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German Pages 135 [140] Year 1932
LOGIK DES
WIDERSPRUCHS
E i n e U n t e r s u c h u n g zur M e t h o d e der P h i l o s o p h i e und zur G ü l t i g k e i t der f o r m a l e n L o g i k von
ROBERT HEISS
Berlin und L e i p z i g
W A L T E R
DE
1932
G R U Y T E R
&
CO.
vormals G. J. Göschen'schc Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp.
Archiv-Nr. 42 oí 32
VORWORT Die Untersuchungen, die hier vorgelegt werden, nehmen ihren Ausgang von dem Versuch, das Problem des Widerspruchs neu zu verstehen. Seit Kant Widersprüche in der Erkenntnis als Grenzphänomene der Erkenntnis aufgezeigt und bestimmt hat, seit dann Hegel den Widerspruch aber als Element unseres Erkennens verstanden wissen wollte, hat man sich dem Problem des Widerspruchs mit neuer Aufmerksamkeit zugewandt. Nun hat Hegel der Erscheinung des Widerspruchs einen systematischen Ort im Denken zugewiesen und hat das Schema des Widerspruchs im Geschehen der Wirklichkeit nachzuweisen versucht. Aber er und auch die folgenden Denker haben sich nicht bemüht, das Phänomen deskriptiv zu erfassen. Unterdessen sind die Möglichkeiten einer deskriptiven Bearbeitung der Widersprüche gewachsen. Um nur eine zu nennen: in einem Zweig der Mathematik, der Mengentheorie, sind Widersprüche aufgetreten. Diese deskriptive Erfassung des Widerspruchs und eine vergleichende Analyse der verschiedenen Widersprüche ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Vornehmlich sind es drei Gruppen von Widersprüchen, die darzustellen sind: Die logischen Widersprüche im engeren Sinne. Sie sind die ältesten, waren schon der Antike bekannt und sind rein formaler Art. Die zweite Gruppe sind Widersprüche in Theorien. Ihre unmittelbare Ähnlichkeit mit den logischen Widersprüchen ist auffallend. Wie jene gehen sie zwangsläufig aus gewissen Begriffen, Definitionen und Urteilen hervor. Was ihnen eine andere Bedeutung gibt, ist der Umstand, daß sie nicht einfach ad hoc erfunden scheinen, sondern in der notwendigen Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin auftreten. Eine dritte Gruppe von Widersprüchen seien Phänomen-Widersprüche genannt. Wesentlich für sie ist, daß in ihnen d u r c h eine widerspruchsvolle Formel hindurch eine Tatsache, eine Gegebenheit, ein Stück der Wirklichkeit sichtbar wird. An ihnen zeigt sich am deutlichsten das p h i l o s o p h i s c h e Problem der Widersprüche. Sind sie wirklich nur, wie Kant behauptet, „Illusionen" der „reinen Vernunft"? Kommt ihnen keine andere Bedeutung zu, als die, die Erkenntnis zu täuschen ? Oder handelt es sich vielleicht um eine elementare, logische Form? Kant und Hegel stehen sich in der Interpretation des Widerspruchs als Antipoden gegenüber, und wenn Kant den Widerspruch als S c h e i n , Hegel ihn aber Sein verstanden wissen will, so wird die Antithese ganz klar sichtbar. In den folgenden Untersuchungen soll dieses Problem an Hand deskriptiver Untersuchungen der F o r m des Widerspruchs wieder aufgenommen werden. Der wegweisende Gedanke ist: Wenn sich in den
IV verschiedenen Arten des Widerspruchs eine gemeinsame systematische Grundstruktur nachweisen läßt, so hat man nicht ohne weiteres das Recht, diese Grundform als unlogisch zu bestimmen. Die verschiedenen Arbeiten, eine gemeinsame Formel der Paradoxien zu finden (Rüstow, Greiling-Nelson) sind weiterzuführen und es ist nach dem logischen Gehalt dieser Grundformel zu forschen. In diesem Sinn ist die negative Selbstbezüglichkeit, die konstitutiv ist für die Arten der oben beschriebenen Widersprüche, die logische Grundform des Widerspruchs. Um nun aber diese These zu erhärten, muß man untersuchen, inwiefern man das Recht hat, von selbstbezüglichen und negativ selbstbezüglichen Formen zu sprechen. Nun ist aber selbstbezogenes Denken durchaus nichts Seltenes . In einem engeren Sinn ist alles Denken ü b e r das Denken selbstbezogen, insofern es sich auf das bezieht, was es selbst ist. Im weiteren Sinn sind große Teile jenes Denkens, das man heute als geisteswissenschaftliches versteht, selbstbezogen. Nur auf Grund der Tatsache, daß das Denken sich selbst untersuchen kann, ist Erkenntnistheorie, ist Psychologie möglich, nur auf Grund dieser Selbstbezogenheit ist wiederum historisches Verstehen möglich. Die Arbeit soll erweisen, daß selbstbezogenes Denken ganz unbedingt von fremdbezogenem, rein gegenständlichem Denken unterschieden werden muß. Überall dort, wo in einer Wissenschaft die G l e i c h a r t i g k e i t des U n t e r s u c h e n d e n u n d des U n t e r s u c h t e n , des E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d e s u n d des E r k e n n t n i s m i t t e l s mit zur E r k e n n t n i s einer W i s s e n s c h a f t g e h ö r t , ist eine eigenartige methodische Position gegeben. Man hat sich um die Untersuchimg des selbstbezogenen Denkens bisher wenig bekümmert, aus dem einfachen Grunde, weil die formale Logik von vornherein das intentionale, gegenständliche Denken in den Vordergrunde stellte und in ihrer Theorie der Zirkelschlüsse und der Zirkelbeweise das selbstbezogene Denken insgesamt disqualifizierte und zu einem wertlosen machte. Für die formale Logik ist selbstbezogenes Denken erkenntnisleeres Denken und sie sieht es nur als Beweis dieser Meinung an, daß selbstbezogenes Denken in der positiven Form tautologisch und in der negativen Form paradox wird. Daß nun die Formen der Tautologie und des Widerspruchs Grundlage des selbstbezogenen Erkennens sind, ist völlig richtig. Aber sie sind rein logische Formen, wie die Identität eine Grundform der formalen Logik ist. Wer sich die Mühe nimmt, die Überlegungen dieser Arbeit zu durchdenken, wird erkennen, was diese Behauptimg besagen will. Es ist also eine Untersuchimg der logischen Struktur der Selbstbezogenheit, die durchzuführen ist und die von dem Ansatz, den die formale Logik bietet, nicht durchgeführt werden kann. Mehrfach ist schon ausgesprochen worden, daß der Ansatz der formalen Logik nicht genügt, um
V alle Grundformen der Logik zu erfassen. Vor allem ist es die scharfe Trennung zwischen geisteswissenschaftlichem und naturwissenschaftlichem Denken, wie sie sich in der Praxis des Wissenschaftsbetriebes durchgesetzt hat, die immer wieder das Desiderat einer geisteswissenschaftlichen Logik zeigte. Auf der anderen Seite hat sich die Logistik bemüht, das Inventar der logischen Formen zu ergänzen. Leider ist sie so gänzlich vom mathemathisch-naturwissenschaftlichen Denken beherrscht, daß sie die Probleme der Logik nur sub specie dieses Denkens zu sehen vermag. Neuerdings hat H. Leisegang in seinen „Denkformen" das Problem, ein großes historisches Material durchdringend, ganz scharf formuliert. Nach ihm gibt es eine Reihe von Denkformen, die mit den Mitteln der traditionellen Logik nicht zu verstehen sind, aber ihre eigene in sich verständliche und nach ihren Gesetzen sich bewegende Logik haben. Mit diesen und anderen Arbeiten teilt die vorliegende die Einsicht, daß die formale Logik n i c h t umfassendist. Sieunternimmt es daher,systematisch andere logische Gesetzlichkeiten nachzuweisen. Das entscheidende Prinzip der formalen Logik ist der Satz vom Widerspruch. Denn dieser Satz gibt das Kriterium, auf Grund dessen die formale Logik und die Wissenschaften, die sich auf sie stützen, ihre Systematik entwickeln können. Anderseits zeigt sich immer deutlicher, daß die Erkenntnis mit der bloßen Vermeidung von Widersprüchen nicht zufrieden sein kann. Dafür ist vor allem auch das Verfahren der Philosophie, und zwar gerade jener, die sich am strengsten um sichere philosophische Erkenntnis bemühte, ein Beweis. Descartes, Kant und Husserl sahen jeweils einen Teil ihrer philosophischen Aufgabe in der Durchführung und Darstellung bestimmter Widersprüche. Es ist keine zufällige Ähnlichkeit, daß Descartes den Widerspruch im Zweifel an allem, Kant den Widerspruch des metaphysischen Denkens, Husserl den Widerspruch im Psychologismus nachweist; denn die Entwicklung dieser Widersprüche ist ein Teil ihrer Arbeit. Damit aber geraten Descartes, Kant und Husserl schon aufeine Denkebene, wo das Prinzip des Widerspruchs fast unmerklich eine andere Bedeutung erhält. Geht man nun der systematischen Stellung nach, die der Widerspruch hier hat, dann stößt man auf die Logik des selbstbezüglichen Denkens, in der das entscheidende Kriterium die Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t von Tautologie und Widerspruch ist. K ö l n , April 1932
R. Heiss
VII
INHALTSVERZEICHNIS: I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zum Begriff der Methode in der Philosophie Die phänomenologische Methode Grenzenlosigkeit des Fragens als Bedingung der Philosophie Die Zweifelsmethode Die transzendentale Methode Die Kontinuität in den Bemühungen um die philosophische Methode 7. Die dialektische Methode II. Logik der Selbstanwendung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Selbstanwendung als logische Form Die Begriffsfunktion Ungegenständliche Begriffsfunktion Positive und negative Selbstanwendung Tautologie und Widerspruch Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel einer negativen Selbstanwendung 7. Formen der negativen Selbstanwendung III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens 1. 2. 3. 4. 5.
Erkenntnis und Selbstanwendung Reine und inhaltliche Selbstanwendung Bewegung als selbstbezogenes Phänomen Die Selbstbezogenheit der Allesaussagen Der Kausalitätssatz
i i 7 14 20 25 42 49 56 56 58 61 63 66 71 81 94 94 96 101 110 114
Schluß: Das Problem der strengen Methode in der Philosophie als ein Problem der Selbstanwendung 122
I.
EINE U N T E R S U C H U N G ZUM METHODENBEGRIFF IN DER NEUEREN PHILOSOPHIE x. Z U M B E G R I F F DER M E T H O D E I N D E R P H I L O S O P H I E Nur genaue historische Untersuchungen könnten ergründen, wie und wann aus dem Denken das methodische Denken hervorgeht, und wie sich vom Begriff des Denkens der Begriff der Methode abhebt. Zu vermuten ist jedoch, daß schon in der Antike der Begriff der Methode Allgemeingut des theoretischen Denkens wird. Denn hier zeigen sich in der Philosophie Ansätze, die den Methodengedanken in seinem wesentlichen Gehalt erfassen. Vor allem die Trennung von Erkennen und Gegenstand, von Subjekt und Objekt ist das Zeichen, daß der Methodengedanke ins Bewußtsein tritt. Der weitere Weg von einem ersten Ansatz der Methode und des Methodengedankens, wie wir ihn im sokratischen und platonischen Denken schon finden, bis zur Entwicklung der Methode ist aller Wahrscheinlichkeit nach aufs engste mit dem Weg der positiven einzelwissenschaftlichen Forschung verbunden. Insbesondere ist sicherlich der Anteil, den das mathematische Denken an der Schulung und Entwicklung des methodischen Denkens hat, beträchtlich. Aber erst mit Beginn der neueren Philosophie zeigt sich, daß der Methodengedanke in einem neuen und tieferen Sinn nochmals Thema des wissenschaftlichen Denkens wird. Indem nämlich in der neueren Philosophie dieser Gedanke erneut aufgenommen wird, zeigt sich dem Denken die Situation des Denkens in einem gänzlich neuen Licht. Ja für die Philosophie als umfassende Wissenschaft ist geradezu eine neue Situation geschaffen. Denn die Trennung zwischen Subjekt und Objekt wird in der Philosophie wiederholt und führt zu der Trennung von philosophischem Subjekt und philosophischem Objekt, und dadurch wird die Scheidung gleichsam in Permanenz erklärt und allumfassend. Zwischen beide aber wird als verbindendes Glied der Begriff des methodischen Philosophierens gesetzt. Die Zweifelsmethode Descartes', die transzendentale Methode Kants und die phänomenologische Methode Husserls zeugen neben anderen Methodenbegründungen von dem immer wiederholten Versuch, die Philosophie mit diesem Gedanken endgültig zu i
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
verbinden. Zweierlei hat sich aus diesen Versuchen, gleichgültig wie man zu ihnen steht und ob man an eine Methode der Philosophie glaubt oder nicht, ergeben: i . wer heute philosophiert und sich nicht mit dem Gedanken des methodischen Philosophierens auseinandersetzt, versäumt eine fundamentale Problematik der heutigen philosophischen Situation. 2. die Problematik der Philosophie, die die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt zum Ausgangspunkt hat, läßt sich nicht aufhellen ohne eine Klärung des Phänomens der Methode. Die Annahme liegt nahe, daß es sich bei der Frage nach der Methode in der Philosophie um dieselbe Frage handelt, die auch sonst im wissenschaftlichen Denken und in den Einzelwissenschaften auftritt. Alle die sich um die Methode der Philosophie bemühten, haben offenbar so gedacht. Descartes, Kant und Husserl berufen sich auf die mathematische oder naturwissenschaftliche Methode, und vieles spricht dafür, daß die Methode, so wie sie sich im einzelwissenschaftlichen Denken darbot, das Vorbild für die Begründung der Methode in der Philosophie war. Aber das Problem einer Methode der Philosophie unterscheidet sich vom Problem der einzelwissenschaftlichen Methode und selbst die Erörterung des Begriffes der Methode in der Philosophie geht von anderen Voraussetzungen aus als die Erörterung desselben Begriffes in der Einzelwissenschaft. Ein Unterschied zeigt sich vor allen anderen. Hat man die Methode einer Wissenschaft, so hat man einen Zugang zu einem Gegenstand und also einen bestimmten Gegenstand. Andererseits kann man vom Gegenstand einer Wissenschaft wissen und unter Umständen noch lange nach der Methode suchen. Gewisse Disziplinen, die im Kopf ihrer genialen Entdecker schon bestanden, mußten lange warten bis die subjektive Verfahrensweise zur objektiven Methode kristallisiert war, und damit der Gegenstand eindeutig bestimmt und die Wissenschaft eindeutig konstituiert war. In der einzelwissenschaftlichen Arbeit besteht eine Abhängigkeit zwischen Gegenstand und Methode. Wäre die Untersuchung der Methode in der Philosophie der Entdeckung einer einzelwissenschaftlichen Methode gleichgeartet, dann könnte man glauben, daß die Philosophie, wenn sie erst im Besitz ihrer Methode wäre, auch ihren Gegenstand e i n d e u t i g bestimmt hätte. Ein weiterer Denkschritt führt von hier aus zu der Hoffnung, daß mit dem Besitz der Methode und der eindeutigen Bestimmung ihres Gegenstandes der Philosophie auch der Weg zu ewigen und allgemeingültigen Resultaten frei gegeben ist. Aber es läßt sich gar nicht verkennen, daß in der Philosophie das Problem anders liegt. Es ist sogar beinahe umgekehrt. So oft ein Philosoph die Philosophie auf eine bestimmte Methode festgelegt zu haben glaubte, hat man auch schon behauptet, daß damit der philosophische Gegenstand verloren sei. Besser aber als diese Behauptung zeigt die Reaktion, die jeder Methodenbegrün-
i. Zum Begriff der Methode in der Philosophie
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dung auf dem Fuße folgte, die Sachlage. Noch im Zeichen der Methode haben die transzendentale und phänomenologische Methode eine Anwendung erfahren, die gegen den Geist dieser Methoden verstößt. In dem Glauben, die Methode weiterzuführen, wurde aufs neue der Gegenstand und das Problem der Philosophie formuliert. So verfuhr der deutsche Idealismus mit der transzendentalen Methode, und so verfuhren Scheler und Heidegger mit der phänomenologischen Methode. Indem sie glaubten die Methode fortzusetzen, gaben sie die ursprüngliche methodische Intention auf, aber sie gaben sie um der Sache willen, d. h. um des philosophischen Gegenstandes willen auf. Bisher ist es in der Geschichte der Philosophie nicht gelungen, den philosophischen Gegenstand in einer bestimmten Methode einzufangen. Er ist vor aller Methode und nach aller Methode. In diesem Sinne ist es richtig, daß eine philosophische Methode, die den philosophischen Gegenstand eindeutig macht, auch schon den Gegenstand der Philosophie verloren hat. Der Gegenstand der Philosophie läßt sich nicht in eine eindeutige Abhängigkeit von einer Methode bringen, er ist unabhängig und liegt außerhalb des Raumes, der durch die Methode geschaffen wird. Dies ist richtig, wenn richtig ist, daß alle Methoden den Gegenstand der Philosophie nur teilhaft wiedergeben und daß für philosophische Forschung p r i n z i p i e l l Platz ist außerhalb jeder philosophischen Methode. Positiv ausgedrückt: es gibt viele philosophische Methoden und sie können beliebig vermehrt werden, die Philosophie hat keine Methode, aber viele Methoden. Jede Methode trifft einen Teil des philosophischen Gegenstandes, jede Methode verfehlt aber auch etwas am philosophischen Gegenstand. Man könnte daraus schließen, daß der Gegenstand der Philosophie in sich selbst widerspruchsvoll sei. Dieser Schluß ist keineswegs notwendig. Es genügt zunächst die Erklärung, daß jeweils ein Teil des philosophischen Gegenstandes den anderen nicht nur überdeckt, sondern auch — für den Betrachter von einem bestimmten Blickpunkt aus—verdeckt. Wenn wir einen Raum, in dem wir uns aufhalten in seiner Gänze betrachten wollen, müssen wir mindestens einmal den Standpunkt und Bückpunkt wechseln, weil wir einen Teil des Raumes selbst be- und verdecken und deshalb nicht die Gesamtraumwirkung in uns aufnehmen können. Ähnlich verhält es sich für den philosophischen Denker. Auch seine Grundintention ist die, den gesamten Denkraum — dies unterscheidet die Philosophie ihrer Absicht nach ja vor allem von den Einzelwissenschaften — zu betrachten, aber auch er scheidet von vornherein einen Teil des Denkraums aus, den, auf dem er steht, seinen Standpunkt1. Wo nun aber trotzdem versucht wird, den eigenen 1
vgl. dazu N. Hartmanns Analyse des Standpunktproblems in: «Metaphysik der Erkenntnis» 2. Aufl. S. 122 ff.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Standpunkt in die Überlegungen mit einzubeziehen, entsteht jenes eigentümliche Phänomen, das man den philosophischen Zirkel am Anfang genannt hat. Dieser Zirkel hat Ähnlichkeit mit Münchhausens Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Seine Struktur ist — so vielfältig auch seine Ausführungen sind — insofern immer dieselbe, als der Standpunkt von Orten aus gesehen wird, die erst durch den Standpunkt selbst sichtbar werden, als der Ansatz von Sätzen aus bewiesen und gerechtfertigt wird, die ihrerseits erst durch den Ansatz bewiesen und gerechtfertigt werden. Es besteht eine enge Beziehung zwischen Gegenstand und Methode nicht nur in der Einzelwissenschaft, sondern auch in der Philosophie. Aber diese Beziehung ist in der Philosophie anders als in der Einzelwissenschaft. Das ist der Punkt, der jeder Überlegung zur philosophischen Methode heute vorangestellt zu werden verdient und der sich schon an einer einfachen Definition des Begriffes der Methode darlegen läßt. Die Methode soll die Sphäre der objektiven Erkenntnisbedingungen darstellen. Stellt die Erkenntnis eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt dar, so ist die Methode das Mittel, durch das die Verbindimg geschaffen wird. Wo keine objektiven Erkenntnisbedingungen vorhanden sind, ist auch kein methodisches Arbeiten möglich. Kants Kritik der transzendentalen Dialektik beruht also beispielsweise darauf, daß er zeigt, es gibt ein Feld des menschlichen Denkens, in dem keine objektiven Erkenntnisbedingungen vorhanden sind. Daher ist hier auch keine allgemeingültige Erkenntnis möglich. Diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt kennzeichnet den Methodenbegriff der sogenannten exakten Wissenschaften ganz im allgemeinen. In der Einzelwissenschaft ist es also immer erst die Methode, die den Gegenstand voll zugänglich macht, ihn für die Erkenntnis konstituiert und faßbar macht. Dennoch ist für den Einzelwissenschaftler der Gegenstand nicht von der Methode abhängig, sonst wäre die Methode ja gerade nicht objektiver Zugang zum Gegenstand, sondern die Methode ist vom Gegenstand abhängig. Die Methode legt nur den Weg zum Gegenstand frei und daher kommt es, daß der Forscher nicht an den Gegenstand kann, ehe er die Methode hat, und daß dann erst die eigentliche Erforschung des Gegenstandes beginnt. Die Methode weist die Richtung, in der der Gegenstand immer voller erfaßt werden kann. Man möchte in diesem Fall von einer objektbestimmten Methode sprechen. Umgekehrt könnte man in der Philosophie sagen, daß das jeweilige Objekt einer Philosophie «methodenbestimmt» ist. So wenigstens lehrt die Geschichte der Philosophie: Mit der Veränderung der philosophischen Einstellung, der philosophischen Fragestellung oder der philosophischen Arbeitsweise ändert sich der philosophische Gegenstand. Verändert sich der Aufriß der Philosophie, so verändert sich auch ihr Inhalt.
i. Zum Begriff der Methode in der Philosophie
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Eine der stärksten Tendenzen der neuzeitlichen Philosophie ist der bei Descartes zum ersten Mal klar in Erscheinung tretende Versuch, diesen Zustand zu beseitigen. Auch vorher hat die Philosophie versucht, die eine Wahrheit zu finden. Mit der Einsicht, daß der Zugang zu einem wissenschaftlichen Gegenstand durch eine bestimmte Methode geht, versteht die Philosophie nun ihre Aufgabe neu. Es gilt die Methode zu finden, die den Zugang öffnet. Ganz selbstverständlich ist in diesem Ansatz eingeschlossen, daß es einen philosophischen Gegenstand gibt, der in dieser Weise erschlossen werden kann. Die Entwicklung der Philosophie in der Neuzeit erweist aber wiederum, daß auch der Methodenbegriff und die Sphäre der Methode nicht einen letzten einheitlichen Standort für den philosophischen Gegenstand abgibt. Ganz klar zeigt sich dabei ein Sachverhalt, der in folgender Alternative sich ausdrückt: entweder bestimmt in der Philosophie die Methode den Gegenstand, und dann gibt es unendlich viele philosophische Gegenstände,oder aber, wenn es einen Gegenstand in der Philosophie gibt, dann kann er nur ergriffen werden, indem die Methoden wechseln. Was dieses eigentümliche Verhältnis zwischen Methode und Gegenstand für die Philosophie zu bedeuten hat, warum die Philosophie sich nicht, wie andere wissenschaftliche Erkenntnis in eine Methode einordnen und unter einen Gegenstand fassen läßt, ist das Thema der folgenden Überlegungen. Wenn dabei die Zweifelsmethode Descartes', die transzendentale und die phänomenologische Methode gegeneinander abgewogen werden, ist es selbstverständlich nicht beabsichtigt, einer den Preis zuzuerkennen. Die kritische Untersuchung und Vergleichung der Methoden in der Philosophie soll die eigentümliche, mit den Mitteln des einzelwissenschaftlichen Denkens niemals zu erfassende Stellung der Philosophie nachweisen. Die Methode geht auf einen Gegenstand. Immer wenn eine wissenschaftliche Methode beansprucht hat, auf alle Gegenstände zu gehen, so hat sie dann in ihrer Arbeit unmittelbar erwiesen, daß sie doch nur bestimmte Gegenstände zu erfassen weiß. Ist es die Aufgabe der Philosophie, auf alle Gegenstände zu gehen, und kann die Philosophie keine Frage abweisen, auch die nicht von denen sie «belästigt» wird (Kant), ohne sie beantworten zu können, dann kann sich in der Denksituation der Philosophie der Methodenbegriff nicht bewähren. Am wenigsten ist man heute geneigt, diese Behauptimg für die Phänomenologie gelten zu lassen. Freilich hat gerade die Phänomenologie sich besonders die Geste des Allumfassens gesichert, indem sie zuerst das Gebiet des philosophischen Gegenstandes bestimmt hat und zwar so bestimmt, daß kein Gegenstand darin auftauchen konnte, für den die Methode nicht zuständig wäre. Denn nichts anderes bedeutet der Begriff des intentionalen Gegenstandes. Indem der Phänomenologe den Gegenstand als gehabten,
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
als Phänomen bestimmt, macht er den Gegenstand zum Bewußtseins-, zu meinem Gegenstand und evakuiert alle Gegenstände, die nicht «meine» Gegenstände sind. Die Reduktion ist der systematische Ausdruck für diesen Vorgang: die Gegenstandssphäre wird auf die immanente, auf die Bewußtseins-Gegenstands-Sphäre eingeengt. Daß eine solche Einengung an sich berechtigt ist, unterliegt keinem Zweifel. Wenn aber stillschweigend oder ausdrücklich die so bestimmte Gegenstandssphäre zum alleinigen philosophischen Gegenstandsgebiet gemacht wird, indem andere philosophische Probleme und Gegenstände nicht mehr gesehen oder nur sub specie der Methode erblickt werden, entsteht die Gefahr, daß solche Philosophie zur Einzelwissenschaft wird. Was aber der Einzelwissenschaft zum Vorzug gereicht: die Ausscheidung aller Gegenstände und Gegenstandsgruppen, die nicht unter ihre Methode fallen, die Einengimg des Horizontes auf eine Blick- und Fragerichtung, vernichtet eine spezifische Qualität der Gesamtphilosophie: Erkenntnis nicht nur bestimmter Gegenstände, sondern aller Gegenstände überhaupt zu sein. Dies schließt aber der Begriff der Methode von vornherein aus: mag es eine Methode geben, die alle Gegenstände umfaßt, sie wird nie z. B. sich selbst als Gegenstand umfassen. Die Methode ist immer nur ein Weg im Gegenstandsbereich, niemals die ganze Fläche des Bereichs. Der Gegenstandsbereich als solcher ist unendlich, er birgt unendlich viele Möglichkeiten des Befragtwerdens und dagegen versündigt sich die Methode: sie befragt den Gegenstand nur nach einer Richtung. Die Welt der Gegenstände ist vieldimensional, der Weg der Methode eindimensional. Wenn man aber Philosophie als die Erkenntnis des totalen Gegenstandes bestimmt, dann darf sie niemals eindimensional werden. Im selben Moment hätte sie schon den totalen Gegenstand verloren und wäre unfähig geworden über die Totalität etwas auszusagen. Der Gegenstand der Wissenschaft ist kraft der Erkenntnis und von Gnaden der Methode, der Gegenstand der Philosophie ist zwar gleichfalls kraft der Erkenntnis aber auch kraft des Subjektseins. Ist es möglich den Gegenstand der Wissenschaft durch die Methode zu objektivieren, in einem stillstehenden abstrakten Raum festzuhalten, so kann dies niemals mit dem Gegenstand der Philosophie geschehen. Hier liegt eine gewisse Ähnlichkeit der Philosophie mit der Geschichte. Wie das Material der Geschichte mit jedem Tag und jeder Stunde vermehrt wird, so wächst mit jedem Tag der Gegenstand der Philosophie. Man darf nicht übersehen, daß die Philosophie nicht nur Erkenntnis von Wesensgesetzen und Wesenheiten ist, sondern auch Erkenntnis eines Veränderlichen, das diesen Wesensgesetzen unterliegt. Jede Veränderimg aber, mag sie noch so sehr wesensgesetzlich bestimmt sein, bringt etwas prinzipiell Neues.
2. Die phänomenologische Methode
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Man hat behauptet, nur die Methode schaffe sich den Gegenstand. Daran ist etwas Wahres: die Methode bannt den Gegenstand und sichert sich ihn dadurch. Die Frage für die Philosophie aber ist: Läßt sich der ganze Gegenstandsbereich durch eine Methode bannen und s i c h e r n ? 2. D I E P H Ä N O M E N O L O G I S C H E
METHODE
Es ist, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, nicht leicht, den Gegenstand einer philosophischen Richtung sichtbar zu machen, aber geradezu unmöglich, den Gegenstand der Philosophie zu zeigen. In der sinnlichen Anschauung läßt er sich, wie alle abstrakten Gegenstände, nicht geben und der Versuch ihn durch Definition festzulegen stößt — aus der oben gezeigten Eigenart heraus — auf Schwierigkeiten. In der Praxis des Philosophierens ist diese Schwierigkeit oft bemerkt worden. Im Grunde bleibt nichts anderes übrig, als denjenigen, der den Gegenstand der Philosophie erkennen will, in die philosophische Arbeit einzuführen. Indem er selbst eine philosophische Methode anwendet oder historische Anwendungen philosophischer Überlegungen kritisch prüft, erarbeitet er sich den Gegenstand der Philosophie. Das bedeutet freilich, daß er direkt oder indirekt in einen philosophischen Gedankenvollzug einspringt. Kann nun der auf diese Weise Philosophierende erfahren, ob das Ganze seines Gedankenvollzuges wahr ist? Der einzelwissenschaftliche Forscher kann am Ende eines Gedankenzuges durch das Experiment den Vergleich mit dem Gegenstand vollziehen oder in der Mathematik durch die Überprüfung der Lückenlosigkeit der Ableitung den Gedankengang kontrollieren. Die Kontrolle erweist, ob das Gedachte richtig ist. Nun stellen die verschiedenen Stadien in der Entwicklung der Philosophie beinahe ebensoviele Seiten des philosophischen Gegenstandes dar. Eins aber ist wenigstens den verschiedenen Versuchen, eine Methode der Philosophie zu begründen, gemeinsam. Alle glauben in ihrer Methode ein Kriterium aufweisen zu können, das dem philosophischen Gedankengang Wahrheit sichert. Nun gibt es freilich kein Experiment, durch das man einen philosophischen Gedankengang sichern kann und andererseits gewährleistet die logische Lückenlosigkeit eines philosophischen Gedankengangs keineswegs seine Wahrheit. Woher stammt also in den verschiedenen Begründungen einer philosophischen Methode der Glaube an die Möglichkeit eines philosophischen Kriteriums? Indem man diese Frage stellt, fragt man nach dem m e t h o d e n b i l d e n d e n Gesichtspunkt einer philosophischen Überlegung. Diese Untersuchung soll mit der phänomenologischen Methode vorgenommen werden. Da es ihr nicht so sehr darum geht, in die g e l e i s t e t e Arbeit der Phänomenologie einzudringen als diesen philosophischen Me-
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
thodengedanken mit anderen zu vergleichen, kann natürlich die Fruchtbarkeit und Eigentümlichkeit der phänomenologischen Methode nur indirekt dargestellt werden. A u f ein Referat der phänomenologischen Methode m u ß in diesem Sinne verzichtet werden, damit die Entstehung und Bedingtheit des phänomenologischen Gesichtskreises um so deutlicher erscheint. Bei der Betrachtung der phänomenologischen Methode fällt unmittelbar eine Tendenz auf, die schon vor aller methodischen Arbeit und vor aller Polemik sich auswirkt. Umschreibend kann man diese methodenbildende Grundabsicht so formulieren: Husserl will einen bestimmten Bezirk «sichern», d. h. gegen den Relativismus schützen. Er hat also offenbar primär einen Bezirk gesehen, der bisher nur mit anderen vermischt gesehen wurde. Liest man den i . Band der «Logischen Untersuchungen» so könnte man meinen, daß ganz allgemein die Wahrheit des Denkens gesichert werden soll. Aber schon gegen Ende des ersten Bandes zeigt sich ein neues Moment. Die negativ gegen den Psychologismus und seine Widersprüche gerichtete Denkarbeit wird positiv, indem sie positive Elemente nachweisen zu können glaubt. Die methodenbildende Tendenz der Sicherung, die sich kritisch gegen den Psychologismus gewandt hat, mündet in die Gegenstandsbehauptung ein. Die Wahrheit des Denkens, die gegen den Psychologismus gesichert werden soll, wird nun vergegenständlicht. «Es kann nichts s e i n , ohne so oder so bestimmt zu sein; und daß es ist und so oder so bestimmt ist, dies ist eben die W a h r h e i t an s i c h , welche das notwendige Korrelat des S e i n s an s i c h bildet 1 .» Husserl fährt in der Erörterung dieses Gegenstandes fort: «Indem wir nun einen Erkenntnisakt vollziehen oder, wie ich es mit Vorliebe ausdrücke, in ihm leben, sind wir «mit dem Gegenständlichen beschäftigt», das er, eben in erkennender Weise, meint und setzt; und ist es Erkenntnis im strengsten Sinne, d. h. urteilen wir mit Evidenz, so ist das Gegenständliche originär g e g e b e n . Der Sachverhalt steht uns jetzt nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich vor Augen und in ihm der Gegenstand selbst, als das, was er ist, d. h. genau so und nicht anders, als wie er in dieser Erkenntnis gemeint ist: als Träger dieser Eigenschaften, als Glied dieser Relationen u. dgl. Er ist nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich so beschaffen, und a l s wirklich so beschaffener ist er unserer Erkenntnis gegeben; d. h. aber nichts anderes: als solcher ist er nicht bloß überhaupt gemeint (geurteilt), sondern e r k a n n t : oder: d a ß er so ist, ist aktuell gewordene Wahrheit, vereinzelt im Erlebnis des evidenten Urteils. Reflektieren wir auf diese Vereinzelung und vollziehen wir ideeierende Abstraktion, so wird statt jenes Gegenständlichen die Wahrheit selbst zum erfaßten Gegenstande. Wir erfassen hierbei die Wahrheit als das ideale Korrelat des flüchtigen subjektiven Erkenntnisaktes, als die e i n e , gegenüber 1
Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I. 2. Aufl. 1913. S. 228
2. Die phänomenologische Methode
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der unbeschränkten Mannigfaltigkeit möglicher Erkenntnisakte und erkennender Individuen 1 .» Diese Sätze sind in einem doppelten Sinn charakteristisch. Sie sprechen nicht nur aus, was Husserl mit ihnen behaupten will, sondern sind geradezu eine Zusammenfassung und Beschreibung des Weges, den Husserl zurückgelegt hat. Wenn wir mit Evidenz urteilen, also strenge Erkenntnis haben, dann ist das erkennende Gesetzte originär gegeben, sagt Husserl. In der Tat hat er mit Evidenz bewiesen, daß die psychologistische Auffassung der Logik zum Widerspruch führt. In diesem Erweis, der die Wahrheit der Erkenntnis sichert, muß das Gemeinte also gegenständlich zum Vorschein kommen. Das Gemeinte ist die Wahrheit und so wird sie zum Gegenstand, d. i. aber zur Wahrheit an sich. Aus der kritischen und negativen Erörterung des Relativismus der psychologistischen Logik ist ein positiver Gegenstand hervorgegangen. Offensichtlich ist hier das unterscheidende Moment einer methodisch-philosophischen Erörterung von der unmethodischen. Husserl beweist nicht nur, daß die Erkenntnis wahr sein kann und wahr ist. Indem er — wie beispielsweise in den oben zitierten Sätzen — den Gedankengang als Ganzes noch einmal zum Objekt der Reflexion macht, wird aus dem Beweis des Wahrseins der Gegenstand der Wahrheit an sich. Dieser Schritt ist tatsächlich entscheidend für die Methodenbegründung in der Philosophie. Er wird später bei der Analyse der Zweifelsmethode und der transzendentalen Methode wiederkehren. Nur vorläufig sei dieser Zusammenhang hier bestimmt: Der methodenbildende Einsatz in der Philosophie ist immer verbunden mit einem negativen philosophischen Gedankengang, dessen Aufgabe es ist, kritisch etwas zu durchleuchten. Aus dem negativen Gedankengang bricht der methodenbildende Einsatz durch zur Anerkennung eines positiven Gegenstandes. Der positive Gegenstand jeder m e t h o d i s c h e n Philosophie steht nicht zufällig auf einem negativen Hintergrund, vielmehr gehört die Bereitung des negativen Hintergrundes mit zur Konstituierung des Gegenstandes. Es war entscheidend für die Phänomenologie, daß Husserl hier zunächst in der Entwicklung der Methode abbrach. Er sammelte und sicherte alle seine Ergebnisse im Begriff des «Gegebenseins» und der «idealen Bedeutung». Die Durchführung aller weiteren Analysen geht in dem Bewußtsein vor sich, daß es ein Feld an sich seiender Wahrheiten gibt, das zu durchforschen ist. Jedem der im zweiten Band der Logischen Untersuchungen behandelten «Gegenstände» kommt das Merkmal zu, daß er originär gegeben werden kann. In diesem Begriff sind die gefundenen Tatsachen vereint: die Gegebenheit ist eine Art des Seins, die Subjekt und Objekt verbindet. Gegebensein heißt zugleich «dasein» und heißt auch «für jemand sein». Ein Ding das gegeben ist, muß sowohl existieren, wie es auch jemandem erscheinen muß. 1
Husserl, Log. Unt. Bd. i, 229f.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Käme es nicht auf irgend eine Art zum Subjekt, dann wäre es eben nicht gegeben. All diese Merkmale aber sind die Merkmale des positiven Gegenstandes, wie er auch im Vollzug einzelwissenschaftlichen Denkens vorhanden ist. Nur daß eben dieser Gegenstand nicht von vornherein da war und sichtig war, sondern erst durch den methodenbildenden Einsatz erzeugt worden ist. Der Bezirk der Phänomenologie und der Zentralgegenstand der Phänomenologie waren damit gefunden. Der methodenbildende Gesichtspunkt des «Sicherns» einer Sphäre hatte aus sich die Bestimmung und Kennzeichnimg dieser Sphäre herausgetrieben. Die weiteren Schritte geben nun Aufbau und Ausbau der Methode an. Es gilt die Gegenstände auf das Merkmal ihrer Gegebenheit zu untersuchen, «Wesenschau und Bedeutungsanalyse» sind Mittel dazu. Diese erste Haltung Husserls ist eine ganz ursprüngliche Verbindung mit einer Gegenstandssphäre. Durch die Phänomenologie machte er sie sichtbar. So verwies er auf die Arbeit in einem Bezirk, wo Subjekt und Objekt gewissermaßen gleichberechtigt sind, wo das Objekt «erscheint» und das Subjekt «schaut». Wer in dieser Sphäre arbeitet, muß das geschaute «descriptiv» niederlegen. Weiter hat ihn nichts zu kümmern, ähnlich, wie in der Mathematik bewegt er sich in einem zwar unendlichen, aber in seinem Sein unproblematischen Arbeitsfeld. Wahrheit ist dann vorhanden, wenn der Gegenstand so erscheint, wie er ist, und so gesehen wird, wie er erscheint. Logischerweise kann Evidenz nicht nur ein «Gefühl des Richtigsehens» sein, sondern Evidenz muß sowohl bedeuten, daß das Ding richtig gesehen ist, als auch, daß es richtig erscheint. Wie die Phänomenologie ihrer Forschungsrichtung nach ganz unmittelbar auf Sachen eingestellt ist, so ist auch ihr Ziel eine möglichst adäquate Darstellung dieser Sachen, nämlich der Wesenheiten. Das verleiht ihr den Charakter, als ob sie unter den philosophischen Methoden gewissermaßen die «empirische» Methode wäre. Die Phänomenologie geht zu den Sachen und bleibt bei den Sachen, sie geht nicht spekulativ über die Sachen hinaus. In der Tat kann man das Arbeitsfeld der Phänomenologie als ideale Empirie bezeichnen. Dies ist kein Widerspruch, so gut wie es eine reale Empirie gibt, gibt es auch eine ideale. Wie jene innerhalb von Raum und Zeit existiert, so existiert die andere außerhalb von Raum und Zeit; was sie aber beide zur Empirie macht, ist, daß sie erfahren werden. Gerade dies ist das Hauptmerkmal der Phänomenologie, daß sie in der Wesensschau und der Bedeutungsanalyse ein ähnliches Mittel für ideale Gegenstände hat, wie die experimentellen Wissenschaften es in der äußeren Wahrnehmung und vergleichenden Untersuchung für reale Tatsachen besitzen. Die Phänomenologie verzichtet auf das eigentliche theoretische Mittel der konstruktiv-logischen
2. Die phänomenologische Methode
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Methode, auf die Spekulation. Darum muß sich die Phänomenologie letzten Endes auf die Evidenz berufen, wie auch die experimentellenWissenschaften; denn alle Erkenntnis von Gegebenheiten stützt sich nun einmal auf Evidenz. Nur die logisch-konstruktive Methode hat als letztes Kriterium die Richtigkeit ihrer logischen Schlüsse. So ist die phänomenologische Einstellung trotz allem eine natürliche Einstellung, wenn man unter natürlicher Einstellung die Einstellung auf Gegebenheiten versteht. Daß diese natürliche Einstellung als Methode konstituiert, also künstlich wiederhergestellt werden mußte, zeigt, wie sehr die Philosophie ihre Aufgaben anderswo gesucht hatte. Gäbe es nun keine anderen Fragen als solche, die auf dem Boden dieser natürlichen Einstellung beantwortbar sind, dann wäre die phänomenologische Methode wirklich eine allumfassende. Es wäre so, wie der methodenbegründendePhilosoph es sich vorstellt: es bedürfte nur der Sicherungsfrage, um die Methode der Philosophie festzulegen und um die Philosophie zur methodischen Wissenschaft zu machen. Eine bestimmte methodische Einstellung würde die philosophischen Lösungen beweiskräftig machen. Die Philosophie bliebe in der einmal gewonnenen phänomenologischen Einstellung, sie geht nur auf «Gegebenheiten» und «Sachen». Wie jede andere Wissenschaft könnte sie nur dort sprechen, wo Sachen vorliegen. Die Gegebenheiten wären aber auch das letzte Wort der Philosophie und über sie hinaus führt kein Weg. Aber schon am Beispiel der phänomenologischen Methode, wie später an der transzendentalen und an der Zweifelsmethode läßt sich beweisen, daß es nicht so ist. In der Phänomenologie schon muß zweierlei, Einstellung und Methode geschieden werden. Von der Einstellung der phänomenologischen Methode selbst, die auf das Feld der in aller evidenten Erkenntnis vorhandenen originären Gegebenheiten geht, muß die Einstellung geschieden werden, die zur Begründung der Phänomenologie führt. Die begründende Einstellung ist kritisch und hat allererst den Gegenstand zu sichern, wenn nicht gar ihn zu erzeugen. Verglichen mit ihr ist die eigentlich phänomenologische Einstellung unkritisch und forscht, in der Gewißheit, daß es die gemeinten Gegenstände gibt, nach den originären Gegebenheiten. Gerade in der Phänomenologie ist die Unterschiedlichkeit beider Einstellungen sehr deutlich zu sehen. DennHusserl ist in späteren Untersuchungen wieder zum methodensichernden Standpunkt zurückgekehrt. Vor allem in den «Ideen», in denen er die phänomenologische Methode darlegt, waltet wieder die methodenbildende und methodensichernde Einstellung. Hat aber der erste methodenbildende Vorstoß einen bestimmten Gegenstandsbezirk gesichert, so sichert der zweite Vorstoß nunmehr die Methode
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
selbst. Die Logischen Untersuchungen waren bestrebt gegenüber den psychologischen Erklärungsversuchen des Urteils und der Urteilsgesetze wiederum den Gegenstand der Logik rein darzustellen. So sagt Husserl am Schluß des i . Bandes der Logischen Untersuchungen, daß wir zurückgeführt werden auf gewisse Gesetze, „die rein im Inhalt der Erkenntnis1» gründen. Der zweite Band der Logischen Untersuchungen nimmt diese Fragen selbst in Angriff. Hier zeigt sich, was phänomenologische Arbeit heißt. Bedeutungen und Gesetze, die wirklich im Inhalt der Erkenntnis gründen, werden untersucht und dargestellt. Aber in den Ideen geht Husserl den Sicherungsweg gleichsam zurück. Nicht nur Gesetze und Bedeutungen, die im I n h a l t der Erkenntnis gründen, werden untersucht, sondern Fragen zum U r s p r u n g der Erkenntnis tauchen auf. Mit einem Wort: nicht die durch die Methode gesicherten Gegenstände, sondern die Methode selbst wird untersucht. Für den, der kritisch diese Zusammenhänge betrachtet, ergeben sich genug Schwierigkeiten. Gesetzt den Fall, daß die phänomenologische Methode, mit der Husserl im 2. Band der Logischen Untersuchungen arbeitet, dieselbe wäre, mit der er in den Ideen arbeitet, dann hätte diese Methode wirklich die Fähigkeit sich selbst zu erfassen. Das würde aber gerade bedeuten, daß die Unterscheidung zwischen Methode und Gegenstand nicht den Sinn hat, den Husserl ihr zuschreibt. Ist es dieselbe Methode, die in den Ideen und in den Logischen Untersuchungen verwandt wird, dann ist diese Methode in den Ideen ihr eigener Gegenstand und Methode und Sache wären eins. Dieses Ergebnis liegt wahrscheinlich nicht im Sinne des Begründes der phänomenologischen Methode. Daher ist es notwendig zwischen der phänomenologischen Einstellung und Arbeit wie sie im 2. Band der Logischen Untersuchungen betrieben wird und der Einstellung auf die phänomenologische Methode, wie sie im 1 . Band der Logischen Untersuchungen und in den Ideen vorhanden ist, zu unterscheiden. Die methodenbildende Frage, wie sie genannt wurde, ist zu unterscheiden von der m e t h o d i s c h e n Frage. Die methodischen Fragen sind erst möglich, nachdem der methodenbildende Vorstoß durchgeführt ist.Dieser hat die Priorität. Denn er setzt den Gegenstand, der methodisch befragt werden kann. Daß Husserl selbst sich über die Notwendigkeit einer systematischen Trennung beider Momente klar war, beweist das Verfahren der «Reduktion». Die phänomenologische Einstellung wird nun gesichert durch die radikale «Ausschaltung» und «Einklammerung». So lehrt Husserl in den Ideen. Die Methode der Einklammerung schaltet alles aus, was uns in der natürlichen Einstellung selbstverständlich ist. Das «Vorhandensein», das «Für uns da sein» der Gegenstände wird ausgeklammert und außer Aktion 1
Logische Untersuchungen, Bd. I, S. 239.
2. Die phänomenologische Methode
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gesetzt1. Führen wir diese Ausschaltung durch, so erscheinen uns die Gegenstände als reine bewußte «Wesenheiten». Nur als solche interessieren sie den Phänomenologen, welche andere Existenz sie auch haben mögen. « N i c h t s in A n s p r u c h zu nehmen, als was w i r am B e w u ß t s e i n s e l b s t , in reiner Immanenz uns w e s e n s m ä ß i g e i n s i c h t i g m a c h e n k ö n n e n » — das ist die Norm des Phänomenologen2. Nach dieser Ausschaltung ergibt sich «das Reich des transzendentalen Bewußtseins als des in einem bestimmten Sinne «absoluten Seins 3 ». Zweifelsohne ist der Denkschritt, der zum Verfahren der Reduktion führt, kein phänomenologischer Schritt. Die radikale Ausschaltung, die vollkommene Abwendung von allem natürlichen Dasein, ist ein, wie Husserl selbst betont, willkürlicher und «freier» Schritt4. Er ist gleichsam die Quintessenz der Kritik im ersten Band der Logischen Untersuchungen, wo Husserl sich gegen die Vermengung psychischer Vorgänge mit idealen Gesetzen und Bedeutungen in der psychologistischen Logik wendet. Dort hat Husserl zum ersten Mal das Verfahren der Ausklammerung angewandt und damit die reine Logik als Gegenstand konstituiert, in den Ideen b e g r e i f t er dieses Verfahren als Reduktion und konstituiert dadurch den B e g r i f f des phänomenologischen Reiches. Immer wieder vergleicht Husserl, sowohl in den Logischen Untersuchungen wie in den Ideen, seinen Ansatz mit dem des Mathematikers und Geometers5. Dieser Vergleich zeigt nicht nur seinen Willen, den er auch sonst deutlich genug ausgedrückt hat, Philosophie zur streng wissenschaftlichen Erkenntnis zu bringen. Aus diesem Vergleich und aus der das Werk Husserls wie ein roter Faden durchziehenden Orientierung am exakten Erkennen hört man die Bereitschaft heraus, zwischen Methode, d. h. Weg der Erkenntnis, und der Erkenntnis selbst, d. h. dem gegenständlich Ergriffenem, zu trennen. Wie denn überhaupt der methodenbildende Philosoph immer gehofft hat, durch die Einrichtung einer Methode, durch die Trennung von Methode und Gegenstand, die Philosophie zur wissenschaftlichen Erkenntnis zu qualifizieren. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß Husserl selbst einmal diesen Ansatz der exakten Wissenschaft, der strengste Trennung zwischen Methode und Gegenstand verlangt, ausdrücklich aufgibt. In den Ideen spricht er davon, daß die phänomenologische Forschung selbst, «in phänomenologischer Reinheit genommen, zugleich zum Gebiete des zu Erforschenden gehören sollen6.» Hier ist es ausgesprochen, daß die Phänomenologie als Methode ihr eigener Gegenstand ist. Aber Husserl schiebt die daraus entstehende Schwierigkeit beiseite. Er verweist auf Beispiele 1 3 6
Ideen, 2. Aufl. 1922. S. 56. ebenda S . 1 4 1 . Vgl. Log. Unters., Ideen.
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ebenda S. 1 1 3 . ebenda S. 54. ' Ideen, S. 1 2 2 f f .
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I. Eine U n t e r s u c h u n g z u m M e t h o d e n b e g r i f f in der neueren Philosophie
anderer Forschung, wo dieselbe Rückbezogenheit der Methode auf sich selbst gegeben ist. Doch diesmal nimmt er zum Vergleich keineswegs Beispiele exakter, mathematischer oder geometrischer Forschung, sondern er verweist auf die Psychologie und Logik. Die Problematik ist, was die Phänomenologie angeht, weit genug aufgerollt. Je mehr sich diese Problematik auftut, desto mehr bestätigt sich die Grundvermutung, daß in der Philosophie und vor allem in der methodisch betriebenen Philosophie ein eigentümliches Verhältnis zwischen Gegenstand und Methode besteht. Einerseits will uns scheinen, daß die phänomenologische Methode den Anspruch erhebt, die Sachen und Gegebenheiten zu untersuchen. Dafür spricht die strenge Trennung zwischen Methode und Gegenstand, die wir auch in der exakten Wissenschaft finden. Andererseits erkennen wir, daß diese Methode ihr eigener Gegenstand wird, und Methode und Sache in eins zusammenschmelzen. Die Lösung ist einfacher als es nach dieser Verwicklung der Problematik scheinen mag. Nicht nur bei Husserl, sondern bei Descartes und Kant kehrt dasselbe wieder. Der methodenbildende und sichernde Einsatz grenzt einen Gegenstandsbezirk als philosophischen Seinsbezirk ab. Einen Moment lang mag es scheinen, als ob die Fraglichkeit der Welt auf einen prinzipiellen Nenner gebracht ist, d. h. aber in einem letzten m e t h o d i s c h e n Gesichtspunkt eingefangen ist. Indem aber dieser methodische Gesichtspunkt selbst wieder untersucht und befragt wird, bricht der philosophische Frageansatz und das philosophische Wissen wieder durch, das weder auf eine bestimmte Fragerichtung noch auf einen bestimmten Gegenstand festgelegt werden kann. 3. DES
FRAGENS
GRENZENLOSIGKEIT
ALS
BEDINGUNG
DER
PHILOSOPHIE
Methode lehrt uns, unsere Fragen systematisch zu stellen. In allen Fällen wissenschaftlicher Methoden kann man daher beobachten, daß die Methode bestimmte Fragen vermeiden will und vermeidet. Fragen, die nicht aus der Methode heraus gestellt werden können, lehnt der Wissenschaftler für seinen Forschungsbereich ab. So fragt der Mathematiker nicht danach, warum Mathematik getrieben wird. Er fragt auch nicht danach, warum es Zahlen gibt. All diese Fragen interessieren ihn wohl, aber sie gehen über den Bereich, den die mathematische Methode beherrscht, hinaus. Ähnlich ist es bei anderen Wissenschaften. Der Zoologe schiebt die Frage ab, warum es Tiere gibt und dem Physiker wird unheimlich bei der Frage, warum die Welt ist. Diesen Fragen gegenüber wirkt sich die Methode als Grenze aus. Sie verweist diese Fragen aus dem Forschungsbereich, d. h. aber sie grenzt
3. Grenzenlosigkeit des Fragens als B e d i n g u n g der Philosophie
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den Fragebereich auf eine bestimmte Fragerichtung ein. Diese Begrenzung ist auch eine Begrenzung des Gegenstandsbereichs; denn sie duldet nicht, daß der Gegenstandsbereich durch beliebige Fragen nach allen Richtungen hin erweiter werden kann. Nun ist für die Phänomenologie kennzeichnend, daß die Frage: warum ist Erkenntnis? und ähnliche Fragen zurückgestellt werden. Die ganze Kraft der Husserlschen Fragestellung geht vielmehr in die Fragerichtung : wie ist die Erkenntnis seiend ? Dieser Gesichtspunkt ist es, der zur Entdeckung der Phänomenologie führt. Die Frage nach dem Warum tritt zurück zu Gunsten der Frage nach dem Wie. Offensichtlich hat die voreilige Beantwortung der Warum-Fragen, wie sie im Psychologismus geschah, Husserl zunächst von der Untersuchung dieser Frage abgehalten. Den Psychologisten zufolge waren die logischen Gesetze Denkgesetze, sie hatten ihren Grund im Denkvollzug. War damit die Frage nach dem Warum der logischen Gesetze beantwortet, so zeigt Husserl gerade, daß diese Erklärung nicht genügt, vielmehr zu Widersprüchen führt. Was hat diese Zurückdrängung einer bestimmten Frage zu bedeuten? Weshalb entfernt sich die Philosophie in der Phänomenologie von der Frage nach dem Warum der Erkenntnis? Überdies ist offenbar Husserl nur ein Epigone und Vollender dieser von anderen schon verfolgten Tendenz. Auch Kant ist an der Feststellung der Tatsache, d a ß es Erkenntnis gibt, mehr interessiert als an der Frage, warum es Erkenntnis gibt. Und schon bei Descartes erkennen wir, daß die Bemühungen festzustellen, d a ß Gott ist, d a ß es Erkenntnis gibt usw. weit stärker sind als alle anderen. Jeder neue philosophische Einsatz wollte seine Fragestellung scharf und antithetisch gegen einen anderen gesetzt wissen. Descartes will seine Methode, das Dasein Gottes durch die natürliche Vernunft zu beweisen, abgehoben wissen vom theologischen und religiösen Erkennen Gottes. Kant setzt seine neue Fragestellung der alten metaphysischen gegenüber und ist sich seiner kopernikanischen Wendung genau bewußt. Husserl hebt die phänomenologische Einstellung aus der Vernichtung der psychologistischen Fragestellung heraus. Ganz allgemein haben wir diesen wiederkehrenden Einsatz der Methodenbegründung schon gekennzeichnet als einen negativen philosophischen Gedankengang. Der Sinn wird aber erst sichtbar, wenn man nach dem Gemeinsamen fragt, das in diesen Gedankengängen negiert wird. Es ist immer wieder die Frage nach dem Warum, die abgelehnt wird. In der Tat hat nun auch die Frage nach dem Warum einen besonderen Charakter. Ein Beispiel zeigt das. Solange ich nach dem Was, Wie und Wo eines Gegenstandes frage, bleibe ich mit meiner Frage im und am Gegenstand. Farbe, Form, Gestalt, Beschaffenheit usw. eines Tisches sind am
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Tisch nachzuweisen. Nicht so die Frage nach dem Warum eines Gegenstandes .Sie drängt über den Gegenstand hinaus und fragt nach seinem Grund. Innerhalb bestimmter Gegenstandsbezirke lassen sich auch die Fragen nach dem Warum eines Gegenstandes noch beantworten. Das wird aber schlechthin anders, wenn nach dem Warum überhaupt gefragt wird. Die Fragerichtung nach dem Warum führt, sofern man sich ihr ohne Einschränkung überläßt, ins Grenzenlose. Wir können ununterbrochen weiterfragen, obwohl keine Antwort mehr möglich ist. Warum gibt es überhaupt Gegenstände in der Welt ? Warum müssen wir überhaupt fragen, warum es Gegenstände gibt?, das sind Beispiele solch unendlichen Fragens. Die Frage nach dem grenzenlosen Warum will die philosophische Methode abwehren. Die eine Seite der methodischen Einstellung ist, einen bestimmten Gegenstand festzulegen, die andere, alle Fragen abzuwehren, die über diesen Gegenstand hinausgehen. Wie Gegenstand und Methode aufeinander abgezweckt sind, so soll auch Fragebereich und Gegenstandsbereich aufeinander abgestimmt werden. Denn der Methodendenker ist in seinem Begriff und seiner Vorstellung der Erkenntnis durch den Methodenbegriff gebunden. Nur methodische Erkenntnis ist für ihn sichere Erkenntnis. Darin sind Descartes, Kant und Husserl sich einig. Die ihres Gegenstandes gewisse Methode lehrt uns die Fragen stellen, die den Gegenstand erreichen. Alle Fragen aber, die unmethodisch gestellt sind und den Gegenstand nicht erreichen, lassen sich nicht beantworten. Sie sind Fragen ins Leere und haben mit Erkenntnis nichts zu tun, eben weil sie den Gegenstand nicht erreichen können. Die Grenzenlosigkeit des Fragens hat keinen Sinn, sie ist eine «Belästigung» der Vernunft. Daher muß es das Ziel einer philosophischen Methodenbegründung sein, einen Denkraum zu schaffen, in dem alle sinnvollen Fragen beantwortbar und alle sinnlosen Fragen hinfällig sind. Der methodische Ansatz muß so sein, daß er geeignet ist, alle Fragen aufzunehmen, die einen möglichen Gegenstand treffen. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, gibt die Methode zugleich ein Kriterium sicherer Erkenntnis. Descartes, Kant und Husserl versuchen diesen Forderungen auf verschiedene Weise Genüge zu tun. Diese prinzipielle Begrenzung der möglichen Fragen und ihre Trennung in sinnvolle und sinnlose stößt auf eine Schwierigkeit. Es ist die Frage nach der Begründbarkeit des methodischen Ansatzes selbst. Einzig und allein Descartes hat diese Frage radikal gestellt und ihre Beantwortung klassisch im Zweifelsbeweis gegeben. Kant streift sie in der Kritik der reinen Vernunft gelegentlich; soweit man es kontrollieren kann, scheint er im Opus postumum eine Antwort durchgeführt zu haben. Husserl aber hat die Frage, ohne sie voll zu stellen, beantwortet. Er begründet in den Ideen die phänomenologische Methode aus der phänomenologischen Methode und sieht offenbar
3. Grenzenlosigkeit des Fragens als Bedingung der Philosophie
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keine besondere Schwierigkeit. Aber das Eigenartige dieser Situation ist leicht zu zeigen. In der Frage nach der Begründbarkeit der Methode wird die Methode selbst zum Gegenstand der Untersuchung. An Stelle der Arbeit an den Gegenständen tritt die Arbeit an der Methode. Aber aus welchem methodischen Einsatz heraus erfolgt die Frage nach und die Arbeit zur Sicherung des methodischen Einsatzes ? Und so erscheint die Alternative: Entweder, es ist dieselbe Methode, die uns sichere philosophische Erkenntnis verschafft und darüber hinaus auch sich selbst begründet. Dann ist der Unterschied der philosophischen gegen die exakte Methode der Einzelwissenschaften, daß sie nicht nur sichere Erkenntnis gibt, sondern auch noch sich selbst sichert. Die philosophische Methode ist in der Lage des Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zieht. Oder aber es ist ein neuer methodischer Ansatz, der zur Begründimg der phänomenologischen, transzendentalen und Zweifelsmethode notwendig ist. Dann wäre es prinzipiell möglich und richtig, jede Methode über sich selbst hinauszutreiben. Die Grenzenlosigkeit des Fragens und die unendliche Erweiterung des Gegenstandes, die daraus resultierende Unsicherheit der philosophischen Fragestellung, alle Momente also, die durch die philosophische Methode überwunden werden sollten, wären wieder da. In dieser Alternative kommt nur aufs deutlichste die Eigenart philosophischer Frage und philosophischen Wissens zum Ausdruck. Wenn es nicht gelungen ist, die Philosophie an eine bestimmte Methode zu fixieren, und wenn bis jetzt jeder Versuch gescheitert ist, die Philosophie zur exakten Wissenschaft zu machen, so ist der Grund dafür in der unveränderlichen Eigenart der philosophischen Erkenntnissituation zu suchen. Die negativen Merkmale, die diese Situation kennzeichnen und die vor allem dem oberflächlichen Beobachter auffallen, müssen zugegeben werden. Wirklich ist die Philosophie nicht bei einer Methode geblieben. Geblieben ist lediglich der Wille, eine sichere Methode zu begründen. Aber auf dieser Grundlage sind immer neue Versuche entstanden und haben durch ihr Entstehen bewiesen, daß die vorherigen Versuche das Bedürfnis nach einer sicheren Methode nicht befriedigt haben. Nun liegt es sehr nahe, diese Tatsachen nur negativ zu verstehen, wenn man von dem Vorbild der strengen, also der naturwissenschaftlichen oder mathematischen Erkenntnis ausgeht. Denn dann wird man meinen, daß die Philosophie in der neueren Zeit versagt hat, daß sie nicht Schritt gehalten hat mit der modernen Entwicklung der Wissenschaften oder daß sie gar bewiesen hat, daß sie keine Wissenschaft ist. Das Prinzipielle an dieser Situation wird aber nicht etwa erst in der Tatsache offenbar, daß auf Descartes, Kant und auf Kant Husserl folgten und jeder den Versuch des vorhergehenden Denkers auf einer anderen Basis erneuert. Es zeigt sich schon in dem Moment, wo eine philosophische M e 2
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
thode sich i h r e r eigenen B e g r ü n d u n g zuwendet. Hier wird schon der Ansatz durchbrochen, der eine exakte Wissenschaft kennzeichnet. Der Mathematiker und Naturwissenschaftler kann seine Theorien auf Axiome zurückführen. In der Auswahl der Axiome ist ihm weitgehend Freiheit gegeben. Aber die Axiome entscheiden über die Theorie, und sie sind die letzten, nicht weiter mehr zurückführbaren Elemente einer Theorie. Die Begründung der Axiome geht die Theorie, die auf diesen Axiomen sich aufbaut, nichts mehr an. Wohin es führt, wenn die letzten axiomatischen Grundlagen der Mathematik selbst wieder methodisch durchsichtig gemacht werden sollen, zeigt der Streit, der um die Grundlegung der Mathematik entstanden ist. Die Axiome sind letzte positive E i n h e i t e n einer strengen Theorie. Methodisch denken heißt, in seinem Gedankengang sich' von diesen Einheiten derart führen lassen, daß alles auf sie zurückbezogen werden kann. Descartes, Kant und Husserl bemühten sich, in der philosophischen Theorie ebenfalls letzte und positive Einheiten aufzufinden, auf die alle philosophischen Erkenntnisse zurückbezogen werden können. Während aber der Mathematiker seine Axiome zu einem Teil sogar der positiven natürlichen Erfahrung entnehmen kann, zum anderen Teil sie wenigstens noch mit einem anschaulichen Inhalt zu erfüllen vermag, ist es für die zitierten philosophischen Methoden charakteristisch, daß sie zu einer negativen Darstellungsart greifen müssen. An der phänomenologischen Methode wiesen wir nach, wie Husserl durch die Kritik des Psychologismus zu seinem Ansatz kommt. Für die transzendentale und die Methode Descartes wird zu zeigen sein, daß Kant sich auf die Kritik der Metaphysik und Descartes sich auf die Widerlegung des skeptischen Gedankenganges stützt. Die daraus gewonnenen Ergebnisse sind negativ, insoweit sie zur Entwicklung und Veranschaulichung der kritischen Überlegungen bedürfen. Das gilt von Husserls «Wahrheiten an sich», von Kants «apriorischen» Elementen und von Descartes' «clare et distincte». Sie alle sind in diesem Sinne n e g a tive Axiome. Der tiefere Mangel aller negativen Axiome hinsichtlich ihres axiomatischen Charakters ist, daß sie nicht leisten, was von ihnen verlangt wird. Sie sind also gar keine letzten positiven Einheiten, die einfach anerkannt und gesetzt werden können. Es liegt sowohl im Wesen der Wahrheiten «an sich», wie der «apriorischen» Elemente und der «claren und distincten» Erkenntnis des Descartes, daß sie begründet werden müssen. Deshalb gehören die «Ideen», in denen die Begründung der Wahrheiten an sich durchgeführt wird, notwendig mit zur Phänomenologie. Andererseits aber besteht die Behauptung zu recht, daß in den Ideen die ursprüngliche phänomenologische Einstellung verlassen wird und ein Synkretismus zwischen schlicht-
3. Grenzenlosigkeit des Fragens als Bedingung der Philosophie
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phänomenologischer und metaphysisch-phänomenologischer Einstellung an ihre Stelle tritt. Ebenso mußte die transzendentale Methode durchgeführt werden bis zur metaphysischen Begründung. Was Kant im Opus postumum angefangen hat, haben Fichte, Schelling und Hegel auf ihre Weise vollendet. Auch Descartes kommt in einer eigentümlichen Weise zur metaphysischen Begründung seines methodischen Ansatzes. Man hat die metaphysischen Begründungen so verstehen wollen, als ob in ihnen der ursprüngliche methodische Ansatz entartet und das strenge methodische Postulat aufgegeben würde. Das heißt, daß man die metaphysische Fortführung als eine überflüssige Ergänzung empfunden hat. Aber es besteht ein strenger und notwendiger Zusammenhang zwischen dem ersten Ansatz einer philosophischen Methode und ihrer späteren metaphysischen Durchführung. Das exakte Denken (mathematisches und naturwissenschaftliches) arbeitet von einem positiven Ansatz aus und bejaht Grundsachverhalte. Deren Stellung ist axiomatisch, was bedeutet, daß sie dem Fragebereich der Methode entzogen sind. Solches Verfahren kann man, im weitesten Sinne des Wortes, gegenständlich-methodisches Arbeiten nennen. Denn die Ansetzung der axiomatischen Elemente, die den Bau der Theorie tragen, ist nur möglich, weil ein gegenständliches Feld vorgegeben ist. Das Gegenstandsfeld bestimmt, wie gesagt, die Methode. Das methodische Arbeiten kann sich auf ein, in sich geordnetes und bestimmtes Feld, verlassen. Es ist nun nicht zufällig oder unwesentlich, daß es keiner philosophischen Methode gelungen ist, positive Axiome an den Anfang ihres Denkens zu setzen. Denn die Philosophie hat kein unbestrittenes Gegenstandsfeld, aus dem sie eindeutig ihre Methode herleiten könnte. Daher die Kritik des Skepticismus bei Descartes, die Kritik der Metaphysik bei Kant, die Kritik des Psychologismus bei Husserl, die jeweils erst das Gegenstandsfeld sichern. Vor der methodischen Arbeit an den Gegenständen steht eine kritische Arbeit, die den Weg zu den Gegenständen zeigt. Von wo aber nimmt dieser erste Ansatz seinen Ausgang? Er geht nicht von den später zu zeigenden Gegenständen aus, denn diese werden erst durch ihn sichtbar. Gerade weil diese Gegenstände nicht von sich aus einen positiven und axiomatischen Charakter haben, werden sie durch eine Kritik einer anderen Meinung eingeführt. Der negative Tatbestand, daß eine philosophische Arbeit mißlungen ist und die Kritik dieses Versagens ist jeweils die Grundlage für den Einsatz einer neuen philosophischen Methode. Die Negativität der Skepsis, das Mißlingen der Metaphysik und der Selbstwiderspruch des Psychologismus haben eigentlich den Ursprung der Zweifelsmethode, der transzendentalen und der phänomenologischen Methode bestimmt. Dieser erste Einsatz ist ungegenständlich und kann wegen seiner kritischen Einstellung noch keinen Gegenstand zum Vorschein bringen. Das Geheimnis jeder so Z*
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
begründeten philosophischen Methode ist, wie aus dem ungegenständlichen, kritischen Einsatz die positive, bejahende Methode wird. Die Wendung von einem zum andern macht den philosophischen Grundgedanken der Methode aus. Am Beispiel der phänomenologischen Methode hat sich gezeigt, daß die Entwicklung in vier Stadien vor sich geht. i. Der ungegenständliche, kritische Einsatz. 2. Die Bejahung und der Aufbau einer positiven Gegenständlichkeit. 3. Die Durchführung der genaueren Bestimmung der Gegenständlichkeit als methodische Arbeit. 4. Die Begründung der Methode. Im 2. und 3. Stadium, also in der Anerkennung der Wahrheit an sich und ihrer Erforschung geht die positive Erkenntnisarbeit vor sich. Im 1. und 4. Stadium verkörpert sich die Problematik der exakten philosophischen Methode. Der ungegenständliche Ansatz wird gewählt um exakte philosophische Erkenntnis durchführen zu können, im Gegensatz zur metaphysischphilosophischen Arbeit die ihre Gegenstände behauptet. Diese von keinem Gegenstand sondern von einem negativen Sachverhalt bestimmte Methode bedarf einer Begründung. Daher wendet sich im 4. Stadium die Methode sich selbst zu, sucht sich selbst zu begründen und hebt damit ihre scheinbar exakte Anfangssituation wieder auf und transzendiert sich selbst. Inwiefern in dieser Entwicklung der Methode die philosophische Erkenntnissituation sich zeigt, und welche philosophische Erkenntnis daraus gewonnen wurde, muß die Analyse der Methode Descartes und Kants zeigen. 4. D I E
ZWEIFELSMETHODE
Bei der Darstellung der Descartesschen Methodenentwicklung beschränken wir uns auf den Gedankengang der Meditationes. In ihm erscheint das Kernstück des methodischen Ansatzes, und darum sei es gestattet aus dem großen Werk des Descartes diesen Teil herauszugreifen. Am Anfang der Meditationes steht der Zweifelsbeweis. In ihm hat Descartes in einer klassischen Kürze die Methodensituation in der Philosophie gekennzeichnet. In einer Radikalität, wie sie später nie wiederholt worden ist, führt Descartes den ungegenständlichen und kritischen Ansatz als Bedingung der philosophischen Methode durch. Was bei Husserl als Kritik des Psychologismus einen Band einnimmt, was auch bei Kant schon als transzendentale Dialektik in über 300 Seiten durchgeführt wird, ist bei Descartes noch im Raum von wenigen Seiten dargestellt. Eine Darstellung des Zweifelsbeweises, die besser wäre als die Descartessche selbst, läßt sich nicht geben, so sei auch hier auf die Meditationes selbst verwiesen. Descartes beginnt mit dem Willen, eine sichere Methode der Philosophie aufzustellen und dem Wissen um Irrtum und Täuschung.
4. Die Zweifelsmethode
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Die Radikalisierung dieses Wissens ist der Anfang des philosophischen Einsatzes. Er nimmt sich vor, nichts anzuerkennen, was nicht unbedingt sicher und gewiß ist. Dieser Anfang ist der radikale Zweifel, der in einer unbegrenzt negativen Einstellung an allem zweifelt. In einem Punkt aber versagt der Zweifel. Ich kann nicht, indem ich an allem zweifle, an meinem Zweifel zweifeln. Dieses Mißlingen kennzeichnet die Wendung zum positiven Ansatz. Der philosophische Fundamentalgegenstand ist gefunden. Die Tatsache, daß ich nicht am Zweifel zweifeln kann, wird aus einem negativen Denkakt zum positiven, gegenständlichen Wissen des cogito, ergo sum. Es ist gänzlich falsch, wie es manchmal geschieht, das cogito, ergo sum für sich und unabhängig vom Zweifelsbeweis betrachten zu wollen. Wo dies geschieht, da bekommt es freilich, wie schon Kant behauptete, den Charakter einer Tautologie. Aber nur dann, wenn man nicht berücksichtigt, daß die Gewißheit des cogito, ergo sum aus dem umfassenden Zweifel abgeleitet ist, kann man es so verstehen. Der Hintergrund des umfassenden Zweifels aber weist das Verständnis dieser Fundamentalgegebenheit in eine andere Richtung. Die Art, in der Descartes den Zusammenhang von Denken und Ich zur Darstellung bringt, besteht ja eben nicht darin, daß er Denken und Ich von vornherein gleich setzt. Wäre er so verfahren, dann hätte er etwa im Ich den ersten Gegenstand des Denkens sehen können. Statt dessen aber beginnt Descartes mit einem an allen Gegenständen zweifelnden Denken. Er versucht also das Denken bis zur letzten Gegenstandslosigkeit zu treiben. Dabei stößt er auf das cogito, ergo sum. Es ist also geradezu eine n e g a t i v e Selbstgegebenheit, in der Descartes den Satz, daß ich denke und also bin, erfährt. Von vornherein ist der Gedankengang negativ angelegt, und daß ich mir auch in diesem an allem zweifelnden Gedankengang noch gegeben bin, erfahre ich in vollem Sinn des Wortes als n e g a t i v e Selbstgegebenheit. Man muß sich vor Augen halten, welchen Sinn dieser Gedankengang hat, um ihn zu verstehen. Es ist nicht so, daß Descartes durch den Zweifelsbeweis sein eigenes Ich erst zur wirklichen Existenz bringen will. Das Ich existiert natürlich vor dem Zweifelsbeweis. Wohl aber soll die Existenz des Ich bewiesen werden, wie später von Descartes das Dasein Gottes bewiesen wird. Ahnlich will nach Descartes Kant das Vorhandensein der apriorischen Sätze und Husserl das Dasein der Wahrheiten an sich beweisen. Nicht als ob diese Gegenstände nicht vorher schon untersucht worden wären. Der jeweils neue methodische Ansatz zeichnet sich dadurch aus, daß er die Gegenstände in einer neuen Form zur Gegebenheit bringt. Das Beginnen der methodischen Ansätze geht darauf aus, die Gegenstände «sicher», «rein», «absolut», «evident» zur Gegebenheit zu bringen, d. i. aber zu beweisen. Worin liegt dieser Beweis ? Oben wurde von der Wendung des kritischen ungegenständlichen Denkens zur positiven behauptenden Methode ge-
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
sprachen. Die Durchführung dieser Wendung trägt in der Tat die Beweislast. Forscht man nun abermals weiter, wie aus einem negativen ungegenständlichen ein positiver behauptender Gedankengang werden kann, so entdeckt man ein neues Verbindungsglied. Es ist der Widerspruch, genauer der Selbstwiderspruch, der die Wendung veranlaßt. Indem der Zweifel an allem, aber n i c h t an sich selbst zweifeln kann, beweist er den Fundamentalgegenstand des denkenden Ich. Bei Kant und Husserl beweisen die Widersprüche des psychologistischen und metaphysischen Denkens das Vorhandensein der apriorischen Elemente und der Wahrheiten an sich. Noch einmal kann man fragen, inwiefern man dem Widerspruch an dieser Stelle Beweiskraft zuschreiben kann. Descartes hat in den Meditationes eindringlich die Unmöglichkeit des Zweifels an allem beschrieben. Der Widerspruch ist nach ihm unvollziehbar, und ich kann einfach nicht an meinem Denken zweifeln, wenn ich an allem zweifeln will. Kant und Husserl führen die Beschreibung der Widersprüche der Metaphysik und des Psychologismus in größerer Breite durch. Immer wieder tritt dabei der Gedanke hervor, daß Meinungen, die sich selbst widersprechen, sich auch selbst aufheben. Wie also der Zweifel an allem sich selbst weghebt, so heben die Widersprüche des Psychologismus und die Widersprüche der Metaphysik sich selbst weg. In der Durchführung des Widerspruchs aber wird der Fundamentalgegenstand sichtbar. Wie das Ich im Vollzug des Zweifelsbeweises sich in der negativen Selbstgegebenheit erfaßt, so erfasseich im Widerspruch des metaphysischen Denkens oder im Widerspruch des Psychologismus die Aprioritäten und die Wahrheiten an sich. Die Widersprüche beweisen, indem sie sich selbst wegheben, das Dasein anderer Gegenstände. Sie beweisen einerseits die Nichtgegebenheit dessen, was im widerspruchsvollen Denken angenommen wurde, so die Nichtgegebenheit des Zweifels an allem, der metaphysischenGegenstände, der psychologistischen Setzungen,und andererseits weisen sie damit auf Gegenstände hin, die zur positiven Gegebenheit gebracht werden können. Die im widerspruchsvollen Denken direkt gedachten Gegenstände zersetzen sich in dem Maße als der Widerspruch deutlich wird, und die Beweiskraft des negativen Vorgangs hegt darin, daß indirekt die M ö g l i c h k e i t anderer Gegenstände sich erweist. Dadurch wird deutlich, welches Moment der Ausdruck negative Selbstgegebenheit fassen soll. In der Tat steigt ja für Descartes aus der Selbstzersetzung des Zweifels an allem die M ö g l i c h k e i t und W i r k l i c h k e i t der Selbstgegebenheit des Ich auf. Doch haftete ihr die Negativität, deren sie bedurfte um ihre eigene Möglichkeit zu erweisen, immer an. Darum sei gerade das, was Descartes als Beweis des cogito, ergosum ansieht, negative Selbstgegebenheit genannt. Aber die Basis dieses Beweises soll nach Descartes den Fortgang und weiteren Aufbau der folgenden Beweise tragen. Denn er glaubte ja die
4. Die Zweifelsmethode
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Philosophie und ihre Methode genügend gesichert zu haben, wenn er einen unbedingt sicheren Ausgangspunkt gefunden hatte. Das ist im Zweifelsbeweis gelungen; die Gegebenheit des Ich im Denken ist ein unbestreitbarer Sachverhalt. Es ist zu zeigen, wie Descartes sie zur Grundlage seiner weiteren Forschung macht. Denn der Schritt, der Descartes vom Zweifelsbeweis zu den nächsten Überlegungen bringt, ist nicht nur für seine Methode, sondern für den Aufbau jeder philosophischen Methode charakteristisch. Descartes trennt von der negativen Selbstgegebenheit die Negativität ab, er spaltet also vom Zweifelsbeweis den versuchten Zweifel an allem ab. Dann bleibt das positive Erfassen der Gewißheit des cogito ergo sum übrig. Er analysiert nun weiter die Begleitumstände des Vorgangs und findet als Merkmal solchen Erfassens das «clare et distincte». Für Descartes besteht die Gewißheit, daß beide Merkmale vom Zweifelsbeweis abgelöst werden können und daß sie eigentlich nur dem positiven Erfassen des cogito, ergo sum zugehörig sind. Daher verallgemeinert er und stellt fest: «ich kann als allgemeine Regel ansehen, daß alles wahr ist, was ich ganz klar und deutlich einsehe» («ac proinde iam videor pro regula generali posse statuere, illud omne esse verum quod valde clare et distincte percipio», meditatio III). Also ist es künftighin möglich, jedem Gedankengang, jeder Einsicht, die das Kennzeichen des klaren und deutlichen Erfassens hat, Wahrheit zuzuschreiben. Denn hinter jedem Gedanken dieser Art ist derselbe Gegebenheitswert, der dem Zweifelsbeweis zukommt, zu finden. Man muß sich darüber klar sein, daß die nun folgenden Beweise Descartes vom Dasein Gottes und der Trennung der menschlichen Seele vom Körper auf dem Vollzug der negativen Selbstgegebenheit, die zum cogito ergo sum geführt hat, ruhen. Die Erinnerung, daß mit der Einsicht in das cogito, ergo sum das clare et distincte verbunden war, bildet die Brücke zu neuen Ergebnissen, die ebenso unantastbar gelten sollen wie die negative Selbstgegebenheit des Ich. Letzten Endes ist sie es also, die alles weitere und auch die Gewißheit von der Existenz Gottes trägt. Dieser Übergang vollendet die Entwicklung vom methodenbildenden Gesichtspunkt bis zur eigentlichen Methode. Damit aber wird das Feld der Selbsterfahrung zu einem Feld, in dem andere Wesenheiten und Gegebenheiten erfahren werden können. Die darin beschlossene Erweiterung der Erkenntnis ist viel bedeutender als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Zwei Verfahrensweisen sind aber demnach voneinander zu trennen. Die zweite, die Arbeit auf Grund des Methodenkriteriums, ist von der ersten, der methodenbildenden Arbeit zu trennen. Die abgelöste, d. i. die zweite Arbeit, leitet sich von der ersten, der unmittelbaren her, indem sie der ersten ein Kriterium entnimmt und das verallgemeinert. So gewinnt Descartes die neue Methode, indem er das Kriterium des clare et distincte, das
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
die Einsicht des cogito, ergo sum begleitete, zum Methodenkriterium erhebt. Ganz ähnlich löst Husserl zunächst die Momente der Bedeutungsanalyse und Wesensschau und später die Evidenz aus der Selbstzersetzung des Psychologismus und bildet auf Grund dieser abgelösten Kriterien die phänomenologische Methode aus. Auch bei Kant wiederholt sich derselbe Vorgang. Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit werden aus dem Selbstwiderspruch der metaphysischen Gegenstände herausgelöst und begründen die transzendentale Methode. Doch kein Späterer hat den Übergang von der unmittelbaren zur methodischen Arbeit mit so scharfem Bewußtsein vollzogen wie Descartes. Wie wir ihm die Einsicht verdanken, daß methodisch-philosophische Arbeit aus der negativen Selbstgegebenheit herauswächst, so verdanken wir ihm auch eine unübertreffliche Darstellung der Unvollziehbarkeit des Widerspruchs und des daraus sich für die positive Arbeit ergebenden Kriteriums. Die weitere methodische Arbeit Descartes versucht nun die Kenntnis von den beweisbaren Gegenständen des Bewußtseins zu erweitern. Die einmal unternommene Abgrenzung gegen den Zweifel an allem sichert sie in ihrem Bestand. Die Gegebenheiten der res cogitans, der reinen Vernunft, wie es später bei Kant, oder des reinen Bewußtseins, wie es dann bei Husserl heißt, müssen, soweit sie nicht nur scheinbar sondern wirklich sind, das Methodenkriterium nachweisen. Auch in dieser Entwicklung folgen Kant und Husserl ihrem ersten Vorgänger. Doch nur der Aufbau des methodischen Verfahrens scheint gemeinsam, während die Ergebnisse differieren und einander sogar widersprechen. Dennoch zeigt sich im Überblick eine eigentümliche Kontinuität. Die Beweise vom Dasein Gottes und der Trennung der menschlichen Seele vom Körper, wie Descartes sie aufstellt, sind historisch geworden. Die Durchführung des Zweifelsgedankens aber ist auch uns nicht anders möglich. Die Kantische Kritik der transzendentalen Dialektik ist für uns zu einer unaufhebbaren Grenze der exakten Erkenntnis geworden und innerhalb ihrer Grenzen müssen wir auch heute noch diese Kritik für richtig halten. Nicht anders ist es mit der Husserlschen Kritik des Psychologismus, auch sie scheint ein unverlierbarer Bestandteil des philosophischen Denkens geworden zu sein. Die negativen Ergebnisse der Theorien bleiben also bestehen und behalten ihr Gewicht. Die positiven Ergebnisse, die durch die Arbeit der abgelösten Methode geschaffen wurden, verlieren an Gewicht. Wie die Beweise Descartes ihre Beweiskraft verloren haben, so ist uns die standpunktliche Bedingtheit des transzendentalen Idealismus einsichtig geworden und so entfernen wir uns von den positiven Ergebnissen der Phänomenologie.
5. Die transzendentale Methode
5. D I E T R A N S Z E N D E N T A L E
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METHODE
Der komplizierte Bau der Kritik der reinen Vernunft macht die Analyse in Hinsicht auf die eigentlich methodenbildenden Gedanken der Kantischen Überlegungen zu einem schwierigen Unternehmen. Während Descartes' und Husserls Untersuchungen zur Begründung ihrer Methode sich in ihren Werken in einer gewissen natürlichen Genesis aufrollen, ist Kants Werk wahrscheinlich das späte Ergebnis vieler verschiedener Ansätze. Steht die Kritik der reinen Vernunft auch als einheitliches Ganzes vor uns, so ist es dennoch nicht wahrscheinlich, daß ihr Aufbau einheitlich ist 1 . Wenn es so ist, wie wir glauben, daß nämlich Kant eine Umstellung vollzogen hat und das eigentlich erste, die Kritik der transzendentalen Dialektik, hintangestellt, und das in der gedanklichen Entwicklung später Entstandene, die transzendentale Elementarlehre, vorangestellt hat, dann beginnt Kant seine systematische Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft mit dem Ergebnis, bei dem der systematische Entwicklungsgang geendet hatte. Für diese Annahme spricht ein Brief, den Benno Erdmann2 mit Recht als Beweis mit herangezogen hat, daß nicht die Idee des transzendentalen Idealismus als die Idee der reinen Vernunft anzusehen ist. In diesem Brief an Garve hat es Kant ausgedrückt, wie stark ihn die Tatsache, daß es Widersprüche geben soll, bewegt hat. «Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der reinen Vernunft: «Die Welt hat einen Anfang — : sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen, — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit»; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Widerspruches der Vernunft mit ihr selbst zu beheben3.» Dieser Stelle zufolge entspringt der methodenbildende Gedanke zur Kritik der reinen Vernunft derselben Quelle, der auch die Ansätze Descartes' und Husserls entsprungen sind. Das sich selbst widersprechende Denken, die Widersprüche, die in gewissen Erkenntniszusammenhängen auftreten, ihre Bedeutung und die Suche nach einer Aufklärung, der Wille diese Widersprüche nicht anzuerkennen, sind die treibenden Motive. Die Stellung, die Kant dem Widerspruch gegenüber einnimmt, ist im Prinzip der Descartes' und Husserls ähnlich, und darin liegt ein in allen 1
Aus der Kantliteratur seien zwei Arbeiten allgemein zitiert, von denen ich am meisten gelernt habe: Nicolai Hartmann. Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien, X X I X . i6off. und Benno Erdmann. Die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft. Abhandlungen der Berliner Akademie. 1 9 1 7 . 2 Erdmann in der zit. Abhandlung S. 34. 3 Werke, Akademieausgabe, Bd. X I I , 2. Aufl. 257 f.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
methodenbegründenden Systemen tief übereinstimmendes Moment. Nach Kant aber ist es nicht ein einziger Widerspruch, sondern es gibt «ein ganzes System von Täuschungen und Blendwerken», «die unter sich wohl verbunden und unter gemeinschaftlichen Prinzipien vereinigt sind1.» Die Widersprüche entstehen, wie Kant wiederholt erklärt hat, nur unter der Voraussetzung, daß «Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären2.» Widersprüche sind in Wirklichkeit gar keine Erscheinungen, sondern bloßer «Widerstreit eines Scheins3.» Sie haben ihren Grund nicht in der Erfahrung, nicht in der Anschauung, nicht in der Erscheinung, sondern die menschliche Vernunft schafft sie, indem sie «durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus» geht4. Wohl aber erkennt andererseits Kant an, daß die Widersprüche eine «natürliche und unvermeidliche Illusion»5 seien. Er vergleicht sie mit optischen Täuschungen. Wie uns das Meer in der Mitte nicht höher scheint als am Ufer, wie uns der Mond im Aufgang nicht größer scheint, und wie es sich hier nicht vermeiden läßt, daß wir eine falsche Anschauung von den Dingen haben, so läßt sich der transzendentale Schein nicht vermeiden. Es handelt sich um eine Dialektik, «die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen6.» Die Widersprüche, von denen Kant hier spricht, haben eine eigentümliche Stellung. Sie entspringen nicht der bloßen Willkür der Vernunft, wie der Widerspruch viereckiger Kreis entsteht, indem ich willkürlich die Begriffe viereckig und Kreis aneinander füge. Aber andererseits haben sie ihren Grund auch nicht in der Wirklichkeit. Sondern sie sind nach Kant, wie der Vergleich mit den optischen Illusionen behauptet, Denkillusionen, deren es viele gibt. Wir übergehen hier nun die Darstellung der Widersprüche, die Kant gibt. Denn die Untersuchung der Antinomien, wie sie Kant in der Antithetik der reinen Vernunft als Antinomie von dem Anfang der Welt in der Zeit, von der Zusammensetzung der Substanz aus Teilen, von der Bedingtheit des Geschehens durch die Naturkausalität, von der Annahme eines schlechthin Notwendigen und den jeweiligen Antithesen gibt, würde eine eigene Arbeit erfordern. Der oben zitierte Brief an Garve zeigt, wie Kant die Tatsache, daß sich solche Widersprüche entwickeln lassen, empfunden hat. Er nennt sie «das Skandal des scheinbaren Widerspruches der Vernunft.» Auch finden sich in der Kritik der reinen Vernunft selbst mehrere Stellen, in denen Kant das Vorhandensein der Widersprüche beklagt. So sagt Kant einmal: «Es ist 1
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5. Die transzendentale Methode
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etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes, daß es überhaupt eine Antithetik der reinenVernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit geraten soll 1 .» Ein andermal nennt er es «demüthigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten 2 .» In der Tat hat man wohl in dem negativen Druck, in dem Skandal, wie Kant es selbst nennt, den methodenbildenden Antrieb, der die Kritik der reinen Vernunft entwickelt hat, zu suchen. Daß Kant aber nicht wie Descartes und Husserl die Diskussion des Widerspruches an den Anfang seines Werkes gestellt hat, wird seinen Grund in dem Bau der Kritik haben, der nach Kant so angelegt ist, daß «die Wissenschaft alle ihre Artikulationen, als den Gliederbau eines ganz besonderen Erkenntnisvermögens, in seiner natürlichen Verbindung vor Augen» stellt3. Forscht man diesem Antrieb weiter nach, so erkennt man, daß eine ganz ähnliche Wendung, wie sieDescartes im Zweifelsbeweis beschreibt, die ungegenständliche, negative Analyse der Antinomien in eine positive gegenstandsgewisse Methode verwandelt. WieDescartes nämlich den Zweifel an allem als ein Denkexperiment durchfuhrt, das an seinem Ende das cogito ergo sum beweist, so erkennt Kant in der Antithetik der reinen Vernunft einen Vorgang, der die Vernunft zu sich selbst, d. i. aber eben zur Kritik und zur Zensur ihrer selbst bringt. So fährt er unmittelbar nach dem oben zitierten Satz, der es für demüthigend erklärt, daß die menschliche Vernunft einer Disziplin zur Bändigung ihrer Ausschweifungen bedarf, fort und erklärt: «Allein andererseits erhebt es sie wiederum und gibt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disziplin selbst ausüben kann und muß, ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten, ungleichen daß die Grenzen, die sie ihrem spekulativen Gebrauch zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnden Anmaßungen jedes Gegners einschränken und sie mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forderungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicher stellen könne.» Indem die Vernunft also die Disziplin der Kritik ausübt, beweist sie sich selbst. Sie beweist, daß «dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation» «unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten» kann4. Wie also der durchdachte Zweifel Descartes' bis zur Selbstgewißheit führt, so führt die Durchforschung der Ausschweifungen und Irrtümer der Vernunft Kant bis zur Selbsterkenntnis der Vernunft. Gegen die Widersprüche des metaphysischen Vernunftdenkens stellt Kant die systematische Einheit des kritischen Vernunftdenkens, gegen die durch Vernunftbetrachtung nicht 1
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Prolegomena, Vorrede
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
zu erreichende Einheit der Welt stellt er die innere Einheit der Vernunft selbst. Der Beweis des Ich gründet bei Descartes in der Tatsache, daß selbst noch im Zweifel an allem das Ich mitgegeben ist. Kann man von Descartes behaupten, daß er im Zweifelsbeweis die Existenz des Ich zur negativen Selbstgegebenheit bringt, so erfährt nach Kant die Vernunft sich in negativer Selbstgewißheit. Er selbst spricht diesen negativen Charakter des Verfahrens aus: «Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ, da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten 1 .» Nun hat uns freilich Kant niemals das Herauswachsen der positiven Einsicht aus dem Widerspruch in solcher Deutlichkeit und so Schritt für Schritt gezeigt, wie Descartes es im Zweifelsbeweis tut. Dafür aber hat er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in aller Schärfe das Verhältnis seiner Methode zum Widerspruch beschrieben. Er sagt dort nämlich: «Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, w a s s i c h d u r c h ein E x p e r i m e n t b e s t ä t i g e n o d e r w i d e r l e g e n l ä ß t . Nun läßt sich zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft, vornehmlich wenn sie über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus gewagt werden, kein Experiment mit ihren O b j e k t e n machen (wie in der Naturwissenschaft): also wird es nur mit B e g r i f f e n und G r u n d s ä t z e n , die wir a priori annehmen, tunlich sein, indem man sie nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände e i n e r s e i t s als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, a n d e r e r s e i t s aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über die Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkt betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkt aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung 2 .» Das Verfahren der Kritik der reinen Vernunft wird hier als Experiment bezeichnet, das freilich insofern nicht den Charakter eines naturwissenschaftlichen Experimentes hat, als es nicht mit Objekten vor sich geht. In Wirklichkeit hat es auch vielmehr die Bedeutung eines Selbstexperimentes, das die Vernunft mit sich anstellt. Zwei Teile hat dieses Experiment also: Einen negativen Teil, in dem ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringt, und einen positiven, in ^823
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B X V I I I , vgl. auch B X X .
5- Die transzendentale Methode
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dem «Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft» stattfindet. Ganz offenbar trägt der negative Teil des Experimentes den positiven. Man könnte es auch so ausdrücken: um den Widerspruch lösen zu können, wird jenes Prinzip der reinen Vernunft aufgestellt, mit dem die reine Vernunft übereinstimmen muß. Damit also jener Skandal der reinen Vernunft, der aus ihrem grenzenlosen Fragetrieb heraus entsteht, beseitigt wird, muß die Vernunft ihr Prinzip finden und sich mit ihm in Übereinstimmung setzen. Aber was ist das anderes als eine Selbstbestimmung der Vernunft! Denn die Vernunft ist es ja, die in dieser Untersuchung ihr eigenes Prinzip bestimmt. Der Weg, den die Vernunft im Durchdenken dieser Widersprüche durchläuft, muß sie am Ende an die Einsicht in ihr eigenes Prinzip führen. Freilich aber ist es bei Kant nicht mehr das einmalige, gleichsam plötzliche Auftauchen der Gewißheit des Ich aus dem Zweifel an allem. Die genaue Durchforschung und Überlegung aller Irrtümer der Vernunft, aller Möglichkeiten ihrer Entartung erst läßt das Wesen der Vernunft vor uns entstehen. Indem die Vernunft ihre negativen Möglichkeiten überprüft, wächst dieses Bild heraus, das Kant am Ende des Werkes einmal beschreibt: «Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit sich angeben läßt. Außer dieser Sphäre (Feld der Erfahrung) ist nichts für sie Objekt, ja selbst Fragen über dergleichen vermeintliche Gegenstände betreffen nur subjektive Prinzipien einer durchgängigen Bestimmung der Verhältnisse, welche unter den Verstandesbegriffen innerhalb dieser Sphäre vorkommen können 1 .» Dieses Bild ist bezeichnend in seiner Gegenüberstellung von begrenzter Sphäre und unbestimmbar weit ausgebreiteter Ebene. Die Vernunft muß einer begrenzten Sphäre verglichen werden, die synthetischen Sätze a priori begrenzen diese Sphäre und aus der Krümmung dieses Bogens läßt sich der Radius berechnen, der diese Sphäre b e h e r r s c h t . Was jenseits dieser Sphäre liegt, das soll in dem Bild zum Ausdruck kommen, kann nicht zur Vernunft gehören. Es fällt nicht mehr unter das beherrschende Prinzip, wird nicht mehr umspannt vom Charakter der synthetischen Urteile a priori und ist damit als außerhalb des Feldes der Vernunft liegend gekennzeichnet. Ganz plastisch kommt zum Ausdruck, daß das Prinzip der Vernunft von der Grenze, die dieser Vernunft gesetzt ist, berechnet wird. Wiederum hegt der Vergleich mit Descartes nahe. Als Descartes im Hinblick auf die Möglichkeit des Irrtums den Zweifel an allem durchführen will und in dieser Durchführung das cogito, ergo sum gewinnt, ist diese Erkennt1
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nis gleichsam die Grenzerkenntnis. Sie scheidet als erste systematische und sichere Erkenntnis die methodisch gewonnenen Denkergebnisse von den unmethodischen. Sie ist unbezweifelbar und hebt sich damit gegen allen Zweifel ab, sie ist sicher und bildet die Brücke zu weiteren sicheren Erkenntnissen. Auch Kant durchforscht die Widersprüche der reinen Vernunft und stößt auf eine Grenzerkenntnis. Es ist die Erkenntnis, daß die Widersprüche sich wegheben, wenn man Einsicht in das Prinzip der reinen Vernunft gewinnt. In seinem Vergleich mit der kopernikanischen Wendung hat Kant das wesentliche Moment dieser Einsicht ausgedrückt: Anschauung und Begriffe richten sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände richten sich nach unserem Anschauungs- und Begriffsvermögen. Diese Einsicht hat im Bau des Kantischen Systems etwa den Platz, den im System des Descartes das cogito, ergo sum hat. Sie hebt sich ab von allen metaphysischen Spekulationen und Ausschweifungen, sie ist die Grenzerkenntnis, in der die Vernunft ihr Erkenntnisprinzip bestimmt und zeigt den Weg zur weiteren systematischen Forschung. Die Wendung vom methodenbildenden Denken zur Methode ist vollzogen, wenn wiederum die prinzipielle Art solcher Vernunfterkenntnis bestimmt ist. Damit steht man unmittelbar vor der transzendentalen Methode. Die Erkenntnis ist transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern dieselbe a priori möglich sein soll, beschäftigt. Natürlich beruht diese Erkenntnis von der Erkenntnisart überhaupt, dieses Wissen von den Bedingungen des Wissens überhaupt auf dem — für Kant selbstverständlichen—Prinzip, daß die Vernunft ihre eigenen Bedingungen erfassen kann. Diese Möglichkeit, daß die Vernunft sich selbst erfaßt, trägt alle Überlegungen Kants, wie alle Beweise Descartes auf dem Zweifelsbeweis ruhen, also auf der Fähigkeit des Ich, seiner selbst gewiß zu werden. Aber bei Kant ist es nicht mehr die negative Selbstgegebenheit des Ich, sondern die negative Selbstgewißheit der Vernunft, die alles weitere begründet. Aus zwei Quellen kommt der Vernunft die Gewißheit, daß sie sich selbst bestimmen kann. Die eine Quelle sind die Widersprüche der reinen Vernunft. Von ihnen geht der eigentlich methodenbildende Anstoß aus, und das Grenzerlebnis hat offenbar, wenn wir dem Brief an Garve trauen dürfen, den entscheidenden Vorrang. Nicht anders bei Descartes. Er erfährt vom Grenzerlebnis des Zweifels an allem den Antrieb, wie Kant ihn von den Widersprüchen erfährt. Der Punkt der negativen Selbstgewißheit ist jeweils der Punkt, von dem das Ich oder die Vernunft sich auf sich selbst besinnt. Die andere Quelle der Selbstgewißheit der Vernunft ist die Möglichkeit der p o s i t i v e n Bestimmung ihrer Grundlagen. Descartes führt als erstes Beispiel einer solchen positiven Selbstbestimmung das cogito, ergo sum durch. Im Grunde also ist es ein einziger
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Gedankengang, der Beweis des cogito, ergo sum nämlich im engeren Sinn, der die positive Selbstbestimmung der Vernunft enthält. Kants Ausarbeitung der positiven Selbstbestimmung der Vernunft ist unvergleichlich viel breiter und komplizierter. Die umfangreichen und komplizierten Untersuchungen der transzendentalen Ästhetik und Analytik sind Ausführungen der positiven Selbstbestimmungsmöglichkeit der Vernunft. Durch sie wird die Vernunft nun ihrer selbst p o s i t i v gewiß, wie im cogito, ergo sum das Ich seiner selbst positiv gewiß wird. Hier jedoch muß der Vergleich mit Descartes ein Ende finden. Die Grundlage der Kritik der reinen Vernunft ist zwar die untrennbare Einheit, die die Untersuchungen der transzendentalen Ästhetik und Analytik mit der transzendentalen Dialektik bilden. Dieser Ansatz läuft ganz parallel zum Descarteschen Ansatz, in dem der Zweifel an allem samt daraus entstehendem Widerspruch eine Einheit mit dem Nachweis des cogito, ergo sum eingeht. Hier wie dort ist der Widerspruch eigentlich maßgebend, indem er nicht nur den methodenbildenden Anstoß gibt, sondern auch die Richtung der Untersuchung bestimmt. Kant, der vom Widerspruch der Vernunft ausgeht, kommt zur Selbstgegebenheit der Vernunft, Descartes, der vom Widerspruch des Denkens ausgeht, kommt zur Selbstgegebenheit des Ich, wie später Husserl, der von den Widersprüchen der psychologistischen Logik ausgeht, zu der Selbstgegebenheit der Wahrheiten an sich kommt. Die Absicht Kants hebt sich aber darin von Descartes ab, daß er nicht, wie Descartes es getan, wie Husserl es später wieder tut, aus dem Widerspruch direkt die E x i s t e n z von etwas ableitet. Denn so ist es sowohl bei Husserl wie bei Descartes. Aus der formalen Unmöglichkeit des Widerspruchs wird auf das Sein des Ich und der Wahrheiten an sich geschlossen. Kant aber schließt aus der Unmöglichkeit der Verstandeswidersprüche a l l e r e r s t nur auf einen S t a n d o r t , von dem aus die Lösung dieser Widersprüche möglich ist. Die Herausarbeitung des Standortes und seine Voranstellung in der Entwicklung der Methode sind es, die den Bau der Kritik der reinen Vernunft bedingen. Während Descartes und Husserl ganz natürlich die Entwicklung der Widersprüche in den Erweis der Wahrheiten, die zu sichern sind, überleiten, stellt Kant die Behandlung der Widersprüche an zweite Stelle. Ganz unverkennbar ist überdies die Anstrengung Kants, die p o s i t i v e Arbeit der Transzendentalphilosophie, also die Begründung der Erkenntnis zur eigentlichen Grundlage des Gesamtwerkes der Kritik der reinen Vernunft zu machen. Nicht nur, daß im Aufbau der Kritik der reinen Vernunft diese Untersuchungen vorangestellt sind und damit schon äußerlich zum Ausdruck gebracht ist, daß sie die Grundlage des Folgenden sind. An einer Stelle hat Kant auch ausdrücklich gesagt, daß die transzendentale Dialektik
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die Gegenprobe zur transzendentalen Begründung der Erkenntnis ist. So könnte man sogar vermuten, daß sich auch die positive Begründung der Erkenntnis, die Kant gibt, vollkommen aus sich selbst beweisen läßt und also vom Problem der Widersprüche abgelöst werden kann. Das Gegenteil ist der Fall: Versteht man sie aus sich selbst, so bekommt sie einen tautologischen Charakter, Beweiskraft enthält sie erst vom Problem der Verstandes Widersprüche. Die Kritik der Widersprüche verlangt zwar die Begründung einer positiven Erkenntnistheorie. Aber auch die positive Begründung ist nur soweit nicht tautologisch, als sie die Grenzen der reinen Vernunft aufzeigt. Das eigentliche Geheimnis jeder philosophischen Methode ist, wie gesagt, die Wendung, die das kritische, ungegenständliche Denken des Widerspruchs in ein positives, gegenstandbildendes Denken verwandelt. Descartes und Husserl vollziehen diesen Übergang auf der Basis einer unmittelbaren Selbstevidenz, die aus der Unvollziehbarkeit des Widerspruchs abgeleitet wird. Sie prüfen nicht erst die Möglichkeit des Übergangs, sondern in einer beinahe naiven Sicherheit glauben sie an die Unmöglichkeit der gezeigten Widersprüche. Nirgends zeigt sich deutlicher der letzten Endes metaphysische Glaube an die formale Logik, der sie beherrscht, und der wiederum basiert ist auf dem imbedingten Glauben an die Naturwissenschaft. Descartes und Husserl sind ganz sicher darin, daß die Widersprüche nur negativ zu werten sind und nehmen demzufolge ihr Auftreten als unbedingtes Zeichen für die Existenz einer dagegen zu stellenden positiven Gegebenheit. Kant jedoch ist sich in einem tieferen Sinne dessen bewußt, daß mit diesem Übergang ein neuer Standort, der transzendentale Standort geschaffen wird. Daß er freilich abhängig ist von der Lösung der Widersprüche, hat Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik selbst gesagt: «Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte o h n e W i d e r s p r u c h gar n i c h t g e d a c h t werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, d e r W i d e r s p r u c h w e g f a l l e ; und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, sofern wir sie kennen, (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei1.» Hier bricht ganz rein der Wille durch, der alle Methodendenker in der Philosophie getrieben hat. Die mögliche Beseitigung der Widersprüche entscheidet über die Gegebenheit des Unbedingten. 1
B XX.
5. Die transzendentale Methode
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Kant kann die Wendung vom Widerspruch zur Gegebenheit, die Descartes und Husserl unmittelbar durchführen, nur indirekt vollziehen. Das ist der Sinn der Herausarbeitung des transzendentalen Standortes. Während also Descartes und Husserl aus dem Widerspruch unmittelbar G e g e b e n h e i t e n als wirkliche Erkenntnis ableiten, gelangt Kant nur zur Gegebenheit eines Standpunktes. Erst die Anwendung dieses Standpunktes auf die wirkliche Erkenntnis der Mathematik und Naturwissenschaft begründet ihrerseits wieder die Möglichkeit des Standpunktes. Die weitergetriebene Sicherungstendenz des Methodendenkers ist es, die Kant nun auch die Möglichkeit der positiven Erkenntnis aus dem transzendentalen Gesichtspunkt ableiten läßt. Das geschieht in den Untersuchungen der transzendentalen Analytik und Ästhetik. Welches Hindernis hat Kant gezwungen, diesen Umweg über die Begründung der Möglichkeit mathematischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu nehmen? Es ist das Problem, das Kant schließlich zum Hauptproblem der Kritik der reinen Vernunft erklärt hat, die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. So wie Kant das Problem in der Kritik und den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik aufrollt, ist es allgemein bekannt geworden. Synthetische Urteile a priori sind Urteile, die unsere Erkenntnis unabhängig von der Erfahrung erweitern. Nicht nur in der Metaphysik sondern auch in der Mathematik und reinen Naturwissenschaft werden solche Urteile ausgesprochen. Hier sind sie möglich, dort sind sie unmöglich. Die Kritik der reinen Vernunft unternimmt es, zu erweisen, warum sie in der Metaphysik unmöglich und in der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft möglich sind. Die Kritik der Metaphysik wäre ganz leicht, wenn nur dort synthetische Urteile a priori ausgesprochen würden. Dann trügen sie offensichtlich die Schuld an den Widersprüchen, in die sich die Metaphysik verwickelt. Da sie aber in der reinen Mathematik und Naturwissenschaft nicht zu Widersprüchen führen, muß der Grund dafür nachgewiesen werden. So kommt es zu der Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich, und die Beantwortung dieser Frage gipfelt schließlich im obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile: «Ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung 1 .» «Die M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g ist also das, was unseren Erkenntnissen a priori objektive Realität gibt 2 .» Die Theorie des Unterschiedes zwischen analytischem und synthetischem Urteil stellt Kant dem Leser der Kritik der reinen Vernunft einfach als Tatsache hin. Zwar erfährt er, daß das synthetische Urteil dem analytischen 1
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gegenübergestellt ist und an einer Stelle spricht Kant davon, daß erst die Gegenüberstellung1 analytischer und synthetischer Urteile die eigentümliche Natur der letzteren zeigt. Aber über die eigentliche Entstehung dieses Unterschiedes hat Kant keine Auskunft gegeben, nur gelegentlich weist er darauf hin, daß bei Locke sich ein «Wink»2 zu «dieser Einteilung» findet und daß Hume dem Unterschied von analytischem und synthetischem Urteil am nächsten gekommen sei3. Nun spricht aber Vieles dafür, daß die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile als Ergebnis am Ende eines langen Weges steht, dessen Anfang sich im Dunkeln verliert4. Nur eine Spur gibt es, von der aus man versuchen kann, der Entstehung dieser Unterscheidung nachzugehen und ihren eigentlichen Hintergrund aufzuhellen. Das ist die Kritik, die Kant in der transzendentalen Dialektik gleich zu Anfang bei der Kritik der Paralogismen und dann zu Ende bei der Kritik des ontologischen Gottesbeweises an Descartes übt. Ihre besondere Bedeutung erhält diese Kritik nicht allein dadurch, daß Descartes der Vorgänger Kants in der Begründung einer strengen Methode der Philosophie ist, sondern auch dadurch, daß sie nicht die Ergebnisse, sondern das Verfahren Descartes kritisiert. Vor allem anderen aber ist die Kantische Kritik an Descartes deswegen von außerordentlicher Bedeutung, weil die Kritik, die Kant an Descartes ausübt, wahrscheinlich wichtig für die Entwicklung der Kantischen Methode und den Unterschied von analytischem und synthetischem Urteil gewesen ist. 1
B 189. «Wir werden aber auch von dem Grundsatze analytischer Urteile reden müssen, und dieses zwar im Gegensatz mit der synthetischen, als mit welchen wir uns eigentlich beschäftigen, weil eben diese Gegenstellung die Theorie der letzteren von allem Mißverstand befreit und sie in ihrer eigentümlichen Natur deutlich vor Augen legt.» 2 Prolegomena § 3. a B 19. 4 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß Adickes und nach ihm Benno Erdmann behauptet haben, der in der ursprünglichen Einleitung enthaltene Abschnitt «Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile» sei erst eine nachträglich vorgenommene Einschiebung. Vergleicht man aber die Einleitung der 1. und 2. Auflage, so ist wiederum zu sehen, daß in der 2. Auflage nochmals der Unterschied analytischer und synthetischer Urteile an Wichtigkeit gewinnt und stärker betont wird. All das paßt gut zu der Vermutung, daß diese Unterscheidung ganz allmählich im Kantischen Denken an Wichtigkeit zugenommen hat. Sie ist deshalb auch sehr wahrscheinlich nicht unkritisch als Grundsatz übernommen, wie es ihrer Stellung in der Kritik der reinen Vernunft zufolge scheinen mag. Der Vermutung Benno Erdmanns, daß der eigentliche Ort der Fragestellung im ursprünglichen Zusammenhang des Werkes der erste Abschnitt über das System der Grundsätze des reinen Verstandes ist, kann man auch nur bedingt zustimmen. Die eigentliche Wurzel dieser Unterscheidung geht wohl zurück auf die transzendentale Kritik und das Problem der Verstandeswidersprüche (Benno Erdmann, a. a. O. S. 15).
5. Die transzendentale Methode
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Kant erhebt nämlich beide Male gegen Descartes den Vorwurf, daß er eine Tautologie als Beweis angesehen und in einen Schluß verwandelt habe. Sowohl der Beweis des cogito ergo sum bei Descartes wie der von ihm geführte Gottesbeweis beruhen nach Kant auf einer Tautologie. Es ist «der vermeintliche kartesianische Schluß, cogito, ergo sum, in der Tat tautologisch» «indem das cogito (sum cogitans) die Wirklichkeit unmittelbar aussagt1.» behauptet Kant in der i. Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Hier also bringt die Tautologie nur eine erfahrbare, unmittelbare Wirklichkeit zum Ausdruck; denn das cogito, ergo sum ist der Begriff meiner eigenen Existenz, die ich, während ich denke, an mir erfahre. Doch ist das Ganze kein Beweis, weil ein tautologischer Satz kein Beweis ist. Ja, man möchte hier im Sinne Kants hinzufügen: dieser Satz ist nicht einmal eine Erkenntnis. Er ist ein analytisches Urteil und erläutert nur den Subjektsbegriff. In der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant Ähnliches. Die oben zitierte Stelle fällt, da das ganze Stück «Von den Paralogismen der reinen Vernunft» fällt und durch eine kürzere Bearbeitung ersetzt wird. Und nun sagt Kant von dem Descartesschen Schluß «Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen müßte), sondern ist mit ihm identisch2.» Erst in der Kritik des ontologischen (nach Kant kartesianischen) Gottesbeweises kommt aber die Gefahr, die in der Verwendung eines tautologischen Gedankenganges liegen kann, zumVorschein. Auch hier ist der formale Fehler nach Kant derselbe: ein tautologischer Gedankengang wird als Beweis verstanden. Nur ist es nicht mehr so, daß die Tautologie der Ausdruck einer erfahrbaren Wirklichkeit ist, sondern aus der Aufstellung eines tautologischen Begriffes wird auf die Wirklichkeit geschlossen. Denn der ontologische Gottesbeweis schließt aus dem Begriff Gottes auf das Dasein Gottes. Es wird der Begriffeines absolut notwendigen Wesens aufgestellt, dessen Nichtsein nicht gedacht werden kann. Dieser Begriff schließt also das Dasein des Wesens, das er bezeichnet, in sich. Kant nennt diesen Schluß eine «elende Tautologie3», weil aus einem Begriff, in dem von vornherein die Existenz dessen, was er denkt, mitgedacht wird, tautologisch eben die Existenz des Gedachten erschlossen wird. Hinter dem ganzen Schluß verbirgt sich also nur ein Begriff, in dem die Wirklichkeit mitgedacht wird. Da nun jeder «Begriff möglich ist, der sich selbst nicht widerspricht», so ist es auch möglich, diesen Begriff zu denken. Schließt man aber von der Möglichkeit des Begriffes auf die Wirklichkeit dessen, was er bezeichnet, so erschleicht man den Übergang aus der Möglichkeit des Begriffes zur Wirklichkeit dessen, was er meint. «Das ist eine Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe 1
3
A 355.
2
B 422 Anmerkung.
3
B 625.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
(logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen», sagt Kant 1 . Wiederum ist es eine Tautologie, die diesen Schluß verbirgt. Und auch in diesem Zusammenhang der Kritik des ontologischen Gottesbeweises verweist Kant auf den Unterschied des analytischen und synthetischen Urteils. Das gemeinsame Moment in dieser doppelten Kritik der Methode des Descartes ist der Vorwurf der Tautologie. Die Berechtigung der Kritik am ontologischen Gottesbeweis ist wohl nicht anzuzweifeln. Was nun aber Kants Kritik am cogito,ergo sum angeht, so ist hier sein Mißverständnis eklatant und merkwürdig. Es heißt das Verfahren Descartes vollkommen verkennen, wenn man im cogito, ergo sum nur einen tautologischen Schluß sehen wollte. Man kann natürlich den Satz selbst als tautologisch auffassen. Aber die Ableitung, die Descartes diesem Satz gibt, ist gerade nicht tautologisch. Denn er schließt nicht aus der Denkmöglichkeit des Ich auf seine Wirklichkeit oder gar umgekehrt, sondern aus der U n m ö g l i c h k e i t des Zweifels an allem schließt er auf die Gewißheit des cogito, ergo sum. Das cogito, ergo sum ist tautologisch, sofern man es in sich betrachtet und, wie Kant es tut, aus dem «Ich denke» das «Ich» ableitet. Descartes aber hat den Gedankengang mit dem Versuch des Zweifels an allem verbunden. Auf dem Hintergründe dieses Versuches wird das cogito, ergo sum gerade in seiner Unbezweifelbarkeit zur Erkenntnis. Die Verbindung zwischen Widerspruch und Tautologie, die Descartes geahnt und an einem einzelnen Fall überzeugend dargestellt hat, hat Kant verkannt. Den letzten Grund dieses M i ß verständnisses wird man wohl in dem weiter getriebenen Willen zur strengen Methode in der Philosophie suchen müssen. Kant sieht in der Tautologie keinen strengen Beweis. Die Methode, die Descartes aus dem cogito, ergo sum ableitet, ist aber nach Kant nichts anderes als die Aufstellung einer Tautologie. Diese Methode wird vollends zur Gefahr, wo aus der Aufstellung einer Tautologie auf die Wirklichkeit geschlossen wird, wie im Fall des ontologischen Gottesbeweises. Mit dieser Kritik an dem Verfahren des Descartes sieht Kant das Ungenügende dieser vermeintlich strengen Methode der Philosophie ein. Seine besondere Bedeutung erhält aber nun das Mißverständnis, wenn man das Verfahren Kants mit dem Verfahren Descartes vergleicht. Gegen die Überlegungen der transzendentalen Ästhetik und Analytik läßt sich derselbe Vorwurf erheben, den Kant gegen Descartes erhoben hat. Man könnte behaupten, daß Kant aus der Wirklichkeit mathematischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf die Möglichkeit solcher Erkenntnis schließt, wie er überhaupt in diesem Teil aus der Wirklichkeit der synthetischen Urteile a priori auf deren Möglichkeit schließt. Vom obersten Grund1
B 624 Anm.
5. Die transzendentale Methode
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satz aller synthetischen Urteile kann man demzufolge behaupten, daß er tautologisch ist. Er besagt, daß die Wirklichkeit der Erkenntnis die Möglichkeit der Erfahrung zur Bedingung hat, ähnlich wie Descartes schloß, daß die Realität des Denkens die Möglichkeit des Ich voraussetzt. In der Durchführung der transzendentalen Methode in dem Teil der Kritik, der die Analytik und Ästhetik umfaßt, könnte man ein weit ausgesponnenes Netz einer einzigen tautologischen Einstellung erblicken. Kant selbst könnte man zum Beweis heranziehen, daß diese Erkenntnis tautologisch sei. Denn es ist nach ihm eine Erkenntnis, die sich nicht mit den Gegenständen, sondern mit der Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt. Das Tautologische dieses Verfahrens liegt darin, daß hier die Erkenntnis sich der Begründung ihrer eigenen Möglichkeit zuwendet. Es lohnt aber nicht, diesenVorwurf in allen Einzelheiten durchzuführen. Er mißversteht Kant in derselben Weise, wie Kant Descartes mißverstanden hat. Kant begründet zwar die mögliche Erkenntnis aus ihrer Möglichkeit, aber er hebt sie durch die transzendentale Kritik ab gegen die unmögliche, sich selbst widersprechende Erkenntnis. Auf dem Hintergrund der Vernunftwidersprüche gewinnt die Tautologie der Begründung der Erkenntnis aus der Vernunft erst ihren Erkenntniswert. Betrachtet man von hier aus die Kantische Kritik der Methode Descartes', so ist gar nicht zu verkennen, daß er an Descartes einen Zusammenhang mißverstanden hat, der seinem Wesen nach auch die Grundlage der Kritik der reinen Vernunft bildet. Daß nun trotz Kants Ablehnung der tautologischen Beweisführung, trotz seines Versuches, die positive Begründung der Erkenntnis ganz unabhängig vom Phänomen des Widerspruchs aus durchzuführen, dennoch die Kantische Methode mit Kants Beurteilung der Verstandeswidersprüche steht und fällt, läßt sich an Kants Theorie der Gegebenheit zeigen. Sie teilt sich in zwei Stücke, in die Theorie der positiven Gegebenheit in der Anschauung und die Theorie der negativen Gegebenheit im «transzendentalen Schein». Kant hat immer wieder nachdrücklich erklärt, daß uns Gegenstände u n m i t t e l b a r nur in der Anschauung gegeben werden. Gleich am Anfang der Kritik der reinen Vernunft heißt es: «Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die A n s c h a u u n g 1 . » In der 1
B 33. Kant fährt fort: «Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.» Gegebenheit ist also Affektion durch den Gegenstand.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Methodenlehre sagt Kant geradezu, daß uns die Anschauung Gegenstände gibt: «Alle unsere Erkenntnis bezieht sich doch zuletzt auf mögliche Anschauung; denn durch diese allein wird ein Gegenstand gegeben1.» Ganz ebenso lautet eine Stelle gegen Ende der transzendentalen Analytik: «Nun kann der Gegenstand einem Begriff nicht anders gegeben werden, als in der Anschauung, und wenn eine reine Anschauung noch vor dem Begriff a priori möglich ist, so kann doch auch diese selbst ihren Gegenstand, mithin die objektive Gültigkeit, nur durch die empirische Anschauung bekommen, wovon sie die bloße Form ist2.» Diese letzte Stelle ist besonders wertvoll, da man ihr die eigentümliche Beziehung entnehmen kann, die zwischen reiner und empirischer Anschauung besteht. Die empirische Anschauung selbst wiederum, also die wirkliche Affektion durch einen Gegenstand, ist für Kant gleichbedeutend mit Erfahrung. Daher ist es nicht verwunderlich, daß es eine Stelle gibt, die wörtlich mit der schon oben zitierten übereinstimmt, wenn man statt Anschauung Erfahrung setzt: « und wo sollte man auch Gegenstände suchen wollen, die den Begriffen korrespondierten, wäre es nicht in der Erfahrung, durch die uns allein Gegenstände gegeben werden? 3 » Anschauung oder Erfahrung also ist es, die uns allein Gegenstände gibt. Die ganz enge Verbindung zwischen den Sinnen und Erfahrung kommt in einer weiteren Stelle zum Ausdruck: «Nun können uns in der Tat keine anderen Gegenstände, als die der Sinne, und nirgend, als in dem Kontext 4 einer möglichen Erfahrung gegeben werden, » Noch einmal ist hier zusammengefaßt, daß es zur Gegebenheit eines Gegenstandes nur im Rahmen der Sinne und der möglichen Erfahrung kommen kann. Dieser Lehre von der Anschauung als Grundlage der Gegebenheit der Gegenstände steht Kants Lehre vom transzendentalen Schein als der Quelle der Verirrungen der reinen Vernunft gegenüber. Der transzendentale Schein ist eine «natürliche und unvermeidliche Illusion5.» Seinen eigentlichen «Sitz» hat er in der reinen Vernunft. Indem die Vernunft sich selbst zur Anschauungsquelle macht, «subjektive Grundsätze» «als objektive» unterschiebt6, entsteht solcher Schein. Durch Aufdeckung kann man ihn nicht zum Verschwinden bringen. Kant vergleicht ihn einmal in seiner Unaufhebbarkeit mit dem Schein optischer Illusionen, die trügen, auch wenn sie nicht mehr täuschen, und der wahre Sachverhalt erkannt ist7. Die Beziehung zwischen der Vernunft und dem transzendentalen Schein ist nach Kant ganz eindeutig. Er entsteht, indem die Vernunft einem «Hang 1
2 B 747. B 298, weitere Stellen: B 329, 146, A 399. 4 6 6 B 272. B 610. B 354. B 354. 7 B 354, vgl. dazu auch B 672 und 784, ferner B 3 5 1 , wo Kant den empirischen optischen) Schern vom transzendentalen abhebt. 3
5. Die transzendentale Methode
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zur Erweiterung über die engen Grenzen möglicher Erfahrung 1 » folgt. Die reine Vernunft ist hier also «in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt 2 .» Sie erweitert sich selbst, aber nicht auf mögliche Gegenstände hin sondern in das Nichts der Erkenntnis hinein. Schon der Vergleich mit der optischen Illusion läßt erkennen, daß Kant den transzendentalen Schein nicht als bloße Entgleisung des Denkens betrachtet wissen will. Als solche sieht er den logischen Schein, der aus Trugschlüssen entsteht, an. Er besteht «in der bloßen Nachahmung der Vernunftform» und «entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel3.» Von Kant wahrscheinlich nicht gewollt liegt die Unterscheidung von logischem und transzendentalem Schein parallel zur Unterscheidung von reiner und empirischer Anschauung. Denn der logische Schein ist bloß formal, wie die reine Anschauung auch, der transzendentale Schein dagegen ist natürlich und durch die Vernunft gegeben, wie die empirische Anschauung natürlich ist und uns von der Erfahrung gegeben wird. So ist die Kantische Theorie der Gegebenheit also an diesen beiden Polen orientiert: Wendet sich die Vernunft der Anschauung innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung zu, dann sind ihr stets Gegenstände gegeben. Wendet sie sich aber einer Anschauung zu, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht, dann ist ihr bloßer Schein, aber kein Gegenstand gegeben. Die gegenständliche Vernunft muß letzten Endes immer auf die Anschauung zurückgreifen, indes kann sie zu einem bloßen Schein greifen und dann wird sie ungegenständlich. Dort, wo Anschauimg ist, ist der Gegenstand gegeben und Erkenntnis möglich, «wo aber weder empirische noch reine Anschauung die Vernunft in einem sichtbaren Geleise halten, nämlich in ihrem transzendentalen Gebrauche, nach bloßen Begriffen, da bedarf sie so sehr einer Disziplin, die ihren Hang zur Erweiterung über die Grenzen möglicher Erfahrung bändige, und sie von Ausschweifung und Irrtum abhalte, daß auch die ganze Philosophie der reinen Vernunft bloß mit diesem negativen Nutzen zu tun hat 4 .» Es fragt sich nun jedoch, wie sich von einer vermeintlichen Anschauung entscheiden läßt, ob sie Anschauung oder Schein ist. Welches ist also das Kriterium, ob eine Anschauung möglich oder unmöglich ist? Einen gewissen Anhalt zur Bestimmung dieses Kriteriums kann man aus den obigen Zitaten entnehmen. Da Kant «mögliche Anschauung» mit «Erfahrung» synonym gebraucht (vgl. die Zitate auf S. 38), muß eine aus der Erfahrung genommene Anschauung allemal auch möglich sein. Wie aber steht es mit Anschauungen, die wir nicht unmittelbar durch Erfahrung belegen können, und die gleichwohl auch nicht reine Anschauung im Sinne Kants sind? 1
B 739.
^ B 708.
3
B 353-
4
B 739-
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Auch das Kriterium der Möglichkeit solcher Anschauungen hat Kant — soweit sie nicht apriorisch sind und insofern die Form a l l e r Erfahrung — in ihrer Anwendbarkeit auf die Erfahrung gesehen. Das bezeugen die oben gebrachten Zitate, wonach alle Anschauung, auch die reine, sich letzten Endes auf empirische Anschauung beziehen muß. Das bezeugt aber vor allem auch Kants eigenartige Theorie der Mathematik. In der Mathematik gewinnen wir zwar Erkenntnisse, die unabhängig von der Erfahrung sind. Aber auch diese Erkenntnisse müssen sich auf A n s c h a u u n g beziehen. Nach Kant «konstruiert» die Mathematik ihre Begriffe. «Einen Begriff aber k o n s t r u i e r e n heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen 1 .» Der Gebrauch aber und die «Beziehung auf angebliche Gegenstände kann am Ende doch nirgends als in der Erfahrung gesucht werden.» «Die Mathematik», sagt Kant, «erfüllt diese Forderimg durch die Konstruktion der Gestalt, welche eine den Sinnen gegenwärtige (obzwar a priori zustande gebrachte) Erscheinung ist. Der Begriff der Größe sucht in eben der Wissenschaft seine Haltung und seinen Sinn in der Zahl, diese aber an den Fingern, den Korallen des Rechenbretts, oder den Strichen und Punkten, die vor Augen gestellt werden 2 .» Demzufolge müßte das Kriterium aller möglichen Anschauung letzten Endes die Erfahrung, d. i. aber die empirische Anschauung sein. Wäre Kant nun wirklich bei diesem Kriterium stehen geblieben, dann hätte weder die Theorie der r e i n e n Anschauung noch die Theorie des transzendentalen Scheins entstehen können. Denn die apriorische Anschauung ist eine Anschauung, die für a l l e Erfahrung gelten soll, während der transzendentale Schein niemals Anschauung einer wirklichen Erfahrung werden kann. Die empirische Anschauung ist nicht abgeschlossen, sie vermehrt sich und vergrößert die Erfahrung. Somit könnten wir weder aus ihr erfahren, daß es Anschauungsformen, die wie Raum und Zeit für alle Anschauung gelten sollen, gibt, noch daß es Anschauungen gibt, die in keiner möglichen Erfahrung sich bestätigen können. Die Tatsache, daß es eine Anschauung gibt, die jeder empirischen Anschauung zugrunde hegt, und daß es eine Anschauung gibt, die niemals empirische Anschauung wird, kann uns, wie überhaupt das Phänomen der Allgemeingültigkeit, nicht durch die Erfahrung bestätigt werden. Allgemeingültige Sätze reichen, das hat Hume gezeigt und Kant bestätigt, über die vorhandene Erfahrung hinaus. In der Tat zieht Kant hier nun auch ein neues Kriterium heran, und damit zeigt sich zugleich eine hintergründliche Bestimmung, die Kants Theorie der Anschauung anhängt. Eine Anschauung, deren Allgemeinheit und Notwendigkeit nachgewiesen werden kann, ist nach Kant eine apriorische, also reine Anschauung. Umgekehrt aber ist eine Anschauung, die in sich zum Widerspruch 1
B 741.
2
B 299.
5. Die transzendentale Methode
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gefuhrt werden kann, transzendentaler Schein. Wie reine Anschauung Bedingung aller Erkenntnis, so ist transzendentaler Schein Aufhebung aller Erkenntnis. Es ist ganz klar, daß Kant mit der Einführung dieser Kriterien seine Theorie der Anschauung auf ein logisches Fundament stellt. Das Ziel der Anwendung des einen Kriteriums ist, durch den Nachweis der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit die Apriorität gewisser Anschauungsformen zu zeigen. Die Anwendung des anderen Kriteriums führt zur Erkenntnis des transzendentalen Scheins als sich letztlich widersprechender Schlüsse. Durch diese Kriterien wird die Anschauung am einen Ende zur Grundlage aller Erfahrung überhaupt und am anderen Ende als transzendentaler Schein bestimmt. Die Anschauung wird in dieser Untersuchung nicht mehr als sinnliche und gegenständliche Anschauung, sondern in ihrer Eigenschaft als Bedingung (apriorische), bzw. Aufhebung (transzendentaler Schein) aller Erkenntnis bestimmt. Auch die damit vollzogene Logifizierung der Anschauung verengt die Weite der wirklichen Anschauung zu Gunsten einer logisch geläuterten Anschauung. In Wirklichkeit gibt es durchaus Anschauungen, die Widersprüche enthalten und dennoch auf die Erfahrung angewandt werden können. Die Tatsache, daß unser Gesichtsfeld unendlich und dennoch gleichzeitig begrenzt ist, enthält einen Widerspruch. Unsere Anschauung von der Form der Erde vereint widerspruchsvolle Elemente, ohne daß deswegen die Anschauung sinnlos wird. Wir verbinden ohne Schwierigkeit die Anschauimg, daß die Erde eine Kugel ist, mit der Anschauung, daß alle Menschen aufrecht stehen und sich auf einer Ebene bewegen. Die Vereinigung widerspruchsvoller Elemente in solchen und ähnlichen Anschauungen ist uns ganz selbstverständlich. Kants Theorie der Anschauung kann der Möglichkeit widerspruchsvoller Anschauung nicht gerecht werden. Ihr zufolge dürfte es keine widerspruchsvollen Anschauungen geben. Freilich begrenzt sie sich damit und wird zu einer Theorie der logischen Anschauung. Aber die Frage ist eben, ob die so logifizierte Lehre von der Anschauung nicht nur einen Teil der Anschauung trifft. Ist es aber so, dann ist auch Kants Lehre von der Erkenntnis nur eine Teillehre. Sie ist die Lehre von jener Erkenntnis, die auf dem Fundament der logifizierbaren Anschauung ruht. Diese und ähnliche Konsequenzen aus der Kritik der Kantischen Anschauungstheorie werden auch ganz unmittelbar durch die Tatsache gestützt, daß Kants Erkenntnislehre eindeutig an der Mathematik und den Naturwissenschaften orientiert ist. Die Grundlage dieser Wissenschaft ist aber sicherlich logifizierbare Anschauimg. Ehe eine natürliche Anschauung nicht zu einer logifizierten umgeformt ist, ist sie für Untersuchungszwecke der exakten Wissenschaften nicht brauchbar.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Kants Verengung des Erkenntnisbegriffes auf die exakte Erkenntnis ähnelt der Descartesschen Verengung des Seins auf das Sein der res cogitans und der Husserlschen Einschränkung des Seins der Welt auf das phänomenologische Sein. Indem der Methodendenker am Phänomen des Widerspruchs ansetzt, beginnt er scheinbar voraussetzungslos und kritisch seine Untersuchung. Aber schon durch die Wahl des Widerspruches bestimmt er seinen Weg. Durch die kritische Einstellung zum Widerspruch ist in Wirklichkeit die Methode in ihrem Prinzip schon festgelegt. Sofern er auf eine Ausschaltung, Entlarvung oder Lösung dieses gegebenen Widerspruchs aus ist, vermindert er das Ganze der Gegebenheit um diese Widersprüche. Aber erst in der Theorie der positiven Gegebenheit zeigen sich die Folgen dieser Verengung in vollem Umfang. Dann nämlich erweist sich, daß das Grundmoment des Seins schon von vornherein durch die Abwendung vom Widerspruch bestimmt ist. Nur das kann Sein haben, was der negativen Denkbewegung in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Scheinhaftigkeit und ihrer Unmöglichkeit gegenüber gestellt werden kann. Bei Descartes ist es die Tatsache des Ich, aber damit verengt sich das Sein auf das Sein als denkendes Sein. Bei Kant ist es das Sein der Erkenntnis, und damit verengt sich das Sein auf die transzendentalen Bestimmtheiten. Bei Husserl ist es die Wahrheit an sich als logische Tatsache und gleicherweise wird der Seinsbegriff zum phänomenologischen eingeschränkt. Im tiefsten aber verbindet die Methodendenker, daß ihre negative Orientierung am Widerspruch sie zwingt, das Sein in der L ö s u n g des Widerspruchs zu suchen. 6. D I E K O N T I N U I T Ä T I N D E N UM DIE PHILOSOPHISCHE
BEMÜHUNGEN METHODE
Im einzelwissenschaftlichen Denken und in der Entwicklung der Einzelwissenschaften gibt es eine Kontinuität, zu der es die Philosophie nie gebracht hat. Das überzeugendste Beispiel ist die Entwicklung der Naturwissenschaften. Sobald eine bestimmte Methode gefunden und soweit erkannt ist, daß auch andere sie gebrauchen können, beginnt die Kontinuität. Anwendung und Ausbau der Methode gehen Hand in Hand. Ihr Werk ist der systematische Aufbau einer Disziplin. Wenn dieser Bau auch niemals eigentlich fertig ausgebaut ist, so hat er doch ein einheitliches und tragendes Fundament. Es wird dort in seinem ersten Ansatz sichtbar, wo die Lösung bestimmter Probleme so möglich ist, daß alle anderen diese Lösung einsehen. Methode heißt zunächst nichts anderes, als Problemlösungen in objektiver Form zu geben. Der Leitgedanke möglicher objektiver Lösungen trägt auch weiterhin die Methode. Jede neue Lösung eines Problems verstärkt das Fundament und gibt wiederum die Möglichkeit neuer Problemstellungen
6. Die Kontinuität im Begriff der Methode
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und Lösungen. Eine Methode, die nun zum ersten Mal in der Lösung einer bestimmten Aufgabe sich bewährt hat, reicht soweit als sie weitere Lösungen geben kann. In der Welt des naturwissenschaftlichen Denkens scheint eine ununterbrochene methodische Kontinuität von den ersten Anfängen bis zum heutigen Ausbau dieser Wissenschaften zu reichen. So sicher sind wir in dem Glauben an die allesbeherrschende Kraft dieses Gedankens geworden, daß uns auch die weitere Entwicklung dieser Kontinuität unzweifelhaft erscheint. Der Erkenntnisfortschritt ist uns ganz selbstverständlich, und nichts anderes ist diese Kontinuität. Es ist ganz vergeblich einen ähnlichen stetigen Erkenntnisfortschritt in der Philosophie suchen zu wollen. Statt dessen ist es vielmehr der Wechsel der Standpunkte und Lösungen, der die Philosophie charakterisiert. Der skeptische Beobachter sieht ein vergebliches Suchen und Bemühen. Nicht selten mag er zweifeln, ob das Gesuchte überhaupt vorhanden ist. Die Verschiedenheit der Ergebnisse, der Wechsel der Standpunkte, die plötzliche Verschüttung von Problemen und das ebenso plötzliche Auftauchen neuer Gedankenzüge und Fragestellungen, — das alles vermittelt den Eindruck einer wesensmäßig unsteten Erkenntnis. Wenn nicht gar der Eindruck entsteht, als ob eine vergebliche Bemühung um Erkenntnis betrieben wird, als ob die Philosophie keine «Wissenschaft» sei, und als ob in ihr die Wahrheit hinter den Standpunkten verschwände. Solche Gedankengänge, die unserem heutigen Denken sehr nahe liegen, sind ihrer Voraussetzung allzu sicher. Aber diese Voraussetzung in die Philosophie hineinzutragen, bedeutet von vornherein ein Mißverständnis der Philosophie. Die Philosophie hat es nicht mit dem Erkenntnisfortschritt zu tun, der einen stets sich erweiternden Lehrgehalt schafft und um den immer genaueren Ausbau einer Methode bemüht ist. Im Gegenteil: diese Tendenz des Wissens hat sich längst im einzelwissenschaftlichen Denken verselbständigt und im Denken der Naturwissenschaft ihren Höhepunkt erreicht, wenn nicht überschritten. Damit ist nicht gesagt, daß die Philosophie diese Tendenz vollkommen abstreifen könnte oder auch nur sollte. Aber die Erkenntnis der Philosophie schreitet nicht fort, indem sie sich erweitert oder gänzlich neue Einsichten dazu erwirbt. Philosophisches Wissen ist durch seinen Ansatz, ob es darum weiß oder nicht, immer auch der Unveränderlichkeit des Wissens zugewandt. Daher bleibt die philosophische Erkenntnissituation im Wesentlichen selbst unverändert. Philosophische Erkenntnis schreitet nicht fort, aber sie setzt sich fort, indem dieses im Grunde unveränderliche Wissen stets neu aufgegriffen wird. Dem widerspricht nicht, daß es in immer neuen Gestalten zum Ausdruck kommt; darin zeigt sich kein Fortschritt sondern nur geschichtliche Fortsetzung.
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I- Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Wenn die Philosophie nicht fortschreitet im Sinne des Fortschrittes positiver Wissenschaften, so steht sie dennoch nicht still. Aber die Art, wie sich die philosophische Erkenntnis fortbewegt, ist nicht meßbar an ihrem Erwerb positiven Wissens. Weit eher kann man ihre Eigentümlichkeit an dem Zuwachs negativen Wissens kontrollieren. Seit Sokrates sein Wissen in der negativen Formel: Ich weiß, daß ich nichts weiß, aussprach, hat sich die Erkenntnis von den negativen Gründen unseres Daseins fortbewegt. Nicht selten tritt die erste Einsicht in einen negativen Zusammenhang mit einer Radikalität auf, die nicht bestehen bleibt. Beispiel sind die Gedankengänge der Skepsis, von denen Descartes den wichtigsten in der Form des Zweifelsbeweises zu einem dauernden philosophischen Wissen machte. Überhaupt unterliegt der Zuwachs an negativem Wissen der kritischen Sichtung. Einsichten und Vermutungen, die längst einen radikalen Atheismus erzeugt haben, werden erst in einer sehr geläuterten Form durch Kant Bestandteil der Philosophie. In diesen und ungezählten anderen Vorgängen ist das Anwachsen des Wissens von den negativen Gründen zu spüren. Im Erwerb positiven Wissens dagegen bleibt die Philosophie im engeren Sinn auf einen ganz engen Bereich beschränkt. Scheint sich aber wirklich einmal ein neues Feld positiver Forschung auf philosophischem Boden aufzutun, so ist meist bald die Methode gefunden, die aus dieser Forschung eine eigene Wissenschaft macht. Denn jede positive Forschung muß aus der philosophischen Erkenntnissituation wegstreben, wenn sie auf den Erwerb neuer Einsichten und Erweiterungen ihres Wissens bedacht ist. Was Kant aber schon von der Logik sagte, daß sie nämlich seit Aristoteles Zeiten keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen Schritt rückwärts getan hätte, gilt von der positiven Arbeit der Philosophie überhaupt. «Neue» Einsichten oder Erweiterung der Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Sinn kann die Philosophie nicht geben, und es ist ein Mißverständnis, sie daraufhin zu prüfen. Daher ist es ganz verständlich, daß die verschiedenen Versuche, der Philosophie eine sichere Methode zu geben, durch die sie sich nach der Art positiver Wissenschaften entwickeln sollte, gescheitert sind. Die Erwartung, daß die Philosophie in dem einmal gefundenen Feld möglicher philosophischer Erkenntnis sichere und unantastbare Fortschritte macht, hat sich nicht erfüllt. Das Ideal Descartes, «daß die, welche den rechten Weg zur Wahrheit suchen, sich mit keinem Gegenstand beschäftigen dürfen, von dem sie nicht eine den arithmetischen und geometrischen Beweisen gleichwertige Gewißheit zu erlangen imstande sind», hat die Philosophie nicht erreicht 1 . Das Vorbild ist nicht untergegangen. Kant, der die Mathematik den «Stolz der menschlichen Vernunft» nennt2 und Husserl, 1 2
Descartes, Regulae ad directionem ingenii, II. B 492.
6. Die Kontinuität im Begriff der Methode
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der anläßlich der mathematischen Logik sagt, daß die «mathematische Form der Behandlung bei diesen, wie bei allen streng entwickelten Theorien (man muß dieses Wort allerdings auch im echten Sinne nehmen) die einzig wissenschaftliche ist 1 », waren ebenso vom mathematischen Erkenntnisideal geblendet. Dennoch hat die Philosophie keine sichere Methode, und die Erfahrung hat gelehrt, daß eine Methode als lebendige Arbeit nur tun weniges ihren Begründer überlebt. Die Methodendenker teilen ihr Schicksal mit jenen Philosophen, die willentlich ihre Lehre als persönliches, eigentlich nicht lehrbares und unmethodisches Wissen dargestellt haben. Aufnahme und Verständnis eines solchen Wissens durch einen anderen führt meist zur Umformung der Lehre. Es ist nicht selten, daß der Name einer philosophischen Methode einen ganz anderen Gebrauch als den ursprünglich gemeinten deckt. Die drei Beispiele von Methodenbegründungen, die hier verglichen wurden, ließen sich natürlich vermehren, und in jeder Hinsicht könnte das Belegmaterial gehäuft werden. Auch so wäre es sinnlos, leugnen zu wollen, daß die Konzentration philosophischen Wissens in methodisches Verfahren mißglückt ist. Wer aber die Philosophie an dem W i l l e n zur sicheren Methode und wer auch nur die Versuche Descartes, Kants und Husserls an diesem Willen messen wollte, hätte nur die Oberfläche betrachtet. Die Kontinuität der Philosophie ist eine andere. Die Ergebnisse der Descartesschen, Kantischen und Husserlschen Philosophie haben in ihren positiven Ergebnissen wenig miteinander zu tun, in dem Fall, wo Descartes das Dasein Gottes beweist und Kant diesen Beweis widerlegt, widerstreiten sie einander eindeutig. Die Methode dieser drei Denker hat gleichfalls nur wenig Gemeinsames und die entwickelte Problematik ist ganz wesentlich verschieden. Dagegen kommt im Negativen eine starke Kontinuität zum Vorschein. Es bedarf hier, da die nachweisende Arbeit in den vorhergehenden Analysen enthalten ist, nur der Zusammenfassung. Einmal ist der ursprüngliche Gegenstand kontinuierlich. Darunter sind freilich nicht etwa das Dasein Gottes und die Sonderexistenz der Seele (Descartes), die apriorischen Grundlagen des Denkens (Kant) oder die Wahrheiten an sich (Husserl) zu verstehen. Die Ursprungsgegebenheit, von der wirklich die Methode ihren Ausgang nimmt, ist der Widerspruch. Er tritt in verschiedenen Formen auf: bei Descartes im Zweifel an allem, bei Kant in den Verstandeswidersprüchen und bei Husserl als Widerspruch der psychologistischen Logik. Der Widerspruch wird als negativer Anlaß genommen. D . h. Ablehnimg des Widerspruchs und der Versuch, seine Unmöglichkeit mit unbedingter Evidenz nachzuweisen, soll ein Ergebnis der Methode sein. Nicht nur in einem äußerlichen Sinne haben Descartes, Kant und Husserl die Ablehnung 1
Logische Untersuchungen, I, 2. Aufl. S. 253.
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
des Widerspruchs gemeinsam. Es wäre falsch in ihm nur einen formalen Ansatz ihres Denkens zu vermuten. Denn zu deutlich ist der Wille, aus dem Widerspruch herauszukommen, ein treibender Grund ihres Denkens. Sie sind bemüht, die von ihnen gesehenen verschiedenen Formen des Widerspruchs als nur gedachte zu erweisen und in ihnen einen Fehler der Vernunft zu sehen. Sei es, daß der Widerspruch aus der Willkür des zweifelnden Denkens (Descartes), aus der Selbstillusion der Vernunft (Kant) oder aus einem Irrtum des Denkens (Husserl) entspringt. Dreimal wird in dieser Weise der Widerspruch zum Anlaß ausgezeichneter philosophischer Leistungen, und immer wird er als Gegebenheit genommen, an der Denken in negativer Orientierung seinen Weg findet. Es wird mit dem Widerspruch so sehr gerechnet, daß er immerhin zu einem ganz wesentlichen Bestandteil und Moment dieser philosophischen Werke wird. Jeder Methodendenker muß die Negativität dieses Wissens in sein Werk einbauen. Die Kontinuität, die in diesem fortgesetzten Ansatz am Problem des Widerspruchs sich zeigt, ist nicht der Fortschritt eines positiven Wissens. Der Leitgedanke der strengen Methode ist für Descartes ebenso wie für Kant und Husserl führend. Aber der sich immer wieder erneuernde Einsatz ist der Ausdruck eines sich wiederholenden Bedürfnisses nach dem Fundament einer sicheren Gegebenheit. Darin liegt schon das Eingeständnis, daß die Arbeit des Vorgängers nicht genügt. In den Naturwissenschaften etwa ist das erreichte Wissen als Summe der einzelnen Fortschritte anzusehen, jedes neue Ergebnis ruht auf den Fundamenten anderer Ergebnisse. Für die Methodendenker in der Philosophie ist es charakteristisch, daß sie kritisch zum Ergebnis und Ansatz des Vorgängers stehen. Nicht nur, daß sie ihre eigene Methode nicht aus seinen Grundlagen entwickeln können. Die Kritik Kants an Descartes wurde ausführlich referiert, um zu zeigen, daß Kant die Grundlagen und Methode Descartes für unzulänglich, ja geradezu gefährlich hält. Husserl gesteht Kant zwar zu, daß er sich seiner Auffassung der Logik nahe fühlt, aber er billigt nicht Kants Darstellung der Logik. 1 In seinem Aufsatz: «Philosophie als strenge Wissenschaft» hat Husserl überdies in Bausch und Bogen die bisherige Arbeit der Philosophie verdammt und behauptet: «Ich sage nicht,Philosophie sei eine unvollkommene Wissenschaft, ich sage schlechthin, sie sei noch keine Wissenschaft, 2 sie habe als Wissenschaft noch keinen Anfang genommen, » Diesem letzten Satz Husserls und den darauf folgenden Ausführungen könnte man heute die Verbreiterung des philosophischen Wissens und das Anwachsen der deskriptiven Leistung im Erkenntnisproblem entgegenhalten. Auf die knappe Analyse der res cogitans bei Descartes folgt die breite 1 2
Logische Untersuchungen, 2. Aufl. Bd. 1 S. 2 1 5 . Erschienen im Logos, 1. Jhrg. 1910. S. 290.
6. Die Kontinuität im Begriff der Methode
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und in ihren deskriptiven Befunden unvergleichlich inhaltsreichere Beschreibung der transzendentalen Sphäre durch Kant. Husserls Untersuchungen vermehren noch einmal den Stand unseres Wissens. Aber sofern man auch dieses Anwachsen des Wissens gelten lassen will und damit in gewissem Sinn einen positiven Fortschritt der Philosophie zugibt, so ist dennoch diese Bewegung des philosophischen Denkens untrennbar mit jener anderen verbunden, in der jeweils der neue methodische Ansatz zu seinem Ausgangspunkt nicht ein Ergebnis des Vorgängers nimmt und seinen Ansatz hinter den des Vorgängers zurückverlegt. Descartes hält es für nötig, die Gegebenheit des Ichs und das Dasein Gottes zu beweisen, aber beide Beweise hält er für durchführbar. Nur methodisch, aber nicht in Wirklichkeit zweifelt er an der Beweiskraft des konstruktiven logischen Denkens. Kant hält es für nötig, allererst die Möglichkeit der Erkenntnis aus der Wirklichkeit des mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennens zu beweisen. Die konstruktive Kraft des logischen Denkens zweifelt er in allem Ernst an. Das beweist eindringlich seine Kritik der reinen Vernunfterkenntnis. Der Beweis des cogito, ergo sum bei Descartes erscheint ihm nicht stichhaltig, den Beweis vom Dasein Gottes hält er für falsch. Eben die Selbstverständlichkeit, die im cogito, ergo sum unmittelbar liegt, wird ihm in ihrer Gültigkeit zweifelhaft und problematisch. Während aber für ihn die Tatsache und der Bestand der Logik selbstverständlich, seit Aristoteles unverändert und auch künftig unveränderlich erscheint, sieht sich schon Husserl in die Situation versetzt, den Bestand der Logik sichern und ihre Gültigkeit erneut nachweisen zu müssen. Die konstruktive Kraft, die noch der Kantischen Philosophie die Einheit eines Systems gab, ist bei Husserl bis auf den kurzen Anlauf zum Erweis der ansichseienden Wahrheiten der deskriptiven Analyse gewichen. Was sich hier zeigt, ist ein Absinken der Fundamente der methodischen Philosophie. Jeweils der Nachfolger legt den Ansatz weiter zurück. Es ist nicht das Aufsteigen eines Gedankens, der von positivem zu positivem Ergebnis wie von Stufe zu Stufe steigt. Indem sich die Bemühimg um eine strenge Methode fortsetzt, werden immer wieder neue Fundamente geschaffen. Es wächst das Bemühen, die als unzulänglich erkannte Leistung des Vorgängers durch eine bessere zu ersetzen. Die Wiederholung der Neubegründung der Methode ist begleitet von einer sich verschärfenden Absonderung der strengen Philosophie von der weltanschaulichen Philosophie. Bei Descartes ist sie nicht ausdrücklich ausgesprochen. Schon Kant beweist, daß die reine Vernunft Wissensversuche, die über die Grenze der möglichen Erfahrung gehen, weder beweisen noch widerlegen kann. Doch hält er metaphysische Beweise aus der praktischen Vernunft für möglich und nimmt daher einen moralischen Gottesbeweis an. Bei Husserl aber ist eine voll-
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I. Eine Untersuchving z u m M e t h o d e n b e g r i f f in der neueren Philosophie
kommene Trennung zwischen strenger Philosophie und weltanschaulicher Philosophie verlangt. Es «müssen alle Vermittlungsversuche abgelehnt werden.» «Weltanschauungen können streiten, nur Wissenschaft kann entscheiden und ihre Entscheidung trägt den Stempel der Ewigkeit 1 .» Es zeigt sich der Hintergrund prinzipiell nicht wißbarer und nicht entscheidbarer Fragen. Denn hinter dieser scharfen Absonderung steckt das freilich selbstbewußte Eingeständnis, daß die methodische Philosophie weltanschauliche Fragen nicht behandeln kann. Den beiden Momenten, der Kontinuität im Ansatz am Widerspruch und dem Absinken der Fundamente, ist ein drittes Moment zugeordnet. Es ist die Kontinuität in der Korrelation von Widerspruch und Selbstbegründung. Sie ist die systematische Grundstruktur jeder Methodenphilosophie. Der Methodendenker stellt seine Philosophie nicht in Ableitungen und Behauptungen dar. Er entwickelt sein Wissen in der doppelten Form eines seinem logischen Gehalt nach antinomischen und tautologischen Denkens. In der Verbindung beider tritt die eigentliche Leistung hervor. Das Grundwissen des Methodendenkers ist, wie Descartes es unübertrefflich im Zweifelsversuch entwickelt hat, ein negatives. Seine Negativität führt zum Widerspruch. Die methodische Ablehnung des Widerspruchs ist die negative Kehrseite des positiven Willens zum Nachweis von sicheren Gegebenheiten. U m sie zu erreichen, wird der Widerspruch in seiner Unmöglichkeit dargetan und bis zur Evidenz der Selbstaufhebung durchgeführt. So endet nach Descartes der Zweifel an allem im Widerspruch, Kant läßt die metaphysische Erkenntnis im Widerspruch enden, und auch Husserl wiederholt die Entwicklung des Widerspruchs aus der psychologistischen Begründung der Logik. Den eigentümlichen Sinn der Darlegung des Widerspruchs erkennt man immer erst, wenn man einsieht, daß in der Negativität des widersprechenden Wissens implicit eine positive Voraussetzung liegt. So ist im Zweifel an allem das Denken vorausgesetzt eingeschlossen, in der vermeintlich metaphysischen Erkenntnis das synthetische Urteil a priori und in der psychologistischen Darstellung der Logik die Wahrheit. Im Vollzug eines Denkens, das kritisch die Widersprüche des Zweifels an allem, der metaphysischen Erkenntnis und des Psychologismus auf ihre Nichtigkeit betrachtet, wird etwas wirklich Bestehendes offenbar. Hier setzt die Methode zum zweiten Mal an und untersucht das neu zur Gegebenheit gebrachte Bestehende bis zum Nachweis seiner unbedingt notwendigen Voraussetzungen. Das Schema dieser Nachweise ist einheitlich, so verschieden sie im Einzelnen sind. So erschließt Descartes aus dem zweifelnden Denken mein denkendes Ich. Kant schält aus der Wirklichkeit 1
Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft. L o g o s , B d . 1. 1910. S. 337.
6. Die Kontinuität im Begriff der Methode
49
der Erkenntnis die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis aus und Husserl aus der ansichseienden Wahrheit die Folge der phänomenologischen Wesenheiten und Bedeutungen. Hinsichtlich ihres logischen Ganges sind diese Nachweise, wenn man sie einmal abgetrennt von den Antinomien betrachtet, zirkelhaft. Und zwar ist es immer derselbe Zirkelschluß, der aus der Wirklichkeit des Denkens (Descartes), der Erkenntnis (Kant) und der Gültigkeit des Urteilens (Husserl) auf notwendige implicite Vorbedingungen schließt. Insofern nämlich in der Wirklichkeit des Denkens tatsächlich das Ich, in der Wirklichkeit der Erkenntnis tatsächlich ihre Möglichkeit, in der Wirklichkeit der Wahrheit tatsächlich ihre Unabhängigkeit vom Denken immer eingeschlossen ist, heißt es diese Begriffe tautologisch umschreiben, wenn man diese Momente nachweist. In allen Fällen führt das Denken eine S e l b s t b e s t ä t i g u n g durch, indem es von seiner Bedingtheit auf ein Unbedingtes, aber mit ihm identisch Verbundenes, schließt. Nimmt man nun aber die Korrelation von sich selbst aufhebendem Widerspruch und sich selbst bestätigender Wirklichkeit als Ganzes, dann zeigt sich unmittelbar die beide Male vorhandene Selbstbeziehung. Sie ist in der Tat auch die systematische Grundform der um eine Methode bemühten Philosophie. Damit ist nicht gesagt,daß die Selbstbeziehung oder auch Selbstanwendung, wie sie im Nachfolgenden genannt ist, auf die Methodenphilosophie beschränkt ist. Durch die Auffassung der formalen Logik, wonach jeder «Zirkel» im Beweis oder in der Definition eine Gefahr darstellt, ist die Möglichkeit der wirklichen Ergründung dieser Denkform verdunkelt. Unsere Kenntnis beschränkt sich meistens auf das, was in der Lehre von den Trugschlüssen darüber gesagt wird. In Wirklichkeit ist die Selbstanwendung nicht nur eine unentbehrliche Form des Denkens, sondern auch eine letzte Grundform der Lehre vom Logos. Hegel hat erkannt, daß die Selbstbeziehung eine logische Form ist und sie daher bewußt als solche verwandt. Sein ganzes System ist davon durchdrungen. Wie weit Hegel, in einer historischen Tradition stehend und daraus die Konsequenz ziehend, damit nur die Grundlagen bewußt macht, die auch schon das Denken Descartes und Kants getragen haben, muß die Darstellung seines Methodenbegriffes zeigen. 7. D I E
DIALEKTISCHE
METHODE
Hegels Methode unterscheidet sich auf den ersten Blick von allen Bestrebungen, die die Philosophie den «sicheren Gang einer Wissenschaft» führen wollen und dabei den Fortschritt mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis im Auge haben. Weder hat Hegel den Anspruch erhoben, in der dialektischen Methode den Leitfaden einer sicheren Erkenntnis 4
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I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
im Sinne mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu geben, noch wollte Hegel in der Mathematik die wahre Wissenschaftlichkeit sehen 1 . Er hat ausdrücklich auf jede Anlehnung an die mathematische Methode verzichtet, und wenn er dennoch eine Methode der Philosophie begründen wollte, so läßt er alle jene gemeinsamen Bedingungen und Voraussetzungen fallen, die Grundlage der strengen Methodendenker waren. Eine vollkommen veränderte Stellung zum Widerspruch ist die Grundlage der Hegeischen Methode. Der Widerspruch tritt bei ihm nicht in der eigentümlichen Doppelbedeutung auf, die er bei allen eine strenge Methode suchenden Philosophen hat. Einerseits ist er immer f a k t i s c h e r Ausgangspunkt der Methodenentwicklung, bestimmt die Eigenart des methodenbildenden Gedankens und damit bis zu einem gewissen Grad die Methodenentwicklung selbst. Andererseits aber gilt er doch als eine Sackgasse des Erkennens, eben als Selbstillusion oder Irrtum der Vernunft. Von dieser Bestimmung des Widerspruchs wendet sich Hegel ab. Er begreift Antinomien als notwendiges Moment des Denkens und auch der Lehre vom Denken, d. i. der Logik selbst. Sie sind also Voraussetzungen des Erkennens und nicht etwa mit dem Erkenntnisbegriff unvereinbar. Wer einmal die Entwicklung des Grundproblems der Erkenntnis bei Descartes, Kant oder Husserl auf diesen Punkt hin durchdacht hat, der kann an der Tatsache, daß es d i e s e l b e Vernunft ist, die sich einmal selbst in Widersprüche verwickelt und ein andermal sich selbst begründet, nicht vorbei. Gerade die Methodendenker beweisen auch in ihrer Entwicklung der Widersprüche als selbstaufhebendes, und der Erkenntnisbegründung als selbstbegründendes Denken die Unbedingtheit der Selbstanwendung. Unbedingt ist sie, weil sie nichts als das Denken voraussetzt. Hegel erkennt diese gemeinsame Voraussetzung und will in ihr die Grundlage für eine neue Entwicklung der Erkenntnis und der Philosophie sehen. Daß er von hier aus die Einschränkung der Erkenntnis auf widerspruchsfreie Erkenntnis — wie sie etwa von der Mathematik gefordert wird — nicht anerkennt, ist verständlich. Prinzipiell ist vielmehr festzuhalten, daß das Wesen der Erkenntnis nicht bestimmt werden kann in der gänzlichen Ablehnung desWiderspruchs. Mit diesem Vorstoß tritt Hegel aus der Kontinuität, die von Descartes zu Kant führt und sich in Husserl noch einmal erneuert, heraus. Einzigartig ist dieses Heraustreten, weil es Hegel gelungen ist, eine Entwicklung zu unterbrechen, in der diePhilosophie zugunsten einer bestimmten Idee von Wissenschaftlichkeit ihre Eigenart aufgab, Wissen vom Ganzen zu sein. Daß die Bemühung der Philosophie um eine strenge Methode diesen Weg gehen mußte, war bei Kant im Ansatz und bei Husserl eindeutig zu erkennen. Die 1 Vgl. dazu Hegel, Jubiläumsausgabe, Phänomenologie S. 40ff. u. Wissenschaft der Logik I, S. 50, ferner S. 260fr.
7. Die dialektische Methode
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Festlegung der Philosophie auf die strenge Methode und auf die Idee einer widerspruchsfreien Erkenntnis erlaubt kein Wissen von Zusammenhängen und Gedankengängen, die zum Widerspruch führen. Der Zwiespalt, der damit ins Denken gesetzt ist, wiederholt sich immer wieder. Als Unterschied von sich selbst aufhebendem und richtigem Denken tritt er zuerst auf, als Unterschied von wirklicher und scheinbarer Erkenntnis kehrt er wieder und teilt schließlich das Denken in das Feld des positiven Wissens und des prinzipiell in keiner Form Wißbaren. Die Anstrengungen, die Kant macht, um diesen Zwiespalt zu überbrücken, sind bekannt und haben zu der eigentümlichen Scheidung von reiner und praktischer Vernunft geführt. In der einen ist beweisbar, was in der anderen nicht beweisbar ist, und so kommt es zu einem Wissen, das als reines Vernunftwissen sich selbst aufhebt und als praktisches Vernunftwissen Wahrheit ist. Die innere Einheit des Wissens ist zerstört, und die Zerstörung wird in der auch bei Husserl auftretenden Scheidung von weltanschaulichem und wissenschaftlichem Wissen Allgemeingut unseres Bewußtseins. Wobei der Begriff des weltanschaulichen Wissens immer mehr den Beigeschmack eines Wissens erhält, das eigentlich keines ist. Denn Kant hatte gezeigt, daß in der Metaphysik ein Wissen behauptet wird, das scheinbar methodisch erworben, dennoch in Wirklichkeit Schein ist und durch eine strengere Methode auch entlarvt werden muß. Dem Gedanken, daß unmethodisch und in leerer Selbstbeziehung des Denkens erworbenes Wissen metaphysisches Wissen ist und keinen Wissenswert hat, sondern bestenfalls weltanschauliche Beruhigung zu geben vermag, hat Hegel widersprochen. Sein Kampf um den methodischen Sinn des metaphysischen Wissens hat vor allem andern auch den Zweck, der Metaphysik die Würde des Wissens zurückzugeben. Weil Hegel aber die Kontinuität der Entwicklung der Bemühungen um eine strenge Methode durchbricht, und weil er sich des Bruches genau bewußt wird, tritt die Kritik am bisherigen Methodengedanken der Philosophie stark hervor. Mit einigen Zitaten sei sie dargestellt. In ihnen erscheint zugleich jenes Zentrum der Philosophie, um das es geht. Es ist die Frage, ob die Logik in der Form, wie Kant sie zur Grundlage der Bemühungen um eine strenge Methode macht, ihre endgültige Form gefunden hat und «strenges» Wissen der Philosophie geworden ist oder ob sie selbst sich entwickelndes Wissen ist. So sagt Kant: «Daß die Logik diesen sicheren Gang von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus erkennen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die Wegschafiiing einiger entbehrlicher Subtilitäten, oder deutlichere Bestimmung des Vorgetragenen als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehört. Merkwürdig ist noch 4*
52
I. E i n e U n t e r s u c h u n g z u m M e t h o d e n b e g r i f f in der neueren Philosophie
an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint 1 .» Dagegen sagt Hegel, daß aus diesem Stillstand zu schließen wäre, daß sie einer totalen Umarbeitung bedürfe: «In der Tat ist das Bedürfnis einer Umgestaltung der Logik längst gefühlt worden. In der Form und im Inhalt, wie sie sich in den Lehrbüchern zeigt, ist sie, man darf sagen, in Verachtung gekommen. Sie wird noch mitgeschleppt mehr im Gefühle, daß eine Logik überhaupt nicht zu entbehren sei, und aus einer fortdauernden Gewohnheit an die Tradition von ihrer Wichtigkeit, als aus Überzeugung, daß jener gewöhnliche Inhalt und die Beschäftigung mit jenen leeren Formen Wert und Nutzen habe 2 .» Und Hegel nimmt dieser Logik gerade das Prädikat, durch das Kant sie ausgezeichnet und über alle anderen philosophischen Bemühungen gestellt hatte: «Damit daß dies tote Gebein der Logik durch den Geist zu Gehalt und Inhalt belebt werde, muß ihre M e t h o d e diejenige sein, wodurch sie allein fähig ist, reine Wissenschaft zu sein. In dem Zustande, in dem sie sich befindet, ist kaum eine Ahnung von wissenschaftlicher Methode zu erkennen 3 .» Hegel formuliert seine Methode: «Wie würde ich meinen können, daß nicht die Methode, die ich in diesem System der Logik befolgt, — oder vielmehr die dies System an ihm selbst befolgt, — noch vieler Vervollkommnung, vieler Durchbildung im Einzelnen fähig sei, aber ich weiß zugleich, daß sie die einzig wahrhafte ist. Dies erhellt für sich schon daraus, daß sie von ihrem Gegenstand und Inhalte nichts Unterschiedenes ist; — denn es ist der Inhalt in sich, d i e D i a l e k t i k , die er an i h m s e l b s t hat, welche ihn fortbewegt. Es ist klar, daß keine Darstellungen für wissenschaftlich gelten können, welche nicht den Gang dieser Methode gehen und ihrem einfachen Rhythmus gemäß sind, denn es ist der Gang der Sache selbst 4 .» Dagegen wiederum Kant: «Gleichwohl liegt etwas so Verleitendes in dem Besitz einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhalts derselben noch so leer und arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein K a n o n zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein O r g a n o n zur wirklichen Hervorbringung wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der Tat dadurch gemißbraucht 1
B VIII.
2
Hegel, Jubiläumsausgabe, Wissenschaft der L o g i k I 48.
9
ebenda 50. E s ist bemerkenswert, daß auch Husserl nicht an den Stillstand der
L o g i k glauben w i l l : « M i t d e m G e d a n k e n dieser ZurUckschraubung der Wissenschaft auf den Standpunkt der aristotelisch-scholastischen L o g i k wird sich niemand b e freunden wollen.» ( L o g . U n t . I , 215). 4
H e g e l , W . d. L . I, 51 f.
7- D i e dialektische M e t h o d e
53
worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintliches Organon, heißt Dialektik1.» Stellt man so die Ansichten Kants und Hegels über die dialektische Methode gegenüber, dann scheinen sie unvergleichbar. Aber trotz aller scharfen Abwehr ist Hegel in einem Grundmoment mit Kant einig. Auch Kant sah in der Scheinerkenntnis der Dialektik einen «unvermeidlichen» Bestandteil unserer Vernunft. Daß Kant die Dialektik so ansieht, rechnet ihm Hegel hoch an: «Kant hat die Dialektik höher gestellt, und diese Seite gehört unter die größten seiner Verdienste, — indem er ihr den Schein von Willkür nahm, den sie nach der gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als ein notw e n d i g e s T u n der V e r n u n f t darstellte2.» Was nun Kant als notwendige Illusion und unvermeidlichen aber unproduktiven Bestandteil der Erkenntnis erfahren hat, ist für Hegel ein objektives und methodisches Moment des Denkens. Denn er sieht als methodischen und objektiven Kern der Philosophie das Moment der Selbstbewegung des Denkens an. Aus vielen Stellen der Hegeischen Werke läßt sich beweisen, daß für ihn die Philosophie nicht einfach erfassende, sondern s e l b st erfassende Denkbewegung ist. Mit diesem Denken beginnt die Philosophie: «Da fängt die Philosophie an, wo das Allgemeine als das allumfassende Seiende aufgefaßt wird, oder wo das Seiende in einer allgemeinen Weise gefaßt wird, wo das Denken des Denkens hervortritt 3 .» In ihrer ersten Etappe — der eigentliche Beginn der Philosophie liegt nach ihm ja in Griechenland — führt die Philosophie vom abstrakten Gedanken zum «sich selbst bestimmenden» Gedanken 4 . Und am Ende der philosophischen Epoche, in der sich Hegel fühlt, also am Ende der damaligen Philosophie steht «die sich wissende Idee 5 », wie am Ende der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften «die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit» steht6. Die Stufenfolge und die Variationen der Selbstbezogenheit des Wissens bei Hegel darzustellen, hieße den Inhalt der Hegeischen Philosophie entwickeln. Hier aber kommt es allein darauf an, den methodenbildenden Charakter dieser Idee zu zeigen. Inwiefern kann die Selbstbeziehung des Denkens zur Methode werden ? Nach der üblichen Auffassung des Hegeischen Werkes wird man hier auf den Gedanken des Dreischrittes verwiesen. Die dialektische Entwicklung geht bekanntlich von Thesis über Antithesis zur Synthesis. In der Auf1
B 85.
3
H e g e l , Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Jubiläumsausgabe.
2 H e g e l W . d. L . S. 54.
I. B d . S. 127 f. 4
ebenda S. 204.
6
H e g e l , Enzyklopädie, Jubiläumsausgabe S. 308.
5
ebenda 3. Bd. S. 687.
54
I. Eine Untersuchung zum Methodenbegriff in der neueren Philosophie
Stellung dieses Dreischrittes möchte man also den methodenbildenden G e danken sehen. Ihn in den Dingen zu suchen und auf die Dinge anzuwenden, macht die Arbeit der Methode aus. Wer Hegels Werk an Hand des dreischrittigen Schemas liest, mit dem Hegel ja in der Tat seinen Stoff formal gliedert und gestaltet, wird einen Zugang zu Hegel gewinnen. Es ist aber zu bezweifeln, ob er wirklich den methodenbildenden Gedanken erfaßt. Der eigentlich methodenbildende Gedanke liegt vielmehr in der Erkenntnis, daß aus der Selbstanwendung des Denkens sowohl die Selbstaufhebung, wie auch die Selbsterweiterung des Denkens begriffen werden kann. Antithesis als Aufhebung derThesis, und Synthesis als neue Einheit vonThesis und Antithesis sind Momente der Selbstanwendung des Begriffes. Hegel überträgt die Erfahrung der Philosophie, daß es dieselbe Vernunft ist, die Selbstwidersprüche und Selbstbegründungen durchführt, auf den Begriff. So entsteht ein doppelter Gebrauch der Selbstanwendung. Einmal hat jeder Begriff in sich seine Negation. «Das, wodurch sich der Begriff selbst weiter leitet, ist das vorhin angegebene Negative, das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische aus 1 .» Dies ist das erste methodische M o ment. Das zweite ist: «das Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit, oder des Positiven im Negativen 2 .» Dieses Moment verhindert, daß die Selbstnegation des Begriffes als seine Zerstörung verstanden werden kann. Er bejaht sich hier vielmehr aufs neue in einer erweiterten Form und leitet die Selbstnegation in eine Selbstbejahung auf neuer Stufe über. In diesem Sinn kann man den Dreischritt der dialektischen Methode in eine einzige Bewegung, die Selbstbewegung des Begriffes, zusammenfassen. Die Selbstbeziehung, die einmal negativ und einmal positiv auftritt, ist die Einheit der scheinbar ganz verschiedenen Bindungen, die von der Thesis zur Antithesis und von der Antithesis zur Synthesis führen. Durch die Selbstbeziehung sind denn auch die entwickelten Stadien nach rückwärts zum Anfangsbegriff hin bezogen. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die konkrete Anwendung der Hegelschen Methode in seinen Werken zu zeigen, und um Mißverständnisse zu vermeiden, sei nochmals gesagt, daß es hier weniger darum geht, den dargestellten Denkern in ihrer Fülle gerecht zu werden, als jenen formalen stets wiederkehrenden Grundcharakter der Selbstanwendung herauszuarbeiten. So genügt für unsere Zwecke auch das für eine Gesamtinterpretation von Hegel dürftige Ergebnis, daß Hegel in der Selbstanwendung die Grundlage seines Verfahrens sieht. Und zwar verwendet Hegel negative und positive Selbstanwendung in gegenseitiger Durchdringung. Die Vereinigimg beider ist die dialektische Methode. 1
Hegel W. d. L. I. 53.
2
Hegel W. d. L. I. 54.
7- Die dialektische Methode
55
Der Schritt, der von den Versuchen zur Begründung einer strengen philosophischen Methode bis zu Hegels Auffassung der Methode fuhrt, ist nicht so weit. Schon die Begründer einer strengen Methode hatten faktisch Gebrauch gemacht von dem, was hier Selbstanwendung genannt wird. Sie hatten gezeigt, daß die Erkenntnis eine sich selbst begründende Einheit mit ihren Bedingungen bildet, während die Widersprüche einen sich selbst aufhebenden Zwiespalt erzeugen. In ihrer Darstellung der Erkenntnis besteht die Begründung der positiven Erkenntnis in einer positiven Selbstanwendung, die sich der widerspruchsvollen Erkenntnis als negativer Selbstanwendung gegenüberstellt. Diese Trennung der positiven Erkenntnis von der negativen und die Beschränkung der gültigen Erkenntnis auf die positive, führt Hegel nicht durch. Damit verzichtet er auf das Kriterium aller strengen Methodendenker, daß nämlich der Widerspruch das Kennzeichen täuschender Erkenntnis sei. Hegel hat bewußt darauf verzichtet und die damit verbundene Ablehnung der exakten Wissenschaftlichkeit ausgesprochen, ja das Untergeordnete der mathematischen Methode betont. Das bedeutet vor allem anderen jedoch, daß Hegel wußte, der theoretische Aufbau der g e i s t i g e n Welt kann ohne die Anerkennung des Widerspruchs nicht geleistet werden. Wenn, wie Hegel sagt, das Wahre das Ganze ist, dann müssen die Widersprüche als zum Ganzen gehörig auch in diesem Ganzen ihre methodische Stellung haben. Bedenkt man diese neue Stellung des Widerspruchs, so ist einzusehen, in welch anderem Sinn der Widerspruch für Hegel methodischer Antrieb war, und warum die Selbstanwendung in den Mittelpunkt tritt. Hegel hat nicht nur, wie Descartes und Kant, einzelne Widersprüche dargestellt, indem er sie in sich selbst durchsichtig macht. Die Selbstdurchsichtigkeit des Widerspruchs ist auf alle Widersprüche anzuwenden. Erfüllung dieser Aufgabe setzt aber Begriff und Methode voraus, wie Hegel sie fordert. Eine Methode, die sich selbst nicht durchsichtig machen kann, ein Begriff, der sich selbst nicht begreifen kann, können nicht tauglich sein für ein Denken, das sich selbst erfassen muß. Andererseits ist gerade hier die entscheidende Lücke in Hegels System. Wohl ist es ihm gelungen, in der Anwendung seiner Methode zum ersten Mal die widerspruchsvolle Einheit des Geschichtlichen zu zeigen und sie der widerspruchslosen Einheit des Methodendenkers gegenüberzustellen. Es gelang, die widerspruchsvolle und bisher unfaßliche Bewegung des menschlichen Geistes in der Welt durchsichtig zu machen und in einem ersten Entwurfdarzustellen. Aber die Methode der Selbstanwendung, so überzeugend sie sich in der Arbeit bewährte, war in ihren Grundlagen unsicher. Hegel hat über diesen größeren Aufgaben es unterlassen, das Grundphänomen, eben das der Selbstbezogenheit des Begriffes, in seinem logischen Charakter zu klären.
56
II. Logik der Selbstanwendung
II. LOGIK DER
SELBSTANWENDUNG
i. S E L B S T A N W E N D U N G A L S L O G I S C H E
FORM
Die Selbstanwendung ist in den vorhergehenden Untersuchungen so dargestellt worden, wie sie als lebendige Form des Denkens von philosophischen Denkern gehandhabt wurde. Es wäre ein leichtes, sie vor allem auch im Denken anderer Philosophen nachzuweisen. Aber mit Absicht wurden hier gerade jene Denker gewählt, die um eine strenge Methode der Philosophie bemüht waren. Bei ihnen, die logisches und mathematisches Denken zum Vorbild nahmen, die also allen Grund hatten, das dort verpönte zirkelhafte Denken zu vermeiden, ist der Nachweis, daß auch sie von der Denkform der Selbstanwendung Gebrauch machen mußten, besonders bedeutungsvoll. Er zeigt im Grunde schon das, was noch genauer auszuführen ist. Die Selbstanwendung ist eine Form des Denkens, die in aller Philosophie wiederkehrt. Und erweiternd sei hier gleich die Vermutung ausgesprochen, daß sie auch in allem geisteswissenschaftlichem Denken ein unvermeidliches methodisches Instrument darstellt. Überall dort, wo es sich im weitesten Sinne des Wortes um Selbsterkenntnis handelt, ist auch die Denkform der Selbstanwendung nicht zu vermeiden. Es genügt aber nicht, diese Tatsache als Faktum anzuerkennen. Damit ist nicht viel getan, denn den Einsichtigen war die zirkelhafte Struktur selbsterkennenden Denkens seit langem klar1. Aber die Anerkennung dieser Struktur, die zudem oft nur als unvermeidliches Übel gegolten hat, ist noch nicht ihre Klärung. Denn solange man in der Zirkelstruktur oder der Selbstanwendung, wie sie hier genannt wird, nur eine Form des Denkens, nicht aber den methodischen und systematischen Wert dieser Form feststellt, ist sie nicht voll erkannt. Bis dahin fehlt der Nachweis, den auch Hegel nicht geliefert hat, daß die Selbstanwendung eine logische Struktur ist. Dies ist die These der weiteren Überlegungen dieser Arbeit. Die Selbstanwendung hat zwei regelmäßige Formen, eine negative und eine positive. Dabei gilt, daß die negative Selbstanwendung zur Selbstaufhebung, die positive Selbst1 Man vergleiche etwa, was Lotze über den Zirkel sagt mit dem, was Heidegger darüber ausführt. Lotze: Die Philosophie in den letzten 40 Jahren, enthalten in Lotzes Logik, herausgegeben von Misch, S. C X I ff. Heidegger: Sein und Zeit, 1927. S. 152fr., S. 3 l 4 f .
I. Selbstanwendung als logische Form
57
anwendung zur Selbstbestätigung führt. Nur daraus ist es zu erklären, wenn gewisse Denkbemühungen und Denkfolgen zu Widersprüchen, andere zu Tautologien führen. Es ist eine an ganz bestimmte Regeln gebundene Form des Logos, die hier zur Erscheinung kommt. Aber der Nachweis dieser Behauptung muß erst geführt werden. Das geschieht am besten, indem man die Formen der Selbstanwendung in vollkommener Reinheit darstellt. Zu diesem Zweck muß man die Selbstanwendung als Selbstbestätigung und als Selbstaufhebung jeden Inhalts entleeren. Die dann entstehenden Formen der Selbstanwendung sind rein logische Formen. Es wird sich zeigen, daß die positive Selbstanwendung hier zur Tautologie und die negative Selbstanwendung zum Widerspruch wird. In ihrer vollkommenen Inhaltsleere sind beide Formen gleich sinnlos. In der Tautologie wiederholt sich der positive Gehalt einer Bedeutung, und im Widerspruch negiert sich der negative Gehalt einer Bedeutung. Es bleibt von der Selbstbestätigung und der Selbstaufhebung nur die formale logische Beziehung übrig, die, wie alle logischen Formen, von sich aus keine Bedeutung hat. Gegen die Anerkennung der Selbstanwendungsformen als logischer Formen steht nun aber die Lehrmeinung der formalen Logik. Schon bei Aristoteles findet sich bekanntlich der Satz vom Widerspruch, und er tritt von dann ab als ein Grundgesetz der formalen Logik auf. Dieses Grundgesetz ist verschieden formuliert worden: als Seinsgesetz, als Denkgesetz, als Urteilsgesetz, und noch andere Formulierungen sind möglich. Alle aber erklären den Widerspruch für unmöglich. Entsprechend diesen verschiedenen Formulierungen wird also behauptet, daß der Widerspruch unmöglich seiend, unmöglich denkbar oder unmöglich wahr sein könne. Diese Bestimmung des Widerspruchs hat die formale Logik auch auf die Selbstwidersprüche, die aus der negativen Selbstanwendung entstehen, ausgedehnt. Seit Aristoteles die Selbstwidersprüche der Sophisten und Zenons selbstaufhebende Darstellung der Bewegung als Trugschlüsse entlarven wollte, wollen die Versuche, den logischen Fehler des Selbstwiderspruchs nachzuweisen, kein Ende nehmen. Das hat sich noch neuerdings in der Mathematik gezeigt, wo die Mengentheorie durch die Einführung von negativen selbstanwendbaren Phänomenen Selbstwidersprüche entwickelte. Die tiefere Bedeutung der Selbstwidersprüche hat sich auch hier erwiesen. Kaum hatte man einen logischen Fehler aufgedeckt, so entstand auch schon ein neuer Selbstwiderspruch ohne diesen Fehler. Obwohl durch Descartes, der dem Selbstwiderspruch einen gewissen Raum gab, durch Kant, der ihn als notwendige Vernunfterscheinung erkannte, durch Hegel, der ihn als notwendigen Erkenntnisbestandteil anspricht, einer neuen Auffassung des Selbstwiderspruchs vorgearbeitet war, hat man ihn immer wieder
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II. Logik der Selbstanwendung
als logischen Fehlschluß behandelt. Der letzte Grund dafür war die scheinbare Endgültigkeit und Unveränderlichkeit der formalen Logik, hinter der zu allem noch die Autorität der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis stand. Da nun aber einmal die formale Logik den Selbstwiderspruch verkannt und sich um die Untersuchung der Selbstanwendung nicht bemüht hat, bleibt nichts anderes übrig, als mit einer Untersuchung der Voraussetzungen zu beginnen, an denen auch die formale Logik teilhat. Daher wird der Begriff in seinem Verhältnis zur Selbstanwendung untersucht. Zeigt sich dabei die Struktur der Selbstbezogenheit schon in den Begriffen und wird von ganz bestimmten Begriffsformen her die Selbstanwendung verständlich, dann muß es möglich sein, den logischen Charakter der Selbstanwendung in vollem Umfang darzustellen und die allzuenge Auffassung der formalen Logik zu erweitern. 2. D I E
BEGRIFFSFUNKTION
Im Nachfolgenden wird unterschieden zwischen Begriff, Begriffsfunktion und Begriffenem. Dieser Unterscheidung sei zunächst ein formales Schema zugrundegelegt. Der Begriff ist das, womit das Begreifen ausgeübt wird. Das Begriffene ist das, was begriffen wird. Die Begriffsfunktion ist das, worin das Begreifen zustande kommt. Durch die Arbeit der Erkenntnistheorie und Logik ist der Unterschied zwischen Begriff und Begriffenem geläufig geworden. Der Begriff meint ein Begriffenes. Zu ihm gehört ein Begriffenes, auf das er abzielt. Tisch ist ein Begriff und meint einen Tisch, Dreieck ist ein Begriff und meint ein Dreieck, Zahl ist ein Begriff und meint eine Zahl. Alle wirklichen Tische, Dreiecke, Zahlen fallen unter diese Begriffe; sie werden durch diese Begriffe begriffen. Nun kann ich diese Begriffe aber denkend oder vorstellend aussprechen, ohne daß ein wirklicher Tisch, ein wirkliches Dreieck, eine wirkliche Zahl vor mir steht. Obgleich dann keine wirklichen Gegenstände begriffen sind, ist dennoch ein Begriffenes vorhanden. Der Begriff hat einen Begriffsinhalt. Begriffsinhalt sind Merkmale, Vorstellungen und Anschauungen. Auch diese Begriffsinhalte gehören zum Begriffenem. Der Begriff ist ablösbar vom Begriffenem. Begriffsinhalt oder begriffener Gegenstand machen allein keinen Begriff aus. Bedeutungen, Merkmale und Gegenstände sind an sich keine Begriffe. Erst wenn ein Subjekt sie in der Begreifensfunktion erfaßt, werden sie zu Begriffenem. Der Begriff drückt das Begriffene aus, und das Begriffene ist im Begriff erfaßt. In seiner Existenz ist das Begriffene nicht abhängig vom Begreifen. So läßt sich auch alles Begriffene ablösen vom Begriff — sofern es existiert ohne begriffen zu sein.
2. D i e Begriffsfunktion
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Doch ist die b e g r i f f l i c h e Existenz des Begriffenen abhängig vom fassenden Zugriff des Begriffs. In jedem konkreten Begriff ist der fassende Zugriff und das Erfaßte bis auf weiteres ineinander verschmolzen. Die theoretische Überlegung kann die beiden Momente isoüeren. Die Ablösbarkeit des Begriffs vom Begriffenem und auch umgekehrt die Ablösbarkeit des Begriffenen vom Begriff ist sehr wichtig als Voraussetzung der Gedankenarbeit mit den Begriffen. Sie gestattet uns die Erweiterung oder Verengerung des Begriffes, d. h. aber eine Erweiterung oder Verengerung des fassenden Zugreifens. Indem wir andererseits das Begriffene vom Begriff ablösen können, ist es möglich, dieses Begriffene erneut zu vergleichen und auf diesem Weg zu neuen Begriffen zu kommen. So ist das Verhältnis von Begriff und Begriffenem durchaus variabel. Durch die Definition kann aber zwischen Begriff und Begriffenem ein bestimmtes Verhältnis festgelegt werden. Gerade dieses Verhältnis, die Einheit also, in der ein Begriff mit seinem Begriffenem steht, sei im Nachfolgenden die Begriffsfunktion genannt. Zwei Auffassungen der Begriffsfunktion bieten sich an, eine engere und eine weitere. Einmal kann man die Begriffsfunktion verstehen als Vorgang des Begreifens und Erkennens. In diesem weiteren Sinn hat die Erkenntnistheorie von Begriffsfunktion gesprochen. In einem engeren Sinn kann man von einer logischen Begriffsfunktion sprechen, und man wird die Einheit zwischen Begriff und Begriffenem ganz unabhängig vom Erkenntnisverhältnis untersuchen. In diesem Sinn hat etwa die formale Logik im Gesetz von Inhalt und Umfang des Begriffes ein Gesetz der Begriffsfunktion aufgestellt. Je weiter der Umfang des Begriffes, d. h. je mehr Gegenstände er faßt, desto geringer der Inhalt des Begriffes, d. h. die Merkmale, die er bezeichnet. Hier ist eine Aussage über das Verhältnis von Begriff und Begriffenem ganz unabhängig vom Erkenntnisvorgang getroffen. Für die erkenntnistheoretische Auffassung der Begriffsfunktion hat Kant eine klassische Definition gegeben. Nach ihm beruhen Begriffe auf Funktionen. «Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinsamen zu ordnen 1 .» Diese Definition hebt die handelnde Seite des Begreifens hervor. Die Begriffsfunktion wird zur Einheit einer Handlung. Demgemäß ist das begriffliche Erkennen bei Kant auch letzten Endes eine Funktion des transzendentalen Subjekts. Der Hintergrund dieser Auffassung der Begriffsfunktion ist, daß Erkennen als Handeln aufgefaßt wird. Daß eine ganz andere Behandlung des Erkenntnisproblems möglich ist, hat die Phänomenologie gezeigt. Im Zentrum ihrer Untersuchungen steht der Gedanke, daß Erkenntnis gegenständliche, anschauliche «Erfüllung» des Meinens ist. Nicht das Moment der 1
B93.
6o
II. Logik der Selbstanwendung
Spontaneität sondern das der Rezeptivität tritt in den Vordergrund. Die Begriffsfunktion wird weniger als Handlungsfunktion denn als Bedeutungsfunktion verstanden. Von der logischen Auffassung der Begriffsfunktion bis zu der von Husserl und Kant, die beide in ihrer Ansicht von der Erkenntnis von der formalen Logik nicht unbeeinflußt geblieben sind, geht eine gemeinsame Linie. Die Begriffsfunktion wird nämlich primär als Gegenüberstehen von Begriff und Begriffenem und sekundär als Einheit von beiden gefaßt. Diese beiden Momente seien noch näher untersucht. Das primäre Moment dieser Auffassung, demzufolge sich in der Begriffsfunktion Begriff und Begriffenes gegenüberstehen, trennt Begriff und Begriffenes voneinander. Eine ganz bestimmte Begreifensarbeit ist durch diese Trennung gekennzeichnet, man benennt sie am besten mit dem umfassenden Begriff «gegenständliches Begreifen». Wie schon das Wort Gegenstand sagt, steht hier etwas einem anderen gegenüber. Logik und Erkenntnistheorie untersuchen nun nach verschiedenen Seiten dieses Gegenüberstehen. Alle logischen Untersuchungen können aber nur die formale Art des Verhältnisses klären, während die erkenntnistheoretischen Untersuchungen die Bedeutung des Gegenüberstehens begreifen wollen. Daß Begriff und Begriffenes in gewissem Sinn getrennt sind, nimmt sowohl die Logik wie die Erkenntnistheorie an. Aber dieses Faktum wird von ihnen nach ganz verschiedenen Richtungen untersucht. Ähnlich ist es mit dem zweiten Moment. Die Begriffsfunktion ist sekundär eine Einheit von Begriff und Begriffenem. Wiederum geht es der Logik nur darum, die formalen Eigenschaften zu bestimmen. Die Erkenntnistheorie sieht ihre eigentliche Aufgabe darin, den Sinn dieser Einheit als Erkenntnis zu bestimmen. Daher denn auch die Logik hauptsächlich die formale Einheit beider Glieder zu bestimmen suchte, während die Erkenntnistheorie das gegenseitige Durchdringen von Begriff und Begriffenem in seiner Eigenart betrachtete. Der einheitliche Grundstock dieser im übrigen auseinandergehenden Auffassungen des Begreifens liegt wohl darin, daß die Begriffsfunktion vornehmlich als gegenständliche Funktion gesehen wird. Damit ist schon gesagt, daß der Begriff einem Begriffenem gegenüberstehend zugeordnet ist. Je nachdem solches Gegenüberstehen als bloßes Bezeichnen, als Meinen oder gar als Darstellen verstanden wird, erhält die gegenständliche Funktion ihre genauere Bestimmung. Die Logik und alle logischen Auffassungen der Erkenntnis, die beim bloßen Bezeichnen stehen bleiben, kommen über die darin enthaltene formale Charakterisierung des Grundverhältnisses nicht hinaus. Die in der Begriffsfunktion sich vollziehende Einheit von Begriff und Begriffenem ist für sie eine formale Zuordnung zweier Glieder. Jene
3. Die ungegenständliche Begriffsfunktion
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Auffassungen, die wie die Husserlsche das Verhältnis der Intentionalität, also die Tatsache, daß im Begriff ein Begriffenes e n t h a l t e n ist, in den Vordergrund stellen, werden die Einheit von Begriff und Begriffenem als das Ineinanderpassen zweier Glieder nehmen. Und eine dritte Auffassung beginnt dort, wo der Begriff als Abbildung oder Erfassung eines anderen verstanden wird. Hier muß dementsprechend die Begriffsfunktion als formende Einheit verstanden werden. Das kennzeichnet etwa die Kantische Auffassung der Begriffsfunktion. Aber die innere Einheit dieser Auffassung liegt in der Bestimmung des Begreifens als gegenständlicher Funktion.
3. U N G E G E N S T Ä N D L I C H E
BEGRIFFSFUNKTION
Eine ganz andere Auffassung der Begriffsfunktion ist möglich und durch wirkliche Begriffe belegbar. Um sie gleich von vornherein systematisch von der gegenständlichen Begriffsfunktion abzuheben, sei gesagt, daß in ihr primär eine Einheit von Begriff und Begriffenem und erst sekundär die Trennung beider in Erscheinung tritt. Es gibt ungegenständliche Begriffe. An erster Stelle sind hier die Ausrufe zu nennen, wie Ah! und Oh! Das Eigentümliche dieser Worte ist, daß in ihnen etwas ausgedrückt werden kann, ohne daß es gegenständlich gegeben sein muß. Nun kann man aber darüber streiten, ob man dieseWorte noch als Begriffe anerkennen will. Daher seien an zweiter Stelle Worte wie Ich und Wir genannt. Hier handelt es sich sicherlich um Begriffe. Aber auch diese Begriffe sind, wenngleich in schwächerem Maße, ungegenständlich. Wenn ich von mir spreche, wenn ich an meine Zukunft denke, so kann man in den seltensten Fällen sagen, daß mein Ich und meine Zukunft mir gegenständlich gegenüberstehen. Das Kennzeichen dieser Wortgruppen ist, daß in ihnen primär eine Selbstbezogenheit vorhanden ist. Das Gegenüberstehen im strengen Sinne des Wortes fällt weg. Bei Ausrufen und Reden in der Ichperson drücke ich mich zunächst ohne gegenständliche Distanz aus; ich äußere mich als Subjekt und kann dabei völlig einer objektiven Einstellung ermangeln. Daß auch solche Äußerungen eine Art von Begreifen sein können, ist nicht zu leugnen. Aber nicht um Gegenständliches, sondern um Selbstbegreifen handelt es sich hier. Eine dritte Gruppe von Begriffen kann man nicht eigentlich ungegenständliche Begriffe nennen. Aber sie teilt mit den ungegenständlichen Begriffen das Moment der Selbstbezogenheit. Beispiel eines solchen Begriffes ist der Begriff Bedeutung. Dieser Begriff ist selbstanwendbar, d.h. er fällt unter das, was er meint. Der Begriff Bedeutung ist also selbst eine Bedeutung. Bei-
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II. Logik der Selbstanwendung
spiele ähnlicher Begriffe lassen sich leicht finden. Der Begriff kurz ist kurz, der Begriff abstrakt ist abstrakt. Auch diese Begriffe sind in einem gewissen Sinn ungegenständliche Begriffe. Sofern nämlich diese Begriffe sich selbst meinen, würde in diesem Verhältnis Begriff und Begriffenes zusammenfallen, Gegenstand und Begreifen in eins gehen. Diese Begriffe kennen also jedenfalls eine ganz bestimmte Begriffsfunktion, nämlich die Selbstbezogenheit, in der sie ungegenständlichen Charakter annehmen. Genau gesprochen wird man sagen müssen, daß diese Begriffe sich selbst zwar meinen, aber nicht vergegenständlichen können. Es ist verständlich, warum als Charakteristikum dieser drei Wortgruppen das Umgekehrte der gegenständlichen Begriffsfunktion angegeben wurde. Nicht die Trennung von Begriff und Begriffenem, sondern die Einheit beider ist in ihnen primär. Die Begriffsfunktion ist also vor allem anderen eine unmittelbare Einheit von Wort und Gemeintem, von Ausdruck und Ausgedrücktem und von Bedeutung und Bedeutetem. Es ist auch ganz klar, daß die unmittelbare Einheit an einer ganz bestimmten Stellung der Begriffsfunktion hängt, nämlich an der Bezogenheit auf sich selbst. Erst sekundär kann nun in dieser Begriffsfunktion die Trennung der beiden Momente vollzogen werden. So kann ich also reflektierend das Oh! von der Überraschung, die es ausdrückte, das gedachte Ich von meinem wirklichen Ich und den Begriff Bedeutung von dem Begriffenem unterscheiden. Natürlich vollendet sich erst in dieser Trennung der Charakter der Begriffsfunktion. Wo sie nicht eindeutig möglich ist, dort können wir nicht eigentlich von Begriff sprechen. Deshalb kann man auch zweifeln, ob man in bloßen ausdrückenden Ausrufen Begriffe sehen will. Wo aber die Form, d. h. der Begriff, eindeutig von dem Inhalt, d. h. dem Begriffenen, abgehoben werden kann, muß man trotz der unmittelbaren Selbstbezogenheit, aus der das Wort entstammt, von Begriff sprechen. Das Hauptmerkmal dieser Begriffe, das ihre Eigenart ausmacht, Hegt aber in der Tatsache, daß diese Begriffe in gewissem Sinn eins sind mit dem, was sie meinen. Auch im gegenständlichen Begriff erfahren wir die Einheit von Begriff und Begriffenem. Gäbe es sie nicht, dann wäre auch keine Erkenntnis möglich. Aber als unmittelbares Faktum stoßen wir immer wieder auf die Trennung; denn der Begriff Tisch ist selbst kein Tisch. Begriffe sind die Dinge nicht selbst. Bei den selbstanwendbaren Begriffen aber haben wir es mit Begriffen zu tun, die selbst das sind, was sie meinen. Hier also ist die Sache der Begriff und der Begriff auch die Sache. Beide sind in gewissem Sinne vertauschbar. Im Nachfolgenden sollen nun unter selbstbezügüchen Begriffen die eben dargestellten, unter fremdbezüglichen Begriffen aber alle anderen verstanden
3. Die ungegenständliche Begriffsfunktion
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werden. Eine Begriffsfunktion also, die ihr eigener Gegenstand sein kann, ist selbstbezüglich. Begriffsfunktionen aber, die sich selbst nicht meinen, sollen fremdbezügliche heißen. Dann gilt, daß in allen selbstbezüglichen Begriffsfunktionen der Begriff nur deswegen von sich abgehoben werden kann, weil er außer sich auch noch andere Gegenstände meint. Aber von vornherein ist er auch mit sich identisch. Umgekehrt kann in den fremdbezüglichen Begriffsfunktionen nur soweit von Einheit des Begriffs mit Begriffenem gesprochen werden, als er dieses Begriffene meint. Aber der Begriff läßt sich gänzlich abtrennen von allem, was er begreift und ihm als Zeichen gegenüberstellen. In diesem Fall kann man den Begriff nur als Zeichen verstehen; in den selbstbezüglichen Begriffen ist der Begriff nicht nur Zeichen, sondern auch Bezeichnetes selbst. Bolzano hat wohl zum ersten Mal auf den hier durchgeführten Unterschied aufmerksam gemacht. Er spricht von extrospektiven und introspektiven Sätzen. Die ersten sind Sätze, die ein gegenständliches Objekt, und die zweiten Sätze, die sich selbst zum Objekt haben. Der Unterschied der Selbstbezüglichkeit und Fremdbezüglichkeit ist hier für Sätze aufgestellt. Erst Rüssel aber hat diese Unterscheidimg wieder zu außerordentlicher Wichtigkeit gebracht. Um eine Paradoxie zu entwickeln, die das logische Abbild gewisser mengentheoretischer Widersprüche ist, unterschied er zwischen prädikablen und imprädikablen Begriffen. Prädikable Begriffe sind solche, die sich von sich selbst aussagen lassen, imprädikable Begriffe aber solche, die sich nicht von sich selbst aussagen lassen. Da gegen dieses Paradoxon sich verschiedene Bedenken erhoben, haben Nelson und Greiling es verschärft. Sie unterscheiden zwischen heterologischen und autologischen Begriffen. Den autologischen Begriffen kommt ihre eigene Bedeutung zu, den heterologischen Begriffen kommt ihre Bedeutung nicht zu. 4. P O S I T I V E U N D N E G A T I V E
SELBSTANWENDUNG
Die Selbstbezogenheit kann man nun durch alle logischen Formen hindurchverfolgen. Es gibt selbstbezogene Begriffe, Urteile und Schlüsse. Negative und positive Denkgebilde können selbstbezüglich sein. Als durchgehende Regel für alle selbstbezogenen Denkgebilde gilt, daß sich in der Selbstbeziehung das ursprüngliche Denkgebilde wiederholen muß. Denn die Selbstbeziehung bedeutet ja zunächst, daß das von einem Denkgebilde Bedeutete auch für dieses Denkgebilde selbst gilt. Doch ist diese Wiederholung in zweierlei Form möglich und hier zeigt sich eine logische Gesetzmäßigkeit. Es gibt eine positive und eine negative Selbstanwendung. Die positive Selbstanwendung führt zur Selbstbestätigung, die negative Selbstanwendung zur Selbstaufhebung. Positive und
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II. Logik der Selbstanwendung
negative Selbstanwendung können nicht willkürlich gebraucht werden. Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden, daß der Gebrauch der Selbstanwendung nicht etwa der Willkür des Denkens überlassen ist. Gewisse Denkgebilde, seien es nun Begriffe, Urteile oder Schlüsse, erweisen sich als positive, indem sie die positive Selbstanwendung zulassen, während andere Denkgebilde sich als negative erweisen, indem sie die negative Selbstanwendung zulassen. Man kann es einem Denkgebilde nicht ohne weiteres ansehen, welcher Form der Selbstanwendung es unterliegt. Das erweist sich immer erst in der Durchführung der Selbstanwendung. Die bisher gebrachten Beispiele waren Beispiele positiver Selbstanwendung, und zwar handelte es sich bisher nur um positive Begriffe. Aber aucji negative Begriffe sind positiver Selbstanwendung fähig. So ist etwa der Begriff «nicht-konkret» selbst ein nichtkonkreter Begriff. Ebensowenig läßt sich leugnen, daß der Begriff «nicht-elektrisch» selbst auch nicht elektrisch ist, weil Begriffe keine elektrischen Kräfte sind. Eine Reihe anderer Denkgebilde lassen die Selbstanwendung zwar zu, aber sie wirkt sich bei ihnen nicht in positiver Form aus. Diese Denkgebilde sind negativ selbstanwendbar und sind von jenen zu unterscheiden, die überhaupt nicht selbstanwendbar sind. Aber sie unterscheiden sich auch von den positiv selbstanwendbaren Denkgebilden, indem sie sich in der Selbstanwendung verwandeln. Das Beispiel eines solchen Begriffs ist der Begriff «verneinen». Er kann auf sich selbst angewandt werden, das «Verneinen» kann selbst verneint werden. Aber dabei verändert sich die ursprüngliche Bedeutung. Denn eine Verneinung der Verneinung ergibt eine Bejahung. Ganz ähnlich ist es mit dem Begriff «Zweifeln», dessen negative Selbstanwendung durch den Zweifelsbeweis Descartes' klassisch geworden ist. Auch das Zweifeln kann selbst bezweifelt werden. Aber dann hebt sich in diesem zweiten Zweifeln das erste Zweifeln auf. Denn wenn an einem Zweifeln gezweifelt wird, so bedeutet dies, daß der ursprüngliche Zweifel weggehoben wird. Die Verschiedenheit beider Formen liegt darin, daß in der positiven Selbstanwendung die Grundbedeutung, die zur Selbstanwendung kommt, unverändert sich wiederholt, während in der negativen Selbstanwendung die Grundbedeutung in der Wiederholung sich weghebt. Die Frage, was das zu bedeuten hat, sei noch gar nicht gestellt. Nur der Unterschied in der Form der beiden Selbstanwendungen sei festgestellt. Denn es handelt sich hier um einen letzten logischen Unterschied. Genau im selben Sinne wiederholen sich die beiden Formen der Selbstanwendung im Urteil. Auch Urteile können sich selbst meinen und betreffen, sie sind dann, ebenso wie selbstbezügliche Begriffe, ihr eigener Gegenstand.
4- Positive und negative Selbstanwendung
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Das Beispiel eines Urteils, das positiv selbstanwendbar ist, gibt das Urteil: «Alle Urteile treffen eine Aussage». Da dieses Urteil selbst ein Urteil ist, trifft es auch eine Aussage und fällt also unter sich selbst. Es schließt sich selbst ein und bestätigt sich damit aber auch selbst, indem es selbst ein Beleg ist für das, was es ausspricht. Dagegen ist das Ergebnis der negativen Selbstanwendung auch hier die Selbstaufhebung. Das Beispiel eines negativ selbstanwendbaren Urteils ist die Behauptung: Alle Urteile lassen sich widerlegen. Auch dieses Urteil schließt sich selbst ein und — wenn alle Urteile sich widerlegen lassen — dann muß es auch selbst widerlegbar sein. Das bedeutet jedoch nichts anderes, als daß dieses Urteil sich selbst aufhebt. Denn wenn es widerlegbar ist, dann heißt das, daß das Urteil «Alle Urteile sind widerlegbar» sich widerlegen läßt. Damit aber hebt es sich selbst weg. Die Selbstanwendung wirkt sich bei den Urteilen etwas anders aus. Die logisch formalen Konsequenzen der Selbstaufhebung und Selbstbestätigung treten deutlicher hervor. Während bei den selbstanwendbaren Begriffen leicht diese Konsequenz übersehen werden kann, ist die Selbstaufhebung oder Selbstbestätigung im Urteil nicht zu übersehen. Noch stärkeren Ausdruck gewinnen die beiden Formen der Selbstanwendung in selbstanwendbaren Schlüssen. Hier ist es leicht möglich Beispiele zu finden, die diese eigentümlichen logischen Gesetzlichkeiten in ihrer reinen logischen Form zeigen. Als Beispiel für einen positiv selbstanwendbaren Syllogismus sei folgender gewählt: Alles Erkannte muß in irgend einem Sinne seiend sein. Auch dieser Satz ist erkennbar. Also muß er in irgend einem Sinn seiend sein. Die erste Prämisse dieses Schlusses ist eine allgemeine Aussage, die zweite Prämisse aber macht den ersten Satz zum Gegenstand seiner selbst. Im Schlußsatz bestätigt sich denn auch das erste Urteil an sich selbst, indem es als ein Einzelfall eben der Allgemeinheit gekennzeichnet wird, die in der ersten Prämisse behauptet ist. Das Verhältnis der Selbstbezogenheit, daß nämlich ein Denkgebilde zugleich das ist, was es meint, wird in diesem Schluß in drei Phasen zerlegt. In der ersten Phase wird ein solches Denkgebilde aufgestellt, in der zweiten wird die Selbstbezogenheit behauptet und in der dritten daraus der Schluß gezogen. Dieser Schluß aber bestätigt wiederum die erste Prämisse. Im negativ selbstanwendbaren Schluß handelt es sich nun ebenfalls um einen Schluß, der mit einem ersten Satz beginnt, im zweiten Satz den ersten zum Gegenstand macht und im dritten aus dieser Selbstbezogenheit die 5
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II. Logik der Selbstanwendung
Konsequenz zieht. Das Ergebnis aber ist, daß im eigentlichen Schluß sich die Prämissen aufheben. So der Schluß: Alles Gedachte ist bestreitbar. Dieser Gedankengang ist ein gedachter. Also ist er bestreitbar. Die Behauptung der ersten Prämisse wird auch hier zum Gegenstand der zweiten gemacht. Indem aber im dritten Satz der Schluß gezogen wird, wird sie aufgehoben. Wenn nämlich der Satz: «Alles Gedachte ist bestreitbar» bestritten werden kann, dann bedeutet das, daß er negiert wird und bezweifelt wird. So bestätigt der Schlußsatz die erste Prämisse nicht, sondern stellt sie in Frage. Dennoch zeigt sich im Schluß nur das, was in der ersten Prämisse implicit schon enthalten ist. Die negativ selbstbezüglichen Schlüsse haben von jeher Anlaß zur Verwunderung gegeben und sind daher immer wieder untersucht worden, obwohl man ihnen keine praktische Bedeutung beimaß. Meist hat man zu beweisen versucht, daß Schlüsse dieser Art Trugschlüsse und logische Fehlphänomene sind. Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß sich mit diesem Denkschema unwahre Ergebnisse erzielen lassen, die aber mit jedem anderen Syllogismus, den man mechanisch anwendet, ebenso erzielt werden können. Aber von vornherein kann man die Selbstanwendungen nicht ablehnen. Schon deswegen nicht, weil sie in einer Möglichkeit des Logos, auf sich selbst beziehbar zu sein, gründen. Es wäre töricht, ein Phänomen leugnen zu wollen, das in allem Denken mitgegeben ist. Wenn sich zeigt, daß die Selbstanwendung in zwei Formen zerfällt, deren jede gleich denkstreng entwickelt werden kann, dann liegt hier ein Problem, dem sich keiner entziehen kann, dem es um die Grundlagen des Erkennens zu tun ist. Da sich diese Formen nun auch rein als Formen des Begriffs, des Urteils und des Schlusses entwickeln lassen, ist die Vermutung berechtigt, daß es letzte Formen des Denkens sind. Das Problem ist also zunächst nicht ein Problem des Begreifens, sondern gewisser Begriffsverhältnisse und Begriffsmöglichkeiten, d. i. aber ein logisches Problem. 5. T A U T O L O G I E
UND
WIDERSPRUCH
Zwei Einwände gegen die Theorie der Selbstanwendung sind vor allem nahehegend. Die positive Form der Selbstanwendung, so kann man sagen, ist eine Tautologie, und die negative Form der Selbstanwendung führt zum Widerspruch. Beide Formen des Denkens sind sinnlos. Die Tautologie ist ein leerlaufendes Denken, das nur wiederholt, was schon vorausgesetzt ist. Wo eine Tautologie in der Form eines Schlusses auftritt, besteht überdies
5- Tautologie und Widerspruch
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die Gefahr, daß ein Satz scheinbar bewiesen wird, der in Wirklichkeit schon in der Voraussetzung steckt und also erschlichen wird. Auch der Widerspruch ist eine sinnlose Denkform; denn in ihm stehen sich zwei Behauptungen gegenüber, die sich aufheben. So kann der Widerspruch auch keine Erkenntnis ausdrücken. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß die positive Selbstanwendung zur Tautologie und die negative Selbstanwendung zum Selbstwiderspruch geführt werden können. Hier wurden die Beispiele zwar bisher so gewählt, daß weder der Widerspruch noch die Tautologie hervortraten. Damit ist teilweise auch schon der Vorwurf beantwortet. Nicht alle negativen Selbstanwendungen führen zum Widerspruch, so wenig wie alle positiven Selbstanwendungen zur Tautologie führen. Aus den zuletzt gebrachten Beispielen kann man den Erkenntnischarakter des selbstbezogenen Denkens entnehmen. Die positive Form führt zu einer Selbstbestätigung, aber damit auch zu einer Erkenntniserweiterung, während die negative Form zu einer Selbstaufhebung und damit zu einer Einschränkung führt. In beiden Fällen kann man einen gewissen Erkenntniswert nicht leugnen. An dem Vorwurf aber bleibt zu Recht die Behauptung bestehen, daß Tautologie und Widerspruch Möglichkeiten der Selbstanwendung sind. Durch Beispiele sei es belegt. Das Beispiel einer tautologischen Selbstanwendung ist dies: Alles was ich sage ist wahr. Dies ist meine Aussage. Also ist sie wahr. Dieser Schluß ist streng tautologisch. Das Beispiel eines ebenso streng widerspruchsvollen Schlusses ist: Was ich sage ist falsch, Dies ist meine Aussage, Also ist diese Aussage falsch. In diesem Schlußsatz hebt sich die erste Prämisse nicht nur auf, sondern er widerspricht ihr in strenger Form. Es ist nicht zu bezweifeln, daß es möglich ist, in allen selbstanwendbaren Gedankengängen die Tautologie oder den Widerspruch herauszuarbeiten. Nun sind reine Tautologie und reiner Widerspruch, für sich genommen, eins so sinnlos wie das andere. Wollte man deswegen aber das selbstanwendbare Denken überhaupt für sinnlos erklären, so wäre leicht die Parallele zur formalenLogik zu ziehen. IhreFormen sind, für sich genommen, bedeutungslos. Ihr Gewicht bekommen sie erst als allgemeine und letzte Formen der Gedankenverhältnisse. Daher wird man eine Erkenntnis nicht für sinnlos halten, weil sie sich in ihren Ergebnissen etwa auf Schlußformeln zurück5*
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II. Logik der Selbstanvvendung
führen läßt. Denn in der Tatsache, daß die Formen der Logik im Bereich des Erkennens gelten, aber auch für sich betrachtet werden können, sieht man die Eigenart der Logik. Dasselbe Verfahren scheint uns in der Betrachtung der Tautologie und des Widerspruchs richtig. Die Tatsache, daß sie reine Formen des Denkens einerseits und andererseits für alles selbsterkennende Denken gültig sind, weist darauf hin, daß sie logischen Charakter haben. Mit dieser Behauptung aber gerät man in einen Gegensatz zur formalen Logik. Sie gibt zwar zu, daß der Widerspruch eine Form des Denkens, leugnet aber, daß er eine Form des erkennenden Denkens ist. Der formale Logiker geht von der Überzeugung aus, daß der Widerspruch eine Denkform ist, die von der Erkenntnis vermieden werden muß. Seiner Meinung nach kann es Widersprüche nur im Denken geben, nicht in der Realität. Was diese Behauptung zu bedeuten hat, erkennt man, wenn man eine ihrer Konsequenzen durchdenkt. Wenn der Widerspruch nur im Denken als willkürliches oder fehlerhaftes Gebilde existierte, dann müßte jeder Widerspruch aufgelöst werden und auf den fehlerhaften Ansatz zurückgeführt werden können. In der Tat ist dies auch immer noch eine Grundthese mancher Erkenntnistheorien und vornehmlich auch solcher, die vom naturwissenschaftlichen Denken aufgestellt werden. Auf der anderen Seite lassen sich aber die schon der Antike bekannten paradoxen Selbstwidersprüche ebensowenig auflösen, wie sich die modernen mengentheoretischen Paradoxien a u f l ö s e n lassen. Der Grund dafür ist einzusehen, wenn man einen reinen Selbstwiderspruch ohne das Vorurteil einer möglichen Auflösung durchdenkt. Dann tritt hervor, daß er ein d e n k s t r e n g e s Gebilde ist, das ebensosehr als Axiom anerkannt werden muß wie andere Formen, die in der Regelmäßigkeit des Denkens gründen. Es ist aber ein traditioneller Einwand, daß die Anerkennung des Widerspruches gleichbedeutend ist mit der Leugnung aller Erkenntnis. Als Beweis dafür wird die Skepsis und ihre Argumentation herangezogen. Sie verläuft etwa so: Wahrheit muß widerspruchslose Erkenntnis sein. Da es nun aber widerspruchsvolle Erkenntnis gibt, so kann es keine Wahrheit und keine Erkenntnis geben. So leugnet der Skeptiker auf Grund der Widersprüche die Möglichkeit der Erkenntnis. Unterstützen unsere Gedankengänge nicht diese Leugnung? Der radikale Skeptiker sucht die Selbstaufhebung der Erkenntnis zu erweisen. Man hat ihn von jeher zu widerlegen versucht, indem man diesen Nachweis auf ihn selbst überträgt und zeigt, daß er auch seine eigene Erkenntnisposition aufhebt. Der Skeptiker führt nun in Wirklichkeit nur die Selbstaufhebimg eines ganz bestimmten Erkenntnisbegriffes durch. Er zeigt nämlich, daß es keine Erkenntnis geben kann, wenn Erkenntnis als
5- Tautologie und Widerspruch
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widerspruchsfreies Beweisen verstanden wird. Dieses Axiom teilt der Skeptiker mit dem formalen Logiker und dessen Erkenntnisbegriff führt er auch zur Selbstaufhebung. Läßt man aber gelten, daß es in der Erkenntnis zu Selbstwidersprüchen kommen kann, dann wird auch seine Argumentation hinfällig. Sofern der Widerspruch selbst als eine eigene Art der Erkenntnis verstanden wird, und also der Begriff der Erkenntnis erweitert wird, kann man nicht mehr behaupten, daß der Widerspruch die Erkenntnis vernichtet. Setzt man also den Widerspruch mit positivem Recht in den Erkenntnisbegriff ein, so verliert der radikale Skeptiker den Boden. Es entsteht freilich jetzt die Frage, in welchem Sinn der Widerspruch als positives Element der Erkenntnis verstanden werden kann. Lassen sich Belege dafür bringen, daß der Widerspruch mehr ist als bloßes Anzeichen eines falschen Denkens? Und wenn das der Fall ist, worin kann die positive Erkenntnisbedeutung des Widerspruchs liegen? Als ein erstes Faktum ist hier darauf hinzuweisen, daß der Fortschritt der Erkenntnis uns zwingt, Widersprüche zu denken. Die Folge mancher neuer Einsichten ist die hintergründliche Anerkennung eines Widerspruchs. Mit der Entdeckung der Bewegung der Erde und ihrer Kugelform entstehen Widersprüche. So widerspricht unsere Empfindung des Stillstehens an einem Ort der Tatsache, daß wir mit großer Geschwindigkeit durch den Weltraum bewegt werden. Wir haben das Gefühl aufrecht zu stehen, und soweit wir auch wandern, auf einer durch Erhöhungen unterbrochenen Ebene zu wandern. Indessen bewegen wir uns auf einer Kugel und müßten annehmen, daß ein Teil der Menschen mit dem Kopf nach unten hängt. Doch diese und ähnliche Widersprüche in unserer Anschauung werden uns, nachdem sie kurze Zeit als Kuriosum notiert werden, allmählich ganz selbstverständlich. Doch ist unverkennbar, daß sich in solchen Widersprüchen zwei durchaus berechtigte Anschauungen kontradiktorisch gegenüberstehen. Weiter ist unverkennbar, daß die Mathematik von altersher eine Reihe von Widersprüchen geradezu als Postulate in ihre Theorien aufnimmt. Bolzano hat in seinen «Paradoxien des Unendlichen1» Beispiele gesammelt. Im Grund aber ist diese Art von Widersprüchen seit Zenos dialektischer Diskussion der Bewegung bekannt. Mit den von ihm aufgestellten Paradoxien der Bewegung hat uns die Antike das weitaus beste Beispiel von Widersprüchen, unübertrefflich in seiner Einfachheit und Klarheit, überliefert. Denn diese Paradoxien zeigen, daß eine bestimmte Auffassung der Bewegung, und zwar gerade die von der Mathematik verlangte, notwendig zu Widersprüchen führt. 1
Herausgegeben von Höfler, 1920. Leipzig.
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II. Logik der Selbstanwendung
Wiederum in einem anderen Sinne hat Kant Widersprüche evident gemacht. Nach ihm entstehen Widersprüche unter der Voraussetzung, daß die reine Vernunft die Grenze der möglichen Erfahrung überschreiten kann. Nun treibt uns unsere Vernunft selbst immer wieder zu diesem Versuch, und so haben diese Widersprüche nach Kant ihren Grund in ihr selbst. Sieht man von dieser Auslegung der Ursache der Widersprüche ab, so ergibt sich folgendes. Erkenntnisse, die innerhalb der praktischen Vernunft beweisbar sind, lassen sich in der reinen Vernunft zu regelrechten Widersprüchen entwickeln. Eine bestimmte Auffassung der Erkenntnis, die uns vom Wesen der Erkenntnis und der Vernunft nahe gelegt wird, führt zu Widersprüchen. Mehrmals hat Kant betont, daß sie unvermeidlich und notwendig sind. Einmal sind diese Widersprüche «unhintertreiblich», weil die menschliche Vernunft einen Hang zu solchen Erkenntnissen hat. Zweitens aber hat Kant gezeigt, daß es notwendig ist, diese Widersprüche anzunehmen. Denn ihre Funktion ist, die Grenze der reinen Vernunft zu zeigen. Ohne diese Grenzphänomene könnten wir den Herrschaftsbereich der reinen Vernunft nicht bestimmen. Die moderne Forschung in der Psychologie zeigt vielfach die Tendenz, mit Begriffen zu arbeiten, die auf widerspruchsvolle Phänomene hinweisen. Die Auffassung, daß das psychische Geschehen kein rationaler und vollkommen logischer Prozeß ist, hat sich in vielen Richtungen der Psychologie durchgesetzt. Darüber hinaus zeigt sich jedoch, daß Grenzphänomene des psychischen Lebens widerspruchsvoller Natur sind. Wenn von Liebes-HaßBeziehung (Psychoanalyse) oder von Charakterantinomien (H. Hoffmann) gesprochen wird, so kommt hier schon im Begriff der Charakter des Widerspruchs zum Ausdruck. In der Tat ist auch gemeint, daß in diesen Phänomenen einander ausschließende Charakterzüge zusammengeschlossen sind. Übersieht man diese Beispiele, die freilich zunächst nur in Andeutungen gebracht werden können, so zeigt sich der gemeinsame Grundzug. In jedem Fall ist der Widerspruch nicht nur ein formales und willkürlich erdachtes Denkgebilde, sondern weist auf einen Tatbestand hin. Daß dieser in einer widerspruchsvollen Formel ausgedrückt wird, ist nicht zufällig. Die Form des Widerspruchs gehört vielmehr zum Wesen des vermeinten Tatbestandes. Die Eigenschaften gewisser seelischer Abläufe erklären sich also beispielsweise nur aus der widerspruchsvollen Struktur der Grundbedingungen. Aus der widerspruchsvollen Erkenntnissituation erklärt sich nach Kant das Versagen der Metaphysik. Daher mußte die hier bestehende Grenze der reinen Vernunfterkenntnis in der ihr eigentümlichen Form der Widersprüche zum Ausdruck gebracht werden. Ähnlich aber ist auch eine Grundeigenschaft der Bewegung nur auszudrücken, wenn man, wie Zeno es tat, widerspruchsvolle Formeln aufstellt. So läßt sich zusammenfassend sagen, daß es
6. Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel
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Phänomene gibt, die ganz oder teilweise ihren adäquaten Ausdruck in widerspruchsvollen Formeln finden. Die Beispiele zeigen zur Genüge, daß den Widersprüchen und widersprechenden Gedankengängen, die auf ein Phänomen hinweisen, Erkenntnisbedeutung zukommt. Aber außerdem ist ein gemeinsames Merkmal vorhanden. In den Widersprüchen kommt eine negative Bestimmung der Phänomene zum Vorschein. Wer glaubt, daß der Fortschritt der Erkenntnis alles Gegebene einst in positive Bestimmungen auflösen wird, der kann daher in der Feststellung widerspruchsvoller Strukturen immer nur vorläufiges Wissen anerkennen. Aber er übersieht eine Tatsache, die durch Kant zum ersten Mal ausdrücklich gemacht wurde. Mit dem Anwachsen und dem Ausbau unserer positiven Erkenntnis steigt auch, gleichsam hintergründlich, unser negatives Wissen. Voraussetzung für die Klärung dieser Zusammenhänge ist der Nachweis der Struktur des Widerspruchs. Als eine Form der negativen Selbstanwendung wurde sie bereits gekennzeichnet. Es ist aber notwendig, an Beispielen zu zeigen, wie dieser Widerspruch entsteht. Im Folgenden werden nun zwei Beispiele dargestellt. Das erste zeigt, daß der Zweifelsbeweis die Struktur der negativen Selbstanwendung hat, und daß der daraus sich entwickelnde Widerspruch eine Folge der negativen Selbstanwendung ist. Kein anderes Beispiel ist so geeignet, gleichzeitig den formalen Charakter des Widerspruchs wie auch seinen Bedeutungsgehalt zu zeigen. Daran anschließend wird noch einmal die logische Form des Widerspruchs an den Paradoxien entwickelt. Hier handelt es sich um negative Selbstanwendungen, deren hauptsächliche Bedeutung darin besteht, eben den Widerspruch zu zeigen. Sowohl der Zweifelsbeweis wie auch die Paradoxien zeigen die gleiche logische Struktur. Während aber Descartes durch die Entwicklung des Zweifelsbeweises den Widerspruch aufheben will, sind die Paradoxien reine Darstellung des Widerspruchs. 6. D E R Z W E I F E L S B E W E I S D E S D E S C A R T E S A L S E I N E NEGATIVE
SELBSTANWENDUNG
Wenn im Folgenden erneut der Zweifelsbeweis des Descartes einer Untersuchung unterzogen wird, so geschieht es diesmal nicht, wie früher, um den Aufbau des Descartesschen Systems zu zeigen, sondern um die negative Selbstanwendung in diesem Beweis zu zeigen. Daß gerade dieses Beispiel gewählt wird, hat seinen Grund in der klassischen Reinheit und Einfachheit des Gedankengangs. Zugleich aber hat dieses Beispiel, trotzdem sich in ihm der Widerspruch in reiner Form darstellt, nicht den formalen und verwirrenden Charakter der Paradoxien. Die negative Selbstanwendung wird im
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II. Logik der Selbstanwendung
Zweifelsbeweis als ernsthafter Beweis genommen und nicht, wie in den Paradoxien, als spielerischer Gedankengang. In den beiden ersten Meditationen gibt Descartes im wesentlichen die Entwicklung des Beweises. Er bestimmt am Anfang der ersten Meditation seine Aufgabe. Immer hätte er bemerkt, daß er von Kindheit an Falsches als wahr habe gelten lassen, und daß aus diesem Grund Vieles unsicher sei, was auf diesem Fundament erbaut sei. So gilt es von Grund auf neu anzufangen. Das kann nur geschehen, indem man alle herkömmlichen Überzeugungen von sich abweist und in allem einen Grund zum Zweifeln findet. Hier setzt nun der radikale Zweifel als eine Denkbewegung, die schlechthin alles bezweifelt, ein. Die Sinneswahrnehmungen, die mathematischen Wahrheiten und schließlich Gott als Quelle aller Wahrheit wird bezweifelt. Der Zweifel wird also in der Absicht angestrengt, grenzenlos und unbedingt alles vermeintlich Bestehende zu negieren. Es wird ihm jeglicher Spielraum gegeben, er kann keinerlei Beschränkung durch irgend etwas, es sei denn sich selbst, finden. Am Anfang der zweiten Meditation erklärt Descartes nochmals den umfassenden Charakter des Zweifels. Nun aber führt er eine Frage ein, die die Denkbewegung in eine neue Richtung lenkt. Nachdem er noch einmal supponiert, daß alles falsch ist, fragt er: was ist also wahr? Vielleicht das eine, daß es nichts Gewisses gibt? Diese versuchsweise Beantwortung seiner Frage enthält eine schlechthin negative Definition der Wahrheit und faßt gleichsam die Ergebnisse des radikalen Zweifels zusammen. Descartes rekapituliert sie: Vorausgesetzt, daß mich die Sinne täuschen, vorausgesetzt, daß nichts in der Welt, vorausgesetzt endlich, daß ein böser Geist mich über alles täuscht, bleibt aber eins bestehen. Nun führt Descartes die Selbstanwendung durch. Nichts von all dem kann bewirken, daß ich nichts sei, solange ich denke, daß ich etwas bin. Halte ich also im radikalen Zweifel inne und wende mich diesem Zweifel selbst zu, so finde ich mich als seienden. Damit ist die Kernargumentation des Zweifelsbeweises beendet und geht über in den Satz «ich bin, ich existiere, ist notwendig wahr, so oft ich es ausspreche oder im Geiste erfasse.» Es gibt verschiedene Wendepunkte in diesem Beweis. Sie sind markiert durch die Überführung des Zweifeins (dubitare) in das Denken (cogitare) und seine Überleitung in meine Existenz (ego sum, ego existo). Von der Annahme einer umfassenden Möglichkeit der Täuschung und des Irrtums aus beginnt Descartes seinen Gedankengang. Im Bewußtsein dieser Möglichkeit setzt er den Zweifel versuchsweise als allumfassenden und vollkommenen an. Er soll vor nichts halt machen und ist dem Willen und der Form des Ansatzes nach auf alles bezogen. In der Durchführung dieses Versuches zeigt sich der erste Wendepunkt. Der Zweifel an allem mißlingt, indem er auf das Denken selbst sich zurückwendet. Es fügt sich vielmehr
6. Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel
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notwendig ein: das Denken bleibt außerhalb des Zweifeins. Aus der negativen Tätigkeit des Zweifels an allem spaltet sich, sofern der Zweifel auf sich selbst angewandt werden soll, ein Positives ab. Hier wendet sich die Entwicklung nun zum zweiten Mal, und daraus resultiert wieder ein neuer Ansatz. Descartes behauptet: Sofern ich denke, bin ich. In drei Urteilen läßt sich daher der Gang des Zweifelsbeweises wiedergeben, i. Zweifeln kann auf alles bezogen werden. 2. Zweifeln kann nicht auf das Denken bezogen werden. 3. Ich existiere ist notwendig wahr, sofern ich es denke. Der Dreisatzaufbau könnte dazu verleiten, in dem Zweifelsbeweis einen Syllogismus zu sehen und den Dreistufengang als Schluß zu verstehen. Aber Descartes hat diese Interpretation ausdrücklich abgelehnt. Er wollte den Zweifelsbeweis zwar als Beweis, nicht aber als syllogistischen Beweis verstanden wissen 1 . Nahe liegt auch die Auffassung, daß der Zweifelsbeweis dialektischen Charakter hat und wir würden diese Auffassung für sachlich gerechtfertigter halten als die syllogistische. Der erste Satz ist die Thesis. Im zweiten Satz erscheint die Antithesis als eine zum ersten Satz kontradiktorische Behauptung. Doch der dritte Satz ergibt keine deutliche Synthesis. Ehe man daher den Schluß als dialektischen Schluß im Sinne Hegels anspricht, müßte die Bedeutung des dritten Satzes als einer Synthese der beiden vorhergehenden geklärt werden. Gewiß ist aber, daß Descartes den aufgezeigten Gedankengang als Beweis verstand. Wer auch nur einmal den Zweifelsbeweis wirklich durchdacht hat, erfährt auch die zwingende Kraft dieser Denkbewegung. Da aber die Beweiskraft nicht in der logischen Verbindung der Sätze nach irgend einem logischen Schema liegt, ist man genötigt sie anderwärts zu suchen. Es sei denn, daß man Descartes besser verstehen will, als er sich selbst verstanden hat, oder annimmt, daß Descartes zu einem richtigen Ergebnis auf falschem Weg gekommen ist. Wer so denkt, wird immer die Frage stellen müssen, ob das cogito, ergo sum sich verbessern oder etwa in die Sprache der formalen Logik transformieren läßt. Selbst wenn das möglich ist — wie weit es möglich ist, hat Heinrich Scholz in einer Abhandlung gezeigt2 — ist die Frage, ob durch eine solche Verbesserung die Absicht Descartes getroffen wird. Sie ist wohl zu verneinen. Descartes hat ja nicht umsonst betont, daß die Einsicht in das cogito, ergo sum nicht auf logischem (synthetischem) Weg gewonnen werden soll. Deutet man den Descartesschen Beweis in einen Syllogismus um, so verfehlt man die Denkbewegung, die Descartes als Beweis ansah. Da aber Descartes selbst in aller Deutlichkeit durchgeführt 1 Vgl. Descartes, Meditationes, Secundae responsiones, S . 189. Ausgabe Adam et Tannery, V I I . 140. Weiter Adam et Tannery, Bd. V . 1 4 7 , die auch von H. Scholz zitierte Stelle aus dem Gespräch mit Burman. 3
Kantstudien, 1 9 3 1 , X X X V I , S . 1 2 6 — 1 4 7 . Über dts Cogito, ergo sum.
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II. Logik der Selbstanwendung
hat, wie aus dem Zweifel an allem der Zweifel sich beschränkt und aus dieser Einschränkung die Anerkennung des Ich, sofern es denkt, herauswächst, muß man sich in der Interpretation wohl an diese Darstellung halten. Die Beweiskraft des Beweises muß in einer eigengearteten Verbindung liegen, die vom ersten Satz, der oben aufgestellt wurde, zum zweiten und dritten führt. In der Tat besteht eine solche Verbindung. Sie ist anders als die Verbindung, die im Syllogismus aus zwei Urteilen ein drittes abzuleiten gestattet. Im Syllogismus verbindet der Mittelbegriff zwei Urteile so, daß ein drittes formuliert werden kann. Die Verbindung, die im Zweifelsbeweis die einzelnen Glieder des Gedankengangs aneinander knüpft, wird man erst gewahr, wenn man bedenkt, daß eigentlich nur ein Begriff der Inhalt der verschiedenen Urteile ist. Dieser Begriff aber ist das Denken. Descartes setzt das Denken zuerst versuchsweise als negatives, d. h. als Zweifel an allem, an. Dieser radikale Zweifel muß notwendigerweise zum Nichts führen. Nun entwickelt das Zweifeln aus sich die Erfahrung, daß eines vom Zweifeln ausgeschlossen bleibt. Weder der aktive Zweifel, den ich ausübe, noch die passive Täuschung durch einen allmächtigen Betrüger heben das Zweifeln als Denken auf. Der Begriff des Zweifeins spaltet sich hier also in das Zweifeln und das Bezweifelte, als ein bestimmtes Denken und das von diesem Denken Ergriffene. Dabei aber zeigt sich, daß das Zweifeln als Denken nicht bezweifelt werden kann. So grenzt sich also das Denken aus dem Zweifeln aus. Der so veränderte Begriff des Zweifeins macht eine neue Wandlung durch, indem aus dem Denken nun das Ich ausgegrenzt wird. Denn wenn kein Zweifel und keine Täuschung mich daran hindern können, daß ich denke, so ist im Denken das Ich enthalten. Es ist im Grunde ein einziger Begriff, den Descartes in einer dreistufigen Erfahrung entwickelt. Der Zweifel an allem ist die erste Stufe, er widerlegt sich selbst, und diese Widerlegung ist eine zweite Erfahrung. Auf der zweiten Stufe ist der Zweifel ein eingeschränkter. Die dritte Stufe hebt aus dem eingeschränkten Zweifel das Denken heraus, als das, was schon im Zweifeln steckt und sich also nicht bezweifeln läßt. Jetzt wandelt sich der Zweifel zum Sein, indem das Ich als im Denken eingeschlossen erkannt wird. Zu fragen ist nun, wie kommt diese Wandlung des Zweifels zustande ? Welche Denkbewegung hat die Kraft, den Zweifel über das Denken in das Sein münden zu lassen und aus dem Begriff des Zweifels über den Begriff des Denkens den Begriff des Ich zu erschließen? Gibt es eine systematische Verbindung, die diese Bewegung ermöglicht ? Sicherlich läßt sich durch einen Syllogismus ein ähnliches Ergebnis erzielen: Das Zweifeln ist ein Denken. Alles Denken ist eine Funktion des Ich. Also ist das Zweifeln eine Funktion des Ich und setzt das Ich voraus.
6. Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel
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Oder, wenn man, wie H. Scholz, das cogito, ergo sum ohne den vorangehenden Zweifelsversuch für sich nimmt und als Syllogismus interpretiert: «Jedesmal wenn ich denke, existiere ich. Ich denke jetzt. Ich existiere jetzt 1 .» Dennoch können diese und ähnliche Syllogismen den Zweifelsbeweis Descartes nicht ersetzen. Sie vernachlässigen, wie jeder andere Syllogismus, die eigentümliche Verbindung, die Descartes vom Zweifeln zum Denken zieht. Denn der Versuch an allem zu zweifeln, scheitert daran, daß ich immer etwas bin, auch wenn ich zweifle und wenn ich getäuscht werde; auch dann bin ich noch ein Denkender. Das Zweifeln beschränkt sich selbst. Descartes zeigt in der Tat, daß es nicht möglich ist, das Zweifeln auf das Denken zu beziehen, und deswegen kann man nicht an a l l e m zweifeln. Weil der Zweifel an allem sich selbst ausschließt, darum hebt er sich auf und weicht der Anerkennung des Denkens. Der Satz «Zweifeln ist ein Denken» wird nicht synthetisch gewonnen, sondern wächst aus der negativen Selbstanwendung des Zweifels heraus. Daher kann man geradezu sagen: das Zweifeln führt s e l b s t in die A n e r k e n n u n g des Denkens über. Es mißlingt der Versuch, an allem zu zweifeln. Denn der Zweifel, indem er in sich widerspruchsvoll wird, leitet s e l b s t in die positive Anerkennung des Denkens über. Aber der entstehende Widerspruch ist deswegen den Widersprüchen der formalen Logik nicht recht vergleichbar, weil es nicht eigentlich ein Widerspruch zweier Urteile ist. Das Urteil: Ich kann an allem zweifeln, ist in sich widerspruchsvoll und also befindet sich der Zweifler an allem in einem Selbstwiderspruch. Dieser Selbstwiderspruch wandelt den Zweifel an allem. Er hebt ihn auf und weist auf eine Voraussetzung: das Denken. Nachdem Descartes dies festgestellt hat, verwandelt er auf einem ähnlichen Weg das Denken in das Ich. Doch ist dieses Verfahren insofern anders, als an die Stelle des Selbstwiderspruches die Selbstbestätigung tritt. Soviel ich auch getäuscht werde, niemals könnte der Täuscher bewirken, daß ich nichts sei, wenn ich denke, daß ich etwas bin. In dieser Formel bestätigt sich im Denken das Ich und zwar, wie schon Kant sagt, tautologisch. Der Zweifel an allem, als negative Form der Selbstanwendung, führt zum Widerspruch. Das Denken, das das Ich voraussetzt, als positive Form der Selbstanwendung, führt zur Selbstbestätigung. So möchten wir behaupten, daß die systematische Form des Zweifelsbeweises die Selbstanwendung ist. Von diesem Blickpunkt aus zerfällt der ganze Beweis in zwei Denkbewegungen. Der Ansatz zur ersten ist im Urteil: 1
H. Scholz, Kantstudien, X X X V I , S . 1 3 2 .
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II. Logik der Selbstanwendung
Ich zweifle an allem, enthalten. Dieses Urteil wird in der Selbstanwendung erprobt und erweist sich als Widerspruch. Denn es heißt schließlich: Ich zweifle an meinem Zweifel. Der Ansatz zur zweiten Denkbewegung behauptet : wenn ich auch an allem zweifeln will und wenn mich jemand über alles täuschen würde, so könnte er nichts an meinem Sein ändern, solange ich denke. Auch diese Tatsache wird in der Selbstanwendung erprobt. Solange ich an mein Denken oder mein Zweifeln denke, bin ich in dieser positiven Selbstzuwendung ein seiender. Und diese Erkenntnis wird schließlich im Satze: cogito, ergo sum, formuliert. Nim war die von Descartes aufgestellte Systematik nicht rein. Er untersuchte sie nicht für sich, sondern durch sie wollte er die Grundlegung der Philosophie geben, die die Aufgabe hat, das Dasein Gottes und die Seele zu untersuchen und unter unangreifbare Beweise zu stellen. So muß Descartes in den Mittelpunkt seiner Systematik die Suche nach dem Kriterium stellen. Denn nicht jede Selbstanwendung eines Begriffes führt zum Ziel und schafft einen unerschütterlichen Punkt. Diese Erkenntnis fordert ein Kriterium, kraft dessen der unerschütterliche Punkt bewiesen werden kann. Descartes, und nicht nur er, sondern Kant und Husserl wollen eine beweisbare, durch ein Kriterium demonstrierbare philosophische Erkenntnis. Aber nur Descartes hat klar erkannt, daß ein solches Kriterium aus keiner anderen Wissenschaft und auch nicht aus der Logik genommen werden kann. So stellt er dem Denken die Aufgabe, sich dieses Kriterium selbst zu schaffen. Die Selbstanwendung des Denkens auf sich selbst erweist das Kriterium. Die Nachfolger in der Idee der Philosophie als strenger Wissenschaft greifen auf die Aristotelische Logik zurück und verschütten damit die Erkenntnis Descartes', daß es eine Systematik des Denkens gibt 1 , die nicht auf die Gesetze der Aristotelischen Logik zurückgeführt werden kann. Das war die Situation, aus der heraus Descartes uns den Entwurf einer Systematik der Selbstanwendung der Begriffe auf sich gegeben hat. Aber sie zwang ihn, eine bestimmte Selbstanwendung des Begriffes, den Zweifel an allem und am eigenen Denken, abzulehnen. Das tut Descartes und er gewinnt damit als negatives Kriterium die Unmöglichkeit des Selbstwiderspruches. Von diesem negativen Kriterium aus ergibt sich als positive Erkenntnis das Selbstdenken des Ich. Kant hat gefunden, daß das «cogito, ergo sum in der Tat tautologisch ist, indem das cogito (sum cogitans) die Wirklichkeit unmittelbar aussagt2.» Hier ist aber verkannt, was Descartes will. Die Tautologie des cogito, ergo sum gewinnt ihre Bedeutung im Rückblick auf den Selbstwiderspruch. Der Zweifel an allem und der daraus resultierende 1
An mehreren Stellen hat Descartes ausgesprochen, daß er eine solche von der Aristotelischen Logik unabhängige Systematik anstrebt. 2 A 355.
6. Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel
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Selbstwiderspruch wird zur Grundlage der ersten (tautologischen) Erkenntnis. Das hat allein Descartes erkannt. Vollzug des Selbstwiderspruches und Ablehnung des Widerspruchs als A n f a n g der Philosophie begründen die Erkenntnis. Kant und Husserl sind von dieser Linie nicht abgewichen. Aber Descartes versucht die Ablehnung des Selbstwiderspruches aus dem Denken selbst zu begründen. Diese Aufgabe hat allein Descartes sich gestellt. Für Kant war die Tatsache der Antinomien Grund genug, von einer Grenze der Erkenntnis zu sprechen; für Husserl ist die Tatsache, daß die psychologistische Begründung zu Widersprüchen führt, Grund genug, sie abzulehnen. Denn die Philosophie als strenge Wissenschaft kann sich nicht auf Widersprüchen aufbauen. Geht man mit Descartes zurück bis zum Selbstwiderspruch des Skeptikers und vergleicht damit die heutige Lage der Philosophie, so wird man erkennen, daß dieses Problem eine neue Bearbeitung fordert. Unmittelbar an die Descartessche Darstellung und Ablehnung des Selbstwiderspruchs läßt sich die systematische Frage anknüpfen. Descartes läßt den Zweifel an allem darin enden, daß der Zweifel nicht an seinem Ich und Denken zweifeln kann. Dies sei unmöglich. Descartes hat die Unmöglichkeit nicht genauer bestimmt, er beschreibt nur den Zweifel an allem und läßt gleichsam aus einem Selbstdialog das Wissen um sie heraus entstehen. Nim kann man aber die formal-logische Unmöglichkeit eines Zweifels an allem und am eigenen Zweifel zugeben und dennoch glauben, daß dieser Zweifel an allem realisiert werden kann. Der Einwand, daß ein solcher Zweifel unsinnig ist, besagt nichts. Es gibt unsinnige Gedanken und Denkbewegungen. Man wird die Möglichkeit eines solchen Zweifels sogar zugeben müssen, wenn man bedenkt, daß Descartes und die Skeptiker ihm Ausdruck verliehen haben. Man kann gewiß sein, daß ein Selbstwiderspruch aus der Systematik der Logik und des logischen Denkens ausgeschaltet werden muß. Gerade dann entsteht aber die Frage, in welchem Sinn der Widerspruch Bestand hat. Das Verständnis dieses Problems ist uns außerordentlich erschwert durch die Kantische Entscheidung, wonach der Widerspruch (Antinomien) eine Grenze der Erkenntnis ist. Descartes hat hier weit richtiger gesehen. Er läßt den Selbstwiderspruch aus der Anwendimg des Zweifels auf sich selbst entstehen und verbindet damit die Selbstbestätigung des cogito, ergo sum. Hier tritt deutlich hervor, daß es ein und derselbe systematische Denkvollzug ist, der den einen Begriff zum Widerspruch und den anderen zur Tautologie führt. Allerdings hat Descartes behauptet, daß dieser Widerspruch unmöglich ist. In der Tat ist ein solcher Widerspruch formal-logisch unmöglich, aber niemand wird bestreiten, daß der Zweifel an allem als bloße Gedankenassoziation bis zu dem Punkt: ich zweifle auch an meinem eigenen Zweifel, durchgeführt werden kann.
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II. Logik der Selbstanwendung
Descartes hat geleugnet, daß ein solcher Gedankenvollzug die Grundlage für sichere Erkenntnis abgeben könne und behauptet, daß derselbe Gedankenvollzug in positivem Sinn zum cogito, ergo sum und der Grundlage aller Erkenntnis führt. Aber auch das ändert nichts daran, daß es sich zwar um verschiedene Begriffe, aber um dieselbe systematische Anwendung dieser Begriffe auf sich selbst handelt. Von diesen Erwägungen aus erhält die Behauptung, daß Descartes den Entwurf einer Systematik des r e i n e n Denkens gegeben hat, ihren Sinn. Er hat das Prinzip des reinen Denkens, die Selbstanwendung von Begriffen auf sich, an zwei Beispielen durchgeführt. Damit hat er zwei G r u n d f o r m e n des reinen Denkens aufgegriffen. Auch war ihm klar, daß diese Grundformen V o r f o r m e n alles systematischen Denkens überhaupt sind. Aus ihnen heraus läßt sich die Systematik des Denkens entwickeln. Descartes aber hat sich nur um den einen, den positiven Teil dieser Systematik bekümmert. Hier setzt ein Vorurteil ein, das folgenschwer von dann ab über der Geschichte der Philosophie hängt und auch alle Geisteswissenschaften bedrückt hat. Es ist die Idee, daß strenge Wissenschaft nur möglich sei als Erkenntnis von widerspruchsfreien Gebilden, Gedanken und Beziehungen. Zwar hat die Praxis mancher Wissenschaften dieses Fundament verlassen. Wenn etwa in der Psychologie von der Liebes-Haßbeziehung gesprochen wird, wenn die Nationalökonomie gezwungen ist, den Gegensatz von Klassen und Interessen zu untersuchen, wird anerkannt, daß Beziehungen zwischen widersprechenden Güedern bestehen. Aber noch steht einer reinen Systematik des Widerspruchs das Verdikt der formalen Logik entgegen, die den Widerspruch als denkwillkürliches und logisch-unmögliches Gebilde ansieht. Eben dies meint wohl auch Descartes, wenn er im Zweifelsbeweis zeigen will, daß der sich selbst widersprechende Zweifel unmöglich ist. Andererseits aber ist gerade nach ihm das cogito, ergo sum die K o n s e q u e n z des Widerspruches. Hier ist also das Phänomen des Widerspruchs schon eingebaut in ein systematisches Denken. Ähnlich verhält es sich mit der Kantischen Antinomientheorie. Auch sie gibt dem Widerspruch einen Platz im Denken. Bei beiden aber scheint es, als ob der Widerspruch aus einem Denken kommt, das seine eigenen Regeln überschreitet, wobei unter den eigenen Regeln des Denkens stillschweigend und gleichsam selbstverständlich die Regeln der formalen Logik verstanden werden. Nun ist es aber ganz offenbar, daß unser Denken noch anderen Regeln folgt. Bewegimg und Fortschritt unseres Denkens folgt nicht allein den Gesetzen der formalen Logik. Wenn der Widerspruch aus dem Denken entsteht, so müßte er folglich auch aus gewissen Regeln des Denkens heraus zu verstehen und systematisch darzustellen sein. Eine solche Systematik aber hat man für unmöglich ge-
6. Der Zweifelsbeweis des Descartes als Beispiel
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halten und das ist wohl der Hauptgrund, warum sie nicht versucht wurde. Aber die Erkenntnis und Systematik der widerspruchsvollen Beziehungen ist zunächst eine Frage der Erkenntnis von Tatbeständen. Mit ihrer These von der Existenzunmöglichkeit und der Denkwillkürlichkeit der Widersprüche hat die formale Logik den Weg zu der Tatbestandserkenntnis versperrt. Wer eine Systematik der Widersprüche versucht, muß die Idee der Logik erweitern. Denn es hat nur Sinn, eine Systematik der Widersprüche aufzustellen, wenn diese nicht aus dem freien Spiel des Geistes entstehen, sondern selbst bestimmten Regeln folgen. Folgt der Widerspruch aber gewissen Regeln, unterwirft er sich einer bestimmten Systematik, so folgt er auch einer Logik. Mit Recht läßt sich vom Descartesschen Beweis sagen, daß er ein strenger Beweis ist. Das Beweismittel ist die Selbstanwendung. Wo sie negativ wird und sich selbst widerspricht, gilt sie als unerlaubt, wo sie positiv ist und möglich (tautologisch) ist, gilt sie als Beweis eines Seins. Es wäre falsch diese Systematik als logische im Sinn der formalen Logik verstehen zu wollen. Zu deutlich ist der Unterschied zwischen der Descartes vorschwebenden Systematik und der Systematik der formalen Logik. Die letztere setzt unterschiedene Begriffe voraus, die zu Urteilen verbunden werden können. Nach bestimmten Regeln können weiter verschiedene Urteile wieder zu Schlüssen verbunden werden. Die Kriterien geben an, wann die Verbindungen zulässig sind, und wann sie nicht zulässig sind. Descartes aber geht von einem einzigen Urteil aus, und dieses Urteil behauptet die unbeschränkte Anwendung eines einzigen Begriffs, des Zweifeins. Durch das Mittel der Selbstanwendung entwickelt Descartes dieses Grundurteil, und im Lauf dieser Entwicklung stellt sich das Kriterium ein. Negativität oder Positivität der Selbstanwendung entscheiden über Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Gedankengangs. Descartes hat hin und wieder behauptet, daß er eine neue Methode des Denkens gefunden habe, und in einem Punkt muß man diesem Anspruch zustimmen. Er hat eine Methode des Denkens neu und streng dargestellt. Aber ist diese Methode selbst neu? Finden sich nicht im dialektischen Denken der Antike, im ontologischen Gottesbeweis des Mittelalters schon alle Momente dieser Methode ? Nun hat Descartes aber den größten Wert darauf gelegt, seine Methode Satz für Satz streng aus einem ersten Satz abzuleiten. Nicht daß dabei unbedingt neue Ergebnisse gefunden werden sollen. Im Brief an die Sorbonne erklärt Descartes, daß er der Meinung sei, daß fast alle Gründe, die in den Fragen der Existenz Gottes und der Trennung der menschlichen Seele vom Körper beigebracht worden sind, Beweiskraft besitzen, und daß man kaum Gründe anführen könne, die nicht schon früher von irgend einem
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II. Logik der Selbstanwendung
anderen gefunden worden wären. Seine Aufgabe sei es, die besten von allen sorgfältig zusammenzusuchen und so scharf darzustellen, daß es in Zukunft allgemein feststeht, daß sie Beweise sind. Descartes leugnet also nicht, daß er alte Beweise bringt und alte Ergebnisse darstellt. Aber er will sie in einer strengeren und reineren Form bringen. Versteht man Descartes hier richtig und darf man diesem Brief trauen, dann liegt der Anspruch der Descartesschen Arbeit in der reinen und strengen Darstellung der philosophischen Methode. Dann ist die Methode alt, weil sie von jeher geübt wurde, und neu nur in dem Sinne, daß sie von Descartes bewußt rein und streng, d. h. kritisch gebraucht wird. Neuartig ist die geschlossene Darstellung und Entwicklung der Methode aus dem Prinzip des Zweifeins. Diese Entwicldung wollte Descartes vom aristotelischen Syllogismus abgehoben wissen. An mehreren Stellen verwahrt sich Descartes gegen das Verfahren des Syllogismus. Immer ist sein Haupteinwand dieser, daß der Syllogismus (und die Logik) nur Wahrheiten erschließen kann, die vorher schon vom Denken gefunden sind. Im Gegensatz dazu soll seine Methode «den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch und gleichsam a priori gefunden worden ist» zeigen 1 . Und ausdrücklich hat er bekannt, daß er in den Meditationes diesen Weg gegangen ist. Descartes will beides vereinen; einerseits soll streng Satz um Satz aus dem Vorhergehenden abgeleitet werden und andererseits soll nicht syllogistisch durch Deduktion eines neuen Urteils aus gegebenen Obersätzen verfahren werden. Er greift, wie gezeigt wurde, zu dem Mittel, einen Anfangsbegriff auf sich selbst anzuwenden. Doch ist damit die Methode noch nicht streng. Sie kann nicht beweisen. Erst durch die Einführung eines Kriteriums erhält sie Beweiskraft. In diesem Punkt ist Descartes zum Vorbild Kants und Husserls geworden. Immer wieder hat die Bemühung um eine strenge, wissenschaftliche Methode zur Festsetzung eines Kriteriums geführt. Descartes zieht sein Kriterium aus der Selbstanwendung des Zweifelsbegriffes auf sich selbst. Sie ist unmöglich; ich kann nicht, wenn ich zweifle und in allem getäuscht würde, an mir zweifeln. Das ist der Sinn seiner Argumentation. Woher aber weiß Descartes, daß ich nicht auch an mir zweifeln kann? Kann ich nicht den Alleszweifel konsequent durchführen und auch an meinem Zweifel zweifeln? Kann der Zweifel in mir nicht auch daran zweifeln, daß i c h zweifle? Ist es wirklich schlechthin unmöglich an allem zu zweifeln ? Oder ist es nur unter einer bestimmten Voraussetzung unmöglich ? Wer so fragt, wird erkennen, daß mit der Ablehnung des Zweifels an allem ein neues Moment in die Descartessche Systematik einspringt. Davon aber 1
Descartes, Meditationes de prima philosophia, Secundae Responsiones, S. 211.
Ausgabe Adam et Tannery, V I I S. 155.
7. Formen negativer Selbstanwendung
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hängt nun die Konstituierung des Kriteriums seiner Methode ab. Das Kriterium erst gibt die Möglichkeit den Trennungsstrich zwischen den beiden Formen der Selbstanwendung eines Begriffes auf sich selbst zu ziehen. Unmöglich ist der Zweifel an allem aber nur von einem wissenschaftlichen, klaren und distinkten Denken her. Denn der Zweifel an allem führt zum Selbstwiderspruch und dieser hat im wissenschaftlichen Denken keinen Platz. An dieser Stelle biegt Descartes wiederum in die aristotelische Logik und Ontologie ein, indem er den Widerspruch als seinsunmöglich behauptet. Auch darin sind ihm Kant und Husserl gefolgt. Sie alle wollten aus der philosophischen Systematik die Widersprüche ausgeschaltet wissen und verlangten von der strengen Methode, daß sie Widersprüche lösen und als Truggebilde entlarven könne. In den beiden ersten Meditationen hat Descartes die Methode der Selbstanwendung eines Begriffes auf sich in aller Strenge durchgeführt. Damit hat er den Grund gelegt zur Erkenntnis der Bewegung des Denkens. Denn die von Descartes gesuchte Methode war ein reines, vom erfahrungswissenschaftlichen wie mathematischen Denken gleich unabhängiges Verfahren. Jenes Verfahren nämlich, dessen sich das Denken bedient, wenn es voranschreitet. Diese Bewegung des Denkens, das sich nicht an der Erfahrung noch an der Logik entlang tastet, hielt er für die Grundbewegung des philosophischen Denkens. Es war schon Descartes' Erkenntnis, daß sich in ihr eine Systematik verbirgt. Aber über den Descartesschen Entwurf hinaus hat man an dieser Systematik nicht gearbeitet. Die Ausarbeitung dieser Aufgabe trat immer wieder zurück hinter der Darstellung der Aristotelischen Logik, die man nicht nur zur Grundlage des erfahrungswissenschaftlichen und mathematischen, sondern des Denkens überhaupt machen wollte. 7. F O R M E N D E R N E G A T I V E N
SELBSTANWENDUNG1
a) Antike Selbstwidersprüche Schon der Antike war die Form der negativen Selbstanwendung bekannt2. Sie hat entdeckt, daß gewisse Aussagen sich selbst widersprechen und damit sich selbst aufheben. Die antiken Beispiele gehen — mit Ausnahme der Zenonischen Paradoxien der Bewegung — auf zwei Grundformen zurück. Die eine ist am Beispiel des Kreters Epemenides, die andere am Beispiel des Ephatlus und seines Prozesses ersichtlich. Der Kreter Epemenides sagt: Alles, was die Kreter sagen, ist gelogen. Nun ist er aber selbst ein Kreter. Er trifft also mit seiner Aussage über alle 1
Vgl. dazu meine Arbeit im Philosophischen Anzeiger, II. B d . : Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbildung. 2 Die Literatur bei: A . Rüstow, Der Lügner. Erlangener Diss. Lpzg. 1910. 6
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II. Logik der Selbstanwendung
krctensischen Behauptungen sich selbst. Lügen alle Kreter, dann lügt auch er. Ist alles, was die Kreter sagen gelogen, dann ist auch seine Aussage lügnerisch. Dann ist also nicht wahr, daß alle Kreter lügen. Es muß also richtig heißen: Nicht alles, was die Kreter sagen, ist gelogen. Die Aussage des Kreters Epemenides hebt sich selbst auf. Ein anderes Beispiel ist das des Ephatlus. Ephatlus kommt zu einem Sophisten und bittet ihn um Unterricht in der Redekunst. Zugleich kommt er mit ihm überein, daß Ephatlus nur dann für den empfangenen Unterricht Honorar bezahlen soll, wenn er seinen erstenProzeß gewinnt. Darauf geht der Sophist ein. Als der Unterricht beendet ist, führt Ephatlus keinen Prozeß und bezahlt auch kein Honorar. Darauf verklagt der Sophist ihn auf Zahlung des Honorars. Findet dieser Prozeß statt und verurteilt der Richter Ephatlus, das Honorar an den Sophisten zu zahlen, so hat Ephatlus seinen ersten Prozeß verloren. Nach ihrer Übereinkunft muß er also trotz des Richterspruchs kein Honorar bezahlen. Befreit der Richter ihn von der Zahlung des Honorars, dann hat er seinen ersten Prozeß gewonnen und muß der Übereinkunft zufolge Honorar bezahlen. Gegenseitig heben sich hier also Richterspruch und Abmachung auf. Am Beispiel des Lügners ist die Selbstanwendung von vornherein damit gegeben, daß Epemenides als Kreter eine Aussage über alle Kreter ausspricht. Im zweiten Beispiel ist die Selbstanwendung versteckt. Erst durch die Komplikation, daß Ephatlus keinen Prozeß führt und sein Lehrer ihn verklagt, kommt es zur Selbstanwendung. Eine doppelte Selbstaufhebung ist die Folge. Der Urteilsspruch des Richters ist durch die Abmachung und die Abmachung wird durch den Urteilsspruch des Richters aufgehoben. Denn der Urteilsspruch des Richters, der ohnedies schon über Zahlung des Honorars entscheiden soll, fällt negativ unter sich selbst. Heißt der Spruch des Richters Zahlung, so bedeutet Zahlung für Ephatlus Verlust des Prozesses und damit Nichtzahlung. Heißt der Spruch des Richters Nichtzahlung, so bedeutet das für Ephatlus Gewinn des Prozesses und also Zahlung. Die Entscheidung des Richters kann man nur durch den negativ selbstanwendbaren Satz ausdrücken: Diese Entscheidung soll das Gegenteil dessen besagen, was sie verlangt. Aber auch die ursprüngliche Abmachung läßt sich nur durch eine negativ selbstanwendbare Formel ausdrücken: Über die Abmachung, daß Gewinn oder Verlust des ersten Prozesses über die Zahlung entscheidet, soll durch eben diesen ersten Prozeß entschieden werden. Das Augenscheinlichste an diesen Paradoxien ist der Widerspruch. Das Eigentümliche dieses Widerspruchs ist, daß er unmittelbar aus einem nicht von vornherein verdächtigen Urteil herausspringt. Die außerordentliche Schwierigkeit liegt darin, daß der Widerspruch offen daliegt und dennoch
7. Formen negativer Selbstanwendung
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nicht beseitigt werden kann. So ist es nicht verwunderlich, daß man versuchte ihn nach der Art eines falschen Urteils zu behandeln. Denn für gewöhnlich kennen wir Widersprüche als Widersprüche zweier Aussagen oder auch als Widerspruch zwischen einer Aussage und dem gemeinten Sachverhalt. Widersprüche dieser Art sind gelöst, wenn wir wissen, w e l c h e s Urteil oder w e l c h e Aussage das G e m e i n t e adäquat wiedergibt. Diese Widersprüche haben ihren Grund in einer absichtlichen oder unabsichtlichen Täuschung. Mit der Aufhebung der Täuschung wird der Widerspruch beseitigt. Nun wurden die antiken Paradoxien offenbar von der Antike selbst in dem Sinn verstanden, daß man Widersprüche systematisch erzeugen kann. Die Denkform der negativen Selbstanwendung auf sich selbst wird als Kunstgriff verwandt, mittels dessen sich Widersprüche entwickeln lassen. Bekanntlich haben die Sophisten dieses Verfahren für die Streitrede ausgenutzt. Der Gegner soll in Widersprüche verwickelt werden und sich damit selbst ad absurdum führen. Noch bis in unsere Zeit herauf hat den Paradoxien diese Verwendung angehangen und ihre Auffassung bestimmt. Man versteht sie, entsprechend dem Gebrauch, den die Sophisten von ihnen machten, als konstruktive und willkürliche Erzeugung von Widersprüchen. In diesem Zusammenhang muß der Widerspruch allzusehr in die Nähe des Widerspruchs, der durch irrtümliche oder lügnerische Aussagen zustande kommt, rücken. Er mag nur mehr noch als eine kunstvollere Abart zur Erzeugung von Widersprüchen erscheinen. In dem Maße als diese formale Seite in den Vordergrund tritt, geht die Möglichkeit, tiefer in den Sinn dieser Denkgebilde und Denkformen einzudringen, verloren. Es ereignet sich, was gelegentlich schon an der formalen Logik beobachtet werden kann. Die reinen Formen der Schlüsse etwa erscheinen dem, der nur das Formelhafte und nicht die tiefer liegenden Zusammenhänge sieht, als Spielereien. So erging es den Paradoxien. Man sah in ihnen Spielereien eines müßigen Verstandes. Indessen ist es die Voraussetzung, unter der die Selbstwidersprüche untersucht wurden, die der Denkform der negativen Selbstanwendung den spielerischen Charakter gab. Solange man von vornherein überzeugt ist, daß durch Widersprüche keine Einsicht oder Erkenntnis entstehen kann, ist auch keine Möglichkeit einer ernsthaften Untersuchung vorhanden. Bestenfalls kann man dann in den Selbstwidersprüchen absonderliche Formen falscher Erkenntnis sehen. So waren auch — mit Ausnahme der Zenonischen Paradoxien von der Bewegung — die sophistischen Beispiele gewählt und konstruiert. Die Bedeutung oder auch nur der Nachdruck, der dem Descartesschen Zweifelsbeweis anhaftet, fehlt ihnen. 6*
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I I . Logik der Selbstanwendung
b) Unendlichkeit des paradoxen Widerspruchs Die Ähnlichkeit zwischen paradoxen und einfachen Widersprüchen soll aber nicht geleugnet werden. Beide sind Widersprüche, doch sie sind Widersprüche von so grundverschiedener Art, daß es weder möglich ist einen Selbstwiderspruch so zu v e r s t e h e n wie einen einfachen Widerspruch, noch ihn ähnlich zu behandeln. Zunächst ist es ein formaler Unterschied, der besteht. Der widerspruchsvolle Satz: Dieses Tier ist kein Tier, widerspricht im Subjekt dem Prädikat. Ganz abgesehen davon, welchen Sinn dieser Satz möglicherweise hat, ist seine Form eine solche, daß im Subjekt das Prädikat negiert wird. In dem Satz: Alles, was ich sage, ist gelogen, ist dies nicht der Fall. Erst die Selbstanwendung bringt den Widerspruch. Wenn dieser Satz richtig ist, dann ist auch dieser Satz gelogen. Damit aber ist er falsch. W e n n dieser Satz also richtig ist, dann ist er falsch. Das Beispiel: Dieses Tier ist kein Tier, läßt sich formal einfach ausdrücken als: A = Non A. Aber die Aussage, alles was ich sage ist gelogen, stellt sich anders dar. Als erster Satz wird behauptet: (1)
A = B
Nim ist aber auch diese Aussage eine von meinen Aussagen. Es muß also heißen: (2)
(A = B) = B
Damit ist der Widerspruch gegeben. Denn es stellt sich heraus, daß (3)
(A = B) = B) = Non (A = B).
Es widersprechen sich nicht Subjekt und Prädikat, sondern die Selbstanwendung, die möglich und unmöglich ist. Dieser Widerspruch ist selbsterzeugt, ja man könnte ihn geradezu als selbstläufigen Widerspruch bezeichnen. An dieser Stelle sei auf eine Eigenschaft hingewiesen, die manchen Paradoxien eigentümlich ist. Der einfache Satz «Ich lüge» soll als selbstanwendbarer Satz gemeint sein. Ich lüge, heißt: ich lüge jetzt und in diesem Augenblick. Wenn ich jetzt und in diesem Augenblick lüge, dann ist das, was ich in diesem Augenblick sage, nicht wahr. Es kann also nicht wahr sein, daß ich lüge. Der Satz «Ich lüge» hebt sich selbst auf und führt in der eben gezeigten Form zum Selbstwiderspruch. Doch braucht man in diesem Beispiel nicht bei der einmaligen Selbstaufhebung stehen zu bleiben. Wenn ich jetzt und in diesem Augenblick lüge, so ist nicht wahr, daß ich lüge und also spreche ich die Wahrheit.
7. Formen negativer Selbstanwendung
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Denn nach dem Gesetz: duplex negatio est affirmatio, ist das Lügen einer Lüge die Wahrheit. Diese Aussage ist aber nun wiederum selbstanwendbar. Ich lüge, soll nicht wahr sein und wahr sein soll, daß ich die Wahrheit spreche. Ich spreche also die Wahrheit, indem ich sage: ich lüge. Dann muß aber wahr sein, was ich sage. Ich habe gesagt, daß ich lüge. Dies muß wahr sein. Also ist wahr, daß ich lüge. Das schließt nun aus, daß ich die Wahrheit spreche und also kann nicht wahr sein, daß ich die Wahrheit spreche. Wir brechen an dieser Stelle ab. Einem unendlichen Dezimalbruch ähnlich läßt sich dieser Widerspruch ins Unendliche fortführen. Er nimmt die Form an: Aus A folgt Non A , aus Non A folgt A , aus A folgt Non A Auf diese Weise entsteht eine Folge von Widersprüchen. Dieses Paradoxon bleibt nicht bei einer einmaligen Selbstaufhebung stehen. Das Paradoxon des Kreters Epemenides bleibt nach der ersten Selbstaufhebung stehen. Wenn Epemenides sagt: Alle Kreter lügen und damit diesen Satz verneint, so folgt daraus, daß nicht alle Kreter lügen. Das aber ist nicht gleichbedeutend mit: Alle Kreter sprechen die Wahrheit. Wäre dieser Schluß erlaubt, so käme es auch hier zu einem unendlichen Widerspruch. Denn wenn alle Kreter die Wahrheit sprechen, dann wäre auch wahr, was Epemenides sagt und also wäre wahr: Alle Kreter lügen. Das Wesen des unendlichen Widerspruchs liegt darin, daß die selbstaufhebende Selbstanwendung z u g l e i c h eine selbstbestätigende Selbstanwendung ist. Wenn der Satz «ich lüge» gilt, dann hebt er sich selbst auf. Wenn er sich aber selbst aufhebt, dann gilt er und bestätigt sich damit selbst. Dieser ins Unendliche fortlaufende Selbstwiderspruch zeigt die negative Selbstanwendung in ihrer vollkommensten Form. Die nach diesem Schema sich bildenden Paradoxien sind r e i n e Formen negativer Selbstanwendung. c) Die Unendlichkeit des Widerspruchs in modernen Beispielen In der Neuzeit wurden Paradoxien entdeckt, die die strenge Form des unendlichen Selbstwiderspruchs aufweisen. In der von Cantor begründeten Mengenlehre, einem Zweig der Mathematik, zeigten sich Paradoxien 1 . Wohl das Bekannteste ist das Paradoxon von der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Dieses Paradoxon läßt sich auch ohne Kenntnis der Mengenlehre verstehen. Man kann unterscheiden zwischen Mengen, die sich selbst enthalten und Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Weiterhin kann man sich die Menge all der Mengen denken, die sich nicht selbst enthalten. Auch diese Menge muß sich entweder selbst enthalten oder nicht selbst enthalten. Nur eins 1 Ein ausführliches Literaturverzeichnis bei Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre. 3. Aufl. 1928.
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I I . Logik der Selbstanwendung
von beiden ist möglich. Es ist also die Frage, ob die Menge all der Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sich selbst enthält oder nicht enthält. Ist die Menge, in der alle Mengen zusammengefaßt sein sollen, die sich nicht enthalten, eine selbstenthaltende oder eine nichtselbstenthaltende Menge? Gesetzt den Fall, diese Menge enthält sich nicht selbst. Dann ist sie eine sich nicht selbstenthaltende Menge. Gemäß der Definition aber ist sie a u c h die Menge a l l e r Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Sie selbst ist auch von dieser Art. Dann müßte sie sich doch selbst enthalten. Wenn die Menge sich nicht selbst enthält, dann muß sie sich selbst enthalten, weil sie alle sich nicht selbst enthaltenden Mengen enthält. Es sei der andere Fall gesetzt, daß sich diese Menge enthält. Dann enthält die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sich selbst. Sie enthält aber nur Mengen, die sich nicht selbst enthalten. So kann man nunmehr formulieren: Wenn die Menge aller sich selbst nicht enthaltenden Mengen sich selbst enthält, dann ist sie eine Menge, die sich nicht selbst enthält. Ohne Schwierigkeit läßt sich aus dem letzten Satz ein unendlicher Widerspruch entwickeln. Wenn die Menge aller sich nicht selbst enthaltenden Mengen sich selbst enthält, dann enthält sie sich nicht selbst. Wenn sie sich aber nicht selbst enthält, dann muß sie sich selbst enthalten. Denn sie ist ja die Menge aller sich nicht selbst enthaltenden Mengen. Ins Unendliche läßt sich der Widerspruch: Aus der Tatsache, daß die Menge sich selbst enthält, folgt, daß sie sich nicht selbst enthält, aus der Tatsache, daß sie sich nicht selbst enthält, folgt, daß sie sich selbst enthalten muß entwickeln. Von Nelson und Greiling 1 wurde ein Paradoxon entwickelt, daß das von Rüssel aufgestellte Paradoxon des «Imprädikabel» verbessert. Es wird unterschieden zwischen den Worten, denen ihre eigene Bedeutung zukommt und denen ihre eigene Bedeutung nicht zukommt. Das Wort «kurz» z. B. ist ein kurzes Wort. Das Wort «drei-sil-big» ist ein Wort, das drei Silben hat. Also kommt beiden Worten ihre eigene Bedeutung zu. Alle Worte, denen ihre eigene Bedeutung zukommt, sollen autologisch heißen. Das Wort «gläsern» ist selbst nicht aus Glas. Das Wort «lang» ist selbst kein langes Wort. Beiden Worten kommt die eigene Bedeutung nicht zu und solche Worte sollen heterologisch heißen. Dieser Definition zufolge müssen alle Worte entweder autologisch oder heterologisch sein. Sind sie nicht autologisch, dann sind sie ganz von selbst heterologisch, sind sie nicht heterologisch, dann müssen sie autologisch sein. Ist nun das Wort heterologisch selbst autologisch oder heterologisch? Ist es ein autologisches Wort, dann kommt ihm seine eigene Bedeutung zu. Seine eigene Bedeutung ist heterologisch. Dann ist es also auch hetero1 Nelson-Greiling, Bemerkungen zu den Paradoxien von Rüssel u. Burali-Forti. Abhandlungen der Fries'schen Schule. N . F . 2. 1908. S. 3 0 1 — 3 3 4 .
7. F o r m e n negativer S e l b s t a n w e n d u n g
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logisch. Das Urteil: Das Wort heterologisch ist autologisch, hebt sich also selbst auf. Ist nun aber das Wort heterologisch heterologisch, dann kommt ihm seine eigene Bedeutung zu und also ist es autologisch. Auch dieses Urteil hebt sich selbst auf. Ein unendlicher Widerspruch entsteht. Ist das Wort heterologisch heterologisch, dann ist es autologisch, ist es autologisch, dann ist es heterologisch Der Form nach ist an diesen Paradoxien gegenüber den antiken nichts Neues. Die Aussage des Lügners und die Abmachung des Ephatlus ergeben in der Selbstanwendung formal dieselben Schwierigkeiten wie die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten und die Bedeutung heterologisch. Der Gehalt der Paradoxien hat sich aber verändert; die neueren Paradoxien sind bedeutungsschwerer. Im Paradoxon von der Menge aller sich nicht selbst enthaltenden Mengen stieß die Mathematik unmittelbar in einer ihrer Disziplinen auf die paradoxe Struktur. Diese in der Mengenlehre auftretende Schwierigkeit wurde Gegenstand einer umfangreichen Literatur mathematischer und philosophischer Art. Neue Paradoxien der Mengenlehre wurden entwickelt. Das Paradoxon «Heterologisch» und das Russeische Paradoxon «Imprädikabel» wiesen dieselbe Struktur wiederum im nichtmathematischen Denken nach. So erhielt das Paradoxon eine objektive Form. Es wurde immer klarer, daß die paradoxe Struktur ein berechtigtes Problem einschließt. Konnte man bei den antiken Paradoxien noch glauben, daß die paradoxe Struktur ein Phänomen sei, das nur im Gebiet gewisser menschlicher Reden und Abmachungen auftritt, so zeigen die neueren Paradoxien, daß auch die wissenschaftlichen Aussagen und Erkenntnisbemühungen in die Denkform der negativen Selbstanwendung geraten können. Es gestaltete sich ein einheitliches Grundproblem, das folgende Alternative ergab: Entweder sind die Paradoxien sinnlose und fehlerhafte Gebilde des Denkens, und dann müssen sie aufgelöst und als Täuschung erkannt werden. Oder aber sie sind von einer tieferen Bedeutung und dann ist der Widerspruch mehr als eine Denkentgleisung oder willkürliche Denkkonstruktion. Mit jeder Feststellung nach dieser Seite hin gerieten aber auch die logischen Gesetze, insbesondere der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und der Satz vom Widerspruch, in Gefahr. Zusammenhängend mit diesen Erkenntnissen entstanden neue Versuche, das Problem der Paradoxien zu klären. Das hieß also entweder die Paradoxien zu beseitigen oder ihren positiven Gehalt nachzuweisen. An der Beseitigung der Paradoxien waren vor allem die Mathematiker interessiert. Die Grundlagen ihrer Wissenschaft, nämlich die Unmöglichkeit des Widerspruchs und die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, schienen in Gefahr. Zwei Momente, die allen Selbstwidersprüchen eigen sind, leisten einer einfachen Beseitigung des Widerspruchs Widerstand. 1. Die
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II. Logik der Selbstanwendung
Selbstwidersprüche entstehen zwangsläufig und unentrinnbar, w e n n erst einmal eine bestimmte Aussage getroffen oder ein bestimmtes Verhältnis definiert ist. 2. Die Selbstwidersprüche sind nachträglich nicht durch Feststellung eines wirklichen eindeutigen Sachverhaltes korrigierbar. Bedenkt man diese beiden Momente, so wird man den Weg verstehen, auf den die Versuche zur Beseitigung der Widersprüche gewiesen werden. War eine Auflösung des Widerspruchs unmöglich, so mußte man dafür sorgen, daß nicht erst Denkgebilde entstanden, die zu einem Selbstwiderspruch führen konnten. So formulierte Zermelo für das Gebiet der Mengentheorie Axiome, die die Bildung paradoxer Mengen verhindern1. Damit waren die Paradoxien aus dem Zweig der Mathematik, indem sie gefunden wurden, heraustransportiert. Aber man konnte nicht sicher sein, daß nicht in anderen Gebieten der Mathematik Widersprüche unerkannt verborgen waren. Auf drei Wegen hat man versucht, die Bildung von Denkgebilden, die zu Selbstwidersprüchen führen können, überhaupt zu verhindern. Der älteste Weg ist der Russeische. Rüssel hat das circulus vitiosus Axiom aufgestellt. Er lehnt alle Aussagen ab, die in der Voraussetzung eine Gesamtheit setzen, unter die sie selbst fallen. Nicht nur die negative sondern auch die positive Selbstanwendung wäre danach unzulässig. Zweifellos sind dann auch Aussagen unerlaubt, die keinen Widerspruch erzeugen. Die Aussage: Alles, was ich sage, ist wahr, setzt auch eine Gesamtheit voraus, unter die sie selbst fällt. Jedoch entsteht daraus kein Widerspruch. Ebenso setzt die Aussage: Alles, was ich denke, ist von mir gedacht, eine Gesamtheit unter die sie selbst fällt. Aber sie führt zu keinem Widerspruch, sondern zu tautologischen Urteilen. Der zweite Weg wurde von Hilbert beschritten. Ihm schwebte vor allem die Aufgabe vor, das ganze Gebiet der Mathematik gegen die Gefährdung durch den Widerspruch zu sichern. Er schuf eine Methode der Widerspruchsfreiheitsbeweise, die das ganze Gebiet der Mathematik vor Paradoxien sichern soll. Eine dritte Richtung vertrat Brouwer durch seinen Intuitionismus in der Mathematik. Prinzipiell unterscheidet er sich von dem Russeischen und Hilbertschen Weg durch die Aufgabe des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, für den noch durch die Hilbertsche Methode ein Beweis versucht wurde2. Auch die Konsequenz, daß damit ein Teil der uns bekannten Mathematik hinfällig wird, zieht Brouwer. Seine Auffassung von den Paradoxien wendet sich ab von der Meinimg, daß die Paradoxien «Denkfehler» seien. Doch läuft sie letzten Endes mehr auf eine Kritik derMathematik als aufeine positive Erfassung des Widerspruchs hinaus3. 1
E . Zermelo: Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre, I. Mathem. Annalen L X V , S. 2 6 1 — 2 8 1 . 2 Ackermann, Mathem. Annalen 93, S. i f f . 3 Die Literatur bei Fraenkel. V g l . auch Becker, Mathematische Jahrbuch für Philosophie und phänom. Forschung V I I I , S. 437.
Existenz.
7. Formen negativer Selbstanwendung
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d) Negative Phänomene als Grundlage der Selbstwidersprüche Der eigentliche Fehler, den man leicht begehen kann, sofern man den Selbstwiderspruch beseitigen will, ist die Annahme, daß der Selbstwiderspruch Aufhebung der Erkenntnis bedeutet. Der Widerspruch, der aus einer absichtlichen oder unabsichtlichen Täuschung erwächst, ist allerdings ein erkenntniswidriges Denkgebilde. Das oben gebrachte Beispiel «Dieses Tier ist kein Tier» kann ein Widerspruch durch Täuschung sein. In diesem Fall bedeutet die Auflösung des Widerspruchs Entscheidung zwischen den beiden Sätzen: Dieses ist ein Tier, und, Dieses ist kein Tier. Es kann sein, daß ein Gegenstand für ein Tier gehalten wurde, der in Wirklichkeit kein Tier ist. Umgekehrt wäre es denkbar, daß ein Tier für einen anderen Gegenstand gehalten wurde. Man könnte die Täuschungswidersprüche auch vermeintliche Widersprüche nennen. Widerspruchsvoll sind sie im Vermeinen, doch der vermeinte Sachverhalt ist eindeutig. Der vermeintliche Widerspruch ist gelöst, wenn der gemeinte Tatbestand als eindeutiger nachgewiesen wird. In den Selbstwidersprüchen gehört aber das Vermeinen mit zum vermeinten Tatbestand. Wenn der Lügner sagt «Alles, was ich sage, ist gelogen» trifft diese Aussage sich selbst. Die Disjunktion heterologisch autologisch ist eine Disjunktion, die für alle Worte gilt, und also fällt sie unter sich selbst. Die aus der negativen Selbstanwendung entstehenden Widersprüche lassen sich deswegen nicht durch den Tatbestand eindeutig machen, weil der gemeinte Tatbestand selbst der Widerspruch ist. Wie hinter den vermeintlichen Widersprüchen ein eindeutiger Tatbestand liegt, so gehört bei den Selbstwidersprüchen der Widerspruch mit zum Tatbestand. Also ist eine Auflösung vom Tatbestand aus unmöglich. Ein konkretes Beispiel zeigt am besten, wie das zu verstehen ist. Zu diesem Zweck soll ein Beispiel eines Selbstwiderspruchs konstruiert werden, das leicht zu durchschauen ist. Man kann unterscheiden zwischen Menschen, die ihre Prozesse selbst führen, und solchen, die ihre Prozesse nicht selbst führen. Der Rechtsanwalt werde definiert als der Mann, der alle und nur die Prozesse der Leute führt, die ihre eigenen Prozesse nicht selbst führen. Ist nun der Rechtsanwalt selbst eine Person, die ihre eigenen Prozesse selbst oder nicht selbst führt? Der Definition zufolge ist der Rechtsanwalt ein Mann, der nur die Prozesse derjenigen führt, die sie nicht selbst führen. Also kann er seine eigenen Prozesse nicht führen. Eben derselben Definition nach ist der Rechtsanwalt aber auch ein Mann, der alle Prozesse derjenigen führt, die sie nicht selbst führen. Danach muß er seinen eigenen Prozeß führen, wenn er ihn nicht selbst führt. Er kann ihn aber selbst nicht führen, weil er nur die Prozesse derjenigen führt, die ihre Prozesse nicht
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II. Logik der Selbstanwendung
selbst führen. Es entsteht ein unendlicher Widerspruch. Führt er seinen Prozeß nicht selbst, dann muß er ihn selbst führen, führt er ihn aber selbst, dann kann er ihn nicht selbst führen, kann er ihn nicht selbst führen, dann muß er ihn selbst führen Die zugrundeliegende Disjunktion hebt sich selbst auf: Der nichtselbstzuführende Prozeß ist ein selbstzuführender, der selbstzuführende Prozeß ist ein nichtselbstzuführender Der so definierte Rechtsanwalt könnte Prozesse für andere führen. Hinsichtlich seiner eigenen Prozesse wäre er in einen Widerspruch verwickelt. Er müßte sie gleichzeitig führen und dürfte sie andererseits nicht führen. Es bleibt prinzipiell zweideutig, ob er seine eigenen Prozesse nun führt oder nicht führt. Nun kann man dieser und allen ähnlichen Definitionen den Widerspruch nehmen. Definiert man den Rechtsanwalt als die Person, die die Prozesse aller a n d e r e n Menschen führt, die ihre Prozesse nicht selbst führen, so beschränkt sich schon die Definition ausdrücklich auf die Prozesse anderer. Damit ist der selbstaufhebende Widerspruch weggenommen, aber die prinzipielle Zweideutigkeit bleibt bestehen. Denn von seinen eigenen Prozessen steht auch jetzt nicht fest, ob er sie selbst führt oder nicht selbst führt. So hat man zwei Arten selbstanwendbarer negativer Definitionen zu unterscheiden. Im einen Fall hebt sich die negative Definition selbst auf, im anderen Fall ist sie nicht entscheidbar und zweideutig. Widerspruch und Zweideutigkeit gehen aber nur die Selbstanwendung an. Abgesehen von der Selbstanwendung hat die Definition ihren guten Sinn. Aber dieser Sinn ist nicht aus der Selbstanwendung zu erfahren, in ihr tritt nur der Widerspruch oder die Zweideutigkeit hervor. Es hat seinen Sinn, den Rechtsanwalt negativ als denjenigen zu definieren, der die Prozesse derer führt, die sie nicht selbst führen. Der Definitionsgehalt dieser Definition ist, daß er Prozesse f ü r andere führt. Führt man jedoch die Selbstanwendung durch, so kommt ein Widerspruch oder eine Zweideutigkeit heraus. Im Fall des Widerspruchs heißt es: er muß seine Prozesse führen und darf sie nicht führen. Im Fall der Zweideutigkeit heißt es: er kann sie führen und kann sie auch nicht führen. Diese Erkenntnis läßt sich auf die anderen Paradoxien übertragen. Wenn das Wort heterologisch eine Bezeichnung für alle und nur die Worte ist, die nicht selbstbezüglich sind, dann ist die Definition widerspruchsvoll. Dann kann heterologisch w e d e r heterologisch n o c h nicht heterologisch (autologisch) sein. Definiert man heterologisch als das Wort, das alle a n d e r e n Worte bezeichnet, die nicht selbstbezüglich sind, dann ist durch diese Definition gesagt, daß nicht entscheidbar ist, ob dieses Wort auch für sich selbst stehen kann oder nicht. Erst eine neue Definition könnte das entscheiden. Ebenso beim Lügner. Versteht man die Aussage des Lügner so,
7. Formen negativer Selbstanwendung
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daß alle seine Aussagen und auch diese Lügen sind, dann hebt sich die Definition auf. Soll die Aussage aber nur bedeuten, daß der Lügner ausspricht, daß er gelegentlich lügt, dann ist prinzipiell zweideutig, wie es mit dieser Aussage steht. In allen Fällen aber haben diese negativen Definitionen, abgesehen von Widerspruch und Zweideutigkeit, noch einen Sinn. Das Wort heterologisch bedeutet auf jeden Fall, daß es ein Wort für die Worte ist, die nicht auf sich bezogen werden können. Die Aussage des Lügners behauptet in jedem Fall, daß er selbst gelogen hat. Am deutlichsten ist der Sinn einer solchen negativen Definition am Beispiel des Ephatlus aufzuweisen. Denn wenn der Richter Ephatlus zur Zahlung verurteilt hat oder ihn freigesprochen hat, so ist diese Entscheidung zwar widerspruchsvoll oder zum mindestens zweideutig. Aber dennoch ist nun der erste Prozeß geführt, der in j e d e m Fall die Abmachung aufhebt. E r s t jetzt ist der Weg frei für neue Verhandlungen. Endlich die Menge aller sich nicht selbstenthaltenden Mengen ist — sofern sie alle und nur solche Mengen enthält — widerspruchsvoll. Sofern sie aber andere sich nicht selbstenthaltende Mengen enthält, bleibt prinzipiell zweideutig, ob sie sich selbst enthält oder nicht enthält. In jedem Fall aber ist der positive Gehalt der Definition dieser, daß sie Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. In diesem Sinn kann man von einer Bedeutung der negativen selbstanwendbaren Definitionen sprechen. Widerspruchsvoll oder prinzipiell zweideutig sind die Definitionen nur in der Selbstanwendung. Hier sind sie prinzipiell unentscheidbar und auch nicht, wie die vermeintlichen Widersprüche, durch einen Tatbestand eindeutig zu machen. Das bedeutet, daß solche Definitionen, sofern sie für alles und für sich selbst gelten, sich selbst aufheben. Ihr Gehalt aber liegt darin, daß sie Phänomene beschreiben, die nur mehr noch negativ beschrieben werden können. Heterologisch, sich nicht selbst enthaltende Mengen, die Selbstaussage des Lügners, das Urteil im Ephatlusprozeß — das alles sind Phänomene, die negativen Gehalt und negativen Bestand haben. Wollen wir diese Phänomene definieren, so geben wir ihnen eine Bedeutung. D . h. aber, daß diese Phänomene uns nun gegenübertreten als Bedeutungen von Nichtbedeutungen oder Bestand von Nichtbestehendem. Darin liegt einmal ein Widerspruch oder eine prinzipielle Zweideutigkeit der Selbstanwendung. Andererseits aber sind damit Phänomene aufgewiesen, die durchaus ihren Sinn haben. Auch hinter den negativen selbstanwendbaren Definitionen liegt also ein Gehalt, der am Phänomen sichtbar gemacht werden kann. Zeigt es sich nun, daß gewisse Grundphänomene unseres Daseins und Erkennens sich in negativen selbstanwendbaren Definitionen fassen lassen, so läßt sich daraus keineswegs schließen, daß es diese Phänomene nicht gibt. Sie sind, obgleich
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II. Logik der Selbstanwendung
sie in der Selbstanwendung zweideutig oder gar widerspruchsvoll sind, dennoch vorhanden. Der entscheidende Unterschied zwischen Widersprüchen aus der Selbstanwendung und vermeintlichen Widersprüchen ist der, daß selbstanwendbare Widersprüche in keinem Sinn Täuschungswidersprüche sind. Die Täuschungswidersprüche sind widerspruchsvolle Bezeichnungen eines eindeutigen Sachverhalts. Die Selbstwidersprüche sind Definitionen negativer Phänomene, die in der Selbstanwendung sich aufheben. Dieses letzte Ergebnis ist das wichtigste. Das alte Vorurteil, daß man aus der negativen Selbstanwendung auf das Nichtvorhandensein der also definierten Bedeutung schließen kann, ist falsch. Niemals ist die negative Selbstanwendung die Widerlegung der Existenzmöglichkeit. Auch die negative Selbstdefinition ist wie jede andere Definition der Versuch einen Gegenstand zu bestimmen. Freilich haftet diesem Versuch immer eine prinzipielle Zweideutigkeit an und Definitionen dieser Art können ohne Schwierigkeit widerspruchsvoll entwickelt werden. In keiner Weise ist damit aber über die Existenz des Gegenstandes, der definiert wird, entschieden. Wohl läßt sich aus der Definition des Rechtsanwaltes als eines Mannes, der die Prozesse derjenigen führt, die sie nicht selbst führen, Widerspruch und Zweideutigkeit entwickeln. Aber die Möglichkeit seiner Existenz ist damit überhaupt nicht berührt. Etwas anderes ist es, daß diese Definitionen negativen Gehalt haben und die so definierten Phänomene negativ bestimmt sind. Selbstverständlich muß zugestanden werden, daß solche Definitionen in manchen Wissenschaften, z. B. in der Mathematik, aus all diesen Gründen nicht direkt verwandt werden können. Doch liegt das an der mathematischen Methode und ihrer Art von Erkenntnisarbeit. Andere Wissenschaften, vor allem die Philosophie, können negativ selbstanwendbare Definitionen nicht entbehren. Immer wieder hat man versucht solche Definitionen für widersinnig zu erklären oder gar aus der Tatsache, daß es gelingen mag, etwas so zu definieren, auf den Widersinn der Sache zu schließen. Richtig kann man aus solchen Definitionen formal nur schließen, daß — wenn das gemeinte Phänomen existiert — es in dieser Definition nur eine negative Seite zeigt. Was aber die Zweideutigkeit oder den Selbstwiderspruch angeht, so kann man — immer vorausgesetzt, daß das gemeinte Phänomen existiert — nur annehmen, daß hinter diesen Momenten ein positiver, die beiden scheinbar widerspruchsvollen Momente zusammenfassender aber verborgener Sinn sich versteckt. Er ist in den Fällen leicht nachzuweisen, wo das gemeinte Phänomen, wie im Beispiel des Rechtsanwaltes, uns in anderen Zusammenhängen noch gegeben und verständlich ist. Gibt es aber, wie Kant meint, Phänomene, die nur noch negativ definiert werden können, dann wäre unentscheidbar, ob
i . Erkenntnis und Selbstanwendung
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ein positiver Sinn überhaupt vorhanden ist. Indessen gibt Kant für diese Annahme, obwohl er ihr nahestand, keinen Beweis. Kant scheint der Auffassung gewesen zu sein, daß die von ihm in der Kritik der reinen Vernunft aufgezeigten Antinomien endgültigen Charakter haben. Aber sie und die ganze transzendentale Dialektik geben n u r den Beweis, daß unter den Voraussetzungen der Kantischen Erkenntnistheorie, die aber gleichbedeutend mit den Voraussetzungen mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis sind, keine weitere positive Bestimmung dieser Gegenstände möglich ist.
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HI. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
III. THEORIE DES SELBSTGEGENSTÄNDLICHEN ERKENNENS i. E R K E N N T N I S
UND
SELBSTANWENDUNG
Vor allem ein Moment der formalen Logik ist tief in unsere Auffassung von der Erkenntnis eingedrungen. Die formale Logik zeigt, daß Begriff, Urteil und Schluß M i t t e l menschlicher Erkenntnis sind, wie sie überhaupt geneigt ist, im Denken die Form eines Gegebenen zu sehen. Nach drei Richtungen läßt sich diese Auffassung auch belegen. Das Denken ist erstens immer zugleich Ausdruck eines unabhängigen Gedachten. Zweitens ist das Denken etwas, was vom Subjekt hervorgebracht wird und zweckhaft verwandt werden kann. Drittens bringt uns das Denken etwas zur Gegebenheit. In dieser dreifachen Funktion des Denkens ist immer der Hinweis auf ein anderes eingeschlossen. Sofern man nun im Denken n u r eine Vorstufe zur Erkenntnisleistung sieht, liegt es nahe im Denken ein Mittel des Erkennens zu sehen. Die Wissenschaften, bei denen die gegenständliche Erkenntnis im Vordergrund steht, neigen daher dieser Auffassung zu. Auch die Entwicklung der Naturwissenschaften unterstützte sie. Hier schien es sich überhaupt erst zu zeigen, in welchem Maße die Mittelbarkeit des Denkens dem Menschen hilft. Dennoch ist eine solche Auffassung geeignet, wesentliche Momente des Denkens zu verfälschen. Es ist nur eine Seite des Denkens, die mit seiner Charakterisierung als eines mittelbaren Vermögens getroffen wird. Es gibt unmittelbare Denkgebilde. Bei der Darstellung der selbstbezüglichen Begriffsfunktion wurde diese andere Funktion des Denkens als ungegenständliche Begriffsfunktion bezeichnet. Diese Eigenschaft hebt am besten eine andere Seite des Denkens heraus. Denn für alles selbstanwendbare Denken und seine Denkgebilde gilt, daß sie ihr eigener Gegenstand sind. In diesem Fall ist aber das Denken nicht nur Mittel, sondern auch Zweck. Was weiter die Funktion des Denkens betrifft, etwas zur Gegebenheit zu bringen, so gewinnt auch diese Funktion in der Selbstanwendung eine andere Gestalt. Das selbstanwendbare Denkgebilde ist immer auch das, was es zur Gegebenheit bringt. Durch das Urteil «es regnet» bringe ich mir einen gegenständlichen und objektiven Tatbestand zur Gegebenheit, durch das Urteil «ich
I. Erkenntnis und Selbstanwendung
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denke» bringe ich eben diesen Tatbestand selbst zum Ausdruck. Im einen Fall hat es seinen guten Sinn zu sagen, daß ich durch das Denken mittelbar etwas ergreife, im zweiten Fall aber ist das Ergreifen unmittelbar auch das Ergriffene. Wie stark sich hier Denken und Denken voneinander unterscheidet, wird in einer Gegenüberstellung klar. Um einen Baum zu denken, muß ich mich nicht in einen Baum verwandeln, im vollsten Sinne des Wortes ist der Begriff Baum ein Mittel, um den Baum zu erfassen. Aber ich kann das Denken nicht begrifflich erfassen, ohne selbst ein Denkender zu sein. So wird hier also das Mittel zur Sache selbst. Man wird der Eigenart dieses Erkennens am besten gerecht, wenn man von selbstgegenständlichem Erkennen spricht. Selbstgegenständliche Begriffe, Urteile und Schlüsse sind Vorbedingung eines selbstanwendbaren Denkens, und die Untersuchimg der Selbstgegenständlichkeit als eines logischen Phänomens führt zu den Grundformen der Selbstanwendung. Nun hat die bisherige Logik sich fast nicht um die Struktur des selbstbezüglichen Denkens bemüht. Es ist der große Fortschritt der mathematischen Logik, daß sie die Selbstgegenständlichkeit in den Paradoxien allererst bemerkt hat. Es ist verwunderlich, daß es dieses Umweges bedurfte, um die Philosophie zur Untersuchung des selbstanwendbaren Denkens zu veranlassen. Wenn der Fortschritt des naturwissenschaftlichen Denkens auch noch so stark in den Vordergrund unseres Erkennens trat und mit ihm die Mittelbarkeit des Denkens, so sind doch auf der anderen Seite gewisse Grundgebiete des Erkennens unwandelbar mit dem selbstbezogenen Denken verknüpft. Wenn es kein selbstanwendbares Denken gäbe, dann wären alle Erkenntnisbemühungen, die das Denken zum Gegenstand des Erkennens machen, unmöglich. Damit würden manche Wissenschaften hinfällig. Die Logik ist nur möglich, wenn das Denken etwas aussagen kann über seine Grundformen und Regeln. Auch die Psychologie, soweit sie Denkvorgänge und psychische Vorgänge, die zum Denken führen, untersucht, stützt sich auf die Selbstanwendung. Natürlich ist auch die erkenntnistheoretische Arbeit auf die Möglichkeit, daß das Denken sich selbst denken kann, angewiesen. In diesen drei Disziplinen ist die Selbstanwendung als Grundform des Denkens unmittelbar greifbar; denn das Denken wird vom Denken in dreifacher Absicht untersucht. Die Logik erforscht die allgemeinen Regeln der Gedanken, die Psychologie die Formen des Denkens überhaupt und die Erkenntnistheorie das erkennende Denken. Aber die Struktur der Selbstanwendung ist nicht auf diese Gebiete beschränkt. In einem weiteren Sinne ruhen auch die Geisteswissenschaften auf der Struktur der Selbstbezogenheit. Solange freilich der Geisteswissenschafder nur Tatsachen nebeneinander stellt, sei es historische Ereignisse
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
oder verbürgte und niedergelegte Äußerungen, kann er sich streng gegenständlich verhalten. Versucht er nun aber diese Tatsachen zu verbinden und methodisch eins aus dem anderen zu verstehen, dann bleibt ihm nichts übrig, als mit seinem Geiste nachdenkend zu verstehen, was als Motiv oder Zweck einst wirklich war. Er muß zum zweiten Mal, wenn auch nur verstehend und betrachtend, das vollziehen, was sich einstmals wirklich vollzog und Geschichte wurde. Insofern aber muß man in der Geistesgeschichte eine Selbstbezogenheit des Geistes annehmen. Bei dieser Übersicht muß noch auf eine dritte Möglichkeit hingewiesen werden, die vor allem in den folgenden Untersuchungen genauer betrachtet wird. Auch allgemeine Sätze sind selbstbezogen; denn ein wirklich allesumfassender Satz muß sich selbst einschließen. Wenn es also möglich ist, zu allgemeinsten Sätzen in diesem Sinne zu kommen, oder wenn, wie man annahm, allgemeine Sätze dieser Art die Voraussetzung unseres Erkennens sind, dann trifft man hier noch einmal auf die Struktur der Selbstbezogenheit und zwar im metaphysischen Sinn. 2. R E I N E U N D I N H A L T L I C H E
SELBSTANWENDUNG
Zur Vorbereitung der kommenden Analysen ist es notwendig, den Begriff der reinen Selbstanwendung durch den der inhaltlichen Selbstanwendung zu ergänzen. Was bisher dargestellt wurde, war in der Absicht die Form der negativen Selbstanwendung zu zeigen, entwickelt. Um die Selbstanwendung als logisches Gebilde zu erweisen, mußte sie als reine Form der Begriffsverhältnisse und des Denkens aufgewiesen werden. Daher ging die Untersuchung von Beispielen aus, die vor allem die charakteristische Form der negativen Selbstanwendung zeigten, wie sie ganz scharf etwa in den Paradoxien zur Geltung kommt. Es ist natürlich leichter, die eigentümliche Form der Selbstanwendung, insbesondere der negativen Selbstanwendung an Beispielen darzustellen, die keinen besonderen Sinngehalt haben. Aber es ist nicht möglich, diese formalen Beispiele als Belege f ü r die Bedeutung der Selbstanwendung als einer besonders gearteten Erkenntnis zu benutzen. Daß in den Formen einer positiven oder negativen Selbstbeziehung auch entscheidende Erkenntnisvorgänge sich abspielen, ist um so schwerer zu sehen, je formal reiner die Beispiele sind. Es handelt sich um eine ähnliche Schwierigkeit, wie sie auch in der formalen Logik sich findet. Für den, der die formale Logik als bloßes Spiel der Formeln betrachtet, ist nicht immer ohne weiteres einsichtig, was das mit Erkenntnis zu tun hat. Die jeden Inhaltes entleerten Formeln des Denkens und der Begriffsverhältnisse erscheinen als bloße Spielerei des Verstandes. Ähnlich können die reinen Formen der Selbstanwendung sinn-
2. Reine und inhaltliche Selbstanwendung
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los erscheinen und sind es auch, solange man in ihnen nur die Tautologie oder den Widerspruch sieht. In der inhaltlichen Selbstanwendung aber spricht sich eine Erkenntnis in der Form der Selbstanwendung aus. Indes aber, so wird man fragen, welche Anwendungsmöglichkeit hat die Form der Selbstanwendung? Die Logik der Selbstanwendung wurde hier mehrmals und prinzipiell der formalen Logik gegenübergestellt. Der Unterschied tritt vor allem in der verschiedenen Bewertung des Widerspruchs zutage. Die formale Logik lehnt den Widerspruch ab und benützt ihn nur als negatives Kriterium, daß keine Erkenntnis vorhanden ist. In der Logik der Selbstanwendung bekommt der Widerspruch einen positiven Sinn. Er ist ein Denkgebilde wie andere auch und gliedert sich systematisch in die Selbstanwendung ein. Dieser formale Unterschied erfährt nun eine bedeutende Erweiterung innerhalb der inhaltlichen Selbstanwendung. Er wird sogar in seiner eigentlichen Bedeutimg erst von hier aus erkennbar. Die formale Logik lehrt, daß Begriff, Schluß und Urteil Mittel des Denkens sind. Sie gibt die Regeln, gemäß denen diese Mittel des Denkens zur Anwendimg kommen. Sofern sie die allgemeinsten Prinzipien aufweist, die unserer Erkenntnis zugrunde liegen, kann man alle wirkliche Erkenntnis als Bestätigung der formalen Logik auffassen. Von hier aus gesehen ist die Arbeit der Wissenschaft eine Anwendung der logischen Strukturen auf die Wirklichkeit, die zur Erkenntnis führt. Alle Resultate wissenschaftlicher Forschung müssen sich auf logische Formeln bringen lassen. Das ist sicherlich richtig für die mathematische und den größten Teil der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. So konnte es manchmal scheinen als ob die gesamte Erkenntnis nur ein Ergebnis der formalen Logik ist. Von diesem Gedanken gingen Raimundus Lullus und Leibniz aus und hofften durch einen umfassenden Begriffsapparat zugleich die gesamte mögliche Erkenntnis darzustellen. Aber zu dieser Einstellung will die merkwürdige Tatsache nicht recht passen, daß die Formen der Logik nicht, ohne weiteres auf die Wirklichkeit angewandt, Erkenntnis geben. Zur Verbindimg der logischen Gebilde mit den gegenständlichen bedarf es einer umständlichen Arbeit. Jede Wissenschaft hat ihre Methode. Die Logik sagt nur, wie wir denken, nicht aber, was wir denken sollen. Erst durch die Methode finden wir zu einem bestimmten Gegenstand und erst durch diese Orientierung an einem bestimmten Gegenstand werden die reinen Formen der Begriffe, Urteile und Schlüsse zu inhaltlich festumrissenen Erkenntnisgebilden. Die Methode stellt die Verbindung zwischen logischen Regeln und gegenständlichem Gebilde her, durch die die formale Logik zur Erkenntnis wird. Daß es einen Gegenstand gibt, der erkannt werden kann, ist für den Begriff der formalen Logik von entscheidender Bedeutung. Alle Denker, die 7
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
das Denkens vom Begriff der formalen Logik her verstanden haben, haben denn auch das Hauptmerkmal des Denken in seiner Richtung auf ein Objekt gesucht. Der Satz von der Intentionalität des Denkens, der im Mittelalter aufgestellt wurde, behauptet, daß alles Bewußtsein Beziehung auf einen Inhalt und Richtung auf ein Objekt hat. Zum Bewußtsein gehört nach ihm wesensmäßig ein bewußtes Etwas. Brentano undHusserl haben diesen Satz wieder neu bestätigt. Auch Kant orientiert den Begriff der Erkenntnis an der Möglichkeit der Erfahrung. Die Formen der Selbstanwendung haben nun weder einen Gegenstand in diesem Sinn noch ist von ihnen aus das Denken als eine Anwendung auf etwas anderes zu begreifen. Mit diesen beiden Momenten entfällt auch der Begriff der Methode als einer Verbindung von logischen Regeln und gegenständlichen Gebilden. Denn in der Selbstanwendung wird Bewußtsein, Denken und Erkennen zu einem Mittel seiner selbst. Es bedarf auch keiner Methode, durch die die Selbstanwendung ihre gegenständliche Orientierung erhält. Freilich entfällt damit auch die Bestätigung, die die formale Logik dauernd durch den Erkenntnisvollzug der Wissenschaften findet. Andererseits sind die Formen der Selbstanwendung darin den Formen der formalen Logik ähnlich, daß sie von sich aus keine Erkenntnis geben. Sie sind eben nur reine Formen des Denkens und bedürfen einer inhaltlichen Erfüllung, wenn sie Erkenntnis werden sollen. Nun wurde bereits ein Beispiel einer inhaltlichen Erfüllung gelegentlich erwähnt, wo unmittelbar das Verhältnis der Selbstanwendung besteht. In der Natur jeder erkenntnistheoretischen Philosophie liegt eine Selbstanwendung. Sie macht die Voraussetzungen der Erkenntnis zu ihrem Untersuchungsgegenstand und untersucht damit auch ihre eigenen Voraussetzungen. Vor allem Nelson verdanken wir eine eingehende Darstellung dieses Verhältnisses. Er wies daraufhin, daß alle Suche nach einem Erkenntniskriterium dieses Kriterium immer schon voraussetzen muß. Jedenfalls muß, wer an eine Erkenntnistheorie glaubt, auch schon an eine Erkenntnis glauben, denn die Erkenntnistheorie ist eine Erkenntnis der Erkenntnis. Der Erkenntnistheoretiker kann der Situation der Selbstanwendung niemals entrinnen und muß immer mit einem Denken des Denkens, einem Begreifen des Begreifens, einem Begriff des Begriffes und anderen Möglichkeiten der Selbstanwendung rechnen. Schon Kants Philosophie ist dafür ein Beispiel. Denn wenn Kant synthetische Prinzipien a priori aller Erkenntnis nachweist, so weist er damit auch die Prinzipien seiner eigenen Philosophie nach. Die Aussage: Alle Erkenntnis gründet in synthetischen Prinzipien a priori, ist selbstanwendbar, und man muß unter diesem Gesichtspunkt die Kantische Erkenntnistheorie wie jede andere Erkenntnistheorie als die Durchführung einer Selbstanwendung ansprechen.
2. Reine und inhaltliche Selbstanwendung
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Ein ähnliches Verhältnis wiederholt sich aber auch in den Methodenuntersuchungen der Einzelwissenschaften. Keineswegs ist die Selbstanwendung der Erkenntnistheorie auf die Philosophie beschränkt. Ein Mathematiker etwa, der die Grundlagen seiner Wissenschaft untersucht, kann in zweierlei Richtung vorgehen. Entweder untersucht er die Grundlagen des mathematischen Denkens vom erkenntnistheoretischen-philosophischen Standpunkt aus. Dann befindet er sich sogleich in einer Ausgangssituation, die zur Selbstanwendung führen muß. Denn er sucht eine Erkenntnis vom Wesen der Erkenntnis am speziellen Strahl der mathematischen Erkenntnis. So ging Kant in seiner Untersuchung der Erkenntnis von der mathematischnaturwissenschaftlichen Erkenntnis aus und konstruierte den Begriff der Erkenntnis weitgehend diesem Modell nach. Untersucht aber ein Mathematiker nur als Mathematiker seine Wissenschaft, dann wird der Zirkel der Selbstanwendung enger. Denn in diesem Fall muß er versuchen, die mathematische Denkmethode auf das mathematische Denken selbst anzuwenden. Was herauskommen muß, ist, daß der Mathematiker sich seine eigene Methode als mathematischen Gegenstand vorstellt und in Formeln zu fassen versucht. Hilberts Untersuchungen zur Grundlegung der Mathematik sind ein reines Beispiel solchen Vorgehens. In all diesen Fällen bringt es der natürliche Weg der Untersuchung mit sich, daß die Bedingung der Selbstanwendung erfüllt wird. Das liegt aber daran, daß der Gegenstand dieser Untersuchungen selbst eine Untersuchung ist. Lassen sich aber nun selbstanwendbare Dinge vorstellen? Blickt man auf das Gebiet der sinnlichen Erfahrung innerhalb Raum und Zeit, so spricht zunächst nichts für die Möglichkeit selbstanwendbarer Gebilde. Das perpetuum mobile wäre ein selbstanwendbares Ding, aber es ist für den exakten Forscher längst eine unerfüllbare Utopie geworden. Auch von Werkzeugen hat es keinen Sinn zu sagen, daß sie auf sich selbst angewandt werden können. Innerhalb des raumzeitlichen Geschehens gibt es aber dennoch Verhältnisse, bei denen man von Selbstbezogenheit sprechen kann. In der Auffassung des Lebensprozesses müssen wir beispielsweise — da die mechanistische Erklärung nicht befriedigt — zur Denkform der Selbstanwendung greifen. Hier stößt man immer wieder auf ein Grundverhältnis, demzufolge ein Organ das ganze Leben, von dem es wiederum abhängig ist, in Bewegung setzt oder beeinflußt. Eigenschaften des Lebens, wie Bewußtsein, Zielstrebigkeit, Erinnerung, Instinkt u.a., sind Eigenschaften, die das Leben in Bewegung halten und gleichzeitig ein Teil dessen sind, was sie in Bewegung halten. Ist das Leben so, daß es von Kräften abhängig ist, die in anderem Sinne wiederum das Leben selbst sind, dann besteht hier ein Verhältnis von Teil zum Ganzen, wobei gilt, daß das Ganze die Teile und die Teile wiederum 7*
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
das Ganze sind. Die Beziehung beider aber ist offenbar so zu verstehen, daß die Teile das Ganze bilden und das Ganze wiederum die Teile bildet. Bekanntlich hat Driesch dieses Verhältnis im Vorgang des Lebens untersucht. Als Kennzeichen des Lebens, das es vom zielstrebigen Geschehen einer Maschine unterscheidet, weist Driesch auf ein Verhältnis hin, das die Struktur der negativen Selbstanwendung hat. Denn nach ihm ist das Leben so geartet, daß ein Teil auch wiederum das Ganze in sich schließt. Noch sei erwähnt, daß der Mengentheorie in der Mathematik ein Verhältnis der Selbstanwendung zugrunde liegt. Wenn zwei unendlich große Mengen einander eindeutig zugeordnet werden können, sagt der Mathematiker, beide Mengen seien äquivalent. Dabei ist es möglich, daß eine Teilmenge der Muttermenge, aus der sie stammt, äquivalent ist. Auch hier ist der Sinn, daß ein Teil dem Ganzen gleichgeordnet werden kann. Vollkommen klar tritt die Form der negativen Selbstanwendung in Erscheinung. Diese Beispiele lassen vermuten, daß objektive Gehalte und Erkenntnisinhalte in der Form der Selbstanwendung positiver wie negativer Art durchsichtig werden. Es läßt sich auch für diese Beispiele ein allgemeineres Prinzip formulieren, das die Bedingung solcher Inhalte ist, die sich der Form der Selbstanwendung fügen. Im Lebensprozeß ist es eine Teilbewegung, die auch das Ganze bewegt. In der Mengentheorie ist es eine Teilbestimmung, durch die auch das Ganze bestimmt werden kann. Dieses wiederkehrende Verhältnis von Teil zum Ganzen ist ein Wesensmerkmal der Beispiele. Die Beziehung zwischen Ganzem und Teil besteht einmal darin, daß das Ganze die Teile enthält und die Teile das Ganze ausmachen, das Ganze die Teile bestimmt und die Teile das Ganze bestimmen, endlich das Ganze aus seinen Teilen besteht und die Teile das Ganze sind. Die Beziehung kann aber auch in anderer Form auftreten: Im Ganzen sind die Teile, aber auch m e h r als die Teile; das Ganze enthält die Bestimmung der Teile, ist aber m e h r als bloße Bestimmung der Teile. Das Ganze besteht aus seinen Teilen, ist aber m e h r als seine Teile. Verhältnisse dieser Art hat die Gestaltpsychologie gezeigt, und sie lassen sich immer dort zeigen, wo die Gestalt eine sinnvolle Anordnung der Teile ist. Betrachtet man ein Gebilde, Ding oder Verhältnis als Ganzes, das aus Teilen besteht, so sucht dieser Ansatz das Ding in seinem Verhältnis zu sich s e l b s t zu erfassen. Jede solche Betrachtung fällt unter die Logik der Selbstanwendung. Die Betrachtungslinie, inwiefern das Ganze aus seinen Teilen besteht, ist positive, die Betrachtungslinie, inwiefern das Ganze mehr als seine Teile ist, ist negative Selbstanwendung. Immer aber ist das Ganze durch seine Teile auf sich selber, bzw. die Teile durch das Ganze auf sich selbst bezogen. Die formallogische Betrachtung setzt hingegen voraus, daß ein Ding bei prinzipieller Unterschiedenheit in Beziehungen
3. Bewegung als selbstbezogenes Phänomen
IOI
zu anderen Dingen steht. Im Bereich der anschaulich-konkreten Einheiten, also im Bereich der unmittelbar sinnlichen Erfahrung, liegt offenbar diese Betrachtung viel näher. Ja sogar der Verlauf dieser Einheiten in der Zeit stellt sich als Beziehung dar, kraft deren diese Dinge auf andere wirken und von anderen Einwirkungen empfangen. Das alles ändert sich, wenn ein Gebilde als Ganzes betrachtet wird. Denn damit wird es eine in sich geschlossene und von anderen Dingen abgeschiedene Einheit. Das System einer Ganzheit hat zwar auch Beziehungen zu anderen Gebilden, aber immer auch Beziehungen über seine Teile zu sich selbst. 3. B E W E G U N G
ALS
SELBSTBEZOGENES
PHÄNOMEN
In der transzendentalen Ästhetik bei der «metaphysischen Erörterung» von Raum und Zeit weist Kant auf eine Eigentümlichkeit dieser Begriffe hin. Alle Teilräume und alle Teilzeiten können wir uns nur als Teile eines Raumes und einer Zeit vorstellen. «Denn erstmalig kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile ein und desselben alleinigen Raumes. Diese Teile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raum gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen1.» Dasselbe sagt Kant von der Zeit. «Verschiedene Zeiten sind nur Teile ein und derselben Zeit.» «Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei 2 .» Das Verhältnis, das Kant hier beschreibt, ist das der Selbstbezogenheit von Raum und Zeit. Gegenstände können wir uns im Raum selbst denken, aber Räume können wir uns immer wieder nur im Raum selbst denken. Auch die Zeit müssen wir uns immer wieder als eine Einschränkung der zu Grunde liegenden Zeit denken. Alles Seiende können wir uns im Raum, aber den Raum selbst können wir nur in ihm selbst denken. Alles Geschehen verläuft in der Zeit, aber die Zeit selbst kann wiederum nur in sich selbst verlaufen. Diese Eigenschaft der Selbstbeziehbarkeit gewisser Phänomene hätte Kant auch noch an anderen Begriffen nachweisen können. Vor allem aber wäre es notwendig gewesen, auch die negative Seite dieser Selbstbezogenheit nachzuweisen. Kant begnügt sich mit der positiven Seite, daß alle Räume und Zeiten Teile des Raumes und der Zeit sind. Doch die Kehrseite dieser positiven Selbstbezogenheit ist die negative. Alle Räume, 1
B 39.
2
B 48 f.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
die wir auch denken, sind niemals d e r Raum, alle Zeiten, die uns vorstellbar sind, sind doch niemals die Zeit. In dieser Vorstellung wird das Verhältnis paradox. Denn es besagt nichts anderes, als daß alle Räume zusammen nicht d e n Raum und alle Zeiten zusammen nicht die Zeit ergeben. Wir behaupten: es ist eine logische Eigentümlichkeit und zwar das Verhältnis der Selbstbezogenheit von Ganzem und Teilen, das sich hier zeigt. Das Ganze b e s t e h t aus seinen Teilen. So lautet die positive Formel. Die Teile s i n d n i c h t das Ganze. So lautet die negative Formel. Beide Formeln sind zwei verschiedene Seiten derselben Selbstbezogenheit. Daß es sich hier um Formen der Selbstbezogenheit handelt, soll an einem Beispiel erläutert werden, das Berühmtheit erlangt hat. Die Frage nach dem Wesen der Bewegung nämlich läßt sich in doppelter Weise beantworten. Sofern wir Bewegimg als ein Phänomen verstehen, das positiv selbstanwendbar ist, bekommt die Definition von der Bewegung einen tautologischen Sinn. Sobald aber das Phänomen der Bewegung als ein negativ selbstbezogenes Phänomen verstanden wird, zeigen sich Widersprüche. Nun aber ist das Eigentümliche, daß gerade die Auffassung der Bewegung, die zu einem Widerspruch führt, diejenige ist, die die Mathematiker aufgestellt haben. Geht man davon aus, daß Bewegung ein Ganzes ist, dann muß sie sich aus Teilen zusammensetzen. Hier aber sind zwei Wege möglich. Einmal könnte man sagen, daß alle Bewegung sich aus kleinen Teilbewegungen zusammensetzt und wir in der Zerteilung der Bewegung also nicht über das Phänomen der Bewegimg hinauskommen. Das Ganze einer Bewegung ist also prinzipiell nicht von den Teilen zu unterscheiden. Einer derartigen Auffassung der Bewegung kommt Bergsons Beschreibung der durée sehr nahe. Jeder Teil der Bewegung ist so gut Bewegung wie das Ganze Bewegung ist, und das W e s e n der Bewegung muß etwas letztes Unteilbares sein. Demgemäß wäre es unmöglich, Bewegung auf etwas Unbewegtes abzubilden. Diese Behauptung kann man in der Tat aufstellen. Spricht aber nicht die Tatsache dagegen, daß der Film eine Bewegung in eine Reihe von Einzelphasen zerlegt? Hier wird freilich die Bewegung, d. h. ein BewegungsVorgang, in Teile zerlegt. Aber gerade diese Teile sind jeweils Momente einer stillstehenden Bewegung. Und erst dann tritt uns die Bewegung wieder vor Augen, wenn wir diese Teilphasen d u r c h Bewegung wieder zusammenfügen. Wenn also der Bildstreifen abrollt und in diesem Abrollen die erstarrten Bewegungsmomente zu einer Bewegung zusammenfügt, erhalten wir auch wieder den Eindruck der Bewegung. So geschlossen diese Definition der Bewegung auch ist, so wenig kann sie den Mathematiker befriedigen. Auch die Anschauung der Bewegung, die Art, wie uns Bewegung als Phänomen entgegentritt, weist auf eine andere Definition hin. Diese Definition führt, wie sich zeigen wird, auf eine negative
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Selbstanwendung. Ihren Ausgang nimmt sie von der Tatsache, daß in jeder Bewegung etwas ist, was sich bewegt. Denn die wirkliche Bewegung kennen wir nur als Bewegung einer Sache, nicht als reine Bewegung, wie sie oben beschrieben wurde. Wir nehmen also die Bewegung des fliegenden Vogels, des geschleuderten Steins immer als Bewegung des Vogels und des Steins wahr. Läßt man sich auf diese Definition der Bewegung ein, dann zeigt sich ein neues Moment. Denn wir nehmen ganz deutlich wahr, daß der bewegte Gegenstand in seiner Bewegung eine Strecke durchläuft. Infolgedessen können wir die Bewegung auf diese durchlaufene Strecke beziehen. Die durchlaufene Strecke enthält nämlich das Ganze der Bewegung. Es liegt nun nahe, anzunehmen, daß die Bewegung in so viele Teile zerfällt, als die Strecke Teile hat. Zieht man aber aus diesen Überlegungen die Konsequenz, so wird man definieren: Bewegung besteht aus einer Summe von durchlaufenen Punkten. Damit aber hat man die Bewegung auf Teile reduziert, die selbst nicht Bewegung sind. In klassischer Weise hat Zeno von Elea vor über 2000 Jahren schon auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die aus dieser Auffassung des Begriffes entstehen. Sein Lehrer Parmenides hatte geleugnet, daß es überhaupt Bewegung gebe; so wenig wie ein leerer Raum sein könne und so wenig wie wir das Nichts wissen und aussprechen können, so könne es auch keine Bewegung geben. Ob Zeno diesen Gedankengang mit Fällen belegen und damit die Unmöglichkeit der Bewegung beweisen wollte, wie einige meinen, oder ob er zeigen wollte, daß sich in Widersprüche verwickelt, wer den Begriff der Bewegung unter bestimmten Voraussetzungen entwickeln will, wie andere meinen — Tatsache ist jedenfalls, daß er an vier Beispielen gezeigt hat, daß in der Auffassung der Bewegung eigentümliche Schwierigkeiten liegen. Gerade weil wir nicht genau wissen, wie Zeno selbst über die Bewegung dachte, tritt um so reiner die logische Entwicklung der Schwierigkeiten im Bewegungsbegriff zutage. Zeno führt an vier Beispielen der Bewegung die negative Selbstanwendung durch. Aber in allen Beispielen legt Zeno nicht den oben gebrachten Begriff der «reinen» Bewegung, sondern einen uns aus der Anschauung bekannten Bewegungsvorgang zugrunde. Er untersucht, um eines der einfacheren Beispiele zu wählen, die Bewegung eines fliegenden Pfeils. Das Etwas, das sich in dieser Bewegung bewegt, ist offenbar der Pfeil. Nun geht Zenos Gedankengang in die Überlegung ein: Was tut dieser Pfeil, wenn er sich bewegt ? Die nächste Antwort ist: Der Pfeil durchläuft einen bestimmten Raum. Allgemein ausgedrückt: das Etwas der Bewegung durchläuft das Etwas eines Raumes.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
Unsere unmittelbare Anschauung sagt uns, daß die Bewegung ihren Ort wechselt. Nun haben wir aber die wirkliche Bewegung in die Bewegung selbst und das Bewegte zerteilt. Das Bewegte, in diesem Fall der Pfeil, hat, wenn es unbewegt ist, einen bestimmten Ort. Wird er von der Bewegung ergriffen, dann wechselt er seinen Ort. Das kann aber nicht bedeuten, daß der Pfeil dann im Nichts schwebt, sondern die Veränderung des Ortes besteht darin, daß er zu jeder Zeit an einem anderen Orte ist. In jedem uns feststellbaren Zeitpunkt muß der Pfeil an einem Orte sein und auch in den kleinsten Zeitpunkten, die wir nicht mehr feststellen können, befindet er sich an einem Ort. Zu jedem b e s t i m m t e n Zeitpunkt muß der Pfeil auch an einem b e s t i m m t e n Orte sein. Einer Zerlegung der Bewegung in Raum- und Zeitteile steht offenbar nichts im Wege. Aber es ist unmöglich diese Zerlegung wieder rückgängig zu machen, um daraus die Bewegung wieder aufzubauen. Nachdem man die Bewegung zerlegt hat, ergibt sich, daß das bewegte Etwas in jedem Zeitpunkt zu einem Raumpunkt in einer bestimmten Beziehung steht. Diese Beziehung ist nicht die Bewegimg. Die Abfolge der Zeitpunkte gibt uns immer nur an, wo der Pfeil ist, nicht aber wie er sich bewegt. Der Pfeil steht vielmehr, so denkt Zeno, in ein und demselben Zeitpunkt gleichsam an einem Ort still. Nun könnte man denken, daß die Bewegung des Pfeils der Verbindung zweier Zeitpunkte gleich ist, während deren der Pfeil von einem Ort zum anderen übergeht. Aber auch das ist unmöglich; denn zwischen dem Ubergang von einem Zeitpunkt zum anderen liegen andere Zeitmomente und auch in diesen ist der Pfeil an einem bestimmten Ort. Im wahrsten Sinne des Wortes hat der Pfeil also keine Zeit zur Bewegung, und er müßte still stehen. Während also die Bewegung noch anschaulich vor unseren Augen steht, wird sie durch die Zenonische Argumentation als etwas Unmögliches erwiesen, und es könnte sie eigentlich nicht geben. Wie aber kommt das zustande? Wir zeigten oben, daß Zeno seine Argumentation an der anschaulichen Bewegung durchführt. In ihr handelt es sich um ein Etwas, das sich bewegt und das selbst einem Teil des Raumes, den es durchläuft, zugeordnet werden kann. Wir können also feststellen, daß die Strecke, die der Pfeil durchmißt, soundsovielmal länger ist als der Pfeil. Der Pfeil ist also ein bestimmter Teil der Strecke, die er durchläuft. Durch diese Umrechnung des Pfeiles auf die Strecke, die er durchläuft, wird die Bewegung eliminiert und erscheint als eine Reihe von Streckenteilen. Zählt man diese Teile, und mögen es unendlich viele sein, wieder zusammen, so ergibt die Summe wohl die gesamte Strecke und vielleicht mehr als die gesamte Strecke, aber nicht die Bewegung. Und will man nunmehr verstehen, was Bewegung ist, so kommt man zu dem Widerspruchs-
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vollen Ergebnis, daß sie stillsteht, oder daß sie zu einem Zeitpunkt an zwei verschiedenen Orten ist. Dieser Widerspruch ist von der Anschauung her, die uns die Bewegung in einer natürlichen Einheit vorstellt, vollkommen imverständlich. Legt man aber die Zenonische Aufteilung der Bewegung in Raumteile zugrunde, so erscheint die Bewegung als etwas, das gleichzeitig ist und auch nicht ist. Aber gerade der Widerspruch weist in die Richtung, in der das Ganze sinnvoll wird. Zeno deutet vermittels der Tatsache, daß das sich bewegende Etwas raumhaft ist, die Bewegung in den Raum um. Bewegimg wird zu einer Folge von Raumteilen. Indes nimmt der Pfeil zwar, wenn er ruht, einen bestimmten Raum ein. Während aber stillstehende Gegenstände einen sich selbst gleichen Raum einnehmen, ist der Pfeil, sowie er sich bewegt, in seinem Raum nicht mehr sich selbst gleich. Durch seine Bewegung wird er vielmehr einem Raum gleich, der größer ist als er selbst. Offenbar entsteht die Definition, die Zeno der Bewegung gibt, unter Benutzung einer negativen Selbstanwendung. Und zwar ist es die in Raumteile zerteilte Bewegung, die Zeno negativ auf sich selbst anwendet. Ebenso verfährt er in dem berühmten Beispiel vom Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte. Der Wettlauf soll so ausgetragen werden, daß die Schildkröte einen Vorsprung erhält, und nun wird behauptet, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen kann. Achilles muß zuerst an dem Punkt angelangt sein, von dem die Schildkröte ihren Lauf begonnen hat. Hat er diesen Punkt erreicht, dann ist unterdessen auch die Schildkröte ein Stück weiter gekommen. Bis Achilles diesen Punkt erreicht hat, ist die Schildkröte wieder weiter, und so geht es ins Unendliche fort. Auch hier führt Zeno die Bewegung auf Raumteile zurück. Die Bewegung des Achilles ist definiert als die Summe all derjenigen Raumteile, die vor den jeweiligen Ausgangspunkten der Schildkröte liegen. In Wirklichkeit würde Achilles die Schildkröte überholen. Nach der Zenonischen Definition aber ist es unmöglich, weil es zu einem Widerspruch führt. Denn das hätte zu bedeuten, daß ein Raum-Zeitteil der Bewegung des Achilles sich selbst — also dem Punkt, den die Schildkröte eben verlassen hat — und einem anderen Punkt — den die Schildkröte erreicht — gleich sein müßte. Noch aus zwei anderen Beispielen ist uns die Argumentation des Zeno bekannt. Das eine Beispiel geht, wie das des Achilles, von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und der Zeit aus. Bewegung ist unmöglich, so überliefert es uns Aristoteles, weil das sich bewegende Etwas immer früher zu dem Halbierungspunkt als zu dem Endpunkt seiner Bahn gelangen müßte. Da es aber unendlich viele Punkte gibt, kommt die Bewegimg nicht voran, und wenn sie sich ins Unendliche fortbewegt. Das letzte Beispiel hat Ähnlichkeit mit dem Beispiel des Pfeils. In einer Rennbahn sind drei
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Körper, der eine soll stillstehen und die beiden anderen bewegen sich in entgegengesetzter Richtung. Beide passieren den ruhenden Körper. Die Zeit, in der sie einander passieren, ist, da sie sich entgegengesetzt bewegen, halb so lang wie die Zeit, in der sie den ruhenden Körper passieren. Daraus schließt Zeno, daß in diesem Fall die Hälfte dem Ganzen gleich sein muß. Wahrscheinlich ist der Gedankengang dieser: Zeno denkt sich die Bewegung des einen bewegten Körpers in Raumzeitteile aufgeteilt gemessen an der Länge des ruhenden Körpers, den er passiert. Die Bewegung des zweiten bewegten Körpers hat, da er ebensoviel Raum einnimmt, ebensoviele Raumzeitteile. Indes bewegt er sich in entgegengesetzter Richtung und passiert den ersten bewegten Körper doppelt so schnell wie den ruhenden. Also treffen auf je zwei Raumzeitteile der ersten Bewegung nur ein Raumzeitteil der zweiten Bewegung. Die Gesamtheit der Raumzeitteile, die sich Zeno bei diesem Beispiel, im Gegensatz zum Achillesbeispiel, wohl endlich vorstellt, wäre im einen Fall um die Hälfte kleiner als im anderen. Von der einen Bewegung aus beobachtet, müßte sich der entgegenkommende Körper um die Hälfte verkürzen. In dieser Form liegt der Gedanke der heutigen Auffassung nicht so fern. Bekanntlich lehrt die Fitz-Gerald-Kontraktion, daß ein bewegter Gegenstand sich in der Bewegungsrichtung verkürzt, wenngleich diese Verkürzung sich nur in Fällen außergewöhnlicher Geschwindigkeit bemerkbar macht. In allen vier Beispielen teilt Zeno die Bewegung in Raumzeitteile auf. Nachdrücklich ist zu sagen, daß sich gegen diese Aufteilung nichts einwenden läßt. Jede wirkliche Bewegung, die wir wahrnehmen, weist uns auf diesen Weg. Ein sich bewegendes Objekt durchläuft einen Raum, und unsere Anschauung der Bewegung läßt sich vom Raum gar nicht lösen. Die Anschauung selbst fordert uns auf, die Bewegung auf den durchlaufenen Raum zu projizieren. Zeno führt diese Zerlegung durch und erhält als Ergebnis, daß sich jede Bewegung zu bestimmten Momenten an bestimmten Orten befindet. Diese erste Stufe des Zenonischen Gedankengangs, die allen vier Beispielen gemeinsam ist, zeigt, daß die Bewegung eine Reihe von Raumzeitteilen ist. In der zweiten Stufe aber zeigt Zenon, daß es unmöglich ist, diesen Satz umzukehren und zu behaupten: Eine Reihe von Raumzeitteilen ist Bewegung. Wohl der Eindringlichkeit halber wählt Zeno vier verschiedene Argumente in den vier Beispielen, um zu beweisen, daß Raumzeitteile nicht Bewegung sind. Gibt es endlich viele Raumzeitteile in einer Bewegimg, dann steht die Bewegung, wie das Beispiel des Pfeiles beweist, still. Oder aber, wie das Beispiel von der Rennbahn beweist, zwei Raumzeitteile müssen einem gleich sein. Gibt es unendlich viele Raumzeitteile in einer Bewegung, dann bewegt sich die Bewegimg gleichfalls nicht. Denn die Bewegung müßte bis ins Unendliche die Strecke halbieren. Ja, das
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Beispiel von Achilles und der Schildkröte beweist, daß das schneller sich Bewegende niemals das langsamer sich Bewegende einholen würde. Zenons Dilemma läßt sich so zusammenfassen: Die anschauliche Bewegung besteht aus Raumzeitteilen und weist uns auf eine Zerlegung in Raumzeitteile hin, aber die Raumzeitteile lassen die Bewegung nicht zu. Er selbst hat ihm die schärfste Formulierung gegeben: «Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raum, in dem es sich befindet, noch in dem es sich nicht befindet 1 .» Die Aufzeigung dieses Dilemmas ist der Beweis, daß die Bewegung sich ohne weiteres in Raumzeitteile zerlegen, aber nicht ohne weiteres aus Raumzeitteilen wieder aufbauen läßt. Der Begriff der Bewegung läßt sich nicht einfach durch eine Summation von Raumzeitteilen ersetzen und ist dem Raumbegriff gegenüber selbständig. Sieht man von dem besonderen Fall des Bewegungsbegriffes und den besonderen Schwierigkeiten, die sich für dieses Phänomen daraus ergeben, ab, dann zeigt sich erst der systematische Wert des Gedankengangs. Zeno hat zum ersten Mal in aller Schärfe die Logik des Widerspruchs am Phänomen nachgewiesen. Geschichtlich hat leider die oberflächlichste Seite des "Widerspruchs die größte Wirkung gehabt. In Zenos Ausführungen kann man als ersten Widerspruch den zwischen Anschauung und Denken erblicken. Denn die Anschauung zeigt uns die Bewegung in einer natürlichen Einheit als existierend. Aus Zenos Überlegungen könnte man entnehmen, und vielleicht hat Zeno selbst dieses Ziel im Auge gehabt, daß die Bewegung nicht existieren kann. Natürlich ist gerade dieser Widerspruch besonders eklatant, aber tiefer und bedeutungsvoller scheint uns ein anderer. Der Begriff des Raumzeitteils wird gewonnen, indem das Phänomen der Bewegung zerlegt wird. Faßt man ihn aber als Teil der Bewegung auf und will aus ihm die Bewegung rekonstruieren, so wird dieser Begriff widerspruchsvoll. Denn ein Raumzeitteil müßte als Stück der Bewegung gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein (Achillesbeispiel) oder aber ein Raumzeitteil müßte z w e i e n gleich sein (Beispiel des Stadions). Der Begriff des Raumzeitteils und das Raumzeitteil selbst, dieses aus der Bewegung herausgedeutete Gebilde, wird zweideutig und hebt sich auf. Die letztgezeigte ist die klare Form des aus der negativen Selbstanwendung entstehenden Widerspruchs. Die Grundform der paradoxen Argumentation läßt sich durch einen Vergleich mit den formalen Paradoxien nachweisen. Der Lügner gibt die Definition seiner Aussage durch den Ausspruch: Alles, was ich sage, ist gelogen. Seine Aussage faßt alle seine Lügen zu einer Wahrheit zusammen. Diese Aussage schließt sich aber selbst ein, ist also negativ selbstanwendbar und führt zum Selbstwiderspruch. Ebenso verfährt Zeno bei seiner Definition der Bewegung. U m 1
Diels, Fragmente der Vorsokratiker I. 1922. S. 175.
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die Ähnlichkeit zu zeigen, sei die Definition Zenos auf den Wortlaut gebracht, der dem Lügner ähnelt. Sie lautet dann: Alles, was sich bewegt, besteht aus unbewegten Bewegungsteilen. Denn ein Raumzeitteil ist etwas, was nur vom Begriff der Bewegung aus verständlich, andererseits aber selbst unbewegt ist. In einem bestimmten Punkt ist hier die Bewegung zu einem bestimmten Moment faßbar. Wie der Lügner alle Lügen zu einer Wahrheit, so faßt diese Definition alle imbewegten Momente zu einer Bewegung zusammen. Doch besteht ein Unterschied: Der Lügner ist ein willkürlich ersonnener Fall, während die Bewegung uns selbst auf die Zerlegung in unbewegte Teile zu verweisen scheint. Ja, ohne die Aufteilung der Bewegimg in Raumzeitteile wäre keine naturwissenschaftliche oder mathematische Behandlung der Bewegung möglich. Die Praxis der Wissenschaft, insbesondere der mathematischen Wissenschaft, ist längst mit diesem Widerspruch fertig geworden. Man darf sich dadurch nicht über die prinzipielle Bedeutung der Zenonischen Analyse wegtäuschen lassen. Die Mathematik hilft sich beim Auftreten solcher Schwierigkeiten, die aus dem Verhältnis von Ganzem und Teil erwachsen, durch die Einführung des Unendlichen. Erkennt der Mathematiker, daß sich ein Gebilde in Teile zerlegen läßt, aber aus diesen Teilen durch Summation nicht wieder konstruieren läßt, so hat ein solches Gebilde für ihn unendlich viele Teile. Führt der Mathematiker einen Beweis durch, der sich in Teilbeweise zerlegen, aber nicht gänzlich aus diesen Teilen, die sich immer wiederholen, aufbauen läßt, so hat der Prozeß für ihn unendlich viele Schritte. Da er aber annimmt, daß auf diesem unendlichen Weg irgendwann ein unendlich kleiner Teil erscheint, läßt er den Übergang von den Teilen zum Ganzen zu. Der Begriff des Unendlichen ist also ein Deckbegriff für einen logisch undurchführbaren Übergang. Daß überall dort, wo der Begriff des Unendlichen erscheint, prinzipielle Schwierigkeiten logischer Art erscheinen können, hat Bolzano in seinen Paradoxien des Unendlichen erwiesen. Neuerdings hat Koyré 1 behauptet, daß die Zenonischen Argumente in den Schwierigkeiten gründen, die mit dem Begriff des Unendlichen zusammenhängen. Wenn nun auch die Einführung des Unendlichen die Schwierigkeit für den Mathematiker beseitigt und die Anwendung der Mathematik auf Zusammenhänge erlaubt, die ihr sonst nicht zugänglich wären, so bleibt die logische Schwierigkeit bestehen. Warum aber ist diese Schwierigkeit logischer Art? Das SpezifischLogische an ihr ist, daß sie ihren Ursprung in allgemeinen Regeln unseres Erfassens hat. Diese Regeln sind aber nicht bloß subjektive Bedingungen 1 Bemerkungen zu den Zenonischen Paradoxien, Jahrbuch für Philosophie und phänom. Forschung, V. 1922. S. 603fr.
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unseres Denkens, sondern wir finden sie als Grundverhältnisse in den Phänomenen. Im vorliegenden Beispiel ist es das Verhältnis von Ganzem und Teil. Zwei Wege sind möglich, wenn ein Phänomen als Ganzes im Verhältnis zu seinen Teilen betrachtet wird. Die Teile des Ganzen werden im ersten Fall nur eben als Teile des Ganzen angesehen. Die Teile der Bewegung gelten selbst auch als Bewegungen. In diesem Fall handelt es sich um eine positive Selbstanwendung. Das Urteil: Die Bewegung ist ein Ganzes, das aus Teilen besteht, kann dementsprechend zurückgeführt werden auf ein tautologisches Urteil mit dem Sinn: Jede Bewegung besteht aus Bewegungen. Im zweiten Fall aber führt der Satz, daß die Bewegung ein Ganzes ist, das aus Teilen besteht, zu einer negativen Selbstanwendung. Die Teile der Bewegung werden in diesem Fall vom Ganzen unterschieden und sind selbst nicht Bewegung oder etwas anderes als Bewegung. Das Urteil, die Bewegung besteht aus Teilen, hat also nicht tautologischen Sinn. Zeno hat für alle Zeiten klar gemacht, was das heißt. Besteht die Bewegung aus Raumzeitteilen, die ihrer Bedeutung nach nicht Bewegung sind, so entsteht ein logischer Fehlbetrag, wenn wir das Ganze aus seinen Teilen begründen wollen. Dieser logische Fehlbetrag m u ß auftreten, wenn wir ein Ganzes aus Teilen bestehen lassen, so daß die Teile das Ganze bilden, aber ihrem Wesen nach von ihm unterschieden werden können. Es ist kein Zweifel, daß die menschliche Erkenntnis an dem Auftreten eines solchen Fehlbetrages nicht scheitert und ihn durch einen logischen Sprung ausgleichen kann. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht der Begriff des Unendlichkleinen, der in der Mathematik oftmals dort auftritt, wo es in Rechnungen zu einem prinzipiellen Fehlbetrag kommt. Aber diese Anerkennung des Fehlbetrages durch einen Begriff beweist, daß es sich hier um eine prinzipielle logische Schwierigkeit handelt. Es ist ein letzter, untilgbarer Restwiderspruch, der hier in Erscheinung tritt. Denn das Unendlichkleine hat zwar den Charakter einer Größe, ist aber in der Praxis des Rechnens gleich Nichts. Der Mathematiker hat hier auf einen Punkt für seine Zwecke die negative Selbstanwendung und den Widerspruch konzentriert. Nirgends zeigt sich vielleicht so deutlich wie hier und in den folgenden Beispielen, daß der Streit um die Existenz des Widerspruchs recht fruchtlos geworden ist. Der Widerspruch ist ein konstitutiver Faktor gewisser Phänomene und hebt die Erkenntnis dieser Phänomene nicht auf, sofern die Erkenntnis nicht bei ihm stehen bleibt. Das Problem, das nicht allgemein gelöst werden kann und dessen Lösung in speziellen Fällen immer nur durch neue Entdeckungen zustande kommt, ist die Festlegung des Widerspruchs durch D e f i n i t i o n . Die Logik aber zieht nur die Konsequenz aus dieser Arbeit, wenn sie durch eine Systematik des Widerspruchs die allgemeine Bedeutung des Widerspruchs aufzuhellen hofft.
110 4. D I E
I I I . Theorie des selbstgegenständlichen Erkermens
SELBSTBEZOGENHEIT
DER
ALLESAUSSAGEN
Ein Verhältnis, das in manchem dem Verhältnis von Ganzem und Teil gleicht, ist das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem. Man kann zwei Spielarten dieses Verhältnisses unterscheiden als metaphysische Allgemeinheit und als Klassenallgemeinheit. Ein Verhältnis metaphysischer Allgemeinheit stellt jeder schlechthin umfassende Begriff, jedes Urteil und jeder Schluß dieser Art auf. So kann man den Begriff Sein als umfassenden Begriff verstehen und das Urteil aussprechen: Alles hat Sein. Damit ist gesagt, daß es nichts gibt, was nichtseiend ist. Eine Klassenallgemeinheit aber wird schon durch einen Begriff begründet, da jeder Begriff die «Klasse» all jener Gegenstände bildet, die unter ihn fallen. Der Begriff Tisch meint also alle Tische, und sie fallen insgesamt als Einzelne unter diese Allgemeinheit. Beide Arten der Allgemeinheit kommen, wenn auch auf ganz verschiedenem Wege, zur Selbstanwendung. Die metaphysische Allgemeinheit ist unmittelbar selbstanwendbar. Jeder Begriff, der das All der Welt benennt, ist selbstanwendbar, und das gleiche gilt von jedem anderen schlechthin umfassenden Denkgebilde. Sagt beispielsweise Heraklit, daß alles fließt, so muß auch wiederum dieses Verhältnis selbst fließend sein. Denn dem Begriff «All» entzieht sich, sofern er nicht durch einen Zusatz auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt wird, nichts. Um es anders auszudrücken: Der Begriff All schließt alles und auch sich selbst ein. Dieser Selbsteinschluß läßt aber unmittelbar die Selbstanwendung zu, von der denn auch alle schlechthin verallgemeinernden Urteile betroffen werden. Wenn also eine metaphysische Allgemeinheit gedacht wird—dabei sei außer acht gelassen, ob es eine solche geben kann und was alles gegen sie spricht — ist sie selbstanwendbar. Die Klassenallgemeinheit kommt nicht so direkt zur Selbstanwendung. Sie ist Begriffsallgemeinheit und als solche Voraussetzung der Erkenntnis. Ohne die Möglichkeit, die Mannigfaltigkeit des Seienden in Begriffsallgemeinheiten einzuordnen und zu vereinfachen, wäre die Welt unübersichtlich. Aber ihrem Wesen nach ist die Klassenallgemeinheit streng von den Gegenständen zu trennen, die sie jeweils bezeichnet. Der Begriff Tisch fällt nur soweit mit den Dingen die er begreift zusammen, als wir durch ihn den Tisch erkennen. Aber wir können beispielsweise nicht im praktischen Leben statt eines Tisches den Begriff Tisch benützen. So liegt es nahe in der Klassenallgemeinheit zunächst Ordnungsformen des Wirklichen zu sehen. Das allein genügt jedoch nicht; denn die Klassenallgemeinheiten ordnen nicht nur Wirkliches. Ihre Ordnungsfunktion dehnt sich auch über Begriffe und Unwirkliches aus. Dieselbe Funktion, die uns durch die Allgemeinheit des Begriffes Gegenständliches erfaßbar macht, schließt auch Begriffe und
4. Die Selbstbezogenheit der Allesaussagen
III
Beziehungen selbst wieder zu Allgemeinheiten zusammen. Den Beweis dafür gibt die Logik und die Mathematik. Im besonderen zeigt die formale Logik Klassenallgemeinheiten, die andere Klassenallgemeinheiten zu noch allgemeineren zusammenordnet. Auf diese Weise gewinnt sie letzte Erkenntniseinheiten, die allem Erkennen formal zugrunde liegen. Begriff, Urteil, Schluß sind Beispiel für solche Klassenallgemeinheiten, die zugleich letzte Erkenntniseinheiten sind. Als solche aber sind sie wiederum Voraussetzung aller anderen Erkenntnis. In der Natur solcher Denkgebilde liegt nun, daß sie selbstanwendbar sind, und zwar handelt es sich hier um eine erkenntnistheoretische Selbstanwendung. Wenn die formale Logik durch ihre Analyse der Erkenntnismittel die Möglichkeit der Erkenntnis begründet, dann begründet sie damit zugleich auch sich selbst. Gerhard Stammler legt in seiner Arbeit ausdrücklich fest, daß eine Begründung der Logik dieser Tatsache Rechnung tragen muß und stellt eine «Ringtheorie» der Logik auf, die sich aus einer Selbstanwendung entwickelt 1 . Gegen die antike, vor allem die vorsokratische Philosophie tritt in der heutigen Philosophie das Streben nach Erkenntnis einer metaphysischen Allgemeinheit mehr und mehr zurück, während das Vorhandensein umfassender Begriffsklassen als letzter Erkenntniseinheiten nicht bezweifelbar erscheint. Auch kann man in der vorsokratischen Philosophie nicht von einer scharfen Trennung zwischen metaphysischer Allgemeinheit und begrifflicher Allgemeinheit sprechen. Erkennendes Denken ist in der vorsokratischen Philosophie auf allgemeine Sätze und auf die Erkenntnis von Einzelnem gerichtet. Allmählich aber scheidet sich die Erkenntnis allgemeiner und allgemeinster Wahrheiten von der Erkenntnis spezieller. Dies ist das Ergebnis einer Entwicklung, die vor allem in der neueren Philosophie hervortritt. Das Denken spaltet sich in zwei Linien, deren eine unter dem Namen Philosophie sich der Erkenntnis allgemeinster Prinzipien und deren andere sich als einzelwissenschaftliche Erkenntnis der Anwendung der Begriffe auf die Erfahrung zuwendet. Doch bleibt es noch lange möglich, daß ein Denker in beiden Richtungen produktiv arbeitet. Descartes und Leibniz sind Beispiele, und selbst Newton fühlt sich als Philosoph und bezeichnet seine für unsere Begriffe mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis als philosophische. Dann beginnen die Versuche nicht mehr direkt aus dem Denken, sondern aus der Empirie allgemeinste Sätze abzuleiten. Auf diesem Wege kommt es allmählich zur Trennung, die verstärkt und verschärft wird durch die Differenzierung des praktischen Wissenschaftsbetriebes. Innerhalb des Problems der allgemeinen Erkenntnis tritt eine vollkommen neue Lage ein, als diese Scheidung ins theoretische Bewußtsein gelangt. 1
G. Stammler, Begriff, Urteil, Schluß. 1928. S. 229fr.
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I I I . Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
Hume sucht erstmalig die logischen Grundlagen dieser in der Praxis des Erkennens nun weitgehend verwirklichten Scheidung auf. Sie stellen sich ihm am Beispiel des Kausalprinzips so dar: Die Kenntnis des Kausalprinzips stammt ganz und gar aus der Erfahrung. Wir setzen aber die allgemeine Gültigkeit dieses Prinzips für alle Erfahrung voraus, obgleich wir diesen Satz in seiner Allgemeinheit niemals aus der Erfahrung beweisen können. Denn die wirkliche Gesamtheit der Erfahrung können wir niemals überblicken, stets tritt neue Erfahrung hinzu, an der wir immer aufs neue die Gültigkeit des Kausalsatzes erproben. Die Gewohnheit oder Übung ist das Prinzip, das uns immer wieder veranlaßt, von einer einmal erkannten Ursache auf dieselbe Wirkung zu schließen. Die Kenntnis des Kausalsatzes bringt uns also nach Hume Erkenntnis, soweit sie sich auf eine bestimmte Erfahrung stützt, und entspringt der Gewohnheit, soweit sie verallgemeinernde Wiederholung ist. Hierdurch bekommt der Kausalsatz den Charakter eines methodischen Prinzips, das zwar Allgemeinheit haben mag, aber ohne Erfahrung keine Erkenntnis geben kann. Aber auch in der Anwendbarkeit dieses Prinzips stößt Hume auf Grenzen. Es ist zwar möglich, die Naturerscheinungen auf einige wenige allgemeine Ursachen zurückzuführen, niemals aber wird es gelingen, die Ursachen dieser allgemeinen Ursachen aufzufinden. Schließlich glaubt Hume auch nicht, daß wir noch eine Ursache der Gewohnheit, die nach ihm die Ursache für die wiederholte Anwendimg des Kausalprinzips ist, finden können. Hume hatte die Schwierigkeit gezeigt: Unser Denken arbeitet mit allgemeinen Sätzen, aber wir können nicht wissen, ob diese Sätze allgemeing ü l t i g sind. Aber seine Theorie wird nur mühsam mit ihr fertig und bringt keine Entscheidung. Kant untersucht von neuem dieses Problem und findet eine Möglichkeit, durch Einführung des transzendentalen Gesichtspunktes das Problem zu lösen. Nach ihm besteht das Recht der allgemeinsten Denkformen darin, daß sie Voraussetzung aller Erfahrung sind, wo sie jedoch die Grenze der Erfahrung überschreiten, sind sie bezweifelbar. Er wird damit gleichermaßen der Tatsache gerecht, daß unser Denken mit allgemeinen Formeln arbeitet, und dem Zweifel, ob Allgemeinheit wirklich bestehi. Die synthetischen Prinzipien a priori haben für das Ganze unserer Erfahrimg Allgemeingültigkeit und haben keine Allgemeingültigkeit, wenn man ein größeres All als das der Erfahrung annimmt. «Das absolute All der Größe (das Weltall), der Teilung, der Abstammung, der Bedingung des Daseins überhaupt, mit allen Fragen, ob es durch endliche oder ins Unendliche fortzusetzende Synthesis zustande zu bringen sei, geht keine mögliche Erfahrung an 1 .» 1
B 511.
4. Die Selbstbezogenheit der Allesaussagen
"3
In der Beschränkung der allgemeingültigen Erkenntnis auf die Erfahrung sind Hume und Kant durchaus einig. Wohl verschärft Kant die Humesche Fragestellung. Denn Hume stellt fest, daß auch die allgemeine Erkenntnis aus der Erfahrung kommen muß, während Kant von vornherein fragt, ob allgemeingültige Erkenntnis überhaupt einen anderen Sinn als den der Anwendung auf die Erfahrung haben kann. Doch diese Verschärfung ist auch die Lösung, die unsere Erkenntnis auf eine mögliche Erfahrung beschränkt und ihr dennoch nicht den Charakter einer allgemeinen Erkenntnis nimmt. Doch Humes und Kants Untersuchungen der Grundlagen der allgemeinen Sätze sind in Wirklichkeit Untersuchungen der Erfahrungsgrundlagen der allgemeinen Sätze. Das Problem der Allgemeingültigkeit ist für beide von vornherein begrenzt durch ihren Erkenntnisbegriff, demzufolge alle Erkenntnis sich auf Erfahrung beziehen muß. Den Humeschen Nachweis, daß unser Denken letzten Endes auf die Erfahrung angewiesen ist, vervollkommt Kant durch die Behauptung, daß allgemeine Sätze Voraussetzung der Erkenntnis sind. Sieht Hume in der Allgemeingültigkeit gewisser Sätze nur die gewohnheitsmäßige Wiederholung gewisser Erkenntnisse, so erkennt Kant darin eine Bedingung der Erkenntnis und der Erfahrung. Dem Sinn nach ist diese Einsicht tautologisch, sobald man nämlich voraussetzt, daß alle Erkenntnis sich auf die Erfahrimg stützen muß. Genauer gesagt: in einem sich selbst bestätigenden Gedankengang entwickelt dieser Erkenntnisbegriff die Einsicht, daß allgemeine Sätze, als methodische Prinzipien wie bei Hume, oder als transzendentale Sätze wie bei Kant, zur Erfahrung gehören. Der Sinn dieses verengten Erkenntnisbegriffes ist es, die Selbstanwendung der allgemeinen Sätze als bedeutungslose und nur scheinbare Erkenntnis zu verstehen. Wir haben die Meinung Humes zitiert, daß wir zwar allgemeine Ursachen, aber niemals die Ursachen dieser allgemeinen Ursachen selbst wieder erkennen können. Noch ablehnender drückt sich Kant aus. Nach ihm erzeugt die Vernunft, wenn sie allgemeine Sätze über die Erfahrung hinaus gebraucht, nur Illusionen. Die Selbstanwendung der Vernunft auf sich selbst erzeugt Scheinerkenntnisse. In der transzendentalen Dialektik ist die Vernunft «mit nichts als sich selbst 1 » beschäftigt. Hume und Kant wollen vor allem verhindern, daß die Vernunft durch Selbstanwendung zu einer unberechtigten Selbsterweiterung der Erkenntnis kommt. Indem Kant die Erweiterung der allgemeinen Sätze auf letzte allgemeine Dinge ablehnt, indem er die Schlüsse, die diesem Verfahren entspringen, als tautologische Schlüsse kennzeichnet, verwirft er die Methode der positiven Selbstanwendung. Die Zirkelstruktur der allgemeinen Sätze 1
8
B 708.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
kann aber damit nicht aufgehoben werden. Wenn also allgemeingültige Sätze zwar nicht für das All schlechthin aber doch für das All unserer Erkenntnis gelten, dann gerät das Denken beim Aufsuchen dieser allgemeinen Sätze dennoch in die Zirkelstruktur. Wenn jemand eine Bedingung erkennt, die aller Erkenntnis zugrunde liegt, dann muß sie auch seiner eigenen Erkenntnis zugrunde liegen. Auch hier ist die Erkenntnis mit sich selbst beschäftigt und sucht ihre eigenen Bedingungen auf. Aber der Ansatz ist ein anderer. Die Allgemeingültigkeit der allgemeinen Sätze wird verengt. So ist es beispielsweise nicht mehr möglich, aus der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes auf eine letzte allgemeine Ursache überhaupt, sondern nur auf eine allgemeine (transzendentale) Ursache des Erkennens zu schließen. Es ist zu zeigen, daß diese beiden Auffassungen der Allgemeingültigkeit in einem Fall zur positiven und im anderen Fall zur negativen Selbstanwendung führen. Erst wenn man diese beiden Seiten zusammenhält, wird das logische Grundphänomen der allgemeinen Sätze klar. Allgemeine Sätze von der Art des Kausalsatzes sind — wie man sie auch auffaßt — selbstgegenständliche Denkformeln. Nicht nur jene Erkenntnis, die sich mit dem Menschen selbst, sondern auch jene Erkenntnis, die nach unbedingt allgemeingültigen Sätzen sucht, wird zur selbstgegenständlichen Erkenntnis und muß je nach der Verschiedenheit ihres positiven oder negativen Ansatzes auf Tautologien oder Widersprüche stoßen. 5. D E R
KAUSALITÄTSSATZ
Die unausweichlich selbstanwendbare Struktur der Allesaussagen zeigt sich am Beispiel des Kausalitätssatzes. Die Auffassung dieses Satzes, die verschiedene Interpretation, die er in der Geschichte des menschlichen Geistes erfahren hat, und die Erkenntnisse, die man aus ihm zu erschließen geglaubt hat, beweisen die Selbstanwendbarkeit. So verschieden die Auffassungen sind, so haben sie doch alle die gemeinsame Struktur der Selbstanwendung. Wie an einem Schulbeispiel tritt dabei aber die Grundverschiedenheit der negativen und positiven Selbstanwendung in Erscheinung. Zwei Auffassungen der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes sind möglich. Die eine bewegt sich in der Richtung, daß der Satz, wonach jedes Geschehen eine Ursache hat, schlechthin allgemeingültig ist. Diese Interpretation faßt die Allgemeinheit als eine unbegrenzte auf. So wird der Kausalitätssatz vor allem im Mittelalter verstanden, und es ist die Entwicklung der Naturwissenschaften, die eine andere Auffassung vorbereitet. In dieser zweiten Auffassung wird der Kausalitätssatz als ein zwar allgemeingültiger, aber dennoch begrenzter verstanden. Für diese Auffassung ist Kant charakteristisch, aber Ansätze zu ihr finden sich schon bei den Skeptikern und bei Hume.
5. Der Kausalitätssatz
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Spricht man dem Kausalsatz eine schlechthinnige Allgemeingültigkeit zu, dann wird der Satz ein Grundsatz, der über alle Erfahrung, mögliche und wirkliche, hinausgreifen kann. Es gilt dann: Alles Geschehen hat seine Ursache, wobei unter der Allheit des Geschehens die Allheit überhaupt verstanden wird. In dieser Auffassung wird der Kausalsatz positiv selbstanwendbar. Wenn alles, was geschieht, eine Ursache haben muß, dann muß beispielsweise auch dieser Satz eine Ursache haben. Das wiederum läßt sich doppelt auffassen. Der Satz muß einmal als sprachliches Geschehen seine Ursache haben. Es muß also ein Sprechen vorhanden sein, das ihn spricht. Er muß als Gedachtes seine Ursache haben und also muß ein Denken vorhanden sein, das ihn denkt. In einem zweiten und tieferen Sinn aber ist der Satz noch einmal anwendbar. Die ganze Tatsache als solche, daß jedes Geschehen eine Ursache hat, muß selbst eine Ursache haben. In diesem letzten Gedankengang ist die Möglichkeit der grenzenlosen Ausdehnung des Kausalitätssatzes enthalten. Gemäß diesem Gedankengang ist es erlaubt, nach der Ursache a l l e r Ursachen zu fragen. Ganz natürlich drängt sich diese Frage dem auf, der wirklich an die Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes glaubt. Nicht nur die Frage aber ist erlaubt, sondern der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes gemäß, ist auch das Prinzipielle der Antwort gesichert. Ist der Kausalitätssatz allumfassend, dann muß es auch eine Ursache aller Ursachen geben. Das sagt der Satz selbst. Die Logik des Satzes fordert eine Ursache dieser Art. Es ist also nicht zu verkennen, daß mit der grenzenlosen Verallgemeinerung des Kausalitätssatzes auch schon die Behauptung einer allumfassenden Ursache gegeben ist. Es ist im Grunde ein und dasselbe, ob der Kausalitätssatz als allumfassendes Prinzip oder ob eine Ursache aller Ursachen behauptet wird. Denn die Ursache aller Ursachen ergibt sich zwangsläufig aus der allumfassenden Gültigkeit des Kausalitätssatzes. Daß die logische Struktur der Selbstanwendung hier eine eminente metaphysische Bedeutung erhält, hat man zu allen Zeiten erkannt. Daher hat man den Kausalitätssatz benützt, um das Dasein eines ersten, alles andere verursachenden Wesens zu beweisen. Die Logik dieser Beweise, so sehr sie sich im Einzelnen auch unterscheiden, ist die der positiven Selbstanwendung. So geht Thomas von Aquin 1 davon aus, daß die sinnlichen Dinge durch Ursache und Wirkung geordnet sind. Gäbe es nun aber keine erste Ursache, dann könne es auch keine folgenden und letzten Dinge geben. Es müßte zu einem regressus in infinitum kommen, immer neue Ursachen müßten angenommen werden. Dies widerspricht der Ordnung. Da es eine Ordnung der sinnlichen Dinge gemäß Ursache und Wirkung gibt, muß es auch eine 1 vgl. dazu Leisegangs Analyse der Logik der Gottesbeweise des Thomas von Aquin. Denkformen, 1928, S. 251fr.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
erste Ursache geben. Die Selbstbezüglichkeit des Schlusses ist ganz deutlich. Aus der Tatsache, daß das Ursache-Wirkungsverhältnis ein allumfassendes Ordnungsverhältnis ist, wird geschlossen, daß es eine Ordnung dieser Ordnung gibt. Das aber ist eine erste Ursache. Die Selbstanwendung liegt darin, daß aus der Idee einer allumfassenden Ordnung eine Ordnung dieser Ordnung selbst bewiesen wird. Descartes zeigt in der dritten Meditation, wie von der mir eingeborenen Idee Gottes eine Kausalverbindung zu Gott selbst geht, der mir diese Idee gab. Daraus erweist sich das sichere Dasein Gottes. Der Gedankengang ist folgender: Die mir eingeborene Idee Gottes ist eine Wirkung des Daseins Gottes. Diese Wirkung wird für mich aber zur Ursache einer Erkenntnis von Gott selbst. Indem ich diese eingeborene Idee erkenne, schließe ich auf das Dasein Gottes. Die Grundlage dieses Schlusses ist natürlich die allumfassende Gültigkeit des Kausalitätssatzes. Nur dann, wenn die Idee Gottes die Wirkung einer Ursache ist, ist der Schluß auf Gott erlaubt. Deutlich tritt der Selbstschluß von der Allgemeingültigkeit der Kausalität auf eine Ursache ihrer selbst hervor, wenn Descartes fragt, ob die eingeborene Idee Gottes wirklich auf eine letzte vollkommene Ursache hinweist. Man kann fragen, ob die letzte Ursache eine Ursache durch sich selbst oder durch eine andere ist. Solange man eine Ursache annimmt, die wieder von einer anderen Ursache abhängig ist, wird man zu neuen Ursachen gelangen. Da es nun aber eine letzte Ursache geben muß, so muß diese Ursache Ursache ihrer selbst sein. Der Sinn dieses Argumentes ist aber, daß die Allgemeingültigkeit des Kausalitätsverhältnisses die Selbstanwendung erlaubt und also den Schluß auf eine letzte Ursache aller Ursachen fordert. Spinoza setzt an den Anfang seiner Ethik die Definition der causa sui. Er nimmt also die Selbstanwendung aus der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes vorweg und definiert eine sich selbst verursachende Ursache. Den eigentlichen Beweis der Existenz gibt er, indem er die Notwendigkeit der Ablehnung der negativen Selbstanwendung zeigt. Jedes Ding hat eine positive Ursache, die es begründet, oder eine negative, die es verhindert. Die Ursache ihrer selbst — die implicit in der Allgemeingültigkeit des Kausalverhältnisses enthalten ist — müßte, wenn sie nicht existierte, sich selbst verhindern. Das aber ist sinnlos. Weil also die negative Selbstanwendung, der im Kausalsatz (d.i. seiner Allgemeingültigkeit) liegenden positiven Selbstanwendung widerspricht, muß Gott existieren. Dieser unbegrenzten Anwendung des Kausalitätssatzes tritt schon früh der Versuch entgegen, den Kausalitätssatz zu beschränken. Schon bei Sextus Empirikus findet sich ein derartiger Versuch. Er bezweifelt nicht die Vorhandenheit des Ursächlichen. Denn wie sollten wir uns sonst die Welt
5. D e r Kausalitätssatz
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vorstellen? Er gibt zu, daß das Kausalverhältnis in gewissem Sinn die Grundlage unserer Vorstellungen ist. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß wir uns die Ursache nicht ohne die Wirkung und die Wirkung nicht ohne die Ursache vorstellen können. Mit welchem sollen wir beginnen ? Beides geht durcheinander und die Unterscheidung hebt sich selbst auf. Gerade die Einsicht in die Zirkelstruktur des Kausalsatzes verlangt, daß man im Gebrauch dieses Satzes an sich halten muß. Es ist nicht schwer zu erkennen, daß in diesem Gedankengang die Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes einer negativen Selbstanwendung unterzogen wird. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung wird als ein von Fall zu Fall geltendes, nicht aber als allgemeingültiges Verhältnis angesetzt. Denn wenn wir das Verhältnis ganz allgemein betrachten, dann ist nicht mehr zu entscheiden, was die Ursache und was die Wirkung ist. Der Sinn dieses Beweises ist, daß die Allgemeingültigkeit der Ursache-WirkungBeziehung selbst nicht unter sich selbst fällt. Von dem Ursache-WirkungVerhältnis als allgemeinem ist also weder Ursache noch Wirkung festzustellen. Es läßt sich aus der Allgemeinheit des Verhältnisses nicht, wie der Gedankengang der Gottesbeweise behauptet, eine erste Ursache feststellen. Dem Gedankengang Humes liegt gleichfalls eine negative Selbstanwendung zugrunde. Auch er bestreitet das Kausalverhältnis nicht. Aber die Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes läßt sich nicht beweisen. Um diesen Satz zu beweisen, müßten wir das All der Erfahrung wirklich vollkommen übersehen. Nun kennen wir das All der möglichen Erfahrung aber nicht, da unsere Erfahrung stets weiterschreitet und sich vermehrt. Dennoch stützen wir uns in der Erkenntnis auf den Kausalsatz und auf seine Allgemeingültigkeit, die wir von Fall zu Fall immer wieder aufsuchen. Der Kausalsatz läßt sich nach Hume also in keiner Weise aus der Erfahrung ableiten, andererseits aber kann seine Allgemeingültigkeit nur besagen, daß er für alle Erfahrung gilt. Die Struktur der negativen Selbstanwendung zeigt sich hier von einer anderen Seite. Hume stellt die Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes der Erfahrung gegenüber. Damit aber setzt Hume die Allgemeinheit schon negativ an. Denn wenn der Kausalsatz wirklich allgemeingültig ist, dann muß er a priori die gesamte Erfahrung in sich schließen. Allgemeingültigkeit in diesem Sinn bedeutet mehr als Erfahrung. Nach Hume aber ist der Kausalitätssatz nur soweit allgemeingültig als er in der Erfahrung verifiziert werden kann. Die so definierte Allgemeingültigkeit ist unweigerlich negativ selbstanwendbar. Denn die Allgemeingültigkeit selbst kann eben nicht aus der Erfahrung bewiesen werden. Für sie läßt sich keine erfahrbare Ursache mehr angeben und also hebt sie sich in der Selbstanwendung auf. Konsequent schließt Hume daraus, daß die allgemeine Anwendung
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I I I . Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
des Kausalsatzes ihren Anspruch der Allgemeingültigkeit nur auf unsere Gewohnheit, diesen Satz zu benutzen, zurückführen kann. Kant hat es unternommen, diese Auffassung des Kausalsatzes ein für allemal festzulegen. Er definiert: «Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei sich führt, kann nur ein reiner VerstandesbegrifF sein, der nicht in der Wahrnehmung liegt, und das ist hier der Begriff des V e r h ä l t n i s s e s der U r s a c h e und W i r k u n g , wovon die erstere die letztere in der Zeit, als die Folge, und nicht als etwas, was bloß in der Einbildung vorhergehen (oder gar überall nicht wahrgenommen sein) könnte, bestimmt. Also ist nur dadurch, daß wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität unterwerfen, selbst Erfahrung d. i. empirische Erkenntnis von denselben möglich; mithin sind sie selbst, als Gegenstände der Erfahrung, nur nach eben dem Gesetze möglich 1 .» Im Gegensatz zu Hume führt Kant nicht nur die Kritik der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes durch, sondern er zeigt, daß die Allgemeingültigkeit ist. Weil wir alle Veränderung dem Gesetz der Kausalität unterwerfen, darum ist Erscheinung nur auf dem Fundament des Kausalsatzes möglich. In diesem und in allen anderen Fällen schränkt Kant die Allgemeingültigkeit der reinen Verstandesbegriffe ein. Sie gelten nach ihm nicht für das All schlechthin, sondern nur für das All einer möglichen Erfahrung. Hier tritt nun der Charakter der negativen Selbstanwendung vollends rein hervor. Denn Kant definiert die Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes als eine Allgemeinheit, die Bedingung der Erfahrung ist, nicht aber des Alls schlechthin. Diese Allgemeinheit ist also zu verstehen als eine solche, die zwar die gesamte mögliche Erfahrung einschließt, aber das Nichterfahrbare ausschließt. Diese Definition ist wiederum die Definition einer, wie sie vorhin genannt wurde, negativen Allgemeinheit. Denn sie behauptet eine Allheit, die nur der Allheit der Erfahrung nicht aber der Allheit schlechthin gleichzusetzen ist. Daher muß sich denn auch die Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes, wenn er zu Schlüssen verwandt wird, die über die Grenze einer möglichen Erfahrung hinausgehen, selbst aufheben. Es ist also nicht zulässig, aus der Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes auf eine letzte Ursache zu schließen. Den Gedankengängen der Skepsis, Humes und auch Kants ist gemeinsam, daß sie nicht die Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes und den Kausalsatz selbst einfach aufheben wollen. Sie wollen nur verhindern, daß der Kausalsatz und seine Allgemeingültigkeit verwandt wird, um die Grenze der möglichen Erfahrung durch Erkenntnis zu überschreiten. So beschränken sie die Gültigkeit des Kausalverhältnisses und seine Allgemeinheit auf die 1
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5. D e r Kausalitätssatz
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Erfahrung. Sie hoffen damit dem Zirkelschluß zu entrinnen, der bei einer unbegrenzten Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes stets möglich ist und den Beweis einer ersten, über der Erfahrung stehenden Ursache möglich macht. Nun aber ist es ein Irrtum, zu glauben, daß eine solche Beschränkung der Allgemeingültigkeit zurAufhebung der Zirkelstruktur führt.Denn die Zirkelstruktur liegt in der Allgemeinheit, wie man sie auch definiert. Nur eins ist möglich: man kann die Zirkelstruktur positiv oder negativ vollziehen. Der Grundgedanke aber, der die Skepsis, Hume und auch Kant bewegt, ist, daß durch die Beschränkung des Kausalitätssätzes auf die Erfahrung der Zirkelschluß unmöglich gemacht wird. In Wirklichkeit aber lehnten sie den positiven Zirkelschluß ab und vollzogen dafür den negativen. Aus der Selbstanwendung des Kausalsatzes erschlossen sie zwar nicht das Dasein einer letzten Ursache. Diesen positiven Zirkel, der die Erweiterung des Satzes über die Erfahrung hinaus durchführt, vermeiden sie. Dafür aber vollziehen sie einen negativen Zirkelschluß, der sie zwingt das Phänomen der Allgemeinheit einzugrenzen. Die Interpretation des Ergebnisses ist verschieden. Sextus Empirikus versteht die notwendige Begrenzung des Kausalsatzes als eine Begrenzung seiner Allgemeingültigkeit und zieht daraus den Schluß, daß über die Gültigkeit des Kausalsatzes und aller allgemeinen Sätze nichts ausgesagt werden kann. Diese radikale Interpretation beschränkt den Kausalsatz auf ein methodisches und in seinem Werte zweifelhaftes Mittel. Daher empfiehlt der Skeptiker Zurückhaltung im Gebrauch solcher Sätze. Hume begrenzt gleichfalls die Allgemeingültigkeit. Aber er läßt den Kausalsatz als eine Art von Gewohnheitsrecht gelten. Kant aber bildet die Interpretation dieser notwendigen Einschränkung des Kausalsatzes theoretisch am genauesten durch. Der Kausalitätssatz ist eine der Bedingungen, gleichzeitig aber auch eine der Grenzen der Erfahrung. So ist seine Allgemeingültigkeit ausgedehnt auf die Allheit einer möglichen Erfahrung und nicht ausdehnbar auf das All schlechthin. Denn allgemeine Sätze dieser Art sind nicht nur Bedingung der Erkenntnis, die immer auf die Erfahrung angewiesen ist, sondern auch Grenze, eben weil die Erkenntnis nicht über die Erfahrung hinaus kann. Es ist die allen allgemeinen Sätzen anhängende Logik der Selbstanwendung, die es möglich macht, diese Sätze doppelt zu verstehen. Sie entwickelt eine eigentümliche Konsequenz. Da die Selbstanwendung unvermeidlich ist — wie man auch die Allgemeinheit versteht — so handelt es sich darum, ob die positive oder negative Selbstanwendung richtiger ist. Je nachdem man diese Frage beantwortet, wird man im Kausalitätssatz ein allumfassendes Seinsgesetz oder nur eine methodische Leitidee unserer Erkenntnis sehen. Beide Ansichten sind in der Geschichte der Philosophie vertreten worden, und sie wurden hier durch Beispiele angedeutet.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
Indessen ist hier noch eine tiefere logische Funktion zu zeigen. Wie früher ausgeführt wurde, ergibt die positive Selbstanwendung eine Tautologie und die negative Selbstanwendung einen Widerspruch. In jener Interpretation und Auffassung des Kausalitätssatzes, der zur positiven Selbstanwendung führt, müßte eine Tautologie, und in jener, die zur negativen Selbstanwendung kommt, ein Widerspruch zu erkennen sein. Nun führt in der Tat die positive Interpretation des Kausalsatzes als eines allumfassenden Satzes, wenn sie konsequent durchgeführt wird, zur Annahme einer causa sui. Das aber bedeutet, daß die Allgemeinheit der Ursachen ein tautologischer Ausdruck für alle Wirkungen ist. Der tautologische Sinn dieser Formel ist unmittelbar einsichtig. Aber auch dann, wenn aus der Allgemeinheit des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses eine letzte Ursache erschlossen wird, ohne daß sie als Ursache ihrer selbst bestimmt wird, bleibt der tautologische Charakter gewahrt. Denn diese letzte Ursache ist ein tautologischer Ausdruck für die gesamten Wirkungen und Ursachen der Welt. Ganz allgemein läßt sich sagen: was auch aus der Annahme einer umfassenden Gültigkeit des Kausalitätssatzes erschlossen wird, ist nur der tautologische Ausdruck eben der Allgemeingültigkeit dieses Verhältnisses. Jede Beschränkung der Allgemeingültigkeit des Kausalsatzes führt zur negativen Selbstanwendung. Von allen Anhängern einer solchen Auffassung ist der Widerspruch erkannt worden, der in diesem Ansatz enthalten ist, wenngleich fast niemals die eigentümliche Zusammengehörigkeit von Widerspruch und Beschränkung des Kausalsatzes richtig verstanden worden ist. Schon die Skepsis ist sich darüber klar, daß der Kausalsatz widerspruchsvoll ist, weil er sich in der Erfahrung bestätigt und auch nicht bestätigt. Hume arbeitet dann diesen Widerspruch heraus. Er erkennt, daß der Kausalsatz zwar aus der Erfahrungserkenntnis kommt und dennoch mehr aussagt als alle Erfahrungserkenntnis. Die klassische Durchführung des Widerspruchs aber hat Kant in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft gegeben. Er zeigt, wie uns der Kausalsatz einerseits veranlaßt eine unendliche Reihe von Ursachen ohne eine letzte Ursache anzunehmen, und wie er uns andererseits zwingt eine letzte freie Ursache zu setzen. Die Entwicklung all dieser Antinomien entspringt nach unserer Auffassung aus der Struktur der negativen Selbstanwendung, die mit der Einschränkung des Kausalsatzes auf einen zwar allgemeingültigen aber nicht allgemeinen Satz gegeben ist. Mit dieser Bestimmung erst wird das All der Erfahrung, das der Kausalsatz umfaßt, einem möglichen und denkbaren größeren All gegenübergestellt. Dem All der Erfahrung wird eine negative Bestimmung beigefügt, daß es nicht das All schlechthin ist. Damit aber wird die negative Selbstanwendung möglich, die Widersprüche entstehen läßt.
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Die positive oder negative Auffassung des Kausalsatzes entscheidet, ob er als tautologischer oder widersprechender Satz erscheint. Die positive Auffassung führt ebenso unbedingt zu einer tautologischen, wie die negative zu einer widersprechenden Interpretation führt. Naturgemäß aber entsteht die Frage, woher wir das Recht zu einer positiven o d e r negativen Auffassung nehmen und ob entscheidbar ist, welche Auffassimg die richtigere ist. Eine solche Entscheidung kann a l l e i n aus der L o g i k des allgemeinen Satzes nicht gefallt werden. Die Logik des allgemeinen Satzes als eines selbstanwendbaren Satzes sagt nur, daß er positiv o d e r negativ selbstanwendbar ist, sie sagt aber nicht, welche Interpretation die richtige ist. Um sich für die eine oder andere Durchführung zu entscheiden, bedarf es vielmehr anderer, außerlogischer Kriterien. Beweisbar im strengen Sinne des Wortes, d. h. also zwingend ableitbar, ist weder die positive noch die negative Auffassung des Kausalsatzes. Wohl legt der Glaube an ein umfassend geordnetes All eine positive Auffassung des Kausalsatzes und andererseits die Verwendung des Kausalsatzes als eines methodischen Forschungsprinzips die negative Auffassung nahe. Aber diese Einstellungen sind keine Beweise, sondern immer nur Anwendungen des Kausalsatzes. Unbeweisbar am Kausalsatz und an allen Sätzen, denen wir eine Allgemeingültigkeit zuschreiben, bleibt gerade die Allgemeingültigkeit selbst. Wenn das mittelalterliche Denken in seinem Glauben an den geordneten Kosmos aus der Allgemeingültigkeit des Kausalitätssatzes das Dasein eines letzten verursachenden Wesens ableiten zu können glaubt, so postuliert es diese Form der Allgemeingültigkeit. Wenn aber die Entwicklung der Wissenschaft immer stärker den Kausalsatz als ein methodisches Prinzip versteht und Kant in der Konsequenz dieser Auffassung zeigt, daß die bedingungslose Anwendung des Kausalsatzes abgelehnt werden muß, dann postuliert er eine andere Form der Allgemeingültigkeit. Keine Auffassung aber kann durch die Erfahrung belegt oder widerlegt werden. Als eine bloße Konsequenz aber ist es anzusehen, daß in dem einen Fall der Kausalsatz zu einer tautologischen Formel und im anderen Fall zur widerspruchsvollen Formel entwickelt werden kann. In diesem Sinn kann man sagen, daß der Kausalsatz und alle allgemeinen Sätze p r i n z i p i e l l zweideutig sind. Doch bedeutet diese Zweideutigkeit nur, daß die allgemeinen Sätze ihrer logischen Form nach eine doppelte Entwicklung zulassen. Von der Logik der Selbstanwendung aus ist uns das Verständnis dieser Zweideutigkeit möglich. Wir erkennen in allgemeinen Sätzen dieser Art selbstanwendbare Denkgebilde, die gerade in ihrer Allgemeinheit eine ungegenständliche Funktion ausüben. Aber diese Schwierigkeit geht auch nur so weit, als eben diese Sätze ungegenständlichen Charakter haben.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
In der Praxis der naturwissenschaftlichen Forschung löst sich für gewöhnlich diese Schwierigkeit, indem Ursache und Wirkung als Leitfaden für die Erforschung der Gegenständlichkeit angesehen wird. Freilich zeigt eine neuere Entwicklung der Physik — dabei ist besonders an die Heisenbergschen Formulierangen gedacht — daß auch die physikalische Forschung sich der Situation einer negativen Selbstanwendung des Kausalsatzes bewußt werden kann. Da aber diese Untersuchungen für den Physiker selbst noch in der Bewegung sind, sei es erlaubt, nicht mehr als eine Vermutung auszusprechen. S C H L U S S : DAS P R O B L E M D E R S T R E N G E N M E T H O D E I N D E R P H I L O S O P H I E ALS E I N P R O B L E M DER S E L B S T A N W E N D U N G Daß im Wissen der Mensch sich selbst gegenständlich werden kann, im Erkennen die Erkenntnis sich selbst durchsichtig wird und in allem Erleben überhaupt die Möglichkeit der Selbstbezogenheit liegt, ist ein mit dem Selbstbewußtsein des Menschen wohl unmittelbar verknüpftes Wissen. In diesem Sinn ist die Selbstbezogenheit unserem Denken und Bewußtsein unmittelbar selbstverständlich. Die Entwicklung des wissenschaftlichen Erkennens macht das selbstverständliche und selbstgegenständliche Wissen problematisch. Gegenständliches Wissen, vor allem wenn es in der Form des exakten Wissens auftritt, hat den Vorzug der Sicherheit und Unbezweifelbarkeit. Das sich vor allem in der neueren Zeit entwickelnde Ideal des Wissens ist das exakte Wissen und in dem Maße als dieses Ideal beherrschend wird, muß die Selbstgegenständlichkeit des Wissens problematisch werden. Der hervorstechende Wesenszug des exakten Wissens ist die Eindeutigkeit der aufgestellten Behauptungen und Ergebnisse. Daher muß der Ausbau des exakten Wissens in jedem neuen Ansatz immer wieder die Eindeutigkeit verlangen. Die Ausdehnbarkeit des exakten Wissens kann nur soweit reichen, als die Erkenntnis sich eindeutig machen läßt. Darin scheint keine Schwierigkeit zu liegen. Es bedarf scheinbar keiner anderen Arbeit als der, das Denken eindeutig zu machen, und so weit das Denken reicht, so weit muß sich eindeutige Erkenntnis und exaktes Wissen ausdehnen lassen. Demgemäß konzentrieren sich die Bemühungen um exaktes Wissen auf die Arbeit, das Denken zum methodisch-eindeutigen zu machen. Mit dem Eindringen des exakten Wissensideals in die Philosophie erscheint das selbstgegenständliche Wissen in einem zweifelhaften Licht. Diese Situation ist gekennzeichnet durch das Auftreten der Bemühung um eine sichere Methode. Die Hoffnung ist, daß man auch das Wissen der
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Philosophie zu einem exakten Wissen machen kann. Die Frage, wie weit sich das exakte Wissen ausdehnen läßt, tritt damit aber selbst in ein neues Stadium. Das philosophische Wissen ist ein Wissen, in dem nicht nur einzelne Phänomene, sondern immer auch das Ganze der Phänomene gewußt werden soll. In der Philosophie also gehört es beispielsweise mit zum Wissen, daß es Gewußtes gibt. In ihr wird zum Phänomen, daß es Phänomene gibt. Nur in ihr kann zum Begriff werden, daß es Begriffe gibt, und zur Erkenntnis werden, daß es Erkenntnis gibt. Ein Wissensaspekt der, wie der philosophische, auf das Ganze geht, muß immer auch seinen eigenen Aspekt miteinschließen. Nun aber soll die Philosophie Wissenschaft sein und kann sich also nicht im schlichten Haben und der einfachen Selbstgewißheit dieser Phänomene erschöpfen. Was macht ihren Wissenscharakter aus ? Die Antwort, die alle Methodenphilosophen auf diese Frage geben, ist sehr ähnlich. Ihre Meinung ist, daß die Philosophie noch nicht begonnen habe Wissenschaft zu sein und ihr Wissen im vorwissenschaftlichen Stadium verharrt. Es bedarf der Einführung der Methode, um die Philosophie auf die Höhe des wissenschaftlichen Wissens zu erheben. Descartes formuliert die Aufgabe so: es gilt einen unbedingt sicheren Punkt zu finden. Wie Archimedes glaubte die Welt bewegen zu können, wenn man ihm einen festen Punkt außerhalb der Welt gäbe, so hofft Descartes die Philosophie zur Wissenschaft machen zu können, wenn er einen festen Punkt findet. Wer sich die Mühe nimmt, dieses Gleichnis durchzudenken, erkennt den tiefen Sinn. Descartes weiß, daß seine Aufgabe darin besteht, einen festen Punkt zu finden, auf den er das Ganze des Denkens stützen kann und der, obwohl er außerhalb des Denkens liegt, dennoch dem Denken zugängüch sein muß. In ähnlicher Weise beschreibt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinenVernunft die Ausgangssituation seiner Untersuchungen. Das bisherige Verfahren der Metaphysik soll umgeändert werden, indem nach dem Beispiel der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit ihr vorgenommen wird. Sie besteht in der Einsicht, daß die Erfahrungserkenntnis sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände als Erscheinungen sich nach unserer Vorstellungsart richten. Kant vergleicht diese Wendung mit der neuen Einstellung, die Kopernikus fordert, um die Bewegung der Himmelskörper zu verstehen. Da die Bewegung der Himmelskörper nicht verständlich ist, solange man annimmt, daß sie sich um den Zuschauer drehen, nahm Kopernikus eine Bewegung der Erde an und konnte nun die Bahn der Sterne erklären. Und nochmals formuliert Husserl die Forderung einer prinzipiellen Neuorientierung der Philosophie. Die unmittelbare Einstellung, in der die Welt als wirkliche naiv anerkannt wird, muß radikal geändert werden. Die
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natürliche Welt wird, wie Husserl sagt, «eingeklammert», «ausgeschaltet» oder «außer Aktion gesetzt» und erst diese Ausschaltung der natürlichen Welt eröffnet den phänomenologischen Zugang. Husserl erinnert bei der Darstellung dieser Position mit Recht an den Descartesschen Zweifelsbeweis, in dem die Welt auch durch den allgemeinen Zweifel eingeklammert wird. In diesen Bestimmungen der Philosophie tritt die Aufgabe, Wissen vom Ganzen zu sein, zurück hinter der Aufgabe, beweisbares Wissen zu geben. Diese Entwicklung des beweisbaren Wissens aber rückt gleichzeitig die Selbstbeziehung des Denkens an die erste Stelle. Descartes beginnt mit ihr, Kant führt in seinem Hauptwerk eine Selbstanalyse des Denkens durch, und Husserl stellt an den Anfang seiner Untersuchungen wiederum eine Selbstuntersuchung der Erkenntnis. Die Selbstgegenständlichkeit des Denkens wird mit einem Male die Grundsituation der Philosophie. Ihre Darstellung, ihre Untersuchung und ihr Ausbau wird dreimal als erster Schritt der wissenschaftlichen Philosophie dargestellt und auf eine eindeutige Bestimmung gebracht. Es ist, als ob ein Zug des philosophischen Wissens, der bis dahin selbstverständlich war und stillschweigend vorausgesetzt wurde, nun untersucht und bestimmt werden muß. Warum aber tritt die Selbstgegenständlichkeit des philosophischen Wissens mit einmal betont an die Spitze der Philosophie? Soll damit die Philosophie überhaupt als selbstgegenständliches Wissen gekennzeichnet und von anderem Wissen abgegrenzt werden ? Daß dies nicht der Fall sein kann, geht aus dem Willen hervor, die Philosophie zur exakten Wissenschaft zu machen. Zwar ist auch in diesem Willen die Philosophie auf selbstgegenständliches Wissen angewiesen, auch jetzt kann sie nur in der Haltung des Wissens das Wissen als Gegenstand untersuchen. Es wiederholt sich also immer wieder die Struktur der Selbstgegenständlichkeit. Der oberflächliche Betrachter könnte meinen, daß immer aufs neue die Selbstbezogenheit des Denkens ihren Ausdruck in tautologischen Umschreibungen findet. Ja, Kant hat sogar seinem Vorgänger Descartes dieses tautologische Verfahren zum Vorwurf gemacht. Aber die Situation, die der Methodenphilosoph an die Spitze seines Philosophierens stellt, ist anders gemeint. Die Selbstgegenständlichkeit dieses Wissens hat nicht den Sinn des tautologischen Verfahrens. Das zeigt der neue Ansatz, der dem selbstgegenständlichen Wissen zugrunde liegt. Die Eigentümlichkeit der selbstgegenständlichen Begriffe, Urteile und Schlüsse ist, daß sie das, was sie meinen, auch sind. Diese unmittelbare Verbindung wird bei Descartes gerade noch als Grundlage sichtbar. Er ist sich dessen durchaus bewußt und weist wiederholt bei der Interpretation des cogito,ergo sum daraufhin. Aber auch bei ihm schon und noch deutlicher
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bei Kant und Husserl zeigt sich die andere Seite des selbstgegenständlichen Denkens in dem Versuch, auch in der Philosophie die methodische Distanz zwischen Erkanntem (Gegenstand) und Erkennen (Denken) zu wahren. Die Auswirkungen dieses Versuchs sind schon bei Descartes sichtbar. Er könnte das cogito, ergo sum als Selbstverständlichkeit an den Anfang seines Denkens stellen oder er könnte ihm die Form eines tautologischen Schlusses geben. Aber diese beiden Möglichkeiten sind für ihn keine methodische Grundlage. Er muß nachweisen, daß die Selbstverständlichkeit des cogito, ergo sum als eine unerschütterliche und notwendige auftritt. Das cogito, ergo sum muß — wenn es auch paradox klingt — als etwas von der Willkür des Denkens Unabhängiges gezeigt werden. Aus diesem Grund lehnt Descartes es einmal ab, das cogito, ergo sum als bloß reflexives Wissen zu verstehen. Daher ist der Zweifel an allem dem cogito, ergo sum vorangestellt und er hat, unter diesem Gesichtspunkt, geradezu den Wert eines Selbstexperimentes. Worin dieses Selbstexperiment höher steht als alles reflexive Wissen, ist klar. Ihn ihm wird mir der unbedingte Zusammenhang zwischen dem Denken und meinem Ich klar, er wird — das ist nur ein anderer Ausdruck — zum ersten gegenständlichen Bewußstein. Nun wiederholt sich bei Kant dieselbe Hoffnung, wenn er behauptet, daß sein Verfahren dem des Naturforschers nachgeahmt wäre und das aufsuchte, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt 1 . Auch Kant ist sich darüber klar, daß ein solches Experiment nicht mit Objekten, wie in der Naturwissenschaft, sondern mit Begriffen vor sich geht. Es ist also — so möchte man fortfahren — ein Experiment der Begriffe mit den Begriffen, der Erkenntnis mit der Erkenntnis. Wiederum aber zeigt sich, daß dieses Experiment die Aufgabe hat, zwischen dem reflektierenden Denken und dem in der Reflexion Erfaßten die methodische Distanz zu schaffen. Wie schon Descartes zeigte, daß nicht alles Denken zur eindeutigen Gewißheit führt, so grenzt Kant aufs neue das zweideutige philosophische Denken gegen das eindeutige ab. Nur das eindeutige Denken erfaßt echte Bestimmungen des Denkens, d. i. seiner selbst, während das zweideutige Denken nur auf scheinbare Bestimmungen stößt. Wenn Husserl zum dritten Mal diese Frage aufnimmt, so ist er in wesentlichen Stücken schon Epigone von Descartes und Kant. Wegweisend ist auch für ihn der Gedanke, die Philosophie zur strengen Wissenschaft zu machen. In allen Stücken wiederholt sich die Situation, in der Descartes und Kant waren, doch treten ihre einzelnen Merkmale ungleich deutlicher hervor. Einseitiger als jemals bei Kant und Descartes wird die Philosophie als die Wissenschaft vom «reinen Bewußtsein» bestimmt. Schärfer tritt die methodische Grundhaltung heraus, indem als Vorbedingung des phänomeno1
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
logischen Wissens die Ausklammerung der natürlichen Welt verlangt wird. Heller wird auch das Bewußtsein des methodischen Verfahrens, man denke nur an die genaue Erörterung der Begriffe: Evidenz, Wesensschau und Bedeutungsanalyse, die Husserl durchführt. Gleichzeitig aber tritt, wie nie zuvor und auch nicht bei Kant, die Begrenztheit dieses Denkens und seine Abhängigkeit von der formalen Logik zu Tage. Im besonderen zeigt sich, daß dieses Denken in einer unübertrefflichen Weise zwar das formale System des Erkennens zu durchleuchten vermag, aber weder dem Gebiet und Wesen des geschichtlichen Erkennens gerecht wird, noch die Exaktheit erreicht, die es sich zum Vorbild nahm. Man muß sich klar machen, was es heißt, in der Philosophie die methodische Distanz des exakten Erkennens zu verwirklichen. In der Arbeit der einzelwissenschaftlichen Forschung bedeutet sie, daß die Erkenntnis unabhängig vom Erkannten ist. Unter dieser stillschweigenden Voraussetzung arbeitet jeder exakte Wissenschaftler. Das wissenschaftliche Denken ist ein gegenständliches Vermeinen; das besagt, daß das Erkannte gegenständlicher Inhalt des Erkennens ist. Die methodische Distanz läßt sich als ein wesentlich negatives Merkmal bestimmen. Die Erkenntnis, also das Erkennen und seine Mittel in der Gestalt von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, sind nicht das Erkannte. Nur dort, wo diese Unabhängigkeit des Gegenstandes gewahrt wird, scheint exaktes Erkennen möglich. Der Philosoph, der exaktes Wissen sucht, muß diese Forschungssituation und ihre logische Struktur übernehmen. Wirklich sind die Anfangsüberlegungen von Descartes, von Kant und von Husserl — um nur die zu nennen, die hier genauer dargestellt wurden — dem Nachweis gewidmet, im Denken etwas vom Denken Unabhängiges aufzuweisen. Descartes zeigt, daß das Denken in allem Denken immer das Ich mit sich führt, Kant zeigt, daß alles Erkennen gewisse von ihm unabhängige Bedingungen in sich hat, und am schärfsten spricht es Husserl aus, wenn er Wahrheiten an sich behauptet, die schlechthin vom Denken unabhängig sind. Erst mit dem Nachweis eines solchen Unabhängigen, das vom Denken selbst wieder vergegenständlicht und genau untersucht werden kann, ist die Voraussetzung für die exakte Untersuchung gegeben. Indem der Philosoph sich auf diese Weise die methodische Distanz zu einem Gegenstand schafft, kommt er aber in Konflikt mit einer ursprünglicheren Situation seines Denkens. Die methodische Distanz nimmt ihr Recht aus der Tatsache, daß das Erkannte n i c h t das Erkennen ist oder, wenn man es anders ausdrücken will, daß das Erkannte vor dem Erkennen ist. Eben diese Unabhängigkeit des Gegenstandes möchte der methodensuchende Philosoph auch für sein Verfahren in Anspruch nehmen. Wenn er nun aber aus dem Denken etwas erweisen soll, das unabhängig vom Denken ist und dennoch nirgends anders als am Denken nachgewiesen werden kann, so gerät
Problem der strengen Methode in der Philosophie
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er in eine Situation, die in sich gespalten ist. Man möchte nun dagegen sagen, daß er sich auf etwas stützen soll, was er auch unabhängig vom Denken nachweisen kann, und also die in sich gegensätzliche Situation vermeiden soll. Selbst wenn das gelänge, dann hätte man immer erst ein neues einzelwissenschaftliches Verfahren dargestellt. Damit aber hätte man auch die spezifisch philosophische Aufgabe verloren. Insofern die Philosophie Wissen vom Ganzen sein soll oder Wissen von den letzten Fundamenten, ist unweigerlich ein Teil ihrer Forschungsaufgabe, auch das Denken und sich selbst zu erklären. An irgend einer Stelle im Gang der Philosophie muß sie auf die Aufgabe der Selbsterfassung stoßen. Damit aber tritt auch wieder die Situation ein, in der das Denken in sich den unabhängigen Gegenstand suchen muß und in sich, sofern es exakt verfahren will, die methodische Distanz zu diesem Gegenstand nehmen muß. Aus dieser zweideutigen Situation heraus begründet der Methodendenker die Methode. Seine Aufgabe fordert, im Denken die unbedingte und unabhängige Norm zu erweisen, und der Weg, den er allein gehen kann, zwingt ihn, das Denken durch sich selbst zu untersuchen. Die Zweideutigkeit dieser Situation ist im tieferen Sinn die Zweideutigkeit eines Denkens, das in reiner Selbstanwendung zur Erkenntnis sich erweitern will. Zwei Wege sind möglich. Man kann das Denken als negatives Phänomen verstehen und sich darauf berufen, daß das Denken nicht der Gegenstand ist. In diesem Fall muß das Ergebnis dieser Selbstanwendung als einer negativen der Widerspruch sein. Das Denken, als negatives Phänomen verstanden, führt wie die Skepsis zeigt, zur Selbstaufhebung. Der zweite Weg versteht das Denken als positives Phänomen und beruft sich darauf, daß das Denken als Erkenntnis mit dem Gegenstand eins ist. In diesem Fall wiederum ist der Weg für eine schrankenlose positive Selbstanwendung frei. In vielen Varianten hat das metaphysische Denken durch positive Selbstanwendung denkunabhängige Gegenstände bewiesen. Es ist leicht zu erkennen, daß die Methodendenker in allen Fällen einen mittleren Weg gegangen sind. Sie haben einerseits die negative Selbstanwendung gezeigt,aber auf einen bestimmtenPhänomenbereich beschränkt. Sie geben also teilweise dem Widerspruch Raum. Am Beispiel des Zweifels an allem exemplifiziert Descartes, am Beispiel der Vernunftwidersprüche Kant, am Beispiel der psychologistischen Widersprüche Husserl die negative Selbstanwendung. Auf der anderen Seite benützen sie die positive Selbstanwendung, um eine unabhängig geltende Form des Denkens zu erweisen. Das cogito, ergo sum Descartes', die Kategorien und Anschauungen a priori Kants, die Wahrheiten an sich bei Husserl sind das Ergebnis dieser positiven S elbs tanwendung.
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III. Theorie des selbstgegenständlichen Erkennens
Jeder Methodendenker stellt also Widerspruch und Selbstbestätigung, negative und positive Selbstanwendung einander gegenüber. Er löst die prinzipielle Zweideutigkeit dieser Denksituation, indem er beide Möglichkeiten entwickelt und beschränkt. Worin aber liegt die Exaktheit seines Denkens? In der Widerlegung der Widersprüche? Offensichtlich nicht, denn wenn man die Widersprüche tiefer versteht als negative selbstbezogene Phänomene, dann wird seine These, daß die Widersprüche «unmöglich» «bloßer Schein» sind oder die Erkenntnis beenden, unrichtig. Es wird weiter zweifelhaft, ob die Widersprüche sich auf ein bestimmtes Gebiet beschränken lassen, wie der Methodendenker meint. Wahrscheinlich wird vielmehr, daß die Widersprüche soweit reichen als das Denken auf negative Phänomenalität bezogen ist. Liegt die Exaktheit der Methodenbegründung in dem Nachweis des Ich, der Kategorien oder der Wahrheiten an sich? All dies ist nicht der Fall. Hier ist der Methodendenker um nichts weniger metaphysisch als der reine Metaphysiker. Wie der metaphysische Denker schließt er aus dem Denken auf das Sein. Freilich begrenzt er den metaphysischen Zirkel auf das Phänomen und erweist, daß die Phänomene, die als selbstverständlich aus dem Denken selbst sich ergeben, nur erkenntnistheoretische sein können. Wenn man die Methodendenker so beim Worte nimmt, wie sie es ausgesprochen haben, dann läßt sich nicht leugnen, daß sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Denn es ist nicht gelungen, eine exakte Methode der Philosophie zu begründen. Verglichen mit der Exaktheit des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens bleibt die Philosophie unexakt und metaphysisch. Aber es ist kein Zweifel, daß die Methodendenker in diesem Punkt sich selbst mißverstanden haben. Erst wenn man dieses Mißverständnis abrechnet, tritt der volle Gehalt ihrer Arbeit ungetrübt hervor. Dem positiven Gehalt ihrer Arbeit, wie uns die Geschichte der Philosophie ihn übermittelt, sei ein weiteres Moment angefügt. Sie haben das tiefere Verständnis des Widerspruchs, der seit Aristoteles als formale Schranke der Erkenntnis verstanden wurde, vorbereitet. Indem sie den Widerspruch in mehreren Gestalten zeigten, indem sie seine eigentliche Bedingtheit und die ihm zugrundeliegende negative Phänomenalität an konkreten Beispielen darstellten, haben sie die vorläufige Bestimmung des Widerspruchs, die er in der formalen Logik erfuhr, problematisch gemacht. Die Korrelation von Widerspruch als Erkenntnisaufhebung und Tautologie als positiver Erkenntnisbegründung, die von den Methodendenkern praktisch in ihrer Systematik durchgeführt wurde, ließ ein tieferes logisches Phänomen hervortreten: die Koordination von Widerspruch und Tautologie als negative und positive Selbstanwendung.
PHILOSOPHIE
Literatur in Auswahl
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