festes dementsprechend als ›Godesberger‹ adressiert. Mittlerweile umgezogene, frühere Godesberger:innen scheinen sich dadurch ebenfalls angesprochen zu fühlen. Lucie Scarabeo beispielsweise ist explizit für den Besuch des Stadtfestes aus Berlin an ihren früheren Wohnort gereist. Mehrfach wird mir außerdem berichtet, man sei aus Wachtberg in die Godesberger Innenstadt gefahren. Die Gemeinde Wachtberg grenzt an Godesberg und liegt zwar schon außerhalb des Stadtgebiets, auch dort befinden sich jedoch ehemalige Botschaftssitze und internationale Organisationen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass hier die Kaufkraft der Anwohner:innen die
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höchste in der gesamten Region ist (s. IHK Bonn/Rhein-Sieg 2020, 20). Viele Wachtberger:innen zählen zum Einzugskreis der Godesberger Innenstadt und fühlen sich auch darüber hinaus Godesberg zugehörig4 . Auch von den Schausteller:innen5 an den Imbisstheken kommen einige aus Wachtberg und dem übrigen Umland des Bezirks. Viele der ansässigen Geschäfte haben außerdem Außentheken aufgebaut und profitieren so von dem hohen Durchgangsverkehr. Die Unterstützung des lokalen Einzelhandels und der Gastronomie ist ausdrückliches Ziel des Stadtmarketings, wiederum gilt dies allerdings nur für die Mitglieder: Auf Nachfrage erfahre ich, dass viele der Geschäfte, Imbisse und gastronomischen Betrieben auf der Längsachse nichts Genaueres über die Aktivitäten des Stadtmarketings wissen und somit auch nicht in das Stadtfest eingebunden sind. Eine ähnliche Anordnung und Zusammensetzung sowohl des Publikums als auch der Imbiss- und Verkaufsstände lässt sich auf dem Weihnachtsmarkt, der hier »Nikolausmarkt« heißt, beobachten.
Abb. 14: Auf dem Nikolausmarkt (Dezember 2018)
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Deutlich wird das zum Beispiel in dem im Rahmen der Gespräche zum Leitbildprozess oft geäußerten Missfallen daran, dass die Kommunalwahlen dadurch »verzerrt« würden, dass die Wachtberger:innen einen eigenen Wahlkreis bildeten und ihre Stimmen nicht auch für den Godesberger Bezirksrat abgeben könnten. Damit sind hier – entsprechend der Selbstbeschreibung meiner Gesprächspartner:innen – die Betreiber:innen der Stände und Wägen gemeint, unabhängig davon, ob im Wagen Essen, Kunsthandwerk oder Dienstleistungen ›zur Schau gestellt‹ werden.
4. (Un)Erwartete Begegnungen
Der Markt wird ebenso wie das Stadtfest vom Stadtmarketing organisiert. Allerdings fehlen einige Besucher:innengruppen, die im Sommer durchaus zu den Nutzer:innen des Festes gehören: Internationale Tourist:innen und Patient:innen der medizinischen Einrichtungen sind in dieser Jahreszeit kaum zu Gast in Godesberg, was nicht zuletzt dazu führt, dass viele der Schausteller:innen über wenig Gewinn und fehlendes kaufkräftiges Publikum klagen. Umgekehrt ist zumindest unter den Besucher:innen sehr viel deutlicher als beim Stadtfest die offene Ablehnung vor allem von religiöser und nationalstaatlicher Diversität im Publikum und im Angebot des Festes zu spüren. Ein zwischen Berlin und Godesberg pendelnder Pensionär fordert eine in seinen Worten stärker »identitätsstiftende« Innenstadtgestaltung auch durch festliche Anlässe: Xm: »Dieser Nikolausmarkt, ja, das sehen Sie schon wenn Sie drübergehen. Da steht auf einmal eine Bude mit marokkanischem Geschnitzten. Da fragt man sich, hm, Weihnachtsmarkt, Marokko? Ja. Der stört keinen, der ist jedes Jahr da, aber das hilft irgendwie an der Stelle nicht zur Integration, oder trägt auch nicht dazu bei, sondern das ist dann irgendwie dann merkwürdig, ne?« Y1: »Wo wäre so ein Ort, wo sie das eher passend fänden?« Xm: »Ja nee, das ist alles Marktwirtschaft. Wer hat Kunden, wer hat keine Kunden, also das ist dann auch OK so. Nur…« Y1: »Aber gäbe es solche Räume, wo sie sagen würden, das ist vielleicht ein angebrachterer Ort oder so?« Xm: »Ja, aber das ist schwer für mich zu beantworten. Weil im Grunde stellen Sie die Frage nach: Gibt es nicht doch so eine Möglichkeit, also Sie haben gesagt, Chinatown, das sozusagen irgendwie konzentriert für die Interessenten irgendwie abzuwickeln. Also das würde ja…was würde das bedeuten? Also ich glaube man sagt Ghetto, nicht?« (Interview 23, Z. 256ff.)
Im Interview wird die Vorstellung einer über nationale und religiöse Zuschreibungen definierten, segregierten Öffentlichkeit formuliert, die marktwirtschaftlicher Konkurrenz Einhalt gebieten kann. Die Nennung des Begriffs des Ghettos eröffnet dabei polarisierte Bezüge zur Zuweisung bestimmter Wohnviertel oder Straßenzüge von Christ:innen an Jüd:innen ab dem 16. Jahrhundert sowie zum jüngeren, stärker US-amerikanisch geprägten Wortgebrauch für soziale Brennpunkte. Der Interviewte verbindet mit dem Format eines Weihnachtsmarktes bestimmte, exklusive Vorstellungen christlicher Tradition. Die paradoxe Haltung, die sich hier zeigt (vgl. auch Teilkap. 2.1), schwankt zwischen Angewiesenheit auf breite Kaufkraft und Ablehnung von befürchteter Konkurrenz mit neuen Teilnehmer:innen des lokalen Marktes, die von bestimmten Gruppen nicht als der Geschichte der Godesberger Innenstadt zugehörig betrachtet werden. Diese Haltung bestimmt auch die
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Aktivitäten des Stadtmarketings. Dies zeigt sich sowohl auf dem Stadtfest als auch auf dem Nikolausmarkt. Ein anders gelagertes Interesse lässt sich beim dritten großen, jährlich stattfindenden Fest auf der Querachse der Innenstadt beobachten. Im Frühjahr wird der »Food Lovers Streetfood Markt« im Bereich des Theaterplatzes aufgebaut. Zeitgleich findet wieder der Französische Markt statt, der wie beim Stadtfest den Bereich der Alten Bahnhofstraße belegt. Beides, sowohl Französischer Markt als auch Streetfood-Markt, sind Initiativen des Stadtmarketings. Letzteres ist jedoch keine lose Zusammenstellung von Schausteller:innen, die sich auf eine Teilnahme am Markt bewerben (wie im Falle aller anderen Märkte), sondern ein von den Vereinsakteur:innen bei einer Unternehmer:innengesellschaft buchbares Gesamtkonzept.
Abb. 15: Sitzgelegenheiten auf dem Streetfood-Markt (März 2019)
Die Besucher:innen sind deutlich jünger, viele kommen aus der direkten Umgebung, aber auch einige Tourist:innen aus der Region nutzen das Angebot. Im Gegensatz zu den anderen Märkten ist der Aufbau der Wägen hier durchgeplant: Sie sind so gestellt, dass die Laufkundschaft zunächst über den Theaterplatz durch eine Reihe von Wägen geleitet wird, verlangsamt durch die jeweiligen Reihen der Anstehenden. Insgesamt bildet der Aufbau einen Kreis, in den man aus Richtung des Bahnhofs kommend ›einsteigen‹ kann. Das ›Aussteigen‹ auf der anderen Seite (in Richtung Fronhofer Galeria) wird erschwert. Hier steht der Organisationstruck erhöht auf einem Holzpodest mit einer Getränkebar und Liegestühlen davor, was den Weg hinaus zu einem Slalom um die dort Sitzenden macht. Aus dem Organisati-
4. (Un)Erwartete Begegnungen
onstruck schallt laute Musik, die eher an eine Strandbar als in eine Innenstadt im März erinnert. Der Markt besteht ausschließlich aus Foodtrucks, Schausteller:innenwagen mit runden Ecken, matter Lackierung, weißer oder neonbunter Beschriftung in Schriftarten, die einer ordentlichen, aber individuellen Handschrift nachempfunden sind. Kleine Blumentöpfe stehen an den Wägen und die Aufschriften haben hashtag- bis twitterpost-Länge. Sie sind damit entsprechend dem übergeordneten Stil auf social media-Verbreitung durch die Nutzer:innen ausgerichtet. Die angebotenen Gerichte haben ausnahmslos durchdachte, originelle Namen, die meisten verweisen dabei explizit auf einen Ort oder eine Region6 . Die Maultaschen heißen nicht Maultaschen sondern »Schwaben-Glück«, in der Variante mit Bolognese-Sauce dann »Italo-Hit«. Serviert wird nicht in weißen Plastikschalen, sondern wahlweise in Bambus, Papier, oder zumindest schwarzem Plastik.
Abb. 16: Das gastronomische Angebot auf dem Streetfood-Markt (März 2019)
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
Ähnlich wie bei den anderen Märkten wird die frische und gut sichtbare Zubereitung als Anziehungsmoment für das Publikum genutzt. Die Infrastruktur
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Zum Thema esskulturelle Regionalbezüge s. genauer Kap. 5.
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und Ausstattung dafür sind jedoch deutlich aufwendiger, beispielsweise werden am BBQ-Truck in einer kleinen Dampflok Ofenkartoffeln zubereitet. Die Gerichte und ihre Zubereitung sind insgesamt auf Show-Effekte ausgerichtet. Selbst wenn man nichts kauft, gibt es an den Ständen stets etwas zu beobachten. Die regionalen Verweise unterstreichen das und bieten teils in geografisch und kulturell unzusammenhängenden Zusammenstellungen ein Depot, aus dem dekorative Symbole kombiniert werden: Ethno für alle. Dazu zählen »Buddhanudeln«, schwäbische Maultaschen namens »Italo-Hit«, und »mexikanische Touareg Wraps« (!). Globalisierung at it’s best, erlebbar ganz lokal, daheim, wie schön. Bloß leisten können es sich viele nicht, aber bestaunen bei einem Kaffee, das immerhin. Ich denke an ethnologische Völkerschauen. Auch hier wird Kultur ausgestellt, inklusive Buddha und Bambus in der »asiatischen« Ecke, Grillgerüchen in der »orientalischen«, und auch das Fast Food schafft den Sprung in die hippe Eventküche über aktives Ablehnen von Veganismus und »Gesundheitswahn«, Trump lässt grüßen. Dabei kommunizieren alle brav homogen im digital vervielfältigbaren Format, Essen, Trucks und Angestellte sind ausgerichtet darauf, fotografiert und gepostet zu werden. Und über allem dank lauter Musik noch einmal die Erinnerung daran, dass die Entspannung auf den Liegestühlen Teil eines globaleren Konzepts ist, das eigentlich vor allem Geld bringen und nicht zum Verweilen einladen soll. (FP 30.03.2019, Brill (mit anwesend: Rosenkranz), Z. 41ff.) In meiner spontanen Feldnotiz wird deutlich, dass die Mischung regionaler Verweise schnell an ›ethnisch‹ begründete Authentizität denken lässt, obwohl eine Selbstzuschreibung anhand ›ethnischer‹ Merkmale weder vonseiten der Mitarbeiter:innen und Veranstalter:innen noch in Bezug auf die angebotenen Gerichte besteht. Stärker als kulturelle Bezüge lassen sich hier Marktmechanismen beobachten (s. dazu genauer Teilkap. 5.3). Das zugrunde liegende Marketingkonzept wird unter anderem dadurch deutlich, dass die Zusammenstellung des Angebots den regionalen Zuschreibungen sowie den Speiseregeln nach möglichst breit ist. Einheitlich ist lediglich das Preisniveau: Die Gerichte kosten deutlich mehr als bei den übrigen Märkten, sodass hier trotz des breiten Angebots für die Nutzung eine gewisse Exklusivität besteht. Während vor allem beim Weihnachtsmarkt einzelne Nutzer:innen exklusive Ansprüche wie die oben zitierten haben, dennoch aber zumindest bei den Verkäufer:innen jede:r zahlende Kund:in gern gesehen ist, werden Zugangsbeschränkungen durch das Preisniveau im Fall des Streetfood-Marktes eher vonseiten der Veranstalter:innen durchgesetzt. Dies ergibt sich auch daraus, dass es im Gegensatz zu den anderen Märkten wenig neutrale, also nicht einzelnen Ständen zugehörige Sitzmöglichkeiten gibt. Mitgebrachtes Essen kann man nicht verzehren, da auch die fest installierten Bänke auf dem Theaterplatz durch die Wägen ver-
4. (Un)Erwartete Begegnungen
sperrt sind. Dementsprechend drehen viele Besucher:innen eine Runde über den Markt, ohne länger zu verweilen oder etwas zu kaufen. Eine Ausweichmöglichkeit bieten, ähnlich wie beim Stadtfest, die Eiscafés mit ihren Außensitzbereichen. Hier können diejenigen, für die der Zugang zum Angebot des Marktes erschwert ist, an der Veranstaltung teilnehmen ohne auch bei einer längeren Verweildauer mehr als ein paar Euro ausgeben zu müssen. Die Godesberger Innenstadt hat mit dem Streetfood-Markt im Frühjahr, dem Stadtfest im Spätsommer und dem Nikolausmarkt im Winter gleich drei regelmäßige Termine für Stadtfeste pro Jahr. Allen gemeinsam ist die Fokussierung auf die Querachse der Innenstadt, auch wenn die Zusammenstellung der Stände ebenso wie die des Publikums variiert. Welche Arten von Praktiken und Formen von Begegnungen zwischen Unbekannten und oberflächlich Bekannten in diesem Kontext ermöglicht werden, soll im Folgenden beschrieben werden, um klären zu können, welche Rolle gastronomische Angebote insbesondere im innerstädtischen Freien für das Zusammenleben im Stadtbezirk haben.
4.2 Der Rahmen ›Stadtfest‹ Stadtfeste sind Rahmen, bei denen zumeist Anwohner:innen und Gäste mit einem Angebot angesprochen werden sollen, das von einer zentralen Stelle aus organisiert und kleinteilig in Bezug auf die innerstädtische Umgebung umgesetzt wird. Solche Feste sind oft auf kommerzielle Zwecke ausgerichtet und dennoch ist die Anwesenheit auch möglich, ohne darauf einzugehen – ein allgemeiner Eintritt wird für derartige Anlässe nur äußerst selten verlangt. Werden Feste organisiert und gut besucht, wird das aus ganz verschiedenen Perspektiven als positiv gedeutet. Sowohl für die lokale Wirtschaft als auch für die sozialökologisch gedachte ›Lebendigkeit‹ einer Innenstadt oder auch eines Stadtteilzentrums gelten diese Anlässe als fördernd. Umgekehrt wird Akteur:innen der Stadtplanung, Stadtentwicklung und Kommunalpolitik das aktive Organisieren von Stadtfesten geraten, wenn die regionale, überregionale oder internationale Aufmerksamkeit für den Ort erhöht werden soll (vgl. Cudny 2020; Smith 2012). Der Fokus der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen liegt dabei auf der Ausrichtung von Mega-Events wie den Olympischen Spielen, für die letztendlich nur wenig Städte tatsächlich in Betracht kommen (vgl. Roche 2000), oder zumindest von Events, bei denen mit ausreichender, regionaler, kommunaler oder privatwirtschaftlicher Förderung gerechnet werden kann. Die Stadtfeste in Bad Godesberg zeigen, dass es darüber hinaus aber auch Feste gibt, die zwar ähnliche Ziele verfolgen, aber mit deutlich weniger Ressourcen (hauptsächlich denen der direkt Beteiligten, in diesem Fall vor allem der Vereinsmitglieder des Stadtmarketings) auskommen müssen.
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Ein zweiter Forschungsstrang betrachtet urbane Events aus einer planungskritischen Perspektive7 und nimmt auch kleine, ressourcenarme Organisator:innen in den Blick. Argumentiert wird, dass die Akteur:innen der Stadtplanung jahrzehntelange Kritik an ihrer Arbeit oberflächlich aufgenommen hätten und mit einer neuen, kreativen Form kapitalistischer Stadtgestaltung ›von oben‹ zwar weniger baulichmateriell, dafür stärker eventorientiert-narrativ in das Stadtgeschehen eingriffen (vgl. Ernwein und Matthey 2018; Lamond und Spracklen 2016). Hier werden, wenn auch mit anderem Fokus als bei den oben genannten Großveranstaltungen, ebenfalls vor allem Fragen nach der Organisation, den Planer:innen und deren Intentionen untersucht. Mir geht es im Folgenden dagegen um eine Sicht aus Nutzer:innenperspektive, da mein Erkenntnisinteresse sich auf die praktische Handhabung von Kopräsenz bezieht. Auch wenn Pläne und Planer:innen dafür die organisatorischen und materiell-physischen Voraussetzungen schaffen, ist letztlich die Art der Nutzung das, was diese Praktiken ausmacht (zum Stichwort der sekundären Produktion s. Teilkap. 1.1). Die Hintergründe der Veranstaltungen werden für die folgende Analyse nur dort relevant, wo sie die tatsächlichen Nutzungspraktiken beeinflussen, denn ich gehe nicht von einer vollständigen Determiniertheit der Nutzungspraktiken der Feste durch die Planung aus. Einen Ausgangspunkt dafür bieten Gregor Betz, Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer (2011) in der Unterscheidung statischer Stadtfeste und flexibler Events: Dabei geht es auf der einen Seite selbstverständlich darum, spektakuläre Bilder für die Welt zu produzieren. Vor allem aber geht es um Identifizierungs- und Vergemeinschaftungsanlässe für die Stadtbevölkerung selber. Events sind kaum Sinnbilder für Macht, für Werte oder für gesellschaftlichen Fortschritt, wie es für traditionelle Feste in der Stadt beansprucht wurde und zum Teil noch immer beansprucht wird. Beim Event geht es in aller Regel ganz pragmatisch darum, die multiple Anknüpfungs- und Identitätsfähigkeit der Stadt zu betonen und für möglichst alle Interessen auch die passende Inszenierung anzubieten […]. (ebd., 13) Die Autor:innen betonen weiter, dass es darum gehe, ein Kollektiverleben herzustellen und damit das städtische Zusammenleben zu fördern. Die folgende Analyse der schon eingeführten Stadtfeste in Bad Godesberg soll daran anschließen, die tatsächlichen Gegebenheiten und Begegnungen innerhalb solcher Rahmungen eher in den Blick zu nehmen als die planerischen Ansprüche und Vorstellungen, die dahinterstehen. Im Unterschied zu Betz, Hitzler und Pfadenhauer gehe ich jedoch davon aus, dass gerade in kleinstädtischen Kontexten und mit wenig Ressourcen keine »multiplen Anknüpfungspunkte« für diverse Anwohner:innen angeboten werden 7
Zur Unterscheidung von planungsoptimistischer und -pessimistischer Stadtforschung siehe auch Teilkap. 1.3.
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(können). Ich möchte die Frage thematisieren, wie Kleinstevents eingesetzt und genutzt werden, wenn der lokalspezifische Hintergrund wie in Godesberg keine homogene Identitätsvorstellung ergibt, aber auch die Mittel fehlen, um mehrere solcher Vorstellungen nebeneinander zu repräsentieren. Im Fall der Godesberger Innenstadt kommen nun verschiedene Besonderheiten zusammen: Das Publikum ist sehr divers und die Ressourcen der Organisator:innen sind gering. Begegnungen zwischen Unbekannten sind komplex, gerade wenn der Fokus auf der Nutzung des kulinarischen Angebots und körperbetonter Esspraktiken liegt. Die Frage nach der Handhabung von Kopräsenz lässt sich in der Anwendung auf den ethnografischen Fall konkretisieren: Wen trifft man überhaupt an den Orten, wo Kopräsenz eingeübt werden soll? Wen aber auch nicht – und was sind Gründe dafür? Für die folgende Analyse ergeben sich so drei Teilfragen: Welche Akteur:innen und welches Publikum ist an Stadtfesten interessiert, zwischen wem wird also Kopräsenz verhandelt (1)? Wie wird der Begegnungsraum räumlich gestaltet und genutzt (2)? Welche Ziele werden bei der Planung der Feste verfolgt, welche möglicherweise aber auch ungeplanten Folgen ergeben sich (3)? Für die Teilfrage nach Akteur:innen und Publikum (1) ist die Unterscheidung zwischen oben erwähnten Großveranstaltungen und den hier gemeinten Kleinstevents von besonders großer Bedeutung. Die Feste der Godesberger Innenstadt zeigen, dass auf dieser Ebene zumeist eine lokale Initiative von Nöten ist, um den Organisationsprozess in Gang zu bringen, da nicht damit zu rechnen ist, dass ›von außen‹ Veranstaltungen angeregt werden. Denkbar ist eine solche Initiative ausgehend von Anwohner:innen, dem ansässigen Einzelhandel oder Lokalpolitiker:innen. Zentrale Akteur:innen sind damit vor allem ehrenamtlich Engagierte, also Personen mit hohen zeitlichen Ressourcen im Alltag. Von den Initiator:innen ausgehend können dann Verbündete gesucht werden. Im Falle der drei hier beschriebenen Stadtfeste übernimmt diese Aufgabe der gemeinnützige Verein des Stadtmarketings. Verbündete sind dessen Mitglieder, also vor allem Vertreter:innen des lokalen Einzelhandels im Bereich der Querachse der Fußgänger:innenzone. Den Initiator:innen stehen weniger Ressourcen zur Verfügung als offiziellen kommunalen Veranstaltungsformaten, es müssen also Strategien zum Umgang mit dieser Situation gefunden werden. Auf dem Stadtfest ebenso wie auf dem Nikolausmarkt wird auf aufwendige Dekoration verzichtet, man überlässt die Gestaltung der Märkte hauptsächlich den einzelnen Schausteller:innen, deren Standmieten vergleichsweise niedrig ausfallen. Im Fall des Streetfood-Markts geht die Gestaltung im Gesamtkonzept der Veranstalter:innen auf. Problematisch sind die mangelnden finanziellen Mittel darüber hinaus vor allem in der Bewerbung der Veranstaltungen, auch hier wird auf die einzelnen Beteiligten und deren Möglichkeiten zurückgegriffen:
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Dm: »Weil die Stadt Bonn die Rechte zur Vermarktung von Werbeflächen an ein Unternehmen verkauft hat, müssen wir dann also bei der Firma nachfragen: Dürfen wir eine Werbefläche bei euch mieten? Und das ist richtig teuer, und das können wir uns nur begrenzt leisten. Deshalb haben wir das (Anm.: Werbematerialien) dann teilweise auch auf ein paar Flächen, ein paar wenigen verbliebenen Flächen, wo man also frei werben kann. Oder auch bei unseren Mitgliedern im Schaufenster, da kann man natürlich auch Plakate aufhängen, ne? Die sind dann also genehmigungsfrei. Aber das sind so die Schwierigkeiten, die die Behörden einem so in den Weg legen, mit denen wir auch umgehen müssen.« Y1: »Ja. Was ist denn das Ziel von solchen Veranstaltungen?« Dm: »Menschen von außerhalb von Bad Godesberg nach Bad Godesberg zu kriegen, und dadurch irgendwie auch wieder zu verbinden: Aha, guck mal hier gibt’s ja auch den Laden, und gibt’s das Angebot.« […] Y1: »Und das heißt, es geht aber schon hauptsächlich um Publikum von außen sozusagen, also nicht unbedingt um…« Dm: »Ja beides, ne? Die Bad Godesberger müssen sich wohlfühlen, und sollen nicht den Drang spüren, wir müssen jetzt nach Bonn oder nach Köln fahren, wir können also hier bleiben. Weil es ist ja erstmal ganz wichtig, das eigene Volk hier zu halten, und denen keine Plattform zu bieten, die sagen, in Bonn oder in Koblenz oder in Köln ist es schöner oder so, was es nämlich nicht ist. Weil man bekommt alles in Bad Godesberg, man muss nur wissen wo. Das ist so ähnlich wie mit Freibier, ne? (lacht) Keiner weiß wo, ja.« (Interview 03, Z. 424ff.)
Im Interview wird deutlich, dass trotz der Idee, auch auswärtiges Publikum anzulocken, durch die begrenzten Werbemöglichkeiten letztendlich doch vor allem Ortsansässige zu den Nutzer:innen der Feste zählen, was die These von Betz, Hitzler und Pfadenhauer, urbane Events richteten sich primär an lokales Publikum (s.o.), unterstützt. Für diese Größenordnung von Veranstaltungen kommt es deshalb besonders auf die Wahl des Gebietes an, in dem sie stattfinden. Ein Großteil des Publikums ergibt sich durch die dortige Laufkundschaft, durch zufällig vorbeikommende Passant:innen. Im Fall der Godesberger Fußgänger:innenzone handelt es sich um Anwohner:innen aus den umliegenden Wohngebieten, vereinzelt auch aus den Nachbargemeinden. Nur in geringem Maße reisen Besucher:innen von auswärts an, die zumeist schon zuvor eine persönliche Beziehung zu Bad Godesberg haben. Einzige Ausnahme bildet der Streetfood-Markt, der über social media-Kanäle ein erweitertes Publikum anspricht, das von der zwangsläufig begrenzten Werbung der anderen Feste weniger gut erreicht wird. Abweichend von dem häufig vertretenen Standpunkt, Stadtfeste zögen ein auswärtiges Publikum an und erweiterten die Aufmerk-
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samkeit für den jeweiligen Ort, lässt sich hier beobachten, dass das Publikum der Feste ungefähr der sonstigen Innenstadtnutzung entspricht, wenn auch etwas mehr Menschen als zu normalen Zeiten anwesend sind. Eine Besonderheit in den Sommermonaten ist in Godesberg der spezifische, auf die medizinische Infrastruktur im Bezirk ausgerichtete Tourismus. Diese Tourist:innen sind eine Gruppe unter den Nutzer:innen der Feste, deren Anwesenheit von der generellen Innenstadtattraktivität unabhängig ist, da sie aus anderen (medizinischen) Gründen nach Bad Godesberg reisen8 . Für das übrige Publikum gilt: Wer die Innenstadt nicht auch im Alltag nutzt, wird von den Stadtfesten wenig bis gar nichts mitbekommen. Eine Einschränkung ist jedoch außerdem auffällig: Die Stadtfeste sprechen nicht alle üblichen Nutzer:innen der Innenstadt in gleichem Maße an. Statt »multipler Anknüpfungspunkte« (Betz, Hitzler, und Pfadenhauer 2011, 13) wird bei allen Festen in der Godesberger Innenstadt zwar nicht zwangsläufig bewusst, aber dennoch aktiv einigen Nutzungsgruppen der Besuch erschwert. Dies hängt eng mit der räumlichen Gestaltung und Nutzung der Stadtfeste (Teilfrage 2) zusammen. Wie oben bereits auf den Kartierungen der Feste deutlich geworden ist (s. Abb. 12 und 16), sieht man sich als Besucher:in mit einer je nach Veranstaltung mal mehr, mal weniger bewusst gestalteten Lenkung konfrontiert. Der Fokus liegt auf dem Theaterplatz, als Wege dorthin werden die Verbindungsstraßen zum Bahnhof auf der einen und zum Einkaufszentrum (mit Parkplatz) auf der anderen Seite suggeriert. An der Stelle, wo die Zuwege die Längsachse schneiden, gelingt es nicht, beide Achsen zu verbinden. Die Laufkundschaft, die sich auf der Koblenzer Straße und an der zugehörigen Bushaltestelle bewegt, ändert nur in kleinen Teilen ihren Kurs. Sie wird dazu weder materiell noch symbolisch eingeladen, da auf der Kreuzung der beiden Achsen der Verkehrsweg für die Busse freigehalten wird und somit die Stände der Querachse (oder Hinweise darauf) nicht über die Längsachse hinweg führen. Die Passant:innen auf der Längsachse, die zum Publikum der Stadtfeste zählen könnten, werden damit nicht aktiv in die Veranstaltung eingebunden. Für diejenigen, die im Alltag mit der Straßenbahn oder mit dem Auto in die Innenstadt fahren, sind die Feste deutlich besser sichtbar als für Fahrradfahrer:innen und die Nutzer:innen von Buslinien, da diese sich vor allem auf der Längsachse bewegen. Die Querachse der Innenstadt wird in besonderem Maße von Alteingesessenen und Pensionär:innen genutzt (s. auch Teilkap. 2.3), um das Zentrum von Rhein- zu Hanglage und umgekehrt zu durchqueren. Gleiches gilt für die wohlhabenderen Familien, die in den entsprechenden Vierteln leben. Jugendliche und Personen ohne Auto, die aber nicht fußläufig wohnen, nutzen durch die Busanbindung vor allem die Längsachse, ebenso weniger wohlhabende Familien, da sich die günstigeren Einkaufs- und Wohngegenden nördlich und südlich des Zentrums erstrecken. Auswärtige und Büroangestellte nutzen beide Achsen, wobei Tourist:innen vor allem zu den 8
Siehe zum Stichwort ›Medizintourismus‹ auch Teilkap. 2.1
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Wochenendbesucher:innen zählen und die Angestellten eher unter der Woche unterwegs sind. Es deutet sich also an, dass durch die Ausrichtung der Feste auf der Querachse deren hauptsächliches Publikum mehr angesprochen wird als diejenigen, die sich zwischen den nördlichen und südlichen Teilen Godesbergs bewegen. Auf dem Gebiet der Feste selbst wird die Anregung aufgenommen, entlang der vielen einzelnen Stände durch die Fußgänger:innenzone zu spazieren. Längere Aufenthalte sind grundsätzlich besser möglich als zu anderen Zeiten in der Innenstadt, da die Anwesenheit von ›Schaulustigen‹ hier einen eindeutigen Grund und damit eine klare Berechtigung hat. Durch die räumliche Gestaltung wird beim Streetfood-Markt in extremer, bei den anderen Festen in abgeschwächter Form aber auch deutlich, dass der Fokus auf kommerziellen Aktivitäten liegt und nachrückenden Passant:innen somit Platz zu machen ist. Eine günstige Ausstiegsmöglichkeit bieten Außensitzbereiche von Cafés und Bäckereien, eine teurere die Sitzgelegenheiten einzelner Stände. Problematisch an den wenigen neutralen (also nicht kommerziell eingebundenen) Sitzmöglichkeiten ist, dass bei geringem Durchlaufverkehr schnell ein Eindruck von Leere entsteht, der damit auch das Hinsetzen und Beobachten in den angrenzenden Cafés wenig attraktiv macht. Darüber hinaus werden die anliegenden Geschäfte entgegen der Ziele der Organisator:innen vom Publikum der Feste wenig genutzt. Das Grundsatzproblem der hohen Konkurrenz zu nahen Innenstadtbereichen wie im Bonner Zentrum oder in Köln lässt sich also durch Sonderveranstaltungen nicht aus der Welt schaffen. Insgesamt zeigt sich, dass die Nutzung der Feste hauptsächlich in Form der üblichen Innenstadtnutzung abläuft, die einzige Ausnahme im Sinne eines wirklich außergewöhnlichen Events bietet der Streetfood-Markt mit regionalen Gästen. Aus planerischer Perspektive ließen sich hier nun Möglichkeiten der Modifikation in der Organisation, der Zielsetzung und der Ausrichtung der Feste bezeichnen. In meinem Interesse liegt es jedoch, stattdessen die tatsächlichen, teils geplanten, teils ungeplanten Folgen für die Arten von Begegnungen zwischen Unbekannten und oberflächlich Bekannten im innerstädtischen Raum zu untersuchen (Teilfrage 3). Die Zielsetzung der Stadtfeste, so ist deutlich geworden, betrifft kurzfristig die Erhöhung des Umsatzes des lokalen Einzelhandels und der angereisten Schausteller:innen, mittelfristig die Steigerung der Attraktivität des Innenstadtbereichs für Anwohner:innen in Konkurrenz zu nahegelegenen Innenstädten (Bonn/Köln) und langfristig die Bekanntmachung auch über Bonn hinaus, um Tourist:innen und alltägliche Nutzer:innen aus dem Umland anzuziehen. Die Ziele sind, den Interessen der aus dem wirtschaftlichen Bereich stammenden Akteur:innen entsprechend, hauptsächlich kommerzieller Art. Für eine anders gelagerte Zielsetzung (z.B. die Erhöhung der Attraktivität von Bad Godesberg als Wohngebiet) wären andere Akteur:innen, zum Beispiel aus der Kommunalpolitik oder aus Anwohner:inneninitiativen verantwortlich. Es geht also nicht um eine Repräsentation multipler alltags-
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kultureller Realitäten im Stadtbezirk, sondern eher um eine Innenstadtvermarktung. Was bedeutet diese spezifische Form der Stadtfeste nun für die Formen der Begegnung, die sich hier abspielen? Wie wirken sich die primär kommerzielle Zielsetzung, die Gebietsauswahl der Querachse sowie die damit verbundene Zusammensetzung der Nutzer:innen auf die Praktiken und Interaktionen auf den Stadtfesten aus? Eine bereits angedeutete Folge zeigt sich darin, dass vor allem Jugendliche und weniger wohlhabende Familien kaum auf den Stadtfesten zu sehen sind. Eine Sozialarbeiterin beschreibt dies insbesondere für den Fall des Streetfood-Marktes über die erschwerte infrastrukturelle Zugänglichkeit hinaus auch als Konsequenz des Preisniveaus: Gf: »Also ehrlich gesagt glaube ich, denen ist das alles zu teuer. Also das ist immer das große Problem, ne? Also dass natürlich so Streetfood-Wagen dann ja auch dementsprechende Preise haben, weil sie ja auch meistens eine gute Qualität verkaufen, und das können die sich halt meistens nicht leisten. Also wenn, dann wäre das höchstens mal so eine Ausnahme, da was zu holen. Beim Weihnachtsmarkt so ein bisschen, vielleicht. Da würde ich sagen, dass sie da schon ein bisschen Zeit verbringen. Aber Stadtfeste, Straßenfeste, da ist es sehr wenig.« (Interview 06, Z. 235ff.) Unabhängig davon, was das für die Abwesenden im Einzelnen bedeutet, hat diese Unsichtbarkeit auch vor Ort direkte Auswirkungen auf die Anwesenden: Jugendliche und weniger Wohlhabende treten nicht als übliche Nutzer:innen der Innenstadtbereiche (hier definiert als die Querachse) in Erscheinung. Diesen Aspekt möchte ich im folgenden Teilkapitel unter dem Stichwort der getrennten Praktiken noch einmal aufnehmen. Doch nicht nur Abwesenheiten bestimmen die esskulturellen Nutzungspraktiken vor Ort: Für religiöse Personen, die sich ungerne in direkter Nähe zu Orten aufhalten, an denen Alkohol konsumiert wird, sind die Feste zwar grundsätzlich gut zugänglich, jedoch verlangt dieses Unbehagen ihnen ein schnelleres Durchschreiten der Veranstaltungsbereiche ab: Im Außensitzbereich vom Eiscafé Massimo sind alle Plätze voll (ohne Ausnahme) und desgleichen gibt es viel Kundschaft bei Eiscafé Incontri. Ich sitze auf der Bank neben der ersten Bühne, neben mir ist ein Mann um die 50, er wirkt durch die Hautfarbe auf mich wie ein Mediterraner. […] Der Mann neben mir auf der Bank verlässt seinen Platz, als ein mit einem Glas Bier in der Hand laufender deutscher Mann zwischen uns sitzt. Wahrscheinlich verträgt er den Geruch nicht. Dem Publikum oder der großen Masse
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vor der Bühne fehlen die alten Frauen und Männer, ich schätze mal, weil sie häufig zu sehen sind vor den Verkaufsständen. Sie stellen die Mehrheit der Käufer dar, wenn nicht die einzigen Käufer. (FP 20.09.2019, Ali, Z. 22ff.)
Die Erschwerung längerer Aufenthalte hat im Auftreten alkoholvermeidender Personen zur Folge, dass ihre Nutzungspraktiken in Form von einem schnelleren Durchschreiten anstelle eines längeren Aufenthaltes mit Sitzpausen an wechselnden Orten sich deutlich von denen der alkoholkonsumierenden oder dazu indifferenten Personen abheben. Religiöse und aus anderen Gründen alkoholvermeidende Anwohner:innen Godesbergs nutzen die Feste damit ähnlich wie Tourist:innen aus muslimisch geprägten Staaten, womit der Alkoholkonsum neben dem Preisniveau und der Gebietsauswahl eine entscheidende Rolle in der Ausformung verschiedener Begegnungssituationen erhält. Betrachtet man die vorgestellten Godesberger Stadtfeste als Fallbeispiele, wird deutlich, dass es eine dritte Möglichkeit der Einbettung solcher Veranstaltungen in Innenstadtbereiche neben dem zentralisierten Marketing-Event für externes Publikum oder dem selbstorganisierten Nachbarschaftsfest geben kann. Diese dritte Möglichkeit besteht in der Form ressourcenarmer Veranstaltungen, organisiert durch eine kommerziell bestimmte Interessensgemeinschaft, die vollumfänglichen Repräsentationsansprüchen eines ganzen Stadtbezirks nicht gerecht werden kann. Die mikrosoziologisch beobachtbaren Begegnungen auf solchen Veranstaltungen entsprechen ungefähr auch der üblichen Innenstadtnutzung, da das Publikum in weiten Teilen das gleiche ist – wenn auch in etwas geringerer Dichte. Zu den drei Teilfragen dieses Kapitels lassen sich drei Aspekte zusammenfassend festhalten: Erstens sind auf den Festen vor allem kommerzielle Akteur:innen und einerseits eher wohlhabende Nutzer:innen der Querachse der Fußgänger:innenzone, andererseits Tourist:innen gleichzeitig anwesend. Dies sind also die Gruppen, in und zwischen denen Kopräsenz im Sinne Goffmans verhandelt wird. Zweitens ist der Begegnungsraum auf den Stadtfesten so gestaltet, dass unterschiedliche Bewegungsprofile entstehen. Entweder wird die Fußgänger:innenzone recht schnell durchschritten, was durch die Anordnung der Stände und To Go-Essen erleichtert wird, oder es werden Sitzmöglichkeiten für längere Aufenthalte genutzt. Die Bewegungsprofile sind vor allem von der Frage des Alkoholkonsums sowie von ökonomischen Ressourcen bestimmt. So spielen sich zwischen alkoholkonsumierenden und -vermeidenden Personen sowie zwischen Personen unterschiedlicher ökonomischer Ausstattung Begegnungen (wenn überhaupt) mit höherer Distanz ab als innerhalb dieser Gruppen. Drittens ergibt sich als vermutlich ungeplante Folge der organisationalen und physischen Gegebenheiten der Stadtfeste, dass spezifische Gruppen möglichen Publikums (insbesondere Jugendliche, weniger Wohlha-
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bende und Nutzer:innen der Längsachse der Fußgänger:innenzone) kaum bis gar nicht angesprochen werden. Das ausgeschriebene Ziel der Steigerung der Innenstadtattraktivität wird damit sowohl für kommerzielle Akteur:innen als auch für Anwohner:innen nur bedingt erreicht. Eine umfassende Repräsentationsfunktion für den Bezirk erhalten die Feste in jedem Fall nicht. Zu den Folgen dieser Gegebenheiten zählen erstens die hohe Wahrscheinlichkeit von Begegnungen oberflächlich Bekannter aus den wohlhabenderen Wohngebieten, zweitens die distanzierte Kopräsenz von Personen mit unterschiedlichen Bewegungsprofilen sowie drittens die Abwesenheit (und damit aus Perspektive der Anwesenden die Unsichtbarkeit) einiger eigentlich erwartbaren Nutzer:innengruppen des Innenstadtbereichs. Abstrahiert man nun von den beschriebenen Fallbeispielen, ergeben sich unterschiedliche Formen von Nutzungspraktiken und damit auch Begegnungssituationen in innerstädtischen Bereichen, die grundsätzlich als öffentlich zugänglich gelten, dennoch aber von kommerziellen Akteur:innen maßgeblich mitgestaltet werden.
4.3 Wirtschaft, Nachbarschaft und Segregation Im Alltag in der Godesberger Innenstadt, so ist an den Beispielen der Stadtfeste deutlich geworden, werden grundsätzlich öffentlich zugängliche Räume durch kommerzielle Akteur:innen temporärer oder konstanter Art bestimmt. Neben dem Einkaufen und Spazieren haben Nutzer:innen zahlreiche Möglichkeiten zum Essen unterwegs oder in äußeren Sitzbereichen im Freien. Der gastronomische Bereich des kommerziellen Angebots wird auf allen Festen in besonderem Maße (deutlich mehr als der Einkauf im lokalen Einzelhandel) genutzt. Esskulturelle Situationen bilden damit einen Großteil der Nutzungspraktiken. Als stark körperbetonte Praxis ist das wie schon angedeutet aus Goffman’scher Perspektive ein Bereich alltagskulturellen Konsums, der in besonderem Maße auf die Grenzen der Territorien des Selbst verweist. Diese Grenzen sind in einer vollen Innenstadt dauerhaft bedroht, sodass Grenzüberschreitungen üblicherweise durch leibgebundene Kundgabe der gegenseitigen Achtung vermieden, oder – sind sie unvermeidbar – erklärt werden. Kopräsenz setzt in der Begriffsverwendung Goffmans stets eine gegenseitige Wahrnehmbarkeit voraus, hier also die gleichzeitige Anwesenheit in dem durch den Veranstaltungsaufbau begrenzten Raum der Fußgänger:innenzone. Dass die unterschiedlichen Begegnungen innerhalb eines solchen Kontextes der Kopräsenz wechselnder Personen nicht erschöpfend durch das Bild eines blasierten Überkreuzens voneinander unabhängiger Wege beschrieben werden können, ist bereits deutlich geworden. Deshalb stelle ich im Folgenden mögliche Formen von Praktiken vor, die anhand der Beispiele von Situationen esskultureller Nutzungspraktiken ein nuancierteres Unterscheiden von Begegnungen im innerstädtischen
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Raum erlauben. Abgeleitet aus dem hier eingeführten Rahmen der Stadtfeste gehe ich genauer auf Praktiken kommerzieller Interaktion, Parallelpraktiken und getrennte Praktiken ein. Ähnlich wie im direkten Austausch und in hoher Nähe wie in den Fällen der Kochtreffs (Kap. 3) stellt sich auch hier die Frage, inwieweit ein gegenseitiges Verständnis und der routinierte Ablauf solcher Praktiken erschwert wird, je diverser die Kontexte der sich begegnenden Personen sind – und in welcher Form das für den Innenstadtbereich Bad Godesbergs relevant ist.
Praktiken kommerziell vermittelter Interaktion Entsprechend der Ziele der Organisator:innen ist zunächst offensichtlich, dass ein Großteil der Begegnungssituationen zwischen oberflächlich Bekannten und Unbekannten von Praktiken der kommerziellen Interaktion bestimmt ist. Damit meine ich Praktiken, die eindeutig auf den Zweck des Kaufs oder Verkaufs, hier vor allem von kulinarischen Produkten, ausgerichtet sind. Man könnte nun meinen, derartige Praktiken liefen weitestgehend nach funktionalen Mustern ab und außer der rationalisierten Organisation der Produktauswahl und dem Zahlungsvorgang gebe es nicht viel zu beobachten. Dagegen sprechen zwei Argumente: Erstens sind die Übergänge zu anderen Formen von Praktiken fließend und zweitens verweisen Praktiken kommerzieller Interaktion stets auch auf allgemeinere Aspekte alltagskultureller Konsumpraktiken. Den ersten Punkt betreffend möchte ich an das dritte Kapitel erinnern: Bereits anhand des Typs der Praktiken persönlicher Interaktion wurde deutlich, dass beispielsweise die Interaktion zwischen Stammkund:in und Wirt:in sich in einer Übergangszone zwischen persönlicher und kommerzieller Beziehung bewegen. Zwar treten in einer Verkaufssituation an einem Imbissstand persönliche Beziehungen und Identitäts- oder Wertvorstellungen zunächst hinter die kommerziell bestimmten Praktiken zurück. Auf dem eher schlecht besuchten Weihnachtsmarkt käme kein:e Verkäufer:in auf die Idee, unter seinen:ihren möglichen Kund:innen nur diejenigen zu bedienen, die er:sie persönlich kennt oder mit denen er:sie dem äußeren Auftreten nach eine persönliche Beziehung eingehen würde. Wenn in der Behandlung verschiedener Kund:innen Unterschiede gemacht werden, muss das dementsprechend vor den übrigen Anwesenden legitimiert werden (zum Beispiel durch das gegenseitige Ansprechen als gut Bekannte mit Vornamen, Verwandtschaftsbezeichnungen, Verweise auf weitere Treffen etc.). Und dennoch können sich nicht nur zwischen Wirt:in und Stammkund:in, sondern auch zwischen angereisten Verkäufer:innen und lokalem Publikum Praktiken persönlicher und kommerzieller Interaktion überschneiden. Da die Godesberger Innenstadt der Größe und der Besucher:innenanzahl nach selbst zu besonderen Anlässen wie den Stadtfesten nie die anonyme Gedrängtheit großstädtischer Innenstadtberei-
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che erreicht, kann man als Nutzer:in nicht ganz eindeutig abschätzen, welcher Formalitätsgrad eine:n im Austausch mit einem:r Verkäufer:in erwartet. Berücksichtigt man nun die Frage, welche Folgen dies unter Bedingungen von hoher Diversität im Publikum einer Innenstadt hat, ergibt sich das zweite Argument: Gerade kulinarische Konsumpraktiken im Freien eröffnen auch in stark kommerziell geprägten Kontexten Fragen nach Wertvorstellungen und nach individueller und kollektiver Identität. Anschließend an die praxeologischen Arbeiten Pierre Bourdieus (1984 [1979]) zu kulturellem Kapital weist Michael Parzer darauf hin, dass die Nutzung von Lebensmittelgeschäften, die von ihrem Publikum als ›migrantisch‹, ›ethnisch‹ oder ›ausländisch‹ gedeutet werden, häufig von tiefer liegenden, identitätsbildenden Konsumvorstellungen bestimmt sind: Denjenigen, die Parzer als »exceptionality«-Käufer:innen (Parzer, Astleithner, und Rieder 2016, 27) typisiert, liegt die Spezifizität der Produkte und dem dazugehörigen Wissen am Herzen, sie erwarten höhere Qualität und Originalität und das Einkauf-Erlebnis wird anhand von ethnischen Markern positiv bewertet (s. auch Teilkap. 1.2). Anhand derartiger Fallstudien wird deutlich, dass beim Kauf von Lebensmitteln mehr als der Preis und die Auswahl des Nahrungsmittels verhandelt wird. Gastronomische Konsumpraktiken sind Teil von Identitätskonstruktionen, und damit auch von alltagskulturellen Abgrenzungsmechanismen. Besonders im Kontext von hoher Diversität kann der Ausdruck kosmopolitischen Konsums, auch als »cultural mobility« (Emmison 2003) bezeichnet, zum kulturellen Kapital im Sinne Bourdieus werden. Selbst bei kurzen, kommerziellen Interaktionen wie beispielweise dem Erwerb eines To Go-Gerichts an einem Imbissstand mit einer langen Schlange Wartender und der Aufforderung zum schnellen Weitergehen werden durch die Konsumpraktiken und -entscheidungen Fragen der Identitätsverhandlung aufgemacht. Zwischen Verkäufer:in und Käufer:in wird das in der kommerziellen Interaktion dann besonders relevant, wenn die direkte Interaktion zwar (durch Effizienzerfordernisse und wartende Kund:innen) unter Zeitdruck, der Konsum des Produkts (in dem Fall der Verzehr) aber noch in sichtbarer Nähe zum:r Verkäufer:in geschieht. Eine beispielhafte Situation für die Beziehung zwischen persönlicher Identität und kommerzieller Interaktion beschreibt ein Verkäufer, dessen Imbissstand sowohl Teil der Stadtfeste als auch des täglichen Angebots auf der Querachse der Innenstadt ist. Er erläutert seine Wahrnehmung von Kund:innen, die zu medizinischen Zwecken aus arabischsprachigen Regionen in Godesberg zu Gast sind – seinem Vokabular nach »Medizintouristen«9 :
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Zum Begriff des Medizintourismus s. genauer Teilkap. 2.3.
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Cm: »Sie wollen alle doppelt viel Nutella haben, das ist also unfassbar. Das will also kein Deutscher oder kein anderer aber die: Double, double chocolate, make double chocolate. Kostet dann auch mehr Geld, aber die wollen da wirklich Nutella mit Crêpe haben und nicht Crêpe-Nutella. Also es ist wirklich so, wenn die Araber in der Stadt sind, da habe ich einen ganz anderen Nutellaverbrauch. Das ist also auch extrem, es kann nicht süß genug sein, ne? Am liebsten noch Nutella mit Zucker drauf, also das sind Sachen, da kommt kein Mensch drauf, was die sich da wünschen, das ist unfassbar. Oder Kinderriegel mit Nutella, es sind Sachen, die so mächtig sind, das könnte kein normaler Mensch essen sowas, aber die lieben es anscheinend ganz süß.« Y1: »Und Sie kommunizieren dann auf Englisch, ne? Das klappt auch?« Cm: »Und teilweise ein bisschen Arabisch, da bin ich ganz stolz drauf, dass ich ein bisschen Arabisch gelernt habe. Dass ich weiß, Zahlen von eins bis zehn, was es kostet, guten Tag, auf Wiedersehen, und was sie haben wollen, wie das alles heißt, was ich anbiete, das ist aber auch schon alles.« Y1: »Und wie sind da so die Reaktionen drauf? Ist ja eher ungewöhnlich.« Cm: »Die einen filmen mich und finden das total super und toll und klasse und wollen das unbedingt im Video festhalten, als Souvenir von Bad Godesberg, da spricht einer ein bisschen Arabisch, hurra. Und manche, ja, die missachten das total, ne? Oder fangen dann demonstrativ an, Englisch zu sprechen, OK, ist also unerwünscht, dass man mal ein Wort Arabisch spricht, dann schwenke ich auf Englisch um, natürlich, klar.« Y1: »OK. Aber dass man da mal in’s Gespräch kommt irgendwie?« Cm: »Ein bisschen schon, doch, es gab zum Beispiel schon eine Einladung nach Dubai, also es gibt sehr, sehr nette Leute darunter, also sehr gastfreundlich und sehr aufgeschlossen und interessiert. Es gibt auch ganz viele arrogante, leider, die noch nicht mal guten Tag sagen, also die kommen hin und sagen Nutella, also noch nicht mal…sie können ja auch auf Englisch vielleicht mal irgendwas Nettes sagen, also guten Tag oder irgendwas. Oder ein Bitte oder ein Danke ist manchen total fremd. Fällt auch wiederum auf, es ist so eine Welt der Extreme würde ich sagen, ne? Zwischen extrem freundlich und aufgeschlossen bis hin zu…ja, von oben herab, ne? So wie zum Dienstboten. Aber ja.« (Interview 03, Z. 294ff.)
Seiner Wahrnehmung nach (die von den oben beschriebenen Exklusivitäten der Querachsenzugänglichkeit mitbestimmt ist) lässt sich die Gruppe der ›Medizintourist:innen‹ anhand ihrer Konsumpraktiken deutlich von seinen anderen Kund:innen unterscheiden. Die betonte Gegenüberstellung von ›uns‹ und den ›Anderen‹ wird deutlich, denkbare Differenzierungen werden ausgeblendet und führen beim Verkäufer zu einem Gefühl von Missachtung seiner Anstrengungen. Er beschreibt im Interview weiter, dass er sich persönlich angegriffen fühlt, wenn sein Crêpe nach einem Biss in den nächsten Mülleimer geworfen wird – unabhängig davon,
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dass er zuvor einen von ihm selbst bestimmten, angemessenen Preis dafür gezahlt bekommen hat. Ein ähnliches Missachtungsgefühl beschreibt er im Zitat in Bezug auf seine Arabisch-Kenntnisse. Es ist gut vorstellbar, wie der Crêpe-Verkäufer die nächste Person in der Schlange seiner spontanen Zuschreibung nach auf Hocharabisch mit deutschem Akzent anspricht, die Person ihn nicht versteht (durch Sprache, Dialekt, Akzent oder Lautstärke) und auf Englisch wechselt. Von nun an wird der:die Kund:in durch den Eindruck der Missachtung beim Verkäufer kühler behandelt. Durch die weiteren wartenden Kund:innen und die kommerzielle Rahmung erhält diese beidseitige kleine Verletzung keine Gelegenheit zur Klärung. Statt Mikrokonflikte zu vermeiden, werden sie innerhalb Praktiken kommerzieller Interaktion eher durch Zeit- und Effizienzdruck abgebrochen. Wenn nun der Crêpe durch die schwierige Verständigung nicht der Bestellung des:r Kund:in entspricht und der Verkäufer beobachtet, wie sein Produkt weggeworfen wird, scheiden beide Parteien aus der beschriebenen Situation mit einer Verletzung des Goffman’schen Territorium des Selbst. Im Falle des Verkäufers erstreckt sich dieses Territorium kurzzeitig auf das von ihm zubereitete Gericht, er nimmt das Wegwerfen persönlich. Umgekehrt würde das gezwungene Essen eines nicht der eigenen Bestellung nach zubereiteten Gerichts von einem als unfreundlich wahrgenommenen Verkäufer die Grenzen des:r Kund:in nicht wahren. Aber auch da, wo Konflikte erfolgreich vermieden werden, wird deutlich, dass sich innerhalb der kommerziellen Praktiken persönliche Interaktionen abspielen können. Ohne die Verpflichtung auf den Ausbau der persönlichen Beziehung oder die Wiederkehr des:der Kund:in zeigt das Zitat, dass man Einladungen aussprechen kann, ohne wirklich von deren Einlösung auszugehen; dass Fotos und Videos als Souvenir gemacht werden können, ohne dass die persönlichen Grenzen des Verkäufers und die praktischen Grenzen der kommerziellen Interaktion überschritten werden. Dafür ist entscheidend, dass der freundliche Austausch innerhalb der kommerziellen Praktiken nicht zu lang wird. Das materielle Erfordernis des kurzen Wartens, während der Crêpe frisch zubereitet wird, bietet den Rahmen dafür. Neben dem Anziehen von Schaulustigen ergibt sich damit eine weitere Funktion des öffentlich einsehbaren Zubereitens der To Go-Gerichte: Der Zeitrahmen der Zubereitung, der Teil der kommerziellen Praktiken ist, kann für kleine Einschübe der persönlichen Interaktion genutzt werden, ohne den Ablauf ins Stocken zu bringen oder wartenden Kund:innen den Eindruck zu vermitteln, sie würden durch andere aufgehalten. Zum Typ der Praktiken kommerzieller Interaktion lässt sich festhalten, dass sie grundsätzlich nah an den Praktiken persönlicher Interaktion (wie in Kap. 3 beschrieben) zu verorten sind. Primär persönliche Interaktionen werden normalerweise im Konsens aufgelöst und lassen eine potenzielle Wiederholbarkeit dadurch erwarten, dass der:die Verkäufer:in (wie die in Kap. 3 beschriebenen Wirt:innen) stets zur gleichen Zeit am gleichen Ort anzutreffen ist. Für Praktiken kommerzieller Interakti-
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on gilt das hingegen nicht, sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur temporär eingerichtet sind und tendenziell unter Zeit- und Effizienzdruck stehen. Entweder kann das beide Seiten überfordern oder es kann zum routinierten Umgang führen, zumindest, wenn kein direkter Bezug zur eigenen Persönlichkeit zu vermuten ist. Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, dass ihnen im öffentlichen Raum selten etwas vorgeworfen wird, beziehen den genervten Ton eines:r Kassierers:in im Supermarkt vermutlich weniger auf sich selbst, als wenn der:die üblicherweise freundliche Wirt:in der Stammkneipe einen solchen Ton anschlägt. Wird man im Alltag hingegen oft mit Konflikten, Vorwürfen oder Schuldzuweisungen konfrontiert, liegt die Vermutung näher, dass auch der:die Kassierer:in nicht auf lange Arbeitszeiten oder die Kolleg:innen, sondern auf eine:n selbst negativ reagiert.10 Dadurch ergibt sich, dass Praktiken kommerzieller Interaktion wie die Produktauswahl, das Zubereiten, das Verkaufsgespräch und das Bezahlen nicht nur oben genannte, klassenspezifische Wertvorstellungen transportieren. Sie eröffnen zugleich Situationen, in denen Praktiken persönlicher Interaktion enthalten sein können. Auch hier gilt, was in Kapitel 3 bereits beschrieben wurde – verschiedene Arten von Praktiken überlagern sich. Im Vokabular Goffmans gesprochen: Es werden auch in Verkaufssituationen die Grenzen der Territorien des Selbst und des Umgangs damit verhandelt. Dabei kann die Deutung beider Parteien stark voneinander abweichen. Im Falle eines Konflikts findet man normalerweise durch den Effizienzdruck der kommerziellen Rahmung jedoch nicht zu einem Konsens. Hier lässt sich dann viel eher von einem Nicht-Gelingen (s. Teilkap. 3.3) der in eine kommerzielle Interaktion eingebundene Praktik persönlicher Interaktion sprechen, als im Falle eines Konflikts während des gemeinsamen Ausübens geteilter Praktiken.
Parallelpraktiken Auch wenn kommerzielle Interaktionen auf den Stadtfesten und auch generell in Innenstädten die offensichtlichste Nutzungsmotivation darstellen, findet ein Großteil der Begegnungen mit höherer zeiträumlicher Distanz als zwischen Käufer:in und Verkäufer:in statt. Diese Art der Begegnungen, die ich im Folgenden als Parallelpraktiken bezeichne, entspricht ungefähr den Situationen, die auch Goffman ausführlich beschreibt, beispielsweise in Bezug auf die Regeln des Fußgänger:innenverkehrs (s. 1974a, 30ff.) oder des Grüßens (s. ebd., 118ff.). Mit Parallelpraktiken fasse ich aber auch solche, bei denen im Gegensatz zu dem Einander-Ausweichen
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Goffman (1974a) behandelt diese unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten unter dem Stichwort des »Problem[s] der Bezogenheit«. Die Unterscheidbarkeit von zufälligem und beabsichtigtem Handeln Unbekannter sei für die empfundene Sicherheit des Individuums grundlegend, da damit die Identifizierung von auf das Selbst Bezogenem ermöglicht wird (s. ebd., 405ff.).
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auf dem Bürger:innensteig oder dem knappen Nicken zum Gruß keine Zeichen der gegenseitigen Wahrnehmung gesendet werden können oder müssen. Beim Essen unterwegs ist dafür einerseits weniger Aufmerksamkeit vorhanden, als wenn man ausschließlich mit dem Gehen in einer vollen Fußgänger:innenzone beschäftigt ist. Andererseits wird die Körperlichkeit der Esspraktik offensichtlich und das gegenseitige Ignorieren wird damit aufwendiger. Auf den Stadtfesten wird deutlich, dass die meisten Begegnungen sich durch ein Nebeneinander Unbekannter ergeben. Noch deutlicher als im Alltag in einer Fußgäner:innenzone ist zu erwarten, dass man gemeinsam mit anderen gleichzeitig anwesend ist, ohne dass das eine aktive Zugewandtheit erfordert. Es scheint legitim, sich nebeneinander aufzuhalten, ohne durch das Näher-Treten oder Weggehen entweder eine direkte Interaktion einleiten oder abwehren zu müssen – die Möglichkeit dazu besteht jedoch. Parallelpraktiken machen also Situationen aus, in denen einander Unbekannte sich nicht zwangsläufig bewusst gewählt, aber als legitim anerkannt im gegenseitigen Wahrnehmungsbereich aufhalten. Ein Beispiel ist das unbeteiligte Mithören von Gesprächen, das sich in der im Folgenden beschriebenen Situation dadurch ergibt, dass ich in ausreichender Nähe eines Verkaufsstandes stehen bleibe, um nicht als wartende Kundin angesprochen zu werden, sondern eher als vage an den Produkten interessierte Passantin auftrete: Richtung Fronhof sind weniger Besucher:innen unterwegs. Am Stand für marokkanischen Tee beobachte ich, wie die arabischsprachige Verkäuferin vor dem Stand stehend mit einer Gruppe Frauen verhandelt und ihnen die Produkte präsentiert. Die Frauen tragen Niqab. Gleichzeitig lädt der zweite Verkäufer auf Deutsch alle vorbeigehenden Besucher:innen zum Probieren der Tees ein, was zu einem großen Andrang am Stand führt. Der Verkäufer führt gleichzeitig mehrere Verkaufsgespräche, darunter eines mit einem dem Dialekt nach britischen Rentner (ehem. Diplomat?!) und einer Jugendlichen in einem hellen Chador, die deutsche Erstsprachlerin scheint. Sie möchte eine aufwendig verzierte Teekanne kaufen, denkt aber darüber nach, ob es ihr zu teuer ist, der Verkäufer bietet ihr schließlich einen Rabatt an. Beim Gespräch über das Teesieb empfiehlt ihr eine Rentnerin, im benachbarten Teehaus nachzusehen, der Verkäufer weist darauf hin, dass in der Kanne bereits ein Sieb eingebaut ist. Die Jugendliche entschuldigt sich mit dem Hinweis, dass sie noch nie selbst schwarzen Tee zubereitet hat. Die andere Verkäuferin bittet auf Deutsch darum, der Frauengruppe einen guten Preis zu machen, der Verkäufer antwortet die Augen verdrehend: »Wir sind hier in Deutschland, ich bin gut integriert.«, was scheinbar deutlich machen soll, dass an seinem Stand nicht gehandelt wird. Die Frauengruppe bekommt schließlich aber doch einen Rabatt von der Verkäuferin. Verkäufer und Frauengruppe sprechen nicht direkt miteinander, die Verkäuferin übernimmt die Vermittlung und Übersetzung. […]
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Das Teekannen-Gespräch wirkt auf mich, als versuche die Jugendliche, über die Teekanne einen Teil dessen in ihren Alltag zu integrieren, was sie als kulturell ihrer (neuen?) Religion zugehörig betrachtet – schwarzen Tee aus einer marokkanischen Teekanne trinken – wobei sie aber Feinheiten der Zubereitung nicht kennt, dass nämlich dafür laut Verkäufer kein Teesieb nötig ist, sondern der Tee lose in die Kanne gegeben werden kann. (FP 14.09.2018, Brill, Z. 62ff.)
Zahlreiche Parallelpraktiken sind Teil der hier beschriebenen Situation. Nicht nur ich selbst trete unbeteiligt auf und bleibe dennoch in der Nähe, auch die verschiedenen Käufer:innengruppen akzeptieren sich nebeneinander, ohne sich allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Bedingung dafür ist die nötige Distanz, damit die eigenen primären Praktiken, die hier mit Verkauf und Verhandlung vor allem solche kommerzieller Art sind, nicht gestört werden. Das Probieren des Tees bietet außerdem die Legitimierung, in recht hoher Nähe zum Stand und damit auch zu den anderen Kund:innen stehen zu bleiben. Die direkten Interaktionen zwischen der Verkäuferin und dem Verkäufer dienen dazu, die parallelen Gruppen zu koordinieren. Zwischenzeitlich sprechen sie leise Dinge ab und unterstützen sich in der Vorbereitung der Produkte und der Zahlung. Dann wieder richtet sich der Verkäufer vage an das gesamte (deutschsprachige) Publikum, wie mit der unwilligen Antwort auf das Rabattangebot der Verkäuferin für die Frauengruppe, sie seien hier in Deutschland. Dennoch bietet er selbst auch Rabatte an. Es geht in der Aussage also weniger um den Inhalt, sondern darum, die Unterbrechung seiner eigenen Verkaufsgespräche abzuwenden und damit die verschiedenen Gruppen in ihrer Parallelität weiter zu erhalten. Seine Rolle erinnert an die Figur des »public characters« (Jacobs 1961, 63ff.), auf die ich in Bezug auf Praktiken persönlicher Interaktion in Teilkapitel 3.3 bereits eingegangen bin. Nun geht es mir jedoch eher um die Praktiken des Nebeneinanders der Kund:innen, als die des Verkäufers. Der Umgang der einzelnen Gruppen miteinander ist bemerkenswert, da sie sich gegenseitig keine Zeichen von Beachtung senden. Dies ergibt sich beispielsweise dadurch, dass sie einander innerhalb der Gruppe zugewandt (und damit von den anderen abgewandt) am Stand stehen. Für die einzelnen Kund:innen ist diese Haltung nicht möglich. Die Jugendliche und der Rentner wenden sich stattdessen den Produkten und den kleinen Plastikbechern zum Probieren zu und signalisieren damit die desinteressierte Akzeptanz der anderen Anwesenden. Bei Einzelpersonen kommen teils Praktiken persönlicher Interaktion zustande, wie im Falle des Hinweises der ebenfalls anwesenden Rentnerin zum Teesieb. Das unvermeidliche Mithören des fremden Verkaufsgesprächs, begleitet durch die unübersehbare Körperlichkeit beim Teetrinken, das notwendig mit Bewegungen, Gerüchen und sogar Geräuschen (dem Schlürfen) verbunden ist, wird damit explizit gemacht und durch ein Hilfsangebot
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entschärft. Auch hier zeigt sich, dass Formen von Praktiken mit höherer Nähe Teil einer übergeordneten, distanzierten Praktik sein können. Geordnet werden diese Einschübe am Teestand vor allem durch die Zuwendung und Abwendung des Körpers sowie des etwas näher und wieder weiter Wegtretens. Der Einschub zum Teesieb durch die Rentnerin wird durch die Jugendliche nach einer freundlichen, Dank ausdrückenden Reaktion mit einem Abwenden von ihr hin zum Verkaufsstand beendet, wobei nun für beide Seiten explizit ist, dass das nebeneinander Stehen (und Teetrinken) akzeptiert wird und auf keiner Seite ungewollt Grenzen überschritten werden. Ähnlich wie Jane Jacobs (s.o.) beschäftigt sich auch Ash Amin (2012) mit der Frage der zunächst räumlichen »togetherness« (ebd., 57), oder, näher an der Goffman’schen Terminologie, den »affects of co-presence« (ebd., 60) in der städtischen Öffentlichkeit. Amin stellt fest, dass die Kopräsenz von Unbekannten ein Charakteristikum innerstädtischer Bereiche ist und so stets aufs Neue die affektive Nähe und Distanz zwischen Fremden zu verhandeln ist. Die Stadt produziere »visible strangers« (ebd.), deren gegenseitige Wahrnehmung unter anderem körperlich, kulturell und technisch eingebunden sei. Der alltägliche Umgang mit diesen sichtbaren Unbekannten könne dazu führen, dass das Zusammenleben von der »habit of seeing the strange as familiar« (ebd., 75) bestimmt werde. Diese Art der »convivality« (ebd.), die Amin beschreibt, erinnert im Ergebnis an Simmels Blasiertheit, jedoch wird hier betont, dass dafür ein aktives Verhandeln sowohl räumlicher als auch affektiver Nähe und Distanz immer wieder aufs Neue nötig wird. Situationen, in denen dies über Parallelpraktiken möglich ist, ergeben sich unabhängig von ihren planerischen und organisationalen Hintergründen und der kommerziellen Ausrichtung auf den Stadtfesten, so wie auch in geringerer Dichte in der alltäglichen Nutzung der Innenstadtbereiche. Eine Folge der oben beschriebenen Zugänglichkeiten der beiden Achsen der Godesberger Innenstadt ist damit, dass manche Gruppen weniger Möglichkeiten als andere haben, das nebeneinander Anwesend-Sein einzuüben. Wie sich das in der Wahrnehmung einzelner dieser Anwohner:innen spiegelt, wird in Kapitel 5 noch einmal aufgenommen. Hier möchte ich erst einmal festhalten, dass für die Akzeptanz Unbekannter im eigenen Wahrnehmungsbereich Praktiken des Nebeneinanders eingeübt und ausgeübt werden müssen – vor allem, wenn die Körperlichkeit der Anwesenheit (wie beim Essen oder Trinken) deutlich wird. Parallelpraktiken laufen nicht von selbst ab, sondern werden von den Anwesenden durch körperliche Zu- oder Abwendung, durch die Positionierung im Raum, durch kurze Einschübe kommerzieller oder persönlicher Interaktion aktiv erarbeitet. Entscheidend dafür sind, wie sich auch in der oben beschriebenen Situation zeigt, von außen wahrnehmbare Legitimierungszeichen für den parallelen Aufenthalt der einander Unbekannten (wie am Teestand). Einzelpersonen sind dabei:
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in stärkerem Maße als in Begleitung befindliche Personen darum bemüht, legitime Absichten und einen legitimen Charakter zu demonstrieren, das heißt leicht interpretierbare geeignete Fakten über sich zur Verfügung zu stellen, die bei ihrem Anblick sofort wahrgenommen werden können. (Goffman 1974a, 45f.) Zu diesem Zweck können wie oben deutlich geworden Produkte oder auch Praktiken des Essens und Trinkens dienen, denen man die Aufmerksamkeit zuwendet. Eine Besonderheit der Stadtfeste ist es, insbesondere dort, wo neutrale Sitzmöglichkeiten bestehen, auch das Nicht-Beschäftigtsein in der Öffentlichkeit zu erlauben. Da man sich hier durch die vielen Stände insgesamt länger aufhält, sind Pausen von außen nachvollziehbar. Das auf einer Bank Sitzen und die übrigen Anwesenden Beobachten ist auf dem Stadtfest eher legitim als in der alltäglichen Innenstadtnutzung. Wie auch Amin (s. 2012, 66ff.) betont, dienen Parallelpraktiken in besonderem Maße dazu, Erfahrungen zu machen, die Gefühle und Bewertung der Kopräsenz mit Unbekannten ermöglichen. Auf den Stadtfesten ergeben sich zwischen den Nutzer:innen der entsprechenden Innenstadtbereich in hoher Dichte Gelegenheiten dazu, während Begegnungssituationen mancher Gruppen (in Godesberg: den Nutzer:innen der Längs- bzw. Querachse) seltener bis gar kein Raum gegeben ist. Amin weist darauf hin, dass städtische Infrastruktur vor allem dort zum Thema wird, wo sie in dieser Hinsicht »versagt« und segregierende Grenzmarkierungen hervorbringt (ebd.). Diese Einsicht bildet den Übergang zu einer weiteren Form von Praktiken mit der höchsten denkbaren zeiträumlichen Distanz, nämlich vollständig voneinander getrennte Praktiken. Analog zum Begriff Amins lässt sich dann von ›invisible strangers‹ sprechen, wenn sich keine Überschneidungen der Alltagspraktiken unterschiedlicher Personen ergeben. Das wird insbesondere dort relevant, wo nicht einfach Einzelpersonen keine solcher Überschneidungen erleben, sondern Gruppen mit spezifischen Merkmalen in ihren Alltagspraktiken tendenziell voneinander getrennt sind.
Getrennte Praktiken Ohne dass ich Segregation im Sinne zeiträumlicher Trennung von Alltagspraktiken spezifischer Gruppen als grundsätzliches Problem verstehe11 , möchte ich hier dar-
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Die Perspektive, Segregation sei grundsätzlich als ein zu lösendes soziales Problem zu verstehen, wird unter anderem prominent von Hartmut Esser eingenommen (s. nur Esser 2009, 372; 2001, 43). Ich gehe darauf nicht weiter ein, da sich das Ideal einer vollinkludierten, homogenen (bei Esser: nationalen) Gesellschaft meines Erachtens (zumindest als gesetzter Ausgangspunkt) nicht für eine tiefgehende, soziologische Analyse eignet. Für eine detaillierte Diskussion des problematischen Anspruchs der Vollinklusion, die an dieser Stelle zu weit führen würde, vgl. Luhmann 1998a, 630ff.
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auf eingehen, welche Bedeutung dies aus Perspektive der jeweils Anwesenden hat. Mich interessiert in Bezug auf die Frage nach der Handhabung von Kopräsenz also, inwieweit Leerstellen und Abwesenheiten für bestimmte Situationen entscheidend sind und welche Praktiken dem zugrunde liegen. Im Unterschied zu den geteilten Praktiken und ihrer exklusiven Kehrseite, die die Grundlage der in Kapitel 3 behandelten Kochtreffs bilden, geht es hier um solche Leerstellen und Abwesenheiten in innerstädtischen Bereichen und zu Anlässen wie den Stadtfesten, die einen hohen oder vollumfänglichen Zugänglichkeitsanspruch für Anwohner:innen suggerieren. Dass die innerstädtischen Feste in Bad Godesberg nur von bestimmten Gruppen genutzt werden, da sie durch die Gebietswahl und das Preisniveau vor allem für Jugendliche und einkommensschwache Personen weniger zugänglich sind, ist bereits deutlich geworden. Als Folge ergibt sich, dass diese Gruppen nicht als erwartbare Nutzer:innen der Innenstadt in Erscheinung treten. Trennungen in den Nutzungspraktiken können sich somit noch verstärken, wenn für unerwartete und damit potenziell illegitime Nutzer:innen Sanktionen wahrscheinlich werden. Aber selbst in der noch stärker lokalen Variante der Feste, in den Nachbarschaftsfesten, zeigen sich Leerstellen. Findet in einem geografisch kleinen Stadtteil ein Nachbarschaftsfest statt, ließe sich mit den Forschungsergebnissen (s. 4.2) zu solchen Events im Hinterkopf vermuten, dass dieses zumindest nach innen hin, also innerhalb der Nachbarschaft breiter zugänglich ist. Doch obwohl hier kommerzielle Interessen im Hintergrund stehen und Akteur:innen der Nachbarschaft die soziale Zusammenkunft in den Vordergrund rücken, ergeben sich getrennte Praktiken. Ein Beispiel findet sich auf einem Stadtteil-Straßenfest, das nur wenige Gehminuten entfernt von den Innenstadtbereichen Godesbergs einmal im Jahr von Anwohner:innen auf der Basis persönlicher, lokaler Kontakte veranstaltet wird.12 Zwei Frauen, die für einen kirchlichen Stand aus freiwilligem Engagement syrisches Essen zubereiten und auf dem Straßenfest verkaufen, berichten davon, wie sie die Nutzung des Festes nach mehrjähriger Teilnahme wahrnehmen: Y2: »Das ist wie eine Party.« Uf: »Das ist einfach auf offener Straße. Jeder kann kommen, aus verschieden Gebieten, Abteilungen, ne?« Y1: »Und was für Leute kommen, was für Leute sind so da gewesen?« Vf: »Oh, viele!« Uf: »Das waren schon meistens Deutsche, ne?« Vf: »Ja.« Uf: »Die meisten sind Deutsche.« Vf: »Nee, alles Deutsche.« 12
Basis der Beschreibung des Stadtteilfestes sind entsprechende Zeitungsberichte (Q Reuter 2019; Q Hagenberg-Miliu 2018) sowie beschreibende Teile aus dem Interview 21.
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Uf: »Alle, ja.« Y2: »And syrian?« Uf: »Syrian cannot buy things there, because it is a bit expensive for them.« Vf: »Only the Syrians who were working were there, but other than those, no.« Y1: »Waren nicht so viele da?« Uf: »Syrer nicht so viele.« Vf: »Nee, nee, nee.« Y2: »Die Preise sind auch sehr teuer für Syrer.« Y1: »Ah, man muss das also…« Vf: »Ja, ja.« Uf: »Das ist so, man muss das bezahlen.« Vf: »Ja, wir sagen, mindestens drei Euro. Alle Leute, deutsche Leute, spenden.« Uf: »Das heißt, es kostet alles, und dazu hat man die Möglichkeit, zu spenden. Aber allerdings auch ohne zu spenden kostet so ein Stück Kebbeh etwas. Das ist mit Fleisch gefüllt. Für Syrer, wenn die denken: Ich mit meinen Kindern nehme fünf Stücke, dann kostet das zehn Euro, das ist zu viel für mich. Aber Deutsche können das nicht selbst machen, und kostet für die nicht so viel.« Vf: »Ja.« Uf: »Aber für uns, wenn man das selber zuhause machen kann, ist das immer billiger, und wir können das machen.« Y2: »Ja, ich denke auch immer so.« Vf: »Ja.« Y2: »Ja, ich kaufe kein Essen, das ich selbst machen kann.« Vf: »Ja.« (Interview 21, Z. 510ff.)
Es wird deutlich, dass die Interviewten nur wenig Anwohner:innen mit syrischer Staatsangehörigkeit auf dem Straßenfest wahrnehmen. Diejenigen, die im Zitat als »Syrer« bezeichnet werden, werden, wenn sie teilnehmen, auf Seiten der Engagierten verortet. Die Nutzung als Besucher:innen wird, der Erklärung der beiden Interviewten nach, dadurch erschwert, dass die Preise insbesondere für größere Familien zu hoch sind. Außerdem verliert Essen, dass man selbst (günstiger) zubereiten kann, an Attraktivität. Unabhängig von ihrer Wahrnehmung anderer Teilnehmender beschreiben die beiden Interviewten aber auch für sich selbst, dass sie sowohl preislich als auch was die Attraktivität des Angebots angeht das Kochen zuhause dem Essen auf der Straße vorziehen. Beides sind Hürden, die auch auf andere Konstellationen übertragbar sind. Um das Preisniveau ging es bereits mehrfach und die spezifischen Erfordernisse für attraktive To Go-Gerichte gelten ebenfalls über das Beispiel aus dem Interview hinaus. So sind Reibekuchen im Gegensatz zu anderen regionalen Rezepten deshalb ein beliebtes Gericht auf rheinischen Stadtfesten, weil
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sie zwar günstig sind, man sie ohne Fritteuse aber nur schwierig selbst zuhause zubereiten kann (Interview 23, Z. 450ff.). Dies erklärt auch die Beliebtheit von To Go-Gerichten mit regionaler Zuordnung zu weit entfernt liegenden Orten wie auf Streetfood-Märkten, während das regionale Label im Sinne von kurzen Transportwegen eher auf Märkten eingesetzt wird, die frische Zutaten für die eigene Zubereitung zuhause anbieten. Solche Hürden für bestimmte Gruppen, die hier im Interview als »Syrer« in Abgrenzung zu »Deutschen« bezeichnet werden, zeigen sich in getrennten Praktiken: Wohlhabendere oder kleinere Familien nutzen das Straßenfest mehr, außerdem ist das Angebot syrischer Gerichte13 für Nicht-Syrer:innen ansprechender, da es eine zu testende Neuheit bietet. Syrische Familien mit mehreren Kindern, aber auch allgemein größere Familien nutzen das Straßenfest kaum, obwohl es in der direkten Nachbarschaft stattfindet. Getrennte Praktiken zeichnen sich im Gegensatz zu allen bisher behandelten Formen von Praktiken dadurch aus, dass sich verschiedene Personen nicht im gegenseitigen Wahrnehmungsbereich befinden, sich ihre Praktiken also zeiträumlich nicht überschneiden. Dies ist durch drei verschiedene Arten von Voraussetzungen möglich. Erstens kann es sich um eine unbeabsichtigte Trennung handeln, also um Bedingungen, die aus allen denkbaren Perspektiven als zufällig bewertet werden. Es ist schließlich gar nicht möglich, dass stets alle Anwohner:innen eines städtischen Bereichs gleichzeitig an den gleichen Orten sein wollen. Für unbeabsichtigte getrennte Praktiken gibt es also keine konkreten Gründe, ein gewisser Effekt in der Wahrnehmung der jeweils Anwesenden lässt sich dennoch vermuten. Deutlicher wird dieser Effekt, wenn es sich um bewusste Exklusivität einzelner Orte und Zeiten handelt. Wenn Zugänglichkeiten absichtlich begrenzt werden, wie zum Beispiel durch einen Eintrittspreis für ein Street Food-Event, ist das eine zweite Voraussetzungsvariante getrennter Praktiken. Man kann dazu verschiedene Deutungen und Meinungen entwickeln, zumindest ist die Informationslage für alle Beteiligten in dem Fall gleich. Dies ist anders im dritten Fall der Voraussetzung von getrennten Praktiken: wenn nämlich Anwesende in einer Situation keine Leerstellen wahrnehmen, während es zusätzlich eine oder mehrere weitere Perspektiven der Abwesenden gibt, die davon abweicht, und sehr wohl die eigene legitime Anwesenheit in einem bis dahin beschränkten Bereich anstrebt. Die oben beschriebene Wahrnehmung der beiden Interviewten erlaubt die Vermutung, dass es eine Gruppe von Besucher:innen gibt, denen auf dem Fest nichts (und explizit auch niemand) fehlt. Andere Teilnehmer:innen, wie die beiden Interviewten, beobachten hingegen eine Leerstelle, denkbar sind weitere solcher Perspektiven (wie beispielsweise die ei-
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Zur nationalen Kategorisierung von Rezepten s. genauer Kapitel 5.
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ner alleinstehenden Person, die im Engagement für einen Stand zwar beteiligt ist, aber hauptsächlich Paare und Familien auf dem Fest bemerkt).14 Mir geht es hier um eine mikrosoziologische, räumlich sensible Formulierung dieses Perspektivenproblems. Orientierung dafür bietet ein methodischer Hinweis Clarkes, der an Forscher:innen gerichtet ist, aber ebenso in der alltäglichen Beobachtung der eigenen Umgebung gilt. »Silences in data« (Clarke 2005, 11) rufen Interpretationen hervor. Übertragen auf getrennte Praktiken meine ich damit, dass Abwesenheiten das Bild der Anwesenden einer Situation mitbestimmen, wie auch schon in Bezug auf die fehlenden Jugendlichen auf der Querachse des Innenstadtbereichs angedeutet. Damit wird ein Bereich eröffnet, der über die eingangs gestellte Frage nach der praktischen Handhabung von Kopräsenz hinausgeht und Deutungen und Interpretationen anstelle von Praktiken in den Vordergrund rückt. Darum wird es in den folgenden Kapiteln vertieft gehen, zuvor möchte ich jedoch die bisherigen Erkenntnisse aus der Analyse der Stadtfeste zusammenfassen.
4.4 Praktiken der Distanzbewältigung Am Anfang des Kapitels stand die Frage danach, wie Unbekannte und oberflächlich Bekannte in innerstädtischen Bereichen ihre Kopräsenz handhaben. Besonders wenn es um esskulturelle Situationen geht und materiell bestimmte, körperliche Praktiken hohe Aufmerksamkeit erhalten, kann die Anwesenheit im gegenseitigen Wahrnehmungsbereich nicht einfach ignoriert werden. Zwar weist Simmel auf die städtische Reserviertheit bei einer hohen Dichte von Begegnungen zwischen Unbekannten hin. Jedoch zeigt sich aus einer Goffman’schen Perspektive, dass auch solche Begegnungen, die in ihrer Blasiertheit routiniert scheinen, von den Beteiligten aktiv, durch kleine Zeichen leibgebundener Kundgabe und deren Deutung, manchmal auch durch kurze Gespräche, erarbeitet werden müssen. Damit werden stets drohende Grenzüberschreitungen der Territorien des Selbst vermieden, oder, falls sie unvermeidbar sind, zumindest erklärt oder entschuldigt. Wenn sich die Wege Unbekannter im öffentlichen Raum überschneiden, handelt es sich also nicht einfach um handlungs- und wirkungslose Situationen vollständig vereinzelter Individuen. Ebenso wenig scheint es mit dem Blick auf Bad Godesberg aber überzeugend, von kleinen, homogenen Lebenswelten im Sinne der Chicago
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Das damit angedeutete Perspektivenproblem wird auf gesellschaftspolitischer Ebene in ganz unterschiedlichen Größenordnungen und Ausformungen immer wieder thematisiert, so beispielsweise in (post)kolonialen Zusammenhängen (für das britische Empire vgl. Brah 1996) in Debatten um Rassismus (am Beispiel Australien vgl. Hage 1998) oder um Mehrheiten und Minderheiten (aktuell für den deutschsprachigen Kontext vgl. Sezgin 2011; Aydemir und Yaghoobifarah 2019).
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School auszugehen. Gerade in innerstädtischen Bereichen außerhalb von großstädtischen Zentren liegt ein Großteil der Begegnungen zwischen diesen beiden Konzeptionen städtischen Zusammenlebens: Man ignoriert seine durch Menge und Dichte anonymisierte Umwelt nicht vollständig, kann aber auch nicht davon ausgehen, jede Begegnung anhand von bekannten Kategorien und Erfahrungen der eigenen Lebenswelt einordnen zu können. Begegnungen in einer Fußgänger:innenzone, die kein großstädtisches Einzugsgebiet hat, aber dennoch von höchst diversem Publikum genutzt wird, erfordern also mal mehr, mal weniger intensive Praktiken der Distanzbewältigung. Diese Begegnungen sind, so ist bereits deutlich geworden, ein entscheidender Bestandteil der Erarbeitung, des Erhalts und des Wandels dessen, was Goffman als öffentliche Ordnung beschreibt. Um derartige Begegnungen und die Praktiken, die dafür eine Rolle spielen, zu untersuchen, wurden verschiedene Arten von Stadtfesten in der Godesberger Innenstadt beobachtet und analysiert. Allen gemeinsam war dabei, dass ein Großteil der Nutzungspraktiken sich auf das Essen im Freien konzentriert, entweder im Sitzen oder auf die Hand. Die Analyse esskulturell bestimmter Begegnungen auf den Stadtfesten hatte zum Ziel, zu klären, welche Arten von Praktiken sich dabei ergeben. Daraus abgeleitet stellte sich die Frage, welche Rolle gastronomische Angebote im Freien für das Zusammenleben im diversen Stadtbezirk haben. Auf dem Stadtfest im Spätsommer, dem Nikolausmarkt im Winter und dem Streetfood-Markt im Frühjahr ließ sich beobachten, dass zu allen Anlässen, wenn auch in unterschiedlicher Dichte, ein diverses Publikum anzutreffen war. Die Abwesenheit spezifischer Gruppen, vor allem Jugendlicher und weniger wohlhabender Personen, fiel ebenfalls auf (4.1). So ergeben sich vor Ort parallele Nutzungspraktiken unterschiedlicher Besucher:innen der Feste, im Hinblick auf den gesamten Stadtbezirk aber auch getrennte Praktiken in der Raum- und Angebotsnutzung. Mit dem besonderen Fokus auf den anwesenden Nutzungsgruppen, deren Bewegungsprofilen auf dem Gebiet der Stadtfeste sowie den Zielen und Folgen ihrer Gestaltung lassen sich folgende Erkenntnisse zusammenfassen: Entgegen dem häufig vorgebrachten Argument, Stadtfeste sorgten für eine erhöhte Aufmerksamkeit für den jeweiligen Ort über das alltägliche Einzugsgebiet hinaus, lässt sich in Bad Godesberg beobachten, dass der Innenstadtbereich während der Feste zwar etwas besser besucht ist, grundsätzlich aber von den gleichen Nutzer:innen wie im Alltag. Durch die Auswahl des Gebiets (der Querachse der Fußgänger:innenzone) werden Personen, die sich vor allem zwischen den nördlichen und südlichen Teilen des Bezirks bewegen, weniger angesprochen. Die Ausrichtung ebenso wie die Nutzung der Feste konzentriert sich stattdessen auf eher wohlhabende Anwohner:innen sowie auf tendenziell ältere Innenstadtbesucher:innen. Innerhalb des Gebiets der Stadtfeste fällt auf, dass sich die Nutzungspraktiken der Besucher:innen vor allem durch Sitzmöglichkeiten und das Angebot von Alkohol unterscheiden lassen. Für alkoholvermeidende Personen bietet sich ein schnelleres Durchschreiten der Feste an, was da-
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zu führt, dass vor allem muslimische Besucher:innen kaum auf den zentralen Aufenthaltsplätzen zu sehen sind. Eine Ausweichmöglichkeit dafür, ebenso wie für das Problem der fehlenden neutralen Sitzmöglichkeiten, bieten die Eiscafés und Bäckereien am Rand der Stadtfeste. Hier kann man sich länger aufhalten, ohne hohe Preise zahlen, und auch ohne von einem Alkoholausschank ausgehen zu müssen. Stadtfeste, die wie hier außerhalb großstädtischer Zentren liegen, dienen also nicht an erster Stelle als Marketing-Event für ein auswärtiges Publikum. Doch auch eine zweite Möglichkeit der Einordnung von solchen Anlässen trifft nicht vollständig zu: Es handelt sich bei den beschriebenen Fällen ebenfalls nicht um dezentrale, selbstorganisierte Nachbarschaftsfeste, die hauptsächlich eine Repräsentation der (diversen) Anwohner:innengruppen zum Ziel haben. Als Konsequenz der Organisation durch wirtschaftliche Akteur:innen fokussieren die Godesberger Stadtfeste die Erhöhung des Umsatzes des lokalen Einzelhandels sowie die Attraktivität des Innenstadtbereichs im Vergleich zu nahen, größeren Innenstädten wie Bonn oder Köln (4.2). Für die Arten von Begegnungen, die in diesem Rahmen ermöglicht werden, lässt sich schließen, dass Kopräsenz im Sinne Goffmans vor allem zwischen kommerziellen Akteur:innen, wohlhabenderen Anwohner:innen sowie Tourist:innen mit Bezug zu Godesberg verhandelt wird. Der potenzielle Begegnungsraum auf den Festen wird abhängig von der Alkoholakzeptanz und den ökonomischen Ressourcen der Besucher:innen teils recht schnell durchschritten, teils durch Aufenthalte an den Ständen oder in den Außensitzbereichen der angrenzenden Cafés verlängert. Damit ergeben sich Begegnungen in relativer Nähe vor allem an den aufgebauten Ständen, in höherer Distanz und bestimmt durch die unterschiedlichen Bewegungsprofile im gesamten Bereich der Feste. Keine Begegnungen der Anwesenden finden durch die organisationalen und physischen Gegebenheiten der Feste insbesondere mit Jugendlichen und weniger wohlhabenden Nutzer:innen der Längsachse statt. Abgeleitet von diesen Beobachtungen unterscheide ich drei Arten von Praktiken der Distanzbewältigung, in Ergänzung zu den in Kapitel 3 thematisierten Praktiken mit höherer zeiträumlicher Nähe. Kommerzielle Praktiken ähneln gerade im esskulturellen Bereich den in Kapitel 3 beschriebenen Praktiken persönlicher Interaktion: Auch hier müssen zwischen Anwesenden Gespräche geführt, Dinge ausgewählt und Entscheidungen getroffen und ausgeführt werden. Jedoch gilt für kommerzielle Praktiken wie Produktauswahl, Zubereiten und Bezahlen an einem kulinarischen Schausteller:innen-Stand ein Effizienzdruck, der wächst, je mehr potenzielle Käufer:innen warten und damit die Verkaufssituation in ihrer legitimen Dauer zeitlich begrenzen. Da kommerzielle Praktiken nicht frei von der Kommunikation von Wertvorstellungen sind, können Einschübe persönlicher Interaktion nötig werden, um solche Vorstellungen zu verhandeln oder mögliche Konflikte zu bearbeiten. Dies wird dann zum Problem, wenn durch die kommerzielle Rahmung weniger Zeit vorhanden ist, als notwendig wäre,
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um die Praktiken persönlicher Interaktion im Konsens abzuschließen. Eine Strategie im Umgang mit diesem Problem zeigt sich an der Mehrzahl der Stände der Stadtfeste: Gerichte auf die Hand werden vor Ort frisch zubereitet, sodass der Zeitrahmen für persönliche Interaktionen zwischen Verkäufer:in und einem:r einzelnen Kund:in klar bestimmt ist, ohne dass die Verkaufssituation ausschließlich auf Effizienz der kommerziellen Praktiken ausgerichtet ist. Damit wird verständlich, warum kulinarische Verkaufsstände auf Stadtfesten einerseits eine höhere Attraktivität als andere Stände, andererseits aber auch als konstante gastronomische Einrichtungen in der Innenstadt haben. Sie erlauben Begegnungen, die auf kommerzielle Praktiken ausgerichtet und Effizienzanforderungen entsprechend organisiert sind, aber dennoch Zeitfenster für Einschübe persönlicher Interaktion in einem überschaubaren Rahmen ermöglichen. Auch wenn die Gestaltung der Stadtfeste damit einen klaren Fokus auf kommerzielle Praktiken ergibt, ist dies nicht die einzige Form des praktischen Umgangs mit Begegnungen zwischen Unbekannten. Mit Simmel im Hintergrund wird als Besonderheit urbaner Räume immer wieder betont, dass sich hier Unbekannte im gegenseitigen Wahrnehmungsbereich aufhalten, ohne in direkte Interaktion zu treten. Ash Amin weist (im Einklang mit Goffman) darauf hin, dass diese städtische convivality eingeübt und in Situationen der Verhandlung von Nähe und Distanz gefestigt werden muss. Die Analyse esskulturell bestimmter Situationen auf den beobachteten Stadtfesten zeigt, dass das über Parallelpraktiken möglich wird. Ich meine damit konkret Praktiken der körperlichen Zu- oder Abwendung und Praktiken der Positionierung des eigenen Körpers im Raum. Das Beschäftigtsein mit dem Essen bietet neben der zur Schau gestellten Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Möglichkeit, seine Anwesenheit im Wahrnehmungsbereich einer anderen Person zu legitimieren. Das Essen im Freien ist damit einer von weiteren denkbaren Bereichen alltagskultureller Praktiken, der das längere gemeinsame Aufhalten mit Unbekannten an einem Ort zur Folge hat, noch dazu im Rahmen einer stark körperbetonten Beschäftigung. Diese Situationen erlauben also das Einüben des körperlich-praktischen Umgangs mit der Kopräsenz mit Unbekannten. Es ist deutlich geworden, dass manche Gruppen auf den Stadtfesten eher Gelegenheit erhalten, die gegenseitige Wahrnehmung sowie Akzeptanz dieser Erfahrung einzuüben, als andere. Damit komme ich zur dritten Form von Praktiken, mit der höchsten denkbaren zeiträumlichen Distanz: den getrennten Praktiken. Da sie die unvermeidbare Gegenseite geteilter Praktiken darstellen (Gruppen haben schließlich stets auch Grenzen), erscheint ihre Ausblendung weder aus einem deskriptiven noch analytischen Interesse sinnvoll. Auch mit dem Fokus auf Praktiken der Kopräsenz sind sie insofern entscheidend, als dass jede Abwesenheit die Situation der jeweils Anwesenden mitbestimmt. In Bezug auf die Godesberger Stadtfeste zeigt sich, dass nicht nur die kommerziell ausgerichteten, innerstädtischen Feste, sondern selbst Nachbarschaftsfeste insbesondere für weniger wohlhabende Anwohner:innen schlecht bis
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gar nicht zugänglich sind. Damit stellen sie eine Gruppe dar, mit der Begegnungen in der Öffentlichkeit seltener Gelegenheit zur Ein- und Ausübung finden. Auch andere Gruppen fielen in der Beobachtung der Feste eher durch Ab- als durch Anwesenheit auf. Solche Abwesenheiten können sich auf verschiedenen Ebenen zu Erwartungen verdichten, einerseits für Individuen und ihre Nutzungspraktiken, andererseits für Gruppen und die damit verbundene Legitimität des Aufenthalts in bestimmten Räumen im Stadtbezirk. Vor allem relevant wird das dort, wo man Öffentlichkeit vermutet. Mit dem liberalen Gleichheitsideal im Hinterkopf, das schon bei Simmel die Grundlage für die Charakterisierung des:r Stadtbewohner:in bildet, ließe sich davon ausgehen, dass es Orte der absoluten Gleichberechtigung in einer städtischen Umgebung zumindest insoweit gibt, als dass der Aufenthalt oder das Durchschreiten für alle Bewohner:innen aus direkter Nähe in gleichem Maße möglich ist. Eine Einschränkung dieser Vermutung ergibt sich durch eine Schwerpunktverschiebung, die sich ebenfalls schon bei Simmel andeutet und in Bad Godesberg ganz konkret beobachten lässt: Die Einzigartigkeit jedes Menschen tritt vor die Gleichheit aller Menschen (vgl. Junge 2012, 90ff.). Spezifischer für den hier behandelten Fall innerstädtischer Nutzungspraktiken bedeutet dies wie sich gezeigt hat, dass individuelle oder gruppenspezifische Bewegungsprofile gerade nicht zu einer gleichberechtigten Zugänglichkeit zu ›öffentlichen‹ Orten führen. Einen öffentlichen Raum im Sinne eines Gebiets, zu dem alle Anwohner:innen des Bezirks auf die gleiche Art und Weise Zugang haben, gibt es also nicht. Aus einer an Goffman anschließenden Perspektive, die Interaktionen und Praktiken fokussiert, ergibt sich ein alternativer Öffentlichkeitsbegriff. Goffman (s. 1974a, 9ff.) spricht von public life dort, wo die Organisation von Interaktionen verhandelt wird und in strukturierter (Teil)Anpassung an wahlweise restriktive oder ermöglichende Regeln situativ soziale Ordnung erarbeitet wird, also aufrechterhalten oder abgewandelt wird (4.3). Eine so verstandene Öffentlichkeit, im Sinne alltagskultureller Praktiken des Zusammenlebens in einem bestimmten städtischen Kontext, spielt eine entscheidende Rolle für einzelne Individuen, ebenso wie für Gruppen im Stadtbezirk. »Alltägliche Straßenszenen, […] kleine Interaktionen, die genauso schnell vergessen sind, wie sie zustande kamen« (Goffman 1974a, 193), dienen der individuellen und kollektiven Orientierung. Auf die individuellen Nutzungspraktiken innerstädtischer Räume bezogen ergibt sich diese Orientierungsfunktion daraus, dass durch die notwendige Teilnahme an scheinbar freiwilliger Koordination das Vertrauen in die öffentliche Ordnung und die eigene Kenntnis davon bestätigt wird. Für die Beziehungen zwischen Gruppen von Innenstadt-Nutzer:innen gilt: Anonyme Beziehungen haben keine Karriere. Allerdings können die Beziehungen zwischen zwei Kategorien von Personen eine soziale Geschichte oder eine Natur-
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geschichte der Arten haben, genauso wie die Beziehungen eines Individuums zu den Mitgliedern einer bestimmten Kategorie von anderen Individuen. (ebd., 257) Die öffentliche Ordnung ist somit eine orientierende Notwendigkeit des Zusammenlebens in einem städtischen Bezirk, zugleich ist sie fragil und wird zwischen Individuen, ebenso wie zwischen Gruppen immer wieder neu ausgehandelt. Diese Aushandlung kann auch misslingen, indem: die unmittelbare Umgebung eines Individuums sich in etwas verwandelt, dem es mit Mißtrauen begegnen muß, wobei das Mißtrauen sich gegen in seiner Gegenwart befindliche Personen, gegen in seiner Gegenwart befindliche Objekte, Geräusche und Bewegungen und schließlich gegen Plätze, die nicht direkt eingesehen werden können, richtet. […] es ist nicht mehr in der Lage, die Hintergrundmerkmale der es umgebenden Welt als etwas Selbstverständliches unbeachtet zu lassen. (ebd., 426) Goffman bezeichnet dies als »Verwundbarkeit des öffentlichen Lebens« (ebd., 431), die auch auf den analysierten Stadtfesten latent ist. Die beobachteten Veranstaltungen bieten in höherer Dichte und Sichtbarkeit Anlässe, die auch im Alltag in innerstädtischen Räumen vorkommen: Anlässe zur Überprüfung subjektiver Erwartungen der einzelnen Nutzer:innen dazu, wer anzutreffen ist und wie sich Begegnungen mit Unbekannten bewältigen lassen. Die Godesberger Stadtfeste werden in besonderem Maße zu sich selbst erhaltenden Verifizierungsräumen für Legitimitätsansprüche in der Innenstadtnutzung: Da manche Gruppen weniger angesprochen und damit kaum anwesend sind, treten sie nicht als mögliche Begegnungspartner:innen in Erscheinung. Tun sie es in Ausnahmefällen doch, erschüttert das die Erwartungen der (auf der Querachse tendenziell älteren, wohlhabenderen) Nutzer:innen. Wenn die eigenen Erwartungen derart durchbrochen werden, kann sich Misstrauen gegenüber Orten des öffentlichen Lebens ergeben, wie Goffman beschreibt. Gleiches gilt umgekehrt für die Nutzung der Längsachse – hier fühlen sich viele ältere, wohlhabende Godesberger:innen fehl am Platz und vermeiden die alltagskulturelle Nutzung, woraus sich ergibt, dass sie hier nur in Einzelfällen als mögliche Begegenungspartner:innen auftreten und ebenso Erwartungen der dortigen Nutzer:innen überraschen (vgl. Interviews 3, 6, 10, 24). Gleichzeitig ist es denkbar, dass ent-täuschte Erwartungen zu einem Wandel der Anspruchshaltungen führen, wenn solche überraschenden Situationen als Übungsräume für Meinungen und Haltungen unerwarteten Unbekannten gegenüber genutzt werden. Dies wird durch die Kombination zweier schon thematisierter Aspekte erschwert: Kommerzialisierung auf der einen und Diversität auf der anderen Seite. Auf den Stadtfesten, aber auch grundsätzlich in innerstädtischen Bereichen ist deutlich geworden, dass öffentliches Leben vor allem an kommerziellen Orten und deren Zwischenräumen stattfindet. Wo Begegnungssituationen
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auf kommerzielle Interaktionen ausgerichtet sind, ergibt sich ein mal mehr, mal weniger starker Zeit- und damit Effizienzdruck. Praktiken höherer Nähe, die durchaus in kommerzielle Praktiken eingegliedert sein können (das gemeinsame Kleingeld-Suchen mit einem:r älteren Kunden:in, ein Verkaufsgespräch, …), sind damit klare Grenzen gesetzt. Sind nun höchst unterschiedliche Einzelpersonen an den Praktiken beteiligt, ist in vielen Situationen ein leicht erhöhter Zeitaufwand für die Koordination und Verständigung zu erwarten, wie sich auch im Teilkapitel zu geteilten Praktiken (3.3) gezeigt hat. Logistisch gesehen brauchen Begegnungen zwischen diversen Unbekannten Freiräume und vor allem ausreichend Zeit. Gerade bei Praktiken, die in der Nahrungszufuhr zum eigenen Körper gipfeln, muss zunächst der kleinste gemeinsame Nenner gefunden werden, um die Interaktion darauf aufbauend konsensuell abschließen zu können. Daraus ergibt sich die schwierige Vereinbarkeit des Zeitdrucks kommerzieller Praktiken und der Verarbeitung von Begegnungen mit diversen Unbekannten. In Bad Godesberg habe ich diese schwierige Vereinbarkeit immer wieder beobachtet oder in Interviews besprochen, wie beispielsweise in der oben zitierten Verkaufssituation zwischen Crêpe-Verkäufer und arabischsprachigen Tourist:innen. Umso deutlicher stellt sich die Frage, ob ein konsensueller Umgang im öffentlichen, kommerzialisierten Leben auch im Kontext von hoher (und sich in ihrer Zusammensetzung verändernder) Diversität überhaupt möglich ist, beziehungsweise unter welchen Bedingungen die öffentliche Distanzbewältigung dennoch gelingt. Ein theoretischer Zugang zu einer differenzierten Beantwortung dieser Frage findet sich bei Michel de Certeau (zur Einführung seiner Perspektive s. Teilkap. 1.1). Er beobachtet in seiner Beschäftigung mit alltäglichen Praktiken, dass spontaner Wandel und längerfristige Anpassung auch innerhalb von Kommerzialisierung und Konsum möglich sind – und das nicht (nur) auf der Seite des Angebots, sondern vor allem durch die Kreativität der Konsument:innen. Im direkten Anschluss unter anderem an Goffman (s. de Certeau 1984, XV) betont er, Nutzer:innen kommerzieller Angebote bewegten sich trotz einer funktional definierten Umgebung letztendlich selbstbestimmt: In the technocratically constructed, written, and functionalized space in which the consumers move about, their trajectories form unforeseeable sentences, partly unreadable paths across a space. (ebd., XVIII). Analog zur linguistischen Sprechakttheorie argumentiert de Certeau, Begegnungen im öffentlichen Leben, auch und gerade an kommerzialisierten Orten, seien von den »walking rhetorics« ihrer Nutzer:innen bestimmt und als solche auch ›lesbar‹ (s. de Certeau 1984, 100ff.). Zunächst sei zu beobachten, dass Fußgänger:innen zwischen verschiedenen Möglichkeiten der gebauten Umwelt wählten (»the present«); weiterhin, dass damit einzelne Orte hervorgehoben und andere unsichtbar gemacht würden (»the discrete«); und schließlich, dass aus der Aneinanderreihung genutzter Or-
4. (Un)Erwartete Begegnungen
te zu einem Weg ein ›Hier‹ und ›Dort‹ relativ zur eigenen Position erarbeitet würde (»the phatic«, ebd., 98ff.). Diese Argumentation ist recht abstrakt und wird von de Certeau wenig auf tatsächliche Situationen der Begegnung bezogen, jedoch verdeutlicht sie, worin die Aussagekraft der oben beschriebenen Bewegungsprofile und Arten der Nutzung innerstädtischer Bereiche liegt: Die Art und Weise, wie die Nutzung der Räume öffentlichen Lebens praktisch gestaltet wird, dient zur Positionsbestimmung des:der Einzelnen innerhalb von individuellen, aber auch kollektiven und über lokale Ordnungen hinausgehenden, hier marktwirtschaftlichen Beziehungen. Sind einzelne Gruppen systematisch abwesend, nennt de Certeau das »the presence of diverse absences« (ebd., 108). Abwesenheiten sind also Teil alltagskultureller Ortsund Positionsbestimmungen. Gelegenheiten zu solchen regelmäßigen und damit stets aufs Neue wandelbaren Positionsbestimmung sind für einzelne Anwohner:innen und für Gruppenbeziehungen im Stadtbezirk grundlegend. Ich will betonen, dass die Kreativität im alltagskulturellen Handeln (und damit ist explizit auch der Konsum kulinarischer Angebote gemeint) das öffentliche Leben in divers genutzten Räumen entscheidend mitbestimmt. Bisher lag der Fokus dabei im Anschluss an Goffman auf den damit verbundenen Praktiken, der Gedanke lässt sich jedoch auch auf die Ebene der Repräsentationen und ihrer Deutungen übertragen. Darum soll es im folgenden Kapitel gehen. Zunächst fasse ich das Ergebnis der Analyse der Stadtfeste noch einmal zusammen. Praktiken der Distanzbewältigung, je nach Größenordnung in kommerziell-interaktiver, paralleler oder vollständig getrennter Variante, können die Stabilität öffentlicher Ordnung erhalten, ins Wanken bringen oder verändern. Stabilität stellt sich dann ein, wenn Situationen des Treffens auf Unbekannte soweit eingeübt werden können, dass die Mehrheit der tatsächlichen, zufälligen Begegnungen im Freien grob dem Erwartbaren entspricht. Veränderungen können ebenfalls problemlos verarbeitet werden, sofern die davon abweichenden Begegnungen Zeit und nicht funktional bestimmten Freiraum bieten, um letztendlich keine unaufgelösten Mikrokonflikte in die »Karriere« (s.o.) der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe (oder zwischen Gruppen) weiterzutragen. In Godesberg ist deutlich geworden, dass die Stadtfeste Räume bieten, in denen der Umgang zwischen Unbekannten ein- und ausgeübt werden kann. Dies betrifft vor allem lokale Verkäufer:innen sowie wohlhabende Anwohner:innen und Tourist:innen. Auch die Bewegungsprofile und die Unterschiede zwischen Alkoholnutzer:innen und -vermeider:innen dienen dazu, die übliche individuelle Bewegung in der Innenstadt erwartbar einschätzen zu können. Problematisch wird es dann, wenn die Mehrheit der Begegnungen im Freien nicht den eingeübten Situationen und der erwartbaren Abweichung davon entspricht. In Godesberg ergibt sich eine solche Situation in Bezug auf die Nutzung der Innenstadt dadurch, dass den Nutzer:innen der Längsachse von denen der Querachse immer wieder die Legitimität abgesprochen wird. Damit fallen Gruppen als deviant auf, da sie von den
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Erwartungen legitimer Nutzung, die auch auf den Stadtfesten verfestigt werden, abweichen (s. dazu auch Teilkap. 2.1). Esspraktiken im Freien können für solche Devianzen eine Entschärfung bieten, indem sie zwar die körperliche Kopräsenz in besonderem Maße sichtbar und damit schwer ignorierbar machen, zugleich aber auch einen offensichtlichen Legitimationsgrund für die Anwesenheit bilden, der durch seinen Bezug zu einem allgemeinen, anthropologischen Grundbedürfnis (der Nahrungsaufnahme) niemandem abgesprochen wird. De Certeaus Vorschlag, die walking rhetorics von Innenstadtbesucher:innen zur Analyse von individuellen und kollektiven Positionsbestimmungen heranzuziehen, lässt sich auf die beobachteten Stadtfeste anwenden. Es zeigt sich, dass in der skalenabhängigen Überlagerung kommerzieller und paralleler Praktiken Tourist:innen und Anwohner:innen, Verkäufer:innen und Konsument:innen, Alkoholkonutzer:innen und -vermeider:innen die gegenseitige Kopräsenz ein- und ausüben. Durch Entscheidungen für einzelne kulinarische Angebote entstehen immer wieder auch Situationen, in denen die Distanz zu Unbekannten bewusst verringert und anschließend wieder vergrößert werden kann. In der größtmöglichen Distanz ergibt das getrennte Praktiken, die auf Einzelpersonen bezogen grundsätzlich unvermeidbar sind. Als problematisch können sie dann gelten, wenn sie auf lange Sicht dazu führen, dass spezifische (hier über das Alter und die ökonomischen Ressourcen) definierte Gruppen keine Möglichkeit erhalten, in die Positionsbestimmungen der Anwesenden einbezogen zu werden und damit Legitimitätsansprüche für zentrale, innerstädtische Bereiche verlieren. Insgesamt heißt das, dass Stadtfeste in Godesberg (und in vergleichbaren, organisational eher ressourcenarmen Kontexten) zwar keine multiplen Anknüpfungspunkte für diverse Anwohner:innengruppen repräsentieren, wohl aber eine eingeschränkte Repräsentationsfunktion erfüllen: Sie bilden einen Raum, in dem Erwartungen zur Begegnung mit Unbekannten überprüft und in einzelnen Situationen auch verändert werden können. Essen kann dabei legitimierend auch für unerwartete Begegnungen wirken – sofern sich nicht vollständig getrennte Praktiken entlang von spezifischen Gruppengrenzen ergeben und derartige Begegnungen gar nicht erst entstehen. Offen bleibt die Frage, inwieweit das Essen, also Gerichte, Zubereitungsweisen, Praktiken der Bewerbung und des Verzehrs über das Anzeigen von Legitimität der Anwesenheit hinaus Zugehörigkeiten und deren Grenzen transportiert. Um die Repräsentationsfunktion von Esspraktiken außerhalb des eigenen Zuhauses wird es deshalb im folgenden fünften Kapitel gehen.
5. Orientierende Orte
Auswärts Essen ist zunächst etwas, das man tut – durch Praktiken in der Nähe von oder in Distanz zu anderen Menschen. Bisher ging es um halböffentliche Räume, in denen sich Bekannte regelmäßig treffen, sowie um öffentliche Räume, wo einmalige Begegnungen mit Unbekannten stattfinden. Einen dritten Bereich esskultureller Situationen außerhalb des eigenen Zuhauses bildet die kommerzielle Gastronomie (s. auch Teilkap. 2.2). Orte, die nur temporär zum Kochen und Essen genutzt werden, erhalten außerhalb spezifischer kulinarischer Anlässe weitere Funktionen und fallen also nicht dauerhaft als esskulturelle Orte auf: Sowohl die Gemeindeküche als auch die Vereinsküche (Kap. 3) werden zeitweise als Durchgangs- und Abstellräume genutzt und die Godesberger Fußgänger:innenzone hält außerhalb der verschiedenen Stadtfeste (Kap. 4) keine Hinweise darauf bereit, welche Gerichte sich zu diesen Anlässen an welchen Ständen erstehen lassen. Im Falle kommerzieller Gastronomie ist das anders: Konstant auf gastronomische Zwecke ausgerichtete Orte bilden nicht nur den Rahmen für esskulturelle Praktiken und Situationen der Interaktion zwischen Bekannten und Unbekannten. Sie sind als Ort zugleich Symbol und reihen sich in ästhetische Eindrücke ein, ohne dass man dort gegessen haben muss. Auch im Vorbeilaufen kann das Bild einer Restaurantfassade bestimmte Deutungen hervorrufen, oder ein ganzer Straßenzug wird inklusive seiner Gastronomie bewertet. Basis dafür sind das direkte Erleben im Durchschreiten städtischer Räume oder aber vermittelte Eindrücke beispielsweise durch Presseberichte (vgl. zum Beispiel der Längsachse, also der Koblenzer Straße u.A. Q Klingelhöfer 2017; Q Frigelj 2016; Q Müller-Münch 2016c). Verknüpfen sich diese Bilder nun mit persönlichen Erfahrungen, werden ästhetische Eindrücke mit Erinnerungen verbunden. Dieser Rolle esskultureller Orte in der Erfahrung städtischer Öffentlichkeit möchte ich mich nun zuwenden. Mir geht es dabei einerseits um die materiellen Bestandteile solcher Orte, andererseits aber auch um das Bild der Praktiken, die dort stattfinden. Alltägliche situative Praktiken stehen schließlich nicht für sich. Sie werden von den beteiligten ebenso wie von den sie beobachtenden Individuen gedeutet und geordnet. Die dadurch entstehenden Ordnungen ziehen nicht zwangsläufig klare Grenzen zwischen Kategorien von Personen oder Orten. Und doch ergeben sie eine individuelle Positionsbestimmung in Bezug darauf,
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wie (und auf welche Weise) relevant bestimmte Gruppen und die damit verknüpften Orte für die eigene Person sind (zu diesem »Problem der Bezogenheit« s. Goffman 1974a, 405ff., s. auch FN 10, Kap. 4). Es geht im Folgenden dementsprechend um die zweite Leitfrage dieser Studie: Wie wird das geteilte, gastronomische Alltagsleben des Stadtbezirks bezogen auf die Repräsentation von Zugehörigkeiten erfahren und gedeutet? Die zuvor analysierten Praktiken im alltäglichen Umgang mit Nähe und Distanz rund um das Essen bilden die Basis für die Beschäftigung mit deren reflexiver Ordnung und Bewertung durch einzelne Anwohner:innen im Bezirk. Die Leitfrage lässt sich durch die hohe Diversität und spezifische Lokalgeschichte Bad Godesbergs konkretisieren. Die Frage nach der Repräsentation von Zugehörigkeiten ist im Bezirk durch ihre Multidimensionalität hoch komplex und zugleich durch ihre entscheidende Rolle im lokalen Diskurs stark aufgeladen, was immer wieder zu Polarisierungen und Vereinfachungen führt (s. Teilkap. 2.1). Um das nötige, wissenschaftliche Maß an Abstraktion anstelle dieser Vereinfachung anzuwenden, stelle ich in Teilkapitel 5.1 zwei kontrastierte, aber in sich jeweils vielschichtige subjektive Perspektiven auf die Godesberger Gastronomie dar. In 5.2 wende ich mich den darin thematisierten spezifischen Orten zu und gehe allgemeiner auf die Eigenschaften von konstant an einem Ort befindlicher, städtischer Gastronomie in Godesberg ein. Ich komme so in einem zweiten Analyseschritt in 5.3 zu drei Bestandteilen der esskulturellen Repräsentation von Zugehörigkeit: erstens zu subjektiven Erfahrungen von Veränderung, zweitens zur Deutung situierender Symbole sowie drittens zu Bewertungen der gastronomischen Situation. Im abschließenden Teilkapitel 5.4 setze ich mich mit der zusammenfassenden Beantwortung der zweiten Leitfrage dieser Studie und der orientierenden Rolle gastronomischer Orte in einem diversen Stadtbezirk wie Godesberg auseinander.
5.1 Zwischen Bonner Republik und ›orientalischer‹ Küche Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die lokalen Ordnungsvorstellungen von Godesberg nicht einfach historischem Wandel unterliegen, sondern auch zeitgleich verschiedene solcher Ordnungen nebeneinander existieren (s. Teilkap. 2.3). Die Beziehung zwischen diachronen und synchronen Unterschieden an ein und dem gleichen Ort lässt sich weiter spezifizieren. Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, dass beispielsweise An- und Abwesenheiten bestimmter Gruppen in einzelnen Straßenzügen schon sehr unterschiedliche Perspektiven auf den räumlich begrenzten innerstädtischen Bereich Godesbergs ergeben. Konzentriert man sich auf die Nutzungspraktiken der Anwesenden, gerät die »Präsenz diverser Abwesenheiten« (de Certeau 1984, 108, s. Teilkap. 4.4) oder (in den Worten Adele Clarkes, 2003) geraten
5. Orientierende Orte
die »sites of silence« (ebd., 561, s. auch Teilkap. 1.3) in den Hintergrund. De Certeau meint damit jedoch nicht nur die Abwesenheit von Personen: What can be seen designates what is no longer there. […] Places are fragmentary and inward-turning histories, pasts that others are not allowed to read, accumulated times that can be unfolded but like stories held in reserve […]. (1984, 108) Er versteht Orte deshalb als Palimpseste, in denen verschiedene Deutungen übereinanderliegen und historische durch aktuelle durchscheinen. Damit sind ältere Deutungen nicht nur in jüngere eingeflossen, sondern außerdem materiell gleichzeitig vorhanden (s. de Certeau 1984, 109ff.). Die Metapher verdeutlicht, dass sich an spezifischen Orten synchrone, unterschiedliche Wahrnehmungen und materielle Hinweise auf diachronen Wandel kreuzen. Diese Erkenntnis erhält in der Anwendung auf die Godesberger Gastronomie besondere Bedeutsamkeit: Spezifisch für konstante Rahmungen esskultureller Situationen – also Gastronomie – ist, dass sie in ihrer räumlichen und materiellen Beschaffenheit über einen längeren Zeitraum unverändert bleiben und darüber hinaus auch die sozialen Interaktionen vor Ort einem wiederkehrenden Muster folgen (s. Teilkap. 2.2). Das gilt für Interaktionen zwischen Unbekannten, wie beispielsweise in der sprachlich und zeitlich aufs Äußerste verkürzten Bestellabfrage in innerstädtischen Imbissen. Ebenso betrifft es längere Interaktionen in einem auf Stammkundschaft ausgerichteten Lokal in einem der Godesberger Stadtteile. Die Konstanz und damit die Erwartbarkeit in der Rahmung (s. Goffman 1974b, s. auch Teilkap. 1.1) esskultureller Situationen ist beiden Gastronomietypen gemeinsam. Einerseits entsteht damit eine räumlich-materielle Vergleichbarkeit des einen mit anderen Orten, andererseits die einer zeitlichen Abfolge früherer und späterer Zeitpunkte. So werden Genealogien von eigenen Erfahrungen, aber auch von wechselnden Einrichtungen, Wirt:innen, Gerichten etc. zu Anzeichen von einem übergeordneten Wandel in der Nachbarschaft oder in der Kundschaft. Außerdem lassen sich in bekannter Gastronomie stets Situationen erzeugen, die eine Überprüfung der eigenen Kompetenz im Einschätzen von gesellschaftlichen Räumen und den entsprechenden Goffman’schen Spielregeln (s. ebd.) erlaubt. Für viele Anwohner:innen, mit denen ich Gespräche und Interviews geführt habe, ist die Verbindung der eigenen Biografie und Alltagsgestaltung zu gastronomischen Orten im Bezirk äußerst wichtig – dies jedoch mit völlig unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Ich stelle hier zwei Personen vor, mit denen ich Interviews (begleitet durch Handzeichnungen von Karten, zur Methode s. Teilkap. 1.4) geführt habe und die zum Thema der Orientierung über gastronomische Orte von sich aus viel zu sagen hatten.1
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Durch die Fokussierung auf biografische Narrationen innerhalb von Interviews lassen sich, angelehnt and die Methoden der Biografieforschung im Anschluss an Fritz Schütze (1983),
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Zunächst zu Petra2 . Sie ist in den 1970er Jahren in Bad Godesberg geboren, genauer in Pennenfeld. Auf die Frage nach ihrer persönlichen Verbindung zum Stadtbezirk erklärt sie, sie sei mit Leib und Seele Godesbergerin, auch wenn sie eigentlich leider etwas zu spät geboren sei, um sich wirklich als solche bezeichnen zu dürfen – denn ihr Geburtstag fällt knapp hinter die Eingemeindung des Bezirks nach Bonn. Sie hat ungefähr die Hälfte ihres Lebens in Godesberg verbracht und lebt nun seit 25 Jahren mit ihrem Mann im Umland, fährt aber immer noch täglich auf ihrem Arbeitsweg durch den Bezirk und besucht die Innenstadt nach wie vor gerne. Ihre Kindheit in Pennenfeld hat sie in guter Erinnerung. Als Kind sei sie mobil gewesen »so weit die Pedale reichten«, da sie kein Auto gehabt hätten, doch gestört habe sie das nie (Interview 24, Z. 296f.). Petra spricht von »uns Pennenfeldern« ohne lange Geschichte. Damit meint sie, dass das Wohnviertel ebenso wie Heiderhof für die Anforderungen an Bonn als Hauptstadt neu gebaut wurde (s. Teilkap. 2.1). Im Gegensatz zu Heiderhof handelte es sich jedoch nicht um Eigentumswohnungen, die an Beamt:innen verkauft wurden, sondern um großflächigen sozialen Wohnungsbau. Pennenfeld sei dadurch von »kinderreichen Familien« geprägt und von Beginn an international zusammengesetzt gewesen: Yf: »Also unsere Nachbarn, die haben da in einer Dreizimmerwohnung gelebt mit sechs Mann. Das muss man mal heute machen, dann schreit aber gleich jeder, ich will aber ein eigenes Zimmer, ich brauche meinen Entfaltungsraum. Da hat damals überhaupt keiner nach gepfiffen, die waren froh dass sie überhaupt eine Wohnung bekamen, die sie auch bezahlen konnten. Denn darum ging es ja, dass man sich es auch leisten konnte. Und dadurch hatten wir eben im Pennenfeld sehr viele Nationalitäten. […] Ich bin ja damit groß geworden, für mich war das normal. Aber ich denke, viele Alte in der Siedlung, und das waren wirklich auch viele alte Kriegswitwen, die da alleine gelebt haben […], die waren dann immer irgendwie ein bisschen verstört wenn da so was Buntes lief und dann mit Hennamalerei bis zum Oberarm und ganz viel Goldschmuck, […] das war ganz interessant.« (Interview 24, Z. 258ff.) Im Interview berichtet sie auch von ihren Eltern. Ihr Vater sei schon früh verstorben, mit ihm verbunden sind die Erinnerungen an die Eckkneipen Godesbergs: Yf: »Mein Vater hatte seine Stammkneipen, die es ja noch gab, die Kneipen. Auch das hat sich komplett gewandelt, wenn ich also bedenke was Godesberg hatte. Wirklich, ich will nicht sagen an jeder Ecke, aber wirklich an sehr vielen Straßenecken gab es
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»handlungsorientierende Wissensbestände und Einstellungen sowie deren Genese rekonstruieren« (Rosenthal 2015, 162). Basis der folgenden Darstellung ist das Interview 24.
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Kneipen. Die sind so gut wie alle verschwunden, entweder aus Altersgründen aufgegeben oder weil die Nachfrage einfach gestorben ist in den Neunzigern. Die Jugend, die hatte kein Interesse mehr an Kneipen, an Biertrinken, sich an den Tresen stellen, Klääfchen halten, Austausch, Nachbarn, Freunde.« Y1: »Wie heißt das, Klääfchen?« Yf: »Ja, Klaaf halten, klaafen, Klääfchen halten. Thekenklaaf und so, ne? Dadurch sind sehr viele Kneipen in den Neunzigern wirklich verschwunden. Und da hatten wir wirkliche Institutionen, auch dann so drumherum in den ganzen kleinen Ortschaften. Die hatten alle ihre Kneipen, ihre Dorfkneipen, und es gab ja dann auch noch oben in Muffendorf auf der Hauptstraße dieses… ich weiß jetzt nicht mehr wie es hieß, aber das war der richtige Hippieschuppen schlechthin3 .« (Interview 24, Z. 216ff.) Sie wächst also mit ihrer Mutter auf, die sie als gute Köchin und Bäckerin beschreibt. Die Mutter habe in einer Kneipe gearbeitet und dementsprechend »deftige Küche« gekocht (Z. 285). Auswärts essen gehen sei ein Luxus gewesen, den sie sich nicht leisten konnten. Petra erzählt, ihren Kindheitstraum, sich einmal von ihrem Taschengeld beim gerade eröffneten Godesberger McDonalds satt zu essen, habe sie sich letzten Endes nie erfüllt (Z. 90). An Restaurantbesuche in ihrer Kindheit kann sie sich nicht erinnern: Yf: »Ich mag da vielleicht die ein oder andere Gedächtnislücke haben, […] aber wenn es was Prägnantes gewesen wäre, hätte ich es mir bestimmt behalten, weil ich ja so eine Fresserin bin. Ich verbinde unglaublich viele Erinnerungen mit Essen, oder über’s Essen und über Restaurants, unheimlich viele. Das ist so meine innere Landkarte im Kopf, die ist mit Messer und Gabel bespickt und die zieht sich dann für mich so bildlich durchs Land.« (Interview 24, Z. 288ff.) Schon in ihrer Kindheit und Jugend sei sie jedoch regelmäßig mit der Mutter in unterschiedlichen Godesberger Cafés Kuchen essen gegangen. Jedes Wochenende wurde außerdem zuhause gebacken, wie es zu der Zeit üblich gewesen sei. Dem Bild einer guten Hausfrau, das Petra dadurch vermittelt bekommt, versucht sie in ihrer ersten eigenen Wohnung zunächst auch zu entsprechen: Yf: »Das ist ja damals wirklich diese hauswirtschaftliche Vorstellung gewesen, die Frau hat pünktlich das Essen auf den Tisch zu bringen, hat immer ein appetitliches Essen auf den Tisch zu bringen, hat selber aber natürlich dabei dann adrett am Tisch
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Damit ist das »Underground« von Juppi Schäfer gemeint, s. Teilkap. 1.4.
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zu sitzen, gar nicht auszusehen, als ob sie jetzt den ganzen Tag in der Küche gewuselt hat. Und das ist dann schon die halbe Miete für eine gute Ehe, weil Liebe geht auch durch den Magen. Und so war das, und das wurde nie infrage gestellt, ob das so richtig ist oder falsch ist. Damit bin ich groß geworden und so habe ich das bei mir tatsächlich dann auch übernommen früher. Wenn ich Wochenende hatte, habe ich erstmal gebacken in meinem Haushalt. Bis ich feststellte, warum eigentlich? Es isst ja gar keiner. Mein Mann ist ein Kuchenmuffel, und ich musste immer alles alleine essen und ich habe das dann irgendwann abgeschafft, weil dienstags auf der Waage zwanzig Kilo mehr waren, weil ich immer die Kuchen alleine essen musste. […] Herrlich ne? Damit ist man groß geworden, da hat man nie Zweifel dran gehabt, was einem die Mutter vermittelt, das muss ja sowieso stimmen und tüchtig sein, da kann man ja nicht sagen, hey das ist ja Blödsinn, ne?« (Interview 24, Z. 104ff.) Bevor sie aus Godesberg wegzog und zu arbeiten begann, also in den späten 1980er Jahren, habe sie als Kellnerin in einem Lokal ausgeholfen, das sie als »arabisch« beschreibt. Als sie im Interview davon berichtet, zieht Petra im Anschluss den Vergleich zur jetzigen Situation in der Godesberger Innenstadt. Als einen Einschnitt in ihrer Wahrnehmung benennt sie dabei den 11. September 2001: Yf: »Das hat supergut geklappt. Das war also ein Araber, wie gesagt, und der war sehr freundlich der war auch sehr kommunikativ, was man ja als Gastronom eigentlich auch sein sollte. Der hatte auch Freude daran gehabt, weil er auch Kinder hatte selber, in dem Alter wie wir so waren, das fand der glaube ich dann auch ganz interessant, auch mal so ein bisschen unsere Standpunkte zu sehen. Da gab’s überhaupt keine Verständigungsprobleme, das war aber auch ein offener Mensch, der Deutsch sprach.« Y1: »Und sie meinen in der jetzigen-« Yf: »Nein. Das ist es nicht mehr. Also selbst wenn man schon diese ganzen Vodafone Shops anschaut, das sind alles ausländische Betreiber.« Y1: »Meinen Sie, die sind also aus dem Ausland betrieben? Oder Leute die hier wohnen?« Yf: »Das weiß ich nicht. Also da sind sicher auch gebürtige Godesberger bei, die natürlich aber ausländischen Familienhintergrund haben und die nicht deutsch aussehen, aber sie sind natürlich deutsch. Das mag durchaus sein. Aber ich habe da jetzt nicht mehr das große Interesse, das herauszufinden, muss ich dann ehrlich sagen. Manchmal hat man dann so Arabisch sprechende Deutsche da vor sich, dass man gar nichts versteht, und dann lässt man’s auch gleich bleiben, ne? Es ist halt so ungewohnt, wenn die sich alle auf ihrer Sprache unterhalten, und das ja auch immer sehr laut, weil die ja immer alle so laut miteinander Palaver halten, was ja wirklich auch von denen kommt, palavern4 , ne?
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Und dann steht man so dazwischen, und man hat null Ahnung worüber die reden, und ich denke, es hat einfach auch dieser elfte September einfach so viel in den Köpfen der Menschen bewegt. Auch bei mir, wo ich wirklich nie angenommen hätte, dass man so etwas überhaupt jemals macht. Und da hat man glaube ich erstmal begriffen, was diese arabische Welt für einen Hass aus auf uns westliche Welt haben muss. Und da ist man wirklich sehr, sehr vorsichtig geworden. Und das schreckt ab.« (Interview 24, Z. 466ff.) Obwohl sie dem gängigen, ethnisierten Niedergangs-Narrativ (s. Teilkap. 2.1) der Lokalpresse entsprechend die Innenstadtentwicklung insgesamt negativ bewertet, berichtet sie später, dass sie einzelne Lokale häufig nutzt. Zu jedem Geburtstag probiert sie ein ihr unbekanntes Restaurant aus, am liebsten mit einer regionalen Zuordnung, die sie bis dahin noch nicht kenne. Ein neues Lebensjahr beginne für sie so immer mit etwas Neuem und das sei ihr wichtig. Manche Dinge gefielen ihr, andere nicht. So isst Petra nicht gerne Döner, Falafel hingegen schon. Sie sagt: »Ein guter Falafel mit ordentlich Schafskäse rein, und die Welt ist für mich wieder in Ordnung.« (Z. 334) Sie betont, dass sie sich damit eine innere gastronomische Landkarte zusammenbaue: Yf: »Jeder hat glaube ich so seine Merkmale, seine Fixpunkte. Der eine macht’s an, weiß ich nicht, an irgendwelchen Personen vielleicht fest, oder der andere an irgendwelchen Geschichten, die er da vielleicht erlebt hat, keine Ahnung. Und ich hab’s halt mit Essen, weil das kann man sich immer gut behalten: Wo ist was lecker? Das ist gut. Wo brauchst du’s nicht? Das ist mein eigener Führungsatlas. Das ist aber so, ich kann mich aber auch an Gerüche sehr gut erinnern und damit mache ich auch viele Fixpunkte. Und Essen ist ja aber auch wieder mit Geruch verbunden. Deswegen, also da bin ich in meinem Kopf einfach so gepolt, dass ich meine Erinnerungsbilder auf Geruch schlagartig abrufen kann.« (Interview 24, Z. 531ff.) Für Petra bleiben viele frühere, mittlerweile geschlossene Orte Teil dieser Landkarte. Es mache sie traurig, dass in der heutigen Godesberger Innenstadt kaum noch Lokale bestehen, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Für die Zukunft wünscht sie sich, 4
Der Begriff »Palaver« leitet sich vom portugiesischen »palavra« (Wort, Erzählung) ab, und soll ab dem 18. Jahrhundert verwendet worden sein, um langwierige Diskussionen beim Handeln im Hafen zu bezeichnen (laut dem online Etymology Dictionary, URL: https://www.etymon line.com/word/palaver, zuletzt aufgerufen am 12.11.2021). »Von denen« verstehe ich im Interview mit Petra deshalb als auf vage ›Andere‹ bezogen. Die Nähe des »Palaverns« zu dem zuvor von ihr vermissten »Klaafen« scheint mir im Interview auffällig, Petra sieht diese Verbindung jedoch nicht.
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dass in der Gastronomie ein Fokus auf »das einfach Schöne […], was vor der Tür ist« (Z. 608), gelegt wird. Damit meint sie insbesondere eine Besinnung auf regionale, rheinische Esskultur, wie sie sie in ihrer Kindheit erfahren hat und die sie als »einfache« Küche versteht: »Es geht beim Essen super einfach, das heißt nicht, dass es schlechter ist oder nichts wert ist, es ist einfacher, mitunter besser, nahrhafter, leckerer als wie dieses große Schischi, das muss nicht sein.« (Z. 607ff.) Abschließend sprechen wir über ihre Vision einer kulinarischen Neueröffnung in Bad Godesberg. Petra sagt, sie finde es schade, dass durch die »Modernität« alles Vergangene als »piefig« wahrgenommen würde (Z. 595). Sie kritisiert die »Schnelllebigkeit«, mit der der Respekt vor den Lebensmitteln zwangläufig verloren ginge (Z. 605). Ihrer Meinung nach ist dies eng mit – wie sie es nennt – dem »Wahn des worldwide« verbunden. Den Gegenpol bilden für sie nationale und regionale Küche: Yf: »Was ich interessant fände, wäre wieder so ein bisschen back to the roots. […] Und das würde mir für Godesberg denke ich einen kulinarischen Pepp geben, dass man irgendwo eine größere Fläche hat, wirklich auch was Rundes von mir aus, und dann kann man sich durch die sächsische Küche, durch die baden-württembergische, durch die bayrische, durch die rheinische, durch die nordische Küche…sowas hätte ich gerne. Deutsch mal bezogen, dass man mal wieder ein bisschen feststellt, OK, wir haben gute Küche, man muss es ja nicht mehr so fett und so deftig machen wie es unsere Mütter und Großmütter gemacht haben, aber auch in dieses Deftige, also in dieses Altbewährte kann man ja moderne Abwandlungen reinbringen. […] Das sind so die schönen alten deftigen Gerichte, die sind super gesund, die sind super günstig, und sie machen wahnsinnig satt. Und sie sind in großer Menge schnell eigentlich gemacht. Und das ist doch toll. Da muss man doch nicht immer so ein riesen Schischi betreiben und so ein Schickischicki und Schnickischnacki. Das ist gar nicht nötig, die gute deutsche Küche ist so einfach, aber so gut wenn man’s nicht eben übertreibt und sie bewusst einsetzt, überlegt was man da hineinbringt, da kann man super regional einkaufen und man hat ein super tolles Essen. Sowas würde ich mir wünschen. […] International probieren ist ganz toll, ist ganz super, man kann das auch super machen weil wir wirklich auch alles haben, wir können’s, wir haben’s ja vor der Tür wir können’s auch mal dann nutzen, aber man muss sich dann nicht immer nur dran aufhalten. Man kann eben auch mal sich deutschlandweit überraschen lassen was es alles gibt und da gibt es eine ganze, ganze Menge und das ist leider sehr in Vergessenheit geraten in diesem ganzen großen Wahn des worldwide.« (Interview 24, Z. 557ff.) Für Petra fehlt neben den internationalen Spezialitätenrestaurants (die sie durchaus gerne besucht) in Godesberg also ein explizit auf deutsche Küche ausgerichtetes, preisgünstiges Restaurant.
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Im Gespräch mit Faraz liegen die Schwerpunkte anders. Er spricht kaum über seine Vergangenheit, dafür umso mehr über seine Pläne für die Zukunft – doch auch diese sehen ganz anders aus als die Ideen Petras. Faraz ist in Iran geboren und vor einigen Jahren als minderjähriger Geflüchteter nach Deutschland gekommen. Mittlerweile ist er zwanzig Jahre alt, geht zur Schule, arbeitet nebenher und lernt weiter Deutsch. Er wohnt in einer Wohngemeinschaft mit anderen jungen Erwachsenen und mag den Stadtbezirk gern: Tm: »Ich finde Bad Godesberg eine sehr gute Stadt in Bonn, weil es eine Mischung von den Kulturen von allen Menschen gibt. Die Menschen verstehen sich viel besser, also auch die Deutschen. Leute die zum Beispiel von Anfang an da waren, konnten nicht so gut mit diesen Kulturen umgehen, weil das eine ganz andere Kultur ist. Aber jetzt in Bad Godesberg finde ich, die Leute sind netter miteinander und sie können sich besser verstehen.« (Interview 20, Z. 14ff.) Gastronomie spiele eine wichtige Rolle in seinem Alltag – erstens esse er häufig und gerne auswärts. Faraz ist viel unterwegs und beschreibt, dass er zwischen den Stationen seines Tagesablaufs stets dann etwas zu Essen kaufe, wenn er Hunger bekommt, unabhängig von der Uhrzeit. Zweitens wolle er in Zukunft selbst Gastronom werden. Mit einem Freund plane er, ein Sushirestaurant zu eröffnen. Bisher fehle ihm dafür die Erfahrung, deshalb wolle er zunächst einige Jahre in einem solchen Restaurant arbeiten, um dort Wissen zu sammeln, was Netzwerke, Preise, Zubereitung und Vertrieb angeht. Seinen eigenen Laden möchte er in einer großen Stadt aufmachen, am liebsten jedoch nicht in Bonn. Sushi gefällt ihm deshalb so gut, weil es ihn für einen ganzen Tag sättigt: »Dann muss ich mir nicht für das Mittagessen oder Abendessen Sorgen machen, weil ich komplett satt bin, dann habe ich Energie für meinen Tag.« (Z. 46). Außerdem interessiert Faraz sich für Japan: Tm: »Also wo es günstig ist, und gute Qualität, finde ich gut. Manchmal gucke ich zum Beispiel, wie viele Leute in ein Restaurant reingehen, zum Beispiel aus welchen Ländern. Ich mag zum Beispiel die japanische Kultur, das probiere ich auch manchmal aus. Also wie gesagt, ich kontaktiere die Leute, rede darüber, dass ich auch ein japanisches Restaurant machen will, ein bisschen die Kultur kennenlernen, über das Essen reden, also das mag ich auch.« (Interview 20, Z. 101ff.) Sushi ist neben Pizza sein Lieblingsgericht. Pizza schmecke ihm besonders gut, wenn der Teig dünn ist und viel Käse verwendet wird. Zu dicken Teig mag er nicht, außerdem erinnere ihn der dünne Teig an Pizzerien in Iran. Er erzählt, dass es dort sowohl »italienische Pizzerien« gebe als auch solche, die von Iraner:innen
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betrieben würden. Faraz unterscheidet insgesamt klar zwischen Nationalküchen. Neben der japanischen und der italienischen spricht er auch über deutsche Küche, mit der er sich weniger gut auskennt und die er eher auf den privaten als auf den gastronomischen Bereich bezieht: Tm: »Beim deutschen Essen habe ich nicht so viel Ahnung, aber trotzdem esse ich viel deutsches Essen. Also ich kenne nur Kartoffeln, weil wir haben nur in der WG am meisten Kartoffeln gegessen, also mit Salat oder mit was anderem. Am meisten also Bratkartoffeln als Hauptrolle. Ich finde das ist gut, aber nach ein paar Wochen wird dir langweilig, dann denkst du, was für Essen! Aber das ist bei allem so, also ich finde, wenn man zum Beispiel jeden Tag Wasser trinkt, dann denkt man, OK, ich will jetzt was anderes zum Beispiel ausprobieren.« (Interview 20, Z. 56ff.) Er berichtet von weiteren Restaurants, die er gerne aufsucht, beispielsweise ein afghanisches. Für ihn sei wichtig, dass das Essen günstig ist und hohe Qualität hat. Damit meint er vor allem eine frische, standardisierte Zubereitung. Tm: »Gute Qualität hat das Essen finde ich, wenn es nicht verbrannt ist. Schlechtes Fleisch, wie sagt man, altes Fleisch soll man nicht benutzen, diese alten Zutaten zum Beispiel finde ich nicht gut. Also das ist nicht gut für den Geschmack und man bekommt danach natürlich auch so Krankheiten. Nicht sofort, aber es kann sein, dass man nach einem Monat das vielleicht bekommt.« (Interview 20, Z. 38ff.) Neben den nationalen Bezügen, die er eröffnet, gibt es eine weitere zentrale Kategorie, die für Faraz die Entscheidungsgrundlage dafür bildet, ob er ein Restaurant nutzt: Er bevorzuge »modernes« Essen. Das äußert sich auch darin, dass ihn globale Ketten besonders ansprechen: Tm: »Bei Ketten, also McDonalds finde ich echt gut, weil das Essen günstig ist, also du bekommst das Essen so schnell auf die Hand, oder du kannst einfach so da essen. Also meistens bekomme ich es auf die Hand, da kann ich auch einfach so also auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit essen und das ist viel besser.« (Interview 20, Z. 27ff.) Zumeist hält er sich nur kurze Zeit in den von ihm besuchten Restaurants auf. Er betrachtet Essen tendenziell als funktional, weshalb es ihm gelegen kommt, wenn alles möglichst schnell geht und effizient abläuft. Mit anderen Menschen unterhalte er sich beim auswärtigen Essen zwar nicht grundsätzlich ungern, aber er interagiere nur mit anderen, wenn es »nötig« sei (Z.72). Faraz berichtet, dass er eher abends bei
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einem Bier mit anderen Gästen der Gastronomie ins Gespräch komme, wenn neben dem Essen noch etwas anderes geschehe, beispielsweise Fußball geschaut werde. Wichtig ist ihm, dass das Gespräch sich um ein interessantes Thema dreht – als Selbstzweck betrachtet er Tischgespräche nicht. Später beschreibt er seine Vision einer zukünftigen, automatisierten Gastronomie. Gerade für Deutschland, eine »moderne Gesellschaft«, betrachtet Faraz die Verbindung von Esskultur und Technologisierung als zukunftsträchtig und imagefördernd: Tm: »Dekoration ist auch wichtig, wo es schön ist. Ich finde so moderne Restaurants sehr viel besser. Also ich finde, wie sagt man das, ich brauche ein Wort…ich habe das vergessen. Das Gegenteil von modern, also in dem Fall für Restaurants. Ah, traditionell. Das ist auch gut, aber ich interessiere mich mehr für moderne Restaurants. […] Also ich finde mehr Technologie zum Beispiel gut. Das ist nur eine Idee, das muss jetzt nicht später genauso passieren. Das ist nur meine Idee, kann sein, dass das auch die Idee von vielen Menschen ist. Aber ich denke gerne an ein modernes Restaurant, in dem statt Leuten, also statt normalen Menschen, zum Beispiel Roboter arbeiten. Oder auf dem Tisch muss zum Beispiel nicht alles so traditionell also aus Holz sein, sondern ein bisschen moderner. Auch die Technologie kann man zeigen. […] Deutschland ist eine moderne Gesellschaft, also zum Beispiel weil die in der Wirtschaft etwas zu sagen haben. […] Wenn es so ein Restaurant gäbe, würde ich das ausprobieren. Zum Beispiel in der Küche sind nur Roboter, die da arbeiten. […] Da gibt’s zum Beispiel ein Rezept, dann bekommst du das Essen für die Kunden, das ist genau wie bei McDonalds, so schnell, mit guter Qualität, nicht verbrannt, genau mit den Zutaten. Das finde ich gut. […] Ich finde, das ist auch eine Werbung, also ein gutes Aussehen durch die Technologie. Es ist eine Mischung zwischen Essen und Technologie. Dann kann man auch zum Beispiel moderne Essen wie Hamburger machen. Wir hatten früher keine Hamburger oder? Man kann das auch mit Sushi oder einem neuen Essen machen, das wir jetzt nicht kennen. Deshalb ist es auch ein bisschen schwierig. Also welches Essen mit welchen Zutaten? Wie muss das aussehen, was ist eigentlich modern beim Essen, das sind die Fragen. Also kann man das beantworten? Aber mit einer Gruppe, ja. […] Sonst ist es Gewohnheit. Man muss halt alle, viele Essen ausprobieren, und dann am Ende entscheiden, welches Essen ist besser, was ist dein Essen. […] Ich finde das wichtig, vielleicht in zwanzig Jahren oder dreißig Jahren. Also die Welt ändert sich, vor dreißig Jahren oder zwanzig Jahren hatte niemand zuhause einen Computer oder einen PC und dann nach zehn Jahren hatten die meisten einen PC. Also die Leute verbessern sich mit Robotern zum Beispiel, machen das Leben einfach. Auch beim Essen, das ist auch sehr wichtig. Viele Leute arbeiten zum Beispiel so hart, dann haben sie keine Lust zu essen und sie können nicht, dann machen die Roboter zum Beispiel einfach zuhause oder in einem Restaurant etwas. Das ist auch eine Idee. […] Ich den-
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ke zum Beispiel, diese Arbeit würde ich später zerstören, weil die Leute brauchen sie nicht. Also doch, sie brauchen es, in ein Restaurant zu gehen, aber sie brauchen es nicht, als Koch zu arbeiten.« (Interview 20, Z. 108ff.) Dass viele Menschen einen solchen von ihm angestrebten Wandel ablehnen, erklärt sich für Faraz vor allem über das Alter. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen dem Alter und dem Festhalten an Gewohnheiten, beziehungsweise der Freude am Ausprobieren von Neuem: Tm: »Also das ist meine Meinung, vielleicht ist die falsch, vielleicht richtig. Aber ich sehe das so: Das liegt am Alter, also zum Beispiel ältere Leute haben eine Gewohnheit und sie wollen ihre Gewohnheit nicht ändern. Nicht weil die Gewohnheit blöd ist oder nicht blöd, sondern einfach wegen ihren Gründen. Sie denken zum Beispiel, das ist ein gutes Essen, und sie wollen ihren Kindern auch vorschlagen, das zu essen. Zum Beispiel wegen den Zutaten oder wegen etwas anderem. Und bei jungen Menschen, so zwischen zwölf bis siebzehn vielleicht, da ist es eher wegen den Freunden, wegen der Gesellschaft. […] Also ich bin jetzt zwanzig, keine Ahnung, vielleicht wollen die Leute, die zwanzig sind, ein bisschen mehr ausprobieren. Was gut ist, was schlecht ist, welches Essen es gibt, es gibt auch so viele Essen! Also man kann gar nicht alles ausprobieren. Ich habe letztens einen Text gelesen von einer Zeitschrift in New York. Da gibt es so viele Restaurants, wenn man jeden Tag zu einem anderen Restaurant geht, würde das viele Jahre dauern.« (Interview 20, Z. 84ff.) Diese Vielfalt im Angebot gefällt Faraz einerseits, andererseits ist es ihm wichtig, in der Gastronomie möglichst optimierte Gerichte anzubieten, was das Ziel seiner eigenen beruflichen Zukunft darstellt. Sowohl Faraz als auch Petra kennen zahlreiche gastronomische Orte in Bad Godesberg, die sie als Beispiele benennen, um ihren Alltag ebenso wie ihre Einschätzungen und Meinungen zum Bezirk, zur Gesellschaft und zu Veränderungen, die sie wahrnehmen, zu verdeutlichen. Manche Orte nutzen sie selbst, andere kennen sie lediglich und stellen Vermutungen über deren Kund:innen und dortige kulinarische Praktiken an. Bei aller Verschiedenheit der Standpunkte ist Faraz und Petra gemeinsam, dass sie gastronomischen Orten eine hohe Bedeutung zumessen. Auf einige dieser Orte und deren Rahmung als Gastronomie gehe ich im nächsten Teilkapitel ein.
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5.2 Der Rahmen ›Gastronomie‹ Faraz und Petra sprechen beide über einzelne Gerichte und damit verbundene Esspraktiken, vor allem jedoch über Restaurants. Gastronomie ist für sie ein fester Bestandteil ihrer Alltagsgestaltung, bei Petra außerdem stark verbunden mit Kindheitserinnerungen und bei Faraz mit seiner beruflichen Zukunft. Beide bewerten ihr gegenwärtiges Umfeld und ihren Alltag – damit auch ihre aktuelle Lebenssituation – im Stadtbezirk anhand des gastronomischen Angebots. Die zweite Leitfrage nach der Repräsentation kultureller Zugehörigkeit lässt sich in Bezug auf kommerzielle kulinarische Orte entsprechend konkretisieren: Wie verknüpfen Anwohner:innen Godesbergs reflexiv ihre individuelle, gastronomische Nutzung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Gruppenzugehörigkeiten und Ortsbezogenheit? ›Zugehörigkeit‹ lässt sich verstehen als Kategorie der »Ortsbezogenheit« (Binder 2010, 203) und als Positionsbestimmung in lokalen Ordnungen (s. auch FN 5, Kap. 1). Sie wird von Individuen für sich selbst oder für andere, aber ebenso kollektiviert (zum Beispiel in öffentlichen Diskursen oder in institutionellen Strukturen) beansprucht. ›Kulturell‹ sind solche Zugehörigkeiten insofern, als dass sie Zeichen von »situated and embodied difference« darstellen (Appadurai 1996, 13). Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise bürokratische Differenzen wie unterschiedliche Staatsangehörigkeiten oder die formale Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft (auch wenn beides natürlich in steter Wechselwirkung mit alltäglichen Praktiken und situierter kultureller Differenz steht – um zwei verschiedene Ebenen handelt es sich dennoch). Arjun Appadurai (2006) betont die Relevanz somatischer Ausdrücke von Differenz, also neben Praktiken des Kleidens oder Sprechens gerade auch des Essens (s. ebd., 104, s. auch FN 4, Kap. 2). Er weist darauf hin, dass solche »Körpertechniken« (Mauss 1973, zit.n. Appadurai 2006, 67) in besonderem Maße dem Druck der Habituation ausgesetzt sind: Über konsumbezogene Alltagspraktiken werde der Körper zum »ideal site for the inscription of social disciplines« (ebd.). Beim Essen wird »uniformity through habituation« (ebd.) besonders relevant, sodass im Umkehrschluss auch Unterschiede und Differenz bei esskulturellen Praktiken eine hohe Bedeutung erhalten. Diese Bedeutung zeigt sich darin, dass alltägliche kulturelle Praktiken das bestimmen, was Appadurai als »imagination as a social practice« (ebd., 31) bezeichnet. Gemeint sind Imaginationen kultureller Gruppen und deren Grenzen. Wenn ich von Repräsentationen der Zugehörigkeit spreche, meine ich die materiellen, praktischen und diskursiven Bestandteile dieser individuellen und kollektivierten Imaginationen. Als kollektiviert können sie dann gelten, wenn ein bestimmtes Bild zum allgemeinen Referenzpunkt zum Beispiel in Bezug auf einen bestimmten geografischen Raum wird – so beschreibt beispielsweise Edward Said (1979) diese »imagined geographies« eindrücklich in Bezug auf den »Orient«.
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Auch bei Petra zeigen sich Bestandteile solcher Orientalismen, indem sie das ›Eigene‹ und ›Bekannte‹ dem ›Exotischen‹ und ›Fremden‹ gegenüberstellt: Yf: »Wir waren gut behütet, das war in Ordnung aber man hat auch nicht nach mehr gefragt, weil man’s ja eigentlich gar nicht wollte und brauchte und auch nicht kannte, und das war in Ordnung vor der eigenen Haustür, wie es war. Deswegen. Aber dann, ja wie gesagt, es roch halt so interessant, es roch so ganz anders, also die arabischen Düfte oder überhaupt die orientalischen Düfte sind ja nun ganz andere. Die Gewürze, die Marinaden, das war ja von zuhause nun gar nicht in irgendeiner Form bekannt, und das war natürlich schon reizend, spannend.« (Interview 24, Z. 340ff.) Umgekehrt bezieht sich Faraz auf eine Imagination von ›Moderne‹, die er mit Japan und Deutschland verbindet5 und mit der er die Verbesserung sozialer Lebensumstände durch Effizienzsteigerung und Technologie anstrebt. Faraz will Teil eines globalen Modernisierungsprozesses werden, während Petra daraus aussteigen möchte. Petra wünscht sich eine klare Unterscheidbarkeit von ›traditioneller Küche‹ und ›internationalen Spezialitäten‹ und strebt eine Gegenbewegung zur globalisierten Modernisierung an. Aus Faraz Perspektive bedeuten Traditionen hingegen eine Einschränkung. Technologisierung verheißt für ihn zukünftig gesteigerte Lebensqualität. Diese unterschiedlichen Perspektiven lassen sich nicht einfach auf die verschiedenen Geburtsorte zurückführen – zwischen den beiden liegen schließlich auch über 30 Jahre Altersunterschied. Aus ihrer Jugend erzählt Petra von ähnlichen Wünschen wie Faraz, während er das Festhalten an Gewohnheiten bei älteren Menschen nachvollziehen kann. Nicht nur Alter und Geburtsort unterscheiden die beiden Perspektiven: Die Aspekte, auf die sich die Repräsentationen von Zugehörigkeiten in lokalen Ordnungen beziehen, sind komplex. Welche Bestandteile dabei aufgerufen werden, ist empirisch für unterschiedliche lokale Kontexte zu klären (s. dazu Teilkap. 1.2). Unabhängig davon, ob es um die Zugehörigkeit zu einer alters-, migrations-, klassenbezogenen oder ganz anders definierten Kategorie geht – esskulturelle Praktiken und gastronomische Orte sind deshalb so eng damit verbunden, weil ihnen schnell eine raum- und zeitbezogene ›Authentizität‹ zugeschrieben wird (s. May 1996, s. auch Teilkap. 1.2). Aus der Ambivalenz von Natürlichkeit und Normierung, die das Essen auszeichnet (s. auch Teilkap. 1.1), resultiert die Deutung von Esspraktiken als ›authentisch‹, fest verbunden mit bestimmten Orten oder
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Nicht nur Faraz fokussiert seine Vorstellung von ›Moderne‹ auf Japan. Japan gilt in der soziologischen Modernisierungstheorie als Variante zur »westlichen« Modernisierung (s. Eisenstadt 2006).
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Regionen und oft auch daraus abgeleiteten Gruppen und Traditionen. Statt diese Deutungen im Einzelfall wahlweise zu dekonstruieren oder zu untermauern, lassen sie sich am Beispiel von Faraz und Petra differenzierter untersuchen. Die ›Authentizität verleihende‹ Eigenschaft von alltäglichen Esspraktiken erlaubt einen Blick darauf, wie Individuen im eigenen Umfeld Bezüge zu naheliegenden Orten herstellen, aber auch zu weiter weg liegenden oder imaginierten Räumen und Gruppen. Auch Verweise esskultureller Praktiken auf Vergangenheit oder Zukunft verbinden sich damit. Gerade in einem Kontext von hoher räumlicher Mobilität im eigenen Lebensverlauf oder starker Diversität in der Beobachtung der eigenen Umgebung, wie sie nicht nur für Faraz und Petra, sondern allgemein in Godesberg gegeben ist, hat dieses Herstellen von Ortsbezogenheit in Verbindung mit einer zeitlichen Ausrichtung eine hohe Relevanz. Ich fokussiere mich in der Analyse des Beispiels von Petra und Faraz und ihrer Beschreibung esskultureller Praktiken und gastronomischer Orte in diesem Teilkapitel deshalb auf drei Teilfragen: Was sind relevante Kategorien der Zugehörigkeit in der Selbstzuschreibung der beiden? (1) Welche Zugehörigkeiten beobachten sie bei anderen? (2) Welche materielle und diskursive Basis finden diese Zuschreibungen im gastronomischen Angebot Godesbergs? (3) Zur ersten Teilfrage nach den Selbstzuschreibungen esskultureller Zugehörigkeit (1) fällt auf, dass Faraz und Petra zwar unterschiedliche Orte nennen, die jedoch ähnliche Eigenschaften aufweisen. Beide sprechen von Kneipen, die sie nicht primär zum Essen aufsuchen, dort aber neben Gesprächen und gemeinschaftlichen Beschäftigungen (wie Fußballgucken) durchaus auch etwas essen. Den Kontrast bilden globale Ketten. Auch diesen Typ von Gastronomie beschreiben Faraz und Petra ähnlich, als modern, effizient und praktisch. Der dritte Typ zwischen lokalem Stammlokal und globaler Kette, auf den sie sich beziehen, sind Restaurants, die raumbezogene Spezialitäten anbieten. Für Petra steht das Erlebnis und die Abwechslung der Besuche zu besonderen Anlässen im Vordergrund, für Faraz die Spezialisierung insbesondere auf das, was er unter japanischer Gastronomie versteht, um selbst in diesem Bereich Fuß fassen zu können. Spezialitätenrestaurants treten in den Interviews also einmal in der Variante der persönlichen Freizeitgestaltung, einmal als Bereich der zukünftigen Professionalisierung auf. Hinzu kommt, dass sowohl Faraz als auch Petra manche gastronomischen Orte eher als ›fremd‹, andere als ›bekannt‹ beschreiben. Bei beiden ist die Bewertung als ›fremd‹ weniger mit Personengruppen, sondern stattdessen eng mit persönlichen Qualitätskriterien verknüpft. Vor allem wenn es um Fleischgerichte geht, vermeiden Petra und Faraz Unsicherheiten, die sie mit ›fremden‹ Orten verbinden. Faraz besucht keine Restaurants, in denen er die Qualität und Frische des Fleisches nicht einschätzen kann, da er Angst vor einer Lebensmittelvergiftung hat. Nicht zuletzt deshalb gefallen ihm die standardisierten Prozesse bei McDonalds. Das einzige Restaurant, das er nutzt aber nicht als ›modern‹ beschreibt, ist ein afghanisches, das
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viele Jugendliche im Bezirk nutzen – und das Dari oder Farsi sprechenden jungen Menschen mit wenig ökonomischen Ressourcen auch hin und wieder ohne Bezahlung Essen serviert (Interview 12). Auch Petra vermeidet ihr unbekannte Fleischgerichte. Sie beschreibt, dass sie neue gastronomische Orte schon als Mädchen gern erkundet hat, bei Fleisch jedoch eine Ausnahme macht: Yf: »Wegen dem Fett da drin, ich mag diese Fette da nicht. Uh, das ist so ekelig finde ich, wenn ich auf was rumbeiße was ich nicht deuten kann und so. Also das Fleisch brauche ich nicht. […] Aber es hat wirklich lange gedauert bis ich mich da rein getraut habe, wenn man einmal so diesen Sprung geschafft hat, dann ist das auch OK. Und dann hat man’s auch begriffen, und heute, jetzt weiß man, was ist Kebap, was ist Döner, und was kann man und was kann man nicht, aber damals war es wirklich so eine Distanz. Und ich war als Mädchen vielleicht auch ein bisschen anders als die Jungs, die sind da wahrscheinlich ein bisschen cooler reingegangen, das mag sein, aber die Mädchen…man war als Mädchen doch noch ein bisschen zurückhaltender, weil mit ja so dreizehn, vierzehn war man noch nicht so wie die Damen heute, schon ganz toll und weltinformiert. Man war da wirklich noch ein bisschen hinter’m Mond und Godesberg war ein kleines Provinznest.« (Interview 24, Z. 333ff.) In den Interviews werden viele konkrete gastronomische Orte benannt. Zugleich sprechen beide aber auch genereller über Gerichte, die dann zumeist mit der eigenen Vergangenheit in Beziehung stehen. So erinnert sein Lieblingsgericht Pizza Faraz an seine Zeit in Iran. Bei Petra erfüllen diese Rolle rheinische Gerichte. Zur Frage nach der Selbstzuschreibungen von Zugehörigkeit fällt auf, dass beide gastronomische Orte in Bad Godesberg anhand verschiedener Merkmale zu ›eigenen‹ oder ›fremden‹ Orten erklären: Einerseits geht es dabei um räumliche Bezüge. Es wird zwischen bekannter (›eigener‹) und unbekannter (›fremder‹) Gastronomie unterschieden, wobei sich letztere beide mit der Zeit in begrenztem Maße aneignen. Andererseits unterscheiden Petra und Faraz zwischen ›moderner‹ und ›traditioneller‹ Gastronomie. Sie bewerten dies unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen die Zuordnung von spezifischen Lokalen zu der eigenen Esskultur über die zeitliche Fokussierung. Für Petra ist die Besinnung auf die Vergangenheit wichtiger, für Faraz hingegen die Fokussierung auf die Zukunft. Beide nutzen darüber hinaus auch konkrete räumliche Zuordnungen, vor allem über Nationalküchen, dies jedoch kaum in der Anwendung auf die Beschreibung der eigenen esskulturellen Nutzung gastronomischer Angebote im Bezirk. Damit komme ich zur zweiten Teilfrage nach der Beobachtung von Zugehörigkeiten bei anderen (2). Faraz hält sich in seiner Beschreibung anderer Nutzer:innen der Godesberger Gastronomie kurz. Er erwähnt seine Mitbewohner:innen, mit denen er ›deutsche‹ Kartoffelgerichte isst, und beschreibt Godesberg allgemein als
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lebenswerten Stadtbezirk. Seine Erläuterungen zum gastronomischen Angebot beziehen sich auf ausgewählte innerstädtische Bereiche, in denen er einige Restaurants, einen Dönerladen und einen Bäcker verortet (s. Abb. 17). Alle Orte, die er benennt, sind Teil seines eigenen Alltags, über andere Orte oder Anwohner:innen macht er keine Aussagen. Wenn er von seinen Zukunftsvisionen spricht, macht er stets deutlich, dass es sich dabei lediglich um seine persönliche Perspektive handelt und andere Personen andere Wünsche, Ideen und Meinungen haben können.
Abb. 17: Zeichnung Interview 20 (Juli 2019)
Bei Petra gestaltet sich das anders. Sie spricht ausgiebig über Nutzer:innengruppen der Innenstadt, die sie dort wahrnimmt. Sie benennt nicht nur Orte, die sie selbst aufsucht, sondern auch solche, die für sie Zeichen der Anwesenheit bestimmter Gruppen darstellen, zu denen sie sich nicht zugehörig fühlt. Die Benennung anderer, wohlhabender Gruppen geht mit der Beschreibung ihrer eigenen Kindheit und Jugend ohne die finanziellen Ressourcen zum auswärtigen Essen einher. Sie positioniert sich (im Gegensatz zu Faraz) damit explizit in Bezug auf Einkommensschichten, außerdem auch in Bezug auf ihren Mobilitätsradius, der sie von den international mobilen Kosmopolit:innen im Bezirk unterscheidet (s. Teilkap. 2.3). Während sie eine Skizze der Godesberger Innenstadt entwirft (Abb. 18), nennt sie zunächst unterschiedlichste Lokale mit nationaler Zuschreibung, die sie positiv bewertet, bis sie zur Arcadia-Passage übergeht:
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Yf: »Ja gut da hinten geht’s ja dann so in die Richtung wieder arabisch-muslimisch. Da ist das Damaskus dann auch glaube ich, […] aber da kommt man halt dann auch da in die arabische Ecke, wer’s dann da mag, kann ich nicht’s zu sagen. […] Ich war da noch nie, ich traue mich da auch alleine gar nicht mehr rein, muss ich ehrlich sagen, also diese ganze Arcadiapassage im hinteren Teil, als deutsche Frau alleine fühle ich mich inzwischen einfach unwohl. Und das ist eigentlich so die ganze Koblenzer Straße runter, da ist ja dann nur noch ein arabischer Imbiss nach dem anderen, deutsch ist da wirklich nichts mehr. Und da war früher dann auch noch das Café Münster auf der Ecke, auch Familienbetrieb, ist auch weg. Leider. […] Das weiß ich noch, weil nämlich direkt gegenüber meine Ballettschule war, und ganz am Anfang hat meine Mutter sich dann nämlich immer da platziert, Kaffeetrinken, und ich hatte dann immer meinen Fensterplatz und konnte Mama gucken. […] Aber das ist dann halt auch irgendwann aufgegeben worden, dann kam auch ein, weiß ich nicht, türkischer Imbiss oder was das damals dann war, das war ja schon in den achtzigern, aber seitdem ist das dann irgendwie so immer in der ausländischen Hand geblieben.« (Interview 24, Z. 73ff.) Petra verbindet das Vermissen ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter, ihr Auftreten als Frau in einer männlich dominierten Öffentlichkeit sowie ihre Ablehnung von konkreten Veränderungen und allgemeineren Modernisierungsprozessen mit der Diagnose einer Übernahme durch die »ausländische Hand«. Damit meint sie aber nicht grundsätzlich die vielen unterschiedlichen Nationalküchen, die sie kennt und schätzt, sondern explizit eine einzelne Gruppe, die sie als »arabisch-muslimisch« benennt. Hier zeigt sich das gegen muslimische Anwohner:innen6 gerichtete Zuschreibungsmuster, das für Bad Godesberg insgesamt von hoher Relevanz ist (s. Teilkap. 2.2), in der Anwendung auf das gastronomische Angebot. Orte oder Gerichte sind nun aber nicht ›an sich‹ muslimisch, christlich oder säkular – sie werden durch situative Praktiken in entsprechende Sinnzusammenhänge eingebunden. Die Zuschreibung Petras einer Straße als »arabische Ecke« lässt sich nicht an einzelnen materiellen Eigenschaften des Ortes an sich festmachen. Welche diskursive und materielle Basis haben diese Zuschreibungen also (Teilfrage 3)? Von großer Bedeutung ist zunächst die Verortung im Bezirk. Ebenso wenig, wie Petra auf die Kneipe eingeht, die sich durchaus als ›alteingesessen‹ beschrieben ließe und die in der von ihr gemiedenen Passage verortet ist, erwähnt Faraz die Gastronomie, die ihn ansprechen könnte (wie einige Sushirestaurants), aber außerhalb des innerstädtischen Bereichs liegt. Deutlich wird daran, dass 6
Die Ablehnungshaltung bezieht sich auf muslimische Anwohner:innen – was jedoch nicht bedeutet, dass nur Muslim:innen direkt von situativer Ablehnung betroffen sind. Auch nichtmuslimische Personen werden aufgrund somatischer Zeichen wie Sprache oder Hautfarbe häufig dieser Kategorie zugeordnet.
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ganzen Gebieten oder Straßenzügen bestimmte, homogenisierte Eigenschaften zugeschrieben werden, und die einzelnen Orte nicht für sich genommen betrachtet werden. Am Beispiel Petras zeigt sich außerdem, dass die Vorgeschichte konkreter Orte und der Bezug zur individuellen Vergangenheit Einfluss darauf haben, ob neue gastronomische Angebote dort einer bestimmten Zuschreibung ausgesetzt sind oder nicht.
Abb. 18: Zeichnung Interview 24 (Februar 2020)
Die überwiegende Zahl an Lokalen, die Petra nennt, erhalten von ihr keine direkte Zuschreibung oder gar Bewertung. Eröffnen jedoch neue Lokale an Orten, an denen sie die frühere Gastronomie kennt, ordnet sie die Neuerung einer Gruppe der (meist muslimischen) ›Anderen‹ zu und bewertet sie überwiegend negativ. Neben der räumlichen und lokalhistorischen Position einzelner Lokale im Bezirk ergeben sich Zuschreibungen vor allem in Bezug auf die äußere Gestaltung: die Beschriftung und die Fassade. Die angebotenen Gerichte sowie die Gestaltung des Innenraums sind ebenfalls von Relevanz, erfordern jedoch zur Einschätzung schon eine höhere Nähe und Zuwendung als das einfach Vorbeigehen. Arabische Schriftzeichen werden von Petra – unabhängig davon, ob sie für eine Beschriftung auf Farsi, Dari, Kurdisch oder Arabisch genutzt werden – als der Kategorie »arabisch-muslimisch« (s.o.) zugeordnet. Auffällig ist, dass gerade im Innenstadtbereich die Einsehbarkeit durch die Fassadenfenster wie auch die Existenz und Gestaltung eines Außensitzbereiches einen Unterschied in der Zuschreibung ergeben. Für Petra sind Orte, die ihr schlecht zugänglich erscheinen ›arabisch‹, während sie andere Restaurants mit ähnlicher Küche, die sie gerne und oft aufsucht, nicht als solche beschreibt. ›Arabisch‹ bezieht sich in der Verwendung Petras weniger auf eine regionale Küche, schließlich liebt sie Falafel und Spezialitätenrestaurants. Stattdessen beschreibt der Begriff eher die Ablehnung ihrer vagen Vorstellung ›des Islams‹. Sie vermutet dabei
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einen direkten Einfluss ›des Islams‹ auf den Prozess der Schließung von Lokalen ihrer Kindheit. Dies ist jedoch keine auf Petras Ablehnung begrenzte Erkenntnis – grundsätzlich lässt sich davon ausgehen, dass die physisch bestimmte Einsehbarkeit und Zugänglichkeit direkte Auswirkungen auf die Einordnung des betreffenden Lokals haben. Am Beispiel der schon erwähnten Arcadia-Passage lässt sich das gut illustrieren. Auch Faraz nutzt diese Passage nicht – im Unterschied zu Petra erhebt er jedoch keinen Anspruch darauf, jeden Teil der Godesberger Innenstadt zu kennen, zu nutzen und sich dort wohlzufühlen. Zudem stehen für ihn keine Kindheitserinnerungen der Nutzung der Passage im Kontrast zur gegenwärtigen Meidung. In der Passage herrscht aktuell tatsächlich wenig alltäglicher Verkehr. Die Passage, deren Name Bögen, Weite und Offenheit erwarten lässt, setzt sich stattdessen aus drei schlecht beleuchteten Gängen zusammen, die nur knapp über zwei Meter hoch sind und an einem Punkt in der Mitte zusammenlaufen. Man sieht dadurch von keinem Eingang aus einen Ausgang und jeder Gang scheint zunächst eine Sackgasse. So wird rein baulich das Gegenteil des Arkadeneffektes erzielt. Statt einen Übergangsbereich zu schaffen, bleibt am Anfang der Gänge unklar, was am anderen Ende wartet und es ist schwierig, einzuschätzen, ob es sich um einen privaten, einen öffentlichen oder einen kommerziell bestimmten Raum handelt – wie man sich beim Eintritt also zu verhalten hat. Geschäfte, die auf ihre Schaufensterwirkung angewiesen sind, können sich in der Passage wenig überraschend nicht halten, sodass viele Ladenlokale gastronomisch gebraucht werden. Auch wenn Faraz’ und Petras Meidung der Passage ein Beispiel dafür ist, wie manche materiellen Gegebenheiten dazu führen, dass bestimmte städtische Bereiche kaum genutzt werden, zeigt sich doch, worauf Clemens Albrecht (2020) in Bezug auf baulich geschaffene Atmosphäre hinweist: »Manchmal setzen die Räume einfach Bedingungen, mit denen man zurechtkommen muss.« (ebd., 254). Arkaden in der üblichen Form von Bogengängen tragen dazu dabei, Übergangsbereiche zu schaffen und damit die Entscheidung des Eintritts vom Außen- in einen Innenraum zu erleichtern. Die Gastronomie in der Arcadia-Passage nutzt eine Strategie, die diesen Arkadeneffekt – die Stufung der Eintrittsentscheidung – atmosphärisch nachbildet. So liegt ein äußerer Sitzbereich noch außerhalb der Passage, von dem man nach innen auf den Innenraum eines Restaurants blickt. Von dort lässt sich der zweite Sitzbereich an der Kreuzung der Passage einsehen, rein baulich am schlechtesten Ort gelegen. Durch die Einsehbarkeit vom Restaurant aus bildet er eine Zwischenstufe zum Übergang in den nächsten Innenraum an dem mit dem Restaurant verbundenen Lokal innerhalb der Passage. Neue Besucher:innen können so zunächst den Außensitzbereich nutzen und stückweise den Innenbereich der Passage kennenlernen. Es lässt sich von außen beobachten, welche Normen und Regeln im Innenraum gelten, ohne selbst schon in die Situation eingebunden zu sein. Ein Zurückziehen ist ebenso möglich wie das Einschätzen der Rahmung und der eigenen
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Rolle und Position darin (s. Goffman 1974b). Die beiden entsprechenden Lokale werden trotz der problematischen baulichen Gegebenheiten gut genutzt – und zugleich wird die Passage dennoch mit Kriminalität und Jugendgewalt verbunden (vgl. u.A. Q Klingelhöfer 2017; Q Käppner 2015). Im Falle Petras verbinden sich diese Aspekte mit ihrer Ablehnung des ›Islams‹, für Faraz zählt die Passage hingegen lediglich zu den Bereichen der Innenstadt, die für ihn persönlich irrelevant sind. Grundsätzlich fällt auf, dass die Einsehbarkeit für das Erkunden unbekannter Gastronomie eine große Rolle spielt. Dabei geht es sowohl um die Festigung eigener Zugehörigkeiten als auch um die Einschätzung der städtischen Umgebung. Über esskulturelle Praktiken und deren Positionierung in materiellen und diskursiven Umgebungen werden einerseits eigene Zugehörigkeiten, andererseits die von anderen sowie deren Blick auf die eigenen Alltagspraktiken kommuniziert. Anhand der Zuschreibungen von Faraz und Petra fallen für ihren lokalen Kontext einige besondere Aspekte von Zugehörigkeit auf: Ihr Leben ist auf unterschiedliche Weise von extremer Mobilität und dem entsprechenden Wandel alltäglicher Praktiken und deren Situierung bestimmt. Faraz hat trotz seines jungen Alters schon in vielen verschiedenen Ländern gelebt, Petra hingegen hat ihr gesamtes Leben in einem Stadtbezirk verbracht, in dem große Teile der Anwohner:innen nur für einige Jahre bleiben und oftmals international mobil sind. Innerhalb dieser hohen Dynamik verorten beide das gastronomische Angebot, dass sie nutzen. Faraz diagnostiziert eine Modernisierung der Gastronomie, die er zukünftig aktiv mitgestalten will. Petra beobachtet ähnliche Prozesse, lehnt diese aber ab und verortet ihre persönlichen esskulturellen Vorlieben mit Bezug auf die Vergangenheit. Neben dieser zeitbezogenen Verortung spielen auch räumliche Bezüge eine wichtige Rolle für beide. Faraz’ Nutzung von Gastronomie setzt sich aus globalisierter (McDonalds), afghanischer (Restaurant) und japanischer (Sushi) Küche zusammen. Petra nutzt internationale Spezialitätenrestaurants und rheinische Küche – für sie spielt allerdings auch das, was sie nicht nutzt (in Form ihrer Imagination einer ›islamischen‹ Gastronomie) eine Rolle. Faraz ist stärker auf seine eigenen Nutzungspraktiken fokussiert und äußert keine Urteile über Andere, jenseits seiner persönlichen Beziehungen (zum Beispiel in der Wohngemeinschaft). Die Art ihrer Nutzung der Godesberger Gastronomie und die Bewertung von einzelnen Lokalen als dem eigenen Alltag zugehörig, ist durch materielle und diskursive Aspekte bestimmt: Vor allem für Petra hat das Narrativ der ›Zwei Welten‹ Godesbergs (s. Teilkap. 2.1) eine hohe alltagspraktische Relevanz, seit sie selbst aus dem Bezirk weggezogen ist. Materiell verbunden damit sind die baulichen Gegebenheiten der Innenstadt und konkreter die Einsehbarkeit einzelner Restaurants. Für beide bestimmt die Innenraumgestaltung sowie die Gestaltung der Fassade eine höhere Rolle in der räumlichen Zuschreibung als die angebotenen Gerichte. Von Petra und Faraz ausgehend erweitere ich im nächsten Teilkapitel diese Erkenntnisse in Bezug auf Repräsentationen der Zugehörigkeit in der Godesberger Gastronomie.
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Entscheidend dabei sind die räumlichen und zeitlichen Bezugsrahmen, die sich in den Beispielen Faraz’ und Petras bereits als ausschlaggebend in der Wahrnehmung und Bewertung einzelner Orte im städtischen Raum gezeigt haben.
5.3 Erinnerungen, Deutungen und Bewertungen Die Verlässlichkeit in der stets gleich ablaufenden Bestellabfrage in einem Lokal kann für eine:n Nutzer:in die individuelle Kompetenz im Einschätzen der Situation und der eigenen Position darin bestätigen. Im Alltag ergibt die Menge solcher Erfahrungen ein bestimmtes Bild von der eigenen Umgebung. Verändern sich die persönlichen Erfahrungen, verändert sich auch das Bild der Umgebung und der eigenen Zugehörigkeiten. Wandel in der Gastronomie wird somit zu einem Zeichen für einen tiefergreifenden Wandel. Umgekehrt erhält die Nutzung spezifischer Lokale sowie die Meidung anderer eine symbolische Bedeutung, einerseits in der Versicherung der eigenen Position, andererseits in der Repräsentation der kulinarischen Esspraktiken nach außen. Zugleich werden solche Nutzungspraktiken bei anderen Anwohner:innen beobachtet und möglicherweise bewertet. Faraz und Petra verknüpfen in ihrer Beschreibung der Godesberger Gastronomie esskulturelle Alltagspraktiken mit der Verortung der eigenen Position und Biografie im lokalen Kontext des Bezirks und darüber hinaus. Ich unterscheide von ihren Beispielfällen abstrahiert in Bezug auf die zweite Leitfrage nach der Repräsentation von Zugehörigkeiten in Bad Godesberg nun zwischen drei Aspekten: erstens den persönlichen esskulturellen Erfahrungen, zweitens der Deutung von situierenden Symbolen und drittens der Bewertung der gastronomischen Situation im Stadtbezirk. Jeden der drei Aspekte führe ich im Folgenden anhand eines spezifischen Beispiels aus der gastronomischen Landschaft des Bezirks genauer ein und erläutere ihn im Hinblick auf die Leitfrage.
Beschreibung persönlicher Erfahrungen Der Aspekt der persönlichen kulinarischen Erfahrungen ist wie bereits deutlich geworden stark von Erfahrungen der Mobilität und des Wandels (beziehungsweise der Immobilität und der Stabilität) bestimmt. Faraz und Petra beschreiben je auf ihre eigene Weise, wie sie esskulturellen Wandel erleben und inwieweit dieser Wandel mit der Veränderung ihrer eigenen Lebensrealität in Verbindung steht. Faraz beispielsweise nutzt im Gegensatz zu Petra kaum internationale Spezialitätenrestaurants, mit zwei Ausnahmen: Sushirestaurants und einem afghanischen Restaurant. Dieses sucht er wie erwähnt gerne auf, da das kulinarische Angebot nah an der Küche seiner Kindheit liegt. Ähnliches beschreibt einer meiner Gesprächspartner:innen,
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der ebenfalls als Jugendlicher nach Deutschland gekommen ist und regelmäßig pakistanische oder afghanische Restaurants in Godesberg besucht: Qm: »Ich würde sagen, alle zwei Wochen oder einmal die Woche gehe ich zu diesem pakistanischen oder afghanischen. […] Ja, unbedingt. Weil wenn ich Hunger habe, oder wenn ich zum Beispiel bei Youtube mir etwas Pakistanisches angucke, und ich sehe das Essen in Youtube, dann sagt mein Herz, geh mal schneller. Manchmal bin ich nachts in meinem Bett und dann denke ich, oh, ich gehe mal zu Youtube, und dann plötzlich sehe ich so etwas, Essen oder so, dann denke ich, nochmal schnell wieder anziehen, und dann direkt dahin. Ich wohne direkt da neben dem U-Bahnhof. Es ist sehr lecker hier im afghanischen und pakistanischen. […]« (Interview 16, Z. 49ff.) Für den Interviewten bedeutet der Besuch bei einem der beiden Restaurants eine Strategie im Umgang mit seinem Heimweh. Einerseits geht es ihm dabei um das Essen selbst, andererseits um die anderen Nutzer:innen, die er vor Ort trifft: Qm: »Oder wenn jemand mitkommt, dann gehen wir natürlich zusammen, zusammen macht auch Spaß. Aber wenn da jemand hingeht, dann gibt’s dann auch die Leute, die kommen aus Pakistan oder Afghanistan, die sitzen auch da und die reden einfach. […] Wir reden, bei uns ist das zum Beispiel so, wenn jemand kommt, dann kann man direkt begrüßen und einfach so reden, woher kommst du, nicht so wie hier in Deutschland. Hier redet man nicht so viel, und wenn ich jemanden nicht kenne, muss ich nicht mit ihm reden, nur ein Hallo, Hi. Aber bei uns ist das so, woher kommst du, was hast du gemacht und so weiter, weiter, weiter. Dann kann man reden. […] Ich war auch mal in einem deutschen Restaurant mit meinem Betreuer, und wir gehen da einfach hin und sagen Hallo, und, ich möchte gerne das haben, und dann Essen und fertig, vielen Dank, es war lecker, und dann gehen wir nach Hause. Und bei meinem pakistanischen oder afghanischen, wenn wir dahin gehen, sagen wir, Hey, wie geht’s dir und so, warum kommst du nicht mehr und so, und so weiter, und, ist alles gut bei dir und wie läuft die Ausbildung oder Schule oder so. Die kommunizieren viel mehr.« (Interview 16, Z. 100ff.) Die beiden Restaurants, die er beschreibt, sind für ihn eine Anlaufstelle, bei der Gerichte, Praktiken und Interaktionen ähnlich sind wie in seiner Jugend in Pakistan. Er kann dort mehr und besser kommunizieren als beispielsweise in einer alteingesessenen Eckkneipe mit hauptsächlich deutschsprachigem Publikum. Obwohl auch dort ähnliche kommunikative Praktiken (im Sinne von Petras Hinweis auf den »Thekenklaaf«, s. Teilkap. 5.1) zu finden sind, hat der Interviewte dazu keinen Zugang, im afghanischen und pakistanischen Restaurant aber sehr wohl. Seine esskulturellen Alltagspraktiken sind direkt mit seinen veränderten Umständen verknüpft – so
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musste er nach seiner Ankunft in Deutschland zunächst nach den Regeln und Uhrzeiten eines Wohnheims essen und genießt seine gegenwärtige Freiheit, den Essensrhythmus selbst zu bestimmen. Gleichzeitig sind durch das Leben in Deutschland auch neue kulinarische Gewohnheiten Teil seines Alltags geworden, die er in Zukunft beibehalten will: Qm: »Vielleicht ist das so: Wenn ich nach Pakistan gehe, dann suche ich deutsches Essen. Und dann komme ich nach Deutschland, dann denke ich nur an pakistanisches Essen. Das ist ich denke ich für alle Leute so, nicht alle, aber ich würde sagen, für viele ist es so. […] Also wenn ich zum Beispiel mein Heimatland vermisse, dann denke ich nur an pakistanische Restaurants, ich esse da, ah, dann fühle ich mich so, weil ich ja in Deutschland bin. Aber ich habe auch gedacht, wenn ich zum Beispiel nach Pakistan gehe, auch mit meiner Familie, dann mache ich jetzt deutsches Essen, Kartoffeln mit Käse mit Nudeln und so weiter. Ja, aber jetzt bin ich noch hier.« (Interview 16, Z. 223ff.) Hier wird außerdem deutlich, wie eng zeitlicher Wandel mit der Veränderung des persönlichen Mobilitätsradius verknüpft ist: In der Erinnerung des Interviewten lassen sich zeitliche und räumliche Verweise nicht klar trennen. Vergangene Erfahrungen beziehen sich auf Pakistan, gegenwärtige auf Deutschland und zukünftige möglicherweise auf beides. Der zitierte Interviewte spricht ähnlich wie Faraz vor allem von sich selbst, oft verbinden sich in der Beschreibung esskultureller Erfahrungen aber auch biografische Ereignisse mit allgemeinen Beobachtungen des Wandels. Diese können sich einerseits auf die lokale Umgebung, andererseits auf gesellschaftsdiagnostische Einschätzungen beziehen. Ersteres zeigt sich im Einfluss der Prozesse lokaler Bautätigkeit und der Stadtentwicklung auf die städtische Gastronomie. Manche Lokale müssen schließen oder umziehen, andere können neu eröffnen, wodurch städtebauliche Veränderungen eine direkte Auswirkung auf den Alltag der Anwohner:innen haben: Am: »Dann gibt es glaube ich seit zweieinhalb Jahren in Rüngsdorf am Kreisel, das ist schon ziemlich nah am Rhein, da das Valentino. Die waren vorher hinter dem Kinopolis unter anderem Namen. Da hat das die Mutter gemacht, und jetzt machen das die Jungs und das Ding läuft unheimlich gut, auch sehr individuell eingerichtet. Und im Sommer, und das ist wirklich ja auch ein unheimlicher Vorteil, als dieser Kreisel gebaut wurde, da sind die Anwohner mit einbezogen worden, was eigentlich selbstverständlich ist, und dann haben die das zusammen hingekriegt, dass dieses Valentino – und daneben ist ein Grieche mit Imbiss – dass die genügend Fläche da haben um ihre Tische nach draußen zu bringen und die Stühle nach draußen zu bringen, ohne dass direkt das Auto an den Tisch fährt. Und das ist wirklich unheimlich gut gelungen da
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unten, weil die das zusammen gemacht haben. Also das ist auch ein ganz guter Bereich.« (Interview 01, Z. 240ff.) Hier wird in der Wahrnehmung des Interviewten der starke Kontrast zu anderen städtebaulichen Maßnahmen deutlich, bei denen Anwohner:innen und Gastronom:innen nicht oder weniger mit einbezogen wurden. Der Umbau einer Kreuzung zu einem Kreisel mit Gastronomie ergibt für ihn eine direkte Steigerung seiner Lebensqualität und beschreibt somit eine Veränderung zum Guten, auch dank der Stabilität in der Führung des Lokals. Gesellschaftsdiagnostische Einschätzungen gerade von den älteren meiner Gesprächspartner:innen sind jedoch zumeist negativ gefärbt. Wie auch im Gespräch mit Petra klar wird, verschwimmt aus subjektiver Perspektive die Grenze zwischen persönlichen Veränderungen und gesellschaftlichem Wandel. So berichtet mir beispielsweise ein ehemaliger Diplomat von der Einschränkung seiner Mobilität. Mit der Tatsache, dass er über 70 Jahre alt ist, bringt er dies jedoch nicht in Verbindung: Wm: »Je mehr von Mobilität gesprochen wird, desto weniger ist sie da, ja.« Y1: »Erleben Sie das persönlich so?« Wm: »Ja ständig, wenn ich einfach mal einen Versuch mit der Deutschen Bahn unternehme, es ist immer abenteuerlich. Meistens kommt man entweder gar nicht bis Köln oder dann nicht über Köln hinaus, weil irgendwelche Dinge passieren, sehr abenteuerlicher Natur.« Y1: »Und das kennen Sie aus der Vergangenheit anders?« Wm: »Ja. Früher war die Bahn eigentlich ein robustes Verkehrsmittel, was gut funktioniert hat, das einen pünktlich und durchaus vernünftig ans Ziel brachte. Heute ist das alles nicht mehr gewährleistet.« (Interview 22, Z. 317ff.) In der Folge erzählt er, Auto fahren sei unmöglich geworden, weil alle Straßen verstopft seien. Am Flughafen treffe man heute alle Welt, das Flugzeug sei damit auch kein angenehmes Verkehrsmittel mehr. Er könne so kaum noch Einladungen zum auswärtigen Essen annehmen und esse viel zuhause (Interview 22, Z. 345f.). An dem Beispiel zeigt sich, dass teils aus subjektiver Perspektive auch biografische Veränderungen als externer Wandel wahrgenommen werden. Neben Mobilitätseinschränkungen oder -erweiterungen sind für die Nutzung von gastronomischen Orten vor allem die veränderten Ansprüche an die Gestaltung und den Service im Lokal ausschlaggebend. Der Interviewte bemängelt ganz ähnlich wie Petra, dass die Gastronomie heute überteuert und übertrieben sei. Er erwähnt mehrfach frühere, einfache Küche, die heute nicht mehr serviert würde. Gleichzeitig fehle ihm eine Möglichkeit, in der Innenstadt zu Mittag zu essen. Er ist –
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ganz ähnlich wie der oben zitierte Geflüchtete – auf der Suche nach einem kulinarischen Angebot, dass ihn an seine Jugend erinnert. Entsprechende Angebote, die sich durchaus finden ließen, sind jedoch nicht mehr mit seinen veränderten Gewohnheiten in Einklang zu bringen, da zu einem Mittagessen für ihn mittlerweile mindestens drei Gänge geboten werden müssen (Interview 22, Z. 131f.). Sein Alter, seine hohe sozialstrukturelle Stellung sowie die Verringerung seiner vormals weltweiten Mobilität, die mir im Interview besonders auffällt, thematisiert er kaum. Die Gründe seiner Erfahrungen von Veränderung sucht er außerhalb seines Alltags. Umgekehrt fehlt den jüngeren meiner Gesprächspartner:innen – und nicht zuletzt im ersten Moment mir selbst – oft das Verständnis dafür, weshalb mobilitätseingeschränkte, ältere Anwohner:innen die Innenstadtentwicklung ebenso wie die Entwicklung der innerstädtischen Gastronomie als einen gesamtgesellschaftlichen Abwärtstrends erfahren. Klar wird mir die spezifische Bedeutung des Alterns einer ehemaligen Elite (wie der Godesberger Diplomat:innen) vor allem auf den Veranstaltungen des Leitbildprozesses (s. Teilkap 2.1). Dabei zeigt sich immer wieder, wie sich persönliche Erfahrungen des Wandels vor allem durch das Alter zu einer Diagnose des Niedergangs der eigenen Umgebung und grundsätzlich der Gesellschaft als ganzer auswachsen (FP 26.03.2019, Brill, Z. 46ff.). Insgesamt wird deutlich, dass mit steigendem Alter und hoher Mobilität die Dichte dessen, was de Certeau als »presence of diverse absences« (1984, 108, s. Teilkap. 5.1) beschreibt, steigt. Davon sind sowohl die beiden geflüchteten jungen Männer betroffen, als auch der ehemalige Diplomat – wenn auch unter vollständig anderen Umständen, da die Mobilität der ersteren unter dem Status ›Geflüchtete‹ zusammengefasst ist und die des Diplomaten als ›Expat‹. Trotz dieser unterschiedlichen Statuspositionen mündet die physische Distanz zu ehemaligen Wohnorten in der Alltagserfahrung, sich an neuen Orten zurechtfinden zu müssen und andere Orte als abwesend zu akzeptieren. Umgekehrt erhalten Orte, an denen solche Abwesenheiten verarbeitet werden können, eine besondere Relevanz für den Alltag einzelner Personen. Und auch Petra sowie der zu Umbaumaßnahmen zitierte Anwohner sind von der Mobilität ihrer Nachbar:innen mitbetroffen. Obwohl sie selbst die Gegend um Godesberg selten verlassen, ist ihr Umfeld von der hohen Dynamik der Lebensverläufe ihrer Nachbar:innen mitbestimmt. Beate Binder betont, »dass sich auch unter Bedingungen von Mobilität und Flexibilität Ortsbezogenheit nicht auflöst, sondern vielmehr eine neue Qualität erhält.« (2010, 203) Das Aufbauen einer solchen Ortsbezogenheit ist nicht einfach ein Prozess, den die Menschen durchlaufen, die ihren Wohnort wechseln – sondern gerade auch die, die ihn nicht wechseln. Gastronomische Orte, Gerichte oder esskulturelle Praktiken sind Teil des sich stetig verändernden persönlichen Alltags sowohl mobiler als auch von hoher Mobilität umgebenen Anwohner:innen. Sie werden dementsprechend in subjektive Gesellschaftsdiagnosen ebenso wie in die Beschreibung eigener und anderer Zugehörigkeiten mit ein-
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bezogen. Je dynamischer die (biografischen, lokalen oder gesellschaftlichen) Wandlungsprozesse, umso wichtiger werden einzelne Orte für diese Art von Selbstversicherung.
Deutung situierender Symbole Ein zweiter Aspekt der Repräsentation von Zugehörigkeit betrifft weniger umfassende, allgemeine Prozesse, als konkrete Anzeichen, die zur Positionierung des Selbst in esskulturellen Situationen dienen. Materielle und immaterielle Objekte7 können helfen, Orte, Praktiken und sich selbst in der eigenen Umgebung zu verorten und damit auch in Bezug auf andere Personen zu positionieren. Deutungen ein und desselben Objekts können dabei perspektivabhängig unterschiedlich sein und Deutungskonflikte hervorrufen. Als situierendes Objekt können unterschiedliche Artefakte verstanden werden: Petra beispielsweise wertet die schlechte Einsehbarkeit, Position und Fassadengestaltung mancher Lokale unter Zuhilfenahme narrativer Strukturen aus der lokalen Presse als Zeichen für »arabisch-muslimische« Gastronomie (s. Teillkap. 5.1). Für sie stellt die arabische Beschriftung eines Lokals ein Symbol für die Religionszugehörigkeit der Nutzer:innen dar. Tatsächlich sind bis auf die Namen der Restaurants oft auch Hinweise auf die halal-Konsequenz des jeweiligen Lokals auf Deutsch und Arabisch an der Fassade zu finden. Die Beschriftung hat eine materielle Ebene – meist in Form eines aufgehängten Schildes in der Fensterscheibe oder am Tresen – darüber hinaus ist ihre »Dingbedeutsamkeit« (Eisewicht 2016, 117) jedoch auch von ihrem funktionalen Gebrauch sowie von ihrer symbolischen Bedeutung bestimmt (s. ebd.). Ein halal-Schild erfüllt also situativ verschiedene Funktionen und verweist zugleich allgemein auf islamische Speisevorschriften. Im städtischen Raum in Bad Godesberg wird die Kategorie ›halal‹ (wie an der Bewertung Petras erkennbar) zusätzlich als ethnisierender Schriftzug an Restaurants und Imbissen wirksam. Die Beschriftung als ›halal‹ bildet damit ein Beispiel für die unterschiedliche Deutung situierender Symbole in der Godesberger Gastronomie. Verschiedene Nutzer:innen füllen die Kategorie uneinheitlich. So berichtet mir ein älterer Anwohner zunächst, er esse häufig und gerne in einem Restaurant, von dem ich weiß, dass es in der Zubereitung der Speisen ausschließlich halal-Fleisch verwendet. Der Anwohner scheint
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Ich verstehe Objekte hier im Anschluss an Daniel Millers (2005) weiche Subjekt-Objekt-Unterscheidung als Teilergebnisse eines praktischen Prozesses. Miller beschreibt diesen wie folgt: »It is not just that objects can be agents; it is that practices and their relationships create the appearance of both subjects and objects through the dialectics of objectification, and we need to be able to document how people internalize and then externalize the normative. In short, we need to show how the things that people make, make people.« (ebd., 38)
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das nicht zu wissen, ›halal‹ bezeichnet für ihn Schlachtungsprozesse, die er rund um religiöse Feste und eher in Moscheen als in der Gastronomie verortet: Dm: »Also ich persönlich habe keine Berührungsängste, da auch mal hinzugehen, ne? Ich bin ja auch jemand, der gerne alles und viel ausprobiert und wenn es nicht gerade tote Ratten oder Affenköpfe sind, die ich da essen muss, dann gehe ich dann da auch hin und esse das. Wo ich ein paar Probleme mit habe, ist da mit diesen halal-geschlachteten Tieren oder so. Wenn ich weiß, dass da irgendwie zum Opferfest genau das dann eben auch hier passiert, dann meide ich das dann eben entsprechend […] Die schächten das, also werden die Tiere ja nicht normal getötet, sondern dann kriegen die die Halsschlagader aufgeschnitten und dann bluten die aus und nur wenn die ausgeblutet sind und daran sterben, sind die ja sozusagen rein für den muslimischen Glauben um dann gegessen zu werden, Schafe, Hühner oder sowas ne? Oder Rinder. […] Das ist Tierquälerei, gut ich meine Tiere essen…die werden ja nicht lebendig gegessen. Aber wenn die da sozusagen zu Tode gefoltert werden oder sowas, das muss ich nicht haben. Also ich bin jetzt zwar kein militanter Tierschützer, aber das geht doch ein bisschen über mein Verständnis.« (Interview 03, Z. 494ff.) Für den hier Zitierten ist ›halal‹ eindeutig eine religiöse, keine primär kulinarische Kategorie. Im Kontrast dazu bedeutet ›halal‹ für den jungen Geflüchteten (und für Faraz), dass das Fleisch gute Qualität hat und frisch ist, während ihm die religiösen Hintergründe weniger wichtig sind: Qm: »Ich esse lieber halal. […] Also ich finde das im Supermarkt, wenn ich zum türkischen oder arabischen oder so gehe. Aber die anderen gefallen mir nicht, weil da liegt das zwei, drei Monate im Kühlschrank oder so. Und dann schmeckt das auch nicht so.« Y1: »Ja, und was heißt halal genau? Kannst du das kurz erklären?« Qm: »Also bei uns machen die da etwas Religiöses und so. Die machen das, wie heißt das, die schneiden die Tiere, genau. Aber hier in Deutschland weiß ich nicht. Aber wenn die türkischen und arabischen sagen, das ist halal, weiß ich nicht, ob das auch halal ist oder nicht, aber die sagen ja natürlich. […] Und dann denke ich auch, ah, halal, kann ich essen.« (Interview 16, Z. 343ff.) Der Interviewte vertraut im Alltag darauf, dass ein halal-Schild in oder an einem Restaurant ein Zeichen für qualitativ hochwertiges Essen bedeutet. Für manche Anwohner:innen ist eine solche Beschilderung ein Entscheidungsgrund, ein Lokal zu nutzen oder wahlweise explizit nicht zu nutzen. Ein Mitarbeiter eines Lokals, das halal-Fleisch nutzt, beschreibt die Beschilderung deshalb vor allem als Marketingstrategie sowie als Reaktion der Gastronomie auf aktuelle Ernährungstrends:
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Lm: »Ich habe nie darauf geachtet, ich habe auch bei McDonalds gegessen, […] aber man versucht halt, kein Schweinefleisch zu essen. […] Aber ich denke, heute achtet man so teilweise mehr darauf. […] Es wird mehr.« Y1: »Okay, was meinst du warum?« Lm: »Wegen religiösen Gründen, und gesundes Essen. Man versucht jetzt, man zahlt ein bisschen mehr, und sagt, ja, ich will mich jetzt gesund ernähren. Überall, ob Sie, ob ich. Weil wie gesagt, dieses Fast Food, ich weiß nicht, also für mich hat McDonalds nie geschmeckt. Man hat da nur gegessen, weil der Hunger da war, ne?« (Interview 11, Z. 482ff.) Weiter betont er, dass die Bezeichnung als ›halal‹ für internationale Tourist:innen einerseits ein Zeichen für die Qualität des Essens, andererseits aber auch ein Hinweis auf die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten sei. Seine Kolleg:innen sprechen je nach Zusammensetzung der Schicht bis zu sechs Sprachen. Durch den hohen persönlichen Einsatz der Mitarbeiter:innen hat das Lokal selbst unter den hochmobilen Tourist:innen eine stabile Stammkundschaft aufgebaut: Lm: »Arabisch sind unterschiedliche Dialekte. […] Also man gewöhnt sich an diese Dialekte, ne? Weil man hat halt dann oft mit den Leuten, mit den gleichen Leuten zu tun, ne? […] Also wir haben hier Gäste, die kommen aus Katar, die kommen jeden Tag. Die ganze Familie, von Vater, Mutter, bis kleine Kinder. Ich weiß nicht, ob die alle medizinische Vorsorge haben, oder teilweise Urlaub machen. Die kriegen das wahrscheinlich auch vom Staat bezahlt oder kommen manchmal einmal in Jahr oder so. […] Wir haben teilweise auch Kontakt über Whatsapp.« (Interview 11, Z. 259ff.) Der Mitarbeiter berichtet, er merke sich die Namen seiner Kund:innen und was sie üblicherweise bestellten. Er bietet damit eine bekannte, persönliche Anlaufstelle auch für äußerst mobile Anwohner:innen oder Besucher:innen Godesbergs, während seinen Angaben nach ungefähr die Hälfte der Kund:innen sich eher aus den Büroangestellten und weniger mobilen Anwohner:innen in der direkten Nachbarschaft zusammensetzt. ›Halal‹ hat für sie zum Teil keine Bedeutung und die angebotenen Gerichte sind mit minimalen Variationen auf ganz unterschiedliche Speisegewohnheiten (so zum Beispiel vegetarisch oder »low carb« – ohne Kohlehydrate) anpassbar (Interview 11, Z. 568). Es wird deutlich, dass ein halal-Schild an der Fassade aus Sicht eines Restaurantmitarbeiters vorrangig eine Marketingstrategie darstellt. Das Label löst das Problem einer komplexen, heterogenen Nachfrage mit einer Mischung aus Flexibilität und Verlässlichkeit. Es kann auf die speziellen Bedürfnisse der muslimischen Tourist:innen aus verschiedenen Ländern eingegangen werden, ebenso wie auf den Bedarf nach Abwechslung, den die Stammkund:innen haben. Möglich
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wird das im Rahmen der Verlässlichkeit, die das halal-Zertifikat bietet. Ohne dass Stammkund:innen oder Tourist:innen genau wissen müssen, welche konkreten Bedingungen dahinterstehen, vertrauen sie darauf, dass damit eine konsequent geregelte Produktionsweise gemeint ist. Zweitens ist durch die Kategorisierung die Ernährungsqualität sowohl individuell als auch in kollektiver Normierung gesichert. Individuell geht es dem Mitarbeiter vor allem um persönliche Gesundheit, kontrolliertes halal-Fleisch scheint ihm besser für seinen Körper als McDonaldsPatties mit unbekannter Herkunft und Zubereitung in Massenabfertigung. Kollektiv konform ist die Ernährung außerdem über den religiösen Bezug, und das über Ländergrenzen hinweg. Drittens betrifft die Bezeichnung eines Restaurants als ›halal‹ die alltagspraktische Produktionsweise der Fleischgerichte: Vom Tier (Truthahn oder Rind) über das Schächten bis hin zum Grill aus Lavastein, der stets ›halal‹ gehalten wird, dient die Kategorie als Normierung. Die als ›halal‹ betrachtete Schlachtung ist also ein materiell bestimmter Vorgang, der zugleich entweder immaterielles Vertrauen zwischen Verkäufer:innen und Kund:innen hervorbringt, oder aber Ablehnung erzeugt, die sich aus einer Ethnisierung des Schriftzuges oder aus tierrechtlichen Überlegungen speist. Symbole wie ein halal-Schild erlauben den Anwohner:innen und Tourist:innen, das gastronomische Angebot Godesbergs zu ordnen und mit sich selbst in Beziehung zu setzen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf materielle und immaterielle Bestandteile von Lokalen finden damit einen gemeinsamen Schnittpunkt in dem, was Susan Leigh Star und James Griesemer (1989) als »boundary objects« bezeichnen. Das (ursprünglich zur Verbindung unterschiedlicher Expertisen in der Zoologie entwickelte) Konzept beschreibt, wie autonome Objekte Kommunikation und Austausch auslösen. Sie sind einerseits ›authentisch‹ genug, um für jede involvierte Sozialwelt bedeutungsvoll zu sein, andererseits sind diese Grenzobjekte flexibel genug, um dazwischen zu vermitteln: They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. These objects may be abstract or concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable, a means of translation. The creation and management of boundary objects is a key process in developing and maintaining coherence across intersecting social worlds. (ebd., 393) Zwar können solche Vermittlungspositionen ganz unterschiedliche Arten von Objekten einnehmen – die halal-Beschilderung ebenso wie ein Teller oder auch das mediale Bild ›der Koblenzer Straße‹ (s. Teilkap. 5.1) – entscheidend ist, dass es sich nicht um Personen handelt, also nicht um »marginal men« im Sinne der Chicago School (Stonequist 1937). Objekte interferieren (im Gegensatz zu Personen) nicht in die Aushandlung ihrer Bedeutung für Dritte. Außerdem ist die »uncertainty of identity« (Ko-
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pytoff 1986, 88), die entsteht, wenn mehrere Deutungen in Konkurrenz stehen, im Fall von Objekten weniger problematisch als für marginale Personen. Diese müssen schließlich mit den Konflikten um ihre Zuschreibung leben und noch dazu mit ihrer Selbstzuschreibung in Einklang bringen. Die gemeinsamen Grenzlinien entlang von Objekten sind zwar nicht weniger fragil und umkämpft als die entlang von Personengruppen, jedoch ist ihre Funktion, Repräsentationen abzubilden damit weniger mobil, flexibel und auch konfliktgeladen als bei Personen: »The production of boundary objects is one means of satisfying these potentially conflicting sets of concerns. Other means include imperialist imposition of representations, coercion, silencing and fragmentation.« (Star und Griesemer 1989, 413). Solche materiellen und immateriellen Objekte inklusive ihrer Bedeutsamkeit für einzelne Personen sind also entscheidender Bestandteil der Bildung von lokalen Ordnungen. Dies gilt sowohl aus subjektiver Perspektive als auch für den kollektiven Austausch darüber. Schließlich kann man sich auch bei abweichenden Meinungen zumeist auf eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner in der Definition dessen, worüber man sich uneinig ist, definieren.
Bewertung der Situation Ich komme damit zum dritten Aspekt der Repräsentationen von esskultureller Zugehörigkeit im Stadtbezirk. Es ist bereits angeklungen, dass Erfahrungen und Deutungen zumeist nicht als solche im Raum stehen bleiben, sondern oft eine Bewertung aus der jeweiligen Perspektive des:r Anwohner:in hervorrufen. Auch die Bewertung der Gesamtsituation ist Teil der Verortungs- und Ordnungsprozesses der eigenen Umgebung, da damit ein Abgleich zwischen dem eigenen Anspruch auf Repräsentation und der realen Umsetzung stattfindet. Ich habe bereits die Unterschiede in der Anspruchshaltung von Petra und Faraz skizziert – erstere misst ihrem Geburtsort und Lebensmittelpunkt Bad Godesberg eine hohe Bedeutung zu und betrachtet sich (nicht zuletzt durch mangelnde Auswahlmöglichkeiten) als der Innenstadt zugehörig, also als legitime Nutzerin der Wege, Plätze und Läden, die sie seit ihrer Kindheit kennt. Für Faraz ist Godesberg ebenso sehr Zuhause wie für Petra und er hat derzeit keine realistische Option, Godesberg zu verlassen. Jedoch hat Faraz an vielen anderen Orten gelebt und kann sich grundsätzlich vorstellen, noch einmal umzuziehen. Damit geht er anders als Petra nicht selbstverständlich davon aus, die Straßen Godesbergs seien ›seine‹ Straßen. Faraz benennt einige Orte in Godesberg, die er oft und gerne nutzt, darunter das afghanische Spezialitätenrestaurant. Die Tatsache, dass er andere Orte nicht nutzt, oder die Abwesenheit weiterer, auf seine Kindheitserfahrungen zugeschnittenen kulinarischen Angebote thematisiert er im Gespräch mit mir nicht. Petra hingegen thematisiert dies sehr wohl. Den Rahmen dafür bietet ihre Beobachtung zahlreicher Gastronomie-Schließungen über Jahrzehnte hinweg, mit denen Teile ihrer Ordnung des Stadtbezirks ins Wanken gera-
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ten. Die Arcadia-Passage, regelmäßiger Anlaufpunkt für sie als Mädchen, erfüllt sie heute mit einer vagen Angst vor »islamischem Terrorismus« (s. Teilkap. 5.1). Petra fehlen Orte, die sie an ihre Vergangenheit erinnern, Faraz ist grundsätzlich zufrieden mit dem gastronomischen Angebot und wünscht sich darüber hinaus eine Modernisierung der bestehenden Restaurants. Gemeinsam ist beiden Beschreibungen der Rückgriff auf das Erklärungsmuster der ›globalen Modernisierung‹. Petra kritisiert das moderne »Schnickischnacki« in überteuerten Restaurants, während Faraz fasziniert davon ist, dass sich innerhalb weniger Jahrzehnte weltweit neue Gerichte etablieren können. Diese Erfahrungen globalisierter Esskultur scheinen zunächst lebensweltliche Formulierungen der These von der McDonaldisierung der Gesellschaft (s. Ritzer 2004). Georg Ritzer beschreibt so die globale Standardisierung von Konsumpraktiken durch Effizienzsteigerung und ökonomische sowie kulturelle Kontrollierbarkeit. Auf den ersten Blick scheint es also, als nähmen Petra und Faraz den gleichen Trend wahr und bewerteten ihn lediglich unterschiedlich. Tatsächlich lässt sich diese ›modernisierende‹ Tendenz in Bad Godesberg beobachten, jedoch gibt es ebenso Lokale, die diesem Trend explizit entgegenstehen. Ein oft genanntes Beispiel für das, was Godesberg aus Sicht vieler älterer, kaum mobiler Anwohner:innen fehlt, ist das Restaurant Maternus. Auffällig ist hierbei, dass also kein fehlender Gastronomietyp als Ergänzung des bestehenden Angebots erwünscht ist, sondern eine Ausdehnung bestimmter, existierender Teile der Gastronomie, deren Küche eine Interviewte hier als »klassisches Essen« beschreibt: If: »Also was ich toll finde hier ist, dass es sehr viele arabische Angebote gibt, oder muslimisch, orientalisch, wie immer Sie es nennen wollen. Es gibt einen wunderbaren Syrer, das ist hier vorne gegenüber vom Ännchen, also da waren wir selber jetzt schon mal von unserem Kaffeetreff weil uns das jemand empfohlen hat. Super super lecker, solche Sachen findet man ja sonst nicht so, sag ich jetzt mal, in einer Kleinstadt, wenn sie Bad Godesberg jetzt mal als Kleinstadt bezeichnen würden, dann müssten sie in eine größere Stadt wie Bonn oder Köln um beim Syrer essen zu können. Also das finde ich positiv, ansonsten, ja, Italiener und so weiter. Also was mir ein bisschen fehlt, ja doch, inzwischen haben Sie das in diesem Maternus wieder da am Bahnhof, was so gehobene gutbürgerliche Küche ist, also das finde ich fehlt ein bisschen. Die durchaus raffiniert sein kann, die Küche. Also es muss jetzt nicht Wiener Schnitzel mit Pommes oder so sein, aber die eben klassisches Essen auch noch anbietet.« (Interview 08, Z. 251ff.) Neben der Godesburg und dem Bahnhof ist das Maternus der meist genannte Orientierungspunkt in der Innenstadt, wie sich auch in vielen der Zeichnungen aus den Interviews zeigt (s. Abb. 19).
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Abb. 19: Zeichnung Interview 01 (Februar 2019)
Das Maternus ist ein geschichtsträchtiger Ort, war jedoch nicht immer schon Teil des Alltags der gegenwärtigen Nutzer:innen, wie mir bei einem Feldbesuch berichtet wird. Die Ortslegende Ria Maternus8 , Gastwirtin zu Zeiten der Bonner Republik und enge Vertraute politischer Prominenter (wie beispielsweise Rut Brandts, vgl. Brandt 1992, 189ff.), habe ›gewöhnlichen‹ Anwohner:innen früher den Zutritt verwehrt: Zu Rias Zeiten seien Godesberger:innen überhaupt nicht in’s Maternus gegangen, durch die »Rote Karte« Rias, die vor allem Prominente zu Gast haben wollte. […] Es wird von Rissen in der Decke und allgemeiner Heruntergekommenheit gesprochen, die wiederkehrende ehemalige Prominente teils in Nostalgie versetzte, teilweise erschreckte. Mit dem aktuellen Pächter:innenehepaar scheint man gut zu stehen, sie werden vertraut beim Vornamen genannt, und es sei ein Glück, dass Pächter:innen
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Die Wirtin machte das Restaurant zu Zeiten der Bonner Republik als Raum für diskreten Austausch, aber auch für informelle Anlässe rund um den politischen Betrieb bekannt (vgl. Q Wenzel 2012, Trenz 2021).
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gefunden werden konnten, die das Restaurant »im Sinne seiner Vergangenheit« fortführen. Im Gegensatz zur Geschichte des Ännchens, das sei ja eine Katastrophe […]. (FP 26.01.2019, Brill, Z. 15ff.) Das Maternus ist folglich nicht im eigentlichen Sinne ein Ort, an dem ›die Zeit stehengeblieben‹ ist. Das Restaurant, das ehemals auf Prominente und deren Bedürfnisse ausgerichtet war, ist heute grundsätzlich offen für alle Gäste und preislich zwar gehoben, aber nicht exklusiv.9 Das Publikum, das das Maternus heute nutzt, lässt Kindheits- und Jugenderinnerungen nicht dahingehend aufleben, dass im gleichen Rahmen wie damals gegessen wird oder die ›einfache Küche‹ vergangener Zeiten serviert wird. Stattdessen dienen Fotos von Politiker:innen an den Wänden dazu, die Zeit Bonns als Hauptstadt in Erinnerung zu rufen. Obwohl das Restaurant für Anwohner:innen Godesbergs in dieser Zeit nicht zugänglich war, gilt es heute als Symbol für die Godesberger Vergangenheit. Es repräsentiert für viele Alteingesessenen die Zugehörigkeit zu einer Idealvorstellung der eigenen Umgebung, die in der Vergangenheit verortet wird. Ein pensionierter Gesprächspartner beschreibt dies so: Bm: »Seit zig Jahren kämpft Godesberg um eine sogenannte eigene Identität, und immer wenn eine Zeit vergangen ist, dann wird es nostalgisch überhöht, während es nie vorher so wirklich war. Und dann ist das mit einmal schön. Also das typische ist mit den Diplomaten. Während die vorhanden waren, hat man nur geschimpft, oder viel geschimpft, weil man dadurch als normaler Bürger keinen Vorteil hatte. Die behinderten einen mit den Autos, die fuhren nachts über die Straße zwischen Bonn und Godesberg im überhöhten Tempo an einem vorbei, die hielten mit ihren Wagen mitten in der Einkaufsstraße obwohl es verboten war, weil manche Botschaften zahlten ja einfach keine Knöllchen […] und die Vermieter, entweder kassierten sie stillschweigend die hohen Mieten ein, oder beklagten es dann anschließend. Es gab auch sicherlich Vandalismus und anderes hier, immer wieder, ja also da wurde schon mal im Zimmer ein Hammel gebraten oder sowas, kam alles vor, ja, waren Ausnahmen, aber das verbreitete sich natürlich sehr. Und kaum war das weg, dann jammern sie alle, wie schön es war, als die Diplomaten da waren. […] Ich bezweifle überhaupt, dass es sehr viele Städte gibt oder Gemeinden, die eine wirklich klare Identität haben. Das bezweifle ich, ja. Und wenn, sind es meistens mehrere, und das ist eigentlich auch gut für eine Gemeinde. Aber weil man hier sozusagen
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Das Maternus liegt mit ungefähr 25€ für ein Abendessen mit Getränk für eine Person im oberen Bereich der innerstädtischen Abendgastronomie. Die Preisspanne bewegt sich dabei insgesamt in Godesberg zwischen ca. sechs und 120€ (Stand 2020).
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dieses Gefühl der Benachteiligung hat, und das nicht klappt, deswegen immer wieder diese Identitätssuche, und deswegen jetzt extra dieser Leitbildkongress. […] Also ich persönlich bin nicht dagegen, aber ich halte nicht viel davon. Diese Suche nach einem Leitbild, nach Zielbestimmung, nach was Eigenem, das schadet nicht. Aber wenn man daran arbeitet, wird einem manchmal klar, was möglich ist, nämlich relativ wenig.« (Interview 02, Z. 120ff.)
Orte wie das Maternus bilden den alltagskulturellen Rahmen der Suche nach etwas »Eigenem«, die mein Interviewpartner als zentral für viele Godesberger:innen und gleichzeitig als problematisch beschreibt. Arjun Appadurai spricht in diesem Zusammenhang von »imagined nostalgia« (1996, 81). Er beschreibt mit dem Begriff, wie gegenwärtige Wünsche für die Verbesserung der eigenen Lebensrealität zeitlich verkehrt werden. Idealisierte Zielvorstellungen werden so in der Vergangenheit verortet: This imagined nostalgia thus inverts the temporal logic of fantasy (which tutors the subject to imagine what could or might happen) and creates much deeper wants than simple envy, imitation, or greed could by themselves invite. (Appadurai 1996, 81) Appadurai betont die emotionalen Folgen einer unerfüllten Statushoffnung, die zeitlich invertiert in der Vergangenheit als erfüllt erinnert wird. Es scheint dann, als sei einem etwas genommen worden, was tatsächlich nie gegeben war. Diese Invertierung zeigt sich auch in Godesberg: In den Bewertungen vieler älterer, oft kaum mobiler Anwohner:innen scheint zunächst herauszustechen, dass im bestehenden gastronomischen Angebot Leerstellen bemängelt werden. In einem unspezifizierten früheren Zustand müssten diese Leerstellen also eigentlich gefüllt gewesen sein – tatsächlich waren sie das durch die Ausrichtung der Innenstadt auf Gäste, Politiker:innen und Tourist:innen nie. Solche gefühlten Leerstellen werden von vielen der kaum mobilen Anwohner:innen Godesbergs als Zeichen einer generellen Exklusion der eigenen Person aus dem öffentlichen Leben gewertet. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass Orte, die eine solche Repräsentation ihrer Zugehörigkeit leisten könnten, durchaus bestehen. Die Unzufriedenheit und negative Bewertung deutet auf die Erfahrung eines Statusverlustes beziehungsweise einer dauerhaft unerfüllt gebliebenen Hoffnung auf Statusgewinn hin. Setzt man sich spät abends in das Restaurant Maternus kann es durchaus dazu kommen, dass solche Erfahrungen geteilt und auch mit Unbekannten (wie mir) besprochen werden (FP 26.01.2019, Brill). Gastronomie bildet einerseits eine Projektionsfläche, andererseits aber auch einen interaktiven Rahmen, um derartige »urban sentiments« (Amin 2012, 66ff.) zum
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Ausdruck bringen zu können. Damit sind Gefühle gemeint, die Bewertungen der nachbarschaftlichen Kopräsenz hervorbringen. Ash Amin betont, dass solche Gefühle in Bezug auf die eigene Umgebung vor allem dann zum Thema werden, wenn städtische Infrastruktur zu versagen droht (s. auch Teilkap. 4.3). Das kollektiv diagnostizierte Problem werde dann, so Amin, schnell dem »stranger« zugeschrieben: der »personification of sentiments formed through the urban unconscious« (ebd., 68). Dies ist in Godesberg insofern geschehen, als dass die Neuausrichtung der Infrastruktur im Stadtbezirk nach dem Hauptstadtumzug nicht auf die Mehrheit der Anwohner:innen ausgerichtet war, sondern auf wohlhabende Tourist:innen (s. Teilkap. 2.1). Soweit ist das keine spezifische Eigenheit Bad Godesbergs. Amin weist darauf hin, dass eine lokale Beschränkung der »freedoms of topology« durch elitenbestimmte »rules of orientation« in der städtischen Öffentlichkeit durchaus üblich ist (ebd., 65). Die vage Zuschreibung von Ursachen für die negative Bewertung der Situation zum ›Fremden‹ verbindet sich in Godesberg jedoch mit dieser Beschränkung lokaler Freiheiten durch die Ausrichtung der öffentlichen Infrastruktur auf Tourist:innen. Eigenschaften, die bei den Tourist:innen beobachtet werden – zum Beispiel die vermutete Religionszugehörigkeit oder Ausdrücke von Wohlstand – dienen dann dazu, das vage Bild der ›Fremden‹, die Schuld an den eigenen unerfüllten Hoffnungen scheinen, zu spezifizieren. Petra sowie viele meiner Gesprächspartner:innen, die sich selbst als ›alteingesessen‹ bezeichnen, werden damit zu einer »community of sentiment«, die beginnt, imaginierte Bilder und damit verbundene Gefühle zu teilen (Appadurai 1996, 8). Gastronomische Lokale werden so zugleich zum Symbol für positive und negative urban sentiments, wie auch zum situativen Rahmen des nachbarschaftlichen Austauschs darüber. Faraz trifft sich mit seiner community of sentiment im afghanischen Restaurant, Petra im Maternus. Beide beobachten und bewerten ihre Umgebung in Bezug auf die Ansprüche, die sie an sie umgebende Personen und Orte haben. Bei Petra sind diese Ansprüche höher, bei Faraz niedriger. Statusverluste, -gewinne oder -hoffnungen werden dabei relativ im Vergleich zur Umgebung, aber auch zur Vergangenheit und möglichen Zukunft eingeschätzt. Die Repräsentation diverser Zugehörigkeiten ist im Stadtbezirk Bad Godesberg auf unterschiedlichen Ebenen mit der Gastronomie verknüpft: Sie sind Anzeichen des Wandels oder der Stabilität in Bezug auf biografische, lokale, wie auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Somit enthalten sie Verweise auf bestimmte Zeitabschnitte, die für einzelne Anwohner:innen mit mehr oder weniger biografischer Bedeutung verbunden sein können. Gleichzeitig verweisen gastronomische Lokale auf Orte, Regionen, Nationen und weitere räumliche Bezugsgrößen, erlauben also auch räumlich Orientierung. Weiterhin dienen konkrete (materielle oder immaterielle) Objekte zur symbolischen Deutung vermuteter Zugehörigkeiten bei anderen sowie der eigenen Positionierung dazu. Schließlich ergeben sich Bewertungen der Gesamtsituation der Anwohner:innen im Stadtbezirk, wobei gastronomische Orte einerseits selbst zum Symbol übergeord-
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neter Diagnosen werden, oder aber Schauplatz der Diskussion und des Austausches darüber. Selten entsteht ein kontroverser Austausch, viel eher trifft sich in spezifischen Lokalen eine jeweils begrenzte community of sentiment. Fehlen derartige Schauplätze, oder entsprechen sie nicht den jeweiligen Ansprüchen, wird dies als mangelnde Repräsentation der eigenen Zugehörigkeit zur städtischen Öffentlichkeit gewertet.
5.4 Repräsentation von (Zu)Ordnungen Ausgangspunkt des Kapitels bildete die Überlegung, dass Gastronomie eine grundsätzlich konstante Rahmung dort erwartbarer alltagskultureller Situationen bietet. Zugleich ist sie von dem dynamischen Wechsel von Betreiber:innen und angebotener Küche geprägt. Damit erlaubt sie eine persönliche Positionsbestimmung in Bezug auf bestimmte Orte, aber auch Zeiten und damit verknüpfte Vorstellungen von Nutzer:innen(gruppen). Die Präsenz diverser Abwesenheiten, auf die de Certeau hinweist, erhält damit eine zweite Dimension neben der räumlichen: Abwesend sind an einem spezifischen Ort nicht nur andere Orte, sondern auch vergangene Zustände des gleichen Ortes. Am Beispiel von Faraz und Petra ist deutlich geworden, dass zeitlicher Wandel und räumliche Mobilität die zentralen Dimensionen sind, auf die sich die Repräsentation von Zugehörigkeiten in der Esskultur bezieht (5.1). Aus der Perspektive eines:r Anwohner:in lassen sich Orte in Godesberg durch Verweise auf Vergangenheit, Zukunft und andere Regionen ordnen. Andere Anwohner:innen werden in Kategorien des Alters, der Mobilität und Migration, aber auch der vermuteten Einkommensschicht, Religionszugehörigkeit sowie der Fokussierung auf ›Tradition‹ oder ›Moderne‹ eingeordnet. Viele Anwohner:innen kategorisieren auf diese Weise nach äußerer Einschätzung einzelner Lokale deren Nutzer:innen. Die materielle Basis bilden Fassade, Beschriftung, und vor allem die bauliche Stufung und Einsehbarkeit des Eingangs, wobei auch diskursive Narrative damit verknüpft werden (5.2). Die Beobachtung und Kategorisierung von sich selbst, umgebenden Orten und anderen Anwohner:innen in der Nutzung des städtischen esskulturellen Angebots ergibt ein Bild der lokalen Umgebung, sowie der eigenen Position darin. Dabei lässt sich zwischen persönlichen Erfahrungen, der Deutung von situierenden Symbolen und der Bewertung der Situation im Stadtbezirk unterscheiden. Persönliche Erfahrungen betreffen die Verknüpfung von biografischen Ereignissen und gesellschaftlichen Umständen. Situierende Symbole werden entlang materieller oder immaterieller Grenzen ausgemacht und in Bezug auf individuelle Ordnungsvorstellungen gedeutet. Ein und das gleiche Objekt kann dabei unterschiedlichen, sogar konfligierenden Deutungen ausgesetzt sein. Die Bewertung der Situation verbindet schließlich individuelle Gefühle mit Einschätzungen der städtischen Umgebung, sodass
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sich einerseits communities of sentiment, andererseits aber auch mehr oder weniger konkrete Imaginationen von ›Fremden‹ ergeben (5.3). Zurück zur zweiten Leitfrage: Wie wird das geteilte, gastronomische Alltagsleben des Stadtbezirks bezogen auf die Repräsentation von Zugehörigkeiten erfahren und gedeutet? Gastronomische Orte in Bad Godesberg bedeuten Unterschiedliches für einzelne Anwohner:innen. Während beispielsweise das Restaurant Maternus zum Treffpunkt einer mit der Bonner Republik verbundenen, alltagskulturell wenig mobilen community of sentiment wird, scheint es anderen Anwohner:innen als Restaurant für ›die Deutschen‹. Gleiches geschieht mit Restaurants, die als Lokale für ›die Muslime‹ gedeutet werden. Weder ›Deutschland‹ noch ›der Islam‹ sitzt aber in einem Restaurant zusammen – stattdessen sitzen dort einzelne Personen mit verschiedenen lokalen Ordnungsvorstellungen, die sich teils auf die gleichen materiellen Gegebenheiten, teils auf unterschiedliche persönliche Erfahrungen damit beziehen. Obwohl also das alltägliche Kategorisieren anderer Nutzer:innen der Gastronomie in der eigenen Nachbarschaft vage bleibt und selten bis nie die tatsächlichen Kund:innen spezifischer Lokale beschreibt, erzeugen Restaurantbesuche in der lokalen Umgebung ein Gefühl von Ortsbezogenheit und Authentizität. Diese Authentizitätserfahrungen müssen sich nicht auf nationale Grenzen beziehen – beispielsweise kann ich vegan, günstig und international essen gehen und dadurch mir und anderen zeigen, dass ich eine junge, gesundheitsbewusste Kosmopolitin bin. Ich begegne in einem Lokal, dass mir diese Erfahrung vermittelt, aber natürlich auch Nutzer:innen, die ›nur‹ günstig oder ›nur‹ international essen wollen – oder halal, und deshalb wie ich auf Fleisch verzichten. Authentizität in der esskulturellen Erfahrung und Bewertung wird dann zentral, wenn Globalisierungstendenzen ins Spiel kommen. So deutet Appadurai auf die Verschiebung vom Wert der »exclusivity« hin zum Wert der »authenticity« hin, die sich durch wachsende alltagskulturelle Mobilitätsradien ergibt: Culturally constructed stories and ideologies about commodity flows are commonplace in all societies. But such stories acquire especially intense, new, and striking qualities when spatial, cognitive, or institutional distances between production, distribution and consumption are great. (Appadurai 1986, 48) Sowohl Faraz als auch Petras kulinarische Wünsche entsprechen dieser Erkenntnis: Petras Wunsch nach mehr ›traditioneller‹ Küche lässt sich offensichtlich auf die hohe Bedeutung des von ihr als authentisch verstandenen, ›rheinischen‹ Essens zurückführen. Aber auch Faraz beschreibt mit seiner Vision eines ›modernen‹, vollautomatisierten Restaurants den Ausdruck des Wunsches nach einer authentischen, bis in Köperpraktiken hineinreichenden Modernitätserfahrung. Wie genau stehen die Authentizitätsvorstellungen von Petra und Faraz als Teil ihrer Ordnungsvorstellungen aber nun mit den räumlich-materiellen Gegebenheiten ihrer tatsächlichen
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lokalen Umgebung in Beziehung? Folgt man Appadurais Analyse, lässt sich ›Lokalität‹ als zusammengebaut aus räumlichen und zeitlichen Referenzen denken. Die spezifischen Varianten der Umsetzung in einem Stadtbezirk wie Bad Godesberg beschreibt er als »neighborhoods«, konkreter als: The actually existing social forms in which locality, as a dimension or value, is variably realized. Neighborhoods, in this usage, are situated communities characterized by their actuality, whether spatial or virtual, and their potential for social reproduction. (Appadurai 1996, 179) Solche »situated communities« bilden lokale Ordnungen, und sind damit in den Worten Appadurais: inherently colonizing, in the sense […] of socially (often ritually) organized power over places and settings that are viewed as potentially chaotic or rebellious. (ebd, 183f.) Zugleich enthalten sie die Möglichkeit des Wandels: As local subjects carry on the continuing task of reproducing their neighborhood, the contingencies of history, environment, and imagination contain the potential for new contexts (material, social, and imaginative) to be produced. (ebd., 185) In Bezug auf die zeitliche Dimension lokaler Ordnungsvorstellungen können Probleme auftreten, wenn die »seamlessness« der Erzählung der lokalen Vergangenheit nicht gewährleistet ist. Appadurai bezeichnet so das Erfordernis eines kohärenten Narrativs der Lokalgeschichte. Die Existenz einer oder mehrerer solcher in sich schlüssigen Erzählungen sei notwendig für Anwohner:innen, um die materielle Umgebung und ihre Wahrnehmung davon als verlässlich bewerten zu können (s. Appadurai 1996, 181). In Godesberg zeigt sich, dass die Umbrüche in der Lokalgeschichte (die Eingemeindungen sowie der Hauptstadtumzug, s. Teilkap. 2.1), tatsächlich zu konflikthaften Polarisierungen in den Varianten der narrativen Darstellung führen. Diese Varianten stehen nicht einfach nebeneinander, sondern erzählen gleiche Ereignisse unterschiedlich. Derartige Darstellungsvarianten verknüpfen sich im Bezirk auf eigentümliche Weise mit räumlichen Bezügen. So entstehen lokale Gegensatzpaare, die in anderen Kontexten keine Gegensätze darstellen würden – beispielsweise die häufige Gegenüberstellung von Lokalen, die als ›orientalisch‹ vs. Als ›der Bonner Republik zugehörig‹ eingeordnet werden. Hier zeigt sich eine lokale, zeitbezogene Variante imaginierter Geographien: Für Godesberg gilt, dass der alltägliche Orientalismus, der sich beispielhaft in Petras Aussagen zeigt, durchaus auch auf imaginierte Räume verweist. Viel mehr jedoch dient die Einteilung in ›orientalisch‹ und ›deutsch‹ vor Ort als Markierung eines lokalhistorischen Einschnitts: des Hauptstadtumzugs.
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Abb. 20: Multiskalarer Verweisrahmen Bad Godesbergs
Kartendaten basierend auf OpenStreetMap, openstreetmap.org/copyright
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Lokale situated communities stehen nicht für sich. Auch die Anwohner:innen Godesbergs lassen sich als in ein multiskalares Beziehungsnetzwerk (s. Çağlar und Glick Schiller 2018, s. auch Teilkap. 1.3) eingebunden denken. Der Stadtbezirk als alltagskulturelles Lebensumfeld ergibt sich dann gewissermaßen aus dem Netzwerkknoten dieser Beziehungen. Versucht man, Bad Godesberg über ein solches multiskalares Modell zeiträumlich zu situieren, müssen Verweise nach außen sowie die innere Ordnung des Bezirks bedacht werden. Nach außen ergeben sich einerseits Bezüge zu den angrenzenden geografischen Einheiten wie Bonn oder Wachtberg, andererseits zur rheinischen Region. Aber auch wieter entfernt liegenden Städte und Regionen (wie Berlin als neue Hauptstadt oder die arabischsprachige Region als touristisches Einzugsgebiet) bilden Referenzpunkte. Nationale Bezeichnungen sind in der Benennung von Lokalen besonders häufig. Internationale Verweise lassen sich ebenfalls finden und beziehen sich eher als auf die geografische Einheit der Erdoberfläche dann jedoch auf lebensweltliche Vorstellungen einer »Weltgesellschaft« (Luhmann 1998b, 145ff.) – beispielsweise mit dem Ideal des weltweiten interkulturellen Austauschs, der internationalen politischen Beziehungen oder des interreligiösen Dialogs (s. Abb. 20). Über Bezüge ins Innere des Stadtbezirks halten außerdem zeitgeschichtliche Verweise Einzug, denn oft stehen spezifische Orte für eine bestimmte lokalhistorische Phase oder auch schlicht für eine individuelle Erinnerung. Der Stadtbezirk gliedert sich in der Alltagsgestaltung seiner Anwohner:innen dabei in einzelne Nachbarschaften im Sinne Appadurais, in denen der private Wohnraum verortet ist und die sich teils stark voneinander unterscheiden (s. Teilkap. 2.1). Die kleinste Einheit des multiskalaren Verweisnetzwerkes ist schließlich der eigene Körper – das »Territorium des Selbst«. Erving Goffman (1974a) bezeichnet damit die situativ variablen, immer aber räumlich und sozial lokalisierbaren Grenzen, auf die ein Individuum Anspruch erhebt und eigene Einflussnahme erwartet (s. ebd., 54ff., s. auch Kap. 4). Dieses Territorium des Selbst wird durch Fortbewegung und Partizipation Teil des public life (s. Teilkap. 1.1). Damit ist es einerseits Verweisen auf räumliche und zeitliche Ordnungen ausgesetzt, andererseits produziert es sie selbst mit – beispielsweise durch den Kleidungsstil oder das To Go-Essen, das für Andere sichtbar im öffentlichen Raum verzehrt wird. Der multiskalare Bezugsrahmen des Stadtbezirks Bad Godesberg definiert sich also durch Beziehungen nach innen und außen, wobei die diskursive Ordnung des Bezirks inklusive seiner Ortsgeschichte darin eingeschlossen ist: Bezüge zur Weltgesellschaft ergeben sich an repräsentativen Orten der Vergangenheit, wie beispielsweise den aktuell leer stehenden, ungenutzten ehemaligen Botschaftsgebäuden in ihrem Verweis auf internationale Diplomatie. Gleichzeitig werden auch nationale Bezüge aufgemacht – näher an der Alltagsgestaltung sind dafür das wahlweise ›afghanische‹, ›italienische‹ oder ›eritreische‹ Restaurant. Nach innen gliedern sich räumliche Verweise nach Stadtteilebene, auf der die Wohnge-
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genden und Nachbarschaften umrissen werden. Während der private Wohnraum klar getrennt vom public life bleibt, bewegen sich die kleinsten Einheiten, auf die sich räumliche Verweise beziehen können, durch die genannten anderen Orte: die Körper der Anwohner:innen. Diese wiederum treten in Interaktion und üben Praktiken aus, die sich wie in den Kapiteln 3 und 4 beschrieben nach höherer oder niedrigerer räumlicher Distanz zu anderen Anwohner:innen anordnen lassen. Wie beides miteinander zusammenhängt – also die lokalen Ordnungsebenen in der Repräsentation von Zugehörigkeiten auf der einen, und alltagskulturelle Praktiken auf der anderen Seite – thematisiere ich im nächsten Kapitel. In diesem zusammenführenden und letzten Kapitel wende ich mich der dritten Leitfrage dieser Studie zu.
6. Multiskalare Ordnung alltagskultureller Praktiken
In den empirischen Fallstudien (Kap. 3 – 5) habe ich mich mit alltagskulturellen Praktiken und mit der Repräsentation von Zugehörigkeit beschäftigt. Basis für die Formulierung der beiden Leitfragen dieser Analysen war die pragmatistische Erkenntnis, dass zwischen interaktiven Handlungen und deren Beobachtung, Deutung und Bewertung durch beteiligte und unbeteiligte Personen eine Beziehung besteht (s. dafür genauer Teilkap. 1.1). Wenn also Fatima und Birgit im Kochtreff miteinander Brötchen backen und diese später mit anderen Frauen bei einem Gespräch über die Rolle der Frau in Bibel und Koran verzehren (s. Teilkap. 3.3), werden dabei nicht einfach esskulturelle Praktiken ausgeführt. Umgekehrt ist die Bewertung der Arcadia-Passage als »arabische Ecke« durch Petra (Interview 24, Z. 76, s. Teilkap. 5.2) keine praktisch folgenlose Meinung. Fatima und Birgit wirken mit der regelmäßigen Teilnahme am Kochtreff daran mit, dass für Dritte ein Zeichen des aktiven interreligiösen Dialogs im Stadtteil besteht – auch wenn diese daran unbeteiligt sind und die situativen Praktiken vor Ort weder selbst mit aktualisieren noch genauer kennen. Die Abwertung der Arcadia-Passage durch Petra (denn als solche ist die Beschreibung als ›arabisch‹ gemeint) steht ebenfalls nicht für sich, sondern wirkt sich direkt auf ihr alltagspraktisches Handeln aus. Sie vermeidet die Nutzung der Passage und darüber hinaus auch weiterer Lokale, die ihr ähnlich erscheinen. Dadurch unterscheiden sich ihre esskulturellen Konsumentscheidungen stark von denen ihrer Jugend und sie fühlt sich in bestimmten Bereichen der Innenstadt unwohl, obwohl es sich um für sie emotional wichtige Erinnerungsorte an ihre Mutter handelt. Wie lässt sich über diese Beispiele hinaus die Beziehung zwischen dem praktischen Zusammenleben und der Repräsentation und Deutung von Zugehörigkeiten nun aber allgemeiner beschreiben (Leitfrage 3)? Um mich dieser Frage anhand esskultureller Situationen anzunähern, fasse ich in 6.1 zunächst den bisherigen Zwischenstand der Analyseergebnisse zusammen. In Teilkapitel 6.2 stelle ich darauf aufbauend eine Modellanalyse der Verbindung zwischen beiden Ebenen vor. Dafür dient ein autoethnografischer Beispielfall. Das analytische Vorgehen, das ich in Teilkapitel 6.2 anwende, abstrahiere ich in 6.3 vom Einzelfall und erarbeite so ein Modell der multiskalaren Ordnung alltagskultureller Praktiken zur Beantwortung der dritten Leitfrage. Im abschließenden Teilkapitel 6.4 wende ich mich der Frage
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zu, welche Schlüsse dieses Modell in Bezug auf das öffentliche Leben im Stadtbezirk Bad Godesbergs zulässt.
6.1 Zum Zwischenstand In Kapitel 3 nahm ich die stark vereinfachende Annahme zum Ausgangspunkt, geteiltes Essen habe eine grundsätzlich vergemeinschaftende Wirkung. Es stellte sich die Frage, in welchen Kontexten und auf welche Weise eine solche Wirkung konkret zu beobachten, und inwiefern diese Annahme gegebenenfalls zu modifizieren ist. In Übereinstimmung mit Etienne Wengers (1998) Erkenntnissen zu communities of practice ließ sich anhand der Beobachtung von regelmäßigen Kochtreffs feststellen, dass das wöchentliche gemeinsame Kochen und Essen in einer flexiblen Kleingruppe Gemeinsamkeiten in der kollektiven Wahrnehmung der Teilnehmenden betont und sozialstrukturelle oder rollenspezifische Unterschiede in den Hintergrund treten lässt (s. Teilkap. 3.1). Es wurde jedoch auch deutlich, dass dies nicht allein auf das Essen zurückgeführt werden kann, sondern dafür eine simple, verlässliche Infrastruktur sowie eine situativ flexible Organisationsform der geteilten Praktiken notwendig ist. Entgegen der Annahme, Essen sei an sich vergemeinschaftend, zeigte sich, dass das gemeinsame Kochen und Essen in den Gruppen, die ich begleitete, nur einen gut geeigneten unter vielen möglichen alltagspraktischen Bereichen zur Bildung einer community of practice darstellte – denkbar sind in ähnlichem Format beispielsweise Handarbeitstreffs oder im weiteren Sinne auch Vereinssport. Entscheidend ist dafür die Existenz der basalen materiellen Voraussetzungen (wie hier einer Küche) sowie die Möglichkeit der praktischen Konzertierung verschiedener, modularer Arbeitsschritte. Weiterhin stellte ich fest, dass das Essen in den Kochtreffs sich nicht erschöpfend über das Konzept geteilter Praktiken beobachten ließ: Auch Konflikte oder distanziertere Interaktionsformen waren Teil der ethnografischen Beobachtungen. Ich kam zu dem Schluss, dass das gemeinsame Essen nur dann eine vergemeinschaftende Funktion erhält, wenn in regelmäßigen Formaten sowohl der körperlich-praktische Aufwand der Zubereitung als auch der Genuss des geteilten Verzehrs einen aktiven Austausch über die alltägliche Lebensführung hervorbringt. In der Begleitung der Kochtreffs zeigte sich, dass diese regelmäßige Rahmung geteilten Essens häufig in Kontexten eingesetzt wird, wo alltagskulturelle Unterschiede thematisiert werden sollen. Die Diversität der Teilnehmenden war in einem Fall im Bereich der nationalen Herkunft sowie der Zugehörigkeit zu organisationalen Statusgruppen explizit erwünscht, im anderen Fall im Bereich der religiösen Zugehörigkeit. In beiden Fällen diente ein allgemeines Merkmal (Vereinszugehörigkeit beziehungsweise Weiblichkeit) als Zugangskriterium, das sich praktisch über den Ausschluss der jeweils nicht damit Bezeichneten zeigte. So erhielt die Diversität
6. Multiskalare Ordnung alltagskultureller Praktiken
der Teilnehmenden in manchen Bereichen (Geburtsort und Religion) ein Gegengewicht in der halböffentlichen Zugänglichkeit durch Exklusivität in anderen Bereichen (Verein bzw. Gender) (s. Teilkap. 3.2). Von den Beispielfällen abstrahiert und in Erweiterung des Konzepts der communities of practice ergab sich aus der Analyse der begleiteten esskulturellen Praktiken eine Unterscheidung von geteilten Praktiken, konfligierenden Praktiken und solchen persönlicher Interaktion. Während die ersten beiden Typen eine hohe zeiträumliche Nähe und Zugewandtheit der Beteiligten erfordern, bildet letzterer den Übergangsbereich zu Praktiken höherer Distanz, indem dabei die Annahme einer grundsätzlich vertrauensvollen Beziehung zu anderen Anwesenden situativ aktualisiert wird (s. Teilkap. 3.3). Diese Unterscheidung führte zu dem Schluss, dass die praktische Umsetzung des (diversen) Zusammenseins in geteilten Räumen nicht über Kleingruppen hinaus ausgedehnt werden kann, da sich durch die Größenordnung der Rahmung einzelner Situationen die Art der Praktiken der Beteiligten grundsätzlich verändert. Wohl aber überschneiden sich die drei unterschiedlichen Arten von Praktiken je nach Größenordnung der Distanz zwischen den Interaktionspartner:innen (s. Teilkap. 3.4). Damit deutete sich an, dass auch Praktiken in höherer Distanz als im Falle direkter Interaktionen untersucht werden sollten. In Kapitel 4 wählte ich deshalb die beobachtende Teilnahme an drei kulinarisch ausgerichteten Stadtfesten in der innerstädtischen Fußgänger:innenzone als empirische Basis einer Analyse solcher distanzierten Praktiken. Hintergrund war die Frage, wie sich alltagskulturelle Begegnungen in der städtischen Öffentlichkeit gestalten, bei denen zwischen den Beteiligten noch keine soziale Nähe besteht. Zu klären war, wie gerade in Situationen des Essens mit solchen Begegnungen zwischen Unbekannten umgegangen wird, in denen die körperliche Anwesenheit und Aktivität ebenso wie Ähnlichkeiten und Unterschiede in individuellen esskulturellen Praktiken unübersehbar sind. Weder Georg Simmels Konzept des blasierten Auftretens anonymer Einzelner noch die Chicagoer Idee unterscheidbarer, in sich homogener urban areas schien dafür einen überzeugenden Ansatz zu bieten. Die Godesberger Innenstadt bot ein Beispiel für die höchst diverse Nutzung einer dem Einzugsgebiet nach eher kleinstädtischen, überschaubaren Fußgänger:innenzone. Einerseits besteht dort stets die Möglichkeit, Bekannte zu treffen. Andererseits kann das Handeln Unbekannter nur schwer vorausgesehen werden, wodurch potenzielle Grenzüberschreitungen der sich begegnenden »Territorien des Selbst« (Goffman 1974a, 54ff.) gehandhabt werden müssen (s. Teilkap. 4.1). Zu klären war zunächst, welche Akteur:innen sich auf den Stadtfesten überhaupt begegnen. Daraufhin konzentrierte ich mich auf die Auswirkungen der räumlichen Gestaltung sowie der geplanten Ziele der Feste. In der Analyse der esskulturellen Praktiken auf den Stadtfesten wurde deutlich, dass sich dort entgegen bisherigen Forschungserkenntnissen kein grundsätzlich anderes Publikum
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als im Alltag aufhielt. Lediglich die Dichte der Begegnungen war leicht erhöht. Die Begegnungssituationen auf den Stadtfesten erlaubten folglich Schlüsse auf die generellen esskulturellen Nutzungspraktiken in der Innenstadt. Es begegneten sich in dem Teil der Innenstadt, in dem die Feste ausgerichtet wurden, kommerzielle Akteur:innen sowie vornehmlich wohlhabende Anwohner:innen und Tourist:innen Godesbergs. Die Feste erzeugten keine erhöhte Sichtbarkeit der Godesberger Innenstadt nach außen. Aber auch innerhalb des Bezirks wurden damit (entgegen bisherigen Forschungsergebnissen aus großstädtischen Kontexten) keine Anlässe des Kollektiverlebens urbaner Lebendigkeit erzeugt. Durch die räumliche Gestaltung der Festbereiche ergaben sich unterschiedliche Bewegungsprofile in Bezug auf den Alkoholkonsum. Bestimmte Gruppen des in der Innenstadt grundsätzlich erwartbaren, breiten Publikums wurden darüber hinaus nicht angesprochen: Vor allem Jugendliche und weniger Wohlhabende nutzten die Stadtfeste kaum (s. Teilkap. 4.2). Aus den Beobachtungen der Feste leitete ich eine Unterscheidung von kommerziellen Begegnungen, distanzierter Kopräsenz zwischen verschiedenen Nutzer:innengruppen und der Abwesenheit anderer Gruppen ab. Die Analyse von Praktiken kommerzieller Interaktion erklärte die vergleichsweise hohe Attraktivität des kulinarischen Angebots auf den Stadtfesten (andere Stände beispielsweise mit Kunsthandwerk gab es nur wenige): Sie erlauben dank der frischen Zubereitung von Speisen vor Ort eine effiziente Abwicklung des Verkaufs und bieten in geringem Maße dennoch Zeitfenster für Einschübe persönlicher Interaktion. Parallelpraktiken beschreiben hingegen die Zu- und Abwendung sowie die Positionierung des Körpers in einem mit Unbekannten geteilten Raum. Auch hier fiel die besondere Verbindung zum Essen auf: Die zur Schau gestellte körperliche Beschäftigung mit dem Nahrungsverzehr, wie auf den Stadtfesten üblich, kann die notwendige Legitimierung der eigenen Anwesenheit im Wahrnehmungsbereich einer anderen, unbekannten Person bilden (s. Teilkap. 4.3). Doch nicht nur die Anwesenheiten bestimmten die esskulturellen Situationen auf den Stadtfesten: Getrennte Praktiken ergaben »silences in data« (Clarke 2005, 11), sowohl für die forschende Perspektive als auch für die übrigen Nutzer:innen des Innenstadtbereichs. Ich kam zu dem Schluss, dass die Godesberger Stadtfeste Legitimitätsansprüche in der alltäglichen Innenstadtnutzung zementierten. Jugendliche und weniger Wohlhabende fallen dadurch im Bezirkszentrum im Alltag als unerwartet auf, und zugleich können solche unerwarteten Begegnungssituationen (zum Beispiel an Essensständen) zu Übungsräumen für die individuellen Erwartungen an die städtische Öffentlichkeit werden. In den ethnografischen Beobachtungen wurde deutlich, dass in distanzierten Alltagspraktiken allerdings gerade unter den Bedingungen hoher Diversität Freiräume und ausreichend Zeit vonnöten sind, um derartige Interaktionen konsensuell abzuschließen oder parallele Anwesenheit ohne Verletzungen der Ansprüche der Beteiligten zu legitimieren. In einem kommerziali-
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sierten städtischen Bereich wie der Godesberger Innenstadt sind diese Voraussetzungen nicht immer gegeben (s. Teilkap. 4.4). In Bezug auf die erste Leitfrage nach den Umständen und Arten der Begegnungen von individuellen esskulturellen Alltagspraktiken erweist sich eine Ordnung von Praktiken nach der räumlichen Nähe bzw. Distanz ihrer situativ Beteiligten als fruchtbar. Aus der empirischen Analyse esskultureller Situationen leitete ich eine Unterscheidung von geteilten, konfligierenden und persönlich-interaktiven Praktiken in relativer räumlicher Nähe, und kommerziell-interaktiven, parallelen und getrennten Praktiken in höherer Distanz ab. Diese Unterscheidung lässt sich auf die Beobachtung anderer alltagskultureller Bereiche übertragen und ermöglicht einen Zugriff auf die skalenabhängige Überschneidung gleichzeitiger Praktiken. Gemeinsames Essen muss also nicht entweder gelingen oder misslingen. Stattdessen können esskulturelle Situationen zugleich geteilte Praktiken, Konflikte sowie kommerzielle Interaktionen beinhalten, während ihr Verhältnis zu anderen Situationen parallel ablaufende oder getrennte alltagskulturelle Praktiken ergibt. Ich exemplifiziere diese praxistheoretische Heuristik im folgenden Teilkapitel anhand eines ethnografischen Beispiels, komme zunächst aber noch auf die zweite Leitfrage zu sprechen. In Kapitel 5 wandte ich mich konstant eingerichteten gastronomischen Orten – also Restaurants, Imbissen, Cafés etc. – zu, die einerseits selbst esskulturelle Situationen rahmen, andererseits als Ganzes zu Symbolen der Zugehörigkeit werden. Ich stellte fest, dass die grundsätzliche Multidimensionalität von kulturellen Repräsentationen und Deutungen ›eigener‹ und ›fremder‹ Zugehörigkeiten sich auch über die Wahl gastronomischer Orte ausdrückt. Im Anschluss an die Palimpsest-Metapher de Certeaus, mit der er die materielle und symbolische Vielschichtigkeit von Orten beschreibt (s. 1984, 109ff.), wies ich darauf hin, dass gastronomische Orte bei den Anwohner:innen der Umgebung eine Vielzahl von Deutungsvarianten verbunden mit zeiträumlichen Verweisen hervorrufen. Anhand der Analyse der Interviews mit zwei Gesprächspartner:innen (s. Teilkap. 5.1) fiel auf, dass über die Positionierung der individuellen esskulturellen Praktiken in der materiellen und diskursiven Umgebung eigene Zugehörigkeiten kommuniziert und bei anderen gedeutet und bewertet werden (s. Teilkap. 5.2). Die zweite Leitfrage nach den esskulturellen Repräsentationen von Zugehörigkeit im Alltagsleben beantwortete ich daraus abgeleitet über die Analyse von drei Aspekten: den persönlichen esskulturellen Erfahrungen, den Deutungen von situierenden Symbolen sowie den Bewertungen der gastronomischen Situation im Stadtbezirk. Zu den relevanten persönlichen Erfahrungen zählen vor allem solche der Mobilität in der eigenen Biografie oder im nahen Umfeld sowie solche des Wandels alltäglicher Praktiken. Vergangene Zeitpunkte und ferne Orte sind Referenzpunkte, die die eigene Position bestimmen helfen. Insgesamt fiel in den Gesprächen mit den Anwohner:innen auf, dass aus unterschiedlichen Perspektiven eine Modernisierung der Gastronomie diagnostiziert wurde.
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Die Wahrnehmung biografischer Veränderungen vermischte sich in den Interviews mit der des gesamtgesellschaftlichen Wandels. Dadurch erhielten einzelne gastronomische Anlaufstellen den Status von Symbolen bestimmter Zeitabschnitte der jüngeren Vergangenheit, sowohl im allgemeinen Wandel als auch im eigenen Lebensverlauf. So ließen sich beispielsweise Restaurants finden, die auf die Zeit der Bonner Republik verweisen, wobei dieser Verweis den Hauptgrund für die Nutzung durch die Kund:innen bildet. Beides – Biografie und Gesellschaftsdiagnose – wurde von den Interviewten anhand alltagskultureller Praktiken wie der Nutzung der gastronomischen Landschaft im Bezirk miteinander in Verbindung gebracht. Gleichzeitig, so zeigte sich, verweisen einzelne Restaurants oder Imbisse auf andere Städte, Regionen oder Nationen. Sie erlauben folglich auch eine Rückbindung des eigenen alltäglichen Umfelds an globalisierte Raumbezüge. Hier erwies sich eine multiskalare Betrachtungsweise erneut als aufschlussreich: Unterschiedliche Ebenen in den jeweiligen Bezugsgrößen (wie national, regional, städtisch, …) überlagern sich an konkreten Orten. Die materiellen Bestandteile esskultureller Orte, wie die Außen- und Innengestaltung oder einzelne Gerichten beziehen sich auf mal mehr, mal weniger konkrete Regionen (s. Teilkap. 5.3). Manche Anwohner:innen deuteten aber nicht nur solche Verweise in Restaurants als allgemeine Raumbezüge. Sie nutzten die Raumbezüge entweder zur Selbstzuschreibung oder zur Zuordnung und Kategorisierung Dritter. Anders als im Fall der Selbstzuschreibung blieben letztere jedoch vage und nicht konkret auf Einzelpersonen beziehbar. Die allgemeinen Bewertungen des eigenen Lebensumfeldes standen eng mit derartigen Kategorisierungen in Verbindung. Gruppen, die im Austausch über die eigenen Kategorisierungen stehen, bilden »communit[ies] of sentiment« (Appadurai 1996, 8) und nehmen Gastronomie häufig zum Rahmen für ihren Austausch. Fehlt ein solcher Rahmen, fehlt gleichermaßen ein Repräsentationsraum der jeweiligen Ordnungsvorstellung in Bezug auf das öffentliche Leben im Bezirk (s. Teilkap. 5.4). Mit den beiden ersten Leitfragen dieser Studie habe ich mich in den Kapiteln 3 bis 5 eingehend beschäftigt. Die Verbindung der Ergebnisse für die Beantwortung der dritten Leitfrage nach der Beziehung zwischen den jeweiligen Analyseerkenntnissen steht noch aus und soll anhand eines autoethnografischen Beispielfalles erläutert werden.
6.2 Autoethnografische Modellanalyse Zwischen den Repräsentationen von Zugehörigkeit und dem alltagspraktischen Zusammenleben im Stadtbezirk Bad Godesberg besteht eine direkte Verbindung. Wie sich diese gestaltet, führe ich im Folgenden anhand der Analyse einer autoethnografischen Situationsbeschreibung aus. Ziel dieser Modellanalyse ist es, die Ergebnisse,
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die sich aus den Kapiteln 3 bis 5 ergeben haben, zusammenzuführen und entsprechend den methodologischen Erfordernissen der Grounded Theory (s. Teilkap. 1.4) als heuristische Werkzeuge einzusetzen. Ich gehe also zunächst auf die verschiedenen Arten von Praktiken in einer esskulturellen Situation ein und komme dann zu den räumlichen und zeitlichen Verweisen, die die einzelne Situation innerhalb weitergehender Bezüge verorten hilft. In einem dritten Schritt biete ich eine exemplarische Interpretation dieser Situierung an, die sich aus der Zusammenführung der praktisch sowie der repräsentativ fokussierten Analyseebene ergibt. Den Beispielfall bildet eine esskulturelle Situation, in der ich im Kontext eines längeren Feldaufenthaltes (mit eigentlich anderem inhaltlichen Fokus) selbst am Moltkeplatz am Rand der Godesberger Innenstadt einen Burger verzehrte. Es handelte sich um einen warmen Frühlingstag im Mai 2019, sodass ich bei meinem Mittagessen in meiner Pause um 14:00 Uhr bequem im Außenbereich des Burgerladens saß. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich sowohl den angrenzenden Platz als auch den Innenbereich durch die Glasfront gleich neben meinem Tisch einsehen. Im Außensitzbereich saßen einige weitere Personen, meist in Zweier- oder DreierKonstellationen, im Innenbereich war es eher leer. Das Mittagsgeschäft war schon vorbei, sodass der Laden weniger besucht war, als ich es zu anderen Zeiten beobachtet hatte. Ich trat (anders als bei systematischen Detailbeobachtungen) nicht explizit als Forscherin auf, sondern als Kundin. Ich bestellte und aß einen Burger mit Pommes, notierte trotz der Müdigkeit nach dem Essen einige Eindrücke und verfasste noch vor Ort spontan folgendes Reflexionsprotokoll: Der Burgerladen ist die perfekte Umsetzung der Kommerzialisierung von Heimbezogenheit. Heim statt Heimat, hier ist alles home-made und wird als solches beworben. Damit sind Zutaten aus der Region gemeint, Mitarbeiter:innen mit Liebe zum Betrieb, und familiär-intime Atmosphäre für die Kund:innen. Intim heißt dabei auch: Anonym, man bleibt unter sich, in der Konstellation, in der man gekommen ist. Die Karte voller Zeichnungen, die handgeschriebenen, aber deutlich durchdesignten Tafeln, die detailreiche, aber tischweise identische Deko weisen eine Grundspannung auf: Das Herstellen der Heimatmosphäre ist geplant, und wird als gemachtes Konzept deutlich. Die Liebe zum Detail wirkt echt, die Hoffnung, damit gut zu verkaufen, auch. DIY-Trends sind aufgenommen und perfektioniert: Getränke werden in WeckGläsern mit rot-weiß-gestreiftem Strohhalm serviert, natürlich auch selbstgepresst, nach Hausrezept. Man soll sich fühlen, wie in einem Haus. Eins, das heißt keine Kette, aber auch kein Imbiss, sondern ein Laden aus einem Guss, durchdacht. Trautes Heim, Glück allein. Und dass man sich so fühlen soll, wird nicht versteckt, man kann weder zu viel, noch zu wenig wählen, theoretisch ist alles selbst zusammenstellbar, aber praktisch kann man sich praktischerweise auch einfach auf die Hauskreationen verlassen. Die natür-
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lich einzigartig, kreativ, individuell sind. Kuratierter Burgergeschmack, wer hier Kunde ist, bekommt signalisiert: Wir wissen, was hip ist, unser Burger ist ein Gewinn für deine Insta-Story. Das Heimgefühl erklärt die vielen Mutter-Tochter-Konstellationen, hier kann man zahlen für das professionalisierte Heimgefühl, das zuhause vielleicht fehlt. Ich höre mehrfach Gespräche von Scheidungskindern mit der Mutter, mit der sie nicht zusammenleben, auffällig viele wortkarge Jugendliche mit Mutter zwischen Erziehungsdrang und Freundschaftsbedarf. Auf zwei Ebenen entstehen Spannungen: Mit dem Unser-Restaurant-ist-ein-besseres-Zuhause-als-deine-Wohnung-Gefühl muss das Verhältnis zu Heimat, Fremde und Weltoffenheit (immer Thema in Godesberg) einerseits, und kommerziellen Interessen andererseits geklärt werden. Auf der ersten Ebene ist der Burger wirklich das perfekte Godesberger Essen, genial parallel: Der Burger ist die in ein Patty gepresste Globalität, Weltoffenheit, Moderne. Mit Grammangabe, standardisiertem Gewicht, aber nicht zu sehr an Masse erinnernd, mit ausfransender Form, da handgemacht. Die Form ist global, der Inhalt regional, Kartoffeln, Fleisch und Salat aus dem Umland. Orientierung ermöglichende, domestizierte Globalisierung auf dem Teller. Es macht Sinn, dass die Form der Burger ist und nicht der Döner – imperialer Kapitalismus ist bekannt, den fürchtet man nicht, sondern nutzt ihn für seine Zwecke. Döner würde heißen, man müsste sich mit spezifischer regionaler Herkunft auseinandersetzen, denn die USA sind scheinbar unspezifische, unsichtbare Herkunft, die vermeintliche Türkei oder wahlweise der Nahe Osten nicht. Die zweite Ebene wird ebenfalls gelöst: Durch das Inklusivitäts-Konzept. Das Essen ist angemessen teuer für die Regionalitäts-, Gesundheits-, und Frischeversprechungen, aber das Restaurant ist zusätzlich wohltätig: Gefördert von Stadt, Land, Bund etc., angegliedert an eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Damit ist es legitim, dass der Wille nach Einnahmen in der perfektionierten Durchdachtheit deutlich wird, sie gehen an einen (zugegeben: vagen) guten Zweck. (RP 16.05.2019, Brill)
Es wird deutlich, wie ich nach dem Essen Bezüge zu viel allgemeiner gefassten Themen als den zurückliegenden esskulturellen Praktiken aufmachte. Dies liegt vor allem in meinem Forschungsinteresse begründet – nicht jede:r Kund:in schließt an sein:ihr Mittagessen eine entsprechende Reflexion an. Auch ich selbst kam in dieser Situation nur dazu, weil ich in Ruhe auf meinem Platz sitzen bleiben konnte, nicht zum Zahlen aufgefordert wurde, es nicht anfing zu regnen etc. Die Situation war jedoch nicht allein von meinen Reflexionen bestimmt. Zuvor musste ich ein Gericht auswählen, bestellen und essen. Die Ebene geteilter Praktiken bleibt in dieser Situation unbesetzt, da ich einzeln am Tisch saß und mein Essen allein verzehrte. Auch fallen zunächst keine konfligierenden Praktiken ins Auge, da dafür ebenfalls die Anwesenheit mindestens ei-
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ner zweiten Person nötig gewesen wäre. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass ich mit der Besetzung meines Platzes Anlass für potenziell konfligierende Praktiken bot, da dort schließlich niemand anderes sitzen konnte. Ich machte im Feld nie selbst die Erfahrung tatsächlich konfligierender Praktiken beim Hinsetzen – wenn beispielsweise eine zweite Person zeitgleich mit mir auf einen einzigen Tisch zugesteuert wäre. In anderen Feldbeobachtungen als in der Situation im Burgerladen, in denen ich länger und nicht als zahlende Kundin in der kommerziellen Gastronomie anwesend war, musste die Frage nach dem Besetzen eines Platzes dennoch aktiv ausgehandelt werden. Einige Gastronom:innen äußerten die Sorge, dass ich der zahlenden Kundschaft einen Platz wegnehmen, oder sie durch meine nicht durch das Essen legitimierte Anwesenheit stören könnte. Für diese Sorgen ließ sich im Normalfall eine Lösung finden. Zugleich verweisen sie auf die Latenz konfligierender Praktiken im Restaurant (und in der Forschung zu alltagskulturellen Praktiken im Allgemeinen). In Praktiken persönlicher Interaktion war ich in dieser Situation insofern verwickelt, als dass mir der Küchenchef aus früheren Feldbesuchen bekannt war und wir, bevor ich einen Platz suchte, ein kurzes, freundliches Gespräch führten. Mit dem Kellner, der mich später am Platz bediente, trat ich hingegen in eine kommerzielle Interaktion. Er beriet mich, nachdem ich mich hingesetzt hatte, zum nur noch wenige Minuten geltenden vergünstigten Mittagsangebot und leitete später auf meinen Hinweis durch Blickkontakt und Zunicken den Zahlungsvorgang ein. Parallel zu meinem Essen bewegten sich Passant:innen über den Moltkeplatz an mir vorbei. Mit nur wenigen Metern Abstand hörte ich bei meinem Mittagessen dadurch Gespräche Unbekannter mit, beobachtete junge Eltern mit einem Kinderwagen, eine ältere Dame mit einem Rollator und weitere Passant:innen. Dadurch, dass ich durch Blumentöpfe und das Sitzen am Tisch des Burgerladens deutlich getrennt vom eigentlichen Platz saß, fiel meine Anwesenheit (noch dazu ohne Begleitung) nicht weiter auf. Ich war offensichtlich primär mit dem Essen beschäftigt. Das Mithören und Mitansehen der Praktiken anderer Passant:innen war dadurch gerechtfertigt. Sie konnten davon ausgehen, dass ich nicht explizit zum Zweck ihrer Beobachtung meinen Platz eingenommen hatte. Gleiches galt für die anderen Kund:innen des Restaurants einige Tische weiter. Ich selbst bemühte mich, entsprechend solcher Überlegungen zum legitimen Aufenthalt im Wahrnehmungsbereich anderer Personen, beschäftigt zu scheinen – zuerst mit dem Essen, dann mit dem Notieren meiner Eindrücke. Die Situation meines Mittagessens bildete darüber hinaus die ›eine‹ Seite getrennter Praktiken. Es sind verschiedene ›andere‹ Seiten denkbar. So ist der Burgerladen für Personen, die halal essen nicht geeignet. Zwar gibt es vegane und vegetarische Angebote, aber auch strenge Veganer:innen, die Wert auf ein veganes Gesamtkonzept in der Gastronomie legen, besuchen den Laden nicht. Einen dritten Grund für die Nicht-Nutzung kann das Preisniveau darstellen – sowohl ›nach oben‹ als auch ›nach unten‹. Es gibt in direkter Nähe gehobenere und
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günstigere Angebote, der Burgerladen zielt mit seinem Angebot preislich also auf ein mittleres Segment ab. Bis hierhin ging es um die Ebene der Praktiken, die sich um mein körperlich besetztes Territorium (im Goffman’schen Sinne) aufspannten. Außerdem ist auch die Betrachtung von Verweisen und Deutungen zur Situierung dieser Praktiken nötig. Ich selbst saß beim Essen wie erwähnt im Außensitzbereich des Burgerladens. Dieser wiederum ist jenseits der in Kapitel 4 beschriebenen Achsen der Innenstadt verortet und spricht damit weder bevorzugt das Längsachsen- noch das Querachsenpublikum der Fußgänger:innenzone an. Der Moltkeplatz ist von dieser Teilung unberührt und wäre im ersten Quadranten positioniert, legte man ein Koordinatensystem über die beiden Achsen (vgl. Abb. 12 und 16, Kap. 4). Der Burgerladen entspricht den Bedingungen innerstädtischer Öffentlichkeit und den Erfordernissen kommerziell bestimmter Räume: Er hat eine vollständig verglaste Front, ein konsequentes corporate design und ist barrierefrei zugänglich. So fällt er den Passant:innen auf und ist auch von der Straße, die die Fußgänger:innenzone am Moltkeplatz begrenzt, gut sichtbar. Im Namen wird ein direkter Bezug zum Stadtbezirk eröffnet. Für auswärtige Kund:innen erhält der Laden damit eine räumliche Zuordnung, für Anwohner:innen deutet er auf eine Anerkennung eines spezifischen Godesberger Lokalkolorits hin. Vom Außensitzbereich aus kann man durch die innerstädtischen Häuserfronten die Godesburg sehen, die zwar nicht direkt in der Fußgänger:innenzone liegt, aber von vielen Punkten im Stadtteil Alt Godesberg aus sichtbar ist und damit einen steten visuellen Orientierungspunkt bildet (und so auch in vielen Kartenzeichnungen in meinen Interviews auftaucht, s. beispielsweise Abb. 18 und 19, Kap. 5). Dem Betrieb gelingt es über den Namen, sich zu Godesberg zu bekennen, und zugleich seine Beziehung zur Stadt Bonn über die Erwähnung kommunaler Kooperationen in der Speisekarte deutlich zu machen. Eine Positionierung im Konflikt zwischen kommunaler Zugehörigkeit wahlweise zu Bonn oder zu Bad Godesberg (s. dazu Kap. 2.1) wird so vermieden. Auch regionale Bezüge werden in der Speisekarte eröffnet. Die Verweise auf regionale Zutaten sind besonders klar zugeschnitten: Der Rhein-Sieg-Kreis und das Siebengebirge werden genannt. Einen nationalen Bezug transportiert das auf Burger fokussierte kulinarische Angebot hingegen eher implizit. Zwar lässt sich der Burger grob den USA zuordnen, genießt dabei aber gewissermaßen eine Art gastronomisches »white privilege« (McIntosh 1988). Anders als andere Gerichte, deren Verzehr sich unterwegs und ohne Besteck anbietet wie Falafel oder Samosa gilt der Burger nicht als Repräsentant einer (US-amerikanischen) Nationalküche (vgl. dazu Mintz 1996, 114ff.). Explizit genannt wird auf der Ebene der Nation ausschließlich Deutschland als Vergleichsrahmen, indem auf der Speisekarte mit dem Slogan »Deutschlands 1. inklusiver Burger« geworben wird. In dem Verweis ist zugleich ein Bezug zu weltgesellschaftlichen Werten enthalten. Transportiert wird hier der Anspruch der Vollinklusion (s. dazu genauer FN 11, Kap. 4), der im Restaurant einerseits durch die barrierefreie Zu-
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gänglichkeit, andererseits durch die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung umgesetzt wird.
Abb. 21: Auf der dritten Leitbildkonferenz (März 2019)
Abb. 22: Zwei Kommentare zum Moltkeplatz (März 2019)
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Zusätzlich zu der Ordnung lokaler Praktiken im Burgerladen und deren Positionierung über räumliche Verweise lässt sich eine zeitliche, stärker diskursive Verortung des Burgerladens und meiner Situation darin vornehmen. Ich aß meinen Burger dort Anfang 2019, also im zweiten Jahr des Bürger:innenbeteiligungsverfahrens im Leitbildprozess des Stadtbezirks. Wenige Wochen vor dem Mittagessen hatte ich die dritte Konferenz des Prozesses in der nahegelegenen Stadthalle besucht (FP 26.03.2019, Brill). Dort waren Karten ausgelegt, auf denen man als anwesende:r Anwohner:in einzelne Orte frei kommentieren konnte (s. Abb. 21). Auf dem Moltkeplatz waren im Laufe des Abends zwei Kommentare angebracht worden: »Außengastronomie erlauben« und »Fluchtursache« (s. Abb. 22). Diese auf den ersten Blick unzusammenhängende Kombination von Äußerungen zum Moltkeplatz weist darauf hin, welches Erklärungspotenzial die Verbindung von alltagspraktischer Situationsordnung und raumzeitlicher Positionsbestimmung des entsprechenden gastronomischen Kontextes bietet. Anhand meiner autoethnografischen Erfahrung in der Außengastronomie auf dem Moltkeplatz und der Analyse der Ebenen esskultureller Praktiken und multiskalarer Verweise lässt sich ein Erklärungsansatz erarbeiten. Wodurch zeichnete sich meine Erfahrung im Burgerladen also aus? Durch meine esskulturellen Praktiken beim Mittagessen im Burgerladen wurde deutlich, dass ich dort einzeln essen konnte und durch das kulinarische Angebot temporär zum Teil einer weder streng halal noch streng vegan essenden Kundschaft wurde. Außerdem war durch das Preisniveau zu erwarten, dass ich weder von besonders armen noch besonders reichen Anwohner:innen umgeben sein würde. Ich präsentierte mich als im Außenbereich des Restaurants sitzend und allein einen Burger mit Pommes verzehrend sowohl mir selbst, als auch den Passant:innen und anderen Kund:innen als Mittelschichtsangehörige ohne strenge Speiseregeln. Hinzu könnte für beobachtende Dritte, die den Betrieb kennen, der Aspekt meiner Nutzung eines inklusiven Restaurants sowie die nicht-ethnisierte Zuordnung des Burgers zur ›modern-globalisierten Esskultur‹ gekommen sein. Die Betrachtung des Burgerladens als Teil städtischer Öffentlichkeit am Moltkeplatz beinhaltet also Beobachtungen von öffentlich essenden Personen und den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften. Diese Feststellung erlaubt eine Interpretation der beiden Kommentare zum Moltkeplatz. Es wird dazu aufgefordert, Außengastronomie zu erlauben, obwohl dies bereits der Fall ist. Gemeint ist also vermutlich eine Ausweitung der Fläche, die auf dem Platz von der Gastronomie besetzt werden darf. Zum Verständnis dieser Aufforderung hilft eine genauere Kenntnis der materiell-baulichen Gegebenheiten des Platzes: Er liegt gegenüber eines Kinokomplexes, außerdem gibt es einen großen, nicht in Betrieb genommenen Brunnen aus viereckigen Betonbausteinen. Dreimal die Woche wird daneben ein Markt für BioLebensmittel aus der rheinischen Region aufgebaut. Der Platz wird dadurch einerseits von Kinobesucher:innen genutzt, andererseits von wohlhabenden, oft älteren
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Marktbesucher:innen und außerdem jugendlichen Skater:innen am Brunnen. Der Brunnen bietet zusätzlich beliebte, nicht kommerziell eingebundene Sitzplätze für den Verzehr von To Go-Gerichten, die unter anderem in den Imbissen auf der Längsachse der Innenstadt erworben werden können. Die Aufforderung zu der Ausdehnung kommerzialisierter gastronomischer Sitzbereiche weist auf die Möglichkeit hin, die bestehende Nutzung des Platzes zugunsten der Kundschaft der bestehenden Gastronomie einzudämmen. In Verbindung mit den Erkenntnissen meiner autoethnografischen Reflexion dazu, welches Bild ich als Kundin des Burgerladens in dessen Außensitzbereich vermittelte, lässt sich schließen, welche Eigenschaften diese bestehende Kundschaft aufweist: Ich selbst trat als omnivore Mittelschichtsangehörige auf, in Abgrenzung zu der Nutzung der noch nicht kommerzialisierten Bereiche des Platzes, insbesondere des Brunnens als Sitzplatz für den Verzehr von To Go-Gerichten, der auch Veganer:innen, Muslim:innen, Jugendliche und ökologisch einkaufende, wohlhabende Marktbesucher:innen einschließt. Der Fokus des Burgerladens auf ein omnivores Mittelschichtspublikum verbindet sich auf spezifische Weise mit dem transportierten Anspruch der Vollinklusion. Es wird deutlich, dass sich das Ideal der Inklusion hier auf Behinderung, aber nicht zwangsläufig auf weitere Aspekte breiter Zugänglichkeit bezieht. In dem oben zitierten Reflexionsprotokoll äußert sich mein Unbehagen mit einer Spannung, die ich zwischen dem Inklusionsanspruch und der beschränkten Zugänglichkeit des Restaurants im direkten Vergleich zu den divers genutzten nicht-kommerzialisierten Bereichen des Moltkeplatzes wahrnahm. Ich beobachtete in der Reflexion meiner eigenen lokalen Umgebung im Außensitzbereich eine Kundschaft (vor allem »Mutter-Tochter-Konstellationen«, s.o.), die ich mit kritischem, distanziertem Unterton beschrieb. Die Distanzierung lässt sich damit erklären, dass ich mich dieser Kundschaft nicht zugehörig fühlte, aber zugleich wusste, dass ich von außen als Kundin wahrgenommen wurde. Umso mehr Aufmerksamkeit erhielten in dem Reflexionsprotokoll die Spannungen, deren Teil ich war: Ich war situativ Teil einer Kundschaft, die einerseits den Anspruch der Inklusion hochhielt und zugleich das Bild begrenzter Zugänglichkeit (gegenüber den oben genannten Gruppen) vermittelte. In diesem Fall führte die Reflexion dessen dazu, dass ich mich als Person verstand, die (jenseits meines Forschungsinteresses) nicht primär vom Angebot dieses Burgerladens angesprochen wurde. Ich distanzierte mich als Person (nicht als Forscherin) von meiner eigenen esskulturellen Erfahrung und empfand die Spannung zwischen meiner esskulturellen Situation und meiner grundsätzlichen Selbstpositionierung als junge, häufig vegan essende, Diversität gegenüber tolerante Anwohnerin Godesbergs als unangenehm. Situation und Selbstzuschreibung standen also in einem Widerspruch. Denkbar ist ebenso der gegenteilige Fall. Ohne dass eine Reflexion dessen wie in meinem Protokoll schriftlich formuliert sein muss, sind esskulturelle Praktiken und die Situationen, die sich daraus ergeben, als ein Anzeichen dafür zu verstehen, wie sich Anwohner:innen in ihrer alltäglichen
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Umgebung positionieren und inwieweit sie sich von deren Gegebenheiten in ihrer Selbstpositionierung bestätigt oder angegriffen fühlen. Im zweiten Kommentar, der zum Moltkeplatz festgehalten wird, wird dies in besonderem Maße erkennbar. Der Kommentar lautet »Fluchtursache«. Die Formulierung macht die konkrete Verortung vager Ängste vor »Überfremdung« (die auf der Leitbildkonferenz ohne, dass genauer über den Begriff gesprochen würde, den Status einer konsensuellen Diagnose für die Lage des Stadtbezirks erhält, FP 26.03.2019, Brill, Z. 72f.) an spezifischen Orten deutlich. Von Fluchtursachen wird im alltäglichen Gebrauch meistens im Kontext der ›Bekämpfung von Fluchtursachen‹ mit dem Ziel minimierter Fluchtmigration gesprochen. Der Kommentar lässt sich also anschließend an die autoethnografische Analyse als Vorschlag deuten, es sollten Fluchtursachen bekämpft werden, um den Moltkeplatz von seiner aktuell diversen Nutzer:innenzusammensetzung zu befreien. Andernorts ließe sich ein solcher Kommentar anders interpretieren. Durch die Situierung innerhalb der spezifischen Godesberger Debatte um Diversität im öffentlichen Raum erhält der Kommentar »Fluchtursache« lokale Plausibilität. Entweder ist er im beschriebenen Sinne gemeint, oder er enthält einen Hinweis darauf, dass der Moltkeplatz in seiner aktuellen Nutzung für den:die Autor:in des Kommentars selbst zur »Fluchtursache« – also zum Grund, den Platz selbst nicht aufzusuchen – wird. Die Interpretation der beiden Kommentare als Einheitlichkeit statt Diversität anstrebend ist gestützt von Äußerungen, die rund um die Kommentierung der Karten auf der Leitbildkonferenz gemacht wurden, wie beispielsweise, dass »man einen Guss« aus der Innenstadt machen sollte (FP 26.03.2019, Brill, Z. 44) oder »Bad Godesberg […] EIN Thema« brauche (Z. 40). Eine abschließende Analyse der übergeordneten Situation Bad Godesbergs nehme ich in Teilkapitel 6.4 vor. Bis hierhin ist festzuhalten, inwieweit die Analyseebenen, die sich aus den Kapiteln 3 bis 5 ergeben haben, auf alltagskultureller Situationen anwendbar sind: Meine autoethnografische Erfahrung eines für mich als Person spannungsreichen Mittagessens am Moltkeplatz ließ sich zunächst detailliert beschreiben, indem ich zwischen den unterschiedlichen praktischen Ebenen unterschied. Es folgte eine weitergehende Situierung meiner praktischen Erfahrung und deren Reflexion anhand der Verortung des Lokals durch dessen räumlichen und zeitlich-diskursiven Verweise. Durch die Verbindung meiner (unbehaglichen) Erfahrung mit der übergeordneten Situierung ergab sich ein Bild der unterschiedlichen Nutzungsgruppen des Moltkeplatzes und ihrer konfligierenden Ansichten, die sich in den Kommentaren äußerten. Mein eigenes Unbehagen wurde damit erklärbar. Die Situation bildete ein Beispiel dafür, wie Kund:innen alltagskulturelle Nutzungsentscheidungen treffen, um ihre Zugehörigkeit auszudrücken und für sich selbst zu überprüfen. In der Analyse solcher Entscheidungen reicht es nicht aus, sich entweder auf die praktische Situation oder die übergeordnete Situierung zu fokussieren – beides muss in den Blick genommen werden. Dazu dient das Modell, das
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ich im folgenden Teilkapitel abstrahiert von der bisherigen Anwendung ausformulieren werde.
6.3 Zusammenführung: Zum Modell der Ordnung alltagskultureller Situationen Anhand der autoethnografischen Analyse einer einzelnen esskulturellen Situation, ihrer praktischen Ebenen sowie der raumzeitlichen Positionierung ist deutlich geworden, dass sich praktische und repräsentative Bestandteile dank der eingeführten Unterscheidungen nicht nur detailliert beschreiben lassen. Zusätzlich kann ihre Verbindung Erklärungsansätze für über die Situation hinausgehende Fragestellungen liefern, wie am Beispiel der Kommentare zum Moltkeplatz gezeigt. Von der einzelnen Situation abstrahiert lässt sich das Modell eines solchen analytischen Vorgehens auch allgemein beschreiben. In diesem Teilkapitel widme ich mich der Vorstellung eines solchen Modells der multiskalaren Ordnung alltagskultureller Praktiken, das sich aus der Zusammenführung der Analyseergebnisse der Fallstudien in den Kapiteln 3 bis 5 ergibt. Den Ausgangspunkt des Modells bildet das Territorium des Selbst – nach Goffman (1974a, 54ff.) also der Bereich um den Körper, auf den ein Individuum eigene, praktische Einflussnahme erwarten kann. In direkter Nähe und gekennzeichnet durch Zugewandtheit, also durch eine Überschneidung des eigenen mit den Territorien des Selbst anderer Individuen, ergeben sich geteilte oder konfligierende Praktiken. Erstere bedeuten eine Konzertierung verschiedener praktischer Vorgänge und greifen ineinander, letztere widersprechen sich und münden entweder in eine Kollision oder müssen in einem Kompromiss aufgelöst werden. Umgebend besteht stets die Möglichkeit persönlicher oder kommerzieller Interaktionen mit Individuen, die sich dem eigenen Territorium zwar zuwenden, aber nicht darein eingreifen. Praktiken persönlicher Interaktionen unterscheiden sich von kommerziellen insofern, als dass erstere den Anschein erwecken, als ließen sie sich stets und verlässlich aktualisieren. Kommerzielle Interaktionen sind hingegen nicht auf Wiederholung mit den gleichen beteiligten Individuen ausgelegt, sondern auf konsensuellen Abschluss. Nicht mehr in direkter Nähe, aber noch im Wahrnehmungsbereich des Individuums um das Territorium des Selbst können Parallelpraktiken ohne dauerhafte Zuwendung ablaufen. Hierfür sind Anzeichen der Legitimierung des Aufenthalts im gegenseitigen Wahrnehmungsbereich nötig. Teil des Eindrucks, den ein Individuum von seiner alltagskulturellen Situation erhält, sind zusätzlich auch ›Leerstellen‹, also getrennte Praktiken in so hoher Distanz, dass sie nicht mehr situativ wahrgenommen werden können. Aus der Kombination dieser Ebenen setzt sich aus Perspektive des Individuums eine alltagskulturelle Situation zusammen
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und ergibt einen Eindruck von Beziehungen zu anderen Individuen in der näheren und distanzierteren Umgebung. Die einzelne alltagskulturelle Situation lässt sich aber noch weitergehend situieren. In dieser Situierung zeigt sich das Verhältnis des Individuums nicht nur zu anderen Einzelpersonen, sondern zur sozialräumlichen Umgebung als Ganzer. Diese Umgebung lässt sich, ebenso wie die einzelnen, darin enthaltenen Situationen, als multiskalar geordnet beschreiben. Die Größenordnung der Umgebung, die den Großteil alltäglich wiederholter Praktiken im öffentlichen Raum betrifft, bezeichne ich im Anschluss an Arjun Appadurais Verwendung des Konzepts als Nachbarschaft. ›Nachbarschaft‹ beschreibt demnach die lokale Ordnung, die einzelnen Anwohner:innen ihre Selbstpositionierung erlaubt: Local knowledge is substantially about producing reliably local subjects as well as about producing reliably local neighborhoods within which such subjects can be recognized and organized. (Appadurai 1996, 181) Nun weist Appadurai aber auch darauf hin, dass diese Organisierung einer lokalen Ordnung in größere Verweisbeziehungen eingebettet ist (s. ebd.). Zur Festlegung auf eine lokale Ordnung ist ihre Begrenzung und Verortung nach außen nötig. Das heißt, dass die Beziehungen zum Stadtbezirk und zur Stadt definiert werden müssen, ebenso wie regionale, nationale oder weltgesellschaftliche Bezüge die lokale Ordnung festigen helfen (s. Abb. 20). Einerseits ergibt sich dadurch eine lokale Stabilität, die Räume innerhalb der Nachbarschaft beschränkt, die »as potentially chaotic or rebellious« (Appadurai 1996, 183) angesehen werden. Andererseits beinhaltet sie die Möglichkeit des Wandels, da die allgemeine räumliche Verortung der Situation wiederum in einen zeitlichen Verlauf eingebettet ist. Gerade für alltagskulturelle Konsumpraktiken wie das Essen sind zeitliche Verweise zentral, da sie selbst einen zeitlichen Rhythmus etablieren: »[C]onsumption creates time and does not simply respond to it« (ebd., 70). Damit wird die Bedeutung einzelner alltagskultureller Situationen und ihrer übergeordneten Situierung für Repräsentationen der Zugehörigkeit deutlich. Die Situation setzt sich aus einer multiskalaren Ordnung von Praktiken und zeiträumlichen Verweisen zusammen. Sie bietet einen Referenzpunkt zur Einschätzung von eigenen Erfahrungen des Wandels, der Deutung alltagskultureller Symbole sowie der Bewertung des eigenen Lebensumfeldes. Wandel wird in der Situation durch den Vergleich mit früheren Zeitpunkten sichtbar. Symbole der Zugehörigkeit werden aus der Perspektive einer lokalen Ordnung – der Nachbarschaft – wahrgenommen, eingeordnet und gedeutet. Die Bewertung aus individueller Perspektive ergibt sich schließlich im Abgleich der Anspruchshaltung an den eigenen Status mit der situativen Positionsbestimmung in der lokalen Ordnung. Das vorgestellte Modell einer multiskalaren Ordnung alltagskultureller Praktiken dient zur Beantwortung der dritten Leitfrage dieser Studie. Die Beziehung
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zwischen dem praktischen Zusammenleben in einem diversen Umfeld und der Repräsentation und Deutung von Zugehörigkeiten lässt sich anhand des Modells beschreiben. Es fungiert als praxistheoretische Heuristik, um alltagskulturelle Situationen zu beschreiben und über die direkten Interaktionen hinaus zu situieren. Das Modell lässt sich über den Kontext der Esskultur hinaus in der Analyse alltagspraktischer Situationen anwenden und verbindet die mikrosoziologische Beobachtung mit einer darüber hinausgehenden, allgemeineren raumzeitlichen Situierung. Dabei müssen nicht in jeder Situation alle Ebenen besetzt sein. Ganz im Gegenteil ist es besonders aufschlussreich, zu betrachten, welche Bezüge jeweils eröffnet werden, und wo sich Leerstellen ergeben. Beim Burgerladen beispielsweise ist die nationale Bezugnahme kaum von Bedeutung, die zu Stadt und Region dafür umso mehr. Umgekehrt eröffnet das afghanische Restaurant, das mein Gesprächspartner Faraz (s. Kap. 5) nutzt, einen regional nicht spezifizierten nationalen Bezug. Faraz versteht diesen nationalen Bezug als Hinweis darauf, dass er sich dort sprachlich verständigen kann, da Farsi (seine Erstsprache) und Dari nah beieinander liegen, während andere Nutzer:innen den Verweis anders füllen. Ebenso verweisen nicht alle gastronomischen Orte explizit auf eine zeitlich bestimmte Phase und können dennoch für einzelne Anwohner:innen Erinnerungsorte bilden. Frühere Zeitpunkte, denen solche Erinnerungen entstammen, müssen nicht kollektiv bestätigt sein und der offiziellen Bezirksgeschichte entsprechend, sondern können einer subjektiven, imaginierten Nostalgie entspringen. Die Anwendung des multiskalaren Modells alltagskultureller Praktiken eignet sich dazu, spezifische Situationen zu beschreiben und derartige darin enthaltene Perspektiven zu kontrastieren. Auf den ersten Blick widersprüchliche Bewertungen eines begrenzten Umfeldes werden so als Bestandteile einer über das Individuum hinausgehenden lokalen Ordnung verständlich. Es werden zeiträumliche Beziehungen geklärt, ohne globale Erklärungsansätze auf lokale Umstände anzuwenden und dabei Skalierungseffekte auszublenden. Einerseits lassen sich durch das Modell also spezifische interaktive Situationen beschreiben und verstehen. Andererseits kann es helfen, Prozesse lokaler Ordnungsbildung nachzuzeichnen und diverse Perspektiven darauf zu kontrastieren. Im abschließenden Teilkapitel 6.4 werde ich dies auf den Stadtbezirk Bad Godesberg anwenden.
6.4 Ethnografische Ergebnisse zu Bad Godesberg Bevor ich zu einem allgemeinen Fazit komme, stehen in diesem Teilkapitel die Schlüsse im Fokus, die sich aus der Analyse der ethnografischen Beobachtungen im Feld Bad Godesberg spezifisch für diesen lokalen Kontext ergeben. Bad Godesberg als Untersuchungsfeld half die Leitfragen dieser Studie konkretisieren,
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indem sie auf die dort vorherrschenden Bedingungen hoher Diversität fokussiert werden mussten. Ich rekapituliere zunächst noch einmal die Eigenschaften des Untersuchungsfeldes und deren Implikationen für die Forschung. Im Anschluss verdeutliche ich die Erklärungsansätze für die aktuelle Gesamtsituation im Stadtbezirk, die das in Teilkapitel 6.3 vorgestellte Modell (über die Analyse von einzelnen, auf das Individuum fokussierte Situationen wie in 6.2 hinaus) bietet. Bad Godesberg war und ist wie in Teilkapitel 2.1 ausführlich dargestellt ein Anziehungspunkt für nationale und internationale Eliten. Der Bezirk wird dabei nicht nur als touristisches Ziel besucht, sondern oft als Zweitwohnsitz genutzt. Residenzielles Wohnen hat in Godesberg durch dessen Vergangenheit als kaiserlicher Kurort eine lange Geschichte, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Dementsprechend zeichnet sich die esskulturelle Nachfrage durch einen Bedarf an hochpreisiger Gastronomie aus. Eine weitere Folge ist, dass viele der kommerziellen esskulturellen Interaktionen zwischen langfristig ortsansässiger gastronomischer Belegschaft und hochmobilen Gästen stattfinden. Ein spezifischer Bereich ergibt sich durch die Ausrichtung der medizinischen Einrichtungen des Bezirks auf internationale, vor allem arabisch- und russischsprachige Gäste. Erstere fragen vor allem Essen nach, das halal zubereitet ist. Hinzu kommt die insgesamt gesteigerte Aufmerksamkeit für Speiseregeln, wodurch Restaurants neben der Kategorisierung als ›halal‹ auch mit den Labels ›vegan‹ oder ›vegetarisch‹ werben. Die insgesamt hohe Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung des Bezirks lässt sich nicht allein auf wohlhabende Gäste zurückführen. Hinzu kommen weitere international mobile Anwohner:innen, wie der ehemalige Angestelltenapparat der Botschaften aus der Zeit der Bonner Republik, oder auch Geflüchtete, die in einer Wohneinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen untergebracht sind. Diese Dynamik ergibt in der Kombination mit dem sich grundsätzlich schnell verändernden Bereich der gastronomischen Branche eine Sonderrolle von Lokalen, die sich über mehrere Generationen halten. Gerade für die weniger mobilen Anwohner:innen des Bezirks haben Orte, die auf die Lokalgeschichte des Bezirks (und vor allem auf die Zeit der Bonner Republik) verweisen, eine hohe Bedeutung. Dies wird dadurch verstärkt, dass Veränderungen in Bad Godesberg zu mehreren Zeitpunkten nicht langsam und kontinuierlich, sondern in Form abrupter Umbrüche stattfanden. Dazu zählt der Umbau der Altstadt in den 1960er Jahren, der mit großflächigen Abrissen einherging, die Eingemeindung in die Hauptstadt Bonn 1969 und der Hauptstadtumzug nach Berlin 1999, der für den Wegzug in der Politik Beschäftigter und für teils bis heute andauernden Leerstand ehemaliger diplomatischer Immobilien sorgte. Diese und weitere Bau- und Umbauphasen haben in Godesberg eine spezifische Infrastruktur entstehen lassen, die sich einerseits durch eine unübersichtliche Innenstadt und andererseits durch preislich homogene Wohnviertel mit klaren Stadtteilgrenzen auszeichnet. Gebiete mit den stadtweit höchsten und niedrigsten Grundstückspreisen liegen dabei direkt nebeneinander (s. Teilkap. 2.1).
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Durch die spezifische Lokalgeschichte, die mit mehreren Phasen des Bedeutungswandels und relativen Bedeutungsverlustes des Bezirks einhergeht, lässt er sich als »disempowered city« (Çağlar und Glick Schiller 2018, 13, s. auch Teilkap. 2.1) bezeichnen. In Godesberg und vor allem unter den wenig mobilen, älteren Anwohner:innen, die den Bedeutungsverlust als Teil ihrer persönlichen Biografie miterlebt haben, ist eine enttäuschte Statuserwartung allgegenwärtig. Zugleich ist der Bezirk unter anderem in Bezug auf ökonomische Ressourcen, Staatsangehörigkeit, Religionsausübung und Mobilität der Anwohner:innen von hoher Diversität geprägt. Nach Steven Vertovec ist mit Diversität die Vielfalt von »categories of difference« (2015, 2) gemeint, die sich aus dem Zusammenspiel von strukturellen Konfigurationen, diskursiven Repräsentationen und interaktiven Begegnungen ergibt (ebd., 15ff., s. auch Teilkap. 1.3). Für Bad Godesberg zeigen sich diverse categories of difference auf zwei Ebenen als relevant: Einerseits ist die individuelle Wahrnehmung und diskursive Darstellung esskultureller Praktiken im Stadtbezirk stark von der Gegenüberstellung ›arabischer‹ und ›alteingesessener‹ Alltagskultur bestimmt. In Teilkapitel 2.2 wurde deutlich, dass diese Kategorien zwar aus unterschiedlichen Perspektiven verschieden gefüllt werden, und in der alltagssprachlichen Nutzung eine Polarisierung der Debatten über die Entwicklung des Bezirks ergeben. Unabhängig von ihrer vagen Bedeutung ist die Gegenüberstellung dennoch Teil der im Feld relevanten categories of difference. Andererseits erarbeitete ich in Teilkapitel 2.3 vier Nutzungsprofile der gastronomischen Landschaft des Bezirks, die auf weitere solcher Kategorien hinweisen. Aufbauend auf den Selbst- und Fremdzuschreibungen meiner Interviewpartner:innen der Nutzung spezifischer gastronomischer Orte wurde deutlich, dass das momentane und längerfristige Mobilitätsniveau der Anwohner:innen sie im Bereich alltagskultureller Praktiken am stärksten voneinander unterscheidet: So sind erst seit einigen Jahren im Bezirk wohnhafte Personen in ganz anderen Lokalen anzutreffen als mobile Besucher:innen oder immobile Langzeitbewohner:innen. Die Diversität im Mobilitätsniveau und in der Verortung zwischen den beiden diskursiven Polen der ›arabischen‹ und ›alteingesessenen‹ Esskultur ergibt unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, die die Repräsentation eigener Zugehörigkeit und die Deutung von Zugehörigkeiten bei anderen erlauben. Aus der Analyse in Bezug auf solche Zuschreibungen in Kapitel 5 ergaben sich neben der ›arabisch-alteingesessen‹-Unterscheidung zwei weitere Gegensatzpaare. Es fiel auf, dass eigene und beobachtete esskulturelle Nutzungspraktiken in die Kategorien ›modern‹ vs. ›traditionell‹ sowie ›sicher‹ vs. ›neu‹ eingeordnet werden. Letztere Kategorisierung wird besonders in der Selbstzuschreibung genutzt und ist stark vom individuellen Mobilitätsniveau abhängig: ›Sichere‹ Orte sind solche, die aus der Vergangenheit bekannt sind und können zum Treffpunkt und Austauschraum für »communities of sentiment« (Appadurai 1996, 8, s. auch Teilkap. 5.3) werden. ›Neue‹ Lokale sind den Nutzer:innen noch unbekannt und werden zu besonderen Anlässen ausprobiert.
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Um welche Art von Spezialitätenrestaurant zum Beispiel durch regionale Verweise es sich dabei handelt, ist kaum von Belang. Wichtiger ist den Anwohner:innen, die ›neue‹ Lokale testen, die Abwechslung zum eigenen Alltag und zu Gerichten, die sie selbst zubereiten können. Für die Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeiten bei Anderen werden vermehrt die ersten beiden Kategorisierungen genutzt. Die Zuschreibungen beziehen sich jedoch meist nicht auf Einzelpersonen, sondern eher auf vermutete Kollektive, denen gastronomische Orte zugeordnet werden. Ob ein Lokal als ›arabisch‹ oder ›alteingesessen‹ gedeutet wird, hängt zumeist an der Fassadengestaltung sowie an der Position im Bezirk. Ob es sich hingegen um ein ›traditionelles‹ oder ›modernes‹ Lokal handelt, wird stärker an der Beobachtung der Altersgruppen, die im Publikum vertreten sind, festgemacht (vgl. dazu genauer Kap. 5). Die unterschiedlichen Altersgruppen im Bezirk haben außerdem noch auf einer zweiten Ebene Einfluss auf die Ordnungsvorstellungen, die neben- und teils gegeneinander stehen: Im Alterungsprozess schränkt sich in der überwiegenden Mehrheit spätestens ab dem Renteneinstieg der Mobilitätsradius ein. Hinzu kommt, dass mit steigendem Alter viele Verweismöglichkeiten auf vergangene biografische Erfahrungen unbesetzt bleiben, wenn beispielsweise langjährig frequentierte Restaurants schließen, die entsprechenden Gebäude leer stehen oder abgerissen und umgebaut werden (s. dazu Kap. 5). Gleiches gilt für jüngere, mobile Personen, für die Verweise auf andere Orte (statt auf andere Zeiten) unbesetzt sind, wenn Angebote fehlen, an denen esskulturelle Praktiken ähnlich wie andernorts ausgeübt werden und somit die eigene Mobilitätserfahrung desorientierend wirkt. Mobile jüngere Anwohner:innen haben jedoch potenziell die Aussicht auf einen zukünftigen Wandel ihrer Lebenssituation, möglicherweise auch in einer anderen räumlichen Umgebung. Viele meiner älteren Gesprächspartner:innen sahen diese Aussicht für sich nicht mehr als gegeben und neigten so zu einer Art invertierter Zukunftshoffnung – zur Nostalgie in Bezug auf eine imaginierte frühere, ›bessere‹ Zeit (vgl. Appadurai 1996, 81f., s. dazu auch Kap. 5). Die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen von der städtischen Umgebung und der eigenen Position darin, wie ich sie hier für Godesberg beschrieben habe, stehen nicht einfach nebeneinander. Sie sind auch in sich gebrochen, durch individuelle biografische Veränderungen, und in besonderem Maße beeinflusst von den lokalhistorischen Einschnitten in der Bezirksentwicklung. Damit stehen sie dem Bedürfnis nach der »seamlessness« (Appadurai 1996, 181, s. auch Teilkap. 5.4) in der Erzählung der Herstellung einer lokalen Ordnung entgegen. Die Spannung zwischen der alltagskulturellen Diversität in Bad Godesberg und dem unmöglich zu erfüllenden Wunsch nach einer kohärenten Lokalgeschichte, die auf den gegenwärtigen Zustand hinführt, zeigte sich insbesondere im Leitbildprozess von 2016 bis 2020 (s.
6. Multiskalare Ordnung alltagskultureller Praktiken
Teilkap 2.1). Die Grundspannung zwischen Diversität und dem Streben nach einem einheitlichen Leitbild der städtischen Umgebung ist in Godesberg allgegenwärtig. Was sagt nun die Untersuchung esskultureller Situationen im öffentlichen Leben des Bezirks in Bezug auf diese Spannung aus? Die Antwort auf diese Frage beruht auf den pragmatistischen Grundannahmen, die ich in Teilkapitel 1.1 eingeführt habe: Persönliche Identität und gesellschaftliches Zusammenleben stehen in einer steten Wechselbeziehung (vgl. Mead 1934), sodass in einzelnen interaktiven Situationen Bedeutungsmuster geschaffen, gefestigt oder verändert werden (vgl. Blumer 1969). Jede einzelne alltagskulturelle Situation trägt also dazu bei, individuelle lokale Ordnungsvorstellungen zu erhalten oder abzuwandeln und sie in kollektivierenden Austausch miteinander zu bringen. Spezifisch für das Untersuchungsfeld Bad Godesberg lässt sich aus der Analyse esskultureller Situationen und darin enthaltener Praktiken schließen, dass die oben beschriebenen Kategorien der Selbst- und Fremdzuschreibung über drei mögliche Arten das öffentliche Leben im Bezirk stabilisieren. Erstens können boundary objects, also flexibel einsetzbare und unterschiedlich gedeutete Objekte, zur Repräsentation von Zugehörigkeit dienen (s. Star und Griesemer 1989, s. auch Teilkap. 5.3). Dabei werden verschiedene Ordnungsvorstellungen nicht wirklich in einen Austausch gebracht, jedoch wird ihre parallele, konfliktfreie Existenz ermöglicht. In Godesberg geschieht dies beispielsweise in Bezug auf die Zertifizierung von Restaurants als ›halal‹. Manche Nutzer:innen verstehen darunter ein Qualitätsmerkmal für gutes Fleisch, andere deuten die Zertifizierung als religiöse Konsequenz und wieder andere exotisieren die angebotenen Gerichte als von den eigenen Esspraktiken abweichend. An eine solche Exotisierung kann sich entweder eine positive Wertung und Nutzung, oder die Entscheidung gegen die Nutzung anschließen (s. genauer dazu Kap. 5). Zweitens werden Erfahrungen und Beobachtungen zu Gruppen und deren Zugehörigkeitsmerkmalen in Godesberg an räumlichen Nutzungs- und Bewegungsprofilen festgemacht. Diese Übertragung von Ordnungsvorstellungen in eine territoriale Logik mündet in die Vorstellung von durch bestimmte Gruppen »besetzten Gegenden« (Interview 03, Z. 535). Eher als im Falle der boundary objects kommt es hier zu Konflikten um die Grenzen solcher Gegenden, die zwangsläufig vage bleiben, sich überschneiden und dadurch eine friedliche Koexistenz verschiedener Ordnungsvorstellungen verhindern. Ein Beispiel für eine solche Problematik zeigt sich am Stadtteil Pennenfeld, dessen Bewohner:innen durch den Status der Wohnanlagen als Sozialbau im öffentlichen Diskurs stigmatisiert werden. Entspricht die territoriale Wohnlage nicht der diskursiven Zuordnung, der man sich selbst zugehörig fühlt, führt das wahlweise zu Abwehr- und Abwertungsreaktionen gegenüber Dritten (wie am Beispiel Petras in Kap. 5 deutlich geworden) oder dem »Wirklichkeitseffekt« (Champagne 2005, zit.n. Preissing 2019, 133, s. auch Teilkap. 2.3), durch den mediale Stigmatisierungen angeeignet und performativ umgesetzt werden.
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Drittens, und besonders spannungsreich, ist die Deutung von Einzelpersonen als Träger:innen von Repräsentationen der Zugehörigkeit. Gerade körperliche, alltagskulturelle Praktiken werden in Bad Godesberg im öffentlichen Diskurs immer wieder zu Anzeichen widerstreitender Ordnungsvorstellungen erklärt (s. dazu Teilkap. 2.1). Im Fall von handelnden Individuen ist eine Aushandlung der Grenzen und Geltungsbereiche solcher Vorstellungen unmöglich: Einerseits bewegen und überschneiden sich die Territorien des Selbst der Anwohner:innen und Gäste Godesbergs stetig im öffentlichen Raum, andererseits unterscheiden sie sich in Bezug auf zahlreiche Merkmale. Sie verdichten sich zu den oben genannten Polen von Zuschreibungen und lösen damit das Aufeinandertreffen konfligierender Ordnungsvorstellungen in einzelnen Interaktionen aus (wie am Beispiel des in seiner Positionsbestimmung verletzten Crêpeverkäufers deutlich geworden, s. Teilkap. 4.3). Interagieren zwei Individuen, die sich gegenseitig anhand abweichender Ordnungsvorstellungen positionieren, ist die Möglichkeit der Positionsverletzung immer gegeben. Die einzelnen Interaktionen können unterschiedlich ›ausgehen‹, häufen sich jedoch Erfahrungen einer solchen Koexistenz verschiedener Ordnungsvorstellungen im eigenen Lebensumfeld an, bilden sie eine »soziale Geschichte« (Goffman 1974a, 257) der Beziehung zwischen Kategorien von Personen. Damit wird die Bildung von Ressentiments1 innerhalb der Nachbarschaften des Stadtbezirks wahrscheinlich, wie sich an der emotional aufgeladenen Polarisierung des öffentlichen Diskurses in und um Bad Godesberg deutlich zeigt. Ausdrücke von Ressentiments sind als Zeichen dafür zu verstehen, dass sich lokale Ordnungsvorstellungen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Individuen so weit unterscheiden, dass keine sichere Selbstpositionierung im öffentlichen Leben mehr gewährleistet ist. Der entsprechende Aushandlungsprozess, dessen Teil esskulturelle Situationen sind, ist in Bad Godesberg in vollem Gange. Ob er sich zugunsten einer parallelen Existenz unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen oder der Homogenisierung auf ein einheitliches Leitbild auswirkt, hängt nicht zuletzt daran, ob Repräsentationen von Zugehörigkeiten primär an Objekten, Räumen oder Personen festgemacht werden. Bis hierhin habe ich die Schlüsse aus der vorangegangenen Analyse esskultureller Situationen für einen kleinen, infrastrukturell als Einheit erkennbaren geografischen Raum deutlich gemacht. Im Fazit wende ich mich nach diesen ›lokalen‹ nun auch den ›globalen‹ Schlüssen dieser Studie sowie ihren Grenzen und Anschlussfragen zu.
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Ein Ressentiment kann im Anschluss an Max Scheler (Scheler 2017 [1912]) als wiedererlebtes Gefühl der Abwertung gegenüber einer als höher wahrgenommenen sozialen Position verstanden werden.
7. Fazit und Ausblick
In dieser Studie habe ich mich mit Unordnung und Ordnung, Orientierung und Wandel im alltäglichen Leben in Bad Godesberg auseinandergesetzt. Anhand der ethnografischen Analyse esskultureller Situationen und Praktiken standen drei Leitfragen im Fokus. Erstens fragte ich nach den Umständen der Begegnung esskultureller Alltagspraktiken, zweitens nach der Erfahrung und Deutung von Repräsentationen der Zugehörigkeit und drittens nach der Wechselwirkung zwischen praktischen Interaktionen und deren reflexiver Deutung und Bewertung. In den Antworten, die ich darauf fand und die im letzten Kapitel zusammengeführt wurden, lassen sich drei Ebenen unterscheiden: die inhaltliche, methodische und theoretische. Auf inhaltlicher Ebene zeigte ich, dass alltagskulturelle Begegnungen im Stadtbezirk Bad Godesberg anders betrachtet und eingeordnet werden müssen als in großstädtischen Zentren. Solche Zentren zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich relativ zu Bad Godesberg in einer machtvolleren Position befinden, dass lokale Prozesse der Stadtentwicklung im Sinne eines Aufwärtstrends diskutiert werden oder dass hohe Dynamik, Mobilität und alltagskulturelle Diversität nach außen als Stärke des lokalen Zusammenlebens kommuniziert werden. In allen drei Bereichen lässt sich Godesberg durch seine Lokalgeschichte als abweichend von entsprechenden Zentren beschreiben. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Rolle alltagskultureller Praktiken und Interaktionen außerhalb des privaten Wohnraumes der Anwohner:innen. Die Einschätzung ihres Lebensumfeldes sowie der eigenen Position darin wird dadurch mitbestimmt. Im Bereich esskultureller Situationen wurde deutlich, dass beim Essen somatische Unterschiede zwischen einzelnen Individuen sichtbar werden und je nach Größenordnung des Radius der entsprechenden Praktiken zu deren konfligierender, routinierter oder aushandelnder Begegnung führen. In großstädtischen Zentren lässt sich aus Perspektive des Individuums davon ausgehen, dass in öffentlichen Räumen ein blasiertes Durchschreiten im Sinne Georg Simmels gelingt, in kommerziellen Räumen eine effiziente Marktlogik die Beziehungen bestimmt und in privaten Räumen persönliche Interaktionen zu bewältigen sind. In Bad Godesberg vermischen sich diese Möglichkeiten und erzeugen im Vergleich zu stärker
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großstädtisch bestimmten Bezirken eine Erhöhung der Verwundbarkeit öffentlichen Lebens (s. Goffman 1974a). Dies gilt im Besonderen, aber nicht ausschließlich für esskulturelle Situationen. Die hier gewonnenen Erkenntnisse lassen sich in Teilen auf weitere alltagskulturelle Praktiken und Interaktionen übertragen. Dazu ist das in Teilkapitel 6.3 vorgestellte, von esskulturellen Situationen abstrahierte Modell anwendbar. Eine ergänzende Untersuchung weiterer alltagskultureller Bereiche könnte das Modell spezifizieren helfen. Außerdem kann sich eine Kontrastierung mit außeralltäglichen Interaktionen als fruchtbare Erweiterung der hier vorgenommenen Analyse zeigen. Methodische Implikationen enthalten die Ergebnisse der Studie insofern, als dass die inhaltliche Beschäftigung mit einem Stadtbezirk, in dem ich selbst zur Anwohnerin wurde und der durch eine starke diskursive Polarisierung bestimmte ist, situative forschungspraktische Spontaneität ebenso wie deren Reflexion erforderte. In den zitierten Materialien aus dem Feld sowie deren analytischer Verwendung ist deutlich geworden, dass methodologische Anregungen aus der frühen ethnografischen Stadtforschung neu überdacht und an gegenwärtige Bedingungen angepasst werden können. Im Umgang mit sozialräumlicher Diversität fiel auf, dass Näheund Distanzverhältnisse sozialer wie räumlicher Beziehungen komplexer geworden sind, als es Modelle mit klar umrissenen urban areas (Burgess 1967) vermuten lassen. Dennoch kann eine Bahnlinie – wie in Winston Parva (Elias und Scotson 2002 [1965]) aber auch in Bad Godesberg – zum Symbol für sozialräumliche Segregation werden und über ihr diskursives Bild alltagspraktische Bewegungs- und Konsumentscheidungen einzelner Anwohner:innen bestimmen. Kartografische Methoden in der Erhebung ebenso wie in der Auswertung ethnografischer Daten erwiesen sich als geeignet, um verschiedene Perspektiven auf derartige sozialräumliche Beziehungen zu kontrastieren und das direkte Übertragen räumlicher Distanzen in statische Modelle einer sozialen Ordnung zu vermeiden. Darüber hinaus regte der Kontext hoher Diversität in einem räumlich-administrativ überschaubar kleinen Gebiet wie Bad Godesberg dazu an, einerseits forschungspraktische Werkzeuge (wie die Auswahl an Interview- und Beobachtungssprachen oder die unterschiedlich zugängliche Formulierung von Einverständniserklärungen), andererseits analytische categories of difference (Vertovec 2015, s. Teillkap. 1.3) aus forschender Perspektive im laufenden Erhebungs- und Auswertungsprozess stets erneut zu überdenken und an die lokalen Spezifika des Untersuchungsfeldes anzupassen. Die Entscheidung, bis auf das Merkmal des regelmäßigen Aufenthalts innerhalb der Bezirksgrenzen keine solcher Kategorien schon vor der Datenerhebung zur Definition der beobachteten und befragten Personen im Feld festzulegen, erwies sich als konstruktiv. Das in Teilkapitel 6.3 vorgestellte Modell der Ordnung alltagskultureller Situationen vermeidet in der Folge sowohl die Problematik des methodischen Nationalismus als auch weiterer -ismen in der Auswahl der Forschungsteilnehmenden (beispielsweise in Bezug auf ›Ethnizität‹ wie in der For-
7. Fazit und Ausblick
schung zum Stichwort des ethnic business, s. dazu Teilkap. 1.2). Als besonders fruchtbar zeigte sich zusätzlich die situationsanalytische Anregung, »sites of silence« (Clarke 2003, 561, s. Teilkap. 1.3) sowohl in die Reflexion der eigenen Forschungspraxis als auch in die inhaltliche Analyse mit einzubeziehen. Ein dritter Aspekt der Studie, der sich aus einem methodischen Interesse heraus als relevant erweisen kann, war der spannungsreiche Umgang mit sozialen Gefühlen im Feld. Ich habe versucht, derartige Gefühle entsprechend methodischer Anregungen aus der ethnografischen Forschung sowohl in der Soziologie als auch der Ethnologie transparent und für die Analyse fruchtbar zu machen (s. dazu Teilkap. 1.3). Hier ließe sich eine detailliertere Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen rund um soziale Gefühle in der qualitativen Forschung anschließen (für eine weitergehende Beschäftigung insb. mit negativen Gefühlen vgl. von Stetten und Brill 2022a; 2022b). Die empirischen Daten sowie die analytische Verarbeitung standen in dieser Studie stärker im Fokus als die sie umgebende Theoriearbeit. Dies beruht auf dem hier gewählten Ansatz der Grounded Theory und wurde durch das ethnografische Vorgehen noch verstärkt. Dennoch lassen sich auch auf theoretischer Ebene einige Erkenntnisse aus den Analyseergebnissen destillieren und auf Anschlussmöglichkeiten und weitergehende Fragestellungen hin prüfen. In der Auseinandersetzung mit den lokalen Spezifika Bad Godesbergs zeigte sich, dass eine zu starke theoretische Eingrenzung des Interesses vor der eigentlichen Datenerhebung zwangsläufig zu einer Einschränkung der Sensibilität für Feldrelevanzen führt (s. dazu Teilkap. 1.1). Dies habe ich zugunsten ethnografischer Genauigkeit und Vielstimmigkeit in dieser Studie zu vermeiden versucht. Anregungen, die sich aus der Analyse ergeben, lassen sich im Anschluss daran aber möglicherweise in zukünftiger Forschung aufnehmen und weiter zuspitzen. Die zentralen Erkenntnisse, zu denen ich auf theoretischer Ebene durch die empirische Analyse kam, betreffen die Problematik, auf die allgemein für alltagskulturelle Situationen Michel de Certeau (1984, s. Teilkap. 1.1) und spezifischer für esskulturelle Praktiken auch Alan Warde (2016, s. Teilkap. 1.2) hinweisen. Beide stellen fest, dass es in der Betrachtung alltäglicher Praktiken nicht ausreicht, den Blick ausschließlich auf das praktische Handeln an sich zu richten und in der Analyse auf der mikrosoziologischen Ebene stehen zu bleiben. Umgekehrt fordern Ayşe Çağlar und Nina Glick Schiller aus einem stärker auf stadtsoziologische Fragestellungen ausgerichteten Interesse, Prozesse des »city-makings« (Çağlar und Glick Schiller 2018) nicht ausschließlich auf makrosoziologischer Ebene zu untersuchen. Sie fordern: »Our approach challenges ethnographers of »everyday« life to situate their research within a framework of multiscalar city-making.« (ebd., 11) Beide Forderungen – einmal aus praxistheoretischer, einmal aus stadtsoziologischer Perspektive formuliert – zu vereinen war das hintergründige, theoretische Anliegen der Studie. Das Ergebnis in Form einer Modellierung der multiskalaren Ordnung alltagskultureller
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Situationen kann als praxistheoretische Heuristik, die makrosoziologische Fragestellungen nicht vollständig ausblendet, genutzt und in der weiteren Anwendung noch verfeinert werden1 . Insgesamt weisen die inhaltlichen, methodischen und theoretischen Implikationen der Ergebnisse dieser Studie auch darauf hin, dass alle drei Ebenen in der ethnografischen Teilnahme am Alltag städtischer Anwohner:innen zusammenfallen. Unter den Bedingungen hoher Diversität in den lokal relevanten categories of difference ist es erstens unangebracht und zweitens unmöglich, wahlweise ausschließlich auf inhaltlicher, methodischer oder theoretischer Ebene eine Sensibilität für das ordnende Zusammenspiel lokaler Unterscheidungen anzustreben. Spezifisch für die qualitative Sozialforschung ist damit gemeint, dass eine die drei Ebenen verbindende Konsequenz im forschungspraktischen Vorgehen notwendig ist. Gleiches gilt allgemeiner für das Alltagsverständnis städtischen Zusammenlebens. Mit der schriftlichen Fixierung des Leitbilds einer »lebendigen Mitte«, geprägt von »Respekt und Toleranz« (Mölders et al. 2019, s. Teilkap. 2.1) ist es so auch in Bad Godesberg noch nicht getan. Alltagskulturelle Situationen und »kleine Interaktionen, die genauso schnell vergessen sind, wie sie zustande kamen« (Goffman 1974a, 193, s. Teilkap. 1.1) werden ihren Teil dazu beitragen und das Leitbild mit unterschiedlichen lokalen Ordnungsvorstellungen füllen müssen.
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Eine tiefergehende, konzeptuelle Beschäftigung mit diesem Anliegen findet sich möglicherweise bei Jan-Hendrik Passoth, dessen Buch »Soziologie der Umstände. Entwurf einer symmetrischen Praxistheorie« zur Ordnung von Praktiken über die lokale Situation hinaus jedoch erst 2024 erscheinen wird, und deshalb noch nicht in diese Studie einbezogen werden konnte.
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276
Lokale
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277
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Lokale
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Anhang
Schritte der Datenerhebung Zeitraum
Datenerhebung
Dokumentation
08.18 – 06.21
Sammlung von regionalen und überregionalen Presseberichten
Speicherung, Eintragung und Kommentierung in Datenbank
09.18 – 09.19
Beobachtende Teilnahme bei öffentlichen Veranstaltungen mit kulinarischer Ausrichtung
Beobachtungsprotokolle, Kartierungen von gastronomischem Angebot, Fotos, Videos
10.18 – 12.18
Kartierungsfahrten für Verzeichnung gastronomischer Einrichtungen nach Stadtteilen
Kartierung konstanter und temporärer Orte esskultureller Situationen
02.19 – 02.20
Leitfadengestützte sketchingInterviews
Interviewtranskription, Gesprächsprotokolle, Scan der Handzeichnungen
03.19 – 03.20
Regelmäßige beobachtende Teilnahme in Restaurants und Kochtreffs sowie bei kulinarischen Einzelveranstaltungen, Interviews mit Beteiligten (+ regelmäßige Besuche während der ersten Wochen der Corona-Pandemie)
Beobachtungsprotokolle, Kartierungen von räumlicher Gestaltung, Interviewtranskriptionen, Fotos, Videos
280
Lokale
Interviewübersicht mit Kurzbeschreibung des Kontextes InterviewNr. (* = wird zitiert)
Maskierung
Kurzbeschreibung des Interviewkontextes
01*
Am
Am ist seit Mitte der 1970er Jahre Anwohner von Bad Godesberg. Er ist in Rente und engagiert sich als Bürger in der Kommunalpolitik sowie in einem Verein. Das Interview fand im Februar 2019 nach einer Mailanfrage im Vereinsgebäude statt.
02*
Bm
Bm ist in den 1950er Jahren als Jugendlicher durch die Anstellung seines Vaters nach Godesberg gezogen. Er hat sein Berufsleben an unterschiedlichen Orten verbracht und ist mit dem Renteneinstieg nach Godesberg zurückgekehrt. Er ist über 70 Jahre alt und engagiert sich in einem (anderen) Verein. Auch mit ihm führte ich das Interview nach Mailabsprache im Vereinssitz. Im Interview bezeichnet er sich als Zugezogener.
03*
Cm, Dm
Cm und Dm sind beide engagiert in einem weiteren Verein, bei dem ich um einen Interviewtermin gebeten hatte. Ich war zu dem Termin zunächst überrascht, unabgesprochen zwei Personen anzutreffen. Dies störte den Interviewverlauf jedoch nicht, stattdessen führte es spontan zu interessanten Wortwechseln zwischen den beiden. Cm und Dm sind in Godesberg geboren und aufgewachsen. Cm ist in Rente und engagiert sich über den Verein hinaus in der Kommunalpolitik, Dm arbeitet im gastronomischen Bereich in der Innenstadt. Beide bezeichneten sich im Interview als Alteingesessene.
04
Ef
Ef wohnt seit Anfang der 2000er Jahre in Bad Godesberg und engagiert sich in der evangelischen und muslimischen Gemeinde. Sie lud mich zum Interview zu sich nach Hause ein und wir frühstückten während dem Gespräch.
05*
Fm
Fm zählt sich ebenfalls zu den Alteingesessenen und ist in Godesberg geboren und aufgewachsen. Er ist als Publizist sowie politisch aktiv und im Bezirk gut vernetzt. Ich sprach die Verabredung zum Interview nach mehreren Vorgesprächen bei Veranstaltungen mündlich ab. Das Interview fand in einem Café statt.
Anhang
06*
Gf
Gf ist seit einigen Jahren Anwohnerin Bad Godesbergs, und ist für ihre Stelle als Sozialarbeiterin in den Bezirk gezogen. Das Interview fand an ihrem Arbeitsplatz statt und war mit ihrem Arbeitgeber abgesprochen.
07
Hf
Hf lebt seit den 1970er Jahren in Bad Godesberg und arbeitet als Journalistin. Das Interview führten wir nach Vorabsprache an ihrem Arbeitsplatz.
08*
If
If ist nach 2010 aufgrund der Arbeit ihres Ehemannes nach Godesberg gezogen. Sie arbeitet als Publizistin und engagiert sich in der Geflüchtetenhilfe der evangelischen Kirche. Ich interviewte sie nach Absprache in einem Café, nachdem ich sie auf einer kulinarischen Veranstaltung kennengelernt hatte.
09*
Jm
Jm war beruflich in der katholischen Kirche in Bad Godesberg beschäftigt und ist für diese Anstellung nach 2000 in den Bezirk gezogen. Ich vereinbarte ein Interview in seinem Büro nach einem Vorgespräch auf einer Veranstaltung der Geflüchtetenhilfe.
10*
Km
Km lernte ich bei einer geführten Tour durch die gastronomische Landschaft Godesbergs kennen. Er ist in Godesberg geboren und aufgewachsen und hat (wie auch seine Eltern) lange im Bezirk in der Gastronomie gearbeitet. Das Interview fand an seiner aktuellen Arbeitsstelle in Bonn statt.
11*
Lm
Lm lebt außerhalb von Bonn, ist in Marokko geboren und arbeitet seit einigen Jahren als Gastronom in Bad Godesberg. Das Interview fand an seiner Arbeitsstelle statt. Ich hatte den Termin bei einem vorherigen Besuch in dem Lokal mündlich abgesprochen.
12*
Mm
Mm wohnt in Bonn und arbeitet seit einigen Jahren in einem Verein der Geflüchtetenhilfe im Bezirk. Das Interview fand im Vereinsgebäude statt und war nach einem Vorgespräch per Mail vereinbart. Aus dem Interview ergab sich die Möglichkeit der beobachtenden Teilnahme an einem Kochtreff des Vereins.
13*
Nf
Nf lernte ich während der beobachtenden Teilnahme an einem zweiten Kochtreff im Bezirk kennen. Nach mehreren Vorgesprächen während der Kochtreffs vereinbarte ich mündlich einen Termin für ein Interview, das in einem nahegelegenen Café stattfand.
14*
Om
Om meldete sich auf einen Zeitungsbericht über die Forschung per Mail bei mir und bot ein Interview in seinem Ladenlokal an. Er ist in Bad Godesberg geboren und aufgewachsen und arbeitet in der Gastronomie.
281
282
Lokale
15
Pm
Pm ist in der Schweiz geboren und arbeitet als Gastronom in Bad Godesberg. Ich interviewte ihn nach Vorabsprache an seinem Arbeitsplatz
16*
Qm
Qm ist nach 2010 als minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter aus Pakistan nach Bad Godesberg gekommen. Mittlerweile ist er volljährig und macht eine Ausbildung in Sozialer Arbeit. Ich führte ein Interview im Vereinssitz, nachdem ich ihn bei dem Kochtreff im Verein für Geflüchtetenhilfe kennengelernt hatte.
17
k.A.
18*
Rm
Rm ist ebenfalls nach 2010 als Geflüchteter in den Bezirk gekommen. Er ist in Afghanistan geboren, arbeitet in der Gastronomie, und auch ihn lernte ich beim Kochtreff kennen. Ich führte das Interview nach mündlicher Absprache im Vereinssitz.
19*
?f, Sf
Sf hat mit ihrem Ehemann mehrere Jahre in Sudan gelebt und ist nach weiteren Stationen in den 1990er Jahren mit der Familie nach Bad Godesberg gezogen. Sie engagiert sich in der muslimischen sowie in der evangelischen Gemeinde im Bezirk. Ich lernte sie bei dem kirchlichen Kochtreff kennen und führte ein Interview nach Vorgespräch und Mailabsprache in einem Eiscafé. Ihre Enkelkinder im Grundschulalter waren anfangs mit dabei und kommentierten hin und wieder ihre Aussagen, später verließen sie das Café. Dafür kam spontan eine junge Frau hinzu, die ebenfalls in Sudan gelebt hatte, und einen Anschlusstermin mit Sf hatte. Die beiden kannten sich bis dahin noch nicht persönlich. Statt das Interview abzuschließen, ließ ich ?f mit einsteigen und es ergab sich ein durch ihre Perspektive ergänztes, interessantes Gespräch.
20*
Tm (Faraz)
Tm kam als unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter nach 2010 aus Iran in den Bezirk. Aktuell ist er in schulischer Ausbildung. Ich lernte ihn beim Kochtreff kennen und interviewte ihn nach einem Vorgespräch spontan im Vereinssitz. Sein Interview musste wiederholt werden, da im ersten Durchlauf das Aufnahmegerät nicht funktionierte. Im zweiten Interview wiederholten wir die vorherigen Themen, kamen aber auch auf weitere Aspekte zu sprechen.
Anhang
21*
Uf, Vf
Uf und Vf sind Mutter und Tochter. Beide sind in Syrien geboren und kamen zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach 2010 nach Godesberg. Vf studiert, und Uf ist im Rentenalter. Ich lernte sie durch eine kulinarische Veranstaltung kennen und vereinbarte ein Interview in einem Restaurant, das beide gemeinsam gaben. Auch Baydaa Layla war anwesend, damit wir das Interview auf Deutsch und Arabisch führen konnten. Baydaa Layla und Vf übersetzten im Gespräch Fragen und Antworten für die Mutter, und im Anschluss auch alle arabischen Passagen im Transkript. Uf und Vf sprachen außerdem kurdisch miteinander, um sich gegenseitig Dinge zu erklären, bemühten sich aber stets, im Anschluss zu übersetzen, was sie besprochen hatten.
22*
Wm
Wm ist pensionierter Diplomat und engagiert sich in einem Verein. Ich lernte ihn bei einer Veranstaltung des Vereins kennen und führte ein Interview nach Mailabsprache im Vereinssitz. Wm hat auf allen Kontinenten gelebt und gearbeitet. Seit den 1970er Jahren liegt sein Lebensmittelpunkt in Deutschland in Bad Godesberg. Nach dem Abschluss des Interviews ergab sich ein Nachgespräch, in dem Wm mir vorschlug, ich und meine Freundinnen könnten einmal servieren kommen und uns etwas dazuverdienen, wenn er zuhause ein Abendessen veranstaltete. Ich ging nicht darauf ein, war von dem Vorschlag aber irritiert.
23*
Xm
Xm ist in Godesberg geboren und nach seinem Berufsleben in Berlin mit der Rente zurück in den Bezirk gezogen. Er versteht sich als alteingesessener Rheinländer. Ich lernte ihn auf einer Vereinsveranstaltung kennen. Das Interview fand nach Mailabsprache in einem Restaurant statt. Vor dem Interview führte Xm mich durch die Innenstadt des Bezirks und berichtete von der Stadtentwicklung, wobei er viele Aspekte dieses Vorgesprächs im Interview wieder aufnahm.
24*
Yf (Petra)
Yf ist in Godesberg geboren und aufgewachsen und lebt heute im Umland. Sie versteht sich als Alteingesessene, und ihr Arbeitsweg führt sie täglich durch den Bezirk. Ich lernte sie auf einer Diskussionsveranstaltung des Forschungsprojekts in der Universität kennen und führte nach telefonischer Absprache ein Interview mit ihr in einem Restaurant.
283
284
Lokale
Übersicht beobachtender Teilnahme Typ (* = wird zitiert)
Nr. (Datum, Beobachter:in)
Stichwort
Feldprotokoll
04.09.2018, Albrecht
Konstanter Essort
Feldprotokoll
10.09.2018, Brill
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
12.09.2018, Brill
Temporärer Essort
Feldprotokoll*
14.09.2018, Brill
Temporärer Essort
Feldprotokoll*
22.10.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
30.10.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
08.11.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll*
11.11.2018, Brill
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
17.11.2018, Rosenkranz
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll*
28.11.2018, Brill
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll
04.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
06.12.2018, Binding
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll
11.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
12.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll*
17.12.2018, Brill
Temporärer Essort
Feldprotokoll
18.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll*
19.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
19.12.2018, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
08.01.2019, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
10.01.2019, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
10.01.2019, anonyme:r Student:in
Städtischer Raum
Feldprotokoll
14.01.2019, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll*
15.01.2019, Brill
Städtischer Raum
Feldprotokoll
15.01.2019, anonyme:r Student:in
Sonstige
Feldprotokoll
15.01.2019, anonyme:r Student:in
Gesprächsnotiz
Feldprotokoll
17.01.2019, Rosenkranz
Temporärer Essort
Feldprotokoll
24.01.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Anhang
Feldprotokoll*
26.01.2019, Brill
Konstanter Essort
Feldprotokoll
30.01.2019, anonyme:r Student:in
Städtischer Raum
Feldprotokoll
30.01.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll
02.02.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll
02.02.2019, anonyme:r Student:in
Städtischer Raum
Feldprotokoll
03.02.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll
05.02.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll
05.02.2019, anonyme:r Student:in
Städtischer Raum
Feldprotokoll*
05.02.2019, Brill
Gesprächsnotiz
Feldprotokoll
08.02.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Reflexionsprotokoll*
25.02.2019, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
25.02.2019, Brill
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
26.02.2019, Brill
Wirtschaft & Veranstaltung
Feldprotokoll*
18.03.2019, Brill
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll
19.03.2019, Brill
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
26.03.2019, Brill
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll
28.03.2019, anonyme:r Student:in
Jugend & Alter
Feldprotokoll*
30.03.2019, Brill (mit anwesend: Rosenkranz)
Temporärer Essort
Feldprotokoll
03.04.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
15.04.2019, Brill
Temporärer Essort
Feldprotokoll*
23.04.2019, anonyme:r Student:in
Städtischer Raum
Feldprotokoll
24.04.2019, anonyme:r Student:in
Politik & Ehrenamt
Reflexionsprotokoll*
16.05.2019, Brill
Konstanter Essort
Reflexionsprotokoll
06.06.2019, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
11.06.2019, Rosenkranz (mit anwesend: Brill)
Temporärer Essort
Feldprotokoll
12.06.2019, Brill (mit anwesend: Rosenkranz)
Temporärer Essort
Feldprotokoll*
14.06.2019, Brill
Temporärer Essort
Reflexionsprotokoll
26.06.2019, Brill
Gesprächsnotiz
Reflexionsprotokoll
04.07.2019, Brill
Gesprächsnotiz
Feldprotokoll
05.07.2019, Brill
Migration & Integration
Reflexionsprotokoll
06.07.2019, Rosenkranz
Allg. Reflexion
285
286
Lokale
Feldprotokoll*
08.07.2019, Brill
Temporärer Essort
Reflexionsprotokoll
10.07.2019, Brill
Allg. Reflexion
Reflexionsprotokoll
01.08.2019, Ali
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
02.08.2019, Ali
Konstanter Essort
Feldprotokoll
02.08.2019, Layla
Konstanter Essort
Feldprotokoll
13.08.2019, Ali
Städtischer Raum
Reflexionsprotokoll
06.09.2019, Layla
Allg. Reflexion
Reflexionsprotokoll
06.09.2019, Ali
Allg. Reflexion
Reflexionsprotokoll
09.09.2019, Layla
Allg. Reflexion
Feldprotokoll*
20.09.2019, Ali
Temporärer Essort
Feldprotokoll
22.09.2019, Ali
Konstanter Essort
Feldprotokoll*
27.09.2019, Layla
Temporärer Essort
Feldprotokoll
29.09.2019, Layla
Konstanter Essort
Feldprotokoll
04.10.2019, Ali
Städtischer Raum
Reflexionsprotokoll
09.10.2019, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
18.10.2019, Layla
Konstanter Essort
Reflexionsprotokoll
24.10.2019, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
09.11.2019, anonyme:r Student:in
Konstanter Essort
Feldprotokoll
11.11.2019, Layla
Konstanter Essort
Reflexionsprotokoll
28.11.2019, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
15.01.2020, Brill
Sonstige
Feldprotokoll
22.01.2020, Ali
Sonstige
Reflexionsprotokoll*
29.01.2020, Brill
Allg. Reflexion
Reflexionsprotokoll
12.02.2020, Ali
Allg. Reflexion
Reflexionsprotokoll
04.03.2020, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll*
31.03.2020, Brill
Krise
Feldprotokoll*
01.04.2020, Brill
Krise
Feldprotokoll*
04.04.2020, Brill
Krise
Reflexionsprotokoll
28.04.2020, Brill
Gesprächsnotiz
Reflexionsprotokoll
03.06.2020, Brill
Allg. Reflexion
Feldprotokoll
23.09.2020, Albrecht
Konstanter Essort
Feldprotokoll
22.09.2020, Albrecht
Politik & Ehrenamt
Feldprotokoll
22.09.2020, anonyme:r Student:in
Sonstige
Reflexionsprotokoll
10.08.2021, Brill
Allg. Reflexion
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
Vera Hofmann, Johannes Euler, Linus Zurmühlen, Silke Helfrich
Commoning Art – Die transformativen Potenziale von Commons in der Kunst Juli 2022, 124 S., kart 19,50 € (DE), 978-3-8376-6404-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6404-5
Kerstin Jürgens
Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Gabriele Winker
Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3
Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid
Gesellschaftstheorie Eine Einführung 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5
Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9
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