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German Pages 460 Year 2008
de Gruyter Studienbuch Ralf Klausnitzer Literatur und Wissen
Ralf Klausnitzer
Literatur und Wissen Zugänge — Modelle — Analysen
w DE
G
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 9 7 8 - 3 - 1 1 - 0 2 0 0 7 3 - 7 Bibliografische
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der Deutschen
Nationalbibliothek
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Vorwort Wissen literarische Texte etwas - und wenn ja, was? Wie gelangt dieses Wissen in Literatur? Können literarische Werke eine Quelle von Wissen sein? Welche Rolle spielen wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden in Romanen, Gedichten oder Dramen? Und wie lassen sich die von literarischen Texten implizierten, thematisierten oder problematisierten Wissensansprüche identifizieren und beschreiben, verstehen und interpretieren? Wenige Problemfelder der textinterpretierenden Disziplinen wurden in den letzten Jahren so intensiv und kontrovers verhandelt wie die mehrfach dimensionierten Beziehungen zwischen Literatur und Wissen. Die in literarischen Texten thematisierten Wissensansprüche fanden ebenso nachhaltige Aufmerksamkeit wie die vielfaltigen Bezugnahmen von Autoren auf die Entwicklungen spezialisierter Wissenskulturen. Rekonstruiert wurden der Einfluss von wissenschaftlichen Innovationen auf die poetische Einbildungskraft und ihre Metaphern, die Exponierung von Entdeckern und Erfindern zu Figuren von Romanen, Dramen und Gedichten sowie die Reflexion weltanschaulicher Ideen und erkenntnistheoretischer Probleme in Belletristik und Essayistik. Narrative Muster historischer Darstellungen wurden analysiert, die rhetorischen Verfahren philosophischer Texte aufgedeckt und dekonstruiert. Auch Sachbuch und Sachliteratur, die wichtige Vermittlungsfunktionen bei der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse an die Öffentlichkeit übernehmen, haben an Beachtung gewonnen. Doch obwohl nicht erst seit den Erweiterungen von Text-KontextBeziehungen im Zeichen diskursanalytischer oder kulturwissenschaftlicher Orientierungen verschiedene Überlegungen und Erkundungen zum Themenkomplex „Literatur" und „Wissen" unternommen wurden, steht eine umfassende Dokumentation dieses Problemkomplexes und eine systematische Zusammenfassung der bisher gewonnenen Einsichten aus. Das vorliegende Studienbuch will diese Lücke schließen und dazu: die wichtigsten seit der Antike diskutierten Zugangsweisen und Positionen zum Verhältnis von Literatur und Wissen dokumentieren; Modelle der mehrfach dimensionierten Beziehungen zwischen literarischer Kommunikation und Wissensordnungen vorstellen; Reichweite und Potenziale dieser Modelle in drei Fallstudien zu historischen Konstellationen exemplarisch demonstrieren; ein Glossar zur raschen Konsultation grundlegender Kategorien und Konzepte bereitstellen; eine umfassende Bibliographie der systematischen wie historischen Forschungsbeiträge zum Thema verfugbar machen und so für weiterfuhrende Beschäftigungen nützlich sein.
VI
Vorwort
In der Verbindung von Dokumentation, systematischer Modellierung und historischer Exemplifikation eignet sich dieses Studienbuch in besonderem Maße als problemorientierte Einfuhrung in ein Themenfeld, das in der universitären Forschung und Lehre wie auch in der Öffentlichkeit bereits jetzt eine wichtige Rolle spielt und in der Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Zahlreiche Bachelor-Studiengänge der Literatur- und Kulturwissenschaften und nahezu alle der gegenwärtig in der deutschen Universitätslandschaft implementierten Master-Studiengänge in den textinterpretierenden Disziplinen besitzen Module, in denen die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur und Wissen verhandelt werden. Auch die kulturwissenschaftliche Erweiterung der universitären wie außeruniversitären Beschäftigung mit literarischer Kommunikation hat in diesem Feld einen zentralen Gegenstandsbereich gefunden - die hier dokumentierten Zugangsweisen und die mit ihnen verbundenen Diskussionen zeugen davon und können möglicherweise weitere anschlussfahige Untersuchungen initiieren. Das Vorgehen des Bandes orientiert sich an Erfordernissen eines Lehrwerks, das von einfachen Begriffsbestimmungen zu komplexeren Überlegungen und Modellbildungen aufsteigt. Im Zentrum des einleitenden ersten Abschnitts steht eine systematische Klärung von Zentralbegriffen, um Spezifik und Zugangsmöglichkeiten des in Literatur und literarischer Kommunikation zirkulierenden Wissens zu erfassen. Von der sprachlichen Verfassung textueller Äußerungen zur Formierung von Ausdrucksinteressen und Geltungsansprüchen ausgehend, werden grundlegende Kategorien zur Beschreibung von Zeichen und Zeichensystemen als der gemeinsamen Basis von Literatur und Wissen erläutert. Dieser geteilte Grund wird durch eine Explikation der zentralen Begriffe „Wissen" und „Literatur" deutlich: Als dynamische, sich diachron wie synchron verändernde Gesamtheit von begründeten Kenntnissen, die in bzw. mit kulturellen Systemen erworben, gespeichert und weitergegeben werden, ist Wissen primär sprachlich verfasst (auch wenn spezialisierte Wissenskulturen alternative Darstellungsformen ausbilden können). Wissen erscheint und wirkt vor allem im und durch das Kommunikationsmedium Sprache kann es doch als Summe jener nachvollziehbaren und modifizierbaren Geltungsansprüche aufgefasst werden, die als Resultate spezifisch konditionierter Beobachtungen in unterschiedlichen Bereichen arbeitsteilig organisierter Gesellschaften entstehen und zu ihrer Vergegenständlichung sprachliche Zeichen voraussetzen wie erzeugen. Diese Auffassung hat weitreichende Konsequenzen. Sprachliche Formen sind einem wie auch immer beschaffenen Wissen nicht äußerlich; Texte sind keine „Transportbehälter", die vorgängig produzierte Erkenntnisse nur in einer Form aufbewahren, die stets auch anders ausfallen könnte. Sprachliche Zeichen sind vielmehr notwendige Bedingung für die Generierung, Speicherung und Wiedereinschaltung von Kenntnissen, die ohne je eigene Formate nicht in Erscheinung treten und wirken würden.
Vorwort
VII
Folgt man diesen Bestimmungen, lässt sich der Zusammenhang zwischen differenzierten Formaten des Wissens und gattungsspezifisch konditionierten Texten der Literatur als dynamisches Verhältnis korrespondierender Beobachtungsverfahren und Ausdrucksweisen beschreiben. Lebensweltliches Wissen erzeugt sich in und mit „einfachen Formen", die Redewendungen und Sprichwörter ebenso umfassen wie Rätsel und Ratgebertexte. Die in unterschiedlichen Bereichen gewonnenen Erfahrungen (die wie alle Varianten von Wissen bestimmter Formen der Einprägung und Fixierung bedürfen, um weitergegeben und übernommen werden zu können) unterscheiden sich in mehrfacher Weise von den diskursiv begründeten Erkenntnissen spezialisierter Expertenkulturen, die in institutionell ausdifferenzierten Bereichen generiert werden und ihre Formulierung in (nicht nur, doch weitgehend) schriftsprachlich verfassten Beschreibungen, Hypothesen und Theorien finden. Besonderen Anteil an Wissenselementen haben schließlich jene Erzeugnisse, die aufgrund interner Markierungen und besonderer Umgangsweisen als Werke der (schönen) Literatur gelten und an einer noch näher zu bestimmenden literarischen Kommunikation partizipieren. Auch literarische Texte sind keine „Container" vorgängig gewonnener Einsichten oder Kenntnisse; sie erscheinen und wirken vielmehr als besondere Realisierungen von Sprache, in und mit denen mögliche Welten generiert und hypothetische Geltungsansprüche auf zugleich figurative und performative Weise artikuliert werden. Literarische Texte imaginieren Handlungen in fiktionalen Räumen und also gleichsam auf Probe; sie spielen kontrafaktische Annahmen durch und entwickeln Szenarien, in denen differenzierte Planungen angestellt, Vermutungen getestet und Erfahrungen formuliert werden können. In symbolischer Weise sprechen sie Abwesendes aus, machen Unsichtbares sichtbar und erlauben so Beobachtungen, die anderen Perspektiven verschlossen bleiben. Damit ergeben sich weitreichende Möglichkeiten für literaturwissenschaftliche Analysen. Praktiken zur Herstellung „epistemischer Dinge" können in ihren zeichen- bzw. textförmigen Realisierungen ebenso erforscht werden wie die Sprachspiele der Literatur, die als simulative Modellierungen von Möglichkeiten stets in gattungsspezifischer Gestalt auftreten und sich dabei in vielfaltiger Weise auf unterschiedliche Wissensbestände beziehen. Die dafür bereitstehenden Beobachtungsverfahren werden detailliert erläutert: Zum einen können die materialen Gestaltungen, das heißt die „Oberflächen" von Zeichen und Zeichensystemen zur Generierung und Kommunikation von Erkenntnissen beschrieben und erklärt werden; zum anderen kann den „Tiefenstrukturen" von kondensierten Unterscheidungen in Texten nachgegangen werden. Voraussetzung dafür ist die formulierte Einsicht in den unhintergehbar sprachlichen Grund von Wissen: Nicht nur die Formulierungen des Regel- und Weltwissens in alltäglichen Zusammenhängen, sondern auch die Darstellungen in spezialisierten Wissenskulturen und die stets gattungsgebundenen Manifestationen
Vili
Vorwort
von Literatur folgen grundlegenden Regeln zur Realisierung spezifischer Effekte der Rede, die im Anschluss an Erkenntnisse der traditionsreichen Rhetorik rubriziert und erklärt werden können. Äußerungen von Literaten und von Wissenschaftlern partizipieren am Vokabular der natürlichen Sprache (auch wenn die Fachsprache der Wissenschaft daran spezifische Änderungen vornimmt); sie beziehen sich auf begrifflich fixierte Ideen oder Probleme und auch auf die in Spezialdiskursen generierten Fachsprachen. Ist im einleitenden ersten Abschnitt so ein Verständnis für die Reichweite des Problemzusammenhangs gewonnen, können in einem zweiten Schritt die zu seiner Erfassung entwickelten Zugänge vorgestellt werden. Das Spektrum der hier dokumentierten Perspektiven reicht von den bereits in der Antike beginnenden Diskussionen um Wahrheit, Täuschung und Lüge der Dichter über die Textumgangsformen von Poetik, Rhetorik und Hermeneutik bis zu den Auffassungen von Wissen als einem (besonderen) Kontext literarischer Texte, wie sie in den Varianten der Philologie, aber auch in geistes- und ideengeschichtlichen Zugängen entwickelt wurden. Neben den Einsätzen zur Beschreibung und Erklärung sprachlichen Wissens und semantischer Prinzipien durch Formalismus und Strukturalismus bilden poststrukturalistische Entgrenzungen und die gegenwärtig diskutierten Modelle einer „Poetologie des Wissens" einen besonderen Schwerpunkt - versprechen diese doch nicht weniger als einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Statt „Literatur" und „Wissen" als (isolierte) Objekte zu studieren, geht es ihnen um Analyse der kulturellen Praktiken bzw. Diskurse, die diese Objekte überhaupt erst konstituieren. Literatur und Wissen erscheinen in diesen Perspektiven nicht als getrennte Gegenstandsbereiche mit mehr oder weniger intensiven Austauschbeziehungen, sondern als Formen der Repräsentation einer kulturellen Bedeutungsproduktion. Die damit möglichen Gewinne werden ebenso zu verzeichnen sein wie ihre nicht unproblematischen Konsequenzen: Denn nun lassen sich zwar Veränderungen literarischer und wissenschaftlicher Denk- und Schreibweisen als Ergebnis von Umstrukturierungen in der Erkenntnisökonomie einer Epoche nachzeichnen; zugleich aber droht die Gültigkeit traditionsreicher Unterscheidungen wie zwischen Genese und Geltung, Realität und Fiktion oder Objekt und Diskurs zu schwinden. Ausgangspunkt der im zentralen dritten Kapitel entworfenen Modelle sind die aus den vorgestellten Zugängen gewonnenen Einsichten in die sprachliche Konstitution von Wissen. Wie die Manifestationen von Alltags- und Weltwissen oder die Darstellungsformen spezialisierter Wissenschaften sind auch literarische Texte keine „Behälter", die vorgängig produzierten Erkenntnissen nur zur austauschbaren Aufbewahrung dienten. Als conditio sine qua non für die Vergegenständlichung von Kenntnissen, die ohne diese Formen nicht erscheinen und in Wirkung treten könnten, stellen Texte und die mit ihnen verbundenen Instanzen der Produktion (also Autoren mit rekonstruierbaren Be-
Vorwort
IX
zugnahmen auf historisch konkrete Wissensbestände) und der Rezeption (also Leser mit je eigenen Wissenshorizonten) jene elementaren Einheiten dar, von denen ausgehend die vielschichtigen Beziehungen zwischen Wissenskulturen und literarischen Kommunikationen beschrieben und erklärt werden können. Zu berücksichtigen sind dabei die mehrfach dimensionierten Beziehungen zwischen Autorfunktionen, Textstrategien und Leserverhalten wie auch die expliziten und impliziten Wissensansprüchen und Wertvorstellungen, die den Zusammenhang von Erkenntnisgewinn und Darstellungsformen in je konkreten Konstellationen regulieren. Zu diesen zeitlich wie örtlich genau zu bestimmenden Bezugswerten gehören auch mehr oder weniger verbindliche kulturelle Konventionen und Tabus sowie gruppen- und schichtenspezifische Normen, die Beziehungssinn und Zeichenökonomie literarischer Formate nachhaltig prägen. Notwendig für die Modellierung dieser komplizierten Verhältnisse bleibt nicht zuletzt der Rekurs auf textbezogene Sprachhandlungen im Literatur- und im Wissenschaftssystem: also auf die vielfaltigen Varianten eines sachbezogenen Wissens von und kommunikativen Handelns mit Texten in den aufeinander bezogenen Zirkulationssphären von Verbreitung, Vermittlung, Bewertung etc. Auf dieser Grundlage sind zentrale Aspekte des Verhältnisses von Literatur und Wissen zu modellieren und folgende Konstellationen in den Blick zu nehmen: (a) die in Texten generierten fiktionalen und faktualen Welten als spezifische Erkenntnisformationen, in denen historisch variable Regeln der Simulation eine ebenso zu rekonstruierende Rolle spielen wie Referenzen von Textfiguren auf realweltliche Personen, die Gestaltung wissenschaftlicher Probleme oder die Thematisierung philosophischweltanschaulicher Ideen; (b) Schreibweisen und Textverfahren als Funktionselemente von Wissen, die mit poetischen und rhetorischen, figurativen und performativen Konditionen sowohl die Erkenntnisproduktion in spezialisierten Expertenkulturen als auch den Gewinn hypothetischen Wissens in Epik und Dramatik, aber auch in Lyrik und Essayistik regulieren; (c) Literatur als Produkt von Wissensordnungen, die - wie etwa populäre Geschichtsschreibung, Ratgebertexte oder Sachbücher - rhetorische Techniken und narrative Verfahren zur Vermittlung von speziellen Wissensbeständen nutzen. Die Fallstudien im abschließenden Abschnitt erläutern die gewonnenen Einsichten und Modelle an drei exemplarischen Konstellationen aus einer langen Beziehungsgeschichte. Die erste Analyse unter der Überschrift „Geheime Lenkung, unsichtbare Hand" rekonstruiert anthropologische und arkanpolitische, chiromantische und physiognomische, ideengeschichtliche und philoso-
χ
Vorwort
phische Wissensbestände in Texten, die zwischen 1776 und 1796 erschienen, und erläutert diese in ihren sichtbaren wie subkutanen Verbindungen mit einem historisch weitreichenden und von unterschiedlichen Quellen gespeisten Metaphernkomplex - dem Bild der „invisible hand", das nicht erst durch Adam Smith und dessen wirtschaftswissenschaftliche Nachfolger zu einem bis heute faszinierenden Symbol für per se uneinsehbare Mechanismen der Handlungskoordination in komplexen Systemen der modernen Welt avancierte. Die Fallstudie „Magnetische Operationen" widmet sich am exemplarischen Beispiel den narrativen Mustern zur Darstellung des Mesmerismus in der Literatur. - Die dritte Studie untersucht Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Szenarien sozialen Handelns, die nicht erst seit Thomas Hobbes' LEVIATHAN und Bernard Mandevilles BIENENFABEL poetische Inventionen und rhetorische Verfahren zur Formulierung von Wissensansprüchen nutzen und in wirkungsmächtigen Texten der modernen Gesellschaftstheorie ein lang anhaltendes Faszinationspotenzial gewinnen sollten. Glossar und Bibliographie im Anhang sollen dem Leser das Leben erleichtern und Lust auf weitergehende Recherchen machen. Denn das Wissen der Literatur ist ebenso wie die Literatur des Wissens ein weites Feld, das sich nicht in Interferenzen zwischen einigen fachwissenschaftlich ausgebildeten Autoren und der Naturforschung seit der Frühen Neuzeit erschöpft. Damit ist ein Punkt benannt, der dieses Studienbuch von anderen Einsätzen einer wissensgeschichtlichen Kulturwissenschaft unterscheidet. Für die Erforschung der Korrelationen zwischen Literatur-, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte bedarf es nicht allein der Berücksichtigung von Beziehungen zwischen Poesie und Naturwissenschaften (auch wenn Rekonstruktionen der Interaktionen zwischen Literatur und Medizin, Naturgeschichte oder Psychologie entscheidende Aufschlüsse gegeben haben und mittlerweile sogar in Handbuchform vorliegen). Systematisch zu modellieren und historisch nachzuzeichnen sind zugleich die Wechselbeziehungen der literarischen Kommunikation mit einem jeweils aktuellen Alltags- bzw. Weltwissen sowie mit den Geltungsansprüchen normativen Wissens in Naturrecht, politischer Theorie und Ethik. Zu dokumentieren sind schließlich auch die Darstellungsformen in historisch variierenden und konkurrierenden Fundierungstheorien wie der Philosophie, deren Geltungsansprüche nicht selten auch literarisch verhandelt wurden und werden. Erst umfassende Klärungen dieser komplexen Relationen und Interaktionen in gattungsspezifisch segmentierenden Analysen - die nicht zuletzt das Wissen über Literatur uftd die Formierung von Erkenntnissen durch rhetorische und poetische Verfahren thematisieren - können die vielfältigen Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Wissen in fruchtbarer und anschlussfähiger Weise erfassen.
Vorwort
XI
Nicht extra zu betonen ist wohl der Umstand, dass es sich bei der vorliegenden Darstellung um die Vermessung eines vielfaltigen und nicht leicht zu übersehenden Terrains handelt. Eben darum kann es nicht ausbleiben, dass bestimmte Aspekte vernachlässigt scheinen, andere dagegen eine zu extensive Thematisierung vermitteln. Denn auch wenn eine Konturierung der relevanten Gesichtspunkte angestrebt wurden, ist eine vollständige Behandlung dieses faszinierenden Themas im Rahmen eines Studienbuches natürlich nicht zu leisten. Doch sollten zumindest Einsichten in grundlegende Zusammenhänge, Impulse für weiterfuhrende Bemühungen und vor allem fragende Neugier geweckt werden - beginnt doch mit staunenden Fragen nach Ursachen nicht nur die wahrhafte Liebe zur Weisheit und also die Philosophie (wie es der Sokrates in Piatons Dialog THEAITETOS, 155d ausspricht), sondern auch das, was dieser philosophische Text nicht endgültig definieren kann, doch in der Simulation eines Gesprächs und mit poetisch-rhetorischen Inventionen wie dem „Wachsblockmodell" und dem „Taubenschlagmodell" entwickelt und vorführt, demonstriert und exemplifiziert: Wissen. Abschließend bleibt zu danken. Denn die Fertigstellung dieses Buches während der interessanten und ziemlich anstrengenden Lehrtätigkeit an der Tamkang Universität in Taiwan wurde nur durch vielfaltige Hilfe und Unterstützung möglich. Zu bedanken habe ich mich in erster Linie bei meiner Familie und vor allem bei Dorit, Gustav und Robert, die mir auch in dieser Situation halfen, wo sie nur konnten. Zu danken habe ich den taiwanischen Kollegen an der Deutschen Abteilung der Tamkang Universität und besonders Hsiu-Chuan Chang, die immer zuhörte, wertvolle Anregungen gab und in entscheidenden Momenten für technische Hilfe sorgte. Für Beistand und Texte danke ich Freunden und Kollegen, im besonderen Michael Angele, Thomas Anz, Lutz Danneberg, Otto Eberhardt, Claudia Löschner, Guido Naschert, Gideon Stiening, Christian Weber, Dirk Werle und Yvonne Wübben. Über die nicht unbedeutende Entfernung immer wieder unterstützt haben mich Kerstin Krull und Brigitte Peters. Sein Erscheinen in dieser Form verdankt der Band schließlich Manuela Gerlof, Heiko Hartmann, Angelika Hermann und Susanne Rade vom Verlag Walter de Gruyter, deren freundliche Geduld und umsichtige Aufmerksamkeit sich jeder Autor nur wünschen kann.
Taipei, im Juni 2008
Inhalt Vorwort
V
1. Grundlagen
1
1.1 Begriffsklärungen 1.1.1 Literatur 1.1.2 Wissen
9 11 12
1.2 Semiotische Prinzipien 1.2.1 Zeichen und Bedeutung 1.2.2 Einfache und komplexe Zeichen 1.2.3 Differentialität 1.2.4 Aufzeichnung, Speicherung, Wiedereinschaltung
16 17 19 21 24
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur 1.3.1 Wissensarten und -formate 1.3.2 Gattungen der Literatur 1.3.3 Wissen in Lebenswelt, Expertenkulturen, Literatur 1.3.4 Hypothetisches Wissen der Literatur
25 27 36 41 44
1.4 Verhältnisvarianten und Fragestellungen
49
2. Zugänge
57
2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike 2.1.1 Scheinbares Wissen, täuschende Dichter. Piaton 2.1.2 Mitteilung des Allgemeinen. Aristoteles 2.1.3 Pathos, Ethos, Logos. Texteffekte und Regelsysteme 2.1.4 Verstehen und Interpretieren 2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie 2.2.1 Aufmerksamkeit, Schriftsinn, Textkritik 2.2.2 Bedeutungskonzeptionen und Kommentar 2.2.3 „Wechselseitige Erhellung" und Gesetzeserkenntnis
61 64 68 71 84 91 94 104 107
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte 2.3.1 Geistesgeschichte 2.3.2 Problem- und Ideengeschichte 2.3.3 Historische Semantik
111 117 120 124
2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus 2.4.1 Poetische Sprache, Beschreibung und Erklärung 2.4.2 Relationale Verhältnisse von Elementen. Strukturalismus 2.4.3 Strukturale Semantik
126 127 130 132
2.5 Entgrenzungen. Nach dem Strukturalismus 2.5.1 Arbeit am Verdrängten 2.5.2 Unabschließbare Differenz 2.5.3 Die Macht der Diskurse und ihre Analyse
136 138 139 142
2.6 Erweiterungen und Limitationen 2.6.1 Poetik der Kultur. New Historicism 2.6.2 Poetologien des Wissens 2.6.3 Analytische Unterscheidungen
148 149 151 154
XIV
Inhalt
3. Modelle
160
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur 3.1.1 Gelehrter Dichter, Genie, Literat. Dimensionen des Autors 3.1.2 Botschaft, Mitteilung, Schrift. Archivfunktionen 3.1.3 Codes, Normen, Werte. Leserwissen 3.1.4 Publikum, Kritik, Kanon. Sprachhandlungswissen
165 169 183 194 200
3.2 Regeln der Simulation. Literatur als Erkenntnisformation 3.2.1 Faktuale und fiktionale Welten 3.2.2 Figuren und Personen 3.2.3 Chiffren und Schlüssel 3.2.4 Assoziationen und Irritationen
210 215 224 235 250
3.3 Generative Epistemologie. Poetische Funktionselemente von Wissen 3.3.1 Rhetorik des Wissens, Darstellungsformen der Wissenschaft 3.3.2 Inventio/ Elocutio. Erkenntnisleistungen der Metapher 3.3.3 Narration und Reflexion
253 255 267 295
3.4 Literatur als Erzeugnis von Wissensordnungen 3.4.1 Weltall, Erde, Mensch. Sachliteratur
302 306
4. Exemplarische Analysen
313
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796 4.1.1 Chiromantik und Ökonomie. Vorgriffe 4.1.2 Arkanpolitik und Physiognomik, Geister- und Regierungswissen 4.3.3 Art von Experiment. Bildungsroman und Untergrund 4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus 4.2.1 Diskursive Korrespondenzen 4.2.2 Restauration der Vernunft 4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme 4.3.1 Enthüllungsfiguren des historischen Materialismus 4.3.2 Warenanalyse und symbolische Interpretation
316 321 347 376 391 393 396 401 403 408
5. Glossar
417
6. Auswahlbibliographie
426
1. Grundlagen
Literarische Texte wissen etwas - und zwar nicht wenig. Sie folgen den Regeln der Sprache, in der sie erscheinen und in Wirkung treten; und sie kennen und realisieren Verfahren zur Überschreitung dieser Regeln. Literarische Texte nutzen die von einer traditionsreichen Rhetorik klassifizierten Mittel zur Erzeugung unterschiedlicher Effekte der Rede; und sie verwenden ein explizites oder implizites Wissen ihrer Register, wenn sie gattungs- und genrespezifisch konditionierte Aussagen generieren, um in den Köpfen von Lesern mögliche Welten entstehen zu lassen. In unterschiedlichen Formen und Formaten partizipieren sie an Ideen und Problemen ihrer Entstehungszeit und beziehen sich dabei stets auch auf andere Texte: Schon die durch Sophokles zwischen 429 und 425 v. Chr. vorgenommene Dramatisierung des Mythos vom König Ödipus (ΟΊΔΊΠΟΥΣ ΤΎΡΑΝΝΟΣ) artikuliert am exemplarischen Fall die neuen und als unlösbar empfundenen Konflikte angesichts erweiterter Grenzen eigenverantwortlichen Handelns, wenn die Titelfigur den bitteren Weg von Unwissen-
2
1. Grundlagen
heit und Verblendung zu Einsicht und Selbsterkenntnis zu gehen hat und sich schließlich selbst blendet (um die durch eigenes und doch unwillentliches Verschulden ums Leben gekommenen Eltern in der Unterwelt nicht ansehen zu müssen). Die von Aristoteles ein Jahrhundert danach zum Musterfall der Gattung erklärte Tragödie gestaltet einen Stoff, den die Zeitgenossen bereits aus dem 11. Buch der ODYSSEE sowie aus Adaptationen durch Aischylos, Euripides, Meietos und Xenokles kannten und dessen Wirkungen also weniger durch einen (bekannten) Inhalt als vielmehr durch neuartige Gestaltung erreicht wurden. Doch literarische Texte wissen noch mehr. Die in literarischen Texten entworfenen fiktionalen Welten und ihre imaginären Bewohner kennen und befolgen konventionalisierte Verknüpfungen zwischen Namen und Sachen; zugleich haben sie die Lizenz zum freien Spiel mit ihnen und gewinnen dadurch Handlungskompetenzen, die Resultat wie Bedingung von Wissen sind. Bereits Homers listenreicher Odysseus weiß, dass Lügen und Täuschen in bedrohlichen Situationen überlebensnotwendig ist; sich selbst als „Niemand" bezeichnend, kann er mit seinen Gefährten dem geblendeten Zyklopen Polyphem entkommen. Literarische Figuren - von Wolfram von Eschenbachs Parzival bis zum kleinwüchsigen Blechtrommler Oskar Matzerath - partizipieren an geschriebenen wie ungeschriebenen Regeln ihrer Umgebung und verraten damit stets auch etwas über die expliziten und impliziten Normen und Konventionen in der Lebenswelt ihrer Autoren. Die Helden von Tragödien (und mit ihnen Leser und Zuschauer) leiden unter Intrigen, die funktionieren, weil es Asymmetrien in der Verteilung von Wissen und den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten gibt; komische Wirkungen entstehen, wenn Akteure in Texten oder auf der Bühne mehr (oder auch weniger) begreifen als andere und das Bewusstsein des eigenen Besserwissens ein Gefühl der Heiterkeit auslöst. Literarische Werke können aber auch sehr spezielle Wissensbestände thematisieren und in je eigenen Formaten gestalten. Schon die Epen Homers enthalten nicht nur griechische Sagen und Genealogien, sondern auch Vertragsund Rechtspraktiken, Gebete und Opferrituale sowie nahezu tausend namentlich genannte Personen und Orte: also Realien, die aus ihnen (protohistorische) Enzyklopädien ihrer Zeit machen. - Das um 55 v. Chr. entstandene Lehrgedicht D E RERUM NATURA (ÜBER DIE NATUR DER DINGE) von Lukrez erläutert Grundlagen der epikureischen Atomistik in Hexametern und formuliert naturphilosophische Geltungsansprüche in poetischer Sprache. Die 1321 vollendete L A DIVINA COMMEDIA des Dante Alighieri schildert eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt und breitet dabei nicht nur detaillierte mythologische Vorstellungen und historisch-politische Ideen aus (bis hin zu messianischen Hoffnungen auf Heinrich VII.), sondern auch astronomische und geographische Kenntnisse. - Der historische Roman (dessen Entwicklung in
1. Grundlagen
3
Deutschland mit jener Benedikte Naubert beginnt, deren Prosatexte ULRICH HOLZER ( 1 7 8 6 ) oder WALTER VON MONTBARRY ( 1 7 9 2 ) unter anderem Walter Scott inspirieren sollten) ist nicht denkbar ohne Bezugnahmen auf geschichtliche Konstellationen und das sie präsentierende historiographische Wissen. Texte der sogenannten Science Fiction imaginieren die Folgen wissenschaftlich-technologischer Innovationen, in dem ihre Szenarien den Einzelnen oder die Gesellschaft in zumeist radikal alternative Verhältnisse außerhalb unserer „normalen" Lebenswelt versetzen oder aber (wie beispielsweise E.T.A. Hoffmanns erstmals 1 8 1 6 publiziertes „Nachtstück" DER SANDMANN und Mary Shelleys Roman FRANKENSTEIN OR THE MODERN PROMETHEUS von 1 8 1 8 ) wissenschaftliche Visionen mit übernatürlich scheinenden Elementen verbinden. - Von den ESSAIS des Michel de Montaigne über die Weltanschauungsessayistik der Jahrhundertwende bis zu Botho Strauß' 1992 veröffentlichtem Spiegel-Text ANSCHWELLENDER BOCKSGESANG und darüber hinaus spannt sich schließlich die Geschichte einer Gattung, die Diskussion und Vermittlung von hypothetischem Wissen im Namen fuhrt: Der aus der französischen Sprache stammende Begriff Essai leitet sich vom lateinischen exagium ab, was ursprünglich „Wägen" oder „Gewicht" bedeutet und seit den musterbildenden Texten des skeptischen Moralisten aus Frankreich eine Textsorte benennt, die Erkenntnisse nicht als dogmatische Doktrin formuliert, sondern eine tentative und unabgeschlossene Suche so präsentiert, dass der Leser eigene Schlüsse ziehen kann. - Selbst in der zumeist subjektivierten und verdichteten Sprache der Lyrik lassen sich vielfaltige Bezugnahmen auf Ansprüche und Probleme der Wissenschaften entdecken: Häufig genannte Beispiele für direkte Referenzen sind die 1 7 3 2 veröffentlichte Gebirgsbeschreibung DIE ALPEN des universell gebildeten Mediziners Albrecht von Haller (das auf die erwähnte Lehrdichtung des Lukrez bzw. Vergils GEORGICA zurückgeht und auf die sogenannte Gedankenlyrik vorausweist) oder Goethes 1798 entstandenes Gedicht DIE METAMORPHOSE DER PFLANZE, das botanische Einsichten in besonderer Weise ausspricht. Anspielungen und Verweise auf wissenschaftliches Wissen findet sich aber auch (in noch zu klärender Form) in den Gedichten des Facharztes fur Haut- und Geschlechtskrankheiten Gottfried Benn oder in Durs Grünbeins SCHÄDELBASISLEKTIONEN aus dem Jahr 1 9 9 1 . Gleichwohl hat es nicht an Stimmen gefehlt, die der Literatur ein Wissen absprechen. Schon in Piatons um 394 v. Chr. entstandenem Dialog ION erklärt die Textfigur Sokrates, dass man die Kenntnisse von Experten konsultieren müsse und sich nicht auf die Epen Homers verlassen dürfe, wenn man wissen wolle, wie man einen Wagen lenke, einen Kranken heile oder eine Schlacht gewinne.' Doch Piatons Sokrates geht noch weiter. Die „rechten Dichter" der Epen und Lieder seien (wie die wahrsagenden Verkünder von Orakelsprüchen)
1
Piaton: Ion, 537a-539e.
4
1. Grundlagen
„Begeisterte und Besessene", die so nur im Zustand des „tanzenden Wahnsinns" sprechen könnten und sich in „vernünftigem Bewusstsein" niemals so äußern würden: „Denn ein leichtes Ding ist der Dichter, beschwingt und heilig, und nicht eher in der Lage zu dichten, bevor er nicht in göttliche Begeisterung geraten und von Sinnen ist und der Verstand nicht mehr in ihm wohnt. Solange er aber diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu künden." 2 Während Piaton die ohne Verstand handelnden Dichter auch als „Lügner" bezeichnet und aus seinem idealen Staat ausschließen will (POLITEIA III, 386a-403c und X, 595a-608c), verfahrt sein Schüler Aristoteles weitaus moderater. Zum einen akzeptiert er den grundlegenden Unterschied zwischen der poetischen „Nachahmung" von Handlungen (die er mit dem folgenreichen Begriff Mimesis bezeichnet) und der Realität: Dichtung ist nachahmende Darstellung; allerdings nicht von tatsächlich Geschehenem bzw. von dem, „was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (,anankaion) Mögliche". 3 Zum anderen markiert Aristoteles eine besondere Qualität poetischer Gegenstände: Dargestellt werden Handlungen, die etwas über den Menschen im Allgemeinen aussagen und nicht über zufallige und beliebige Verhältnisse - was es erlaubt, Dramatik und Epik als mögliche Medien der Erkenntnis und des intellektuellen Vergnügens auszuzeichnen. Im neunten Kapitel seiner um 335 v. Chr. entstandenen POETIK heißt es ausdrücklich: „Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt - man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt."4 Auch wenn Aristoteles' Bestimmung der nachahmenden Dichtung auf einem spezifischen Verständnis von sinnhaft geordneter Wirklichkeit beruht,5
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Platon: Ion 534a-b, hier zitiert nach der Übersetzung von Hellmut Flashar. München 1963, S. 18f. Aristoteles: Poetik 9, 1451 a36-38, hier zitiert nach der Übersetzung von Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 29. Ebenda. Für Aristoteles ist der kosmos noch eine sinndurchwirkte Ordnung, ein geordnetes Ganzes, in dem sich natürliches Leben nach Zweckursachen vollzieht und der vernunftbegabte Mensch planvoll wie zielgerichtet handelt. Dichtung spiegelt den
1. Grundlagen
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bleibt seine Position zum Problem des Verhältnisses von „Dichtung" und „Wissen" von nicht zu unterschätzender Bedeutung und soll deshalb noch einmal wiederholt werden: Poetische Texte beziehen sich nicht auf singulare und historisch überprüfbare Sachverhalte, sondern auf allgemeine Muster des Handelns und Verhaltens. Literatur hat Modellcharakter: In der simulativen Gestaltung von Handlungsvarianten in imaginierten Möglichkeitsräumen geht sie über die Schranken des zufalligen Wirklichkeitsraumes hinaus. Gleichwohl realisiert sie diese Dimensionen stets in spezifischer, die Affekte berührender Weise - durch Bedeutung und Sinnlichkeit. Diese Einheit von kognitiven und emotionalen Potentialen soll für spätere Diskussionen wichtig werden. „Aut prodesse volunt aut delectare poetae/ aut simul et iucunda et idonea dicere vitae": Entweder belehren [nützen, helfen] oder unterhalten [erfreuen, vergnügen] wollen die Dichter/ oder zugleich Erfreuliches und Nützliches über das Leben sagen, heißt es in dem nach 13 v. Chr. entstandenen Brief des römischen Dichters Horaz an die Pisonen, der unter dem Titel DE ARTE POETICA überliefert und berühmt wurde.6 Seit dieser Formel - zu der zumeist noch Horaz' Diktum von der Mischung des „Nützlichen" mit dem „Süßen" (bzw. angenehm Unterhaltenden) sowie Cicero Trias von „docere, delectare, movere" tritt7 - werden die Funktionsbestimmungen von Poesie und Kunst im Spannungsfeld von nützlicher Belehrung und ästhetischer Lust verortet, auch wenn die inhaltlichen Ausgestaltungen dieser Kategorien und ihrer Relationen sehr verschieden ausfallen können. Kompliziert wird es, wenn die für eine bestimmte kulturelle Konstellation formulierten Zuweisungen nicht mehr tragen und Funktionen nicht mehr trennscharf abzugrenzen sind - was nicht zuletzt mit dem Phänomen der Fiktionalität zu tun hat, das im antiken Griechenland bereits durch den Sophisten Gorgias reflektiert und im deutschen Sprachraum seit dem 12. Jahrhundert entdeckt wird. Oder wenn sich die Aufgaben des Belehrens und Erziehens bei zunehmender Ausdifferenzierung eigenständiger Kommunikationssysteme und Wissen(schaft)sbereiche zugunsten einer erhöhten Lust-Produktion zu verflüchtigen scheinen, was in der Spätantike und dann wieder seit der Frühen Neuzeit zu
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Sinn dieser Ordnung wider; mimetische Darstellung bildet diese Strukturen ab mit dem Ziel, deren Sinn zu enthüllen und damit ihre Gültigkeit zu manifestieren. Dichtung orientiert sich letztlich also an theoretischen Annahmen: Geordnetheit; Einheit als Bedeutung des Strukturganzen und aller Teile gemäß Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Einfachheit. Horaz: De Arte Poetica 333-334. Ebenda, 343f.: „omne tulit punctum, qui miscuit utile dulcí / lectorem delectando pariterque monendo.": „Jede Stimme [im Urteil des Publikums] erhielt, wer Süßes dem Nützlichen beimischte / indem er den Leser ergötzte und gleicherweise belehrte." - Die drei Aufgaben des Redners des „Unterrichtens", „Unterhaltens" und „Bewegens" (docere, delectare, movere" formuliert Cicero: Orator, 21-69; ähnlich Quintilian: Institutio oratoria 12, 10, 59.
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1. Grundlagen
beobachten ist. Noch komplizierter wird es, wenn jegliche Pflichtzuweisungen an literarische Texte im Zeichen einer neuartigen Autonomieästhetik zurückgewiesen werden, was nicht nur im deutschen Sprachraum spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts geschieht. (Denn streng genommen sind sowohl die Funktionen des Belehrens und Erziehens wie die Aufgabe der Lusterzeugung eigentlich Fremdbestimmungen von Literatur, während die Autonomieästhetik jegliche Heteronomie der Kunst ablehnt.) Die Begründung eines neuen Dichtungs-Begriffs um 1750 vollzieht sich dabei nicht zufällig in einer Zeit, in der im Kontext der europäischen Aufklärungsbewegungen auch die modernen Experimentalwissenschaften entstehen und sich die Konstellationen von Erkenntnis und Erzählung, von Tatsache und Rhetorik, von Fakten und Fiktionen nachhaltig ändern. Neugier und Aufmerksamkeit, (wiederholter) Versuch und (unterschiedliche) Deutung werden zu Antriebsmomenten von Sprach- und Wissenskulturen, die sich nun begrifflich wie verfahrenstechnisch ausdifferenzieren und disziplinär verfestigen. Während Experten in Laboratorien und mit zunehmend genaueren Observationen „epistemische Dinge" erzeugen und dabei eingeführte wie neugestaltete Darstellungsformate nutzen, um ihre Wissensansprüche zu formulieren, wandeln sich mit Verschiebungen im DichterVerständnis (vom poeta doctus zum „Originalgenie") und des lesenden Publikums auch die Vorstellungen von Literatur: Poetische Texte emanzipieren sich von früheren Zweckbestimmungen regelvermittelnder Didaktik und religiöser Erbauung; sie avancieren zum Medium eines selbstbezüglichen, im Modus der Sprache operierenden Spiels mit Möglichkeiten, die einem empirisch gebundenen Individuum verschlossen bleiben. Diese hier nur angedeuteten und noch näher zu erläuternden Veränderungen haben weitreichende Auswirkungen auf das Verhältnis von „Literatur" und „Wissen". Die seit Piaton bis zum Zeitalter der Aufklärung geltende Verknüpfung des Wahren, Guten und Schönen - die wenn nicht identifiziert, so doch eng assoziiert worden waren - löst sich auf. Es entstehen Konzepte, die ästhetische Lust und Vergnügen an der Abweichung von bislang herrschenden Normen nun ebenso zu konzeptualisieren suchen wie eine als „schöne Wissenschaft" bezeichnete Literatur, die in Ästhetik und Kritik ihrerseits neuartige Beobachtungsperspektiven und Selbstbewusstseinsformen entwickelt. Den seit der Frühen Neuzeit entstehenden und in der Epoche der Aufklärung methodisch bewirtschafteten Laboratorien und Beobachtungsanordnungen korrespondierend, etabliert sich (europäische) Literatur seit dem 18. Jahrhundert als ein Spiel-Raum, in dem in ergebnisoffenen Anordnungen hypothetisches Wissen getestet und simulierte Vielfalt ausprobiert werden kann. Damit erwachsen den sich ausdifferenzierenden Formen bzw. Gattungen der poetischen Literatur neuartige kulturelle Funktionen: Sie speichern nicht mehr nur individuelle bzw. kollektive Erfahrungen, sondern avancieren zu Versuchsanordnungen eines symbolischen Probehandelns. Entlastet vom Alltagsdruck und seinen
1. Grundlagen
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Forderungen nach pragmatischer Verständigung setzen literarische Texte das spezifisch menschliche Potential der Einbildungskraft frei und erlauben in Imaginationen die temporäre Aufhebung der Grenzen unserer empirischen Existenz. Seit 1774 leiden Leser mit Goethes Werther (ohne selbst sterben zu müssen); verwirren sich im 20. Jahrhundert mit Musils Zögling Törleß oder erwarten mit Kafkas Josef K. den entscheidenden Prozess. Mit klopfendem Herzen galoppieren Leser unter nebelbekleideter Eiche zur wartenden Geliebten (auch wenn sie als empirische Leser gar nicht reiten können) und teilen emotionale Erfahrungen, die Jahrhunderte vor ihnen gemacht wurden. Leser von Lyrik lassen sich durch einen archaischen Torso Apollos ansehen und erfahren mit dem lyrischen Ich, dass sie ihr Leben ändern müssen. Doch ist diese Erweiterung einer begrenzten menschlichen Existenz nur ein Aspekt unter den vielfältigen Dimensionen literarischer Texte. Als Zeichenkomplexe, die sprachliche Bilder und mehrfach deutbare Ausdrücke verwenden, speichern sie ein (möglicherweise nicht kodifiziertes und unter Umständen nur schwer ermittelbares) Wissen über Bedeutungszuschreibungen und Auslegungspraktiken - und verlangen adäquate interpretatorische Anstrengungen, die ihrerseits Erkenntnisse hervorbringen und verändern. Als Mitteilungen, die sich durch Befolgung spezifischer Regeln oder durch Abweichung von Normen der Umgangs- oder Standardsprache unterscheiden, richten sie die Aufmerksamkeit auf ihre besondere selbstbezügliche Gestaltung und reflektieren damit das Wissen von und über Sprache überhaupt. In der Modellierung von Handlungen und Wahrnehmungen lassen literarische Texte zugleich Rückschlüsse auf individuell wie auf gruppenspezifisch geprägte Deutungs- und Wertungsmuster zu. Sie vermitteln - deutlich markiert oder verschlüsselt - Einsichten in vielfältige Wissensbestände ihrer Entstehungszeit und tragen zur Beantwortung ästhetischer und kommunikationsgeschichtlicher, mentalitäts- und sozialhistorischer Fragen bei. Die Veränderungen des Literaturbegriffs im Übergang zur Neuzeit sind aber nur ein Aspekt im mehrfach dimensionierten Verhältnis von Literatur und Wissen. Denn auch Begriff und Praxis des „Wissens" erfahren mit dem Übergang zur modern ausdifferenzierten Gesellschaft einen bis in die Gegenwart anhaltenden Pluralisierungsschub, der zu nicht weniger gravierenden Erweiterungen und internen Komplexitätssteigerungen fuhrt. Wissen wird einerseits segmentiert, diversifiziert, diskursiv homogenisiert·. In den Zirkulationssphären einer zunehmend professionalisierten Wissenschaft produziert, kommuniziert und diskutiert, formieren sich in langwierigen Prozessen jene Institutionen, Verfahren und Sprachregelungen, die methodisch gesicherte („wissenschaftliche") Erkenntnisse durch rekursive Bearbeitung spezialisierter Problemstellungen erzeugen, dafür eingeführte bzw. neuartige Darstellungsverfahren nutzen und öffentliche Aufmerksamkeit wie finanzielle Alimentierung finden. Wissen wird andererseits synthetisiert, popularisiert und weltanschaulich
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bedeutsam: Ein sich rasch ausweitendes Presse- und Zeitungswesen betreibt das Geschäft der Wissens- und Wissenschaftsvermittlung an die Öffentlichkeit ebenso wie eine Literatur, die in wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden sowohl einen attraktiven Referenzraum als auch einen fruchtbaren Bildund Ideenspender entdeckt. Eine unterschiedlich formatierte Weltanschauungsliteratur übernimmt Aufgaben der philosophischen Ausdeutung dieser Einsichten und gewinnt etwa in Form des modernen Romans Weltbildkompetenzen, die ihr eine bis ins 21. Jahrhunderts anhaltende Reputation sichern. Dabei finden in und zwischen den Wissenskulturen vielfältige Prozesse der wechselseitigen Wahrnehmung, des Austausche und der Transformation statt. Wissenschaftliche Darstellungen nutzen narrative Strategien und rhetorische Figuren zur Kommunikation ihrer Erkenntnisse und greifen dazu in noch näher zu bestimmender Weise auf literarische Muster wie die Fallgeschichte und den Reisebericht zurück. Texte zur Popularisierung des in ausdifferenzierten Expertenkulturen generierten Wissens unterliegen Regeln der Diskursivierung; zugleich benötigen und erzeugen sie Verfahren zur Synthetisierung und lebensweltlichen Vermittlung zunehmend spezialisierter Kenntnisse. Literarische Werke können schließlich zum Ideenspender und ästhetischen Reservoir für unterschiedliche Wissenskulturen avancieren, die ihrerseits auf die kulturelle Bedeutungsproduktion zurückwirken: Schon der niederländische Arzt Bernard Mandeville, der seit 1693 in England lebt, nutzt - nachdem er durch Tierfabel-Bearbeitungen und eine Versgroteske erste Erfahrungen gesammelt hatte - literarische Formen, um sein für die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften zentrales Konzept eines komplexen und nur metaphorisch zu umschreibenden Fließgleichgewichts sozialer Akteure zu formulieren. Sein 1714 erschienenes Werk THE FABLE OF THE BEES: OR, PRIVATE VICES PUBLICK BENEFITS beschreibt die Wirtschaft der Gesellschaft als
ein System wechselseitiger Abhängigkeiten, in der nicht die Tugend, sondern der Egoismus die eigentliche Quelle des Gemeinwohls bildet - und in der sich trotz privater Laster gesellschaftliche Wohlfahrt einstellt. Doch ist nicht nur Mandevilles BIENENFABEL, die sein 1705 veröffentlichtes satirisches Gedicht DER
UNZUFRIEDENE
BIENENSTOCK
um
Anmerkungen,
essayistische
Überlegungen und Dialoge erweitert, ein Beispiel für literarisch konditionierte Formatierungen spezialisierten Wissens. Auch die Texte der sich im 19. Jahrhundert universitär etablierenden Kunstwissenschaft sind kaum denkbar ohne die Bildbeschreibungskünste und Erzählstrukturen des modernen Romans. Selbst scheinbar literaturferne Wissenschaften wie Biologie und Chemie nutzen in bestimmten Konstellationen die Problemformulierungen und Lösungsvorschläge der Poesie, wenn sie sich etwa - wie in diversen Varianten einer morphologischen Naturforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eines durch Johann Wolfgang Goethe formulierten „Gestalt"Konzepts bedienen, um natürliche Prozesse zu modellieren.
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Mit diesen knappen und später detailliert zu entfaltenden Hinweisen auf die Genese der komplizierten und mehrfach dimensionierten Verhältnisse zwischen „Literatur" und „Wissen" sind zentrale Aspekte dieses Problemfeldes umrissen, doch noch lange nicht geklärt. Um die komplexen, historisch wie kulturell variablen Beobachtungs-, Austausch- und Korrespondenzbeziehungen zwischen literarischer Kommunikation und Wissensformationen beschreiben, deuten und erklären zu können, sind zuerst einmal terminologische Klärungen notwendig. Sie betreffen die Spezifik und die Zugänglichkeit der in literarischen Texten eingeschriebenen epistemischen Gehalte und behandeln aus heuristischen Gründen verbundene Phänomene separat. In einem ersten Schritt sind Fragen nach den kognitiven Potentialen literarischer Texte zu beantworten: Wissen literarische Texte etwas - und wenn ja, was? Worin bestehen Formate und Varianten dieses „literarischen Wissens" und wie unterscheiden sie sich von anderen Wissensformen? Warum und mit welchen Verfahren werden Wissensansprüche in literarische Texte eingetragen, bewahrt und wieder in die kulturelle Kommunikation eingespeist? Und was geschieht mit Wissensbeständen im Prozess einer literarischen Formierung, die (sprachlich verfasstes) Wissen unterschiedlicher Bereiche koppelt, medialen Dispositiven unterwirft und (neu) perspektiviert? - In einem zweiten Schritt sind Voraussetzungen und Schrittfolgen für die Ermittlung und Deutung dieses „literarischen Wissens" zu analysieren: Wie lassen sich die in literarischen Texten implizierten, thematisierten oder problematisierten Wissensbestände identifizieren und beschreiben, deuten und erklären? In welchen gemeinsamen bzw. unterschiedlichen Zeichen bzw. Zeichensystemen werden Wissensansprüche und literarische Werke fixiert, kommuniziert, diskutiert? Und was ergibt sich daraus für interpretative und historische Umgangsweisen mit Texten?
1.1 Begriffsklärungen Um diese Fragen in anschlussfähiger Weise beantworten zu können, sind zuerst einmal die zentralen Begriffe zu klären. Zum einen ist der zu Grunde liegende Literatur-Begriff zu erläutern und von einem weiten, alle schriftsprachlichen Äußerungen umfassenden Begriff abzugrenzen. Zugleich ist dieser „engere" Begriff von Literatur - der aktuelle Überlegungen zu einem inferenzbasierten Modell von Kommunikation aufnimmt und die spezifischen Qualitäten literarischer Texte unter Rekurs auf ihre simulativ-modellbildenden Leistungen bestimmt - gattungsspezifisch zu segmentieren. Denn nur mit Hilfe textsortenspezifischer Instrumentarien zur Beschreibung, Deutung und Erklärung kann es gelingen, die je konkreten Realisationen von Wissen in bzw. durch literarische Texte angemessen und anschlussfahig zu rekonstruieren: Leopold von Rankes und Golo Manns Biographien des Feldherrn Wallenstein
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1. Grundlagen
stellen ein anderes Wissen über geschichtliche Zusammenhänge her als etwa das dreiteilige Drama Friedrich Schillers; ein Poem wie Durs Grünbeins Erzählgedicht VOM SCHNEE ODER DESCARTES IN DEUTSCHLAND geht anders mit
Gestalt und Wissensansprüchen des französischen Rationalisten um als etwa eine philosophiehistorische Darstellung, die sich dem DISCOURS DE LA MÉTHODE widmet und dabei auch den extrem kalten Winter 1619/20 zu erwähnen hat, den der Philosoph in der Nähe von Ulm verbrachte und währenddessen er in einer gut geheizten Stube intensive Zwiesprache mit den eigenen Gedanken halten konnte. Zugleich wird durch gattungs- bzw. textsortenspezifische Beobachtungen analytisch erfassbar, in welcher Weise selbst scheinbar streng sachliche Aussagensysteme poetische Formierungsleistungen realisieren: Descartes' Abhandlung über die Methode etwa demonstriert (wie zahlreiche andere philosophische Texte) die Macht einer Rhetorik, die sich trotz des Anspruchs aufklare und schmucklose Rede durchsetzt. Der grundlegende Begriff des Wissens ist so zu spezifizieren, dass unterschiedliche Beobachtungs- und Erklärungsverfahren mit ihren je eigenen Geltungsansprüchen einbezogen werden können. Ein solcher Wissensbegriff soll es erlauben, Varianten begründeter Unterscheidungen zu differenzieren und in ihren komplexen Beziehungen zu Weisen der Bedeutungserzeugung in literarischen Texten zu erfassen: Alltagspraktische und soziale Wissensbestände etwa über nicht kodifizierte Normen und Verhaltenslehren in je eigenen Regelkreisen von Familie, „Szenen", Verbänden etc. - gelangen damit ebenso in den Blick wie das von Medien generierte Welt- und Orientierungswissen. Ein solcher Wissensbegriff, der kondensierte Beobachtungen mit je spezifischen Geltungsansprüchen erfasst und die Verfahren ihrer poetischen Modellierung ebenso ernst nimmt wie den Zusammenhang von Genese und Geltung, kann Muster und Regularien beschreiben, die bei der Erzeugung, Darstellung und Vermittlung von Erkenntnissen im Alltag, in wissenschaftlichen Expertenkulturen und in der Literatur eine wichtige Rolle spielen. Die in akademischen bzw. universitären Wissenskulturen virulenten Formen der bildlichen Rede und narrativen Strukturierung etwa erweisen sich in dieser Perspektive nicht nur als Elemente einer übergreifenden rhetorischen Tradition, sondern darüber hinaus als verbindender Grund einer in Schrift und Text wurzelnden Kultur, die gar nicht umhin kommt, mit der Herstellung epistemischer Dinge und Konstellationen zugleich auch die sie erst sichtbar machenden Formen zu generieren und zu reflektieren. - Schließlich gelangen so Textsorten in den Blick, die trotz ihrer nicht unbedeutenden Rolle auf dem Buchmarkt erst relativ spät die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft gefunden haben: das populäre Sachbuch und die Sachliteratur, die wichtige Vermittlungsfunktionen bei der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens an eine breite, nicht durch spezielle Zugangsvoraussetzungen eingeschränkte Öffentlichkeit übernehmen.
1.1 Begriffsklärungen
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1.1.1 Literatur Die Beantwortung der Frage, was unter Literatur verstehen sei, ist nicht einfach. Auch etymologische Recherchen helfen nicht viel weiter: Von den lateinischen Termini littera (Buchstabe) bzw. litteratura (Buchstabenschrift) abgeleitet, umfasst der Begriff „Literatur" erst einmal alle in geschriebener bzw. gedruckter Form vorliegenden Erzeugnisse; der heute etwas antiquiert wirkende Begriff „Schrifttum" erinnert daran. Literatur wäre nach dieser weiten Begriffsbestimmung die Gesamtheit von Schriftwerken jeder Art - faktisch alles, was schriftlich oder gedruckt vorliegt und sich also „lesen" und „verstehen" lässt. Für diesen umfassenden Gegenstandsbereich wird im Folgenden der Begriff „Text" verwendet, soll doch der Begriff „Literatur" für einen Bereich reserviert bleiben, der noch einzuführen und zu erläutern ist. Ebenso schwierig ist es mit einer Bestimmung des gerade in der Gegenwart vielfach und in zahlreichen Zusammensetzungen gebrauchten Begriffes „Wissen". Das von den Brüdern Grimm initiierte DEUTSCHE WÖRTERBUCH teilt mit, dass das Verb „wissen" vom indogermanischen „videin*" abstammt und die sinnliche Bedeutung „erblickt, gesehen haben, sehen" hatte; die Entwicklung zum allgemeineren Bedeutungsfeld „erfahren haben, Kenntnis genommen haben von" jedoch schon in vorgermanischer Zeit durchlief. In substantivischer Form im Sinne von „Kunde, Nachricht, Kenntnis" wurde der Terminus „Wissen" erst in frühneuhochdeutscher Zeit gebräuchlich, auch wenn Verbindungen wie „Wissen haben" bereits in mittelhochdeutschen Texten bezeugt sind. Dennoch glauben wir aufgrund unseres täglichen Umgangs mit Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und elektronischen Medien beide Gegenstandsbereiche ganz gut zu kennen. Mit dem in unserer Lebenswelt verankerten Begriff Literatur - auch „schöne Literatur" oder „Belletristik" genannt - bezeichnen wir gewöhnlich die Gesamtheit von Texten, die in gedruckter oder elektronisch gespeicherter Form vorliegen, als kohärente Aussagen gelesen und verstanden werden können und vor allem durch ihre Differenz zu anderen Textereignissen wirken: Sie wollen nicht (primär) informieren, sondern unterhalten und faszinieren, indem sie intensiv und dauerhaft unsere Einbildungskraft mobilisieren. Sie vermitteln weniger kodifizierte oder formalisierbare Erkenntnisse, sondern vielmehr emotional wirkende Einsichten in individuelle oder kollektive Problemverarbeitungen. Sie geben keine Handlungsanweisungen für reale Situationen, sondern ermöglichen ein symbolisches Probehandeln in imaginierten Welten. Und sie befreien durch eine besondere Gestaltung von Sprache unsere Wahrnehmung von Automatismen. Beispiele für diese literarischen Texte lassen sich rasch und in großer Menge finden: Von Homers Epen ILIAS und ODYSSEE bis zum Roman ULYSSES VON James Joyce; von den Sonetten des Andreas Gryphius bis zu Versen von Robert Gernhardt. Zugleich kennen wir
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1. Grundlagen
literarische Texte, die keine fiktiven Welten imaginieren, sondern durch eindringliche Darstellungen des faktisch Gegebenen wirken: Autobiographien und Memoiren gehören ebenso zu dazu wie Reiseberichte und Reportagen. Auch diese (scheinbar) der Wirklichkeit verpflichteten Texte lassen sich der Literatur zuordnen: Bei aller suggerierten Authentizität und Lebensnähe bleiben sie Kompositionen, die Ausschnitte aus einer wie auch immer beschaffenen Realität darstellen und perspektivisch konditionierte Einstellungen mit ästhetischen Wirkungsabsichten formieren. Was wir im Rückgriff auf einen vorwissenschaftlichen und unserer Lebenswelt entstammenden Begriff als Literatur verstehen, weist also mehrere Dimensionen mit entsprechenden Fragestellungen auf. Literatur hat zum einen mit Texten zu tun und wirft darum die Frage auf, was unter einem Text und speziell unter einem literarischen Text zu verstehen ist. Literatur hat zum anderen etwas mit Aussagen zu tun, die sich in Inhalt und Form von anderen Aussagen unterscheiden (können): was nach den spezifischen Differenzqualitäten literarischer Aussagen fragen lässt. Literatur hat zum dritten etwas mit Lesen und Verstehen und Interpretieren zu tun - was die Schrittfolgen und Ergebnisse dieser konstruktiven Tätigkeiten frag-würdig macht. Der Begriff „Literatur" ist schließlich - wie andere Termini zur Benennung kultureller Wertschöpfungen auch - an historische Bezugsfelder gebunden: Jede Zeit hat ein eigenes Verständnis von dem, was als (schöne) Literatur gilt und kann dafür zumeist auch Begründungen und normative Regulierungen in Form ästhetischer bzw. poetologischer Überlegungen anbieten. Bei jeder Rede über die Literatur bleibt also zu beachten, dass diese Kategorie keine überzeitliche Geltung beanspruchen kann, sondern stets kultur-, sozial- und wissensgeschichtlich geprägt ist was den Umgang mit ihren Werken, Gattungen und Epochen zu einer ebenso anspruchsvollen wie spannenden Angelegenheit macht. 1.1.2 Wissen In ähnlichem Rekurs auf einen vorwissenschaftlich-lebensweltlichen Begriff können wir auch den Begriff „Wissen" näher bestimmen - wobei die Verwendung des Terminus als Substantiv und als Verb die Sache nicht einfacher macht. Sehr allgemein formuliert, lässt sich Wissen als Gesamtheit von begründeten (bzw. begründbaren) Kenntnissen begreifen, die innerhalb kultureller Systeme durch Beobachtung und Mitteilung, also durch Erfahrungen und Lernprozesse erworben sowie weitergegeben werden und einen reproduzierbaren Bestand von Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen. Wissen ist jedoch mehr als die (sich stetig verändernde) Summe gespeicherter und wieder abrufbarer Erkenntnisse, sondern zugleich immer auch ein Prozess, in dem sich Identitäten bilden und abgrenzen sowie unterschiedliche Erkenntnissysteme entwickeln und ausdifferenzieren - und zwar in syn-
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1.1 Begriffsklärungen
chronem Nebeneinander wie im diachronen Nacheinander. In diesem weiten Sinne umfasst Wissen also Alltagskenntnisse und Produkte der epistemologisch begründeten Wissenschaften ebenso wie die implizit regulierten Praktiken (tacit knowledge) und expliziten Regeln institutionalisierter und sich selbst reflektierender sozialer Systeme. Knapp formuliert: Wissen ist die dynamische Gesamtheit aller jener Vorgänge und Resultate, in denen sich regelgeleitete Umgangsweisen mit begründeten Erkenntnissen auf Grundlage symbolischer Ordnungen und Technologien formieren und vollziehen, in Wirkung treten und verändern. Doch was verbindet nun „Literatur" und „Wissen"? Gibt es Beziehungen zwischen einer stets sprachlich ablaufenden literarischen Kommunikation und dem in unterschiedlichen Formaten produzierten und verbreiteten und rezipierten Wissen? Und wann ja - wie lassen sich diese Verhältnisse näher beschreiben, deuten und erklären? Um diese Fragen nach gemeinsamen Bezugsgrößen und geteilten Elementen von „Literatur" und „Wissen" zu klären, hilft ein Blick auf die nachfolgend abgebildeten Objekte: 3) Das Uebcrhanmrttr, Figur 150, besteht aus einer Glasröhre, die unten aufwärts gebogen int und alvi mei parallele Schenkel bildet. Beide Schenkel müssen vollkommen gleirhweit sein, so weit sich die Veränderungen in dem Quecksilber stunde erstrecken; der untere Tlieil dagegen kann eine beliebige Weite haben. Der Kireau-l'nterschied de« Quecksilbers in dem verschlossenen längern und dem offenen kürzern Schenkel gibt den Druck der Luft an. Um ihn zu finden, ist entweder die Scala Λ 6 oben ruit einem Nonius versehen, und die baro· awteiTöhre lässt sich durch die Schnöbe ¡f um so viel erhöhen, daas der Anfangspunkt ι der Seal» stets mit der Quecksilberftiche r in dein kürxem Schenkel zusammenfällt, oder das Glas enthält selbst die Kintheilung. Im letzten Falle wird nur die Höbe irgend eines Punktes / über li genau gemessen, end die Kintheilung ron f und ri abwärts in Zöllen, Linien und Zehntels-Linien aufgetngea. Der Abstand iwisclien f unti ti lässt sich genauer liestimruen, wenn der kurze Schenkel des Ilarometera mit dem obeni Theil des langen in eine gerade Linie fällt. Diese« Barometer ist besonders auf Kaisen bwiuem
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Satumringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
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1. Grundlagen
Alle vier Artefakte weisen mehrere Gemeinsamkeiten auf. Eine erste Gemeinsamkeit ist ihre materiale Beschaffenheit: Sie bestehen aus visuell wahrnehmbaren schwarzen bzw. grauen Pünktchen Druckerschwärze auf weißem Papier. Eine zweite Gemeinsamkeit ist ihre Lesbarkeit: Die Pixel aus Druckerschwärze lassen sich als Buchstaben bzw. Symbole und Bilder identifizieren und in Worte bzw. Aussagen transformieren. Die Worte und Sätze, die wir aus Buchstaben und Symbolen zusammenfugen, teilen etwas mit; sie erfüllen eine kommunikative Funktion·. Der Abschnitt aus Wilhelm Eisenlohrs LEHRBUCH DER PHYSIK („zum Gebrauche bei Vorlesungen und zum Selbstunterrichte") von 1863 erläutert die Beschaffenheit eines Messgerätes zur Ermittlung des Luftdrucks; die Wetterkarte informiert über die Verteilung von Hochdruckund Tiefdruckgebieten und prognostiziert künftige Entwicklungen. Das Energieflussschema nach Keihl und Trenberth (1997) vermittelt Erkenntnisse über die komplexen Faktoren unseres Klimas. Und der Anfang von Robert Musils Roman D E R M A N N OHNE EIGENSCHAFTEN unterrichtet in irritierendem Nebeneinander von wissenschaftlichen Formulierungen und erzählender Initiation über die Beschaffenheit eines schönen Augusttages im Jahr 1913. Dass wir diese verschiedenen Ansammlungen von schwarz-grauen Pünktchen als Buchstaben, Worte, Symbole erkennen und verstehen können, beruht auf dem Umstand, dass es sich um Zeichen handelt. Wir erfassen die regelmäßige Anordnung von Druckerschwärze als Symbole, Worte und Sätze, weil wir gelernt haben, visuell wahrnehmbare Pixelsammlungen als Zeichen zu erkennen und diesen materialen Gestalten je unterschiedliche Bedeutung(en) zuzuweisen. Auch die graphischen Darstellungen, Formeln und Berechnungen in der Wissenschaft basieren auf Zeichen, die bedeutungszuweisende Aufmerksamkeit voraussetzen und Unterscheidungen feststellen: Messdaten werden als Relationen von quantitativer Größe und Maßeinheit abgelesen, in Tabellen und Diagramme eingetragen und verglichen, um Regelmäßigkeitserwartungen zu formulieren oder Prognosen zu überprüfen. Gemeinsam ist diesen vier exemplarischen Zeugnissen also, dass sie aktive und zum Teil nicht unkomplizierte Leistungen des Erfassens und Verstehens notwendig machen, um in Wirkung treten zu können: Erst im Prozess der Bedeutungszuweisung erkennen und realisieren wir die kommunikative Funktion von Zeichen, die nie isoliert, sondern stets als Elemente semiotischer Systeme auftreten. Wir lesen die Verbindungen von Worten, Leerzeichen, Interpunktionszeichen und anderen Symbolen als einen Text, wenn wir zwischen den Einzelelementen einen Zusammenhang herstellen und diesen in eine konkrete kommunikative Situation einbetten. Und wir verstehen die in diesen Texten gespeicherten Aussagen bzw. Informationen adäquat, wenn wir die in ihnen realisierten Formate und Verfahren mit einem bestimmten Vorwissen über unterschiedliche Textsorten und Gattungen verbinden und so ihre je spezifischen Geltungsansprüche nachvollziehen: Während die aus einem Physik-Lehrbuch entnommene Beschreibung
1.1 Begriffsklärungen
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eines Messinstruments in Darstellungsformat und nüchterner Sprache eindeutige und empirisch überprüfbare Aussagen macht, changieren die ersten Sätze von Robert Musils Romans zwischen nüchterner Deskription und narrativem Spiel. Als Leser akzeptieren wir die als „wissenschaftlich" auftretenden Erklärung mehr oder weniger umstandslos als zutreffende und also „wahre" Aussage; das Szenario vom schönen August-Tag lesen wir dagegen - nicht zuletzt aufgrund der ironischen Personifikationen eines natürlichen Geschehens - als Text mit anderen Geltungsansprüchen (und werden durch die paratextuelle Markierung „Roman" und unser Vorwissen über die Konsequenzen einer solchen Rubrizierung angeleitet bzw. bestätigt). Zugleich finden sich verwirrende Kreuzungen: Der scheinbar eindeutige Text der Barometer-Beschreibung verwendet den eigentlich für ein Körperteil gebräuchlichen Ausdruck „Schenkel"; der Romantext spricht nicht nur vom „barometrischen Minimum", sondern auch von „pflichtbewussten" Isothermen und Isotheren. Um es kurz zusammenzufassen: Alle vier abgebildete Artefakte vermitteln ein je spezifisches Wissen, denn sie fixieren und übertragen reproduzierbare Kenntnisse, die in kulturellen Systemen erworben und gespeichert werden und je eigene Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen. Sie basieren auf Zeichen als den wesentlichen Einheiten zur Bewahrung, Übertragung und Wiedereinschaltung von Bedeutung(en). Und sie generieren in dieser ihrer zeichenhaften Gestalt die diversen und noch zu segmentierenden Formen und Formate, in und mit denen je spezifische Geltungsansprüche in Erscheinung und Wirkung treten können. Zu den stets innerhalb semiotischer Systeme auftretenden Zeichen gehören Sprachzeichen (also Worte, Wortverbindungen, Interpunktionszeichen), die Sprichwörter und Rätsel ebenso generieren können wie Hegels PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES; zu den Zeichen des Wissens gehören mathematische Ausdrücke und Formeln, Symbole und Graphiken. Mit den Begriffen Zeichen und Zeichensystem, Bedeutung und Bedeutungszuweisung, Gattungen und Formate sind Chancen zu einer Analyse der Zusammenhänge von Literatur und Wissen gegeben, die nun erläutert werden sollen. Die auf der Semiotik - der Lehre von den Zeichen - basierende Beschreibung von Texten als Zeichensystemen bietet mehrere Möglichkeiten: Zum einen lässt sich mit semiotischen Kategorien die „Oberflächenebene", also die materiale Gestalt von Zeichen beobachten. Zum anderen können Prozesse der Bedeutungszuweisung präziser bestimmt und genauer erfasst werden - denn jedes Lesen einer sprachlichen Äußerung vollzieht sich als Wahrnehmung und Identifikation von Zeichen, denen Bedeutung zugewiesen wird. So wird nicht nur nachvollziehbar, wie Texte der sog. schönen Literatur ihre (besonderen) Geltungsansprüche generieren und gestalten, sondern auch mit welchen (versteckten) poetischen Techniken und Verfahren die sachbezogenen Texte der Wissenschaft operieren, um ihre Wissensansprüche überzeugend ins Wort zu setzen und also „wahr" werden zu lassen.
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1.2 Semiotische Prinzipien Betrachten wir noch einmal die Beispiele für den Zusammenhang von Wissen und Literatur und vergleichen die hier versammelten makrophysikalischen Objekte mit anderen Dingen unserer Umwelt. Während der Tisch, auf dem das Buch liegt, und der Stuhl, auf dem wir sitzen, einem praktischen Zweck dienen, also eine ins trumenteile Funktion erfüllen, übermitteln visuell wahrnehmbare Entitäten wie das Wort „Heberbarometer" | die Wort-Zahl-Kombination „empfangene Sonneneinstrahlung 342W/m 2 " oder das graphische Symbol Q Informationen. Sie teilen etwas mit, haben also eine kommunikative Funktion. Die von Menschen produzierten und speichertechnisch fixierten Entitäten, die eine kommunikative Funktion erfüllen, nennen wir Zeichen. Dass mit dieser Festlegung des Zeichens auf die bewusste Erzeugung durch den Menschen der weite Zeichenbegriff der allgemeinen Semiotik eingeschränkt wird, ist nur zu erwähnen: Als Zeichen lassen sich ebenso Körpersignale (wie etwa erhöhte Temperatur) oder Spuren (etwa von Tieren) deuten. Wenn wir uns im Folgenden auf vom Menschen produzierte Artefakte konzentrieren, ist die Einschränkung des Zeichenbegriffs auf Informationsträger mit kommunikativer Funktion gerechtfertigt. Schwieriger wird es bei einer trennscharfen Abgrenzung von instrumenteller und kommunikativer Funktion. So hat etwa Kleidung neben dem praktischen Zweck, den Körper vor dem Wetter zu schützen, stets auch den Zweck, etwas über seinen Träger mitzuteilen - vom Ausdruck bestimmter Gefühle durch Farben und Formen bis zur Demonstration sozialer oder gruppenspezifischer Zugehörigkeit. Wie Roland Barthes gezeigt hat, lässt sich auch die Mode als Zeichensystem lesen, bei der geringe Differenzen - beispielsweise in der Breite einer Krawatte - weitreichende Informationen vermitteln können. Das Beispiel der Mode zeigt nicht nur, dass es neben Sprache und Symbolen weitere und sehr unterschiedliche Zeichen gibt. Die von der wechselnden Mode abhängige Breite der Krawatte als Zeichen zur Markierung feiner Unterschiede zeigt ebenso wie die Piktogrammatik der Wetterkarte und des Energieflussschemas, dass Zeichen nie isoliert zu verstehen sind. Verständlich werden Zeichen erst im Rahmen eines semiotischen Systems - also in Zusammenhang und Wechselwirkung mit ähnlichen, doch mehr oder weniger deutlich unterscheidbaren Entitäten: ffij I E l IE331 E 3 I • · Zeichen erhalten erst dann einen Sinn, wenn sie anderen Zeichen korrespondieren. Und sie werden erst dann zu „sprechenden" bzw. etwas zeigenden Zeichen, wenn sie aktiv genutzt und also in regelhaften Zusammenhängen verwendet werden: Graphische Gebilde wie „+" und „—" oder auch griechische Buchstaben wie beispielsweise Π oder £ gewinnen den Charakter mathematischer Operatoren, wenn sie mit Zahlzeichen oder anderen Symbolen regelhaft verknüpft und in einem Lehrbuch oder einer Fachzeitschrift zu finden sind.
1.2 Semiotische Prinzipien
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Auch die mit wissenschaftlichen Instrumenten vollzogenen Praktiken des Messens folgen spezifischen Verfahrenslogiken, wenn sie Daten produzieren, die Naturphänomene nicht einfach abbilden, sondern in Relation mit regulativen Einheiten bringen und Schlussfolgerungen erlauben. Instrumente und Aufzeichnungspraktiken der Wissenschaft sind Dispositive der Zeichenerzeugung wie die Schreibgeräte von Schriftstellern: Sie steuern die Produktion von Wissens- und Geltungsansprüchen, die an materiale Träger genauso gebunden sind wie an intellektuelle Anstrengungen zum Nachvollzug dieser Ansprüche. 1.2.1 Zeichen und Bedeutung Um sich mit anderen Zeichen organisieren und etwas mitteilen zu können, müssen Zeichen eine materiale Gestalt haben und sinnlich wahrnehmbar sein. Diese Materialität - realisiert in graphischen Symbolen, in Buchstabenfolgen oder im Klang von Wortlauten - ist die erste Bedingung, um ein Zeichen identifizieren und dechiffrieren zu können. Die materiale Gestalt eines Zeichens nennen wir Signifikant und nutzen eine Terminologie, die der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) prägte. In der Wahrnehmung der materialen Zeichengestalt vollziehen wir einen komplexen Akt: Wir identifizieren ein graphisches Symbol, eine Buchstabenfolge oder einen Wortklang als Zeichen und ordnen ihm nach bestimmten Regeln Bedeutung(en) zu: S-O-N-N-E
[Zentralgestirn unseres Sonnensystems; Licht, Wärme; schönes Wetter; Ursache von Vorgängen in der Atmosphäre und auf der Erdoberfläche etc.]
Den ideellen Gehalt eines Zeichens, der als Bedeutung realisiert wird, nennen wir Signifikat. Die Prozesse der Zuordnung von Signifikat und Signifikant erfolgen durch mentale, d.h. im Bewusstsein vorgehende Operationen des Zeichenbenutzers und beruhen auf Zuordnungsregeln entsprechend gesellschaftlicher Konventionen; sie sind - um wieder mit Ferdinand de Saussure zu sprechen - arbiträr. „Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig", betont der Begründer der modernen Linguistik, um einschränkend fortzusetzen: „Das Wort ,beliebig' erfordert hierbei eine Bemerkung. Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge [...]; es soll besagen, dass es u n m o t i v i e r t ist, d.h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat."1
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Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 2 1967, S. 78, 80.
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1. Grundlagen
Der arbiträre Charakter der Signifikation, d.h. die Zuordnung von Signifikaten zu Signifikanten aufgrund historisch variabler Verabredungen, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Signifikanten durch gesellschaftliche Gruppen und Subsysteme, aber auch durch Wissenskulturen und Wissenschaftsbereiche mit je eigenen Signifikaten versehen werden: Während fur Mathematiker das Wort „Bruch" ein Verhältnis zwischen zwei ganzen Zahlen bedeutet, verstehen Mediziner darunter die Fraktur eines Knochens. Im Jargon von Kriminellen bezeichnet der Terminus „Bruch" das gewaltsame Eindringen in einen gesicherten Raum; in der Rede über zwischenmenschliche Beziehungen wird mit „Bruch" das mehr oder weniger abrupte Ende einer Freundschaft oder einer Liebe gleichgesetzt. - Der Terminus „Subjekt", der umgangssprachlich verwendet werden kann, um eine zweifelhafte Person zu bezeichnen, ist ein wichtiger Begriff in der Philosophie, wo er eine Seite des Subjekt-ObjektVerhältnisses benennt. In der Logik bezeichnet der Terminus „Subjekt" die Stellung eines Begriffs in einem Syllogismus; während die Jurisprudenz das „(Rechts-)Subjekt" als Träger von Rechten und Pflichten traktiert. Nicht zu vergessen sind die Grammatik, die das „Subjekt" als zentrales Satzglied erforscht und die Psychologie, die als „Subjekt" einen Menschen in seinen emotionalen und rationalen Zuständen behandelt. Die Volkswirtschaftslehre kennt schließlich das „Wirtschaftssubjekt" als ökonomisch selbsttätige Einheit. Ein besonderes Beispiel fur wissenskulturell spezifizierte Zuordnungen von Signifikanten und Signifikaten ist die Sprache der Philosophie, die nicht nur bildhafte Ausdrücke wie „Anschauung" und „Wahrnehmung" zu Ecksteinen von erkenntnistheoretischen Systemen macht. Philosophische Texte zeigen zugleich, dass die Verbindung von Signifikant und Signifikat historischen Wandlungen unterworfen ist und eigenen Regeln folgen kann. Ein Ausdruck wie „Aufhebung", der im Rechtswesen die Rückgängigmachung einer Entscheidung bezeichnet und sich auf einen Verwaltungsakt wie auf eine Ehe beziehen kann, gewinnt in der Philosophie des deutschen Idealismus und namentlich bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel eine besondere Bedeutung, wenn damit der Vorgang der Überwindung eines Widerspruchs umschrieben wird, bei dem positive Elemente erhalten bleiben und negative entfallen. Die Hinweise auf mögliche Unterschiede in der Bedeutungszuweisung signalisieren, wie wichtig sensible Umgangsformen mit Signifikanten und Signifikaten sind. Nur wenn wir die historische Umgebung des Zeichengebrauchs und die Bedeutungen zur Entstehungszeit berücksichtigen, vermeiden wir Lektüren, die an Texte die Normen und Werte der eigenen Gegenwart anlegen und also anachronistisch verfahren. Eben weil die Rezeption literarischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Texte durch eine unter Umständen gravierende Differenz von Ort und Zeit ihrer Produktion getrennt sein kann, muss eine professionalisierte Beobachtung stets nach den historisch konkreten und kulturell konditionierten Signifikaten fragen. Aktuelle, d.h. in
1.2 Semiotische Prinzipien
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unserer Gegenwart verankerte Zuordnungen sind zu suspendieren, wenn wir etwa einem Text wie Goethes Roman WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE und seinen Referenzen auf die Diskussionen um Selbst- und Fremdbestimmung am Ausgang des 18. Jahrhunderts historisch gerecht werden wollen - denn projizieren wir unsere heutigen Vorstellungen von Selbstverwirklichung und Autonomie auf den Text, bleiben die neue Qualität seiner Sprache wie seine Hinweise auf ein geheimes Wissen verschlossen. 1.2.2 Einfache und komplexe Zeichen Um die Beobachtung von Signifikanten und Signifikaten in sprachlich verfassten Zeichensystemen auf einen sicheren Boden zu stellen, erweist sich eine Unterscheidung von einfachen und komplexen Zeichen als hilfreich. Während im semiotischen System Sprache ein alleinstehendes Wort einen isolierten Signifikanten und damit ein einfaches Zeichen darstellt, wird ein komplexes Zeichen durch die Kombination mehrerer Signifikanten gebildet. In Bezugnahme der Signifikanten aufeinander wie in der Art und Weise ihrer Bearbeitung entsteht ein Signifikat, das einen höheren Gehalt an Bedeutung enthält. Sein Sinngehalt übersteigt die Summe der Signifikate der isolierten Signifikanten - vor allem, wenn besondere Mittel zur Gestaltung dieser Signifikanten verwendet werden. Diese besondere Gestaltung von Signifikanten erscheint in unterschiedlichen Formen. Redewendungen wie „Wind und Wetter", „gut und gern", „biegen und brechen" nutzen den Gleichklang des Anlauts betonter Silben, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Aussagebedeutung der Einzelworte zu verstärken. Aufmerksamkeit wecken auch besonders markierte Aussagen in wissenschaftlichen Zusammenhängen: Descartes' berühmte Formel „Dubito ergo cogito ergo sum" („Ich zweifle also denke ich also bin ich") spielt ebenso wie Sigmund Freuds Diktum „Wo es war, soll Ich werden" mit Phänomenen der lautlichen Rekurrenz - auch wenn es diesen Behauptungssätzen weniger auf ästhetische Formierung als vielmehr auf die eingängige Vermittlung ihres propositionalen Gehaltes ankommt. Doch dazu später mehr. Prägnant wird die besondere Gestaltung der Ausdrucksseite von sprachlichen Zeichen vor allem in Texten, die wir intuitiv als literarisch erkennen allen voran in der besonders „gebundenen" Sprache der Lyrik: Jetzt reifen schon die roten Berberitzen, Alternde Astern atmen schwach im Beet. Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht, Wird immer warten und sich nie besitzen. 2
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Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Das Buch von der Pilgerschaft. In: R.M. Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt von Ernst Zinn. Bd. 1. Wiesbaden, Frankfurt/M. 1955, S. 337.
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1. Grundlagen
Die Zeilen aus Rainer Maria Rilkes STUNDENBUCH, in denen Alliterationen und Endreime zur besonderen Bindung der Sprache eingesetzt werden, demonstrieren den Mehrwert an Sinn, den literarische Texte als komplexe Zeichen produzieren können: Die Wiederholungen der Anlaute in den betontsilbigen Wortpaaren „reifen" und „roten", „alternde Astern", „wird warten" und die Endreime steigern die Aufmerksamkeit in weitaus stärkerer Weise als die Aussage „Im Herbst vollenden sich biologische Wachstumsprozesse und konfrontieren den Menschen mit dem Gefühl der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit", mit der wir den im Gedicht ausgesagten Sachverhalt paraphrasieren (doch nicht adäquat wiedergeben) könnten. Besonders deutlich werden die Leistungen dieses lyrischen Textes im Vergleich mit einem Text, der sich gleichfalls dem Herbst und den mit ihm verbunden Prozessen der Reife widmet. Konsultiert man etwa die OnlineEnzyklopädie Wikipedia, findet man hier zuerst eine graphische Darstellung des Jahreszeiten-Zyklus:
Dieser visualisierenden Erklärung des Entstehens von Jahreszeiten folgt eine Erläuterung des (von der Wissenschaft noch nicht vollständig aufgeklärten) den Phänomens der Laubfärbung: Im Herbst verfärben sich die Blätter an den Bäumen, bevor sie dann abfallen. Ursache ist der langsame Rückzug der Pflanzensäfte in den Stamm bzw. in die Wurzeln. Das Chlorophyll wird abgebaut und andere Blattfarbstoffe sorgen für die bunte Färbung. Bei diesen Farbstoffen handelt es sich ζ. B. um Carotinoide und Anthocyane. Teils sind sie im Blatt bereits vorhanden, teils werden sie neu gebildet, so bei den Anthocyanen. Die Farbstoffe haben wahrscheinlich eine Lichtschutzfunktion für das Blatt.
Um die besondere Leistung der Aufmerksamkeitssteigerung und so auch die Produktion eines ästhetischen Mehrwerts besser beschreiben zu können, ist die Analyse der beiden Seiten eines Zeichens notwendig. Dazu bedarf es bestimmter Termini und Verfahren, die jetzt vorgestellt werden. Begonnen wird mit der Beschreibung der sinnlich wahrnehmbare Zeichengestalt, dem Signifikanten.
1.2 Semiotische Prinzipien
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1.2.3 Differentialität Die Bestandteile des semiotischen Systems Sprache - lautsprachliche oder schriftsprachliche Signifikanten und die ihnen aufgrund kultureller Konventionen zugeordneten Signifikate - sind wie die Elemente anderer Zeichensysteme auch nach dem Prinzip der Differentialität organisiert. Bezogen auf die Ausdrucksseite eines Zeichens heißt das nichts anderes, als dass wir sinnlich wahrnehmbare Zeichenträger nur im Zusammenhang mit ähnlichen, doch unterscheidbaren Einheiten erkennen und verstehen. Betrachten wir etwa die Worte: „Klasse" - „Masse" - „Rasse" - „Tasse", dann fällt auf, dass sich die Lautgestalt des Wortes „Klasse" von den Signifikanten „Masse", „Rasse" und „Tasse" nur durch die Verschiedenheit der Phoneme /kl/, Imi, /r/ und Iti unterscheidet. Phoneme bilden also die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit hinsichtlich der lautlichen Realisierung, wobei zu beachten ist, dass es in der deutschen Sprache zwischen Buchstaben bzw. Buchstabengruppen als schriftlichen Fixierungen lautlicher Phänomene und Phonemen keine unmittelbare Korrelation gibt. - Da das phonologische System einer Sprache mögliche Kombinationen von Phonemen festlegt, folgt auch die Wiederholung von Phonemen statistischen Wahrscheinlichkeiten. So ist es eher selten der Fall, dass wir einen Satz bilden, in dem sämtliche Worte denselben betonten Anlaut aufweisen wie etwa im Zungenbrecher „Fischers Fritze fischte frische Fische". Auch gleichlautende Endsilben wie in der Wortfolge „Der Advokat aß grad Salat, als ihm ein Schrat die Saat zertrat" verwendet man in der alltäglichen Kommunikation nicht allzu häufig. Sehen wir nun die Umgangssprache mit ihrer durchschnittlichen Wiederholung von Phonemen als eine gleichsam automatisch genutzte Folie an, so erscheint die erhöhte Rekurrenz von Phonemen als Verfremdung, die aufgrund ihrer Abweichung von der Normalsprache verstärkte Aufmerksamkeit und Interesse erregt. Lautliche Verfremdungen beobachten wir in Werbeslogans („Mars macht mobil bei Arbeit Sport und Spiel" mit dreimaliger Alliteration und Reim) ebenso wie in Friedrich Schillers dramatischem Gedicht WALLENSTEIN, in deren „Kapuzinerpredigt" es heißt: „Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom,/ Die Klöster sind ausgenommene Nester,/ Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer [...]". Sowohl für den Werbeslogan als auch für das Wortspiel im Drama ist das Prinzip verbindlich, das wir als besondere Bearbeitung der Ausdrucksseite eines Zeichens bezeichnen und als Basis für die noch näher zu betrachtende poetische Funktion von Sprache ansehen können. Im buchstäblichen Sinne sichtbar wird die besondere Bearbeitung der Ausdrucksseite von Zeichen in visueller Poesie, die eine gewohnte graphische Anordnung von Signifikanten verändert und so bestimmte Wirkungen erzielt.
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1. Grundlagen
Auch die Bedeutungsebene eines Zeichens ist nach dem Prinzip der Differentialität organisiert: Wir ermitteln die Bedeutung eines Zeichens, weil sich diese in einem System mit anderen Signifikaten befindet und mit ihnen durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede verbunden ist. So erhält das graphische Symbol BD wie das Wort „Sonne" eine Bedeutung aufgrund seines Bezugs zum semiotischen System „Wetterkarte" bzw. zum semiotischen System „Sprache" - und zugleich durch die Abgrenzung von anderen Bedeutungseinheiten. In einer Wetterkarte steht die Bedeutung des Symbols Ü] [Sonnenschein, schönes Wetter] in Opposition zum Signifikaten des Icons § § [Niederschlag, schlechtes Wetter]. Im semiotischen System Sprache steht das Signifikat des Wortes „Sonne" etwa im Gegensatz zu dem Signifikat des Wortes „Wolke"; die Bedeutungen [heiter] und [wolkig, bewölkt] funktionieren als ähnlich distinktive Merkmale wie Phoneme auf Ebene der Signifikanten. Die bedeutungstragenden Merkmale auf der Ebene der Signifikate nennen wir - der von Algirdas J. Greimas entwickelten „strukturalen Semantik" folgend - Seme·, zu ihrer Kennzeichnung verwendet man eckige Klammern. Wenn [heiter] als ein Sem des Wortes „Sonne" aufgefasst werden kann, lassen sich über die Feststellung von Oppositionen zugleich weitere Seme ermitteln in der Unterscheidung von nicht leuchtenden Himmelskörpern wie den Planeten etwa das Sem [strahlend], in der Gegenüberstellung zum nächtlich scheinenden Mond mit seinem kalten Licht etwa die Seme [taghell, warm, glühend]. Signifikate lassen sich so als Bündel bedeutungsunterscheidender Merkmale bzw. als Sem-Bündel verstehen. Semantische Reihen können wir feststellen, wenn Worte durch gemeinsame Seme miteinander verbunden sind: „Sonne", „Mond" und „Sterne" bilden als Himmelskörper eine semantische Reihe; das Sem [leuchtend] verbindet „Sonne", „Stern", „Komet". Die Beispiele zeigen, dass jedes Element des Systems Sprache über Ähnlichkeiten und Oppositionen mit anderen in Beziehung steht. Da die Bedeutung eines Textes auch durch diese Beziehungen definiert wird, ist ihre Erschließung ein zentrale Aufgabe. Als nützlich erweist sich die Suche nach Binäroppositionen, die ein strukturelles Prinzip zur Erzeugung von Aussagen bilden. Binäroppositionen finden wir in Sprichwörtern („Wer nicht hören will, muss fühlen") und im kategorischen Imperativ in Goethes Ballade DER SCHATZGRÄBER „Tages Arbeit! Abends Gäste!/ Saure Wochen! Frohe Feste!", der eine Entgegensetzung aus den semantischen Gegensätzen [tägliche Anstrengung] vs. [folgende Freude] herstellt. Doch auch Formulierungen eines methodisch gesicherten Wissens, dessen Formate im Anschluss detailliert behandelt werden, folgen diesem Prinzip - wie die Vorrede illustriert, die der Philosoph Immanuel Kant der zweiten Auflage seines Hauptwerkes KRITIK DER REINEN VERNUNFT voranstellt: Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen. Wenn sie nach viel gemachten Anstalten und Zurüstungen, so
1.2 Semiotische Prinzipien
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bald es zum Zweck kommt, in Stecken gerät, oder, um diesen zu erreichen, öfters wieder zurückgehen und einen andern Weg einschlagen muß; imgleichen wenn es nicht möglich ist, die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei, und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorher genommenen Zwecke enthalten war. Daß die Logik diesen sicheren Gang schon von den ältesten Zeiten her gegangen sei, läßt sich daraus ersehen, daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen, wenn man ihr nicht etwa die Wegschaffung einiger entbehrlichen Subtilitäten, oder deutlichere Bestimmung des Vorgetragenen, als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Eleganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehört. Merkwürdig ist noch an ihr, daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können [...] Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht, in dem bewundernswürdigen Volke der Griechen den sichern Weg einer Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, daß es ihr so leicht geworden, wie der Logik, wo die Vernunft es nur mit sich selbst zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen, oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, daß es lange mit ihr (vornehmlich noch unter den Ägyptern) beim Herumtappen geblieben ist, und diese Umänderung einer Revolution zuzuschreiben sei, die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zu Stande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war.3 Eine Seite des den Text durchziehenden Oppositionspaares ist gleich im ersten Satz ausgesprochen und wird durch den Leser mehr oder weniger aktiv ergänzt, bis dieser Teil dann später direkt genannt wird: Es ist der „sichere Gang" des Wissensgewinns im Gegensatz zum „bloßen Herumtappen", der aus der „Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören" eine Wissenschaft macht. Während dieser „sichere Gang" im Text mehrfach wiederholt und als „königlicher Weg" bzw. als „Bahn, die man nehmen mußte" apostrophiert wird, finden sich fur die irrenden und unsicheren Bewegungen verschiedene Synonyme. Sie umschreiben eine Wissenssuche, die „in Stecken gerät", „öfters wieder zurückgehen und einen andern W e g einschlagen muß", „manches als vergeblich aufgegeben" hat oder aber „bis jetzt keinen Schritt vorwärts hat tun können". Mit dieser von Weg-Metaphern geprägten Vorrede hat der Königsberger Philosoph den Gewinn sicheren Wissens nicht nur zu einem dynamischen, von Fehlurteilen und Irrtümern gesäumten Prozess expo-
3
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur zweiten Auflage (1787). In: Ders.: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1977. Bd. 3, S. 20-22; Kursivierungen im Original; Unterstreichungen von mir, R.K.
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1. Grundlagen
niert. Er hat zugleich die eigene intellektuelle Leistung - die er mit dem Bild der kopernikanischen Wende belegen wird - als jenen „sicheren Gang" herausgestellt, der über bisherige Einsichten hinausfuhrt. 1.2.4 Aufzeichnung, Speicherung, Wiedereinschaltung Halten wir nach diesen ersten einführenden Begriffsbestimmungen folgende, später noch weiter zu entfaltende Einsichten fest. (1) Wissen ist gebunden an Formen der Aufzeichnung, Speicherung und Wiedereinschaltung, kurz: an kulturelle Techniken zur dauerhaften Fixierung und Reproduktion von begründeten Geltungsansprüchen. Aufzeichnungs- und Präsentationsformen sind nichts Äußerliches, also weder „Mantel" noch „Behälter": Sie machen es vielmehr überhaupt erst möglich, Erkenntnisse als dynamische und in kulturellen Systemen gewonnene Relationen zu kommunizieren, zu überliefern und zu modifizieren. (2) Aufzeichnung und Speicherung von Wissensansprüchen werden durch Zeichen bzw. Zeichensysteme realisiert, die materiale Zeichenträger mit Bedeutung(en) verknüpfen und unter verschiedenen Perspektiven beobachtet werden können. In Konzentration auf die „Oberfläche" sprachlicher Zeichensysteme lassen sich Muster zur Herstellung von Kohärenz und Stimmigkeit wie Formen „abweichender" Rede analysieren, mit denen Automatismen der Wahrnehmung aufgebrochen und Aufmerksamkeit für Neues mobilisiert wird. Konzentriert man sich auf die „Tiefenstruktur" eines Textes, lassen sich strukturierende Binäroppositionen ebenso ermitteln wie zentrale Metaphern und Metonymien. Widmet man sich hingegen den „Funktionen" eines Textes als Bestandteil kommunikativer Handlungen, sind seine kulturellen Konditionen genauso relevant und zu beobachten wie seine medientechnischen Voraussetzungen und medialen Umgebungen. Hierzu zählen auch jene Relationen, die mit dem weiten Begriff „Kontext" umschrieben werden: Sie umfassen die Beziehung eines Text(teil)es zu anderen Teilen desselben Textes (also den intra- bzw. infratextuellen Kontext) sowie die Beziehungen eines Textes zu anderen Texten (intertextueller Kontext) und zu nicht-textuellen Gegebenheiten (extratextueller Kontext). (3) Besondere Gestaltungen der Ausdrucksseite von Zeichen und ihrer „Tiefenstrukturen" finden sich nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in der Alltagssprache und in den Reden der Wissenschaft. Alle Varianten der Kommunikation von Kenntnissen realisieren sich in und mit sinnlich wahrnehmbaren, ästhetisch vermittelten Verfahren, die den Erkenntnisprozess gestalten: Alltagskenntnisse, Wissensobjekte und Einsichten der Literatur werden auf je spezifische Weise arrangiert, ins Wort (oder Bild) gesetzt, inszeniert und transformiert. Um diese Prozesse angemessen beschreiben und erklären zu können, sind weitere Differenzierungen notwendig.
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1.3 F o r m a t e des Wissens, G a t t u n g e n der Literatur
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur τικ: «BIHI* or sPtriEä « »>•-·- V M i n n « u n w .
OF smiEs.
Charles Darwin hatte sein Studium der Theologie in Cambridge gerade beendet und wollte mit Studienkollegen eigentlich nach Madeira reisen, als er zur Teilnahme an einer fünf] ährigen Expedition mit dem Forschungsschiff HMS Beagle empfohlen wurde. Die vom Dezember 1831 bis zum Oktober 1836 währende Fahrt wurde zu einer Reise voller Entdeckungen, die dem aufmerksamen Beobachter erstaunliche Beziehungen zwischen einzelnen Arten sowie zwischen Fossilien und noch lebenden Tieren vor Augen führten. Als wiederholte und in Form von Bildern und Beschreibungen fixierte Observationen (vor allem von Schildkröten- und Vogelarten der Galapagosinseln) zeigten, dass sich die Arten auf jeder Insel in Aussehen und Ernährung nur leicht voneinander unterschieden, suchte Darwin nach einer Antwort auf die Frage nach den Gründen für die beobachteten Ähnlichkeiten. Zuerst in Form von Notizen und Skizzen - etwa im hier abgedruckten Entwurf eines Evolutionsbaumes aus dem FIRST NOTEBOOK ON TRANSMUTATION OF SPECIES von 1837 - entwickelte Darwin die Erklärung, dass die verschiedenen Arten von einer einzigen Art abstammten und sich an unterschiedliche Lebensbedingungen der verschiedenen Inseln angepasst hatten. In einer von ihm selbst auch als „Abstract" bezeichneten Darstellung legte Darwin schließlich seine Lösung für das von ihm auch als „mystery of mysteries"
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1. Grundlagen
auch als „mystery of mysteries" bezeichnete Problem der Artenvielfalt vor. Am 1. Juli 1858 wurde seine Abhandlung ON THE ORIGIN OF SPECIES BY MEANS OF NATURAL SELECTION, OR THE PRESERVATION OF FAVOURED RACES
IN THE STRUGGLE FOR LIFE vor der Königlichen Linné-Gesellschaft verlesen;
am 22. November 1859 erschien sie als Buch, dessen erste Auflage von 1250 Exemplaren bereits am ersten Tag ausverkauft war. Gestützt auf eine Fülle von Materialien entwickelte Darwin hier in Form eines „one long argument" seine in Grundzügen noch heute gültige Theorie, nach der Gruppen von Organismen und nicht Individuen sich durch den Vorgang der natürlichen Selektion allmählich entwickeln. Die mehrfach beschriebene Geschichte von Charles Darwins Entdeckung der evolutionären Entwicklung des Lebens ist in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen von Interesse. Zum einen zeigt sie, mit welchen (in der Praxis untrennbaren) Formen und Verfahren die Bestände eines sicheren Wissen erzeugt und fixiert wird: Wiederholte Beobachtungen an Objekten werden in variierenden Formaten aufgezeichnet und erlauben die Formulierung von Vermutungen über Beziehungen zwischen den so beobachteten Objekten. Nach jahrzehntelangen Überlegungen erscheint eine Monographie, die in Einheit von textförmigen Aussagen und graphischen Elementen eine Theorie präsentiert und also eine systematische, argumentativ begründete Darstellung induktiv gewonnener Erklärungen gibt. Darwins Entdeckungen und die Art und Weise ihrer Präsentation zeigen zum anderen, wie ein Zugang (oder besser: ein Set von Zugangsweisen) zu einem komplizierten Gebilde wie „Wissen" zu finden ist. Wissen „an sich" können wir weder anfassen noch isoliert studieren. Beschreiben und erklären können wir die Formate, in denen es fixiert und tradiert, bzw. die Praktiken, mit denen es erzeugt und weitergegeben wird. Und auch das ist eine Herausforderung. Denn zu den Praktiken und Formaten des Wissens gehören neben Beobachtungsverfahren, Versuchsanordnungen und Darstellungsweisen auch formelle und informelle Kommunikation in Expertenkulturen und Lebenswelt, Lehrveranstaltungen an Schulen und Universitäten, Vermittlungsformen durch Massenmedien und Populärkultur etc. Doch Darwins Erkenntnisprozess - dessen lange Geschichte die erste Passage seiner „Introduction" zum Werk über die Entstehung der Arten kurz erzählt - dokumentiert noch eine weitere Dimension von Wissen: Wenn der Weltumsegler an dieser exponierten Stelle betont, welche Zeit er sich mit der Auswertung seiner Forschungsergebnisse ließ, um der Öffentlichkeit sein in langen und gründlichen Überlegungen gereiftes Gedankengut vorzulegen, spricht er damit auch die Gewissheit seiner Wissensansprüche aus. Diese Gewissheit ist ein zentrales Moment in der Geschichte des Wissensbegriffs und in seiner Qualität noch einmal zu betonen: Wissens ist - als Fähigkeit und als Zustand - stets subjektiv mit einer starken Gewissheit verbunden, und zwar
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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aufgrund einer dem propositionalen Gehalt seiner Äußerungsform zugeschriebenen Wahrheit. Der Grund für diesen subjektiv gewissen, objektiv wahren Status des Wissens liegt in der oftmals vorausgesetzten, häufig aber auch explizit realisierten Begründung für die Annahme der Geltung des gewussten Gehaltes. Mit anderen Worten: Wissen umfasst zum einen die als „gewiss" oder „sicher" markierten Geltungsansprüche, die in satzförmigen Aussagen wie „Ich behaupte, dass..." formuliert und begründet werden können. Die Begründungen für diese im Folgenden als Wissensansprüche bezeichneten Sätze können unterschiedlich ausfallen; sie können empirisch (also unter Hinweis auf bestimmte Erfahrungen) oder auch rational (d.h. begrifflich) vollzogen werden - doch vor allem müssen sie intersubjektiv nachvollziehbar sein und über „Meinen" und „Glauben" hinausgehen.4 Zum anderen umfasst Wissen auch die bereits erwähnten Kenntnisse darüber, wie und warum etwas erscheint, funktioniert, in Wirkung tritt etc. Dieses mit einem (begrenzten oder hypothetischen) Gewissheitsanspruch auftretende Wissen findet sich im Regelund Weltwissen des Alltags wie in den noch näher zu bestimmenden Möglichkeitsräumen der Literatur. Das wissenschaftliche Wissen in seinen variierenden Erscheinungsformen einer diskursiven Rationalität ist also nicht die einzige, wohl aber eine gleichsam paradigmatische „Realität" von Wissen. 1.3.1 Wissensarten und -formate Wissen, so wurde festgestellt, weist mehrere Dimensionen auf. Schon die in der deutschen Sprache gebräuchliche Verwendung des Wortes als Verb und als Substantiv verweist auf Zusammenhänge zwischen divergierenden Fähigkeiten („wissen, dass..."; „wissen, wie...") und unterschiedlich beschaffenen Modi („sicheres Wissen von ..."; „hypothetisches Wissen über ..."). Dieser mehrfach dimensionierte Charakter des Wissens ergibt sich aus seiner Herkunft: Wissen basiert auf und realisiert sich in wiederholten Beobachtungen, die als kondensierte Unterscheidungen funktionieren und für Benennung und Mitteilung differentiell organisierter Wahrnehmungen Zeichen voraussetzen wie erzeugen. Im Unterschied zum bloßen Meinen oder Glauben bezieht sich Wissen dabei auf besonders gesicherte und also gewisse Geltungsansprüche, die in satzförmigen Aussagen wie „Ich behaupte, dass..." formuliert und begründet 4
Prägnant formuliert durch Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Β 850. In: Ders.: Werke in 12 Bden. Bd. 4, S. 689, Hervorhebungen im Original: „Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive Gewißheit (für jedermann)."
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1. Grundlagen
werden können. Zugleich gibt es Wissensbestände, die uns gestatten, situationsangemessen zu handeln und Vorgänge zu regulieren: Wir wissen, wie man einen Stift oder ein Lexikon benutzt, wie man mit Behörden telefoniert oder einen Computer konfiguriert. Diese alltagssprachlich als „Können" und in der Wissenspsychologie als „prozedurales Wissen" bezeichneten Kenntnisse sind mitunter nur schwer als Gehalt formulierbar und einer Person zuzuschreiben. Dennoch spielen sie (vor allem auch im Zusammenhang mit Literatur) eine wichtige Rolle, denn nur auf ihrer Grundlage funktionieren Beschreibungen von Abläufen und also komische oder tragische Wirkungen angesichts von misslungenen oder konsequenten Handlungssequenzen.5 Als Fähigkeit und Zustand eröffnet und konditioniert Wissen immer auch konkrete Möglichkeiten lebensweltlichen Handelns, begrifflichen Denkens oder ästhetischen Erlebens. Bestände des Alltags- und Weltwissen erlauben Bewegungen in sozialen Räumen; Kenntnisse abstrakter Begriffe und Kategorien machen es möglich, sich in diskursiven Zusammenhängen und also im Denken zu orientieren. Erfahrungen mit simulativen Modellbildungen gestatten schließlich Umgangsweisen mit ästhetisch formierten Artefakten, die an eine sinnlich affizierte Einbildungskraft appellieren und Verstehensleistungen zum Nachvollzug ihrer Geltungsansprüche beanspruchen wie in Gang setzen. Auch wenn die Kognitionspsychologie noch nicht genau erklären kann, wie der mentale „Sprung" von Reiz-Reaktionsketten zu komplexen Orientierungsleistungen zustande kommt und wie also Wissen aufgebaut ist, lassen sich doch Punkte zu dessen präziserer Bestimmung angeben: (1) Klar dürfte sein, dass Wissensbestände an individuelle bzw. kollektive Träger sowie (technische) Speichermedien gebunden sind. In Zeichen und grammatisch regulierten Zeichensystemen fixiert und auf Tontafeln oder Papyrus, Pergament oder Papier, DVD oder WWW-Seiten verbreitet, „gehören" sie jemandem und sind von den Bedingungen ihrer Erzeugung und Weitergabe (Texten, Institutionen, Kulturen) schwerer ablösbar als Daten und Informationen, die isoliert gespeichert und verwendet werden können. 5
So zuletzt Fotis Jannidis: Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag „Vom Wissen in Literatur". In: ZfG N.F. 18 (2008), S. 373-377, hier S. 373. Damit wird eine Auffassung korrigiert, die personales und impersonales Wissen getrennt und auf der Basis von vier Merkmalen personalen Wissen ein Wissen in Literatur dementiert hatte: 1. Personales Wissen umgreift eine Beziehung zwischen einer Person und deren Wissen. 2. Personales Wissen ist zeitabhängig. 3. Wissen ist ein restrikter Begriff, da drei Bedingungen erfüllt sein müssen, um ihn anzuwenden: Überzeugung, Wahrheit, Rechtfertigung. 4. Personales Wissen hat eine normative Komponente: Nur wenn man etwas als gewiss und sicher weiß, darf man es mit Wahrheitsanspruch behaupten. - Da mit einem solchen (engen) Wissens-Begriff nicht vereinbar, sei jede Rede vom Wissen in literarischen Texten unzulässig; ein „Werk als solches (d.h. für sich genommen) ist keine Quelle von Wissen, da es die in ihm enthaltenen Auffassungen über die Welt jenseits des Werkes nicht rechtfertigen kann"; so Tilman Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: ZfG N.F. 17 (2007), S. 398-410, hier S. 404.
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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(2) Wissen ist keine ungeordnete Menge von Daten, sondern weist generalisierte und systematisierte Formen auf. Es ist an Strukturen gebunden, die im Prozess permanenter Informationsverarbeitung nach Regeln entstehen. Diese Wissensstrukturen erwachsen aus dem Umgang mit einem stetigen Fluss von Signalen, die als Informationen markiert und bearbeitet werden; zugleich konstituieren sie die Fähigkeit zu deren Bewertung und ihrer Einbettung in Kontexte: Erst durch vorstrukturierte Aufmerksamkeit und Kontextwissen erhält ein Reiz seine Signifikanz und wird als relevante Information markiert; d.h. er bekommt eine Gestalt, eine Form. Selbst bei der Arbeit mit intelligenten Datenbanken bleibt der wichtigste Schritt immer noch die Selektion und Bewertung von Informationen an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit. (3) Als strukturierte Menge von Kenntnissen, die in kulturellen Systemen erworben und aktualisiert, modifiziert und weitergegeben werden, unterliegt Wissen einer zeitlichen Dynamik. Wissensbestände bauen sich im Laufe von Entwicklungen allmählich auf; sie können aber auch veralten und aus einem aktuellen kulturellen Gedächtnis schwinden. (Welche Folgerungen sich daraus fur Texte als Langzeitspeicher ergeben, wird noch zu diskutieren sein.) Anders als die Nutzung von Informationen ist die Aktivierung von Wissen nicht an limitierte Zeitfenster gebunden, auch wenn die Investition von Zeit und Aufmerksamkeit eine wesentliche und an späterer Stelle zu erläuternde Dimension der Zusammenhänge von Wissens- und Textproduktion bildet. (4) Wissen unterscheidet sich vom bloßen Meinen oder Glauben durch Gewissheit. Wissen tritt als ein Geltungsanspruch auf, der etwas mit einem „Für-wahr-halten" der behaupteten Sätze zu tun hat und auf begründeten (bzw. begründbaren) Einsichten und Überzeugungen beruht. Es umfasst zugleich immer auch ein „Wissen, wie ..." und damit Varianten eines Könnens, das als Sich-Auskennen oder Zurecht-Finden im Alltag ebenso wichtig ist wie in den Laboren der Wissenschaft oder in den gedanklichen Spielräumen der Literatur. Die Arten dieser Gewissheit wie die Weisen ihrer Bewährung sind unterschiedlich. Während Bestände des lebensweltlichen Wissens oder Erkenntnisse spezialisierter Experten in Schlussfolgerungen bzw. Urteilen vorliegen und empirische oder rationale Überprüfbarkeit beanspruchen können, sind die Gewissheitsprätentionen literarischer Texte schwerer greifbar. Dennoch bestehen auch literarische Texte darauf, Einsichten zu formulieren, die mehr sind als emotionale Kundgaben oder mentale Repräsentationen. „Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind Erfahrungen", erklärt die Titelfigur in Rainer Maria Rilkes Roman DIE AUFZEICHNUNGEN DES M A L T E LAURIDS BRIGGE und listet eine Fülle notwendiger Bedingungen fur das erfahrungsgesättigte Wissen lyrischer Äußerungen auf.6 6
Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Rilke: Sämtliche Werke Bd. 6, S. 724: „Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen,
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1. Grundlagen
Auch die fiktionalen Welten von Erzählwerken und Dramen kommen nicht ohne jene Kenntnisse aus, die zur überzeugenden Beschreibung von Abläufen notwendig sind: Sie setzen funktionierende Regeln von Sprache und Handlungszusammenhängen ebenso voraus wie den zumindest temporären Nachvollzug ihrer im Modus des „als-ob" konstruierten Ereignisfolgen. - Die Bindung des Wissens an Gewissheit(en) hat also weitreichende Konsequenzen, die später weiter zu entfalten sind. An dieser Stelle sind nur noch einmal die Folgen für Formierung und Weitergabe zu erwähnen: Erscheinen Informationen in erster Linie als Signale, die in einer jeweils aktuellen Situation Bedeutung und Geltung erlangen, entsteht Wissen im Rahmen komplexer sozialer Praktiken und Unterweisungsstrategien, für deren Funktionieren die Glaubwürdigkeit und Stabilität von Institutionen eine größere Rolle spielen (können) als die punktuelle Nachprüfbarkeit einer einfachen Beobachtung. Mit anderen Worten: Wissen hat sehr viel mehr mit seiner (institutionalisierten) Formierung und (überzeugenden) Gestaltung zu tun, als es etwa die „nackten" Formeln der Naturwissenschaften oder die apodiktischen Definitionen in Lehrbüchern vermuten lassen. Und auch wenn damit ein bereits mehrfach ausgesprochener Gedanke wiederholt wird, ist es doch notwendig, ihn noch einmal zu unterstreichen: Wissen erscheint nur in der untrennbaren Kopplung von Inhalt und Form und also stets gebunden an spezifische Praktiken und Formate seiner Erzeugung, materialen Speicherung und medial konditionierten Weitergabe. Als Einheit von (stets nur vorläufig wahrem) Zustand und (selbstbezüglichen) Prozessen wird Wissen stets in konkreten Bezugssystemen gewonnen und weitergegeben. Wissen bleibt also gebunden an unterschiedliche, gleichwohl aufeinander bezogene Arten und Repräsentationsformen, in denen es erzeugt und vermittelt, diskutiert und modifiziert wird. Diese Wissensarten und Repräsentationsformen lassen sich auf verschiedene Weise differenzieren. Grob gerastert können folgende Wissensarten unterschieden werden: (a) Arten eines bereichsbezogenen Wissens; (b) Arten eines strategischen Wissens; (c) Arten eines metakognitiven Wissens.
und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, - an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für einen anderen - ) , an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Stemen flogen [...]."
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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(a) Die Arten des sogenannten bereichsbezogenen Wissens umfassen Kenntnisse über bestimmte Teilaspekte einer je konkreten Realität. Zu diesem bereichsbezogenen Wissen gehören Erkenntnisse über lebensweltliche und soziale Zusammenhänge, professionelle Wissensbestände hinsichtlich „praktischer" Tätigkeitsfelder oder auch das Expertenwissen in spezialisierten Wissenskulturen. Bereichsbezogenes Wissen tritt verschiedenartig in Erscheinung: Deklaratives Wissen umfasst das Wissen einer Person über Begriffe, Objekte, Relationen („Wissen, dass...") und wird in propositionalem Format („x ist Merkmal von y") oder in Form von semantischen Netzen (Abstraktionen, Teil-GanzesBeziehungen, zeitliche Folgen etc.) repräsentiert. Deklaratives Wissen kann nach episodischem (basierend auf individueller Erfahrung) und semantischem (sprachlich verallgemeinertem) Wissen unterschieden werden. Prozedurales Wissen umfasst als „Wissen, wie..." die Gesamtheit handlungsanleitender Kenntnisse und wird in Form von Algorithmen oder Regeln repräsentiert („wenn ..., dann ...."). Regelsysteme bilden als mehr oder weniger präzise beherrschtes, doch z.T. nur schwer explizit kommunizierbares Wissen auch das tacit knowledge kultureller Sektoren; dazu später mehr. 7 (b) Strategisches Wissen umfasst allgemeine Prozeduren und Verfahren, die nicht an bestimmte Wissensdomänen gebunden sind, sondern in unterschiedlichen Situationen eingesetzt werden können. Es kann in seiner Form dem regelhaften prozeduralen Wissen („wenn..., dann...") gleichen, ist aber allgemeiner einsetzbar. Man kann es j e nach der mit seinem Einsatz verbundenen Zielsetzung klassifizieren: Wissen zur Problemlösung, Komplexitätsreduzierung, Marktbeherrschung, zum Machtgewinn etc. Unscharfe und mit Gedankenexperimenten verbundene Problemlösungsstrategien, die den Erfolg nicht garantieren, bezeichnet man auch als Heuristiken. Als oftmals mit einer bestimmten Reihenfolge verbundene Verkettung von Einzelhandlungen umfassen diese Arten strategischen Wissens: Verfahren, mit denen man Wissenslücken schließen kann (etwa indem man regelgeleitet Unbekanntes erfragt); Verfahren, mit denen man neues Wissen aus vorhandenen Beständen ableitet (Inferenzstrategien); Verfahren, mit denen man Wissen strukturiert und neues Wissen hinzufügt.
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Wie untrennbar diese hier zu heuristischen Zwecken getrennten Wissensarten miteinander verbunden sind, zeigt ein näherer Blick auf die semantischen Beziehungen, die bei der Verknüpfung von zwei oder mehreren Konzepten realisiert werden. Schon Abstraktionen („Der Schrank ist ein Möbelstück") und Herstellung von Beziehungen zwischen Teil und Ganzem („Die Klinge ist Teil des Schwertes") basieren auf regelgeleiteten Zuschreibungsleistungen. Deren Komplexität steigert sich bei der Feststellung von zeitlichen Verhältnissen (chronologische Folge, Simultanität), räumlichen Relationen und kausalen Beziehungen.
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1. Grundlagen
(c) Metakognitives Wissen bildet die Gesamtheit von Wissen über Wissen. In und mit ihm werden die (eigenen) deklarativen, prozeduralen oder strategischen Wissensbestände geprüft und bewertet - so etwa in der Einschätzung, über welche Bereiche man etwas bzw. nichts weiß. Sokrates berühmtes Diktum „Ich weiß, dass ich nichts weiß" gehört ebenso zum metakognitiven Wissen wie die oben zitierten Aussagen aus Rilkes Roman über die in Versen formulierten Erfahrungen. Metakognitives Wissen realisiert also die für erfolgreiche Problemlösungen notwendigen Fähigkeiten zur Selbstreflexion und verleiht diesen einen je spezifischen Ausdruck. Wo und wie aber finden diese stets in historisch-konkreten Manifestationen gegebenen Wissensbestände? Trennen wir an dieser Stelle bewusst die zusammengehörende Einheit des Wissens und fragen nach den Formaten seiner Repräsentation, so finden wir unterschiedliche Varianten, die jedoch keine Abbildung oder gar Widerspiegelung einer wie auch immer beschaffenen Außenwelt darstellen, sondern stets spezifisch konditionierte Konstruktionen eines bestimmten Gegenstandsbereichs: (a)
analoge Repräsentationen, die in Form von graphischen Abbildungen, Bewegtbildsequenzen, Tonaufzeichnungen etc. fixiert und kommunikativ vermittelt werden; (b) propositionale Einheiten in Form von assertorischen bzw. Behauptungssätzen; (c) kognitive Schemata in Form semantischer „Netze" oder assoziativer „Landkarten"; (d) Modelle und Theorien, die Begriffe und Symbole systematisch verknüpfen und textförmige Darstellungen eines besonders sicheren Wissens liefern.
(a) Analoge Repräsentationen sind Strukturbildungen, die der Wahrnehmung eines Gegenstandsbereichs ähneln. Sie sind modalitätsspezifisch (visuell, auditiv, taktil etc.) konditioniert, je nachdem durch welche Wahrnehmungskanäle und Aufzeichnungsverfahren ein Gegenstand oder ein Ereignis enkodiert wird. Analoge mentale Repräsentationen finden ihre externe Vergegenständlichung in entsprechenden Formaten, so in bildlichen und filmischen Darstellungen oder in Tonaufnahmen. - Ob in und mit diesen Formaten bereits ein „Wissen" vorliegt, wird seit längerem insbesondere auch in der Bildwissenschaft diskutiert. Denn zwischen visuell kodierten Repräsentationen und textförmig gegebenen Aussagen mit einem prepositional Gehalt besteht eine ikonische Differenz·. „Was durch Bilder erkannt werden kann, was sie explizit aussagen, ist kein diskursiver Prozess, sondern etwas, das nur im Zeigen statthaben kann, das darum die Eigenarten der Simultanität und der Nicht-Differenziertheit besitzt."8 Mit anderen Worten: Während schriftsprachliche Texte durch sukzessive Verknüpfung von Begriffen diskursive Strukturen entfalten, übernehmen Bilder die (nicht zu unterschätzende) Funktion einer Beglaubigung von 8
Dieter Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik. In: Martina Heßler (Hrsg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. München 2006, S. 405-420, hier S. 412.
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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Wissensansprüchen durch Sichtbarmachung; ihre Geltung wird durch Evidenz, nicht durch Gründe geschaffen. Die Konditionen dieses in analogen Repräsentationen übermittelten Wissens sind gleichwohl komplex: Jede Datenaufzeichnung, jede graphische und filmische Darstellung fußt auf kulturellen Traditionen, inkorporierten Wissensbeständen und eingeübten Deutungsroutinen der Produzenten und Rezipienten. Visuelle Darstellungen in wissenschaftlichen Werken etwa schließen nicht nur an zeitgenössische Praktiken der Illustration an; sie verwenden zugleich bildsprachliche („rhetorische") Strategien, wenn sie einem Argument besonderen Nachdruck verleihen, zur Beglaubigung oder Validierung von Wissensansprüchen eingesetzt werden oder als Legitimationsnachweise dienen. Aufgrund dieses Autoritätscharakters üben die Bilder des Wissen stets auch Reproduktionsfunktionen aus: Sie sind nicht nur Ausdruck institutioneller Voraussetzungen und sozialer oder kultureller Konstellationen und Normierungen, sondern tragen gleichzeitig zu deren Formierung und Aufrechterhaltung bei. (b) Während analoge Repräsentationen in modalitätsspezifischer Weise die Wahrnehmungen aus unterschiedlichen Sinnesbereichen enkodieren und in ihren externalisierten Vergegenstänflichungen lockeren Kombinationsregeln folgen, sind die amodal bzw. abstrakt vermittelten Propositionen strikteren Verknüpiungsfolgen unterworfen. Eine Proposition ist jene kleinste Wissenseinheit, die übrigbleibt, wenn wir sprachliche Äußerungsformen von möglichen „Schmuckelementen" befreien und eine selbstständige Aussage isolieren, die als wahr oder falsch beurteilt werden kann. Sätze wie „Die Erde ist ein Planet" oder „Das Planck'sche Wirkungsquantum beträgt h = 6,6261 · IO"34 Js" oder „Verse sind Erfahrungen" sind Behauptungssätze, die einen propositionalen Gehalt, d.h. eine sprachlich distinkte Beschreibung der Bedeutung eines Sachverhalts aufweisen und zugleich zeigen, dass Propositionen aus Relationen von Prädikaten bestehen. (c) Als kognitive Schemata bezeichnet man Ordnungseinheiten, mit deren Hilfe man neue Erfahrungen in bereits vorhandene Wissenssysteme integrieren kann. In Form assoziativer oder semantischer „Netze" bzw. kognitiver „Landkarten" gegeben, werden diese Schemata permanent aktiviert, um aktuelle Geschehnisse zu verarbeiten: Hören wir Sätze der alltäglichen Kommunikation oder lesen wir eine in der Zeitung abgedruckte Reportage, dann erwarten wir, dass diese Äußerungen informativ, wahr, relevant und klar sind, um so etwas wie Verständigung über einen Sachverhalt möglich zu machen. Lesen wir dagegen in einem mit Reimen und wechselnden Rhythmen besonders gestalteten Text über den Versuch eines Zauberlehrlings, es seinem Meister nachzutun und sich vom behexten Besen das Badewasser bringen zu lassen, dann suchen wir in diesen Zeilen keine empirisch überprüfbaren Informationen (etwa über individuelle Befähigungen zur Magie). Wir erwarten ebenfalls nicht, dass die gelesenen Sätze wahrheitsfähige Aussagen darstellen. Und wir erhoffen keine
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1. Grundlagen
fur unsere praktische Lebensführung relevanten Maximen, die in der Form von eindeutigen Handlungsanweisungen formulierbar wären. Im Gegenteil. Wir lesen diesen literarischen Text und mobilisieren dabei Phantasie bzw. Einbildungskraft. Im Akt der Lektüre nehmen wir Worte und Sätze auf und sehen die von ihnen bezeichneten Vorgänge und Figuren in gleichsam visueller Weise vor uns. Ohne von Fragen nach Informativität, Wahrheit oder Relevanz beunruhigt zu sein, statten wir die vom Text mitgeteilten Umstände und Akteure mit konkreten Eigenschaften und Details aus; oftmals auch mit Eigenschaften, die der Text selbst nicht enthält. Und in dieser aktiven Imagination entdecken wir, wie vor bzw. in uns eine neue Sicht auf (möglicherweise schon lange vorhandene) Probleme entsteht. - Diese besondere Rezeptionshaltung in Bezug auf literarische Texte aber ist nichts anderes als ein aktiviertes kognitives Schema: Durch textinterne Merkmale (Zeilenbruch, Reime, Rhythmus) wie paratextuelle Signale (Gattungsbezeichnung; Integration in Textkorpora; Angabe von Autor und Entstehungszeit) motiviert, setzen wir stabile Muster der selektiven Wahrnehmung und Bewertung von Informationen in Gang und gewinnen Kenntnisse, die ein bereits entwickeltes Wissen in sinnlich-konkreter wie in rational-abstrakter Weise modifizieren. (d) Nicht ohne Grund bilden Modelle und Theorien als systematische Verknüpfung von Begriffen, Aussagen und Symbolen das letzte Element in der Liste der Wissensformate. Denn die mit einer langen Geschichte versehenen Begriffe Modell und Theorie benennen die Ergebnisse von epistemischen Umgangsformen, die sich durch besondere Distanzierungsweisen von empirischen Wahrnehmungen und praktischen Handlungsweisen unterscheiden. Wie auch immer das komplizierte Verhältnis von (visuell, auditiv, schriftsprachlich fixierten) Erfahrungen und den in sekundären Zeichen fixierten Theorien aufzufassen ist: Als sicher kann gelten, dass Modellbildungen wie theoretische Reflexionen unter Bezugnahmen auf (empirische) Beobachtungen entfaltet und in Texten fixiert werden.9 Eine bestimmte Dichte von Detailinformationen sowie eine bestimmte Praxis des Umgangs mit diesen Beständen bildet eine Voraussetzung jener Konzeptualisierungen, die ein allgemeines Wissen - also Gesetze, Regelmäßigkeitsannahmen, Typologien - in Form systematischer Aussagen bzw. symbolisch strukturierter Modelle formulieren und damit empirische Befunde interpretieren. (Was nicht heißen soll, dass Modelle und Theorie nur in Expertenkulturen der Wissenschaft existieren: Auch im Alltag kennen und nutzen wir sie, wenn auch nur selten unter vollständiger Erläuterung von Ausgangs- und Randbedingungen, Hypothesen und Konklusionen. Die in gelehrten bzw. wissenschaftlich professionalisierten Zusammenhängen gene9
So deutlich Lutz Danneberg: Erfahrung und Theorie als Problem moderner Wissenschaftsphilosophie in historischer Perspektive. In: J. Freudiger, A. Graeser, K. Petrus (Hrsg.): Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 12-41, hier S. 14 f..
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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rierten Modelle und Theorien können vielmehr als exemplarische Vergegenständlichungen eines auf Distanzierung basierenden Wissens gelten.) Auf eine wichtige Eigenschaft von Theorien ist noch einmal zurückzukommen. Theorien sind an Texte gebunden, in denen sie niedergelegt wurden; differierende Darstellungen theoretischer Aussagen sind darum nicht äquivalent und austauschbar. Wie später noch genauer zu erläutern sein wird, zeigen zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Naturwissenschaften und der textinterpretierenden Disziplinen, wie wesentlich die Formulierung von Wissensansprüchen von sprachlich-rhetorischen Strukturen bestimmt ist und dass Reformulierungen von theoretischen Auffassungen den (wie auch immer bestimmten) Vorstellungen ihrer Urheber widersprechen können. So findet sich in Lehrbüchern der Physik des 19. und 20. Jahrhunderts nicht Newtons Theorie der klassischen Mechanik, wie sie im Text der PHILOSOPHIAE N A T U R A L I S PRINCIPIA MATHEMATICA 1686/87 niedergelegt wurde, sondern eine darüber hinausgehende „formale" Darstellung, die allerdings keine neue physikalische Theorie bietet, sondern nur eine von mehreren Alternativen, diese Einsichten auszudrücken. Die 1788 von Joseph Louis Lagrange eingeführte und 1833 von William Rowan Hamilton weiter entwickelte Formulierung weist jedoch nicht zu übersehende Unterschiede zu Newtons Überlegungen auf, die bei ungenauer Rede über die Newtonsche Physik missachtet werden.10 Um es kurz und etwas simpel zu sagen: Modelle und Theorien sind Formate des Wissens, in denen Bezugnahmen auf empirische Erfahrungen (die bereits gemacht wurden und die man nach Vorgabe der Theorie machen kann) ebenso sprachlichen bzw. symbolisch kondensierten Niederschlag finden wie explizite oder implizite Beziehungen zu anderen Theorien bzw. zu den Texten, in denen diese fixiert sind. Die in je konkreten Textformen vorliegenden Modelle und Theorien weisen argumentative und rhetorische Strategien auf; sie sind und bleiben an Autoritäten wie an Beglaubigungen gebunden. Um also theoretische Erkenntnisse im Zusammenhang mit anderen Wissensformen wie den Spielarten der Literatur analysieren zu können, sind textuelle Verfassung, Bezugnahmen auf vorgängige Erfahrungen und auf andere Theoriebildungen in den Blick zu nehmen. Allein durch mehrfach dimensionierte Perspektiven wird es möglich, die vielgestaltigen Verhältnisse von theoretischem Wissen und literarischen Textwelten zu erfassen. Nicht erst diese Hinweisen dürften deutlich machen, dass es unterschiedliche Bereiche gibt, in denen je eigene Wissensansprüche erzeugt und weiterentwickelt werden. Das lebensweltliche Wissen des Alltags unterscheidet sich in Konstruktion und Verbreitung von den methodisch hergestellten und also in 10 Vgl. Lutz Danneberg, Jörg Schönert: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte. In: Petra Boden, Holger Dainat (Hrsg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 13-58, hierS. 32 f.
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1. Grundlagen
besonderer Weise „gesicherten" Erkenntnissen spezialisierter Experten - auch wenn diese zur Formulierung neuer Einsichten nicht selten auf vertraute Ausdrücke aus dem Alltag zurückgreifen: Termini wie „Atomkern", „Brechung", „Spannung", „Widerstand" oder „Wirtschaftswachstum" bleiben Metaphern, selbst wenn wir sie nicht mehr als solche wahrnehmen, da sie durch Definitionen eingeführt und in ihrer Verwendung verbindlich geregelt sind. Und literarische Texte haben andere Geltungsansprüche als etwa die systematischen Theoriebildungen in den Wissenschaften, auch wenn sie an den oben genannten Wissensarten ebenso partizipieren wie an unterschiedlichen Formen ihrer Repräsentation. Erzählende Texte - von Homers ILIAS bis zu Jonathan Franzens THE CORRECTIONS - haben am tacit knowledge von Individuen und Kulturen teil; zugleich modellieren sie Interaktionen, die im Rahmen ihrer als-obKonstruktionen gewissen Einsichten folgen müssen, um plausibel und kommunikativ erfolgreich zu sein. Dramatische Texte - vom KÖNIG ÖDIPUS des Sophokles bis zu Botho Strauss' ITHACA - stellen Versuchsanordnungen auf die Bühne und probieren Problemlösungsverfahren im imaginären Raum aus. Metakognitives Wissen findet sich in poetologischer Lyrik wie in der Essayistik seit Montaigne; nicht erst Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos sinniert in Sprache über die Grenzen von Sprache. Um die spezifischen Qualitäten dieses literarischen Wissens zu ermitteln, sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen lebensweltlichem, wissenschaftlichem und literarischem Wissen zu markieren, um in einem abschließenden Schritt die Varianten des Verhältnisses von Literatur und Wissen zu skizzieren. Vorher aber ist auf den bereits mehrfach angedeuteten Umstand einzugehen, dass auch der Begriff „Literatur" eine Abstraktion darstellt und zu genauerer Analyse gattungsspezifischer Segmentierungen bedarf. 1.3.2 Gattungen der Literatur
Texte als schriftlich fixierte Zeichenkomplexe erscheinen stets in konkreter Gestalt und in konkreten Kommunikationszusammenhängen: Wir überfliegen Reportagen oder Kommentare in Zeitungen, lesen eine gedruckt vorliegende
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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Tragödie oder durchsuchen auf einer CD-ROM gespeicherte Briefe. Umstandslos und zumeist ohne größere Probleme nehmen wir entsprechende Rezeptionshaltungen ein. Von Zeitungstexten erwarten wir Informationen, d.h. den Tatsachen entsprechende Darstellungen über Sachverhalte in Politik, Wirtschaft, Kultur. Literarische Werke sollen durch Mobilisierung unserer Einbildungskraft faszinieren. In Selbstzeugnissen wie Briefen und Tagebüchern forschen wir nach dem Ausdruck von Gedanken und Gefühlen. Die intuitive Einordnung von Texten, die uns im Alltag und im Studium begegnen und ein entsprechendes Leseverhalten in Gang setzen, beruht auf einem Wissen über Textsorten und Gattungen, das wir im Verlauf unserer kulturellen Sozialisation erwerben. Als weitgehend implizites Wissen determinieren die Kenntnisse über verschiedene Arten von Texten und ihre entsprechende Wahrnehmung jeden Lektürevorgang. Ob wir einen Text auditiv (etwa als Lesung von CD) oder visuell (wie beim stillen Lesen) rezipieren, ob wir eine Auflistung von Lebensmitteln vorfinden und diese als „Einkaufszettel" verstehen oder eine ähnlich zellenförmige Anordnung von Worten als „Gedicht" klassifizieren - ein internalisiertes Regelwissen und Signale des Textes führen dazu, bereits im Prozess der Aufnahme eine Entscheidung über Textsorte und entsprechendes Rezeptionsverhalten zu treffen. Für eine fruchtbare Klärung der Verhältnisse zwischen Literatur und Wissen ist es notwendig, dieses mehr oder weniger implizite Wissen über die Klassifikation von sprachlichen Äußerungen explizit zu machen. Denn die Regeln für die Zuordnung von Texten zu bestimmten literarischen Gattungen tragen nicht nur dazu bei, spezifische Rezeptionshaltungen zu beschreiben und zu erklären. Das Wissen um die Gattungszugehörigkeit von Texten übernimmt auch wichtige Funktionen für die später zu erläuternden Umgangsformen der rhetorischen Analyse und historischen Kontextbildung: Nur wenn wir eine begründete Zuordnung konkreter Textvorkommnisse zu Gattungen vornehmen können, lassen sich entsprechende Kategorien und Verfahren zur Beschreibung und Erklärung ihrer Verhältnisse zu Wissensformen und -bereichen sachgerecht auswählen und anwenden. Die rasche und zumeist unproblematische Zuordnung von konkreten Textvorkommnissen zu Textsorten und die Einnahme einer entsprechenden Rezeptionshaltung kennen wir aus unserem alltäglichen Umgang mit laut- und schriftsprachlichen Äußerungen: Auf der Basis eines in der kulturellen Sozialisation erworbenen Wissens werden Intonation, Klangfarbe oder Aussprache unterschieden und verarbeitet, um sprachliche Produktionen differenziert verstehen zu können. Ohne größere Schwierigkeiten bestimmen wir satzförmige Aussagen als „Nachrichtensendung" oder „Liebeserklärung" oder „Aufforderung" und unterscheiden so zwischen sachlicher Darstellung, Ausdruck von Emotionen und Appell. Neben lautlich-paraverbale Kriterien tritt mit dem Erlernen von Lesen und Schreiben die Erfassung der materiell-graphischen
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1. Grundlagen
Gestalt von Texten. Wir identifizieren Schreibschrift und Druckschrift, unterteilen den materialen Text-Träger in Gruppen wie „Zeitung", „Zeitschrift", „Buch", „PC-Display" und erschließen aus der graphischen Gestaltung eines Textes wie dem Zeichenformat, der Gestaltung von Überschriften und der Verbindung mit Abbildungen weitere Kriterien zur internen Differenzierung. In der literarischen Sozialisation - die in unserem Kulturkreis zumeist noch immer mit dem Hören von Märchen einsetzt - erfahren wir nicht nur vom Schicksal von Hänsel und Gretel im Knusperhäuschen der Hexe, sondern zugleich auch, dass diese Erzählung von ganz anderer Beschaffenheit ist als etwa die Aussage, dass draußen die Sonne scheint: Während der Satz über Sonnenscheinwetter empirisch referentialisierbar ist, d.h. durch einen Abgleich mit der wahrnehmbaren Wirklichkeit überprüft werden kann, verzichtet die Geschichte von Hänsel und Gretel auf den Anspruch, wahr oder irgendwann geschehen zu sein. Mit der Beruhigungsformel „Es ist doch nur ein Märchen" und diversen Markierungen im Text („Es war einmal...") lernen wir frühzeitig einen gattungstheoretischen Begriff und seine Implikationen kennen. Und auch wenn wir den Terminus „Rezeptionshaltung" noch nicht verstehen, stellen wir uns doch auf ein entsprechendes Verhalten zum Text ein: Wir glauben gemäß bestimmter Verabredungen und Konventionen für die Dauer eines Moments an die Existenz einer Hexe im Pfefferkuchenhaus und bangen mit den Kindern angesichts ihrer Bedrohung durch eine - nur in unserer Imagination vorhandene - Hexe. Wir folgen also den komplexen Mustern eines kommunikativen Verhaltens, das sich innerhalb unserer Sprach- und Kulturgemeinschaft herausgebildet hat und bestimmten Bedürfnisse dient. Textsorten sind also komplexe Muster der sprachlichen Kommunikation, die in Sprach- und Kulturgemeinschaften entstehen und Bezugsgrößen des Austausche regulative Funktionen übernehmen. Sie signalisieren mit internen und externen Merkmalen die „Grundfunktionen" von Sprachzeichen und erleichtern so die Aufnahme und Verarbeitung von Äußerungen. Nach dem „Organon-Modell" des Sprachwissenschaftlers Karl Bühler lassen sich drei Grundfunktionen von Sprachzeichen unterscheiden: (a) Darstellung von Gegenständen, Sachverhalten, Ereignissen; (b) Ausdruck von inneren Befindlichkeiten, Emotionen und mentalen Einstellungen; (c) Appell, mit dem sich ein Zeichenbenutzer an einen Rezipienten wendet und ihn zu Reaktionen veranlassen möchte. - Diese Grundfunktionen bzw. Zweckbestimmungen können aufgrund verschiedener Merkmale erkannt werden. Aus lautlich-paraverbalen Eigenschaften einer mündlichen Äußerung (Intonation, Klangfarbe, Aussprache, Sprachrhythmus, Sprachgestus), der materiell-graphischen Gestalt eines schriftlichen Textes, der verwendeten Lexik, der Art der Satzbaumuster und der Themenbindung und einer zugrunde liegenden Makrostruktur ermitteln wir, ob ein vorliegender Text eine konstatierende Darstellung, den Ausdruck einer Einstellung oder den Appell zum Vollzug einer Handlung intendiert.
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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Einfache Sätze mit denotativer Wortwahl und enger thematischer Bindung realisieren die Funktion der Darstellung. Die gehäufte Verwendung mehrfach konnotierter Wörter und Wendungen und ein „weiter" Themenverlauf charakterisieren Texte zum Ausdruck von Emotionen und Einstellungen. Die Appellfunktion von sprachlichen Äußerungen realisiert sich durch eindeutige Sätze und zweckentsprechende Adjektive. Wie stark die Realisierung der grundlegenden Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell auf die Sedimentierung von Textsorten einwirkt, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass diese Funktionen zumeist die Textsortenbezeichnung bestimmen, während das materiale Trägermedium zur Ausdifferenzierung bei abgeleiteten Bezeichnungen dient. So folgt z.B. die Textsortenbezeichnung „Anzeige" dem Hauptklassifikationskriterium Funktion; während die Spezifikation „Heiratsanzeige" eine zusätzliche Differenzierung durch das Kriterium Thema vornimmt und die Begriffskombination „Zeitungsanzeige" das Zusatzkriterium Trägermedium benutzt. (Analoge Beispiele lassen sich für zahlreiche literarische Gattungen finden - vom Roman als Realisierung einer referentiellen Sprachfunktion mit Subgattungen wie Liebesroman, Fortsetzungsroman bis zur Lyrik als Umsetzung der Ausdrucksfunktion von Sprache mit Subgattungen wie Liebeslyrik, Popsongs etc.) - Eine mögliche Hierarchisierung der unterschiedlichen Gruppen von Texten könnte Textsorten als unterste Ebene einer fortschreitenden Abstraktion bezeichnen. „Wahlkampfreportage", „Liebesgedicht" und „Kochrezept" wären in diesem Fall Textsorten, die sich durch differierende Funktionen (Darstellung, Ausdruck, Appell) und spezifizierte Themenstellung unterscheiden und entsprechende Rezeptionshaltungen hervorrufen können. Eine nächsthöhere Ebene wäre die Ebene der Textklassen, zu denen Großgruppen wie „informative (Zeitungs-)Texte", „lyrische Texte" und „Rezepte" gehören. Den höchsten Abstraktionsgrad weisen dann Begriffe zur Bestimmung des Texttypus auf - in unserem Beispiel wären es Termini wie „massenmediale Texte", „literarische Texte" und „Anleitungstexte". Ein Terminus wie der eben genannte Begriff „literarischer Text" ist hochgradig abstrakt und in der Realität - wie jeder andere Text - nur in konkreten Manifestationen anzutreffen. So trägt Goethes FAUST auf dem Titelblatt den Untertitel EINE TRAGÖDIE, sein Erzähltext DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN bezeichnet sich selbst als EIN ROMAN, sein Drama STELLA nennt sich EIN SCHAUSPIEL FÜR LIEBENDE. - Diese von Autoren oder von Verlegern vergebenen Bezeichnungen sind Gattungssignale. Mehr oder weniger eindeutig formuliert, lösen schon diese Signale eine bestimmte Rezeptionshaltung aus: Ein Text wie die 1587 in Frankfurt gedruckte HISTORIA VON DOKTOR JOHANN FAUSTEN/ DEM WEITBESCHREYTEN ZAUBERER UND SCHWARTZKÜNSTLER wird anders aufgenommen als die Tragödie von Christopher Marlow; Heinrich Heines „Tanzpoem" DER DOKTOR FAUST funktioniert nach anderen Regeln als der Roman DOKTOR FAUSTUS von Thomas Mann.
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1. Grundlagen
Gattungsbegriffe regulieren also den Umgang mit Texten. Termini wie Ballade, Drama, Elegie, Epigramm, Erzählung, Fabel, Märchen etc. legen spezifische Rezeptionshaltungen nahe. Hinzu kommen Signale wie Titel, Motti oder Widmungen, die wir (zusammen mit den möglichen Gattungsangaben in Neben- oder Untertitel) als Paratext bezeichnen. Im Verbund mit typographischer Gestaltung und festgelegten Eröffnungsformeln erlauben diese paratextuellen Elemente rasche und zumeist intuitiv richtige Schlüsse auf ein adäquates Lese-Verhalten. Gattungsbegriffe lenken jedoch nicht nur den Leser. Als Produktionsstrategien wirken sie auch auf die Entwicklung des Literatursystems: Denn um seine Ausdrucksinteressen zu verwirklichen, muss ein Autor eine bestimmte Gattung auswählen und dabei zwischen individuellen Vorstellungen, Konventionen des literarischen Lebens und Erwartungen des Publikums vermitteln. Gattungsbegriffe dienen also der Rubrizierung von Texten nach verbindlichen Kriterien, um (a) zu beschreiben, wie und warum Texte von Lesern auf ähnliche Weise gelesen, verstanden, gedeutet werden; (b) zu erklären, wie und warum sich Autoren zur Realisierung individueller Ausdrucksinteressen vorgeprägter Muster bedienen; (c) eine kommunikative Verständigung über größere Texteinheiten zu gewährleisten. - Sollen Gattungsbegriffe als heuristische Größen zur Klassifikation und Ordnung von Texten verwendet werden, dann kann das jedoch nur unter Verzicht auf „naturgesetzliche" oder geschichtsphilosophische Begründungen geschehen. Das heißt konkret: (1) Gattungen sind keine poetischen „Naturformen" (Goethe) oder „fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt" (Emil Staiger), sondern Konventionen, die eine (erfolgreiche) Kommunikation zwischen Autor und Leser ermöglichen. (2) Als Konventionen mit gewisser Beständigkeit und intersubjektiver Verbindlichkeit sind sie für Leser wie für Autoren bedeutsam: Lesern signalisieren sie die Einnahme einer bestimmten Rezeptionshaltung: Externe und interne Gattungssignale legen erste Vermutungen über Sinn und Bedeutung des Textes nahe und setzen so den hermeneutischen Zirkel, also die Bewegung des Verstehens zwischen Teil und Ganzem, in Gang. Für Autoren bilden Gattungen ein Bezugssystem, in dem Verstöße gegen geltende Regeln ebenso prägend und bedeutungskonstitutiv sind wie Bestätigungen. (3) Gattungen geben also die Bedingungen und Möglichkeiten des überhaupt Sag- bzw. Schreibbaren vor: Mit der Entscheidung für eine Gattung nimmt jeder Autor vorhandene Muster zur Artikulation seiner Mitteilungen auf - so wie etwa Goethe zur Darstellung des neuzeitlich modernen Menschen und seiner problematischen Suche die Form des Dramas wählte und Thomas Mann die Form des Romans. Wie auch immer die interne Ausgestaltung gattungsspezifischer Muster ausfällt: Sie bestätigen und modifizieren Regeln, die. Äußerungen in dieser Form überhaupt erst möglich machen.
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1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
1.3.3 Wissen in Lebenswelt, Expertenkulturen, Literatur „Ich blieb weiterhin auf west-südwestlichern Kurs"; schreibt ein aus Genua stammender und unter kastilianischer Flagge segelnder Admiral am 12. Oktober 1492 in sein Bordtagebuch und fáhrt fort: Wir hatten stark unter hohem Seegang zu leiden, mehr als jemals auf unserer ganzen Fahrt. Wir erblickten einige Sturmvögel und ein grünes Schilfrohr, das an der Bordwand des Schiffes vorbeistrich. Die Leute der Karavelle ,Pinta' erspähten ein Rohr und einen Stock, fischten dann noch einen zweiten Stock heraus, der anscheinend mit einem scharfen Eisen bearbeitet worden war; sie griffen noch ein Rohrstück auf und sahen ein kleines Brett und eine Grasart, die von der üblichen verschieden war und auf dem Lande wuchs. Auch die Mannschaft der ,Niña' sichtete Anzeichen nahen Landes und den Ast eines Dornbusches, der rote Früchte trug. Diese Vorboten versetzten alle in gehobene, freudvolle Stimmung. [...] Da die Karavelle ,Pinta' schneller war als die anderen beiden Schiffe und mir vorgefahren war, so entdeckte man an Bord der ,Pinta' zuerst das Land und gab auch die angeordneten Signale. Als erster erspähte dieses Land ein Matrose, der Rodrigo da Triana hieß, wiewohl ich um 10 Uhr nachts vom Aufbau des Hinterschiffes aus ein Licht bemerkt hatte. Ob zwar das schimmernde Licht so undeutlich war, dass ich es nicht wagte, es als Land zu bezeichnen, so rief ich dennoch Pietro Gutierrez, den Truchseß des Königs, um ihm zu sagen, daß ich ein Licht zu sehen glaubte, und bat ihn, es sich anzusehen, was jener auch tat und es tatsächlich auch sah. [...] Nachdem ich meine Beobachtung gemeldet hatte, sah man das Licht ein-, zweimal auf scheinen; es sah so aus, als würde man eine kleine Wachskerze auf- und niederbewegen, was wohl in den Augen der wenigsten als Anzeichen nahen Landes gegolten hätte - allein ich war fest davon überzeugt, mich in der Nähe des Landes zu befinden.
Mehr als vier Jahrhunderte später schreibt ein zu diesem Zeitpunkt 23jähriger Rechts-Referendar einen Text mit dem Titel COLUMBUS. 12. OKTOBER 1492, der sich auf genau diese Stunden bezieht: Nicht mehr die Salzluft, nicht die öden Meere, Drauf Winde stürmen hin mit schwarzem Schall. Nicht mehr der großen Horizonte Leere, Draus langsam kroch des runden Mondes Ball.
Am Bugspriet vorne träumt der Genueser In Nacht hinaus, wo ihm zu Füßen blähn Im grünen Wasser Blumen, dünn wie Gläser, Und tief im Grund die weißen Orchideen.
Schon fliegen große Vögel auf den Wassern Mit wunderbarem Fittich blau beschwingt. Und weiße Riesenschwäne mit dem blassern Gefieder sanft, das süß wie Harfen klingt.
Im Nachtgewölke spiegeln große Städte, Fern, weit, in goldnen Himmeln wolkenlos, Und wie ein Traum versunkner Abendröte Die goldnen Tempeldächer Mexikos.
[...] Das Wolkenspiel versinkt im Meer. Doch ferne Zittert ein Licht im Wasser weiß empor. Ein kleines Feuer, zart gleich einem Sterne. Dort schlummert noch in Frieden Salvador.
Zwei Texte mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Gemeinsam ist beiden Artefakten ihr hergestellter, d.h. intentional produzierter Charakter. Sie nutzen sprachliche Zeichen und deren regelhafte Verknüpfung; zugleichen realisieren
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1. Grundlagen
sie den Einsatz von Sprache in je besonderer Weise. Beide Texte beziehen sich auf ein Phänomen: auf die Annäherung und erste Sichtung einer nach Anstrengungen endlich erreichten Küste. Und beide Texte setzen diese Referenz in ganz unterschiedlicher Weise um. Der Eintrag im (original nicht mehr existenten, doch in Transkriptionen von Fernando Kolumbus und Las Casas vorliegenden) Bordtagebuch von Christoph Kolumbus beschreibt in eher nüchternsachlichem Ton die Fahrt und zählt Indizien zur Bestätigungen der eigenen Erwartung auf, bevor der von erster Person Plural zum Singular wechselnde Schreiber die eigentlich erste Entdeckung von Land für sich reklamiert und damit einen Prioritätsanspruch markiert. - Der durch Strophenform und Zeilenbruch, Reim und Rhythmus rasch als „Gedicht" identifizierte Text von Georg Heym, der 1911 in seinem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Lyrik-Band D E R EWIGE T A G erscheint, beschreibt ebenfalls die Annäherung an ein (unbekanntes) Land, weist gegenüber dem Bericht des Entdeckers aber charakteristische Besonderheiten auf. In verdichteter Sprache werden nicht die Beobachtungen wiedergegeben, die zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort gemacht wurden; der Text imaginiert vielmehr die emotionalen Bewegungen eines Beobachters angesichts der endlich greifbaren Erfüllung seiner Hoffnungen und Träume. Mit anderen Worten: Im lyrischen Text geht es nicht um das Was, sondern um das Wie einer Entdeckung, die gewaltige Folgen haben sollte. Das Gedicht macht mit seinen komplexen und besonders gestalteten Zeichen etwas sichtbar, was in den nüchternen Worten des Christoph Kolumbus nicht vorhanden ist; er spricht (möglicherweise gar nicht existente) Gedanken und Gefühle aus, in dem er einen sprachlichen Möglichkeitsraum eröffnet und also formuliert, was geschehen sein könnte. Ist diese lyrische Beobachtung des Beobachters Christoph Kolumbus schon ein Wissen? Und wenn ja: Wie lässt sich dieses Wissen von anderen Wissensarten mit je spezifischen Verfahren und Ergebnissen unterscheiden? Eine Klärung dieser Fragen ist an dieser Stelle noch nicht zu leisten; sie wird im Rahmen der späteren integrativen Modellbildung vorgenommen. Schon jetzt aber lassen sich in starker Vereinfachung und angesichts dieser wie anderer genannter Beispiele drei Bereiche differenzieren, die je eigene Erkenntnisbestände bzw. Wissensansprüche aussprechen: (1) das lebensweltliche bzw. Alltagswissen, das sich in wiederholten Beobachtungen („Erfahrungen") sedimentiert und seinen Ausdruck in Redensarten und Sprichwörtern ebenso finden kann wie in Fabeln und Legenden, Märchen und anderen „einfachen Formen"; (2) das in spezialisierten Wissenskulturen gewonnene und methodisch gesicherte Wissen, das in diskursiven und begründbaren Urteilen fixiert ist; (3) das hypothetische Wissen symbolischer Kommunikationen in Kunst und Literatur, das Abwesendes wie Vergangenheit und Zukunft thematisiert, Unsichtbares wie Gedanken und Gefühle sichtbar macht und in vielfaltiger Weise auf Lebensweltwissen und spezialisierte Erkenntnisse bezogen bleibt.
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
43
Die Erhebung eines lebensweltlichen bzw. Alltagswissen zu einem eigenständigen Wissensbereich ist nicht unproblematisch, da Erfahrungen geradezu intim subjektiv sind und erst im Prozess reflektierender Transformationen zu individuenübergreifenden und wiedereinschaltbaren Kenntnissen werden. Dennoch haben sprachlich fixierte Formen von Erfahrung in ihren historischen Realisationen an Momenten des Wissens teil: Ob Bauernregeln oder Fürstenspiegel, ob frühneuzeitliche Klugheitslehren oder neusachliche „Verhaltenslehren der Kälte" - die in Texten sedimentierten Erfahrungen fixieren Kenntnisse, die in kulturellen Systemen erworben und weitergegeben wurden und zu ihrer Erforschung die interdisziplinäre Kooperation von Historiographien (Mentalitätsgeschichte, Religionsgeschichte, Sozialgeschichte etc.) erfordern. Ohne der späteren Darstellung an dieser Stelle vorgreifen zu wollen, kann als Charakteristikum eines lebensweltlichen bzw. Alltagswissen die weitgehend vertraute und noch nicht distanzierte Perspektive eines teilnehmenden Beobachters benannt werden: Es erscheint als Ergebnis einer Perspektive, die - grob gesagt vorfindliche Phänomene einer natürlichen oder sozialen Lebenswelt abbildet sowie zu deuten und zu erklären sucht, dazu jedoch (im Unterschied etwa zu spezialisierten Wissenskulturen) keine methodisch erzeugte Distanz sowie eigenständige Beschreibungssprachen entwickelt, sondern dem Material der natürlichen Weltwahrnehmung und seiner Sprache verpflichtet bleibt. Als Beobachtung erster Ordnung vollzieht dieses Wissen sozial konditionierte und sprachlich formierte Sortierungs- und Benennungsleistungen, als deren Resultat es zugleich entsteht. Von einer Beobachtung erster Ordnung in Alltag und Lebenswelt unterscheiden sich die in spezialisierten Wissenskulturen gewonnenen Wissensansprüche durch bereits angedeutete, hier noch einmal zu nennende Aspekte. Zum einen entstehen diese Wissensbestände als Resultate von festgelegten Schrittfolgen („Methoden"), die zur Beobachtung ausgewählter Umweltausschnitte angewendet werden und zu eben dieser methodisch angeleiteten Observation eigene Beschreibungssprachen und textförmige bzw. symbolisch kodierte Erklärungen („Modelle" und „Theorien") voraussetzen wie erzeugen. Das durch bewusste Distanzierungen ermöglichte, durch Investition von Zeit und Aufmerksamkeit zu wiederholten Beobachtungen „gesicherte " Wissen ist (zumeist) diskursiv verfasst; es realisiert sich in schlussfolgernden Urteilen und ist an Begründungen gebunden, die eine Gewissheit des behaupteten Geltungsanspruchs behaupten und ein zureichendes Für-wahr-halten verbürgen sollen. - Die Darstellungsformen dieses gesicherten Wissens sind vielfaltig und werden noch detailliert erläutert. Schon hier aber ist darauf hinzuweisen, dass sie (wie die in ihnen formulierten Wissensansprüche) historischen Wandlungen unterworfen sind, die zu reflektieren sind, wenn es um die Erfassung ihrer Wechselverhältnisse mit Literatur und literarischer Kommunikation geht: Die „Fallgeschichte" etwa, die in Medizin und Psychologie wie in den
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1. Grundlagen
Rechtswissenschaften eine wichtige Rolle spielen soll, entsteht im 18. und 19. Jahrhundert im Zuge von Differenzierungs- und Austauschprozessen zwischen Wissensordnungen, an denen das sich von didaktisch-moralischer Zweckbindung emanzipierende Literatursystem ebenso teilnimmt wie die experimentell orientierten Erfahrungswissenschaften und eine sich reformierende Kasuistik. In einem besonderen Verhältnis zu den Beobachtungen erster und zweiter Ordnung stehen die Observationen und hypothetischen Konstruktionen literarischer Texte. Auch wenn sie sich aus Erfahrungen speisen und auf vorgängige Gattungsmuster wie auf Elemente einer (in und durch Sprache zugänglichen) Welt beziehen, übernehmen diese sekundären Symbolsysteme keine Abbildungs- und Urteilsfunktion; sie konstruieren vielmehr Möglichkeitsräume („was geschehen könnte") in einer zugleich sinnlich konkreten und allgemeinen Weise. Wie dieses sinnlich konkrete Wissen literarischer Texte beschaffen ist, macht Georg Heyms Gedicht COLUMBUS sichtbar. Sprachliche Bilder und Metaphern, vor allem aber die durch Reim und Rhythmus besonders gebundene bzw. „verschnürte" Form der Lyrik vermitteln nicht nur ziemlich deutlich, dass sich dieser Text in seiner internen Perspektive wie in seiner externen Wirkungsabsicht vom Bericht des Admirals unterscheidet. In und mit seiner besonderen sprachlichen Gestalt demonstriert dieser Text, dass seine Sätze von ganz anderer Verfassung sind als etwa Columbus' Angabe, dass einige Sturmvögel und ein grünes Schilfrohr zu beobachten waren. Während die Aussagen über gemachte Observationen empirisch referentialisierbar sind, d.h. durch einen Abgleich mit anderen Berichten überprüft werden könnten, verzichten die Verse des Gedichtes auf den Anspruch, wahr oder so wie geschildert geschehen zu sein: Denn natürlich ist es für uns nicht nachprüfbar (und auch unwahrscheinlich), dass sich im nächtlichen Himmel vom 11. zum 12. Oktober 1492 große Städte und goldene Tempeldächer spiegelten. Dennoch stellen wir uns auf ein entsprechendes Verhalten zum Text ein: Wir glauben gemäß bestimmter Verabredungen und Konventionen für die Dauer eines langen (oder kurzen) Moments an die Existenz dieser Luftspiegelungen und sind fasziniert durch diese - nur in unserer Imagination vorhandenen - Bilder. Wir folgen also dem komplexen Muster eines kommunikativen Verhaltens, das sich innerhalb unserer Sprach- und Kulturgemeinschaft herausgebildet hat und bestimmten Bedürfnissen dient. 1.3.4 Hypothetisches Wissen der Literatur Wenn literarische Texte etwas wissen, dann also weniger in der Form eines propositional verfassten „Wissen, dass...", das empirisch überprüft werden kann. Die durch Literatur vermittelten Kenntnisse sind anderer Art: Sie beziehen sich sich eher auf ein „Wissen, wie..." und also auf ein prozedurales Erfahrungswissen, dessen subjektgebundene Verfasstheit im Medium einer mehr-
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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fach konnotierten Sprache kommunikativ aufgehoben wird. Als Gestaltungen eines prozeduralen Erfahrungswissens entstehen und wirken literarische Texte zugleich immer auch als integrale Bestandteile eines kommunikativen Verhaltens, das schon höher entwickelte Primaten kennen, doch wohl nur wir Menschen in eigenständigen Formen institutionalisiert und immer weiter ausdifferenziert haben: Literatur ist ein Spiel, das heißt ein faszinierend unterhaltendes Probehandeln; literarische Texte spielen durch (ästhetische) Imaginationen von Möglichkeiten, die in der Begrenztheit unserer empirischen Existenz nicht realisierbar sind. Entlastet von den Konventionen pragmatischen Alltagshandelns und vom Druck vitaler Entscheidungen erlauben literarische Texte ein symbolisches Aushandeln von Konflikten, die zwischen Individuen wie auch zwischen Individuen und Institutionen, Regeln und Traditionen bestehen. Wenn Literatur diese Konflikte im Modus des ästhetischen Spiels austrägt (so dass wir sie lesend-imaginativ mitbewältigen können und nicht mehr unter Einsatz des eigenen Lebens aushandeln müssen), wird sie zum Medium für die Artikulation ungelöster Probleme - und übernimmt damit wichtige soziale Funktionen." Doch sind diese literarisch artikulierten Probleme nicht als überzeitliche Aporien aufzufassen, sondern als historisch bestimmte Konfliktkonstellationen: also das, was in konkreten gesellschaftlichen Umständen als unlösbar empfunden wird. So gewinnen Gesellschaft, Liebe, Tod ihre Dimensionen erst vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Individualisierungsgeschichte; ein fortschreitender Bedeutungsverlust der Religion lässt die Frage nach dem Göttlichen in der Literatur des 20. Jahrhunderts eher zurücktreten. Versteht man Literatur als kommunikatives Medium der faszinierenden Unterhaltung durch symbolisches Probehandeln, in deren Rahmen (unlösbare) Probleme artikuliert und im Modus des Spiels imaginativ bewältigt werden, sind damit historische Voraussetzungen und systematische Konsequenzen verbunden. Erste und wichtigste Voraussetzung ist die Verselbständigung von Literatur zu einem Bereich, der gleichberechtigt neben anderen Formen gesellschaftlicher Kommunikation besteht und sich nach eigenen Regeln entwickelt. Diese Autonomisierung setzt nicht schon mit dem Beginn schriftlicher Textproduktion ein. Sie tritt vielmehr erst zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen auf - und zwar im neuzeitlichen Europa als Ergebnis von Differenzierungsleistungen, die zur Separierung von gesellschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion fuhren. Dieser histo11
Eine Auflistung „ewiger Probleme" als Themenreservoir der Poesie wird durch die geistesgeschichtliche Literaturforschung bereits in den 190er Jahren aufgestellt; Freiheit und Notwendigkeit, Liebe und Tod, Religion und Gesellschaft gelten als zentrale Größen. Vgl. Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey. Berlin 1924 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse I), wieder in R. Unger: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Gesammelte Studien. Bd. 1. Berlin 1929, S. 137-170; umfassend dazu Kapitel 2.3.
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1. Grundlagen
risch langwierige Prozess kulminiert im 18. Jahrhundert. Die funktionale Gliederung von Gesellschaft lässt nicht nur spezialisierte und eigengesetzlich operierende Subsysteme entstehen, sondern verändert auch Status und Funktion sowie die Selbstwahrnehmung der in ihnen agierenden Individuen. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erfahren sich Menschen als Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen, ohne dass ihre gleichzeitig auszufüllenden Rollen miteinander zu integriert wären: Man ist gleichzeitig Staatsbürger und Ehemann und Berufstätiger und Teilnehmer an kultureller Öffentlichkeit in einer Person. Aus früheren Bindungen - wirtschaftlichen Korporationen, zweifellos geltenden religiösen Überzeugungen oder künstlerischen Konventionen - freigesetzt, stehen die Individuen nun einer zunehmenden Unübersichtlichkeit gegenüber. In dieser Situation gewinnt Literatur neue Funktionen. Sie übernimmt zum einen die Aufgabe, die aus einer Rationalisierung wirtschaftlicher Abläufe gewonnene freie Zeit auszufüllen - also faszinierend zu unterhalten. Sie reflektiert zum anderen die Situation und die Befindlichkeit des freigesetzten Individuums. Und sie thematisiert die aus fortschreitender Ausdifferenzierung erwachsenden Konflikte des Individuums mit seinen Umwelten, die freilich erst unter den Bedingung einer fortgeschrittenen Individualisierung als unlösbare Probleme wahrgenommen wurden. (Womit nicht gesagt sein soll, dass es eine literarische Gestaltung von Problemen nicht schon vorher gegeben hätte: Bereits die antike Poesie kennt die Diskrepanz zwischen dem Wollen des Einzelnen und den Traditionen der Gemeinschaft; schon in konventionalisierter Dichtung wie Minnesang oder gelehrter Poesie wird die unerreichbare Geliebte besungen und damit der Konflikt zwischen subjektivem Willen und der Unmöglichkeit seiner Realisierung symbolisch generalisiert. Doch im deutschen Sprachraum stellt erst das 18. Jahrhundert eine emanzipierte Literatur als kommunikatives Medium zur faszinierend unterhaltenden Thematisierung ungelöster Probleme auf Dauer und grenzt sie so sichtbar und irreversibel von den Reflexionsmedien Religion, Philosophie, Wissenschaft ab. Die Wirkungsgeschichte von Goethes Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS dokumentiert die Schwierigkeiten dieses Prozesses: Ein Text, der nach des Autors eigenen Worten „nur darstellen" und „Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge entwickeln wollte", traf auf ein Erbauung und Belehrung erwartendes Publikum - das dann angesichts der im Text dargestellten Ereignisse entweder nach dem Verbot des Buches rief - wie etwa die Theologische Fakultät der Leipziger Universität - oder aber genau wissen wollte, was es mit den hinter den Figuren Werther und Lotte vermuteten Personen auf sich habe. Eine andere Haltung war dem Publikum wohl auch nicht vorstellbar: Bis dahin hatte es emotional bewegende Texte, die zugleich eine ästhetisch distanzierte Einstellung erforderten, nicht gegeben - erst Werke wie der WERTHER machten diese Einstellung notwendig und zugleich möglich.)
1.3 Formate des Wissens, Gattungen der Literatur
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Voraussetzung fur die soziale Funktion von Literatur, durch imaginative Ermöglichung eines symbolischen Probehandels ungelöste Probleme zu artikulieren und hypothetisches Wissen zu entfalten, sind drei Faktoren, die sich als Ergebnis langfristiger historischer Entwicklungen ausbilden und bis in die Gegenwart das Verhältnis von literarischer Kommunikation und Gesellschaft bestimmen, (a) Aus bisherigen Bindungen freigesetzte Individuen verfugen über freie Zeit und Zugangsrechte zu kulturellen Gütern, (b) Gesellschaftliche Subsysteme haben sich ausdifferenziert, entwickeln sich koevolutiv nach eigenen Regeln und stehen mit anderen Bereichen in intensiven Wechselbeziehungen. (c) Innerhalb des Kunstsystems emanzipiert sich Literatur von vorgegebenen Mustern und Regeln (wie etwa der Rhetorik und Poetik) und tritt als eigenständige Instanz zur Reflexion von Differenzierungsproblemen auf, indem sie Problemlagen und Konflikte symbolisch generalisiert und entsprechend eigener formativer Potentiale bearbeitet. - Diese Voraussetzungen strukturieren das Verhältnis zwischen Literatur und Wissen in einer Weise, die später noch genauer zu entfalten ist, hier aber knapp umrissen werden soll. (1) Literatur funktioniert als mehr oder weniger selbständiger und von anderen gesellschaftlichen Reflexionsorganen wie Wissenschaft, Religion, Philosophie abgegrenzter Bereich mit eigener Logik - dabei jedoch in vielfaltigen und komplexen Austauschbeziehungen mit diesen Bereichen und den Sphären der Lebenswelt. Die relative Autonomie der literarischen Kommunikation lässt sich mit einem aus der Systemtheorie stammenden Begriff auch als „operative Geschlossenheit" bezeichnen - was nichts anderes als die Eigenschaft von autopoetischen Systemen meint, mit eigenen Elementen umgehen und operieren zu können (und nicht mit solchen ihrer Umwelt). Der kryptisch klingende Satz formuliert einen relativ simplen Sachverhalt: Wer sich als Anwalt oder Richter im Rechtssystem bewegt, akzeptiert fraglos die Regeln der juristischen Kommunikation - er wird nicht über „Schönes" oder „Hässliches" urteilen (wie etwa in der Kommunikation über Kunst), sondern allein über „strafbare" oder „erlaubte" Tatbestände und sich argumentativ auf Gesetze, vorangegangene Urteile und Präzedenzfalle beziehen. Ebenso im Literatursystem: Poetische Texte folgen der Leitdifferenz „interessant"/ „uninteressant" bzw. „regelkonform"/ „abweichend" und arbeiten dabei mit Formen, die aus der Sprache bzw. der bisherigen literarischen Entwicklung stammen und nicht aus dem Rechtssystem. Natürlich können literarische Werke Inhalte und vor allem Probleme aus der Sphäre der Rechtsprechung übernehmen - die Kette der Beispiele reicht von Kleists Novelle MICHAEL KOHLHAAS bis zu Justizromanen von John Grisham - doch eben nicht in der Form von Paragraphen und Urteilsbegründungen. (2) Die komplexen Reaktionen des seinen eigenen Regeln folgenden Literatursystems auf Vorgänge in den Wissensordnungen und -bereichen „außerhalb" seiner Formen beruhen nicht auf Abbildung oder Widerspiegelung, son-
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1. Grundlagen
dem auf Verarbeitungsprozessen, für die der Begriff der „strukturellen Kopplung" verwenden werden soll. Dieser von den Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela stammende Terminus, den Niklas Luhmann auf die Beschreibung sozialer Systeme anwendete, bezeichnet den Umstand, dass Literatur auf Vorgänge in ihrer Umwelt - die als „Irritationen" erfahren werden nach Maßgabe des eigenen Wandlungspotentials antwortet. Auf politische Umwälzungen oder wissenschaftliche Revolutionen reagiert Literatur nicht mit Parteigründungen oder Laboreinrichtungen, sondern literarisch und das heißt: mit poetischen Formen und Inhalten. So verarbeitet der Autor Friedrich Schiller seine Reflexionen der epochalen Umbrüche zwischen 1789 und 1793 nicht im Modus politischer Stellungnahmen, sondern mit den 1793/94 entstandenen Briefen ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN und dem im Musenalmanach des Jahres 1800 veröffentlichten LIED VON DER GLOCKE, die ihrerseits je eigene Wissensansprüche entfalten. Schriftsteller können politisches Wissen zugleich explizit äußern, so wie es Christoph Martin Wieland mit seinen seit 1789 im TEUTSCHEN MERKUR veröffentlichten Aufsätzen über die Französische Revolution tut - was durchaus legitim, aber eben keine genuin poetische Antwort ist. Wenn dagegen Friedrich Schiller zur poetischen Verarbeitung von Umwälzungen in der gesellschaftlichen Umwelt im LIED VON DER GLOCKE auf die eingeführte Form des Gedichts mit sinntragenden Reimen und wechselnden Versmaßen zurückgreift, bei dem jambische und trochäische Fügungen zur näheren Charakteristik von Sprechern und Aussagen dienen und der Bildkomplex des Glockengießens entfaltet wird, um den schwierigen Prozess gesellschaftlicher Integration zu repräsentieren, dann dokumentiert dieses Verfahren das spezifische Wandlungspotential von Literatur. Zur Erzeugung von Aussagen werden tradierte Elemente aufgenommen und rekombiniert - und bringen Formen hervor, die ihrerseits wieder aufgenommen und rekombiniert werden können. Die Verfahren der Aufnahme und Rekombination von Elementen, die aus der vorgängigen Entwicklung stammen oder aus Umweltbereichen auf noch zu klärende Weise „importiert" werden, bilden jene Strukturen aus, die wir als literarische Kommunikation wahrnehmen und beschreiben. (3) Literatur verarbeitet jedoch nicht nur die aus der Gesellschaft und ihren Wissenskulturen kommenden Irritationen, indem sie innerhalb der von vitalen Entscheidungen entlasteten Sphäre des Spiels ungelöste Probleme thematisiert sowie hypothetische Problemlösungen entwickelt und damit als Reflexionsraum funktioniert. Sie erbringt zugleich auch Leistungen für kontemporäre Subsysteme der Gesellschaft. Im Wirtschaftssystem sind literarische Werke als verkaufsträchtige Waren relevant. Das Erziehungssystem nutzt literarische Texte für die Ausbildung von interpretativen Fertigkeiten sowie zur Vermittlung von Normen und Maximen für systemkonformes Verhalten. Politik instrumentalisiert Werke für Agitation und Propaganda von Werten und Über-
1.4 Verhältnisvarianten u n d Fragestellungen
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Zeugungen. Wissenschaftliche Forschung verwendet literarische Überlieferungen als Quelle. Liebespaare nutzen literarische Modelle intimer Kommunikation zur Darstellung von Gefühlen und Empfindungen. Diese von literarischen Texten erbrachten Leistungen strukturieren die Wahrnehmung dessen, was wir im Singular als „die Literatur" bezeichnen - und was sich bei näherer Betrachtung in eine Vielzahl von Referentialisierangen auflöst. (4) Literatur erbringt fur andere gesellschaftliche Subsysteme und Wissenskulturen aber nicht nur bestimmte Leistungen. Sie steht zu diesen - gleichfalls im Zuge funktionaler Differenzierung entstandenen - Bereichen immer auch in Verhältnissen der Abgrenzung und Konkurrenz. Denn alle diese Subsysteme reagieren wie Literatur auf die Prozesse sozialer Differenzierung und die neue, prekäre Lage des freigesetzten Individuums, in dem sie innovative Identitäts- und Sinnquellen versprechen. Politik unterbreitet das Integrationsangebot der „Nation", später das der „klassenlosen Gesellschaft" oder der „Solidargemeinschaft". Das Erziehungssystem verpflichtet sich zur Vermittlung allseitiger „Bildung", die zugleich alltagstauglich sein soll. Das Rechtssystem mit den Konstruktionen des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung vermittelt Hoffnungen auf die juristische Beilegung von Konflikten. Wissenschaft übernimmt Funktionen der segmentierenden Welterklärung und erzeugt je disparate Welt- und Menschenbilder. - Für die Literatur stellen alle diese Leistungsangebote anderer Subsysteme eine kaum zu vernachlässigende Bezugsgröße dar: Sie treten als je spezifische Irritationsquellen der literarischen Kommunikation in Erscheinung und werden von der Reflexionsinstanz Literatur kritisch beobachtet und dargestellt. Das heißt nicht, dass literarische Texte umstandslos die von der Politik unterbreiteten Integrationsversprechen hinterfragen oder wissenschaftliche Weltbilder illustrieren. Wie erwähnt, verarbeitet Literatur die Vorgänge in ihrer Umwelt stets in ihrer spezifischen Sprache, also in und mit poetischen Formen und Gehalten. Als etwa der junge Jurist Johann Wolfgang Goethe die Auswirkungen des modernen Rechtssystems (mit staatlicher Monopolisierung von Gewalt und kodifizierter Regelung von Streitfällen) darstellen will, nutzt er die literarische Gattung des Dramas mit personalen Figurationen und Konfliktstrukturen und verfasst im Herbst 1771 die GESCHICHTE GOTTFRIEDENS VON BERLICHINGEN MIT DER EISERNEN
HAND
aus der nach Umarbeiten das 1773 im Druck erschienene Schauspiel GÖTZ VON BERLICHINGEN hervorgeht. DRAMATISIRT,
1.4 Verhältnisvarianten und Fragestellungen Die hier dargestellten Parameter erheben nicht den Anspruch, die vielfältigen Beziehungen zwischen literarischer Kommunikation und Wissensformationen entfaltet und geklärt zu haben - diese Aufgabe wird in den folgenden Abschnitten des vorliegenden Studienbuches zu leisten sein. Ausgeklammert
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1. Grundlagen
blieben etwa die bereits in der Antike geführten Diskussionen über „Wahrheit" und „Lüge" der Dichtung, die im nachfolgenden Kapitel dokumentiert werden sollen. Zu klären sind im Weiteren auch Verlaufsformen und Zusammenhänge des literarischen und wissenskulturellen Strukturwandels sowie die Wechselwirkungen zwischen literarischer und wissenschaftlichen Kommunikation, die stets in Einheit von Zeichen- und Sozialsystemen auftreten und entsprechende Perspektivierungen erforderlich machen. Gleichwohl eröffnen die bislang zusammengetragenen Parameter erste Möglichkeiten zur Formulierung von Fragestellungen, die sich auf konkrete Ausgestaltungen der Relationen zwischen literarischen Texten (sowie ihren Autoren) und Wissen beziehen und deren Beschreibung und Erklärung leiten können. Auch hier erweist sich eine Segmentierung der Ebenen als hilfreich, die zu heuristischen Zwecken zusammengehörende Beziehungen und Phänomene trennt. Grob gerastert, lassen sich vier historisch konkrete Varianten des Verhältnisses von Literatur und Wissen isolieren: (1) Thematische Gestaltung, motivische Formierung, ästhetische Modellierung spezifizierter Wissensbestände in literarischen Texten
(2) Wissenskulturell induzierte Entwicklungen literarischer Genres und Textverfahren (die auf Wissensproduktion und Präsentation zurückwirken können)
(3) Auf- bzw. Übernahme poetischer Formen und Formelemente in Wissenschaften und anderen Wissenskulturen
(4) Aufnahme und Gestaltung übergreifender Ideen und diskursiv entwickelter Problemlagen durch die Literatur und andere Wissenskulturen
Diese Einteilung unterscheidet zwischen unmittelbaren und vermittelten Verhältnissen. Während der erste und der dritte Komplex konkrete Einfluss- und Austauschbeziehungen, Rezeptionsformen und Übernahmen von Inhalten bzw. Formen erfassen und dabei sowohl von einseitigen Einflussnahmen wie von Wechselwirkungen ausgehen (können), basieren die im zweiten und vierten Komplex thematisierten koevolutiven Entwicklungen von diskursiven und literarischen Formationen auf der Annahme eines gemeinsamen Feldes kulturellen Wissens, innerhalb dessen sich spezialisierte Wissenskulturen und literarische Kommunikation entfalten und wechselseitig wahrnehmen.12 12
Eine Unterscheidung in „internalistische" und „extemalistische" Ansätze trifft George S. Rousseau: Literature and Medicine: The State of the Field. In: Isis 72 (1981), S. 406424. Doch trotz des bedenkenswerten Hinweises auf die wechselseitige Relationierung beider Diskurse vermengt er disparate Problemstellungen wie die literatursoziologisch einschlägige Frage nach „Ärzten als Schriftstellern" und die produktionsästhetische Frage nach dem „medical interest" von Autoren wie „Molière, Defoe, George Eliot, Melville, Mann, Solzhenitsyn" (S. 422). Kritik an diesem „Potpourri", das die Möglichkeiten einer analytischen Klärung von Prinzipien und historischen Voraussetzungen der Wechselbeziehung verschüttet, artikuliert die Habilitationsschrift von Marc Föcking:
1.4 Verhältnisvarianten und Fragestellungen
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Der erste Komplex betrifft die mehrfach dimensionierten Aspekte der Aufnahme und Gestaltung von (spezifischen) Wissensbeständen in Literatur und hat unter anderem folgende Fragen zu beantworten: Wie partizipieren Autoren und literarische Werke an der Entwicklung und Zirkulation von Wissensbeständen, insbesondere an den in spezialisierten Wissenskulturen und den Wissenschaften erzeugten Erkenntnissen und Methoden? Verhalten sich Autoren literarischer Texte in Bezug auf Wissen und Wissensansprüchen anders als etwa Forscher oder interessierte Laien - vor allem, wenn sie (wie etwa im Falle der schreibenden Ärzte Arthur Schnitzler und Gottfried Benn oder des Mathematikers Felix Hausdorff) sehr genaue Kenntnisse von wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Produktion haben? In und mit welchen Themen, Motiven oder Textfiguren gestalten, implizieren oder problematisieren literarische Texte spezifische Wissensansprüche, theoretische Überlegungen oder wissenschaftliche Methoden? Fungieren identifizierbare Ideen oder Theorien, wissenschaftliche Modelle oder Erkenntnismethoden als Bezugsebene literarischer Texte, als Bildspender von Metaphern oder als Grundlage einer explizit ausgesprochenen bzw. implizit vermittelten Poetik?
Das so eröffnete Untersuchungsfeld ist weit. Es umfasst die verschiedenen Weisen der inhaltlich-thematischen, figuren- und konstellationsspezifischen Gestaltung von Wissensansprüchen, die von historisch konkretem Alltags- und Lebensweltwissen bis zu wissenschaftlichen Erklärungen und philosophischen Theoriebildungen reichen können. Erkenntnisse aus gelehrten bzw. fachwissenschaftlichen Zusammenhängen erscheinen in literarischen Texten etwa als beherrschendes Thema - beispielsweise in den erwähnten Lehrgedichten der Antike, in Romanen von Jules Verne oder in US-amerikanischen Medical Thrillers. Wissensansprüche der Naturwissenschaften spenden textstrukturierende Leitmetaphern (wie in Goethes Roman DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN oder in Robert Musils Fragment gebliebenem Großwerk DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN); technische Innovationen als Resultat einer angewandten Wissensproduktion durch Experten übernehmen handlungsauslösende und vorantreibende Funktionen in der Science Fiction. Das hypothetische Wissen der Philosophie ist als Thema oder Motiv in zahlreichen literarischen Texten präsent (wenn auch, wie noch zu zeigen, unter Umständen nur schwer herauszupräparieren); ein durch Archive und Geschichtsschreibung verfugbares historisches Wissen kann in Romanen ebenso präsent sein wie in Dramen und Gedichten. Zum Bereich der literarischen Referenz auf Erkenntnisse und Einsichten spezialisierter Wissenskulturen gehören schließlich wertende Bezugnahmen: Literarische Werke beschreiben das durch Wissenschaft und Experimentaltechnik depravierte Individuum (von Georg Büchners Dramenfragment WOYZECK b i s z u T h o m a s P y n c h o n s R o m a n GRAVITY'S RAINBOW) o d e r stellen
Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen 2002 (= Romanica Monacensia 63), S. 20.
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1. Grundlagen
einen poetischen Raum bereit, in dem sich das - nicht zuletzt unter dem Einfluss wissenschaftlicher Separationen - gespaltene Individuum retotalisiert (so wie in Friedrich Hardenbergs Romanexperimenten D I E LEHRLINGE ZU SAIS und HEINRICH VON OFTERDINGEN, die zugleich formspezifische Kopplungen dokumentieren). Literarische Texten können in Figurenkonstellationen und Konfliktanlagen die ethische Verantwortung von Wissenschaftlern für die Konsequenzen ihres Tuns thematisieren; der Bogen spannt sich von den bitteren Selbstanklagen des Heinrich Faust in Goethes Tragödie über Bertolt Brechts LEBEN DES GALILEI bis zu Michael Frayns Drama KOPENHAGEN. Der zweite Komplex umfasst formen- bzw. medienspezifische Kopplungen zwischen literarischer Kommunikation und Wissenskulturen: Wie und warum entwickeln sich literarische Schreibweisen und Textverfahren im Wechselspiel mit Prozessen der Differenzierung und Integration in Wissens- und Wissenschaftskulturen? Wie konditionieren verschiedenartige Weisen der Beobachtung, Aufnahme und Gestaltung von Wissensbeständen die Formensprache von literarischen Texten? Wann und unter welchen Bedingungen entstehen literarische Formate, um spezialisierte Wissensbestände zu vermitteln, etwa in Form des Lehrgedichts, der Gedankenlyrik oder des populärwissenschaftlichen Sachbuchs?
Auch die in diesem Bereich zu klärenden Erscheinungen sind vielfaltig. Zu ihnen zählen die spannungsreichen Prozesse der Ausdifferenzierung einer genuin literarischen Kommunikation im wechselseitigen Zusammenhang mit Veränderungen in Wissens- und Wissenschaftskulturen, wie sie sich seit der Trennung von Mythos und Logos in der Antike beobachten lassen - und zugleich auch Bemühungen um „Synthesen" von wissenschaftlichen Erkenntnissen und literarischen Formen, wie sie von der didaktischen Literatur und dem Lehrgedicht der Antike bis zum science writing der Gegenwart präsent sind. Neben dem Wechselspiel zwischen Vorgaben der Rhetorik und einer davon angeleiten Textproduktion (etwa durch den frühneuzeitlichen poeta doctus) gehören dazu aber auch die historisch unterschiedlich ausgestalteten Varianten einer poetologischen Normierung der literarischen Produktion, wie es etwa Johann Christoph Gottsched in der Vorrede zur dritten Auflage seines VERSUCHS EINER CRITISCHEN DICHTKUNST VOR DIE DEUTSCHEN
1742
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monstriert, in dem er Anleitungen gibt, mit denen auch „Anfänger in den Stand gesetzt" werden, die Dichtkunst „auf untadelige Art zu verfertigen". 13 - Eine besondere Ausprägung findet die formenspezifische Kopplung von Literatur 13
Vgl. das „Rezept" zur Herstellung eines Gedichts bzw. einer Fabel in Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur, Stuttgart 1989, S. 96: „Zuallererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Leitsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt."
1.4 Verhältnisvarianten und Fragestellungen
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und Wissen schließlich in der Adaptation wissenschaftlicher Beobachtungsanordnungen und Experimentaltechniken durch immanente Strukturen poetischer Texte: Davon zeugen etwa die von Karl Philipp Moritz' praktizierte „Erfahrungsseelenkunde" im „psychologischen Roman" A N T O N REISER, die „physiologische" Schreibweise Georg Büchners oder auch Gestaltungen der „konkreten Poesie", die Erkenntnisse der Semiotik und der Informationsästhetik aufnehmen und die Möglichkeiten poetischen Sprechens bzw. Schreibens durch Auflösung und innovative Rekombination einzelner Sprachelemente experimentell demonstrieren. Der dritte Fragenkomplex wendet die Blickrichtung und thematisiert die Aufbzw. Übernahme rhetorischer Figuren, literarischer Formen bzw. poetischer Formelemente in Wissenskulturen und Wissenschaften: Wie und warum nutzen spezialisierte Wissenskulturen wie etwa Natur-, Kulturund Sozialwissenschaften rhetorische Figuren, literarische Formen bzw. poetische Formelemente? Welche Konditionen und Konsequenzen haben diese Transferprozesse - sowohl fur die aufnehmenden Wissenskulturen als auch für die Literatur?
Zum Untersuchungsgegenstand dieses Bereichs gehören nicht allein die Darstellungsformen in den Naturwissenschaften, die aufgrund ihrer besonderen Gestaltung in philologisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive gelesen werden können, wie es inzwischen nicht wenige Untersuchungen zeigen. Auch die Texte der Kultur- und Sozialwissenschaften sowie die Darstellungen von Begründungsdisziplinen wie Philosophie und Wissenschaftstheorie lassen sich in ihren ästhetisch-artifiziellen Qualitäten analysieren. Denn nicht erst seit Piatons Höhlengleichnis greifen die Äußerungen einer der Vernunft verpflichteten Wissensform auf Bilder und Vergleiche und damit also auf rhetorischpoetische Verfahren zur sprachlichen Präsentation von Ideen und Gedankengängen zurück. Auch die Chaostheorie bedient sich zur populären Vermittlung ihrer Einsichten des Metaphernkomplexes vom Schmetterling, dessen Flügelschlag einen Wirbelsturm auslösen kann; die logische Struktur einer axiomatischen Theorie wird klarer, wenn man sie mit einem Bauwerk vergleicht, das Fundamente besitzt, über denen andere Stockwerke errichtet wurde. Zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen zehren von der produktiven Kraft kreativer Metaphern: Neben der Physik mit ihren (gut definierten, im Kern dennoch metaphorischen) Ausdrücken Welle, Feld, Kraft und den Wirtschaftswissenschaften (Gewinn, Aufschwung, Markt) fallen besonders die Technikwissenschaften (Generator, Sicherung, Rauschen), Mathematik (Kette, Gruppe, Baum), Chemie (Verbindung, Reaktion, Lösung), Biologie (Zelle, Gleichgewicht, Fitness), Psychologie (Trieb, Projektion, Über-Ich) oder Soziologie (Schicht, Masse, Diffusion) auf. Dass die Philosophie aufgrund der Abstraktheit ihrer Konzepte besonders zahlreiche Bilder und Vergleich verwendet, verwundert nicht. Doch
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1. Grundlagen
mehr noch: Bild- und Metaphernkomplexe übernehmen hier nicht allein illustrative oder bekräftigende Funktionen, sondern tragen in kaum zu ersetzender Weise einen Gedanken, der anders wohl nicht so zu formulieren wäre. Heraklits Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann, Piatons Höhlengleichnis, Occams Rasiermesser, Adam Smith' „invisible hand", Kants gestirnter Himmel, Hegels „List der Vernunft", Poppers Scheinwerfer, Wittgensteins Leiter im TRACTATUS oder seine Fliegenglasanalogie in den PHILOSOPHISCHEN U N TERSUCHUNGEN sind nur einige wenige Beispiele von vielen weiteren. Der vierte und letzte Komplex umfasst verschiedene Varianten, in und mit denen Literatur als eine besondere Schreibweise von Wissen an übergreifenden Ideen und Problemlagen laboriert: Welche Ideen und Problemstellungen werden durch literarische Texte generiert bzw. kommuniziert - und mit welchen je spezifischen Mitteln vollzieht sich die Artikulation, Distribution und Rezeption dieser poetisch generalisierten Wissensbestände? Gibt einen diskursiven Raum, den Wissenskulturen wie die spezialisierten Expertenkulturen der Wissenschaften und die sich ebenfalls ausdifferenzierende literarische Kommunikation teilen - und wie lässt sich ein solcher gemeinsamer Grund modellieren? Welche Differenzqualitäten entwickeln literarische Texte, um sich von Deutungsund Sinnangeboten aus anderen Wissenskulturen und gesellschaftlichen Bereichen zu unterscheiden?
Die in diesen Zusammenhang gehörenden Phänomene sind so zahlreich, dass ihre Aufzählung notgedrungen fragmentarisch bleiben muss. Die Partizipation von literarischen Werken an gesellschaftlichen Problemlagen und diskursiv vermittelten Ideen ihrer Entstehungszeit setzt in der Antike ein: Die Tragödien des Sophokles sind ohne Bezugnahmen auf diskursive Auseinandersetzungen über Möglichkeiten und Grenzen eigenverantwortlichen Handelns nicht zu denken; die drastischen und satirisch scharfen Komödien des Aristophanes thematisierten stets zeitgenössische Personen und Ereignisse (was die Rezipienten wussten und dem Autor 426 v. Chr. eine Klage wegen Verleumdung der Polis eintrug, die jedoch ohne Folgen blieb). Die neuzeitlich-moderne Literatur, die sich im deutschen Sprachraum seit etwa 1750 formiert, wird geradezu ein Sammelbecken der von unterschiedlichen Wissenskulturen ventilierten Ideen und Problemlagen. Gotthold Ephraim Lessings Drama N A T H A N DER W E I S E demonstriert, wie Konflikte zwischen Glaubenssysteme entstehen und eskalieren (und formuliert in Form einer Parabel so weitreichende und überzeugende Einsichten in die Religionsgeschichte; dass der anfänglich misstrauische Saladin schließlich auf den toleranten Nathan zustürzt, seine Hand ergreift und mit der Akzeptanz der eigenen eingeschränkten Perspektive um seine Freundschaft bittet). Goethes schon erwähnter Briefroman D I E LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS schildert nicht nur die Liebe als Passion, sondern re-
1.4 Verhältnisvarianten und Fragestellungen
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flektiert zugleich ein neuartiges Subjektverständnis, das sich aus dem Wissensund Wortschatz der Hermetik und des Pietismus ebenso speist wie aus den empfindsam demonstrierten Kenntnissen über die Zusammenhänge von Körperströmen und Schriftverkehr. Und Friedrich Schillers erstmals als Fortsetzungsroman veröffentlichter Text D E R GEISTERSEHER entwickelt im Szenario einer katholischen Verschwörung gegen einen protestantischen Prinzen eine Reihe von philosophischen Problemen, unter denen die (in einem langen Gespräch auch argumentativ entwickelten) Fragen nach der Selbst- und Fremdbestimmung menschlichen Handelns zeitgenössischen Debatten und Positionen korrespondieren. - Lessings Drama und die Prosatexte Goethes und Schillers zeigen exemplarisch den ideengeschichtlichen Grund literarischer Texte, die so als eine spezifische Schreibweise von Wissen verstanden werden können: Sie nehmen in unterschiedlichen diskursiven Formationen zirkulierende Wissensbestände und Ideen auf, formieren diese in ästhetischer Weise und unterbreiten poetische Deutungsangebote, die wiederum auf die zeitgenössische wie auf eine spätere Ideen- und Wissensproduktion zurückwirken. Dennoch sind sie keinesfalls literarische „Übersetzungen" philosophisch-weltanschaulicher oder religiöser Stellungnahmen. Im Unterschied zu den Allgemeingültigkeit beanspruchenden und argumentativ vorgehenden Diskursen der Philosophie und der Wissenschaften entwickeln sie individuelle Perspektiven und ästhetisch wirksamen Formen - und damit Differenzqualitäten zu Deutungsangeboten aus anderen Wissenskulturen, die gleichfalls näher zu bestimmen sind. Eine Beantwortung dieser Fragen nach den Verhältnisvarianten von Literatur und Wissen geht über historische Aufklärung hinaus. Sie tangiert unmittelbar auch aktuelle Textumgangsformen wie die Interpretation literarischer Texte, die sich angesichts des in literarische Texte eingetragenen Wissens als Aufgabe mit mehrfachen Dimensionen erweist. Denn jede Deutung bzw. Auslegung bezieht sich auf eine Gegenwartssituation und deren Problemhorizont, in deren Rahmen ein Text aufgenommen wird; sie bezieht sich zudem auf Wissens- und Problemkonstellationen, denen ein Text seine Entstehung verdankt. Zu beschreiben und zu deuten ist weniger das Werk in seinen gegenwärtigen Wirkungen, sondern vielmehr in seinen historischen Dimensionen, zu denen explizite und implizite Wissensbestände seiner Entstehungszeit ebenso gehören wie die Transformationen dieser Bedeutungspotentiale im Prozess seiner Vermittlung und Aneignung. Was sich wie eine Trivialität anhört, stellt ein Geschäft voller Herausforderungen dar - können doch die Schichten und Ablagerungen der Rezeptionsgeschichte die wissenshistorischen Referenzen literarischer Texte so verdecken, dass diese erst in schwierigen und langwierigen Rekonstruktionen freizulegen sind.
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1. Grundlagen
Die Prozesse des Identifizierens, Deutens und Verstehens bilden den Schwerpunkt des zweiten Komplexes von Verhältnisvarianten. Hier geht es darum, wie sich die Umgangsformen mit Wissen in literarischen Texten auf die Interpretation auswirkt. Untersuchungsleitende Fragen können sein: Wie lassen sich inhaltliche oder strukturelle Korrespondenzen zwischen Wissenselementen und literarischen Text erkennen, beschreiben und interpretieren? Liefern Ideen, diskursiv verhandelte Probleme oder Wissensansprüche, auf die ein Text Bezug nimmt, einen Schlüssel für die Interpretation des gesamten Werkes? Wird der Leser, der Wissensansprüche in Texten (wieder)erkennt und akzeptiert, selbst zu einem Träger von Wissen und damit zu einem Bestandteil des (ästhetisch formierten) Wissenssystems? Anders formuliert: Implizieren nicht nur Darstellungsformen der Wissenschaft, sondern auch literarische Texte einen Nachvollzug epistemischer Geltungsansprüche? Wie konditionieren Varianten der Auf- und Übernahme von (wissenschaftlichen) Erkenntnissen durch Literatur zeitgenössische und spätere Vorstellungen von Wissen bzw. Wissenschaften sowie das Verständnis von Literatur? Modelle und Schrittfolgen zur Klärung der hier entworfenen Fragen werden im dritten Teil des vorliegenden Buches vorgestellt. Zuvor aber sind die Zugänge und Perspektiven zum Problemkomplex zu umreißen.
2. Zugänge
Papyrus-Manuskript von Piatons Dialogs Phaedon Aristoteles, 3. Jh. v. Chr. 384 v.Chr.-322 v. Chr.
Origines, 185-254
Erasmus von Rotterdam, 1466-1536
Die im vorangegangenen Kapitel skizzierten Verhältnisvarianten von „Literatur" und „Wissen" bilden - auch wenn es verschiedene weitere Aspiranten für deren Bearbeitung gibt - den Gegenstandsbereich vor allem einer Reflexionskultur, die beide Begriffe in ihrem Namen vereint. Zwar erscheint im deutschen Sprachraum der Terminus Literaturwissenschaft erst in einem 1828 veröffentlichten Verlagsverzeichnis (und benötigt noch einige Jahrzehnte bis er sich zur Markierung einer spezifischen Beschäftigung mit literarischen Texten durchsetzt); doch die damit umschriebenen Beobachtungsverfahren und Kategorien - und auch die Beschäftigung mit dem Wissen der Literatur - sind wesentlich älter.1 Professionalisierte Umgangsweisen mit literarischen Werken zur Erzeugung eines gesicherten Wissens über ihre Entstehung, Beschaffenheit
1
Den Terminus „Literaturwissenschaft" gibt es (abgesehen von einer isolierten Verwendung im Jahr 1764) seit 1828, als die Kategorie „Literaturwissenschaft" im VERZEICHNIS DER BÜCHER [...] ZU FINDEN IN DER J . C . HLNRICHSSCHEN BUCHHANDLUNG IN
LEIPZIG erscheint. Doch erst seit den 1880er Jahren wird der Begriff zum programmatischen Label fur eine Verwissenschaftlichung der universitären Fächer, die sich auf je eigene Weise mit literarischen Texten beschäftigen: 1884 erscheinen AKADEMISCHE BLÄTTER m i t d e m U n t e r t i t e l BEITRÄGE ZUR LITTERATUR-WISSENSCHAFT, in d e n e n
u.a. die Goethe-Forscher Heinrich Diintzer und Jakob Minor sowie der Klopstock- und Wieland-Editor Franz Muncker publizieren. Der später als Ethnograph wirkende Ernst Grosse projektiert in seiner Hallenser Dissertation DIE LITERATUR-WISSENSCHAFT. IHR ZIEL UND IHR WEG 1887 eine theoretisch begründete Literaturgeschichte; Reinhold Merbot dokumentiert 1889 FORSCHUNGSWEISEN DER LITERATUR-WISSENSCHAFT INSBESONDERE DARGELEGT AN DEN GRUNDLAGEN DER LIEDERTHEORIE. U n i v e r s i t ä r e E i -
genständigkeit gewinnt der Begriff noch später. Im Jahr 1913 wird das „Königlich Preußische Seminar für Literatur- und Theaterwissenschaft" an der Kieler Universität ins Leben gerufen; sein Begründer ist der hier seit 1904 als außerordentlicher Professor fur Neuere deutsche Sprache und Literatur wirkende Eugen Wolff (1863-1929), der sich in Berlin an der Bewegung des Naturalismus beteiligt und 1890 die programmatischen S c h r i f t e n DAS WESEN WISSENSCHAFTLICHER LITERATURBETRACHTUNG u n d PROLEGOMENA DER LITTERAR-EVOLUTIONISTISCHEN POETIK v e r ö f f e n t l i c h t h a t t e .
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2. Zugänge
und Wirkung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen: Schon in den Bibliotheken von Alexandria, Athen und Pergamon sammelt und verzeichnet man Texte, ermittelt ihre Überlieferungsgeschichte und untersucht sie in regelgeleiteter Weise. Hier entsteht der Begriff φιλολογία [Philologie], der die Liebe zum Wort zu einer eigenen Wissensform erhebt. Als systematische und zeitinvestive Erforschung von Texten schon in Piatons Dialog LACHES (188C, e) erwähnt, prägt die Philologie nicht nur editorische Techniken wie Transkription, Kollation, Recension und Emendation aus, sondern entwickelt auch jene Beobachtungsverfahren, die sich den besonderen Qualitäten literarischer Werke - und damit auch den in sie eingeschriebenen Erkenntnissen und Wissensansprüchen - mit gesteigerter Aufmerksamkeit und Reflexion widmen. Befördert wird dieser Prozess durch die Erfahrung historischer Differenz und kulturellen Wandels; Verständniskrisen im Umgang mit den Epen Homers erzwingen bereits im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit theoretische Überlegungen zum Deuten und Auslegen der schriftsprachlichen Überlieferung. Die öffentliche Präsenz erfolgreicher Rhapsoden sowie eine sich wandelnde Theaterproduktion einerseits und die Sophistik als poetisch-rhetorische Lebensform andererseits führen dann zu kritischen wie affirmativen Stellungnahmen seitens der Philosophie: Reflexionen über Prinzipien und Normen des Dichtens (bei gleichzeitiger Disqualifikation des nur scheinbaren Wissens täuschender Dichter) finden sich in den Dialogen Piatons; die um 335 v. Chr. entstandene Abhandlung PERI POIETIKES seines Schülers Aristoteles erhebt die Poesie dagegen zur „Mitteilung des Allgemeinen" und klassifiziert das Wissen über die als „Nachahmung von Handlungen" verstandene Dichtkunst. Die weitere Kultivierung der öffentlichen Rede und anhaltende Herausforderungen durch die Sophisten treiben systematische Überlegungen zu Texteffekten und den Techniken ihrer Erzeugung voran. Mit Poetik, Rhetorik und Hermeneutik entstehen bereits in der Antike spezifische Beobachtungspositionen, die sich - befördert durch Zunahme und Differenzierung der kulturellen Reflexion seit der Frühen Neuzeit - im 17. und 18. Jahrhundert zu Programmen einer intensivierten Aufmerksamkeit im Umgang mit literarischen Texten verdichten. Diese methodisch angeleiteten Textumgangsformen gehen auf unterschiedliche Traditionen zurück; zugleich nehmen sie verschiedene Aspekte der schriftsprachlichen Überlieferung in den Blick. Im Anschluss an bereits im antiken Griechenland unternommene Bemühungen um die Sammlung und Untersuchung von Texten etabliert sich vor allem seit dem europäischen Humanismus eine universell konzipierte Philologie, die neben dem Verständnis als enzyklopädische Gelehrsamkeit unterschiedliche und kontrovers diskutierte Ausprägungen erfahrt. Die philologia antica behandelt Quellen und Zeugnisse der griechisch-römischen Vergangenheit; die philologia sacra untersucht Verfassung und Bedeutungsgehalt der Heiligen Schrift; die philologia profana erforscht Sprache und sprachlich vermittelte Kulturleistungen des Menschen
2. Zugänge
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überhaupt. Philologische Einsichten und poetologische Überlegungen aufnehmend, formieren sich seit dem 17. Jahrhundert zugleich Varianten von (Literatar-)Kritik, die eine Bildungsinstitution der Grammatik in eine Praxis überführen, die sich immer mehr der aktuellen Textproduktion zuwendet und in Form periodisch erscheinender Journale institutionellen Charakter gewinnt. Bestand die kritische Behandlung von Texten in der spätgriechischen Philologie und im Schulbetrieb des Mittelalters wie der Frühen Neuzeit darin, ein linguistischsystematisches Regelwissen und ein historisch-materiales Sachwissen auf die Kommentierung von (kanonischen) Sprachdenkmälern anzuwenden, erlangt sie mit wachsender literarischen Produktivität und der Zirkulation regelmäßig publizierter Zeitschriften eine prinzipiell neue Bedeutung: Literaturkritik umfasst nun kommentierende, urteilende, klassifizierend-orientierende, aber auch werbende oder denunzierende Äußerungen über Texte und entwickelt dazu spezifische Textsorten wie Charakteristik, Essay oder Rezension (die bis ins 19. Jahrhundert mit der editionsphilologischen Recensio verbunden bleibt). Mit der Ausbildung der modernen Forschungsuniversität seit Beginn des 19. Jahrhunderts gewinnen die im 17. und 18. Jahrhundert intensivierten literaturkritischen und philologischen Textumgangsformen eine neue Qualität. Die durch Wilhelm von Humboldt eingeleitete Neuorganisation der universitären Wissenskultur fuhrt dazu, dass sich nun auch in Deutschland längerfristig verfolgte Bemühungen um die editorische Sicherung der eigenen sprachlichen Überlieferung und ihre kritische Behandlung institutionell etablieren. Auch wenn die an der Klassischen Philologie und an der Geschichtsschreibung orientierten Thematisierungsweisen noch nicht den Begriff „Literaturwissenschaft" tragen und in ihren Lehrstuhlbezeichnungen („deutsche Sprache und Literatur" u.ä.) einen weitgefassten Gegenstandsbereich signalisieren, können sie als Beginn einer wissenschaftlichen Bearbeitung von Literatur im Rahmen mehr oder weniger autonomer Strukturen aufgefasst werden. Sie unterscheiden sich von anderen Beobachtungen literarischer Texte, indem ihre argumentativ begründeten Äußerungen nun Wissensanprüche erzeugen, die (a) regelgeleitete Verfahren und strukturierte Lösungsangebote für rekursiv bearbeitete Problemstellungen anbieten, (b) den Geltungsanspruch erheben, „wahr" bzw. intersubjektiv nachvollziehbar zu sein und (c) an eine durch Interessen und Zugangsvoraussetzungen homogenisierte gelehrte bzw. wissenschaftliche Gemeinschaft - die später sog. scientific community - adressiert sind. Als Bestandteil der sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden modernen Wissenskultur erfüllt ein solcher akademisch bzw. universitär professionalisierter Umgang mit Literatur die (von anderen kulturellen Bereichen nicht ersetzbare) Funktion der Produktion, Distribution und Diskussion eines Wissens, das sich durch Investition von Zeit und Aufmerksamkeit zur wiederholten Bearbeitung spezialisierter Problemstellungen von anderen Wissensformen unterscheidet. Durch fortwährend hergestellten Selbstbezug - etwa in Form
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2. Zugänge
von Programmschriften und Polemik - institutionell und disziplinar stabilisiert, macht die wissenschaftliche Beobachtung von Literatur etwas sichtbar und kommunikativ verhandelbar, was andere Beobachtungsverfahren übersehen: Zielt etwa das Aufmerksamkeitsverhalten der zumeist rasch reagierenden Literaturkritik in der Regel auf qualitative Urteile und Lektüreempfehlungen, entwickelt die Literaturwissenschaft eine tendenziell selektionslose Sensitivität, die noch kleinste Details eines Textes und abgelegene Kontextelemente wahrnimmt und wertungsresistent auswertet. Eine auf lang anhaltenden Kontakt mit dem Beobachtungsgegenstand angelegte Perspektive vermag so Eigenschaften zu entdecken, die anderen Textumgangsformen verschlossen bleiben; sie kann historische (Vor-)Urteile überwinden und Grenzen des Horizonts erweitern. Wissenschaftliche Beobachtungen von Literatur sind aus diesem Grund nicht nur abhängig von Ressourcenzuteilungen und öffentlicher Akzeptanz. Sie erbringen fur ihre gesellschaftliche Umwelt wie fur andere wissenschaftliche Disziplinen auch spezifische Leistungen, die von Bildungs- und Ausbildungsaufgaben über Stiftung von Sinn- und Orientierungskompetenzen bis zur Stabilisierung des Literatursystems reichen. Alle diese und weitere Faktoren sind zu berücksichtigen, wenn nun die wichtigsten Zugänge zum Wissen von und über Literatur notwendig knapp skizziert werden sollen. Wie aus den in historischer Abfolge dargestellten Perspektiven zu sehen, sind Texte und die in ihnen eingeschriebenen Wissensbestände seit der Entstehung der Poesie immer auch Gegenstand der Reflexion gewesen - ob durch implizite poetologische Äußerungen in den Werken selbst oder durch sich ausdifferenzierende Wissenskulturen, die als Beobachtungsinstanzen ein begrifflich distanziertes Verhältnis zu den Worten und Sachen der Literatur gewinnen. Als theoretische Umgangsformen mit dem Wissen der Literatur bilden diese sich seit der Antike formierenden Einsätze nicht nur einen unverzichtbaren Grundstock für die Erkenntnisse von und über Literatur; sie sind zugleich Bezugselement der (zeitgleichen oder nachfolgenden) kulturellen Bedeutungsproduktion und damit stets auch ein Indikator für die sich historisch wandelnden Auffassungen und Bewertungen von Literatur.
2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike
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2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike Einsatzpunkt der in der Antike beginnenden Auseinandersetzungen um das Wissen der Literatur ist das Problem der Sprache. Denn literarische Texte gibt es, weil es Varianten sprachlicher Kommunikation gibt, die anderes auf andere Weise sagen könnten. Kunstwerke gewinnen ihre Eigenarten aus der Möglichkeit, etwas mitzuteilen, selbst wenn sie keine eindeutigen Aussagen treffen und sich nicht auf empirisch überprüfbare Sachverhalte beziehen; literarische Texte kommunizieren etwas, auch und gerade wenn sich ihre Sätze der „Übersetzung" in wahrheitsfähige Propositionen entziehen. Dichterische Sprache ist also hervorbringend und erzeugend: Der Begriff Poesie leitet sich vom griechischen ποίησις (poiesis) ab, was soviel wie „Erschaffung" bedeutet und ursprünglich die mit Kunstfertigkeit verfassten Werke bezeichnet, aber auch die Bedingungen des Dichtens in einen Konnex mit Schöpfungen bzw. Offenbarungen (aus höherer als aus menschlicher Einsicht) bringt. In Homers Epen sind es die Musen, die den Sänger belehren (ODYSSEE 8, 479) und die Dichter antreiben (ODYSSEE 8, 773). Diese Töchter der Erinnerungs-Göttin Mnemosyne und des olympischen Götterchefs Zeus wissen über alle Vorgänge in der Welt Bescheid (IUAS 2, 484) und werden zur Inspirationsquelle des Poeten: „Singe mir, o Muse, des Achilles Unheil bringenden Zorn", beginnt die ILIAS; „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,/ Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung", setzt die ODYSSEE ein.' Nachdem die griechische Aufklärung göttliche Wesen für anthropomorphe Gestalten erklärt hatte, überträgt sich deren Autorität auf die bisher durch sie inspirierten Dichter - mit ambivalenten Folgen. Während Xenophanes postuliert, von Anfang an hätten alle Dichter von Homer gelernt und zugleich kritisiert, Homer und Hesiod hätten den Göttern nur schlechte menschliche Eigenschaften „angehängt",2 fällt der Philosoph Piaton (427-347 v. Chr.) in seinem Dialog ION ein vernichtendes Urteil über den inspirierten Dichter und dessen vermeintliches Wissen: 1
2
Die homerischen Epen ILIAS und ODYSSEE rufen in ihren Proömien (Vorreden) jeweils nur eine namenlose Göttin bzw. Muse an. Erst später gibt es eine Trias von Musen, die für bezeichnende Arten von Wissenskünsten verantwortlich sind: Melete für das Nachdenken; Mneme fur das Gedächtnis; Aoide für Gesang und Musik. Der vor 700 v. Chr. geborene Hesiod legt in seinem Epos THEOGONIE, das in über tausend Hexametern die Entstehung der Welt und der Götter schildert, die Zahl der Musen als Schutzgöttinnen der Künste auf neun fest (THEOGONIE 76-80, 917). Die von ihm genannten Namen werden kanonisch; darunter sind Klio (die Rühmende) als Muse der Geschichtsschreibung mit den Attributen Papierrolle und Schreibgriffel, Urania (die Himmlische) als Muse der Sternenkunde (mit den Attributen Himmelskugel und Zeigestab) sowie ¡Calliope als Muse der epischen Dichtung, der Beredsamkeit, der Philosophie und der Wissenschaft (mit den Attributen Schreibtafel und Schreibgriffel). Xenophanes aus Kolophon: Fragment Β 10 und Β 11; hier zitiert nach der Ausgabe von Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 4 1922. Bd. 1, S. 59f.
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2. Zugänge
„Denn alle guten Ependichter singen nicht aufgrund eines Fachwissens alle diese schönen Dichtungen, und die Liederdichter ebenso. Wie die Korybantentänzer nicht bei Sinnen sind, wenn sie tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei Sinnen diese schönen Lieder; sondern sobald sie eintreten in den Strom von Harmonie und Rhythmus, schwärmen sie, und zwar in Besessenheit [...] Da sie also nicht kraft eines Fachwissens schaffen und vieles Schöne über die Dinge sagen, sondern kraft einer göttlichen Gabe, ist jeder einzelne nur das in der Lage schön zu dichten, wozu ihn die Muse angeregt hat: der eine Dithyramben, ein anderer Lobgesänge, ein anderer Tanzlieder, ein anderer Epen, wieder ein anderer Jamben. Zu dem anderen aber ist jeder einzelne von ihnen untüchtig. Denn nicht kraft eines Fachwissens reden sie, sondern durch eine göttliche Kraft." 3
Hintergrund dieser (in Piatons Werk POLITEIA noch verschärften) Dichterschelte ist zum einen die Tätigkeit der sogenannten Rhapsoden, die als professionelle Darbieter von Gedichten und Epen durch Griechenland zogen und den Beifall der Menge fanden. Noch wichtiger für Piatons Abwehr der Dichtkunst ist der Einbruch von „öffentlichen Intellektuellen" (wie wir sie heute nennen würden), die in Poesie und Redekunst eine besondere Form der Lebensbewältigung erkannt und diese wortreich verteidigt hatten: Die Sophisten - wörtlich „Weisheitsbringer", in der antiken Polis eine Berufsbezeichnung für umher ziehende Lehrer - formieren seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert eine erkenntnistheoretisch begründete Literatur- und Sprachauffassung, die das Faszinationspotenzial der poetischen Rede verteidigt, doch zu einer grundsätzlichen Relativierung jedes Erkenntnisanspruchs gelangt. „Der Zauber der Rede, dieser Frucht der Inspiration, schenkt Vergnügen und entrückt uns vom Schmerz. Die Kraft des Zaubers überwältigt die Seele und überzeugt. Zauber und Magie nehmen die Seele in Besitz und ergreifen die Sinne", heißt es im ca. 480 v.Chr. entstandenen Mustervertrag VERTEIDIGUNG DER H E L E N A des Sophisten Gorgias, der die Überzeugungskraft der Poesie an die Möglichkeiten manipulativer Täuschung aufgrund begrenzter menschlicher Einsicht bindet: „Wie viele Dichter haben nicht schon wie viele Hörer über wie viele Gegenstände getäuscht und tun es noch durch falsche Rede. Würden alle über alles Bescheid wissen, sich an das Vergangene erinnern, das Gegenwärtige kennen und das Zukünftige voraussehen, dann könnte die falsche Rede, selbst mit den entsprechenden Worten, nicht in dieser Weise täuschen." 4
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Piaton: Ion, 533d-535a; zitiert nach der Übersetzung von Hellmut Flashar. München 1963, S. 18-20. Gorgias: Verteidigung der Helena, Fragment Β 11, hier zitiert nach H. Diels, W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 2, S. 288-294. Die täuschende Gewalt der (poetischen) Rede erläutert Gorgias durch Vergleich mit einer Droge (farmaka), die in jeweils anderen Hörern bzw. Lesern verschiedene Wirkungen erzeuge. Zum anderen verknüpft er sie mit Zauberei und Magie (goeteia, mageia), um sie in einem dritten Schritt direkt auf die Wirkungskraft der Tragödie zu beziehen, denn auch diese errege Emotionen wie
2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike
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Die Besonderheit dieser Perspektive auf die komplementären Beziehungen zwischen poetischer Imagination und Wissen ist noch einmal hervorzuheben. Ihren Ausgangspunkt bildet eine pessimistische Erkenntnistheorie: Der Mensch kann den Sophisten zufolge kein sicheres Wissen erwerben, sondern nur Meinung [doxa]; diese aber ist trügerisch und unsicher. Wenn es keine überzeitlich gültigen Wahrheiten und verbindlichen Normen gibt, gewinnt die kommunikative Durchsetzung von Geltungsansprüchen zentrale Bedeutung. Kommunikativer (und zugleich sozialer) Erfolg wird den Sophisten zufolge durch den kalkulierten Einsatz sprachlicher Effekte in Reden realisiert. Dichtung - verstanden „als Rede in einem Versmaß" - gilt deshalb als sehr „mächtiger Herrscher": „von kleinstem Körper und vollkommen unscheinbar" könne sie „die größte Wirkung" erzielen, denn durch eindrucksvolle Darstellung individueller Erfahrung und simulative Gestaltung fremder Schicksale habe sie das Potential, „Furcht zu beenden, Trauer zu verdrängen, Freude hervorzurufen und Jammer zu wecken". 5 In dem gleichfalls im Zeitalter der Sophistik entstandenen Traktat ZWEIeines anonymen Autors, der als Anhang zu den Schriften des kaiserzeitlichen Skeptikers Sextus Empiricus überliefert ist, findet sich diese Position aphoristisch verkürzt: Die Dichter verhalten sich korrekt, gerade wenn sie täuschen, da sich Wahres und Falsches nicht unterscheiden ließen - denn „die Dichter [...] dichten nicht, um die Wahrheit zu sagen, sondern zu unterhalten".6 In dieselbe Kerbe schlägt später auch der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. - wohl 17 n. Chr.), der explizit erklärt, man dürfe den Poeten nicht wie Zeugen glauben, denn ihre „fruchtbare Willkür" schweife ins Ungemessene und binde die eigenen Worte nicht an historische Treue (AMORES V, 19, 41-42). ERLEI ANSICHTEN ( D I S S O I LOGOI)
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Furcht, Mitleid, Sehnsucht. - Für die Bezeichnung der Täuschung verwendet Gorgias das Wort apate, das nicht Falschheit, Unwahrheit oder Irrtum schlechthin, sondern einen Effekt absichtlicher Verfälschung meint, während das objektiv Falsche bzw. Unwahre im Griechischen mit dem Wort pseudos bezeichnet wird. Die mit apate bezeichnete Täuschung geht also nicht aus einem Irrtum auf Seiten des Sprechers hervor (was beim pseudos nicht ausgeschlossen ist), sie ist absichtlich und kann auch außersprachlich (etwa durch irreführend arrangierte Umstände) erzielt werden. Charakteristisch für sie ist das Prinzip der Simulation: Der intentional produzierte Schein könnte auch der Wahrheit entsprechen und bliebe trotzdem Täuschung. Ebenda. Ergebnis einer solchen Rede ist (wie später im Katharsis-Konzept der aristotelischen) POETIK - emotionale Überwältigung: „Die Zuhörenden erfahren durch sie den Schauder des Schreckens, Jammer in Tränen und ein Gefühl des Schmerzes." Hier zitiert nach der neuen Übersetzung durch Alexander Becker, Peter Scholz (Hrsg.): Dissoi Logoi. Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat. Berlin 2004, S. 63.
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2. Zugänge
2.1.1 Scheinbares Wissen, täuschende Dichter. Piaton Gegen einen solchen als Skandal empfundenen Relativismus richtet sich der Einspruch des in Athen lebenden und wirkenden Philosophen Piaton, der an einen bereits durch den Politiker Solon artikulierten Vorwurf anschließt und bis in die Neuzeit fortwirken soll. Im zehnten Buch seines zentralen Werkes DER STAAT (POLITEIA) fuhrt Piaton ein Doppelschlag gegen die von Homer (als dem „Vater" der griechischen Epik) angeführte Literatur. In einem ersten Schritt wird Dichtung als manipulative Täuschung durch nachahmende „Schein-" bzw. „Schattenbilder" verurteilt, die „drei Stufen vom wahren Sein entfernt und leicht zu schaffen sind fur einen, der die Wahrheit nicht kennt": „Von Homer an ahmen alle Dichter nur ein Scheinbild der Vollkommenheit und der übrigen Dinge nach, über die sie dichten, erfassen aber die Wahrheit nicht; sondern sie sind wie der Maler, von dem wir sprachen: dieser malt, ohne selbst etwas von der Schusterei zu verstehen, einen täuschend ähnlichen Schuster wenigstens fur Leute, die auch nichts davon verstehen und nur nach den Farben und Gestalten urteilen. [...] So malt also auch der Dichter mit seinen Worten und Wendungen nur oberflächlich die Farben jeder einzelnen Kunst, ohne selbst etwas anderes zu verstehen als das Nachahmen, so daß er anderen Leuten dieses Schlages, die auch nur auf Grund von Worten urteilen, sehr gut zu sprechen scheint, wenn er etwas über die Schusterei in Vers und Rhythmus und Ton erzählt oder über die Feldherrenkunst oder sonst etwas. Einen solch starken Zauber bewirkt die äußere Form von Natur aus."7
Nach dieser Disqualifikation erfolgt in einem zweiten Schritt die Erhebung von „Maß und Berechnung" zu Bestandteilen des „besten Teils der Seele", denen gegenüber die „Nachahmungskunst" als Produktion von „Wertlosem" nun mit epistemischen und ethischen Gründen zurückgewiesen wird. Dichtung (wie überhaupt jede Kunst) sei „weitab von der Wahrheit, wenn sie ihr Werk ausführe; sie macht sich aber auch an jenen Seelenteil in uns heran, der selbst wieder weitab ist von jeder Einsicht, und ist ihm traute Freundin zu keinem gesunden und echten Ziel. [...] Selbst wertlos, vereint sich die nachahmende Kunst mit Wertlosem und zeugt Wertloses."8 Für diesen radikalen Ausschluss der Poesie aus dem Bezirk wahrheitsfähigen Wissens hat der Philosoph Piaton mehrere Gründe. Zum einen erhebt seine Ideenlehre die Anschauung von ewigen und unveränderlichen Ideen, d.h. die Schau der reinen „Gestalt des Guten" zur höchsten Stufe der Erkenntnis, der gegenüber Kunst und Literatur einen niederen ontologischen Status besitzen: Als Nachahmung von Phänomenen der Wirklichkeit sind sie nur drittrangig. Zum anderen gelten ihre Wirkungen als verwerflich: Dichterische Darstellun7 8
Piaton: Politeia, 598e-601b, hier nach der Übersetzung von Karl Vretska. Stuttgart 1982, S. 439f. Piaton: Politeia 602b-603b; ebenda, S. 442-444.
2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike
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gen von Leidenschaften erregten eben diese bei ihren Hörern oder Lesern; Schilderungen von Trug und Täuschung (insbesondere in Homers Götterdarstellungen) forderten ungerechte und habsüchtige Handlungsweisen bei ihren Rezipienten. Wie verdorben die moralischen und sozialen Verhältnisse in Athen waren, hat Piaton bereits zur Zeit seiner Auseinandersetzung mit dem Sophisten Gorgias konstatiert und den Dichtern als den Träger dieser Erziehung [paideia] die Schuld gegeben - was nicht zuletzt mit dem besonderen Rang zusammenhängt, der ihnen bis dahin zugesprochen wurde: Dichter galten den Griechen allgemein als Träger der Weisheit [sophia] und das sowohl hinsichtlich eines praktisch-technischen Sachverstandes [téchne] als auch in Bezug auf allgemeine Fragen der Lebensklugheit [phronesis], Aristophanes' Komödie DIE FRÖSCHE und Piatons Dialog PROTAGORAS erklären die Dichter zu Personen, die den Menschen fuhren und besser machen sollten; noch im STAAT gilt Homer als der Erzieher Griechenlands (POLITEIA X, 606e).' Eben weil Piaton von einer ethischen Funktion von Kunst und Literatur ausgeht, kann er ihnen ein Existenzrecht nur dann zugestehen, wenn sie systemstabilisierende Aufgaben innerhalb seines theoretisch konzipierten Staatsund Erziehungsmodells übernehmen - andernfalls sollen die Dichter aus dem idealen Staat verbannt werden. Die Schärfe dieser Exklusion erklärt sich auch aus der sozialen Konkurrenzsituation, in der sich Piaton mit seiner um 387 v. Chr. in Athen gegründeten „Akademie" befindet. Diese Philosophen-Schule konkurriert mit verschiedenen anderen Anbietern von Bildung und Wissen, zu denen auch die Redner-Schulen der Sophisten gehören. In diesen lässt sich lernen, wie soziale Konflikte angesichts divergierender Standpunkte kommunikativ entschieden werden können: nämlich durch wirkungsvolle Reden, die von den Vorgaben eines rhetorischen Systems reguliert sind und unter Berücksichtigung von kognitiven Fähigkeiten und Kenntnisstand des Publikums auf dessen Überzeugung (oder Überredung) zielen. Dass es beim öffentlichen Abwägen von Alternativen und der Herstellung von Konsens stets auch um die strategische Durchsetzung von Machtansprüchen des Redners bzw. von dessen Partei mittels (effektvoll manipulierter) Zeichen ging, hat der Rhetorik - verstanden als Theorie und Praxis persuasiver Kommunikation - schon frühzeitig Kritik eingebracht: Der Bogen anti-rhetorischer Stellungnahmen für verbindli-
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Eine Ausnahme macht wohl eine Stelle in den ΝΟΜΟΙ, 901a, bei der sicherlich Hesiod gemeint ist, der als älter galt. Deutlich ist auch die Dichter-Abfolge in der APOLOGIE, 41a; aufgelistet sind hier Orpheus, Musaios, Hesiod, Homer. - Kompromittiert wurde die Dichtung in Piatons Augen nicht zuletzt deshalb, weil sich fuhrende Poeten von Tyrannen an deren Höfe einladen Hessen und dafür das Lied dieser Herren sangen - so Pindar und Ibykos, Simonidis und Bakchilydes, Aischylos und Euripides. Im pseudoplatonischen Dialog HLPPARCHOS (228bc) erzählt Sokrates, dass der Sohn des Tyrannen Peisistratos den Vortrag der Homerischen Epen in Athen eingeführt sowie Anakreon und Simonidis mit Geschenken und Honorar „überzeugt" hatte, an seinen Hof zu kommen und die Bürger zu erziehen.
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che Wahrheiten und gültige Gewissheiten spannt sich von Piatons Dialogen über frühneuzeitliche Projekte für einen „piain style" in der Wissenschaftssprache bis zu den Angriffen auf die Konsenstheorie der Wahrheit. Es ist also kein Zufall, dass Piatons dezidierte Abwehr der Dichtung eine gemeinsame Wurzel von Poesie und Sophistik ausgräbt: In seinem Dialog PROTAGORAS lässt er den berühmten Sophisten den Stammbaum seiner Zunft mit Homer, Hesiod und Simonidis beginnen (PROTAGORAS 316d); und immer wieder betont er, dass Dichterinterpretationen und Vorträge über Themen aus der Dichtung zum Repertoire der Sophisten gehören. Wie aber erklärt sich der Umstand, dass selbst die kritischen Interventionen gegen persuasive Kommunikation und artifizielle Textgestaltung unter Nutzung rhetorischer Techniken und poetischer Elemente erfolgen? In Piatons frühem Dialog ION exemplifiziert der Sprecher Sokrates sein hartes Urteil über das nur scheinbare Wissen der Poesie und der Rhapsoden mit einem berühmt gewordenen Vergleich, dem „Magnetgleichnis". Im Hauptwerk POLITEIA erfolgt die Darstellung der Ideenlehre in Form von philosophiegeschichtlich überaus bedeutsamen Erzählungen; Spuren des „Sonnen-" und „Höhlengleichnisses" sind in zahlreichen Werken der Literatur und Philosophie bis ins 20. Jahrhunderts zu entdecken.10 Doch mehr noch: Piatons Text, der eine Theorie des vollkommenen Staates entwickelt und die Poesie als Produktion trügerischer Scheinbilder disqualifiziert, beginnt mit der Schilderung eines Besuchs kultischer Spiele, wobei von Festzügen die Rede ist, von Fackelreitern und Schaustellungen und dem zufälligen Treffen alter Freunde, die einem bereits gegangenen Freund einen Sklaven nachschicken, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Als die Freunde dann endlich versammelt sind und eine Gesprächssituation hergestellt ist, wird der Gestus des Erzählens nicht etwa durch sachliche Argumentation ersetzt. Im Gegenteil: Immer wieder kommen disparate Details auf den Tisch; werden Lebensumstände des Gesprächspartners erörtert oder Gefühle beschrieben. Und immer wieder werden neue Geschichten erzählt, so etwa vom Ring des Gyges, der seinen Träger unsichtbar machen konnte und ihn vom einfachen Hirten zum lydischen König aufsteigen ließ. In zahlreichen Dialogen finden sich diese Mythen, die substantielles Wissen exemplifizieren und in mehr als illustrativer Weise vermitteln - so dass beispielsweise nach einem in den Dialogen TIMAIOS und KRITIAS geschilderten, angeblich versunkenen Inselstaat bis ins 20. Jahrhundert intensiv gesucht wird." 10
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Zur Metaphorik des Höhlengleichnisses vgl. noch immer die berühmte Untersuchung von Carl Joachim Classen: Untersuchungen zu Piatons Jagdbildern. Berlin 1960; zur Darstellungsform der Platonischen Dialoge allgemein Charles L. Griswold (Ed.): Piatonic Writings/ Platonic Readings. New York 1988. Im Dialog T I M A I O S (21b-25d) sowie im Fragment gebliebenen K R I T I A S (108e-121c) wird die Geschichte der sagenhaften Insel Atlantis erzählt, die der idealstaatlich aufgebauten Landmacht Athen unterliegt und anschließend untergeht. Während die Geschichte ffir Piaton die Tauglichkeit seines vorher entwickelten Konzepts eines idealen
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Für diese Veranschaulichungen und allegorischen Darstellungen von philosophischen Wissensansprüchen in Form fiktionaler Erzählungen, Gleichnisse, Metaphern oder Gedankenexperimente hat sich der Terminus „platonischer Mythos" eingebürgert.' 2 Der Begriff Mythos bezeichnet hier die symbolisch verweisenden Dimensionen von Einsichten und Erkenntnissen, die in anderer Form nicht auszudrücken sind. Die daraus resultierende Ambivalenz ihrer Aussagen werden durch vortragende Textfiguren zum Teil selbst thematisiert: Sie bezeichnen ihre Darstellungen als wahr, betonen aber zugleich deren mythischen, d.h. symbolisch verweisenden und also mehrdeutigen Charakter (etwa P H A I D R O S 274C; POLITEIA 821C). - Eine Auflösung findet der Widerspruch zwischen dezidierter Zurückweisung poetischer Wahrheits- und Wissensansprüchen einerseits und intensiver Nutzung poetischer Rede und literarischer Formen andererseits in Piatons Auffassung von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen: Ein bildfreies und rein begriffliches Wissen, wie es in einigen Dialogen projektiert (POLITEIA 514a; S Y M P O S I O N 210e; P H A I D R O S 246d) und von der nachfolgenden Platon-Tradition immer wieder aufgerufen wird, ist nur ausnahmsweise zugänglich; selbst unter den Bedingungen des idealen Staates kann das höchste Wissen allein unter schwer zu erfüllenden Bedingungen realisiert werden.13 Eben deshalb heißt es ausdrücklich und wiederum unter bezeichnendem Rückgriff auf die veranschaulichende Sprache des Gleichnisses: „Es ist schwer mein Freund, die höheren Dinge fasslich zu machen ohne sinnliches Bild; es ergeht uns wie einem der im Traum alles gewusst hat und im Wachen nichts mehr weiß." (POLITIKOS 277d) Da ein begrifflich-rationales und also unbildliches Erkennen nach Piaton schwierig und entsprechend selten ist, kommt es auf den richtigen Umgang mit bildhaften Denk- und Darstellungsweisen an. Die Bilder unseres Denkens sind als Bilder zu erkennen und in adäquater Weise durch andere Bilder zu expli-
Staates beweisen soll, vermutet man später einen realen Hintergrund und unternimmt unzählige Versuche, Atlantis zu lokalisieren; dazu jetzt Heinz-Günther Nesselrath: Piaton und die Erfindung von Atlantis. München, Leipzig 2002. - Neben dem Mythos vom Ring des Gyges (POLITEIA 359c ff.) und dem Schlussmythos aus diesem Werk (POLITEIA 613e ff.), der die Rückkehr eines pamphylischen Soldaten aus der Unterwelt schildert und dem Begriff der Gerechtigkeit eine kosmische Dimension gibt, erweist sich der Mythos von der Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theuth (PHAIDROS 274c) als überaus einflussreich für die nachfolgende Ideen- und Literaturgeschichte. Gegen ein in Schriftform ausgelagertes und rasch in unüberschaubare Dimensionen wachsendes Wissen, das zu „Vergessenheit" und „Schein-Weisheit" führe, werden hier Argumente formuliert, die bis in die Medienkritik des 20. Jahrhunderts reichen. 12 Eine Sammlung dieser Erzählungen findet sich in Bernhard Kytzler: Piatons Mythen, Frankfurt/M. 1997; aufschlussreich noch immer ist Karl Reinhardt: Piatons Mythen [1927], In: Carl Becker (Hrsg.): Vermächtnis der Antike. Göttingen 21989, 219-296; jetzt Markus Janka; Christian Schäfer (Hrsg.): Piaton als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Piatons Dialogen. Darmstadt 2002. 13 Vgl. Wolfgang Wieland: Piaton und die Formen des Wissens. Göttingen 1999, S. 301 f.
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zieren bzw. zu relativieren. Piaton realisiert diese Forderung durch zum Teil überaus eindrucksvolle Verschränkungen von Gleichnisreden und mehrdeutiger Kommunikation und erweist - unter fortgesetzten deklarativen Dementis immer wieder die verschwisterten Beziehungen zwischen Poesie und Philosophie, zwischen Literatur und Wissen, die zu dieser Zeit (noch) bestehen. 2.1.2 Mitteilung des Allgemeinen. Aristoteles An diese demonstrierten Korrespondenzen kann Piatons Schüler Aristoteles (384-322 v.Chr.) anschließen - und daraus ganz andere Konsequenzen ziehen. Denn Aristoteles grenzt nicht nur die Geltungsansprüche des poetischen Textes von der Zielstellung historischer Darstellungen ab, indem er postuliert, „daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte".14 Zugleich wertet er die von seinem Lehrer Piaton als „Täuschung" verurteilte Poesie dezidiert auf und rückt sie in die Nähe der eigenen Disziplin, in dem er die gleichfalls als „Nachahmung von Handlungen" bestimmte Dichtung als „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres" der Historiographie gegenüber stellt: „denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit." Fixiert wird diese Ehrenrettung der Poesie in der um 335 v. Chr. entstandenen, jedoch nur teilweise erhaltenen Schrift Peri POIETIKES, die wohl eine Vorlesung vor Aristoteles' Schülern am Lykeon gewesen ist und das bislang erworbene Wissen über literarische Texte und deren Regeln zusammenführt - dabei aber keine Richtlinien oder Vorgaben macht, sondern Phänomene mit klassifikatorischem Anspruch beobachtet und beschreibt. (Eine normative Regelpoetik, die die Produktion von literarischen Texten nach Konventionen fixiert, sollte erst in nachfolgenden Dichtungstheorien, insbesondere des französischen Klassizismus und der deutschen Aufklärung formuliert werden.) Aristoteles' Erhebung der Poesie zu einer Mitteilung allgemeiner Einsichten ist voraussetzungsreich und nicht ohne Konsequenzen. Sie basiert auf einer veränderten Auffassung von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die das Streben nach Wissen ebenso in der menschlichen Natur verankert wie den Nachahmungstrieb. Denn nach Aristoteles gibt es zwei Ursachen, warum der Mensch zur artifiziellen Nachbildung des Gegebenen neigt und also Epen und Tragödien, Komödien und Dithyramben ebenso wie Malerei und Musik produziert: „sowohl das Nachahmen ist dem Menschen angeboren, es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen [...], als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat."15 14 15
Aristoteles: Poetik 9, 1451 a36-38, hier nach der Übersetzung von Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 29. Aristoteles: Poetik, S. 11. Als Beleg fiir die behauptete Freude an Nachahmungen wird eine „Erfahrungstatsache" angeführt, die die Wirkungen von Kunst und Literatur in der
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Naturgegebener Nachahmungstrieb und Genuss an dessen Resultaten korrespondieren dem gleichfalls natürlichen Trieb nach Erkenntnis. „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen", heißt es in seinem zwischen 348 und 322 v. Chr. entstandenen philosophischen Hauptwerk,16 das Kunst - verstanden als techné, d.h. bewusstes Erzeugen von Artefakten - zum Ergebnis eines erfahrungsgesättigten Wissens über allgemeine Zusammenhänge erklärt.17 Die Erhebung der Poesie zu einem Medium des Allgemeinen beruht zum anderen auf einer Rangordnung des Wissens, die Aristoteles in seiner METAPHYSIK markiert und die der Kunst (als kognitiv begründetes Hervorbringen) eine wichtigere Position zuweist als der bloßen Erfahrung: „Gleichwohl meinen wir, daß jedenfalls das Wissen und das Verstehen der Kunst in höherem Maße zukommt als der Erfahrung, und wir halten die Vertreter der Kunst für weiser als die nur Erfahrenen, in der Überzeugung, daß die Weisheit sich bei allen auf Grund des Wissens einstellt; und so urteilen wir, weil die einen die Ursachen kennen, die anderen nicht. Denn die Erfahrenen wissen zwar das Daß , das Warum aber wissen sie nicht; die anderen kennen das Warum und die Ursache." 18
Ohne Piaton und dessen radikale Disqualifikationen von Kunst und Literatur explizit zu erwähnen, vollzieht Aristoteles also eine dezidierte Umwertung. Sein Gewinn eines neuen Verhältnisses zur Poesie gründet auf einer Hierarchisierung von Wissensformen, die dem Sach- bzw. Faktenwissen der Erfahrung einen niederen Status zuweist als dem Erkennen von Ursachen: Da wahres Wissen in der Ermittlung von Gründen und Ursachen besteht, ist die poetische Darstellung des Möglichen, das wahrscheinlich ist und mit Notwendigkeit geschieht, eine kunstvoll erzeugte Form von Ursachenwissen und als solches empirischen Observationen überlegen. Das hypothetische Wissen der Literatur realisiert sich in Konstruktionen möglicher Welten, die kausal geordnet sind und allgemeine Einsichten formulieren. Die epischen Schilderungen sozialer Regelkreise, wie sie etwa in der ODYSSEE ausgemalt werden, können überzeugen, weil in ihnen gleichsam prototypische Verhaltensmuster niedergelegt und zugleich motivational erklärt werden: Reise und Heimkehr, Täuschung und Enthüllung, Konflikt und Kampf werden nicht nur aufgezählt, sondern in ihren (den Einsichten der Sterblichen zum Teil entzogenen) Voraussetzungen und (unbeabsichtigten) Konsequenzen entwickelt. - Eben deshalb besteht für Aris-
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Lust an der artifiziellen Distanz durch Simulation verankert: „Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellung von möglichst unansehnlichen Tieren und von Leichen." Aristoteles: Metaphysik I 21, 980a, hier zitiert nach der Übersetzung von Thomas Alexander Szlezak. Berlin 2004, S. 3. Ebenda, 981a: „Kunst entsteht, wenn aus den vielen Beobachtungen der Erfahrung eine allgemeine Ansicht über alle ähnlichen Dinge entsteht." Ebenda, 981b, S. 4.
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toteles in der Komposition einer Fabel nach den Gesetzen der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit das Hauptgeschäft des Dichters; und eben darum verwirft er episodische Fabeln, in denen Szenen ohne Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit zusammenhängen bzw. durch Zusätze und Nebenhandlungen unterbrochen sind, als die „schlechtesten". Doch mehr noch. Die POETIK deklariert nicht allein den inneren Zusammenhang sowie Einheit, Ganzheit, Geschlossenheit als Strukturmerkmal überzeugender Werke. Der nur unvollständig überlieferte Text führt auch substantielle Bestimmung von Inhalten und Wirkungen ein, die neues Licht auf die emotional fundierten Erkenntnisdimensionen der Poesie werfen. Furcht und Mitleid - wesentliche Reaktionen auf das in der Tragödie bzw. in tragischen Fabeln geschilderten Ereignisse - werden in Zuschauern bzw. Lesern geweckt, wenn diese sehen bzw. lesen, wie im Gang der Handlung sich eine Episode notwendigerweise aus der anderen entwickelt: und wie trotz dieses vorgeführten Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, von Grund und Folge etwas besonders Bewegendes (Entsetzliches oder Schreckliches) geschieht. Und das, was den Zuschauer einer Tragödie nach Aristoteles am meisten ergreift, hat mit einer plötzlichen Erkenntnis und einem davon hervorgerufenen Umschlag der Handlung zu tun: Das Wiedererkennen (griechisch: Anagnorisis) von oft jahrelang getrennten Personen durch bestimmte Erkennungszeichen, aber auch das Wiedererkennen von Gegenständen sowie die jähe Einsicht in die Bedeutung vollzogener Handlungen fuhren zu einem Handlungsumschwung, einer sog. Peripetie - und damit zur nachhaltigen emotionalen Bewegung bei den Rezipienten.19 Starke Gefühle entstehen etwa dann, wenn die Zuschauer von Sophokles' Tragödie vom König Ödipus erleben müssen, wie im Gang der Handlung eine Episode folgerichtig an die andere anschließt und deutlich ist, worauf alles hinausläuft - und sich trotz dieser rational klaren Konsequenzen die Gefühle von Schaudern und Mitleiden einstellen, als Ödipus die Wahrheit über seine Herkunft hört und also erfahren muss, dass er selbst der Mörder seines Vaters ist. Die vieldiskutierte Katharsis - nach Aristoteles die körperliche, geistige, emotionale und auch religiöse „Reinigung" der Seele von Leidenschaft im Durchleben von Furcht und Mitleid - wird so als eine Reaktion auf die mehrfach dimensionierten Potentiale artifizieller Welt-Modellierung verständlich: 19
Szenen des Wiedererkennens gibt es bereits im Homerischen Epos, so ζ. B. in der ODYSSEE, als Odysseus von seiner Magd Eurykleia und schließlich von seiner Gattin Penelope wiedererkannt wird. Besonders häufig erscheint die Anagnorisis in Tragödien: In der Tragödie ELEKTRA des Euripides identifiziert die Titelfigur ihren Bruder Orest an seinen Fußspuren und einer Locke seines Haares, in IPHIGENIE AUF TAURIS erkennt Iphigenie den Bruder Orest an einem Brief. Die Wiedererkennung geschieht zumeist an entscheidenden Stellen des Dramas und bewirkt einen Handlungsumschwung: Iphigenie etwa ist kurz davor, Orest zu töten, bevor sie ihn erkennt; danach flieht sie mit ihm gemeinsam nach Hause.
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Die „Läuterung" von Passionen nimmt die emotionalen und rationalen Vermögen des Rezipienten in Anspruch; sie kann nur erfolgen, wenn die Simulationen der Literatur (und damit auch die Versionen des Umschlags von Unkenntnis in Erkenntnis) als Möglichkeiten des eigenen Lebens mit Sinnen und Verstand nachvollzogen werden. 2.1.3 Pathos, Ethos, Logos. Texteffekte und Regelsysteme Aristoteles hat aber nicht nur das Möglichkeitswissen der Literatur reflektiert und klassifiziert. Er verfolgt auch die bereits vor ihm begonnenen Beobachtungen der Sprache weiter und beschäftigt sich eingehend mit Fragen nach der Erzeugung und Deutung von Rede- und Texteffekten. Diese Fragen haben in der antiken Polis besondere Relevanz. Denn wie erwähnt, gewinnen die plausible Formulierung und kommunikative Durchsetzung von Geltungsansprüchen durch öffentliche Reden seit dem Übergang der griechischen Stadtstaaten zur Demokratie eine bislang ungekannte Bedeutung. Wer bei Streitigkeiten (etwa um offene Grundstücksfragen nach Tyrannenvertreibungen) zu seinem Recht kommen will, muss sein Anliegen persönlich vor Gericht vortragen. Da aber die breiten Schichten der Bevölkerung nicht ausreichend gebildet sind, suchen, sie sich Lehrer, die ihnen beim Ausarbeiten ihrer Aussagen helfen. Zu diesen gehören der im 5. Jahrhundert v. Chr. auf Sizilien lebende Korax, der Handbücher der Redekunst verfasst haben und der erste gewesen sein soll, der sich für seinen Unterricht bezahlen ließ. Sein Schüler Gorgias brachte dieses Wissen aus Sizilien nach Griechenland; er gilt neben Protagoras als einer der wichtigsten Vertreter der bereits erwähnten Sophistik. Die als Sophisten, d.h. als „Weisheitsbringer" bezeichneten Wanderlehrer zogen vor allem nichtaristokratische Bürger und junge Leute an, versprachen sie doch die Lehr- und Lernbarkeit kunstvoll überzeugender Rede. Grundlage dieses didaktisch vermittelbaren Sprachwissens ist ein Regelsystem, das in der Rhetorik (griech. rhetorikè [téchne], „Redekunst"; lat. ars rhetorica) sowohl theoretisch reflektiert als auch praktisch angeleitet wird - und bis ins 19. und 20. Jahrhundert einen wichtigen Stichwortgeber für poetologische Überlegungen bilden soll. Aufgabe einer theoretisch reflektierten und praktisch anleitenden Rhetorik war und ist es, Möglichkeiten zu erforschen sowie Mittel bereitzustellen, um kommunikativ Gemeinsamkeiten zwischen Redner und Zuhörern herzustellen {Identifikation) und subjektive Überzeugungen allgemein zu machen {Persuasion). Das seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert im antiken Griechenland entwickelte und in Rom perfektionierte System der Rhetorik umfasst u.a. regulative Aussagen über die Produktionsstadien einer Rede, die Redegattungen, die Redeteile, die Wirkungsweisen und Stilhöhen. Das von Aristoteles wahrscheinlich in der Zeit seines Wirkens an der platonischen Akademie entwickelte Lehrwerk zur Rhetorik versteht diese als Vermögen, „an jeder Sache
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das vorhandene Überzeugende zu sehen".20 Redekunst ist für Aristoteles also die methodisch angeleitete und bewusst ausgeübte Fähigkeit, aufgrund von Wissen zu überzeugen bzw. überzeugend aufzutreten und damit (wie bereits bei Piaton) unterschieden von sophistischer Überredung. Zugleich geht er über Grenzziehungen seines Lehrers hinaus: Einleuchtende Reden müssen sich nicht immer im Bereich der Wahrheit bewegen; meistens genügen Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit, die durch die Überzeugungsmittel Ethos, Pathos, Logos sowie mit unterschiedlichen Argumentationsweisen und sprachlichen Figuren hervorgerufen werden können. Es lohnt sich aus mehreren Gründen, auf die im Rahmen der Rhetorik reflektierten und von Aristoteles systematisierten Überzeugungsmittel sowie auf den Katalog der Sprach- und Textfiguren näher einzugehen - bilden diese Konzepte und Verfahren doch ein zentrales Bindeglied zwischen Wissen und Literatur. Und das aus mehreren Gründen. Zum einen kann der Einfluss rhetorischer Reflexionen und Imperative auf die Genese und Entwicklung literarischen Äußerungen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Ohne regulierende Vorgaben der Rhetorik lässt sich die Produktion von poetischen Texten bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht vorstellen; und noch die betont regellos auftretenden Poeten des Sturm und Drang oder die gattungsmischenden Romantiker bleiben (wie andere Einsätze einer dezidiert antirhetorischen Literatur auch) den Einsichten in die unhintergehbare Performativität von Sprache verpflichtet.21 - Zum anderen stellen die Kategorien des rhetorischen Systems ein Beschreibungsinstrumentarium bereit, mit dessen Hilfe die Bauformen und Effekte literarischer (und anderer) Texte sowie von Sprache überhaupt beobachtet und erklärt werden können. Um es auf den Punkt zu bringen: Ohne die reflexiven Leistungen des rhetorischen Systems sind poetologische wie literaturkritische Überlegungen bis in die Gegenwart nicht zu denken. Mehr noch: Die durch rhetorische Erkenntnisse fundierten Sprachtheorien des 19. Jahrhunderts ermöglichen jene Einsichten in den all-
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Aristoteles: Rhetorik 1355b 1 Of. (I, 2), hier zitiert nach der Übersetzung von Christoph RaS. Berlin 2002, S. 22. Die Schrift gehört zu den akromatischen Texten, d.h. sie war im Gegenatz zu den uneingeschränkt adressierten exoterischen Schriften - als ein Lehrbuch für Schüler gedacht, dessen verschiedene Teile zu verschiedenen Zeiten erstellt und immer wieder verändert bzw. erweitert wurden. Aufgrund verschiedener historischer Anspielungen ist als Abfassungszeit wohl der Zeitraum von Aristoteles' Wirken in der platonischen Akademie, also zwischen 340 und 355 v. Chr. anzunehmen. So ist etwa die unrhetorische Diktion, wie sie vom einflussreichen Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769) fur die Abfassung von Briefen gefordert wurde, eine besondere Form kalkulierter Rede: Mit Gesten der Natürlichkeit soll eine besondere Authentizität suggeriert werden. Die literarhistorischen Folgen einer solchen Rhetorik sind bekannt: So hat u.a. der junge Goethe in Leipzig Gellerts Vorlesungen besucht und hier dessen Brieflehre mit dem Pathos der Natürlichkeit kennengelernt - was für seine eigene Entwicklung bis hin zur Straßburger Erlebnislyrik und den Sesenheimer Liedern entscheidende Bedeutung gewinnen sollte.
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gemeinen Konstruktionscharakter von Sprache, die der Professor für klassische Philologie Friedrich Nietzsche in seinen Basler Vorlesungen 1874 ausspricht: „Es ist aber nicht schwer zu beweisen, daß was man, als Mittel bewußter Kunst .rhetorisch' nennt, als Mittel unbewußter Kunst in der Sprache u[nd] deren Werden thätig waren, ja daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit' der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten [...]".22 - Selbst wenn die Macht der alten Rhetorik im Sinne einer schulisch bzw. universitär vermittelten Disziplin seit der Aufklärung geschwunden ist, bleiben ihre Einsichten in die Regeln des Erzeugens und Gestaltens von Texten doch eine wesentliche Grundlage der sprachlich-kulturellen Bedeutungsproduktion. Nicht zufallig haben rhetorische Kategorien und Verfahren zur Beschreibung und Erklärung von Texteffekten eine besondere Bedeutung in der neueren Wissenschaftsforschung gewonnen - doch dazu an späterer Stelle. Die Einteilung der Überzeugungsmittel der freien, öffentlichen Rede in Aristoteles' RHETORIK liefert einen ersten Baustein zur Rekonstruktion dieses Regelsystems. Das Lehrwerk des Stagiriten unterscheidet zum einen zwischen Pathos, Ethos und Logos als den zentralen Wirkungsdimensionen kalkulierter Äusserungen, die den drei klassischen Genera entsprechend als Gerichtsrede, als politische Beratungsrede oder als Lobrede gehalten wurden: Pathos (von griech. pàthos, „Leidenschaft]") richtet die Rede als einen emotionalen Appell auf das Publikum aus; Ethos (von griech. ethos, „Gewohnheit, Sitte, Charakter") leitet die Überzeugungskraft aus der persönlichen Integrität des Sprechers ab; Logos (von griech. λόγος, „Wort, Rede, Sinn") umfasst die Argumente, die der Sache selbst entnommen sind.
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Friedrich Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik. Vorlesung vom Sommersemester 1874. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begr. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abt. II, Bd. 4: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72-WS 1874/75). Bearb. von Fritz Bornmann und Mario Carpitella. Berlin, New York 1995, S. 413-520, hier S. 425, Hervorhebung im Original. - In der Zeit seiner Basler RhetorikVorlesungen entsteht auch der erst 1896 publizierte Text UEBER WAHRHEIT UND LÜGE IM AUSSERMORALISCHEN SINNE, in dem sich die vielzitierten, für die spätere Dekonstruktion wichtigen Sätze finden: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, das sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." (F. Nietzsche: Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München, Berlin, New York 1988, S. 873-890, hier S. 880f.)
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Jedes Thema kann auf einen der drei Pole der Rede oder auf alle zusammen ausgerichtet werden, um zu überzeugen. Dem jeweiligen Überzeugungsmittel entsprechen auf der Ebene der sprachlichen Ausgestaltung (elocutio) spezielle Techniken. Pathos erreicht man ζ. B. mit gewagten Metaphern, mit Figuren der Überwältigung, mit Aposiopesen (Satzabbrüchen) oder durch Aporien (d.h. durch demonstrierte Unlösbarkeit eines Problems oder offen eingestandene Einsicht in das eigene Nichtwissen). Auf der Ebene des Vortrags (actio) können Stimmführung, Mimik und Gestik des Sprechers zum Pathos der Rede beitragen. Während das Ethos des Redners mit Verweisen auf vorgängige und prägende Lebensgewohnheiten deutlich wird, ist der Logos durch sachliche Angemessenheit, Folgerichtigkeit und Beweisführung einzulösen. Für die Relationen von Literatur und Wissen sind die Einsichten in die Verbindung von emotionalen, rationalen und appellativen Funktionen überzeugender Äußerungen von zentraler Bedeutung: Nur die Kombination aus Darstellung, Ausdruck und Ansprache kann überzeugen. Wichtig ist zugleich die Differenz zur methodischen Wahrheitssuche von Wissenschaft und Philosophie. Wenn eine wirkungsvolle Rhetorik darin besteht, „an jeder Sache das vorhandene Überzeugende zu sehen" (RHETORIK 1355b) sowie „Überzeugendes und scheinbar Überzeugendes" bzw. „Wahrheit und der Wahrheit Nahekommendes" zu jedem beliebigen Gegenstand aufzufinden, zu ordnen und sprachlich geschickt zu gestalten, avancieren das Wahrscheinliche und Glaubwürdige zu zentralen Begriffen. „Das Wahrscheinliche zu treffen heißt in der Mehrzahl der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen", heißt es bei Aristoteles ausdrücklich - und das bedeutet, dass sich der Rhetoriker nicht um die „Wahrheit der Dinge" kümmern muss, sondern sich allgemein verbreiteter Meinungen, nächster Verlässlichkeiten und wahrscheinlicher Sätze bedienen kann. Wirksame öffentliche Rede ist also eine (kunstvolle) Formierung von „weichen" Geltungsansprüchen, in der sich Finden und Ordnen und adressatenbezogenes Gestalten verbinden - ähnlich wie in poetischen Produktionen. Und das Reflexionswissen der Rhetorik besteht weniger in einer gesicherten Methode zur Aufstellung unkontroverser Beobachtungssätze oder logisch stringenter Schlüsse, als vielmehr in der Beschreibung und Inventarisierung einer kommunikativen sozialen Praxis. Die regulativen Aussagen der Rhetorik beziehen sich auf unterschiedliche Elemente der sprachlichen Kommunikation. Sie nehmen die Produktionsstadien einer Rede ebenso in den Blick wie die Redegattungen und die Teile einer Redeteile. Katalogisiert werden zudem die Wirkungsweisen sprachlicher Figuren und die Stilhöhen einer Rede. Wichtig für uns sind vor allem die Erkenntnisse über die Produktionsstadien eines kommunikativ erfolgreichen Textes und dessen Wirkungsweisen auf der Basis von Figuration und Performanz stellen diese Einsichten doch eine wesentliche Grundlage für eine Reflexion
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der Relationen zwischen Wissensansprüchen einerseits und deren sprachlichen Formatierungen andererseits bereit.23 Die insbesondere in der römischen Zeit entwickelten Rhetoriken - zu ihnen gehören die Schriften D E ORATORE (ÜBER DEN REDNER) des Marcus Tullius Cicero ( 1 0 6 v.Chr. - 4 3 v.Chr.) und iNSTiTUTio ORATORIA (UNTERWEISUNG IN DER REDEKUNST) des Marcus Fabius Quintiiianus ( 3 5 n. Chr. - 9 6 n. Chr.) unterscheiden fünf Erarbeitungsphasen der Rede: Ebene der res („Sachen")
Ebene der verba („Worte")
I.
II.
III.
IV.
V.
Inventio
Dispositivo
Elocutio
Memoria
Pronuntiatio
sprachliche „Einkleidung"
Einübung, Auswendiglernen
Vortrag
Materialsamm- Anordnung lung des Stoffes
Von der Idee bis zum präsentierten Vortrag ist also eine Schrittfolge abzuarbeiten. In einem ersten Schritt sind die sachlichen Gesichtspunkte und Argumente aufzufinden (inventio). Dazu stellt die Topik als Lehre von den „Orten" (topoi) einen entsprechenden Fragenkatalog bereit. Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quamodo, quando? Wer, was, wo, mit welchen Mitteln, warum, auf welche Weise, wann?, lautet ein Merkvers aus dem 12. Jahrhundert, der als „Inventions-Hexameter" überliefert ist. Im zweiten Schritt erfolgt die Anordnung und Gliederung des Stoffes (dispositio), der im darauf folgenden Abschnitt in überzeugende Worte gefasst wird (elocutio). In der Phase der Disposition werden die Argumenten und Gedanken ausgewählt, geordnet und gegliedert, die dann entsprechend der Wirkungsabsicht zu gestalten sind. Dabei kann der Redner zwischen drei Wegen wählen: Er kann rational argumentieren bzw. belehren (docere) oder Affekte milderer Art erregen bzw. erfreuen (delectare). Er kann aber auch heftigere Emotionen hervorrufen (movere), um die Hörer zu erschüttern. Die Wahl dieser Methoden nach Redezweck (utilitas causae) und Situationsangemessenheit (aptum) erfolgt durch die Urteilskraft (iudicium) des Redners.24
23
24
Hier nur knapp zu erwähnen sind die Bestimmungen der drei Redegattungen (genera orationis): Während sich die (politische) Beratungsrede (genus deliberativum) an die Volksversammlung richtet und Ratschläge erteilt, um Entscheidungen zu beeinflussen, appelliert die Gerichtsrede (genus iudiciale) an Richter und Publikum mit dem Ziel, durch Anklagen oder Verteidigungen ein gewünschtes Urteil herbeizuführen. Die Lobrede (genus demonstrativum) wendet sich an Zuschauer bzw. Zuhörer und zielt auf deren Überzeugung von den Qualitäten eines gelobten oder auch getadelten Menschen; zugleich vermittelt sie (ästhetischen) Genuss. U m den Wirkungsintentionen zu entsprechen, hat die Rhetorik zum Teil sehr komplizierte Stillehren entwickelt. Doch hat sich vor allem die wohl auf Theophrast zurückgehende Dreistillehre durchgesetzt. Diese Doktrin beherrscht die Geschichte der europäischen Beredsamkeit und Literatur bis ins 19. Jahrhundert und unterscheidet: (a) eine schlichte, schmucklose, sowohl dem belehrenden Zweck wie der alltäglichen Kommu-
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Der vierte Abschnitt (memoria) umfasst das Einprägen der Rede für den auswendigen Vortrag durch mnemotechnische Verfahren und bildliche Vorstellungen. Den Abschluss bildet der öffentliche Vortrag (pronuntiatio/ actio), bei dessen performativer Darbietung dann alle stimmlichen, mimischen und gestischen Register gezogen werden können. - Eine so entstehende Rede hat drei Teile: (1) Anfang {caput)
Exordium
Einleitung
(2) Mittelteil {medium)
Narratio
Darlegung des Sachverhalts
Argumentatio: confirmatio confutatio
Begründung des eigenen Standpunktes Bekräftigung mit Beweisgründen (probationes) Widerlegung der Gegenmeinung
(3) Ende (finis)
Conclusio, Peroratio
Schluss
Wenn die Wirksamkeit der öffentlichen wie auch der poetischen Rede in der kunstvollen Formierung von Geltungsansprüchen besteht, in der sich Findung, Ordnung und adressatenbezogene Gestaltung verbinden, kommt es neben der Ermittlung von Argumenten und einleuchtender Gliederung unbedingt auf ihre sprachliche Gestaltung an. Diese wird im dritten Abschnitt der Produktion einer Rede, der sog. elocutio vollzogen und beinhaltet die „Einkleidung" der Gedanken in Worte mitsamt der Wahl von Redeschmuck, rhetorischen Figuren, kommunikativer Direktion, Festlegung von Satzbau und Pausen etc. Die Theorie des rednerischen Ausdrucks ist nicht ohne Grund das differenzierteste Teilgebiet der Rhetorik, reguliert es doch neben Figuren und Tropen auch Wortgebrauch und Satzfügung, soweit diese nicht grammatischen, sondern stilistisch-rhetorischen Zwecken dienen. Sprachliche Richtigkeit, Deutlichkeit, Angemessenheit an Inhalt und Zweck der Rede, Redeschmuck und Vermeidung alles Überflüssigen sind die obersten Stilqualitäten. Schon Aristoteles' RHETORIK, und die Lehrschriften aus dem alten Rom inventarisieren zahlreiche Mittel zur Erzeugung besonderer Effekte in Reden. Diese als „Tropen" und „Figuren" bezeichneten Elemente sind keineswegs nur „Schmuck"-Elemente, die durch ihre Abweichung von „normalen" Redeweisen nikation angepasste Redeweise; (b) eine auf Unterhaltung und Gewinn der Zuhörer ausgerichtete Stilart, die sich des Redeschmucks auf eine temperierte Weise bedient und eine sympathische Beziehung zwischen Redner und Publikum herstellt; (c) eine großartige, pathetisch-erhabene Ausdrucksweise, die alle rhetorischen Register zieht und die Zuhörer mitreißen will. Sie ist besonders handlungsbezogen und zielt auf Entscheidung und praktische Veränderung aufgrund der zuvor durch Darlegung und Argumentation erreichten Einstellungen.
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die Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers in besonderer Weise herausfordern; sie erzeugen zugleich neue Sichtweisen und übernehmen also epistemische Funktionen, deren besondere Qualitäten noch zu erläutern ist. Als Begriffe zur Beschreibung der „Literarizität" bzw. „Poetizität" von Texten werden sie bis in die Gegenwart verwendet; zudem zählen sie zu den grundlegenden Reflexionselementen sprachlich vermittelter Wissenskulturen und gewähren so Aufschlüsse über den Zusammenhang von Erkenntnis und Literatur. Die nachfolgende Auflistung beansprucht keine Vollständigkeit; sie versammelt die wichtigsten Figuren aus einem weit umfassenderen Katalog: (a) Klangfiguren lenken die Aufmerksamkeit des Hörers oder Lesers auf wiederkehrende lautliche Elemente und damit auf die besondere Beschaffenheit von Sprache Alliteration Gleichklingender Anlaut der betonten Silben innerhalb einer Wort(lat. ad „hinzu", littera gruppe, der auf einer starken Initialbetonung beruht: „Buchstabe") „Liebe will ich liebend loben..." (Goethe: Lyrisches) Anapher Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Anfang auf(griech. anafora „Rück- einanderfolgender Sätze, Satzteile, Verse oder Strophen: beziehung, Wiederauf..Wer nie sein Brot mit Tränen aß, nahme") Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß ..." (Goethe: Harfner) (Die Umkehrung der Anapher, also die Wiederholung an Satz- oder Versschlüssen, ist die Epipher.) Assonanz Obereinstimmung der Vokale von der letzten Tonsilbe an: (lat. assonare „überein- „Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, stimmen") Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht." (Goethe: Mignon) Epanalepse Wiederholung eines Wortes oder einer syntaktischen Einheit innerhalb (griech. epanalepsis eines Satzes, im Unterschied zur Gemination jedoch nicht unmittelbar „Wiederholung") aufeinanderfolgend: „Alles geben die Götter, die unendlichen,/ Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz." (Goethe) Gemination Aufeinanderfolgende Wiederholung eines Wortes: ..Seide, Seide, (lat. geminatio „VerSeide/ Spinnt dein Kind voll Freude..." (Clemens Brentano: Das dopplung") Märchen von dem Rhein und dem Müller Radlauf) Lautmalerei / Schallnachahmende Wortbildung zur Erzeugung besonders deutlicher Vorstellungen: Da pfeift es und geifil es und klinget und klirrt, Onomatopöie Da ringelt's und schleift es und rauschet und wirrt, (griech. onomatopoetiDa pispert's und knistert's und flistert's und schwirrt's... kon „benennen") (Goethe: Hochzeitlied) Metaplasmus Abweichung von sprachlich korrekten Formen durch Hinzufügung (griech. meta-plassein oder Auslassung von Lauten am Wortanfang („raus" statt „heraus") „umformen") bzw. durch Dehnung oder Kürzung von Lauten: „Morgennebelung verbündet/ Mir des Blickes scharfe Sehe." (Goethe: Liebliches) Silbenreim Gleichklang einer oder mehrerer Silben bei verschiedenem Anlaut der ersten Reimsilbe: „Traum - Baum", „Wunde - Kunde"; „nolens volens", „wie gewonnen, so zerronnen" Wortspiel / Verknüpfung semantisch unterschiedener, lautlich ähnlicher Worte: Paranomasie „Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom, (griech. para „bei, Die Klöster sind ausgenommene Nester. Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer." neben", onoma „Name") (Schiller: Wallensteins Lager, Kapuzinerpredigt)
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(b) Wortfiguren organisieren die Stellung und Beziehung von Wörtern zueinander und intensivieren durch abweichende Gestaltung den Ausdruck Antithese Gegenüberstellung gegensätzlicher Begriffe und Gedanken: „Krieg und (griech. antithesis Frieden"; „Freund und Feind"; „Himmel und Hölle" „Gegen-Satz") Chiasmus Überkreuzte syntaktische Stellung von Wörtern in zwei aufeinander (lat. „in der Form bezogenen Wortgruppen oder Sätzen, die oft zur Veranschaulichung des griech. Bucheiner Antithese dient: „Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit" (Schilstabens X]", d.h. ler: Wallensteins Tod); „Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben." Überkreuzstellung) (Goethe: Faust I) Ellipse Durch Auslassung gebildete Wortfigur, die zu ihrem Verständnis einen (innertextuellen) Kontext benötigt: „Ich gehe meinen Weg, ihr den (griech. elleipsis euren"; „Er saß ganze Nächte und Sessel durch" (Jean Paul: Siebenkäs) „Mangel") Umsetzung einer Aussage in einen Ausruf oder eine Frage: Emphase (griech. emphainein, „Feuer!", „Hilfe!", „O Himmel!": „Warum immer ich?!" „veranschaulichen) Durch Hinzufügung gebildete Wortfigur der steigernden Aufzählung, Klimax wobei die Reihenfolge semantisch festgelegt ist. Jedes Folgeglied nimmt (griech. klimax an Gewicht zu, so dass das letzte Element den Höhepunkt der Äußerung „Leiter") bildet: „Gefahrlich ists, den Leu zu wecken, Verderblich ist des Tigers Zahn, Jedoch der schrecklichste der Schrecken, Das ist der Mensch in seinem Wahn." (Schiller: Lied von der Glocke) Durch Umstellung gebildete Wortfigur, die entweder den syntaktischen Parallelismus Gleichlauf gleichrangiger Phrasen realisiert: „Als ich noch Kind war, (griech. parallelos redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein „gleichlaufend") Kind" (1. Kor. 13,11) oder eine Aussage in mehrere Aussagen gleichen oder gegensätzlichen Inhalts aufspaltet: „So muss ich dich verlassen, von dir scheiden" (Schiller: Wallenstein) Oxymoron (griech. oxys „ s c h a r f ; moros „dumm": „scharfsinnig-dumm")
Extreme Variante der Antithese, die durch Kombination von Ausdrücken mit gegensätzlicher Bedeutung entsteht: (a) durch die Kombination von zwei einander ausschließenden Eigenschaften: „Ehrlichkeit heucheln ist soviel wie mit der Wahrheit schwindeln" (Sebastian Brant: Der Narrenspiegel); (b) durch Kombination von Eigenschaft und Eigenschafts-träger, die einander ausschließen , junger Greis", „alter Säugling", „König ohne Land"
(c) Tropen sind Worte bzw. Wendungen, die in einem übertragenen Sinn gebraucht werden; sie visualisieren das Mitgeteilte durch Verbindung bzw. Ersetzung mit sinnlich wahrnehmbaren Äquivalenten und produzieren semantische Unterschiede zwischen Gesagtem und Gemeintem Grenzverschiebungs-Tropen = Worte und Wendungen, bei denen eine sachliche Beziehung zwischen dem Gesagten und Gemeinten, zwischen Wort und Sache besteht Antonomasie Umschreibung eines Eigennamens durch besondere Kennzeichen, (griech. antonomazein Dient zur Variation eines öfter vorkommenden Namens oder als „anders benennen") verhüllende Anspielung. Varianten sind: (a) Patronymikon (Benennung nach Vatersnamen): „der Atride" = Agamemnon, Sohn des Atreus; (b) Ethnikon (nach der Volkszugehörigkeit): „der Korse" = Napoleon; (c) Umschreibung durch besonderes Charakteristikum: „der Erlöser" = Jesus; (d) mehrgliedrige Umschreibung ( Periphrase): „Vater der Götter und Menschen" = Zeus. In der Umkehrung die Ersetzung einer Gattungsbezeichnung durch Eigennamen eines typischen Vertreters z.B. Eva für Frau, Judas für Verräter, Casanova fur Frauenheld
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Hyperbel (griech. „über das Ziel hinaus werfen") Litotes (griech. litotes „Schlichtheit") Metonymie (griech. metonomazein „umbenennen") Periphrase (griech. periprasis „Umschreibung", lat. circumlocutio) Synekdoche (griech. synekdoxn „Mitverstehen")
Ornatus (griech. epitheton ornans „schmückendes Beiwort")
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Übertreibender Vergleich: „himmelhochragende Felsen" bzw. Untertreibung: „der große Teich" für Atlantik Bewirkung von Nachdruck durch Anwendung eines scheinbar schwächeren Ausdrucks: „nicht wenig" = „viel"; „nicht gut" = „schlecht"; „nicht unbekannt" = „sehr bekannt", „berühmt" Ersetzung des eigentlich gemeinten Wortes (verbum proprium) durch ein anderes, das in einer logischen oder sachlichen Beziehung zu ihm steht: „Ich lese Goethe". Ein Sonderfall ist die Synekdoche, s.u. Oft mehrgliedrige Umschreibung einer Person, einer Sache oder eines Begriffs durch kennzeichnende Tätigkeiten, Eigenschaften oder Wirkungen, z.B. ,jenes höhere Wesen, das wir verehren" für Gott, „Freund Hein" fur Tod Sonderfall der Metonymie, bei der ein eigentlicher Begriff durch einen zu seinem Bedeutungsfeld gehörenden Begriff ersetzt wird. So steht Teil für Ganzes (pars pro toto: „Dach" für „Haus") oder seltener das Ganze für den Teil (totum pro parte: „ein Haus führen"), die Art für die Gattung („Brot" für „Nahrung") und umgekehrt der Rohstoff für das daraus verfertigte Produkt („Eisen" für „Schwert"), der Singular für den Plural („der Deutsche" für „das deutsche Volk") Redefigur, die dem bezeichneten Gegenstand Eigentümlichkeit verleiht: durch Typisierung („rotes Gold", „grüner Wald") oder Individualisierung („Silberner Mond" bei Klopstock; „Goldener Mond" in der Romantik; „Blutiger Mond" im Expressionismus)
(d) Sprung-Tropen sine Bildbereiche überspringt Allegorie (griech. allegoria „bildlicher Ausdruck", zu allegorein „anders, bildlich reden")
Tropen, bei denen der gemeinte Wortsinn in andere Vorstellungs- oder
Ironie (lat. ironia „Verstellung", griech. eironeia „erheuchelte Unwissenheit") Metapher (griech. metaphora „das Weg- und Anderswohin-Tragen") Personifikation
Ausdruck einer Sache durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort: „Er ist ein Adonis" als Aussage über einen hässlichen Menschen; „Schöne Bescherung" als Kommentar zu einem Unglück
Vergleich
Bildhafte Einkleidung eines Gedankens in einem Textzusammenhang in solcher Weise, dass auch in Einzelheiten das eigentlich Gemeinte zu erkennen ist: Schifffahrt als Bild der Lebensführung; „vier graue Weiber" für „Mangel", „Schuld", „Sorge", „Not" in Goethes FAUST II
Ersetzung des „eigentlichen" Wortes (verbum proprium) durch einen Ausdruck aus einem ihm logisch nicht zugehörigen Bereich, wobei die Übertragung auf der Basis von Ähnlichkeiten möglich wird: „der Löwe Achill"; „steinernes Herz"; „Lebensfahrt" Metaphorische Verleihung von menschlichen Eigenschaften an unbelebte bzw. nicht-menschliche Gegenstände und Vorgänge: „Gevatter Tod"; „Frau Sonne" Verdeutlicht einen Ausdruck durch Bildung einer Analogie, bei der ein Vergleichsbezirk neben den bezeichneten Gegenstand gestellt wird: „Haare wie Gold" (wird durch Verkürzung zu „das Gold ihres Kopfes" zur Metapher)
Schon die Herkunft der Begriffe und die aufgeführten Beispiele machen deutlich, dass Literarizität bzw. Poetizität kein exklusives Merkmal von Texten ist, die wir aufgrund ihrer Erscheinungsformen und ihrer gesellschaftlichen Einschätzung als „Literatur" bezeichnen. Poetizität ist in Wendungen der Alltags-
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spräche, in Schlagzeilen, Sprichwörtern und Werbeslogans anzutreffen - doch ebenso in wissenschaftlichen und philosophischen Texten. Dieser Umstand lässt vermuten, dass die aufgelisteten Mittel einer effektvollen Rede- bzw. Textgestaltung nicht durch ein bestimmtes Einsatzgebiet verbunden sind, sondern durch gemeinsame Funktionsprinzipien, die auch für die Qualitäten von Literatur als einer Schreibweise von (hypothetischem) Wissen bedeutsam werden sollen und deshalb knapp zu erläutern sind. Grundlage der hier aufgelisteten Klangfiguren, Wortfiguren und Tropen aus dem Arsenal der Rhetorik ist ein Prinzip, das als konstitutiv fur die poetische Funktion von Sprache angesehen werden kann und eine kaum zu überschätzende Rolle bei der Erzeungung von Texten aller Art spielt: das Prinzip der Abweichung. Als Verletzung von sprachlichen Regeln und Normen, die von kompetenten Sprechern als ungrammatisch oder unakzeptabel eingeschätzt werden, erfahren Abweichungen gewöhnlich schlechte Beurteilungen; sie werden als „Fehler" negativ sanktioniert. Anders ist es bei programmierten Abweichungen, die sich in alltagssprachlichen Redewendungen, literarischen Werken und wissenschaftlichen Texten finden und auf einem sprachlichen Regelwissen als einer zentralen (wenn auch zumeist implizit verwendeten) Regelgröße beruhen: Auch Metaphern, Metonymien und Oxymora werden als Verstöße gegen semantische Verknüpfungsregeln oder Gesetze der Logik wahrgenommen, aber nicht negativ sanktioniert, sondern als ästhetisch bzw. epistemisch wertvoll geschätzt. Um diese positiv bewertete Abweichung deutlicher bestimmen zu können, muss der Begriff des „Verstoßes" gegen Normen und Regeln präzisiert werden. Ein „Verstoß" ist im hier gebrauchten Sinne nicht nur eine Verletzung geltender Konventionen der Sprachverwendung, sondern eine signifikante Veränderung durchschnittlicher Muster. Wie Beispiele fur erfolgreiche Metaphern (etwa die vom römischen Komödiendichters Plautus stammende und durch den englischen Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes in seinem Werk VOM BÜRGER aktualisierte Bestimmung des Menschen als des Menschen Wolf [„Homo homini lupus"] oder Immanuel Kants sprachliches Bild vom „Gerichtshof der Vernunft"), aber auch Alliteration („Fischers Fritze fischte frische Fische") und Silbenreim („Der Advokat aß grad Salat, als ihm ein Schrat die Saat zertrat") zeigen, lenken grammatisch wohlgeformte Äußerungen die Aufmerksamkeit auf die besondere Gestaltung der Nachricht, wenn in ihnen semantische Normalität oder die durchschnittliche Häufigkeit von Phonemkombinationen durchbrochen ist. Das erhöhte Auftreten von besonders bildhaften oder gleichen Elementen in sprachlichen Aussagen führt zu einer Ordnung, die von der Ordnung einer Normal- oder Umgangssprache abweicht: Denn gewöhnlich kommunizieren wir eher selten in Wortfolgen mit gleichlautendem Anfangslauten oder mit besonders starken Metaphern. Ähnlichkeit bzw. Gleichheit von mindestens zwei Größen in einer sprachlichen Äußerung nennen wir Äquivalenz·, den besonderen Bedeutungs-
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aufbau durch vermehrten Einsatz gleicher oder ähnlicher Elemente (phonologischer, metrischer, lexikalischer, syntaktischer oder semantischer Art) leistet das Äquivalenzprinzip, das zugleich als grundlegend für die poetische Sprachverwendung angesehen werden kann. Denn das Äquivalenzprinzip behauptet nichts anderes, als das Texte durch wiederkehrenden Einsatz von ähnlichen bzw. gleichen Elementen neue (und komplexere) Bedeutung aufbauen können als Äußerungen der Normalsprache. Was etwa die Zeilen „Liebe will ich liebend loben,/ Jede Form, sie kommt von oben"25 sagen, kann die Normalsprache nur ungenau und mit einer Vielzahl von Umschreibungen leisten. Die bewusst produzierte Abweichung von der Alltagssprache wird Verfremdung genannt: womit ein Begriff verwendet wird, den der russische Literaturwissenschaftler Viktor Sklovskij in seinem 1917 erschienenen Aufsatz HCKycCTBO, KAK ΠΡΗΕΜ (Die K u n s t a l s V e r f a h r e n ) prägte. K o n s t i t u t i v f ü r
die sowohl in alltagssprachlichen wie in wissenschaftlichen und literarischen Texten anzutreffende Verfremdung ist das Prinzip, gewohnte Sehweisen in Frage zu stellen und dazu gegen Konventionen zu verstoßen. Indem ein Text in versförmiger Anordnung typographische Regeln verletzt, Inversionen die Syntax des Satzes in Frage stellen oder Montagen die Syntax des Textes verderben, wird unsere Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Veränderung eingeübter Wahrnehmungsmuster gelenkt. Noch offenkundiger wird die Wirkung von Verfremdungseffekten bei Ironie: Der Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten - wie ihn schon der platonische Sokrates vorführt - unterläuft die pragmatische Konversationsmaxime, wahrhaftig zu sein, macht aber durch bestimmte Signale den gemeinten Sinn erkennbar. Das Prinzip der Verfremdung fundiert auch metaphorische Aussagen wie „Der Mensch ist des Menschen W o l f und Darstellungen fiktionaler Welten, wie sie etwa durch den ersten Satz von Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung eröffnet werden: „Als Gregor Samsa eines morgens aus unruhigen Träumen erwachte fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Wir erkennen und verarbeiten den Verstoß gegen semantische Verknüpfungsregeln wie in der Metapher oder den Bruch mit der alltagsweltlichen Verpflichtung auf wahrheitsgetreue Aussagen, in dem wir eine mehrgliedrige Schrittfolge des Verstehens abarbeiten. Lesen wir etwa den Satz „Der Mensch ist des Menschen Wolf', dann fuhrt ein erstes, wörtliches Verständnis vor dem Hintergrund unseres Weltwissen zu einem Dilemma: Ein Mensch ist kein Tier, als homo sapiens kann er kein Wolf sein. In einem darauf folgenden zweiten Schritt versuchen wir, diese Unvereinbarkeit zu schlichten - indem wir eine nichtwörtliche Bedeutung der Aussage annehmen. Diese neue, nichtwörtliche Bedeutung gründet auf ähnlichen und darum vergleichbaren Be-
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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 9: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. Hrsg. von Christoph Siegrist. München 1987, S. 12.
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standteilen der als inkonsistent empfundenen Komponenten - und lässt uns den Menschen als ein Lebewesen erkennen, das seinen Mitmenschen feindselig, misstrauisch und aggressiv gegenübersteht. So kann Verfremdung als ein konstitutives Moment von Poetizität bestimmt werden, das auf der bewusst produzierten und bewusst wahrgenommenen Abweichung einer Äußerung bzw. eines Textes von der automatisierten Folie des gewöhnlichen Sprachgebrauchs bzw. pragmatischen Weltwissens beruht und nicht zu unterschätzende epistemische Funktionen übernimmt. Die Verarbeitung dieser verfremdeten Strukturen beruht auf einer mehrgliedrigen Schrittfolge, in deren Verlauf automatisierte Folie und abweichendes Novum miteinander verglichen und in ihrer Differenz erkannt werden. - Die Erkenntnisleistungen metaphorischer Rede und des ihr zugrundeliegenden analogischen Schlußprinzips hat schon Aristoteles reflektiert. Seine RHETORIK lobt Metaphern für ihr Erfassen von „Ähnlichem in weit auseinanderliegenden Dingen" sowie als Mittel zur Überzeugung durch Veranschaulichung, Vergegenwärtigung und Verlebendigung (RHETORIK 1410a-1412b). Die POETIK behandelt sie als wichtigstes ästhetisches Prinzip zur Gestaltung der dichterischen Rede (POETIK 1457b-1459b). Zugleich schließt der Schüler Piatons die Metapher wegen ihrer Undeutlichkeit und Doppeldeutigkeit aus der Logik als der apodiktischen Erkenntnis des Unveränderlichen und Notwendigen aus - mit noch zu thematisierenden Konsequenzen. Kurz zu erwähnen sind an dieser Stelle jedoch die Verbindungslinien zur Topik als dem Programm einer umfassenden argumentativen Gegenstandskonstitution. Wenn Rhetorik die methodische Anleitung fur die von „allen Menschen" gepflegte Praxis bereitstellen soll, „ein Argument einerseits zu hinterfragen, andererseits zu begründen, einerseits zu verteidigen, andererseits zu erschüttern" (RHETORIK, 1354a), um so „durch Rede und Gegenrede zu einer möglichst sachgerechten Lösung der je anstehenden Probleme zu gelangen",26 benötigt man neben einem Katalog von Gemeinplätzen und heuristischen Aspekten eine spezifisch topische Logik, dessen Schlußprinzip im Einleitungsteil der aristotelischen RHETORIK vorgestellt wird - das Enthymem. Vom Syllogismus als dem Prinzip der logischen Argumentation unterscheidet sich das Enthymem durch seine Unvollständigkeit und die Wahrscheinlichkeit seiner Folgerung, weshalb es auch als „Wahrscheinlichkeitsschluss" bezeichnet wird. ,,[G]efolgert aus wenigen und oft spärlicheren Prämissen als diejenigen des ersten Schlusses" setzt das Enthymem die kognitive Mitarbeit des Hörers bzw. Lesers voraus und in Bewegung: „denn wenn etwas bekannt ist, muß man es nicht nennen, der Zuhörer fügt es doch von selbst hinzu" (RHETORIK, 1357a 16ff). Zwei Umstände wirken dabei entscheidend auf das Gelingen der rheto-
26
Manfred Fuhrmann: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983, S. 11.
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rischen Argumentation: Zum einen die herangezogenen Topoi, die als vorhandene, dem Redner und dem Rezipienten gemeinsame loci communis die Abkürzung der Argumentation und die Erlangung wahrscheinlicher Erkenntnis ermöglichen; zum anderen die figurative Gestaltung der Rede, um die Evidenz der impliziten Prämisse hervorzuheben und zu verdeutlichen. Als „Enthymem in nuce" kommt der Metapher dabei besondere Bedeutung zu: Sie verbindet zwei eigentlich getrennte Dinge und geht damit stillschweigend von der Prämisse aus, dass diese Dinge bzw. ihr Verhältnis in einem bestimmten Aspekt ähnlich seien. Die dabei angewandte Ähnlichkeitsregel, abgeleitet aus einer topischen Ordnung der Dinge und der Geltung von Allgemeinplätzen, begründet die unmittelbare Evidenz gelungener Metaphern und setzt mit der Entfaltung des verborgenen Syllogismus im Zuge einer gelingenden Interpretation zugleich kognitive Befriedigung frei - die Wirkung philosophischer Rätsel wie guter Witze zehrt von dieser Eigenschaft metaphorischer Rede. 27 (Noch ein Wort zum Prinzip der Abweichung, das eine Grundfunktion poietisch-hervorbringender Sprachverwendung und also eine gemeinsame Basis von Literatur und Wissen bildet. Wie andere sprachliche Regeln können auch Abweichungen zur Norm werden und sich zu Traditionen verfestigen. Wissensformationen wie literarische Äußerungen einer Zeit mit einer bestimmten Art der Sprachverwendung und Motivik avancieren dann zu einer automatisierten Folie, vor deren Hintergrund sich ihrerseits neue Formen von Abweichung beobachten lassen. Ein historisches Beispiel ist die Romantik, die sich als kulturelle Bewegung in Deutschland seit etwa 1795 entwickelt und gegen die Buchgelehrsamkeit einer formalisierten Aufklärung ebenso opponiert wie gegen didaktische Zweckbestimmungen literarischer Texte und ihre strenge Einteilung in fixierte Gattungen. Ergebnis sind neue literarische Formate und Textverfahren, die Darstellungen des Wunderbaren in einer Mixtur unterschiedlicher Gattungen und Wissenselemente verbinden. Der Einsatz epischer, lyrischer und dramatischer Elementen in einem Text bei expliziter oder impliziter Bezugnahme auf Ideen und Ideale eines neuen, synthetisierenden Wissens markiert gegenüber bisherigen Schreibweisen und Textverfahren eine Abweichung, die als Innovation wahrgenommen wird - bis diese ihrerseits eine Tradition ausprägt und von neuen Formen und Inhalten überholt werden kann.)
27
Vgl. Aristoteles: Rhetorik 1412a 24f.: „Aus demselben Grund ist, was trefflich in Form eines Rätsels gesagt ist, vergnüglich, denn es bedeutet einen Wissensgewinn und ist in einer Metapher formuliert." Auf die in der „Erfindungskunst" im 18. Jahrhundert kulminierende Verknüpfung von Ähnlichkeit und konstruktivem Witz kann nur hingewiesen werden; so formuliert etwa Novalis im Allgemeinen Brouillon 1798/99: „Der Witz ist schöpferisch - er macht Ähnlichkeiten." (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel, 3 Bde., München, Wien 1978. Bd. II, S. 649, Hervorhebung im Original.)
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2.1.4 Verstehen und Interpretieren Die Regelsysteme der Rhetorik stellen mehr dar als nur Instruktionen zur Abfassung überzeugender Reden. Sie können als Modelle der Textproduktion und der Textanalyse sowie als Paradigmen der sprachlich-kulturellen Sozialisation überhaupt verstanden werden - und gewinnen damit geradezu fundamentale Bedeutung fur jede Reflexion der mehrfach dimensionierten Verhältnisse von epistemischen Dingen zu den Formen und Formaten, in denen sie erscheinen und unter denen literarische Gestaltungsweisen eine besondere Rolle spielen. Für eine Rekonstruktion der Relationen zwischen Wissensansprüchen und Literatur ist es deshalb unabdingbar, die stets historisch konkreten Auffassungen und Lehrsysteme einer zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelten Rhetorik zu rekonstruieren. Wenn wir etwa verstehen wollen, wie und warum sich im 17. Jahrhundert gelehrte Theorie und höfisch-politische Praxis im Zusammenhang mit Klugheitslehren und barockem Roman entwickeln, sind die sozialen Regulative zu studieren, die die Normen des sprachlichen Verhaltens in umfassende Verhaltenslehren integrieren und dabei „Inneres" und „Äußeres", aptum und decorum in eine oftmals diffizile Balance zu bringen suchen. Und wenn zu ermitteln ist, wie im beginnenden 18. Jahrhundert aufklärerischer Rationalismus und rhetorisches Stilideal zu einem neuen rhetorischen Klassizismus konvergieren, dann ist die cartesianische Forderung nach einer klaren Sprache (clare et distincte) ebenso heranzuziehen wie die „SchwulstKritik" an einer angeblichen Verselbständigung sprachlicher Mittel in der spätbarocken Rhetorik und im sog. Manierismus. Um es zusammenfassend zu sagen: Rhetorische Doktrinen von Rede- und Texteffekten gewinnen ihre Wirkungsmacht aus dem in ihnen akkumulierten Wissen und den darauf basierenden Regulativen zum Umgang mit konkreten kommunikativen Bedürfnissen. Die in je besonderen historischen Konstellationen geschaffenen Systeme der Rhetorik stellen Normen für diskursive Auseinandersetzungen bereit. Sie dienen dem Erreichen von Zielen in sozialen Regelkreisen. Und sie sind für die Bildung des Adels wie der Bürger unverzichtbar. - Diese Funktionen aber wandeln sich: Während mit neuen Formen und Ideen des Politischen sowie veränderten Wissensstrukturen die institutionalisierte Beredsamkeit an Geltung verliert und die bis in die Neuzeit verbindliche rhetorische „Grundausbildung" im Rahmen des Triviums allmählich aus dem universitären Curriculum schwindet, wandern Bestände des rhetorischen Wissens in andere Diskurse und wissenschaftliche Disziplinen ein - so in die entstehende Anthropologie und Psychologie, in die Sprachphilosophie und in die Hermeneutik. Ein Teil ihrer Fragen wird in der im 18. Jahrhundert aufblühenden „Geschmacks"-Diskussion bearbeitet (in deren Zusammenhang die Kategorie des iudicium besondere Beachtung gewinnt); akzentuiert wird in der Aufklärung zugleich die Gesprächsrhetorik, die Vorläufer in der höfischen
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Konversationslehre hat und die dialogischen Komponenten der Rede betont. Ein weiteres nicht unwichtiges Refugium rhetorischer Reflexionen sind die aus dem Mittelalter stammenden Spezialdisziplinen zur Abfassung von Korrespondenzen („Brieflehre" bzw. „Briefsteller") sowie die Predigtrhetorik (Homiletik). Im 20. Jahrhundert finden sich schließlich neben historischen Rekonstruktionen der klassischen Rhetorik diverse Versuche zu ihrer Reformulierung im Zeichen von Strukturalismus, Kommunikationstheorie und Argumentationslehre. Im Rahmen der Vorstellung von integrativen Modellen soll auf diese Ansätze einer „neuen Rhetorik" ebenso näher eingegangen werden wie auf die erwähnte Relevanz tropologischer Reflexionen für die moderne Wissenschaftsforschung. An dieser Stelle aber ist ein Hinweis aufzunehmen, der im Zusammenhang mit den Transformationen der Rhetorik seit der Frühen Neuzeit fiel und den Aufstieg einer anderen zentralen Umgangsform mit Texten betrifft. Während nämlich die Rhetorik als Regelsystem der Textproduktion an Bedeutung verliert, macht die gleichfalls bis in die Antike zurück reichende Hermeneutik als Auslegungs- und Verstehenslehre eine nicht unbeachtliche Karriere. Der vom griechischen Verb hermeneiiein - „aussagen, verkünden, dolmetschen, erklären, auslegen" - abgeleitete und mit dem Namen des Götterboten Hermes verbundene Begriff wird als titelgebende Kategorie erstmals in Johann Conrad Dannhauers 1 6 5 4 veröffentlichter HERMENEUTICA SACRA verwendet; die damit umschriebenen Umgangsformen mit komplexen sprachlichen Äußerungen aber sind wesentlich älter. Wie erwähnt, entstehen Überlegungen zum „richtigen" Verstehen bereits im antiken Griechenland, als Bestandteile der Epen Homers für nachfolgende Generationen unklar bzw. unverständlich werden. Eine Ursache dafür ist die Struktur der literarischen Kommunikation, die sich von alltagssprachlicher Kommunikation unterscheidet: Der Autor als Produzent eines Textes, der mit gattungsspezifisch gestalteten Äußerungen und Kontaktmedien wie dem Rhapsoden oder der Papyrusrolle (später dem Buch und heute mit Audio-CD oder Podcast) seinen Hörer bzw. Leser erreicht, ist von seinem Empfänger in der Regel zeitlich und räumlich getrennt; unmittelbares Nachfragen ist ebenso wie direktes Antworten zumeist unmöglich. Diese Trennung zwischen dem Autor eines Textes und seiner Rezeption durch (spätere) Leser ist eine Quelle für die seit der Antike beobachtbaren Anstrengungen, die Bedeutung eines Textes trotz historischer bzw. kultureller Differenzen zwischen Entstehungs- und Wahrnehmungszeit zu ermitteln; die Hermeneutik als systematische Theorie des Verstehens und Interpretierens von Texten fand und findet hier ihr Aufgabengebiet. Das Feld dieses Reflexionswissens ist weitreichend. Und die vielfaltigen Stationen in der Entwicklung der Hermeneutik - die von Einsätzen in der Antike über mittelalterliche Allegoresen mit der Lehre vom vierfachen Schriftsinn bis zu philosophischen Auslegungen der menschlichen Existenz im 20. Jahr-
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hundert reichen - können an dieser Stelle nicht einmal in Ansätzen nachgezeichnet werden. Umso wichtiger ist es, die wesentlichen Einsichten einer auf das Verstehen und Interpretieren von Texten konzentrierten Hermeneutik zu konturieren, die einen kaum zu überschätzenden Beitrag für die Modellierung der Verhältnisse von Literatur und Wissen leisten. Zuvor ist auf einen Umstand hinzuweisen, der gleichfalls für die bereits erfolgten Darstellungen von Poetik und Rhetorik gilt: Der im Singular verwendete Begriff „Hermeneutik" dient im Folgenden zur zusammenfassenden Benennung von Textumgangsformen, die sich in unterschiedlichen und jeweils historisch konkretisierten Ausprägungen realisiert haben bzw. noch immer realisieren. Eigentlich müsste man also von „Hermeneutiken" sprechen und die in diesen Auslegungslehren jeweils realisierten Bedeutungs- und Interpretationskonzepte differenziert behandeln - was hier aus arbeitsökonomischen und didaktischen Gründen aber leider nicht möglich ist. Die Relevanz hermeneutischer Überlegungen für die Beschreibung, Deutung und Erklärung der Relationen von Erkenntnisformen und Literatur wird klarer, wenn man sich den Gegenstandsbereich von Verstehens- und Interpretationslehren vergegenwärtigt. Denn die Tätigkeiten des Verstehens und Interpretierens können sich auf unterschiedliche Artefakte, also auf von Menschen bewusst produzierte Entitäten beziehen: Ein Gesetzestext ist genauso Gegenstand einer Interpretation wie die Heilige Schrift oder ein Gedicht. Alle diese Objekte stellen sprachliche Zeichensysteme dar, denen Bedeutungen zugeschrieben werden. (Dass auch nicht bewusst hervorgebrachte Zeichen wie körperliche Symptome oder Fingerabdrücke zu „lesen" und zu „interpretieren" sind, ist nur zu erwähnen - medizinische Diagnostik und Kriminalistik haben dafür methodische Schrittfolgen der Bedeutungszuweisung entwickelt.) Die unterschiedlichen Bezüge des Interpretationsbegriffs weisen gleichwohl eine Gemeinsamkeit auf: Sowohl die Deutung von natürlichen Zeichen als auch die Auslegung von sprachlichen Zeichenkomplexen werden als Aussagen realisiert, die mitteilen, wie etwas verstanden wurde. Interpretieren heißt also erst einmal, etwas zu verstehen und dieses Verstandene zu formulieren. Wird ein Verständnis in der Form von Deutungshypothesen fixiert, erfordert die Bestätigung dieser hypothetischen Aussagen zusätzliche Argumente und Erklärungen - insbesondere dann, wenn sich die interpretativen Aussagen an weitere Teilnehmer eines kommunikativen Zusammenhangs richten. Berücksichtigt man diese Adressierung, lässt sich das Interpretieren als methodisch reflektiertes Verstehen von Zeichen beschreiben, in dem Bedeutungszuweisungen so artikuliert, plausibilisiert und kommuniziert werden, dass sie intersubjektive Nachvollziehbarkeit beanspruchen können. Was ergibt sich aus dieser allgemeinen Bestimmung für die Auslegung von Texten und für den Umgang mit dem Wissen von bzw. in ihnen? Zuerst einmal die Einsicht in die untrennbare Zusammengehörigkeit der Tätigkeiten
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Lesen, Verstehen und Interpretieren, die sprachliche Zeichen identifizieren und im komplexen Prozess der Semiose mit Bedeutungen versehen. Diese aktiven Prozesse kennzeichnen den Umgang mit allen Textsorten: Wollen wir Immanuel Kants Aufsatz W A S HEISST SICH IM DENKEN ZU ORIENTIEREN? von 1786 oder Friedrich Schillers im gleichen Jahr begonnenen Fortsetzungsroman D E R GEISTERSEHER interpretieren, so müssen diese Texte zuerst einmal in ihrer Ganzheit gelesen und verstanden werden. Was aber heißt „verstehen"? Folgt man dem Theologen und Platon-Übersetzer Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), der wesentliche Anregungen für eine Modernisierung der Hermeneutik gab, so besteht das Verstehen im „Nachconstruieren der gegebenen Rede". 28 Diese Formel hat gewichtige Konsequenzen. Sie benennt zum einen die Ausgangssituation: Als rekonstruktive Tätigkeit folgt das Verstehen einer vorgegebenen Rede zeitlich nach; die Differenz zwischen Entstehung und Rezeption eines Textes - und die damit verbundene Unmöglichkeit einer unmittelbaren Nachfrage bei auftretenden Verständniskrisen machen intellektuelle Anstrengungen notwendig. Sie besagt zum anderen, dass der Leser im Akt des Verstehens den abwesenden Autor vertritt, in dem er dessen Rede nach-vollzieht. Und sie verweist zum dritten auf ein zentrales Problem des Verstehens, das darin besteht, dass der primäre Gegenstand des Verstehens der Text selbst ist; Einsichten in die soziale Lage des Autors oder seine Probleme mit Frauen sind nicht das Ziel, sondern (wenn überhaupt) Mittel eines angemessenen Verständnisses. Der an der Berliner Universität lehrende Schleiermacher hat deshalb eine Verstehenslehre aufgestellt, die von der „grammatischen Interpretation" als der Rekonstuktion vom Sprachsystem des Textes her zur „psychologischen" bzw. „technischen Interpretation" als dem Nachvollzug der individuellen Äußerung fuhrt. 29 Die „Divination" bildet dann den letzten und ungesicherten „Sprung" zu einem vollständigen Verständnis, bei dem Sprache (als das relativ Allgemeine) in Denken bzw. das Denken (als individueller Sinn) in Sprache aufgelöst wird. Interpretieren von Texten heißt also letztlich nicht mehr - aber auch nicht weniger (!) - als sprachliche Zeichenkomplexe in ihrer Ganzheit zu verstehen und dieses Verständnis zu formulieren sowie nachvollziehbar zu begründen. Die Schrittfolgen dieses Prozesses, in dessen Verlauf Texte als Träger von Bedeutungen erfasst und verarbeitet werden, lassen sich stark vereinfacht so zusammenfassen: 28 29
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften hrsg. und eingeleitet von Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959, S. 87. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/M. 1977, S. 171: „Grammatisch. Der Mensch mit seiner Tätigkeit verschwindet und erscheint nur als Organ der Sprache. Technisch. Die Sprache mit ihrer bestimmenden Kraft verschwindet und erscheint nur als Organ des Menschen, im Dienst seiner Individualität, so wie dort die Persönlichkeit im Dienst der Sprache."
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(1)
2. Zugänge
Durch Beschreibung der Sprechsituation des Textes wird festgestellt, wer mit w e m worüber spricht.
(2)
Die Paraphrasierung überträgt die Sätze des Textes in Sprechhandlungen „unserer" Sprache.
(3)
Unverständliche Begriffe und Wendungen werden geklärt und in verständliche Begriffe und Wendungen übersetzt.
(4) (5)
Auf Basis strukturierender Oppositionen des Textes wird ein Thema formuliert. Das als Satz entfaltete Thema ermöglicht die Aufstellung einer Bedeutungshypothese und antwortet auf die Frage „Warum und wozu ist dieser Text da?"
(6)
Durch Rückgriff auf intra- und extratextuellen Kontextelemente wird die Sinnbzw. Bedeutungshypothese argumentativ bekräftigt.
Indem wir diese Schritte vollziehen und Aussagen über einen Text bzw. Textausschnitt produzieren, die über den Wortlaut des Gesagten hinausgehen, formulieren wir unser Verständnis. Die eigentliche Interpretation - also die Darstellung eines Verstehens, für das eine bestimmte Geltung und damit intersubjektive Nachvollziehbarkeit beanprucht wird - beginnt mit der satzförmigen Entfaltung des Themas und der Aufstellung einer Bedeutungshypothese. Ihre Überzeugungskraft ist umso größer, je genauer Texteigenschaften beobachtet und reflektiert mit Kontextelementen verknüpft werden. - Als mehr oder weniger verbindliche Regeln für das Verstehen und Intepretieren von literarischen Texten lassen sich folgende Imperative formulieren: (a) Interpretation zielt auf ein Verstehen von Texten in ihrer Ganzheit; dieses Verstehen des Ganzen aber ist abhängig vom Verständnis des Details. Die Bewegung zwischen Textausschnitt und Textganzem ist nicht linear, sondern beschreibt eine Kreisbewegung: Erst im Verständnis der Einzelteile erschließt sich der ganze Sinn eines Textes; kennen wir den gesamten Text, lassen sich seine Elemente und Details besser und genauer verstehen. Diese Struktur des Verstehens bezeichnet man als hermeneutischen Zirkel - und meint mit diesem traditionsreichen Begriff nichts anderes, als das das Einzelne aus dem Ganzen ebenso zu verstehen ist, wie das Ganze aus dem Einzelnen.30 - Als eine erste wichtige Konsequenz ergibt sich die Forderung nach Aufmerksamkeit für Teil und Ganzes: Ebenso genau wie der gesamte Text ist jedes seiner Elemente zu beobachten. Denn alle Eigenschaften eines Textes - von abweichender Kleinoder Großschreibung bis zu den Namen handelnder Figuren - können als Bedeutungsträger aufgefasst und ausgewertet werden.
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So formuliert es Wilhelm Dilthey in seiner Schrift DIE ENTSTEHUNG DER HERMENEUTIK (1900) in ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Bernhard Groethuysen u. a. Bd. V. Leipzig, Berlin 1924, S. 317-338, hier S. 330: „Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze des Werkes verstanden werden und doch setzt das volle Verständnis des einzelnen schon das des Ganzen voraus.". Diesen Vorgang können wir bei eigener Lektüre beobachten: Bei erneutem Lesen eines Textes fallen weitere Bedeutungen von Einzelstellen auf; der Text „sagt" mehr als bei seiner ersten Wahrnehmung.
2.1 Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. Einsätze seit der Antike
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(b) Deutungshypothesen haben sich primär auf das Verständnis von Texten im Ganzen oder Textdetails zu beziehen und nicht auf die Psyche des Autors, seine soziale Herkunft etc. Als Aussagen über einen Textzusammenhang bzw. spezielle Elemente sind sie zu formulieren, nachdem eine Klärung der Sprechsituation, die paraphrasierende „Übersetzung" und die Klärung unverständlicher Termini erfolgt ist. Als hilfreich erweist sich die Ermittlung von strukturierenden Binäroppositionen. (c) Auf der Basis von Deutungshypothesen und Argumenten zur Bekräftigung bzw. Plausibilisierung dieser Hypothesen erfolgt die Interpretation. Sie tritt als Behauptung über Sinn bzw. Bedeutung eines Textes mit einem bestimmten Geltungsanspruch auf und verknüpft Text- mit Kontextelementen. Der Verbindung von Text- und Kontextelementen sind keine intrinsischen Grenzen gesetzt. Das heißt: Es gibt keine natürlichen Rahmenbedingungen, welche die Konnexionspotentiale im Vorgang der Bedeutungszuweisung limitieren könnten; ein Text bzw. jedes einzelne Textelement lässt sich mit allem verbinden, was dem Interpreten einfallen kann. Um dennoch überzeugend zu interpretieren, ist der Kontext (extratextuell, intra- bzw. intertextuell) zu gliedern, also durch Unterscheidung von Segmenten und durch Bestimmung ihrer Beziehungen zu individualisieren. Die Differenzierung von Kontextelementen erlaubt es, bestimmte Referenzen als „primär" bzw. „naheliegend" auszuzeichnen sowie andere Kontextsegmente als „sekundär" zu charakterisieren und zu möglichst zwanglosen Erklärungen zu gelangen. (d) Interpretationen sind plausibel und überzeugend, wenn ihre Bedeutungszuweisungen und Text-Kontext-Verküpfungen ökonomisch verfahren und also fur Erklärungen von Referenzbeziehungen die nächstliegenden Quellen heranziehen; adäquat sind und also Wissen, Normen, Wertvorstellungen aus der Entstehungszeit des Textes berücksichtigen, um ungerechtfertigte Anachronismen zu vermeiden; systematisch sind und also Text- und Kontextelemente zu einem System wechselseitiger Verweise zusammenfuhren; vollständig sind, d.h. Textstellen umfassend erklären. Diese Regeln stellen allgemeine Grundsätze dar, die später noch präziser erläutert werden. Doch dokumentieren sie eine Grundüberzeugung hermeneutischer Positionen, der zufolge Bedeutungszuweisungen zwar stets durch Subjekte vorgenommen werden, doch keineswegs willkürlich oder beliebig sind. Nicht ohne Grund prägt schon Johann Martin Chladenius in seiner erstmals 1 7 4 2 in Leipzig erschienenen EINLEITUNG ZUR RICHTIGEN AUSLEGUNG VERNÜNFTIGER REDEN UND SCHRIFTEN den Begriff „Sehe-Punkt" und fixiert so die Einsicht in die Standortgebundenheit jedes Verstehens.31 Die Hermeneutik 31
Diese Einsichten leben in einflussreicher Weise fort, so bei Martin Heidegger (18891976), der in § 32 seines 1927 veröffentlichten Hauptwerkes SEIN UND ZEIT postuliert: „Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. [...] Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft als Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist
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2. Zugänge
liefert gleichfalls Kriterien, um überzeugende und weniger überzeugende Deutungen zu unterscheiden: Rationalität, Adäquatheit und Konsistenz der Argumentation sichern nicht nur einem individuellen Interpreten die Plausibilität seiner Behauptungen, sondern garantieren zugleich die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Aussagen, die Ansprüche auf ein gesichertes Wissen über einen Text geltend machen. Hermeneutisch angeleitete Interpretationen sind also Geltungsansprüche, die auf der Grundlage von Texten und eines Wissens von ihnen formuliert werden. Damit zeigt sich einmal mehr, in welchen Austausch- und Wechselbeziehungen die Erkenntnisse der Literatur zirkulieren: Im Sinne des doppelten Genetivs sind es zum einen die Einsichten, die (literarische) Texte von etwas haben (und die mit Aristoteles als hypothetische Mitteilungen eines Allgemeinen bestimmt werden können); zum anderen sind es Wissensbestände über Texte, die als regelhaft gewonnene Einsichten sowohl Ergebnis wie Voraussetzung von Handlungskompetenzen sind. - Welche lebenspraktischen Konsequenzen dieses Wissen von und über Texte haben kann, zeigen theologische und juristische Hermeneutik. Das von Martin Luther in Abgrenzung von der mittelalterlichen Allegorese entwickelte Schriftprinzip - worüber im nächsten Kapitel ausführlicher zu lesen ist - lehnt in der Konzentration auf den wörtlichen Sinn nicht nur traditionelle Vermittlungsinstanzen ab; in dem es dem Einzelnen die Aufgabe zuweist, sich den Sinn des Gotteswortes selbst anzueignen, macht es eine Methodik der Sinnsicherung notwendig und begründet die folgenreiche Trennung von katholischer und protestantischer Konfession. Richterliche Entscheidungen basieren dagegen auf der Auslegung von Gesetzen, die als allgemeine Normbestimmungen und Sanktionsregeln gegeben und auf jeweils konkrete Einzelfalle zu applizieren sind. Poetik, Rhetorik und Hermeneutik können so als historisch erste Reflexionen des Zusammenhangs von (literarischen) Texten und Wissen gelten. Sie begründen Regelkenntnisse und Reflexionsbestände, die für das Erzeugen und Verstehen von Aussagen notwendig sind. Ihre Unterscheidungen liefern eine Grundlage für die differenzierte Behandlung von Texten und Textsorten, von der wiederum Recherchen nach dem Wissen in sakralen und profanen, klassischen und modernen Schriften profitieren. Sie münden schließlich in jene Wissenschaftsdisziplin, die die Liebe zum Wort in ihren Namen einträgt und das Wissen der Literatur in besonderer Weise behandelt: die Philologie.
nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen." Zeitgleich mit ihm, doch nüchterner formuliert die Wissenssoziologie von Karl Mannheim die Standortgebundenheit jeder Reflexion. An Heidegger knüpft Hans-Georg Gadamer (1900-2002) an, d e r in s e i n e m B u c h WAHRHEIT UND METHODE. G R U N D Z Ü G E EINER PHILOSOPHISCHEN
HERMENEUTIK von 1960 „Vorurteile als Bedingungen des Verstehens" rehabilitiert und Verstehen als Bewegung zwischen „Entwurf und „Revision" definiert.
2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie
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2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie Einsatzpunkt der Textumgangsformen Poetik, Rhetorik, Hermeneutik bei der Beschäftigung mit dem Wissen von Literatur war - so zeigte das vorangehende Kapitel - das Problem einer in unterschiedlichen Bereichen ausgeprägten und folgenreich wirkenden Sprache. Die gleichfalls in der Antike entstandenen Varianten der Philologie nehmen ihren Ausgang von einer nicht minder gravierenden Schwierigkeit: dem Problem der Vervielfältigung sprachlicher und in Schrift konservierter Zeichen, die in Texten dauerhaft fixiert sind und beständige Mühen zu ihrer Bewahrung und gesicherten Weitergabe erforderlich machen. Begriff und Tätigkeit der Philologie als „Liebe zum Wort" bzw. „Liebe des Wortes" entstehen nicht grundlos im Umkreis jener Bibliothek von Alexandria, die als bedeutendste Text-Sammlung des klassischen Altertums gilt und in der sich die Sicherung der schriftlichen Überlieferung mit ihrer regelgeleiteten Erforschung und also der Erzeugung eines besonderes Wissens verbinden. Diese Bibliothek war Bestandteil des Museion, einer Forschungsstätte, die König Ptolemaios I. nach dem Vorbild der athenischen Philosophenschulen Akademie und Lykeion eingerichtet hatte. Hier wirkten im Gefolge des Demetrios von Phaleron (dem ab 285 v. Chr. tätigen Initiator und Mitgestalter der Bibliothek) bedeutende Gelehrte und Literaten, die oft zugleich als Prinzenerzieher tätig waren und als „philologoi andres", das heißt als wortliebende bzw. literaturkundige Männer bezeichnet wurden. 1 Auch wenn heute nur wenig über die praktische Bibliotheksarbeit bekannt ist, lässt sich doch mit Sicherheit sagen, dass am Museion unter idealen Bedingungen alle damals bekannten Wissensgebiete erforscht wurden: Astronomie, Botanik, Mathematik, Medizin, Physik, Zoologie. Besonderes Gewicht gewann die Philologie, deren Aufgabe darin bestand, Texte als materiale Träger des vorhandenen Wissens zu sammeln, zu sichten und systematisch zu ordnen. (Nach Alexandria gelangten diese Texte aus allen Teilen der damaligen Welt durch eine nicht gerade zimperliche Anschaffungspolitik: Die offiziellen Staatshandschriften der drei großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides sollen gegen eine Sicherheit von 15 Silbertalenten zur Abschrift aus Athen ausgeliehen, aber unter Verzicht auf die Rückgabe des Geldes nur Kopien zurückgegeben worden sein. Die im Hafen von Alexandria liegenden 1
Nachfolger des bei Ptolemaios II. in Ungnade gefallenen und verbannten Demetrios wurde der Philologe Zenodotos (tätig ca. 285-270 v. Chr.), gefolgt von dem Dichter Apollonios (tätig ca. 270-245 v. Chr.), der im Streit mit dem wohl als Direktor agierenden Kallimachos die Stadt Alexandria verließ und nach Rhodos ging. Eratosthenes aus Kyrene (tätig 245-204/201 v. Chr.) war ein vielseitiger Wissenschaftler, der sich mit Astronomie, Chronologie und Geographie befasste. Auf den Grammatiker Aristophanes aus Byzanz (tätig 204 oder 201-189/186 v. Chr.) folgte Apollonios Eidographos, von dem wenig bekannt ist. Mit dem Grammatiker Aristarchos von Samothrake (tätig ca. 175-145 v. Chr.) endet die Reihe der bedeutenden Bibliotheksleiter.
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2. Zugänge
Schiffe wurden nach interessanten Papyrus-Rollen durchsucht, die den Eigentümern abgenommen und ebenfalls nur in Form von Abschriften zurückgegeben wurden. Auf diese Weise kam eine bis dahin unvorstellbare Menge von Texten zusammen. Von einem byzantinischen Gelehrten des 12. Jahrhunderts stammt die auf älteren Quellen basierende Berechnung, die Bibliothek habe in der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts einen Bestand von 490.000 Rollen gehabt; zur Zeit Caesars soll sie bis zu 700.000 Rollen besessen haben, was einem Textvolumen von 30.000 modernen Büchern entsprechen würde.) Die hier entwickelte philologische Tätigkeit bestand zuerst einmal in der Sicherung von materialen Grundlagen für den Umgang mit Texten: Aus zahlreichen überlieferten Varianten musste durch kritischen Vergleich der Handschriften zunächst der originale Wortlaut von Texten rekonstruiert werden, um verbindliche Ausgaben, oft versehen mit wissenschaftlichen Kommentaren, zu erstellen. Resultat dieser Arbeit alexandrinischer Philologen waren seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. mehr oder weniger einheitliche Texte antiker Schriftsteller; sie stellen eine bis heute tragende Grundlage des literarischen Weltkulturerbes dar. - Doch beschränkte sich der regelgeleitete Umgang mit Texten nicht allein auf deren kritische Behandlung, für die man editionsphilologische Instrumentarien wie Transkription, Kollation, Recension und Emendation entwickelte. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in der Erfassung und Ordnung der schriftlichen Überlieferung, was sich in der Akkumulation eines besonderen Wissens vollzog: Nachdem die Neuzugänge zunächst in Magazinen gesammelt und dort bearbeitet wurden, gliederte man sie in den Bestand ein und katalogisierte sie. Herkunftsangaben wurden gemacht, um verschiedene Handschriften gleicher Texte zu unterscheiden; auch Namen von Vorbesitzern und Bearbeitern wurden für ihre Kennzeichnung genutzt. Die Bibliothek muss ein Skriptorium besessen haben und wohl auch eine Werkstatt, in der schadhafte Papyri restauriert werden konnten. Kallimachos von Kyrene (um 310-um 240 v. Chr.), bedeutendster Dichter des Hellenismus und in angesehener Stellung am alexandrinischen Hof tätig (wenn nicht gar Leiter der Bibliothek), erhielt von Ptolemaios II. den Auftrag, die Buchbestände durch einen Katalog zu erschließen. Seine 120 Buchrollen umfassenden Tafeln sind verloren gegangen, doch ist bekannt, dass sie nicht wie ein moderner Bibliothekskatalog der Auffindung der Bücher mittels eines Signatursystems dienten, sondern eine vollständige Bestandsaufnahme der griechischen Literatur darstellten: Geordnet nach Literaturgattungen waren sämtliche Autoren in alphabetischer Reihenfolge mit Kurzbiographie und Werkverzeichnis aufgeführt; Titel und Anfangsworte der Werke waren vermerkt, ebenso die Gesamtzeilenzahl.2
2
Diese als Stichometrie bezeichnete Zählung der Zeilenzahl sollte die Vollständigkeit des abgeschriebenen Textes fur Bibliothekare und Leser garantieren sowie durch bessere Vergleichbarkeit der Kopien auch Schutz vor Fälschungen bieten. Erst später dienen genaue Stellenangaben zur leichteren Bezugnahme auf andere Werke.
2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie
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Aus der Tätigkeit der in Alexandria (aber auch in Athen und Pergamon) wirkenden Gelehrten ist jene wissenschaftliche Disziplin hervorgegangen, die noch heute als Klassische Philologie an Universitäten studiert werden kann. Die Besonderheit dieser im deutschen Sprachraum auch als „Altphilologie" bezeichneten Beschäftigung mit Texten wird im Vergleich mit den sog. „neueren Philologien" deutlich: Widmen sich die nationalspezifisch differenzierten Neuphilologien im wesentlichen literarischen Texten (und tragen im deutschen Sprachraum seit dem 20. Jahrhundert den Begriff „Literaturwissenschaft"), behandelt die Klassische Philologie neben Lyrik, Epik, Dramatik und Kunstprosa auch philosophische, historiographische und sogar naturwissenschaftliche Texte.3 Sie übernimmt damit das Erbe einer seit dem europäischen Humanismus universell konzipierten Philologie, die sich im Anschluss an die bereits in der Antike unternommenen Bemühungen um Sammlung und Untersuchung der schriftsprachlichen Überlieferung formiert und neben dem Verständnis als enzyklopädische Gelehrsamkeit unterschiedliche und kontrovers diskutierte Ausprägungen erfahrt: Die philologia antica behandelt Quellen und Zeugnisse des griechisch-römischen Altertums; die philologia sacra untersucht Verfassung und Bedeutungsgehalt der Heiligen Schrift; die philologia profana erforscht Sprache und sprachlich vermittelte Kulturleistungen des Menschen überhaupt. Die in diesem Rahmen entwickelten Regularien fur den Umgang mit Texten gewinnen nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Ausbildung von Bedeutungskonzeptionen und Interpretationsmaximen. Sie können hier nicht im einzelnen detailliert entfaltet werden; doch sollen Hinweise ihre Rolle bei der Ausbildung einer reflexiven Aufmerksamkeit fur die Verbindungen von Wissen und Literatur zumindest kurz skizzieren. Die Gleichbehandlungsmaxime ermöglicht es, profane und sakrale wie antike und nationalsprachliche Überlieferungen hinsichtlich bestimmter Aspekte als ähnlich anzusehen und entsprechend zu interpretieren (auch wenn in anderer Hinsicht wiederum Unterschiede betont werden und verschiedenartige Interpretationsweisen erforderlich machen). Das im Rahmen der interpretatio grammatico-historica ausgebildete Konzept des sensus auctoris et primorum lectorum beschränkt die einem Text zuschreibbare(n) Bedeutung(en) auf Gehalte, die seinen historischen Adressaten zugänglich waren - und verpflichtet den Umgang mit Texten zum einen auf die Ermittlung adäquater Kontextelemente, zum anderen auf Strategien zur Vermeidung jener nicht gerechtfertigten Bedeutungszuweisungen, die noch heute als illegitime Anachronismen diskutiert werden. Die im Rahmen der Philologie angestellten Überlegungen münden schließlich in
3
Nicht in ihren Gegenstandsbereich fallt die Beschäftigung mit griechischen oder lateinischen Überrest-Texten, also reinen Gebrauchstexten nichtliterarischer Provenienz, die man in Papyri, Inschriften oder als Münzlegenden findet. Für diese Schriftdokumente gibt es die Wissenschaften Papyrologie, Numismatik und Epigraphik, die wiederum als Hilfswissenschaften der Alten Geschichte zugeordnet werden.
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2. Zugänge
Schleiermachers bereits zitierte Bestimmung des Verstehens als „Nachconstruieren der gegebenen Rede": Diese Formel impliziert nicht nur den Imperativ, sich in eine schriftsprachlich fixierte „Individualität" zu versetzen, was die Beobachtungsintensität in Bezug auf Texteigenschaften wie auf Text-KontextVerhältnisse nachhaltig steigert. Nachkonstruktion meint zugleich die Fähigkeit, ein analysiertes Werk reproduzieren zu können - „und zwar mit Bewusstsein und Reflexion", wie es in August Boeckhs posthum veröffentlichten, zwischen 1 8 0 9 und 1 8 6 5 gehaltenen Vorlesungen über ENCYKLOPDÄDIE UND 4 METHODOLOGIE DER PHILOLOGISCHEN WISSENSCHAFT heißt. Ergebnis wie Katalysator dieser nun zu entfaltenden Bedeutungskonzeptionen und Interpretationsmaximen ist ein Aufmerksamkeitsverhalten, von dem sowohl analytische Untersuchungen von Texten aller Art als auch Explorationen zum Wissen in und von Literatur nachhaltig profitieren. Dabei ist nicht zu vergessen, dass sich philologische Bemühungen (bis weit ins 19. Jahrhundert) auf zwei große Gegenstandsbereiche konzentrieren: zum einen auf die schriftsprachliche Überlieferung der Antike, zum anderen ein Werk, das als „Buch der Bücher" im christlich geprägten Kulturkreis eine privilegierte Position einnimmt und ohne dessen Formen und Geschichten die europäischokzidentale Literatur überhaupt nicht zu verstehen ist. In den Auseinandersetzungen um das angemessene Verständnis der griechisch-römischen Überlieferung und der Heiligen Schrift wurden jene Methoden und Prinzipien entwickelt, die der Erkenntnis neuerer Texte wie auch der Selbstreflexion dieser Umgangsweisen dienten und noch heute dienen. 2.2.1 Aufmerksamkeit, Schriftsinn, Textkritik Reichweite und Relevanz des philologischen Aufmerksamkeitsverhaltens gewinnen an Klarheit, wenn wir uns noch einmal an den Ausgangspunkt dieser professionalisierten Beschäftigung mit Texten erinnern. In den Bibliotheken von Alexandria, Athen und Pergamon sammelt man (wie in der platonischen Akademie und im Lykeion des Aristoteles) nicht nur sämtliche verfugbare Schriftwerke, sondern ordnet und untersucht sie mit allen ihrem Verständnis dienenden Mitteln. Die in der Antike entwickelten Techniken zur kritischen Behandlung der Überlieferung wie die Methoden zu ihrer Deutung und Ordnung wurden bereits genannt: Kollation, Recension und Emendation tragen zur Herstellung gesicherter Texte bei; Kommentar und Katalog erzeugen und speichern das gewonnene Wissen über sie und ihre Kontexte. Eine nicht unwichtige soziale Voraussetzung für diese Tätigkeit ist die Investition von Zeit, die den Philologen des alexandrinischen Museion in besonderer Weise gegeben
4
August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1877, S. 140.
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ist: Die ausgewählten Geiehrten dürfen bei freier Kost und Logis ihren Forschungen nachgehen, erhalten ein festes Gehalt und sind von Steuern befreit. Paradiesisch. Mit dem bereits genannten Dichter und Bibliotheksvorsteher Kallimachos tritt auch jene Einheit von Poesie und Philologie auf den Plan, von dem das Wechselspiel zwischen Literatur und Erkenntnis profitieren wird: Sein nach einer Anekdote des Catull entstandenes Gedicht über die Locke der Berenike verschränkt sachliche, vom astronomischen Wissen der Zeit getragene Angaben über den Sternenhimmel mit der phantastischen Erklärung der Entdeckung eines neuen Sternbildes, das der Leiter der örtlichen Sternwart nördlich des Großen Bären geortet hatte. Die so demonstrierte Harmonie zwischen exakter Naturbeobachtung und Dichtung - die in diesem Fall wohl auch durch den personalen Bezug der alexandrinischen Philologen zur Schule des Aristoteles bzw. seiner Nachfolger motiviert wurde - eröffnet eine Beziehungsgeschichte, die bis in die Gegenwart reicht: Zu ihr gehören der poeta doctus des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, der universal oder auch naturwissenschaftlich gebildete Dichter sowie die mit mehrfacher Begabung auftretenden Autoren, deren besondere Wirkungen auf die Formierung von Literatur als einer Wissenskultur noch nachzuzeichnen sind (vgl. 3.1.1). In einem historisch langwierigen Prozess, dessen einzelne Phasen hier nicht einmal andeutungsweise zu rekapitulieren sind, wandeln sich diese Umgangsformen mit Texten - vor allem unter dem Einfluss der als Offenbarung Gottes angesehenen Heiligen Schrift und der sich auf sie berufenden christlichen Religion. Denn das Alte Testament bedeutet (für den Gläubigen) mehr als nur eine Sammlung von Geschichten, Genealogien, Liedern und Sprüchen, die als Teil der reichen israelitisch-jüdischen Literatur im ausgehenden zweiten und im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung entstand und durch jüdische Gelehrte, den sog. Masoreten, zusammengestellt wurde. Auch die im neutestamentlichen Kanon gesammelten Berichte und Briefe, die als Auswahl der apostolischen, nachapostolischen und frühkatholischen Literatur zwischen 50 und 150 n. Chr. redaktionell zusammengeführt wurden, sind für gläubige Christen mehr als nur Darstellungen des Wirkens des Jesus von Nazareth. Die Bibel bezeugt vielmehr das Wort Gottes und damit ein Heilsgeschehen, das von Jesus als seiner Mitte her verstanden und geglaubt werden muss; sie ist nicht nur Darstellung, sondern auch Lob Gottes und Dienst für die Gemeinde. Unter Berufung auf die Heilige Schrift formulieren die sog. Kirchenväter in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit ein theologisch-philosophisches Fundament, das einen verbindlichen Bezugsrahmen für die Anschauung der Welt wie für ihre literarische Repräsentation bilden wird: Alle Erscheinungen und auch ihre Darstellungen in Texten sind Verweise auf einen allmächtigen, weisen und gütigen Schöpfergott, dessen Vorsehung den Lauf jedes Schicksals im Universum verbürgt. Ereignisse in Vergangenheit und Gegenwart stellen wie die über sie berichtenden Textbotschaften nur Attribute einer vordergründigen
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Wirklichkeit dar, die durch schrittweise Einsicht in ihren „außerweltlichen" bzw. „hinterweltlichen" Verweisungssinn zu überwinden seien. Die Suche nach einem hinter den Worten und Dingen liegenden Bedeutungsgehalt wird vor allem auf die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments angewandt: In vielfaltigen Bemühungen um ihre Auslegung (Exegese) formieren sich zahlreiche und verschiedenartige Versuche, die nach dem richtigen Verständnis des Verhältnisses von „Geist" und „Buchstabe", von gramma und pneuma suchen und deren Ausprägungen von allegorischen Deutungen des biblischen Textes bis zum evangelischen Schriftprinzip reichen. Basis dieser Anstrengungen ist die im Glauben verankerte Überzeugung, nach der die Heilige Schrift fur die christliche Gemeinde entscheidende Quelle und Norm ihrer öffentlichen Verkündigung, Erfahrung und Erkenntnis ist: Die Schrift ermöglicht Verkündigung, weckt den Glauben und begründet die Erkenntnis Gottes. Welche Bedeutung die religiös begründete Deutung und Erklärung des „Buchs der Bücher" für die Entwicklung eines besonderen Aufmerksamkeitsverhaltens gegenüber dem Wissen von und in Texten haben sollte, wird besonders in der Lehre vom „mehrfachen Schriftsinn" sichtbar, die nach ihrer Begründung durch den Apostel Paulus (GALATERBRIEF 4, 24) vor allem von dem Kirchenlehrer Orígenes (etwa 185-254) und dem Theologen Johannes Cassianus (ca. 360-430/35), entwickelt wird. Als rigoroser Anhänger und genauer Kenner der Bibel - der keine Aussage macht, ohne sie mit einem biblischen Zitat zu verbinden - sieht der in der klassischen philologischen Schule von Alexandria ausgebildete Origines sehr wohl die Unterschiede und Widersprüche zwischen Altem und Neuem Testament. Er löst dieses Problems aber nicht durch unterschiedliche Beurteilungen (wie es beispielsweise Marcions Lehre von der Minderwertigkeit des Alten Testaments tut), sondern sucht nach der tieferen Bedeutung einer Schrift, aus welcher der göttliche Logos selbst sprechen soll und die deshalb nicht buchstäblich („literal") und historisch, sondern geistlich („spirituell") zu verstehen sei. Eine rein literarisch-philologische Analyse des Textes mit genauer grammatischer Analyse stellt nur den ersten Schritt zum Gewinn seines geschichtlichen Sinnes dar. Darüber hinausgehend soll die Exegese (für geübtere Deuter) den seelischen Sinn sowie (für vollkommene Leser) den geistig-geistlichen Sinn feststellen. Diese Schrittfolge aus somatischer, psychischer und pneumatischer Exegese wird im 5. Jahrhundert durch Johannes Cassianus zur Doktrin vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut. Sie soll für das gesamte Mittelalter prägend werden und ergänzt wie in der jüdischen Tradition der Bibelauslegung die historisch-literale Exegese um einen Dreischritt, der sich am Schema Glaube Liebe - Hoffnung orientiert.
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2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie
Literalsinn
„Buchstäblicher Sinn": wörtliche, geschichtliche, biblischhistorische Auslegung
Allegorischer Sinn
Interpretation „im Glauben": dogmatische, mythologische, zeitlose Auslegung Interpretation „in Liebe": moralische Sinnebene, gegenwärtige Wirklichkeit einer Einzelseele Interpretation „in Hoffnung": endzeitliche, eschatolgische Ebene
Tropologischer Sinn Anagogischer Sinn
„Jerusalem" = Stadt in Palästina, in der sich die Sendung Davids, Jesajas und Jesu vollendet „Jerusalem" = die Kirche Christi „Jerusalem" = die menschliche Seele „Jerusalem" = das zukünftige, himmlische Reich
Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wie sie heute wieder im Katechismus der Katholischen Kirche vertreten wird, findet sich im Mittelalter in einen lateinischen Merkvers zusammengefasst: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia": Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie (d.h. die Führung in das Himmelreich). Der hinter diesem Vers stehende Zentralgedanke ist noch einmal zu betonen: Die göttliche Urheberschaft der Heiligen Schrift verleiht, im Unterschied zu rein menschlicher Autorschaft, nicht nur den Worten, sondern auch den durch sie bezeichneten Vorgängen und Konstellationen einen Bedeutungsbezug auf andere Vorgänge und Konstellationen - doch nicht im Sinne eines allgemeinen Symbolismus der Wirklichkeit, sondern im heilsökonomischen Sinne einer realen Prophetie, so dass der dreifache sensus spiritualis der dreifachen geschichtlichen Relation von Altem und Neuem Bund, von Christus und Christen, von Kirche und himmlischer Vollendung entspricht. Die Folgen so konditionierter Textumgangsformen sind nicht zu unterschätzen. Orígenes etwa wendet das Verfahren der Segmentierung von Bedeutungsebenen in umfassender Weise auf die Heilige Schrift an, um den in ihr repräsentierten „allegorischen" bzw. „geistlichen" Sinn zu entdecken. Eine seiner Hauptmethoden ist die Übersetzung der Eigennamen, was ihm erlaubt, in jedem Ereignis der biblischen Geschichte eine tiefere Bedeutung aufzufinden. Was später als tendenziell selektionslose Aufmerksamkeit der Philologie an Bedeutung gewinnen wird, findet sich hier vorgeprägt: Eine auf lang anhaltenden Kontakt mit dem Gegenstand gründende Beobachtung vermag Texteigenschaften zu erschließen und zu benennen, die anderen Perspektiven verschlossen bleiben; eine nachhaltige gesteigerte Sensitivität für das Textganze wie fur jedes seiner Details erlaubt Kombinationen, die weit über triviale Verknüpfungen hinausgehen.
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2. Zugänge
In der Frühen Neuzeit gewinnen die Umgangsformen mit der als Autorität behandelten Bibel und dem Wissen von Texten eine neue Qualität. Martin Luther (1483-1556) verwirft die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die den Umgang mit Texten im gesamten Mittelalter reguliert hatte und betont dagegen den literarisch-historischen Sinn der Bibelworte. Im Rahmen der ars critica entstehen zeitgleich erste Versuche, die Überlieferung der Heiligen Schrift und vor allem die Mängel ihres textus receptus so zu traktieren, wie es bei profanen Texten geschieht. Erasmus von Rotterdam (1469-1536) besorgt 1516 eine Erstausgabe des griechischen Neuen Testaments, der er eine methodisch w i c h t i g e E i n l e i t u n g u . d . T M E T H O D U S ( s e i t 1 5 1 9 R A T I O VERAE THEOLOGIAE)
voranstellt und für die er auf überlieferte Handschriften zurückgreift. Ludovicus Cappellus (1585-1658), Professor für hebräische Sprache und Theologie an der hugenottischen Akademie Saumur, beendet 1634 sein Werk CRITICA SACRA (das allerdings kein niederländischer Verlage zu drucken wagt und erst 1650 in Paris erscheint) und formuliert hier den zentralen Gedanken einer Angleichung: Die textuelle Überlieferung der Heiligen Schrift ist wie auch die Weitergabe profaner Texte ein Resultat bewussten wie unbewussten menschlichen Handelns; die diversen Probleme ihrer Überlieferung sind in gleicher Weise wie bei profanen Texten und also ohne Rückgriff auf das Wirken der Vorsehung (providentia Dei) zu erklären. Fortgesetzt wird eine solche Textkritik durch Richard Simon (1638-1712), der als ,père de la critique biblique' gilt und Johannes Clericus (1657-1736), der fur seine CRITICA SACRA als derjenige gerühmt wird, der die „Principien der allgemeinen Kritik und Hermeneutik aufstellte und ausführte, und sie insbesondere auf die biblischen Bücher vielfältig anwandte" und dabei vorausgesetzt habe, dass die Heilige Schrift „eben so, wie jedes andere Buch, in kritischer und hermeneutischer Hinsicht behandelt" werden müsse. 5 Eine noch weitergehende Maxime der Gleichbehandlung vertritt der Philosoph Baruch Spinoza (1632-1677), wenn er in seinem TRACTATUS THEOLOGICO-POLITICUS behauptet, die Methode der Schrifterklärung (interpretado scripturae) stimme mit der Deutung der Natur (interpretado naturae) vollkommen überein. Wie wichtig ein genau beobachtender kritischer Umgang mit der Heiligen Schrift ist, demonstrieren jene Textstellen im Alten Testament, die zweimal überliefert sind, so 2Sam 22 = Ps 18 u. a. Hier zeigen sich aufgrund der handschriftlichen Weitergabe zahlreiche Abweichungen bzw. beabsichtigte und unbeabsichtigte Änderungen der vermutlich ursprünglichen Textgestalt. Daraus ergibt sich die wissenschaftliche Aufgabe der Textkritik, die diesen Verderbnissen nachzugehen und unter Berücksichtigung der gesamten greifbaren Überlieferung den ältesten erreichbaren Text wiederherzustellen hat. Zu ver-
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Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte der theologischen Wissenschaften seit der Verbreitung der alten Litteratur. Zweyter Theil. Göttingen 1811, S. 374.
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bindlichen Ergebnissen kann sie nur gelangen, wenn sie sich an methodische Grundsätze hält und willkürliche Entscheidungen (die gerade auf diesem Gebiet möglich sind) ausschließt. Und genau diese Einsicht wird in der Forderung nach gleicher Traktierung der schriftlichen Überlieferung konzeptualisiert. Anwendungspraxis und Reichweite dieser Maxime können allerdings differieren: Gleichbehandlung erstreckt sich nicht auf alle Aspekte der Heiligen Schrift, die darum auch in der Anwendung textkritischer und hermeneutischer Verfahren nicht der antiken Überlieferung gleichgestellt ist. Die Verwirklichung der Maxime der philologischen Gleichbehandlung aller Schriften, sakraler wie profaner bleibt gleichfalls relational, d.h. bezogen auf bestimmte Aspekte der zu behandelnden Schriften. Notwendige Bedingung ist, dass Texte bzw. Textgruppen eine Wertschätzung erfahren, die ihre intensive philologische Beobachtung rechtfertigt. Die Gleichbehandlungsmaxime erweitert also den Spielraum im Umgang mit den Geltungsansprüchen von Texten: Sie ermöglicht es, profane und sakrale wie antike und nationalsprachliche Überlieferungen hinsichtlich bestimmter Aspekte als ähnlich auszuzeichnen und entsprechend zu interpretieren (auch wenn in anderer Hinsicht wiederum Unterschiede betont werden und verschiedenartige Interpretationsweisen erforderlich machen). Gleichwohl haben Theologen nicht selten Anlass für den Verdacht, dass die konsequente Verwirklichung dieser Maxime bei der Heiligen Schrift zu Konsequenzen fuhrt, die als unvereinbar mit bestimmten theologischen Erwartungen erscheinen. Die Spannungen zwischen der Maxime der Gleichbehandlung profaner und nichtprofaner Schriften einerseits, dem Insistieren auf den Besonderheiten der Heiligen Schriften (etwa aufgrund ihres primären Verfassers) andererseits versucht man im Rahmen einer Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Hermeneutik aufzufangen - denn auch wenn akzeptiert wird, „daß man die Bibel nur nach solchen Grundsätzen auslegen darf, die auch in der Anwendung auf andre Schriften des Alterthums für richtig befunden werden: so gewiß ists auf der andern Seite, daß die SpecialHermeneutik des N.T. viel Eigenthümliches haben muß, welches aus den Begriffen, die der Geist von seinem Inhalt annimmt, von selbst abfliest". 6 Den Umgang mit den Geltungsansprüchen der Heiligen Schrift regelt eine solche spezielle (theologische) Hermeneutik, indem sie etwa die seit dem 17. Jahrhundert in der allgemeinen Hermeneutik festgeschriebene Unterscheidung zwischen Sachwahrheit (sensus verus) und Interpretationswahrheit {interpretatio vera) aufnimmt - aber eben diese Trennung für die Bibel suspendiert. Die Abhängigkeit der Interpretationswahrheit von der Sachwahrheit erscheint als charakteristische Differenz zwischen hermeneutica generalis und hermeneutica sacra. Was nichts anderes heißt, als das für die Auslegung des biblischen
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[Johann Gottfried Eichhorn:] Vorschläge zur Hermeneutik. In: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 4 (1792), S. 330-343, hier S. 331.
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Textes zuerst einmal dogmatische Lehrmeinungen gelten und dann die Befunde, die am Text gemacht werden (können). Am Ende des 18. Jahrhunderts mehren sich dann die Plädoyers dafür, keine Aussagen über den Text mehr von dogmatischen Sätzen bestimmen zu lassen, sondern auch den Gehalt der testamentarischen Überlieferung durch philologischen Zugriff erst zu erweisen: „Wie Plinius, Sallust, Xenophon, solten allervörderst und bey der ersten Untersuchung die Evangelisten und Apostel gelesen werden. Nach denen Grundsätzen und keinen andern ausgelegt, wonach alle Schriften, alle Urkunden in der Welt ausgelegt werden. Komme heraus, was heraus kommen mag! Nicht immer mit Hinaussicht auf dis und jenes existirende, oder zu bauende, zu hoffende, oder zu fürchtende System oder Unsystem".7 Wenn der Züricher Prediger und Goethe-Freund Johann Kaspar Lavater (1741-1801) hier die philologische Lektüre von Schriftstellern der Antike zum Vorbild für den Umgang mit der Heiligen Schrift erhebt, dann verweist das nicht nur auf eine besondere Wertschätzung dieser Autoren, sondern zugleich auf die besondere Stellung der Klassischen Philologie innerhalb der textbezogenen Disziplinen. Sie wird (vor allem durch das in der hermeneutica generalis geprägte Konzept einer universellen Philologie) zum Vorbild fur die Beschäftigung mit nationalsprachlichen Literaturen. Denn sie verpflichtet die philologische Tätigkeit auf einen Gegenstandsbereich, der die ästhetischen und epistemische Dimensionen von Texten ebenso umfasst wie ihre Zusammenhänge mit der sie tragenden Kultur. Die so fundierten Leistungen können nur beeindrucken. Der Altertumswissenschaftler August Boeckh (1785-1867) unterrichtet während seiner jahrzehntelangen Lehrtätigkeit an der Berliner Universität zahlreiche Generationen von Studenten im „Erkennen des Erkannten" und legt bahnbrechende Untersuchungen über die Geschichte des griechischen Kalenders, Astronomie, Maßsysteme, Epigraphik und die Musik des klassischen Altertums vor. Diesem Programm folgen die sich im 19. Jahrhundert etablierenden Neuphilologien. Friedrich von Raumer projektiert die deutsche Philologie als eine umfassende Kulturwissenschaft', die „Sprache und Literatur, Recht und Sitte, Kunst und Religion, von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart", einschließlich der Musik und der bildenden Künste umfassen soll.8 1882 bestätigt der Gräzist Hermann Usener (1834-1904) diese Auffassung, wonach die Philologie die nicht eine spezialisierte „Wissenschaft", sondern einen „Studienkreis" darstellt.9 Die philologische Tätigkeit ist ein Set
7
8 9
So Johann Kaspar Lavater in Johann Salomo Semler: Hrn Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C.R. Steinbarts System des reinen Christenthums [...]. Halle 1780, S. 19. Friedrich von Raumer: Über den Begriff der deutschen Philologie. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 11 (1860), S. 85-93, hier S. 87 und S. 90-93. Hermann Usener: Philologie und Geschichtswissenschaft [1882]. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Leipzig, Berlin 1907, S. 1-35, hier S. 16
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subtiler Verfahren, „Kunstübung" und „Methode", bestehend aus recensio und interpretatio - und also eine Summe von Techniken zum Erwerb eines Wissens, das Usener zufolge die Grundlage der historischen Wissenschaften überhaupt bildet. Welche Kompetenzen für tiefenstrukturelle Analysen die auf Akribie und Entsagungsbereitschaft gründende Aufmerksamkeit fur Texte beanspucht, stellt Wilhelm Scherer ( 1 8 4 1 - 1 8 8 6 ) - seit 1 8 7 7 erster ordentlicher Professor fur Neuere deutsche Literaturgeschichte der Berliner FriedrichWilhelms-Universität - klar. „Die Philologie ist die schmiegsamste aller Wissenschaften. Sie ist ganz auf das feinste Verständnis gegründet. Die Gedanken und Träume vergangener Menschen und Zeiten denkt sie nach, träumt sie nach", dekretiert er im programmatischen Aufsatz GOETHE-PHILOLOGIE, der 1 8 7 7 in der populären Kulturzeitschrift IM NEUEN REICH erscheint: „Aber alles Verstehen ist ein Nachschaffen: wir verwandeln uns in das, was wir begreifen; der Ton, der an unser Ohr schlägt, muß einen verwandten in uns wecken, sonst sind wir taub; und die partielle Taubheit ist leider gemeines Menschenloos. Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung."10 Doch projektiert Scherer nicht nur eine Intimkommunikation zwischen poetischem Werk und einer „auf das feinste Verständnis" gegründeten Philologie, die in ihrer Gesamtheit die Defizite ihrer einzelnen und stets beschränkten Glieder ausgleichen soll. Die immer wieder angemahnte „peinliche Gewissenhaftigkeit" fur „Einzelheiten" und noch die „kleinsten Veränderungen" markiert zugleich die Kompetenzen wie die Bedeutung der eigenen Zunft und erhebt den philologischen Umgang mit Texten zur Athletik: „Jedem Philologen wird das Streben nach der Wahrheit an sich, nach dem Echten, Ursprünglichen, Authentischen, eine Art von Sport, dem wir uns mit einem gewissen humoristischen Behagen hingeben."11 Worin bestand und besteht nun die so ausgezeichnete philologische Tätigkeit und das Wissen der Philologie? Und wie lassen sich die „nach der Wahrheit an sich, nach dem Echten, Ursprünglichen, Authentischen" strebenden Erkenntnisansprüche der Philologie in Beziehung zum Wissen der Literatur näher bestimmen? - Wie erklärt, umfasst Philologie als professionalisierte „Liebe des Wortes" weit mehr als nur die editorische Erstellung gesicherter Texte. Um schriftsprachliche Überlieferungen zugänglich zu machen, waren (und sind) ihre vorliegenden Zeugnisse zu ermitteln, Regeln fur die Konstitution eines zuverlässigen Textes abzuleiten und die so eingerichteten Texte in allen für ihr Verständnis relevanten Aspekten zu untersuchen. Gleichwohl bestand und besteht eine zentrale Verpflichtung der „Liebe zum Wort" in der 10
11
Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie. In: Im neuen Reich 7, Part 1 (1877), S. 161-178, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in W. Scherer: Aufsätze über Goethe. Berlin 2 1900, S. 3-27, hierS. 3. Ebenda, S. 21.
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Sicherung materialer Grundlagen des Umgangs mit Literatur. Die Prozeduren dazu stammen aus der (auch in dieser Hinsicht) Klassischen Philologie: Um eine sichere Basis für die Forschung und also einen gültigen Text herzustellen, müssen zuerst die Prozesse seiner Überlieferung - mündlich, handschriftlich und/ oder gedruckt - rekonstruiert werden. Dazu sind alle auffindbaren Textzeugen (Abschriften oder Drucke eines Werkes bzw. alles, was den vollständigen oder auch fragmentarischen Text des Werkes enthält) zu sammeln und die Hauptüberlieferung von der Nebenüberlieferung (Textspuren wie Zitate, Auszüge, Paraphrasen, Übersetzungen u.ä.) in anderen Werken zu trennen. Je mehr Textzeugen sich ermitteln ließen, desto größer ist die Anzahl der zu berücksichtigenden Varianten - bei den durch Abschreiben vervielfältigten Texten des Mittelalters ebenso wie bei den durch fehlerhafte Raubdrucke vermehrten Jugendwerken Johann Wolfgang Goethes, deren „offenbare Verderbnisse" Michael Bernays 1866 nachwies und damit die neuphilologische Textkritik begründete.'2 Die Sicherheit eines kritisch rekonstruierten Textes hängt davon ab, wie genau die Varianten differenziert werden können. Da Schriftstücke aus der Antike oder aus dem Mittelalter zumeist nicht in Autorhandschriften oder in auktorial gebilligten Textträgern vorliegen, sondern in später entstandenen Abschriften, richtet sich das besondere Interesse der altphilologischen Textkritik darauf, aus der überfremdeten Überlieferung den verlorenen ursprünglichen Autortext wiederherzustellen bzw. sich diesem so weit wie möglich anzunähern. Die Abhängigkeiten der unterschiedlichen Textträger untereinander sind zu ermitteln und in Form eines Überlieferungsstammbaumes (Stemma) zu dokumentieren, um schließlich die zuverlässigste unter den überlieferten Handschriften als Leithandschrift des Textes bzw. maßgeblichen Repräsentanten des Werkes zu bestimmen. Die neuphilologische Textkritik konzentriert sich dagegen auf die Erschließung und Darstellung der primären Textgeschichte, also auf die Herstellung und Veränderung von Texten durch Autoren bzw. Verlagsinstanzen und sondert dazu primäre (vom Autor stammende) und sekundäre sowie autorisierte (vom Autor als gültig erklärte) und nicht autorisierte Varianten. Zudem wird zwischen aktiver und passiver Autorisation unterschieden; je nachdem, ob eine Veränderung der Textgestalt dem Willen des Autors entsprach oder vom Urheber unbemerkt in einen autorisierten Druck gelangte bzw. von diesem gebilligt, aber nicht vorgenommen wurde. Beide Verfahren haben ein Ziel: Korruptelen, d.h. durch fehlerhaftes Abschreiben oder nicht autorisierte Nachdrucke entstandene Verderbnisse des Textes zu beseitigen. Die Emendation als sichere Korrektur stellt den richtigen Text her; eine Konjektur gibt eine argumentativ begründbare Vermutung über den richtigen Text an, wenn eine Stelle nicht eindeutig zu korrigieren ist.
12
Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 27.
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Voraussetzung eines solchen kritischen Umgangs mit Texten und gleichzeitig Zielpunkt (editions)philologischer Erkenntnis ist ein Wissen, dessen Komplexität nicht zu gering zu schätzen ist: Nur auf der Basis umfassender Einsichten in Wortgebrauch, Schrift- und Druckgeschichte, Überlieferungszusammenhänge und Rezeptionsgewohnheiten sind jene Entscheidungen zu treffen, die der Mit- und Nachwelt eine gesicherte Grundlage fur weitere interpretative und historische Explorationen schaffen. Die Entscheidungen der Editionsphilologie fallen nicht unabhängig von wissenskulturellen Bedingungen: Wie etwa die Auseinandersetzungen um die Frankfurter HölderlinAusgabe zeigen, kann die Wahl eines Editionsprinzips in bestimmten (politischen) Konstellationen weltanschaulich motiviert sein bzw. legitimiert werden, auch wenn der davon ausgelöste Streit „für die streng sachliche Dimension der innerwissenschaftlichen Problematik keine Bedeutung" hatte.13 Wie wesentlich die Leistungen der Philologen von akkumulierten Erkenntnissen abhängen, die sie in ihrer Arbeit mit und an Texten aufnehmen, anwenden und modifiziert weitergeben, zeigt eine Textsorte, die aus der Verbindung von Wort- und Sachwissen hervorgeht und bis weit ins 18. Jahrhundert nahezu universale Geltung besitzt: Der Kommentar als Einheit von Wortund Sacherklärung ist eine Zentralbaustelle der Philologie; entsprechend umfangreich ist die Liste seiner Synonyme.14 Auch wenn er mit dem Aufkommen neuer, auf der Auswertung empirischer Experimente basierender Verfahren und wissenschaftlicher Kommunikationsformen seine monopolartige Stellung einbüßt und zusammen mit dem ihn tragenden Wissenschaftstyp, der Gelehrsamkeit, in der Konkurrenz der Wissensformen zurückfällt,15 bleibt der Kommentar in der philologischen Praxis das Forum fur die Verhandlung von Fragen der Bedeutung(en) von Worten und Texten - womit das Stichwort gefallen ist, das eine Überleitung zum nächsten Abschnitt gestattet.
13
14
15
Gideon Stiening: Editionsphilologie und ,Politik'. Die Kontroverse um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. In: Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie, Literaturtheorie in der Kontroverse. Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 265298, hier S. 298. Glossae, adnotationes, commentario oder scholia sind mittelalterliche und frühneuzeitliche Synonyme einer Textgattung, die (neue) Erkenntnisse durch „Auslegung antiker Autoren" gewinnt; so August Buck: Einführung. In: Ders., Otto Herding (Hrsg.): Der Kommentar in der Renaissance. Boppard 1975, S. 7-19, hier S. 7. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gilt der Kommentar zunehmend nur noch als „historisches" Wissen schaffendes Verfahren, das für die Erkenntnis von Einzeldingen (notitia rerum singularum) zuständig ist. Das höher geschätzte Vernunft-Wissen als ein auf philosophischer Abstraktion basierendes Erkennen von Gesetzen ist dem Kommentar verwehrt; so Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen: Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt/M. 1984, S.18ff.
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2.2.2 Bedeutungskonzeptionen und Kommentar Nicht allein kritische und kommentierende Verfahren auf der Basis einer tendenziell selektionslosen Aufmerksamkeit stiften verwandtschaftliche Beziehungen zwischen klassischer und moderner Philologie und ihren Handlungsweisen von und mit Textwissen. Zur Gleichbehandlungsmaxime als einer formalen Orientierung im Umgang mit den (vermeintlichen) Besonderheiten der Heiligen Schrift kommen nun materiale, die Bedeutungskonzeption betreffende Annahmen hinzu, die ihr Vorbild in der Auslegung profaner Texte finden. An erster Stelle rangiert das im Rahmen der interpretatio grammaticohistorica ausgebildete Konzept des sensus auctoris et primorum lectorum (iauditorum), das die einem Text zuschreibbare(n) Bedeutung(en) auf jene Sinnhorizonte beschränkt, die seinen historischen Adressaten prinzipiell mitteilbar und verständlich gewesen waren: „Was erforderlich ist, dass man bei der Erklärung eines jeden Schriftstellers, sich in das ganze Zeitalter und in eine Reihe von Dingen versetzt und auch im Stande ist, sich in den Kreis zu versetzen, worin die Verfasser schrieben", betont Friedrich August Wolf (17591824), der mit den erstmals 1795 veröffentlichten PROLEGOMENA AD HOMERUM die moderne Homer-Kritik einleitet.16 Ähnlich formuliert es der bereits genannte August Boeckh, der in Halle bei Schleiermacher und Wolf studiert hatte und 1810 einem Ruf an die neugegründete Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin folgt. Der „Sinn einer Mittheilung" ist nicht zuletzt bedingt durch die „realen Verhältnisse", unter denen sie erfolgt und „deren Kenntnisse bei denjenigen vorausgesetzt wird, an welche sie gerichtet sind. Um eine Mittheilung zu verstehen, muss man sich in diese Verhältnisse hineinversetzen", heißt es vor der Formulierung eines Imperativs, der als „wichtiger Kanon der Auslegung" hervorgehoben ist: „man erkläre nichts so, wie es kein Zeitgenosse könnte verstanden haben".17 Seinen diskursiven Ort findet dieses „Erklären" im Kommentar. Als Verklammerung des Wissens von den Worten und von den Sachen gewinnt dieser verschiedene Ausprägungen. Als editorische Text- bzw. Stellenerläuterung erscheint er etwa bei Karl Lachmann (1793-1851), den Jacob Grimm in seiner berühmt gewordenen Unterscheidung zwischen Sach- und Wortphilologie den Wortphilologen zuordnet;18 als interpretatorischer Kommentar setzt er sich 16 17 18
Friedrich August Wolf: Vorlesung über die Encyklopädie der Alterthumswissenschaft [1798], Hrsg. von J. D. Gürtler. Leipzig 1839, S. 283. August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1877, S. 82, 106. Jacob Grimm: Rede auf Lachmann. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 1. Berlin 1864, S. 150: „Man kann alle philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche theilen, welche die worte um der sachen, oder die sachen um der worte willen treiben. Lachmann gehörte unverkennbar zu den letztem [...], wenn ich umgedreht mich lieber zu den ersteren halte."
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(langsam) gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch.19 Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Kommentars teilen eine Ziel-Mittel-Relation: Sie greifen auf historische Wissens- und Erfahrungsbestände zurück, um unverständlich gewordene Äußerungen verständlich zu machen. Immer wieder beschworen wird dazu die Fähigkeit, Autor und Text in aktiver Weise zu vergegenwärtigen. Die in zahlreichen philologischen Methodenlehren zu findende Forderung, man habe sich in den Verfasser und dessen historische Umstände hinein zu versetzen, beinhaltet jedoch mehr als eine Eliminierung von Unterschieden im Sinne einer „Horizont-Verschmelzung". Es handelt sich um kontrafaktische Imaginationen, die einen komplexen Interpretationsvorgang leiten sollen und dazu den Umgang mit Wissen von und aus Texten regulieren (müssen). Denn um sich in einen Autor und seine Zeit hineinzuversetzen, muss der Philologe etwas erwerben und zugleich etwas aufgeben: Zum einen hat er - in nicht selten aufwendigen Verfahren -Erfahrungs- und Wissensbestände zu akkumulieren, die sowohl dem historischen Autor und seinen Zeitgenossen zugänglich waren; zum anderen hat er diese Kenntnisse und seine eigenen (aus retrospektiver Position erwachsenden) Informationsüberschüsse so zu kontrollieren, dass ungerechtfertigte Anachronismen vermieden werden. Auf diese Weise lassen sich kognitive Asymmetrien verringern und Varianten historischer Zeitgenossenschaft simulieren: Indem der Interpret seine „eigne Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu versetzt", so Wilhelm Dilthey (1833-1911), ist er in der Lage „von hier aus momentan die einen Seelenvorgänge zu betonen und zu verstärken, die anderen zurücktreten zu 20
lassen und so eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizufuhren." Auch die modernen Philologien orientieren sich am Regulativ des Hineinversetzens. So postuliert Karl Lachmann in der Vorrede zur berühmten zweiten Auflage der IWEIN-Ausgabe, man werde mit „folgsamer hingebung die gedanken absichten und empfindungen des dichters, wie sie in ihm waren und wie sie den Zeitgenossen erscheinen mussten, rein und voll zu wiederholen" su-
19 20
Vgl. Klaus Weimar:Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 148-171, 347-411. Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik [1900], S. 330. - Die Bedeutung kontrafaktischer Imaginationen für das Verhältnis von Literatur und Wissen wird an späterer Stelle ausführlich diskutiert; hier ist nur knapp auf Traditionen einer solchen Modellierung von Zeitgenossenschaft und deren Veränderungen in der Neuzeit hinzuweisen. Während das „Geistergespräch" seit Petrarca gelehrte Briefe an verstorbene Größen schreibt und dabei eine Nähe imaginiert, in der Heroen der Vergangenheit zu Zeitgenossen werden, verfährt das „gleichsam probierende" Versetzen in ein historisches Milieu umgekehrt: Man macht sich selbst zum Zeitgenossen der Alten. Während das erste Verfahren kein spezielles Wissens benötigt, sind die Anforderungen für ein „Hineinversetzen" weitaus höher: Wie betont, sind beträchtliche Wissensbestände zu erwerben - und zugleich angemessen, d.h. limitiert zu verwenden.
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chen.21 Der hier gewählte Ausdruck „Wiederholen" erinnert an das bereits eingeführte Konzept einer „Nachconstruction der gegebenen Rede", das der mit Lachmann befreundete Theologe und Platon-Übersetzer Schleiermacher formuliert hatte und im Abschnitt zum „Verstehen und Interpretieren" erläutert wurde (vgl. 2.1.4). Schleiermacher hat jedoch nicht nur den Gedanken der „Nachconstruction" entfaltet, sondern auch die Idee entwickelt, eine „Nachahmung" sei die „beste Probe" für die Güte des erlangten Wissens über einen Text und seine Beschaffenheit.22 Auch hier ist es wieder August Boeckh, der unter Einfluss seines Hallenser Lehrers und Berliner Freundes festschreibt: „Wäre die Aufgabe [der individuellen Interpretation] völlig lösbar, so müsste man das ganze Werk reproduzieren können und zwar mit Bewusstsein und Reflexion; dies wäre die endgültige Probe des individuellen Verständnisses. Hierzu wäre aber nöthig, dass man vollständig in eine fremde Individualität einginge, was nur approximativ zu erreichen ist."23 Wer aber ein „ganzes Werk" reproduzieren kann - und „zwar mit Bewusstsein und Reflexion" - versteht dessen Autor besser, als dieser sich selbst verstanden hat. Mit der (bis auf Immanuel Kant zurückgehenden) Formel vom „Besser-Verstehen" ist eine Interpretationsmaxime angesprochen, die gleichfalls zum Inventar philologisch-hermeneutischer Textumgangsformen zählt und für den Zugang zum Wissen der Literatur eine Schlüsselfunktion übernimmt. Sie wird im Rahmen der integrativen Modellierungen näher vorzustellen sein, stellt dieses Konzept doch ein wesentliches Regulativ für historische Rekonstruktionen von Wissenskulturen dar, die als kontextspezifische „Umgebungen" eines Textes eine ebenso zentrale Rolle spielen wie bei dessen inhärenten Gestaltungen von Erkenntnissen und Einsichten (vgl. 3.1). Das Konzept des „Besser-Verstehens" gehört zugleich zu jenen Resultaten philologischen Aufmerksamkeitsverhaltens, die im Rahmen der im folgenden Kapitel vorgestellten Zugänge von Geistes- und Ideengeschichte eine wesentliche Rolle spielen: Denn um sich ganz in einen Schriftsteller und dessen Zeitgenossen hineinzuversetzten, sind nicht allein biographische Einzelheiten oder werkgeschichtliche Details zu kennen. Notwendig ist ebenso eine historische Rekonstruktion jener in Texten zirkulierenden Begriffe und Idee, die in ihrem Verbund die philosophisch-weltanschaulichen Überzeugungen und also das geistig-kulturelle Profil einer literarischen Persönlichkeit und ihrer Zeit bilden. 21
22 23
Karl Lachmann: Vorrede. In: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Mit Anmerkungen von G.F. Benecke und K. Lachmann [1827], 2. Ausgabe. Berlin 1843, S. III-X, hier S. III. In ähnlicher Weise heißt es dann über den Editionsphilologen, er müsse ,jeden Augenblick und bei jedem Zweifel dem Verfasser in seine geistige Werkstatt schauen und ganz die ursprüngliche Thätigkeit desselben reproducieren können"; ders.: Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken. Eine Warnung für Herausgeber. Berlin 1841, S. 15. F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik, S. 168. A. Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, S. 140
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Vor den Einsätzen der darauf rekurrierenden Geistesgeschichte aber sind die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Philologie erwachsenden Versuche zu skizzieren, das Wissen über literarische Texte zu einer Erkenntnis von Gesetzen zu erheben. 2.2.3 „Wechselseitige Erhellung" und Gesetzeserkenntnis In Auseinandersetzung mit philologischen und literaturhistoriographischen Textumgangsformen projektieren programmatische Schriften seit den 1880er Jahren eine Wissenskultur, die ihren Anspruch bereits im Namen fuhrt: Die als „Literatur-Wissenschaft" bezeichnete Form der Beobachtung, Deutung und Erklärung von Texten soll mit induktiven Verfahren ein Wissen produzieren, das sich mit den Gesetzesaussagen der erfolgreichen Naturwissenschaften vergleichen kann. Ein Pionier dieser Bewegung ist der bereits zitierte Philologe Wilhelm Scherer, dessen literaturtheoretische und -historiographische Innovationen durch nachfolgende Generationen jedoch den Stempel „Positivismus" aufgedrückt bekommen sollten. Dabei ist schon den Zeitgenossen unklar, worum es sich bei dem vielfach zur Stigmatisierung gebrauchten Begriff „Positivismus" eigentlich handelt. Für Scherer - doch auch fur den mit ihm befreundeten Philosophen Wilhelm Dilthey, den Sprachwissenschaftler Hermann Paul, den Historiker Karl Lamprecht oder die Völkerpsychologen Moritz Lazarus und Heymann Steinthal - besteht die spezifische Wissenschaftlichkeit des eigenen Tuns in einer durchgehenden empirischen Fundierung, die durch historische und vergleichende Beobachtung von Phänomenen die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entstehung und Wirkung ermittelt. Die moderne empirische Poetik soll, so Scherer in einer unvollendet gebliebenen Grundlagenschrift, den normativ-präskriptiven Poetiken des Idealismus gegenüberstehen „wie die historische und vergleichende Grammatik seit J. Grimm der gesetzgebenden Grammatik vor J. Grimm gegenübersteht". 24 Um dieses Ziel zu erreichen und auf Basis beobachtbarer „Gleichförmigkeiten der menschlichen Lebenserscheinungen" eine kausale Erklärung kultureller Phänomene geben zu können, schlägt Scherer die von der Sprachwissenschaft seiner Zeit entwickelte Methode der „wechselseitigen Erhellung" vor. Ausgangspunkt dieses Verfahrens ist die Einsicht in die Regelhafitigkeit von Entwicklungsprozessen, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Sprachen ablaufen. Unterstellt man die generellen Gleichförmigkeit dieser Abläufe, dann erlaubt die Kenntnis von zeitlich jüngeren und vollständig dokumentierten Entwicklungen, die in fernerer Vergangenheit vor sich gegangenen und nur lückenhaft überlieferten Vorgänge durch Analogiebildung zu rekonstruieren. Umgekehrt kann die Kenntnis
24
Wilhelm Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsgeschichte hrsg. von Gunter Reiß. Tübingen 1977, S. 50.
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früherer Abläufe das Verständnis gegenwärtiger und noch unabgeschlossener Prozesse befördern. Letztes Ziel ist die Einsicht in kausale Zusammenhänge: „Wir hoffen durch die wechselseitige Beleuchtung vielleicht räumlich und zeitlich weitgetrennter, aber wesensgleicher Begebenheiten und Vorgänge sowohl die großen Processe der Völkergeschichte als auch die geistigen Wandlungen der Privatexistenzen aus dem bisherigen Dunkel unbegreiflicher Entwicklung mehr und mehr an die Tageshelle des offenen Spieles von Ursache und Wirkung erheben zu können".25 Die posthum veröffentlichten PoetikVorlesungen wenden dieses Verfahren auf eine komparatistische Literaturforschung an: „Das vergleichende Verfahren verbindet sich naturgemäß mit der Methode der wechselseitigen Erhellung, welche z.B. in der Sprachwissenschaft fruchtbar angewandt worden ist. Das Deutliche, Vollständige, besser Bekannte dient zur Erläuterung des Undeutlichen, Unvollständigen, weniger Bekannten; namentlich die Gegenwart zur Erläuterung der Vergangenheit. Es dienen ferner, und dies ist ein wichtiges Element, die einfachen Erscheinungen, welche die Poesie der Naturvölker noch in der Gegenwart lebendig bewahrt, zur Erkenntniß und Erläuterung der älteren Stufen, über welche die Poesie der Culturvölker zur Höhe gelangte."26 An diese Vorleistungen schließen seit Mitte der 1880er Jahre Programme an, die - befördert durch einen disziplinübergreifenden Prozess der „Theoretisierung" der Wissenserzeugung - Anläufe zur Begründung der „Literaturwissenschaft" unternehmen. Die Philologie als Hilfswissenschaft nutzend, soll eine als „Prinzipienwissenschaft" auftretende Textbehandlung nomologische Aussagen über die Entstehungsbedingungen und Entwicklungsphasen von Literatur ermöglichen. „Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist die Constatirung von Gesetzen", postuliert Ernst Grosse in seiner Hallenser Dissertation DIE LITERATUR-WISSENSCHAFT 1887 und unterscheidet „Gesetze der Statik" („der wechselseitigen Abhängigkeit coexistierender Erscheinungen") und der „Dynamik" („der Abhängigkeit der successiven Erscheinungen").27 Auf induktivem Wege sollen die Gesetze der Statik aufgefunden und die Abhängigkeit des „literarischen Werkes" vom Charakter des Dichters, von seinem Organismus und von seiner Umwelt, d.h. von Familie, Nation, Kultur, Klima nachgewiesen werden. Induktiv sind auch die Gesetze der Dynamik festzustellen vom „Gesetz der Entwicklung des einzelnen poetischen Werkes" über das „Gesetz der Entwicklung des poetischen Schaffens des Individuums" bis zum „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt".28 Da die Ermittlung eines solchen nomologischen Wissens aufgrund der komplizierten und 25 26 27 28
Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache, S. 121. Wilhelm Scherer: Poetik, S. 67. Ernst Grosse: Die Literatur-Wissenschaft. Ihr Ziel und ihr Weg. Diss. Halle-Wittenberg 1887, S. 20, 8. Ebenda, S. 12f.
2.2 Copia verborum. Sach- und Wortwissen der Philologie
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der Beobachtung zumeist unzugänglichen „Thatsachen" schwierig sei, schlägt Ernst Grosse einen Weg vor, der Scherers Methode der „wechselseitigen Erhellung" entspricht. Aus „gleichartigen", doch weniger komplizierten, evolutionär früheren und leichter zugänglichen Fällen seien induktiv Gesetze zu ermitteln und aus diesen nach den Vorgaben der Entwicklungsidee die Gesetzmäßigkeiten komplizierterer Phänomene zu deduzieren. Aus der Beobachtung eines Mädchens, das seiner Puppe eine Geschichte erzählt, könne die Literaturwissenschaft (zumindest vorläufig) mehr lernen als aus den Werken Goethes: „Nur durch die Untersuchung jener einfachen Formen sind die Gesetze aufzufinden, aus welchen die Gesetzmässigkeit der complicirteren Producte einer späteren Entwicklungsstufe deducirt werden muss."29 Eine so entworfene „Literatur-Wissenschaft" als Gesetzeserkenntnis findet sich in weiteren Programmschriften. Der literarischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossene Philologe Eugen Wolff (1863-1929) - er war Mitbegründer des Dichtervereins „Durch" und verwendet schon 1886 den Begriff „Moderne" zur Charakterisierung des Naturalismus - formuliert in den 1890 veröffentlichten Arbeiten D A S WESEN WISSENSCHAFTLICHER LITERATURBETRACHTUNG und PROLEGOMENA DER LITTERAR-EVOLUTIONISTISCHEN POETIK die Grundsätze einer Beobachtungs- und Erklärungsperspektive, die er in einer 1899 publizierten POETIK ausführt. Dieses Grundlagenwerk, das laut Nebentitel „Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung" bestimmen will, sucht nach dem „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt" und korrespondiert darin den von Ernst Elster 1897 vorgelegten PRINZIPIEN DER L I T E RATURWISSENSCHAFT und Hubert Roettekens 1902 veröffentlichter POETIK. „Nachweis der Gesetze" und „causale Erklärung" fordert auch der Anglist Wilhelm Wetz im Einleitungskapitel „Ueber Begriff und Wesen der vergleichenden Literaturgeschichte" seines Shakespeare-Buches von 1890.30 Auch der Altphilologe Oskar Froehde verlangt die „erforschung der bedingungen, unter denen die litteratur entsteht, der Ursachen, weshalb ein litteraturwerk so und nicht anders beschaffen ist".31 29
30 31
Ebenda, S. 58. - Grosse benennt auch die bereits existierenden Wissenschaften, auf deren Vorleistungen die sich formierende Literaturwissenschaft zurückgreifen kann. U m das Gesetz der „Beziehungen zwischen der Eigenart eines Werks und der Eigenart des Dichters" formulieren zu können, ist die Ethologie, also die „Wissenschaft von der Charakterbildung" heranzuziehen. Die Erforschung der „Relationen zwischen dem psychischen Leben des Dichters und dem Leben seines Gesamtorganismus" werde mit Hilfe der Beobachtungen von Physiologie und Pathologie möglich (etwa über die „eigenthümlichen psychischen Vorgänge, welche nach dem Genuss von Haschisch und Opium auftreten"). Die Frage nach den Einflüssen der Umwelt lasse sich dank der Vorarbeiten von Soziologie und Ethnologie beantworten. Wilhelm Wetz: Shakespeare vom Standpunkt der vergleichenden Litteraturgeschichte. Worms 1890, S. 7. Oskar Froehde: Der begriff und die aufgabe der litteraturwissenschaft. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 147 (1893), S. 433-445, hier S. 438.
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2. Zugänge
Die programmatischen Deklarationen einer gleichsam gesetzgebenden Literaturwissenschaft erweisen sich jedoch als wenig anschlussfahig. Die Poetiken von Ernst Elster und Hubert Roetteken bleiben Fragment; Eugen Wolffs Grundlagenschrift D I E GESETZE DER POESIE IN IHRER GESCHICHTLICHEN ENTWICKLUNG formuliert ebenso wenig wie Richard Maria Werners Buch LYRIK UND LYRIKER (Hamburg 1890) Aussagen, die als Gesetze anzusehen wären. Die letztgenannte Untersuchung dokumentiert exemplarisch die Schwachpunkte der Versuche, „eine neue Ästhetik im naturwissenschaftlichen Sinne zu begründen und aus genauer Beobachtung der Thatsachen zu einer Erfassung der Gesetze aufzusteigen".32 Zum einen bildet das herangezogene Material nur eine Sammlung von Berichten über die Stadien „Erlebnis", „Stimmung", „Befruchtung", „inneres Wachstum", „Geburt" etc. im Werdeprozeß des lyrischen Gedichts - wobei die aus Briefen und Tagebüchern von Autoren des späten 18. und 19. Jahrhunderts gewonnenen Darstellungen nur Textzeugnisse darstellen, die keinen Anspruch darauf erheben können, vom Literaturwissenschaftler beobachtete oder beobachtbare „Thatsachen" zu sein. Zum anderen bleiben die angekündigten Gesetze aus: Die an der Physiologie orientierten Analogiebildungen - die das Erlebnis als „Samen" oder „Eizelle" bestimmen - können nicht verbergen, dass poetische Texte allein als unkommentierte Zitate bzw. Belege für den Abschluss eines (behaupteten) Werdeprozesses erscheinen und weder in ihrer spezifischen Qualität noch in ihrer Genese erklärt werden. Dennoch sind die Wirkungen dieser Anläufe nicht zu unterschätzen. Denn analoge Entwicklungen vollziehen sich jenseits der deutschen Grenzen. In Frankreich veröffentlicht Emile Hennequin 1888 eine CRITIQUE SCIENTIFIQUE, die von Georges Renards L A MÉTHODE SCIENTIFIQUE DE L'HISTOIRE LITTÉRAIRE (1900) fortgesetzt wird. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstehen in Russland erste Beobachtungsverfahren, die nach der spezifischen Differenzqualität literarischer Texte fragen und zu deren Beschreibung eine eigene Terminologie entwickeln. - Noch vor den Untersuchungen des russischen Formalismus und den von der modernen Linguistik profitierenden Verfahren des Strukturalismus aber ist aufmerksamen Beobachtern klar, dass „durch das alte, weite Gebiet der Philologie ein philosophisch-ästhetischer und ein separatistischer Geist weht.33 Die Zugangsweisen zum Wissen von und aus literarischen Texten sollen sich unter der Wirkung dieses Geistes nachhaltig ändern: Mit der Geistesgeschichte und ihren Derivaten treten Programme auf den Plan, die sich den Erkenntnis- und Wissensansprüchen der Literatur auf neuartige und bis in die Gegenwart nachwirkende Weise widmen. 32 33
Richard Maria Werner: Lyrik und Lyriker. Eine Untersuchung. Hamburg, Leipzig 1890, S. Vlllf. Louis P. Betz: Kritische Betrachtungen über Wesen, Aufgabe und Bedeutung der vergleichenden Literaturgeschichte. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 18 (1896), S. 141-156, hier S. 143.
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
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2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
Die Philologie begreift Texte zuerst einmal als Sprachdenkmale, die mit den Verfahren der Kritik zu bearbeiten sind, um gesicherte Grundlagen für ihre Kommentierung und Interpretation herstellen zu können. Ihre Behandlungsmaximen und Schrittfolgen zeigen, welche Investitionen von Zeit und Aufmerksamkeit für die Rekonstruktion eines solchen Text-Wissens notwendig sind: Um die Formen der Überlieferung bestimmen und autoren- bzw. zeitspezifisch einordnen zu können, sind Lautstand und Sprachstufe ebenso zu ermitteln wie lexikalische Besonderheiten, die nur vor dem Hintergrund umfassender Kontextkenntnisse sichtbar und benennbar werden. Diskursiver Ort eines so erzeugten philologischen Wissens über (literarische) Texte ist der Kommentar, dessen besondere Leistungen zugleich seine Grenze bilden: Zumeist auf das Einzelwerk und seine erläuterungsbedürftigen Stellen bezogen, bleiben umfassendere historische Zusammenhänge und Deutungsebenen eher wenig berücksichtigt; Modellierungen des literaturgeschichtlichen Prozesses und seiner Verbindungen mit allgemeinen kulturellen Entwicklungen bilden in der Regel nicht seinen Gegenstand. Dementsprechend limitiert sind auch die Zugänge der Philologie zum Wissen der Literatur; gleichwohl bleiben ihre Methoden zum Gewinn von Einsichten in Text- und Werk-Genese, AutorWortschatz, zeitspezifischem Vokabular etc unverzichtbar. Erste Ansätze zu einer „inneren" Geschichtsschreibung, die auf das „Ganze" der literarischen Werke sowie auf die in ihnen eingeschriebenen Erkenntnisse und Ideenbestände zielt, bilden sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus. Eine herausragende Rolle spielt Johann Gottfried Herder (1744-1803), der kulturelle Artefakte und ästhetische Erfahrungen in ihrer geschichtlichen Bedingtheit erklären will. In seiner (Fragment gebliebenen) ARCHÄOLOGIE DES MORGENLANDES beschreibt er die Bibel und vor allem deren Genesis-Bericht als symbolisch-dichterischen Ausdruck des Weltverständnisses eines Volkes unter bestimmten nationalen wie lokalen Voraussetzungen. Aufgenommen und ausgebaut werden diese Ansätze durch die romantische Bewegung seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu „Urkunden des menschlichen Geistes" erklärt, sollen literarische Texte in das „innerste Teil der Geschichte" führen und einen privilegierten Zugang zur ideellen Konstitution einer übergreifenden Gemeinschaft eröffnen: „Durch Bekanntschaft mit der Literatur eines Volkes lernen wir seinen Geist, seine Gesinnung, seine Denkungsart, die Stufe seiner Bildung, mit einem Wort sein eigentümliches Sein und Wesen kennen, wir erhalten eine Charakteristik, die wir anderswo vergebens suchen würden", erklärt Friedrich Schlegel in seinen VORLESUNGEN ÜBER
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2. Zugänge
DIE GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN LITERATUR, die er 1803/04 in Paris hält. 1
Poetische Denkmäler lassen sich so in übergreifende historische Perspektiven einbinden und als integrale Bestandteile einer sinn-vollen Entwicklungsgeschichte darstellen. Vor allem aber sollen sie die Entzifferung einer Größe gestatten, die den Wissenshorizont von Literatur in signifikanter Weise ausweitet: Literarische Texte gelten als prädestinierte Behälter eines Geistes, der in unterschiedlicher Spezifikation - national, epochal, generationstypisch oder auch kontinental - die besondere Eigenart von Werken und ihrer Kultur konditionieren soll (obwohl er doch eigentlich erst aus ihnen abzulesen ist). Verwirklicht wird dieses Programm schon in den VORLESUNGEN ÜBER SCHÖNE LITERATUR UND KUNST, die August Wilhelm Schlegel 1801/04 in Berlin hält, in den Pariser Lektionen seines Bruders Friedrich Schlegel sowie in dessen W i e n e r V o r t r ä g e n GESCHICHTE DER ALTEN UND NEUEN LITTERATUR v o n 1 8 1 2 -
15, denen noch Heinrich Heine das Kompliment machen sollte, es gebe „kein besseres Buch dieses Fachs".2 (Die besondere Qualität eines solchen geistes- bzw. ideengeschichtlichen Zugangs zu Literatur und Kunst wird im Vergleich mit der bereits erwähnten Philologie und der gleichfalls romantisch inspirierten Sammeltätigkeit klarer. Während philologische Umgangsweisen sich historisch distanzieren und faktische Texteigenschaften wie metrische Gestalt, Stilform und Motivübernahme analysieren, versteht die in der Romantik aufblühende Sammlung von Überlieferungen den [literarischen] Text als Zeugnis einer vergangenen Lebensweise, der dem Kenntnisstand zeitgenössischer Leser angepasst aufzubereiten und zu verbreiten ist. So demonstrieren es Achim von Arnim und Clemens Brentano mit der Lieder- und Gedichtsammlung DES KNABEN WUNDERHORN, die in drei Bänden zwischen 1806 und 1808 in Heidelberg erscheint. Eine Anpassung bzw. Accomodation der mittelhochdeutschen Überlieferung an den Verständnishorizont gegenwärtiger Rezipienten prägt auch die NibelungenliedAusgaben des Juristen und Privatgelehrten Friedrich Heinrich von der Hagen, der 1810 auf die Stelle eines außerordentlichen Professors für Deutsche Sprache und Literatur an der neugegründeten Berliner Universität berufen wird und mit einer vierbändigen Anthologie mittelhochdeutscher Lyrik sowie einer dreibändigen Sammlung von mittelhochdeutschen Verserzählungen zur Begründung der mediävistischen Germanistik beiträgt.)
1
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Friedrich Schlegel: Vorlesungen über die Geschichte der europäischen Literatur. In: Friedrich Schlegel. Kritische Ausgabe seiner Schriften. Hrsg. von Emst Behler. II. Abt.: Schriften aus dem Nachlaß. Bd. 11 : Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795 bis 1804. München, Paderborn, Wien 1958, S. l l f . Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann. Bd. 5. Berlin (DDR) 1961, S. 65.
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
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Bevor sich um 1900 die sog. Geistesgeschichte als wirkungsmächtiges Integrationsprogramm der historischen Wissenschaften formiert und die Fragen nach dem Zusammenhang von Literatur und Wissen in den nun näher vorzustellenden Varianten von Ideen- und Problemgeschichte bearbeitet, entstehen im 19. Jahrhundert ideengeschichtliche Ansätze, die eine Alternative zur philologischen Beschränkung auf beobachtbare Tatsachen darstellen und an dieser Stelle kurz zu erwähnen sind. Die 1830 veröffentlichte GESCHICHTE DER D E U T S C H E N POESIE IM MITTELALTER des Philosophen Karl Rosenkranz - er wurde 1833 auf den Lehrstuhl Immanuel Kants in Königsberg berufen, schrieb 1844 im Auftrag der Familie das L E B E N HEGELS und legte 1853 eine bis heute grundlegende ÄSTHETIK DES HÄSSLICHEN vor - dokumentiert, welche Potentiale in theoretisch angeleiteten Recherchen nach dem Sinn und den Erkenntnishorizonten von Texten stecken. Ging es einer (namentlich von Karl Lachmann präsentierten) Wort-Philologie um die Rekonstruktion der sprachlichen Formung eines Textes, zielt Rosenkranz' „innere Geschichtsschreibung" auf das „Ganze" bzw. „die Anordnung, Eintheilung, Bewegung" der literarischen Werke. 3 Deshalb stellt seine Literaturgeschichte nicht Autoren und Überlieferungslage, sondern Ideen, Handlungs- und Kommunikationsformen literarischer Figuren in den Mittelpunkt. In Einzelanalysen des Nibelungenliedes, der Artusepen oder Wolfram von Eschenbachs PARZIVAL eruiert er die in Texten niedergelegten Verhaltensweisen, die auf übergreifende Entwicklungen in Gesellschafts- und Gattungsgeschichte, Weltbild und Rechtsnormen bezogen sind - und gelangt (nicht zuletzt geschult durch Hegels Ästhetik) zu eindringlichen und plausiblen Beschreibungen der mittelalterlichen Literatur, die Redeweisen ebenso ernst nehmen wie Handlungsregulative und Ordnungsmuster. Doch auf dieses Angebot einer kulturhistorisch erweiterten Erforschung der literarischen Kommunikation - ein „wissenschaftsgeschichtliches Ereignis allerersten Ranges" 4 - reagieren die Anwälte einer strengen Philologie mit harscher Zurückweisung. Als „dummes Zeug" lehnt Karl Lachmann die Darstellung zur Lyrik des Mittelalters durch Rosenkranz ab und distanziert sich von einer philosophisch geleiteten Perspektivierung: „Mir ist ordentlich lächerlich, wie dünn und armselig diese Hegelianer werden, wenn sie über Sachen sprechen, die sie nicht in den Schraubstock ihrer Formeln nehmen können, und die sie wie unglückselige Einzelheiten ohne Zusammenhang nehmen." 5 - Angesichts dieser Abfuhr verwundert es nicht, dass ideen- und geistesgeschichtliche Beiträge (vor allem zur Entwicklung der neueren Literatur) im 19. Jahr-
3 4 5
Karl Rosenkranz: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Halle 1830, S. IV. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 306f. Karl Lachmann an Jacob Grimm. Briefe vom 18. April 1832 und vom 24. Oktober 1829. In: Albert Leitzmann (Hrsg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Jena 1927, Bd. II, S. 582-588, Zitat hier S. 587 und S. 852-854, Zitat hier S. 853.
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2. Zugänge
hunderts vorwiegend die Domäne von Historikern und Philosophen sowie von außeruniversitär wirkenden Publizisten bleiben. Neben Heinrich Heine (der fur ein französisches Publikum eine auf Themen und Ideen konzentrierte Übersicht über die deutsche Literatur und Philosophie sowie die „romantische Schule" gibt) und Heinrich Laube (der 1839/40 ganze Teile von Rosenkranz' mediävistischer Poesiegeschichte wörtlich in seine GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR übernimmt, ohne die Entdeckung dieses Plagiats furchten zu müssen), tragen vor allem der Geschichtsschreiber Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) und die von Hegel beeinflussten Literatur- bzw. Philosophiehistoriker Hermann Hettner (1821-1882) und Rudolf Haym (1821-1901) zu einer ideengeschichtlichen Modernisierung der Literaturforschung bei. Wie stark geschichtsphilosophische Deutungsmustern die von ihnen entwickelten Verlaufsformen (vor)prägen, dokumentiert aber schon Gervinus' GESCHICHTE DER POETISCHEN NATIONALLITERATUR DER DEUTSCHEN, die in fünf Bänden zwischen 1835 und 1842 in Leipzig erscheint. Das hier entwickelte genetische Konzept bildet einen klaren Gegensatz zur stellenbezogenen Kommentierung und bibliographischen Verzeichnung von Wissensbeständen durch die Philologie. Die chronologische Darstellung der historischen Entwicklung realisiert sich als Entfaltung eines Zusammenhanges, der die Literaturgeschichte zu einem sinnhaften Prozess mit einem Ziel erhebt. Die Abfolge von Texten und ihren Autoren wird zu einer „Sinn-Geschichte", als deren Subjekt die Nation auftritt - folgt man doch der bereits von Herder formulierten und von Friedrich Schlegel aktualisierten Vorstellung, literarische Texte eröffneten den Zugang zum „Geist der Nation" so direkt wie keine anderen Quellen. Deshalb verzichtet Gervinus' GESCHICHTE DER POETISCHEN NATIONALLITERATUR DER DEUTSCHEN auch auf eine Darstellung des ästhetischen Gehalts literarischer Texte und gibt statt dessen eine Analyse ihrer historischen Bezüge und Funktionen.6 - Als Synthese der intensiv rezipierten Philosophien Hegels und Feuerbachs tritt Hermann Hettners sechsbändige LITERATURGESCHICHTE DES 18. JAHRHUNDERTS (Braunschweig 1856-70) in Erscheinung. Deren vierbändiger Hauptteil GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR IM 18. JAHRHUNDERT wird zwar noch zu Lebzeiten des Autors mehrfach revidiert; dennoch wirkt diese „Geschichte der Ideen und ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen For-
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Literatur erscheint bei Gervinus als kulturelles Medium eines nationalen Formationsprozesses; die Aneignung dieser Tradition soll dem deutschen Bürgertum zur Ausbildung einer eigenen Identität verhelfen. Um die Nähe der Literatur zum Leben der Nation herauszustellen, will Gervinus das „viele kleine Strauchwerk" der Volksdichtung stärker zur Geltung bringen und literarischen Produktionen die Aura der Hochkultur nehmen. Wie massiv geschichtsphilosophische Annahmen die Modellierung prägten, zeigt vor allem seine Auffassung vom Ende der Literatur in der Gegenwart: Als Ersatz politischer Emanzipation habe Literatur nun ihren Zweck, die Heranbildung der Nation zur Vorstellung politischer Freiheit, erfüllt und müsse in eine durch praktisches Handeln herbeigeführte Emanzipationsbewegung des deutschen Bürgertums münden.
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
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men" aufgrund ihrer übergreifenden geistesgeschichtlichen Perspektive bis in die Gegenwart: Die Deutung der Aufklärung als literarisch-philosophische Bewegung in der Nachfolge von Reformation und Renaissance, die zugleich den Rahmen fur Sturm und Drang und Weimarer Klassik bildet, fixiert ein noch heute geläufiges Periodisierungsschema. Und auch wenn sich viele Passagen als keine originalen Leistungen Hettners erwiesen haben und (wie etwa die von Schiller und den Frühromantikern übernommene Verzeichnung Wielands) überholt sind, ist zur Darstellung des Gesamtzusammenhangs und der zeitlichen Markierung des Aufklärungszeitalters seitdem nichts grundlegend Neues oder ganz Abweichendes hinzugekommen. - Der seit 1860 als Professor für Literaturgeschichte in Halle lehrende Rudolf Haym wird vor allem für seine umfänglichen Monographien HERDER NACH SEINEM LEBEN UND SEINEN WERKEN (2 Bde., 1877-85) und DIE ROMANTISCHE SCHULE (1870) berühmt. Seine Darstellung der romantischen Bewegung entwickelt den Zusammenhang von Kultur- und Wissensgeschichte auf umfassender Materialbasis und prägt eine Phaseneinteilung, die bis heute von Bedeutung ist. Alle diese Ansätze verdichten sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem integrativen Programm, das neben einer theoretisch angeleiteten Behandlung der literarischen Überlieferung ihre geistesgeschichtliche Deutung und ästhetische Wertung betreiben sollte. Bezeichnenderweise erfolgen sowohl die Versuche zur Begründung einer auf Gesetzeserkenntnis abzielenden „Literatur-Wissenschaft" als auch die nun zu skizzierenden Einsätze der Geistesund Ideengeschichte unter Rückgriff auf Leistungsangebote einer Grundlagendisziplin, die nach einer schweren Krise seit 1840 wieder neue Reputation zurückgewinnt: Nach dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme hatte die Philosophie ihre Zentralstellung innerhalb des Wissenschaftssystems verloren und war im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Fachwissenschaft unter anderen geworden. Dem Vorbild der philologisch-historischen Disziplinen folgend, wandte sie sich verstärkt der eigenen Geschichte und der Auslegung ihrer klassischen Texte zu, um über eine Kant-Renaissance seit den 1870er Jahren zu neu-idealistischen Positionen zurückzufinden.7 Wachsende Bedeutung erlangt die Philosophie jedoch vorrangig durch die Produktion anthropologisch fundierter Erkenntnistheorien, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften aufnehmen, um sie theoretisch zu modellieren und zu überbieten. Mit diesen Kompetenzen kann sie den text- und zeicheninterpretierenden Fächern am Ende des 19. Jahrhunderts zwei attraktive Angebote unterbreiten: Vorgeschlagen werden zum einen die Konzepte und Verfahren einer (experimentellen) Psychologie, die ursprünglich eine philosophische Subdisziplin ist
7
Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt/M. 1986.
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und sich in Kontakt mit Biologie, Physiologie und Völkerkunde sowie durch erfolgreiche Institutsgründungen (namentlich durch Wilhelm Wundt und dessen Schüler) zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt. Die durch empirische Beobachtung und Introspektion gewonnenen Begriffe der Psychologie scheinen geeignet, den Entstehungsprozess poetischer Werke adäquat beschreiben und erklären zu können. „Seitdem Hegel durch die rückkehr zu Kant und durch die hohe blüte der naturwissenschaften als überwunden galt und die philosophie in engste beziehungen zu physiologie und biologie trat, ist die psychologie zur königin der geisteswissenschaften emporgestiegen", fasst Alfred Biese 1899 die Entwicklung zusammen, „sie beherrscht die moderne ästhetik, die moderne literaturbetrachtung. Damit sind denn auch die schlimmsten Zeiten des specialismus vorüber."8 Als die Anläufe zu einer „induktiven Poetik" und die Versuche zur Formulierung von „Gesetzen" der literarischen Entwicklung nicht den erhofften Erfolg bringen (vgl. 2.2.3), wird ein anderes Angebot der Philosophie von Bedeutung. Die klassifikatorische Trennung von „erklärenden" Naturwissenschaften einerseits und „verstehenden" Geistes- und Kulturwissenschaften andererseits stattet die Wissensansprüche der Literaturforschung mit radikal veränderten Akzeptanz- und Plausibilitätsbedingungen aus und avanciert zum Distinktionskriterium einer Forschergeneration, die nach 1900 zur Besetzung universitärer Positionen rüstet. Im Anschluss an Überlegungen des Philosophen Wilhelm Dilthey (1833-1911) formuliert Rudolf Unger (1876-1942) in seiner 1908 veröffentlichten Programmschrift PHILOSOPHISCHE PROBLEME IN DER NEUEREN LITERATURWISSENSCHAFT einen gegen die „mechanistische
bzw. atomistische Auffassungsweise" des „Positivismus" gerichteten Forschungsimperativ und fordert, literarische Texte als Zeugnisse der „Weltanschauungs- oder Ideengeschichte" sowie als „Dichtungen" zu behandeln: Da die neuere deutsche Literaturgeschichte „in weitem Umfange zugleich Geschichte dieser allgemeinen geistigen Strömungen und Kämpfe" sei und ihre Manifestationen als „selbständige, in sich abgeschlossene künstlerische Gestaltungen" in Erscheinung treten, müsse sich auch deren Erforschung „philosophischer, speziell psychologischer und ästhetischer Methoden und Maßstäbe sowie ethischer, religions- und geschichtsphilosophischer Ideen" bedienen.9 Die programmatisch verkündete Abkehr von einer beschränkten „philologistischen Bewegung" trägt nur wenige Jahre später erste Früchte: 1911 erscheint Rudolf Ungers zweibändiges Werk HAMANN UND DIE AUFKLÄRUNG, das schon im Nebentitel („Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im
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Alfred Biese: Rezension Emst Elster, Prinzipien der Litteraturwissenschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 31 (1899), S. 237-243, hier S. 237. Rudolf Unger: Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft [1908]. In: Ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Gesammelte Studien. Berlin 1929, S. 1-32, hier S. 13-15, 17f.
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18. Jahrhundert") die Schwerpunkte des neuen wissenschaftlichen Interesses markiert; im selben Jahr publiziert der im George-Kreis beheimatete Friedrich Gundolf (1880-1931) seine Habilitationsschrift SHAKESPEARE UND DER DEUTSCHE GEIST. Bereits 1910 wurde die zweibändige Habilitationsschrift DIE MYTHOLOGIE IN DER DEUTSCHEN LITERATUR VON KLOPSTOCK BIS WAGNER
des erst siebenundzwanzigjährigen Fritz Strich (1882-1942) veröffentlicht. Alle diese (und zahlreiche weitere) Werke dokumentieren einen Modernisierungsprozess in der Literaturforschung, der im wissenschaftshistorischen Rückblick als „geistesgeschichtliche Wende" apostrophiert wurde und den Umgang mit dem Wissen der Literatur nachhaltig verändern sollte: Auf Grundlage eines umfangreichen, philologisch erschlossenen Wissens und befruchtet durch Anregungen aus Philosophie, Psychologie und der Kulturgeschichtsschreibung entstehen nun „synthetische" Übersichtsdarstellungen, die eine bislang dominierende mikrologische Quellen- und Textkritik zugunsten umfassender philosophisch-ästhetischer bzw. wissens- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektivierungen verabschieden. Das nach 1910 in Erscheinung tretende Spektrum der geistesgeschichtlichen Literaturforschung markiert jedoch nicht nur den Ausgangspunkte einer sich rasch entfaltenden Vielfalt von methodischen Richtungen und Schulen (deren Heterogenität eine vielstimmig konstatierte „Krisis" des Faches hervorrufen sollte). Ihre Ergebnisse stoßen auf breites öffentliches Interesse; die Beteiligung ihrer Repräsentanten an der Theoriediskussion macht die Neuere deutsche Literaturwissenschaft zu einem Experimentierfeld innerhalb der philologisch-historischen Disziplinen. Noch heute gehört die 1923 durch den Germanisten Paul Kluckhohn und den Philosophen Erich Rothacker begründete DEUTSCHE VIERTELJAHRSSCHRIFT FÜR LITERATURWISSENSCHAFT UND GEISTESGESCHICHTE (DVjS) zu den renommierten Fachorganen. 2.3.1 Geistesgeschichte 1905 stellt der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) auf Drängen seiner Schüler vier teilweise weit früher entstandene Aufsätze zusammen und veröffentlicht sie unter dem Titel D A S ERLEBNIS UND DIE DICHTUNG. Als literaturgeschichtliche Applikation der von ihm mitbegründeten „verstehenden Geisteswissenschaft" bildet diese Aufsatzsammlung im Verbund mit der 1904 veröffentlichten Schrift POSITIVISMUS UND IDEALISMUS IN DER SPRACHWISSENSCHAFT des Romanisten Karl Voßler den Auftakt einer später als „Geistesgeschichte" bezeichneten Strömung, die als Integrationsprogramm der historischen Wissenschaften die Entwicklung der Neueren Philolologien und insbesondere der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich
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bestimmen wird.10 In dezidierter Absetzung von philologischen Akkumulationen faktischen Wissens und zum kausalgenetischen „Erklären" demonstrieren Diltheys Texte ein hermeneutisches „Verstehen" von Leben und Werk am Beispiel von vier Autoren, denen paradigmatische Bedeutung fur den Gang der neueren deutschen Literatur zugeschrieben wird: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leitend für den hier praktizierten Umgang mit Texten ist ein Prinzip, das dem „zergliedernden" Erklären der Naturwissenschaften diametral entgegengesetzt ist und Fundierungsfunktionen für die Geisteswissenschaften übernimmt: „Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Studen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich. Das Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstand, und dieser ist auf allen Stufen seiner Objektivationen derselbe."11
In Konzeption und Darstellungsform bietet Diltheys Werk eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten. Die nachfolgende „Ideen-" bzw. „Problemgeschichte" kann sich auf seine philosophisch angeleitete Deutung literarischer Werke ebenso berufen wie auf das von ihm demonstrierte „kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen".12 Von Diltheys Überlegungen zur heuristischen Zusammenfassung altersgemeinschaftlich verbundener Autoren profitiert die sog. geistesgeschichtliche Generationentheorie, die in Karl Mannheims soziologisch fundierten Überlegungen zum Generationen-Begriff neue Impulse erfahren wird; seine Konstruktion eines literaturgeschichtlichen Kontinuums zwischen 1770 und 1830 bietet später Raum fur den Begriff „Goethe-Zeit" und für die Rede von der „Deutschen Bewegung", die als Einspruch gegen westeuropäische Aufklärung ausgedeutet und nationalistisch instrumentalisiert werden kann. - Noch bevor in Rudolf Ungers bereits erw ä h n t e r Programmschrift PHILOSOPHISCHE PROBLEME DER NEUEREN DEUT-
SCHEN LITERATURWISSENSCHAFT von 1908 und den wenige Jahre später fol-
genden Monographien von Unger, Friedrich Gundolf, Fritz Strich sowie in der stammesethnographischen Literaturgeschichte Josef Nadlers die Gründungsurkunden einer neuen, seit den 1920er Jahren als „Geistesgeschichte" bezeichneten Literaturforschung vorliegen, dokumentiert Diltheys Aufsatzsammlung also neue Wissensformen von und über Literatur: Nicht mehr editionsphilolo10
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Vgl. Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981, S. 139-202; Christoph König, Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt/M. 1993. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Leipzig 1927, S. 191. Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, S. 319.
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gische Sicherung und mikrologische Analyse der Quellen, sondern geistesgeschichtliche Rekonstruktionen und weltanschauliche Ausdeutung in Form ganzheitlicher Synthesen stehen auf der Tagesordnung. Ursachen wie Folgen der später als „geistesgeschichtliche Wende" deklarierten Modernisierung der universitären Literaturforschung in Deutschland werden vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Wandels im Kunst- und Wissenschaftssystem nach 1900 verständlich. Die neuen Textbehandlungsformen partizipieren einerseits an einer Kulturkritik, die im Protest gegen platten Fortschrittsglauben und Rationalismus ihren Ausgang nahm und in ästhetizistische Hermetik und mystifizierende „Lebens"-Ideologien münden sollte. Als Teil einer „verstehenden" Geisteswissenschaft vollziehen sie andererseits die Lösung von einem Methodenideal, das mikrologische Detailforschung und kausalgenetische Erklärung favorisiert hatte und nun als „positivistisch" disqualifiziert wird. Zu einer „Revolution in der Wissenschaft" exponiert, soll der Bruch mit „Historismus", „Relativismus" und fachwissenschaftlichem „Spezialistentum" sowie mit „Intellektualismus" und „Mechanismus" das Erbe der Romantik antreten und zum Wiedergewinn einer verlorenen „Ganzheit" führen.13 Profitieren kann die geistesgeschichtliche Literaturforschung von der wachsenden Selbstreflexivität des Kunst- und Literatursystems: Die mit der Neuromantik einsetzende Umkehr „zu Symbol und Metaphysik, zu Intuition und Kosmologie, zu Geheimnis und Mythos, zu Geist und Überpersonalität",14 die wie die zeitgenössische Bildungskritik an unterschiedlichen Projekten einer „geistigen Revolution" laboriert,15 befördert nicht nur eine Renaissance lebensphilosophischer Konzepte, die bis zur politischen Zäsur des Jahres 1933 (und darüber hinaus) anhält und einer problem- wie ideengeschichtlich interessierten Literaturforschung leitende Begriffe zur Verfugung stellt. In den Berührungen zeitgenössischer Poeten mit der universitären Literaturwissenschaft entstehen zugleich fruchtbare Austauschbeziehungen, die von privatfreundschaftlichen Verbindungen - wie etwa zwischen dem philologisch promovierten Hugo von Hofmannsthal und Konrad Burdach, Walter Brecht oder
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Emst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft. Eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen Max Weber: „Der Beruf der Wissenschaft" und die Gegenschrift von Arthur Salz: „Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern". In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Schmollers Jahrbuch) 45 (1921), S. 65-94; wieder in E. Troeltsch: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 653-677, Zitate hier S. 676f. Wemer Mahrholz: Deutsche Literatur der Gegenwart. Probleme - Ergebnisse - Gestalten. Durchgesehen und erweitert von Max Wieser. Berlin 1930, S. 92. Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft. Berlin 1920, S. 5 und 8. Ähnlich Ernst Robert Curtius: Krisis der Universität? In: E. R. Curtius: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart 1932, S. 51-78, hier S. 51 f. die Datierung des Beginns der „geistigen Revolution" auf die Zeit um 1910.
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Josef Nadler - bis zur Konstitution Kreises von Künstlern und Wissenschaftlern um Stefan George reichen.16 Eine Frucht dieser Verbindung ist die Entdeckung einer Gegenwartsliteratur, die spezifische Züge aufweist: Der wissenschaftlichen Bearbeitung als würdig erweisen sich vor allem Werke, die das Kriterium formaler Geschlossenheit erfüllen, also ein hohes Formbewusstsein verraten oder sich in klassizistische Traditionen stellen. Die Wissenschaftsfahigkeit noch lebender Autoren und ihrer Texte steigert sich, wenn zu formaler Insistenz geistesgeschichtlich bearbeitbare Inhalte treten - etwa Bezüge zu Philosophie und Kunst, zur Mythologie oder zur Geschichtsschreibung. Gewinner dieser neu zentrierten Aufmerksamkeit sind Autoren wie Paul Ernst und Gerhart Hauptmann, vor allem aber Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Thomas Mann, deren Werke bereits in den 1920er Jahren zu Themen germanistischer Dissertationen aufsteigen. Demgegenüber haben die Literaten des Expressionismus schlechte Karten: Abgesehen vom Sonderfall Fritz von Unruh und dem Interesse des Schweizer Literaturhistorikers Walter Muschgs für expressionistische Innovationen gelangen ihre Texte nur selten in den Fokus der geistesgeschichtlichen Literaturbeobachtung. - Eine die Regel bestätigende Ausnahme ist die „Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte" unter dem Titel DICHTUNG UND DICHTER DER ZEIT aus der Feder des in Chemnitz lehrenden Albert Soergel (1880-1958), die in zahlreichen Auflagen verbreitet wird und sich mit der 1925 erschienenen „Neuen Folge" IM BANNE DES EXPRESSIONISMUS auch den jüngsten Entwicklungen widmet. 2.3.2 Problem- und Ideengeschichte Die heterogenen Konzepte der sog. Geistesgeschichte repräsentieren und katalysieren eine fortschreitende Binnendifferenzierung innerhalb der universitären Literaturwissenschaft, die in der Lösung von philologischer wie literaturhistoriographischer Beschränkung seit den 1890er Jahren ihren Ausgang genommen hatte. Die konzeptionellen und methodischen Separationen führen nicht nur zu einer bis dahin ungekannten Pluralisierung von Thematisierungsweisen im Umgang mit Literatur - der Wiener Landesschulinspektor Oskar Benda konstatiert 1928 insgesamt 12 konkurrierende Methoden17 - ; sie schlagen sich auch in unterschiedlichen Bearbeitungen der Ideen- und Wissensgehalte von Texten nieder. Denn auch wenn die Frontstellung gegen „Positivismus" und „Philologismus" die Repräsentanten einer geistesgeschichtlichen Literaturforschung eint, ist der von ihnen praktizierte Umgang mit Texten und Autoren 16
17
Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. A m Beispiel des George-Kreises 18901945. Tübingen 1998; Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001. Oskar Benda: Der gegenwärtige Stand der Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage. Wien, Leipzig 1928, S. 7.
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
121
keineswegs homogen. Im Gegenteil. Innerhalb des Integrationsprogramms „Geistesgeschichte" existiert vielmehr ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen. Konzeptionelle Übereinstimmung besteht in der von Dilthey übernommenen Überzeugung, einen in literarischen Werken inhärenten, transpersonal und zumeist epochenspezifisch bestimmten „ Geist" in kulturhistorischen Zusammenhängen aufzufinden und darzustellen - ob im Ausgang von Grundformen der Welterfahrung („Erlebnissen" bzw. „elementaren Problemen des Menschenlebens"), von „Ideen" bzw. Bewusstseinseinstellungen („Typen der Weltanschauung") oder altersgemeinschaftlichen „Generationserfahrungen". Den Abstand zu mikrologischer Quellenerschließung und philologischer Textkritik markieren die neuen Arbeitsfelder: Im Zentrum der Bemühungen stehen nicht länger die Edition, die als „Prüfstein des Philologen"'8 gegolten hatte, und die Biographie, deren Lückenlosigkeit durch Detailforschung und Induktion zu sichern war, sondern die „synthetische" Rekonstruktion grundlegender Beziehungen und Strukturen des literatur- und kulturgeschichtlichen Prozesses - ohne dazu direkte Einflussbeziehungen zwischen Einzelzeugnissen nachweisen zu müssen. Ermittlung und Deutung eines in der literarischen Überlieferung objektivierten „Geistes" eröffnen unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten, die methodisch gleichwohl dem Prinzip der typologischen Generalisierung verpflichtet bleiben. Rudolf Unger, Paul Kluckhohn (1886-1957) und Walther Rehm (1901-1963) verfolgen in der Gestaltung von Liebe, Glauben, Tod die poetisch-philosophische Gestaltung „elementarer Probleme des Menschenlebens".19 Diese „Problemgeschichte" findet ihren Niederschlag in Paul Kluckhohns 1925 veröffentlichter Monographie DIE AUFFASSUNG DER LIEBE IN DER LITERATUR DES 18. JAHRHUNDERTS UND IN DER ROMANTIK u n d in W a l t h e r
Rehms 1928 publizierter Habilitationsschrift DER TODESGEDANKE IN DER DEUTSCHEN DICHTUNG VOM MITTELALTER BIS ZUR ROMANTIK, die ihren Auto-
ren eine Reputation sichern, die über die Zäsuren der Jahre 1933 und 1945 hinausgeht. Auch Clemens Lugowski übernimmt Ungers „Gehaltsanalyse" und versucht sie durch die Frage nach der Beschaffenheit literarischer Figuren in eine „Formanalyse" zu überfuhren.20 Selbst der aus dem George-Kreis stammende Max Kommereil, der in seinen Texten ein unmittelbares, durch Inter18 19
20
Gustav Roethe: Gedächtnisrede auf Erich Schmidt. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1913, S. 617-624, hier S. 623. Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey. Berlin 1924 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse I), wieder in R. Unger: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Gesammelte Studien. Bd. I, S. 137-170, hierS. 155. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932. Neuausgabe hrsg. von Heinz Schlaffer. Frankfùrt/M. 1976, hier S. 3f.
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2. Zugänge
ventionen anderer Interpreten scheinbar unbeeinträchtigtes Verhältnis zur Überlieferung inszeniert, knüpft in seinem Jean Paul-Buch von 1933 an das Inventar der von Rudolf Unger begründeten „Problemgeschichte" an.21 Die von Hermann August Korff (1882-1963) repräsentierte „Ideengeschichte" beschreibt dagegen den historischen Wandel von Weltanschauungen in ihrer dichterischen Gestaltung. Ihr eindrucksvolles Zeugnis bleibt das vierbändige Werk GEIST DER GOETHEZEIT, das als „Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte" zwischen 1923 und 1953 erscheint und zahlreiche Auflagen erreicht.22 Die von Germanisten aus dem George-Kreis wie Friedrich Gundolf, Max Kommerell (1902-1944) oder Rudolf Fahrner (1903-1988) realisierte „Kräftegeschichte" sucht dagegen die geistige „Gestalt" geschichtsbildender Individuen zu erfassen und deutet literarische Produktion als „Kräfte und Wirkungen", ohne aber die Methodik ihres Verfahrens nachvollziehbar und operationalisierbar zu machen. Ihre Werke demonstrieren am deutlichsten die Abkehr von philologischer Mikrologie: Nicht unbekannte Quellen sollen erschlossen, sondern das zugängliche Material in neuer Perspektive dargestellt werden. „Darstellung, nicht bloß Erkenntnis liegt uns ob; weniger die Zufuhr von neuem Stoff als die Gestaltung und geistige Durchdringung des alten", erklärt Friedrich Gundolf 1911 in seiner Heidelberger Habilitationsschrift SHAKESPEARE UND DER DEUTSCHE GEIST, die
zugleich die Möglichkeit zur Vermittlung seiner als „Erlebnisart" deklarierten Methode dementiert.23 Fünf Jahre später legt er eine vieldiskutierte GoetheMonographie vor, die in äußerlicher Gestalt wie in öffentlicher Wahrnehmung ein Novum markiert. Ohne Hinweise auf die bisherige Forschung, ohne Anmerkungen und wissenschaftlichen Apparat in der Schriftenreihe Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst erschienen, erreicht sie noch zu Lebzeiten des Autors mehr als zehn Auflagen, erntet über 60 Rezensionen und wird in zahlreiche europäische Sprachen sowie ins japanische übersetzt. Gleichwohl versucht man, den Verfasser aus dem fachlichen Diskurs auszuschließen: Ein 1921 publiziertes Sonderheft der literaturgeschichtlichen Zeitschrift EUPHORION markiert sein Werk als „Wissenschaftskunst" sowie seinen Verfasser als „Künstler der Wissenschaft" und fixiert in Gestalt des Lobes eine Kritik, die unbestimmt lässt, wo und in welcher Weise das biogra-
21
22
23
Vgl. Ralf Simon: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell. In: Hendrik Birus (Hrsg.): Germanistik und Komparatistik. DFGSymposion 1993. Stuttgart, Weimar 1995, S. 72-91, hier S. 75. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Bd. 1: Sturm und Drang. Leipzig 1923, 8 1966; Bd. 2: Klassik. Leipzig 1930 s 1966; Bd. 3: Frühromantik. Leipzig 1940 7 1966; Bd. 4: Hochromantik. Leipzig 1953 7 1966. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1911, S. VIII: „Deshalb ist auch Methode nicht erlernbar und übertragbar, sofern es sich darum handelt, darzustellen, nicht zu sammeln. Methode ist Erlebnisart, und keine Geschichte hat Wert die nicht erlebt ist [...]."
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
123
phische Werk die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft überschritten und welche ästhetischen Verfahren seinen wissenschaftlichen Ertrag eingeschränkt hätten.24 Als weitere, nur kurz zu erwähnende Variante der geistesgeschichtlichen Literaturforschung tritt die von Oskar Walzel (1864-1944) und Fritz Strich (1882-1963) geprägte „Stiltypologie" in Erscheinung. Sie versucht, formale Gestaltungsprinzipien des „Wortkunstwerks" zu ermitteln und greift dazu auf Kategorien der Kunstgeschichtsschreibung zurück - insbesondere auf die vom Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin entwickelten Stilbegriffe und Polaritätskonstruktionen. Die aus Wölfflins Erstlingswerk RENAISSANCE UND BAROCK von 1885 übernommenen Begriffsbildungen sind antithetischer Natur: „Spannung", „Unendlichkeit", „Formlosigkeit" bilden den Gegenpol zu „Erlösung", „Vollkommenheit", „Vollendung". Auch wenn Wölfflin die Einseitigkeiten seines Jugendwerkes in den 1915 veröffentlichten KUNSTGESCHICHTLICHEN GRUNDBEGRIFFEN revidiert, ist der Grundstein für eine Formanalyse als Daseinsdeutung gelegt: Stilbegriffe avancieren zu Abbreviaturen für Geisteshaltung und Seelenverfassung ganzer Zeitalter und gerinnen, empirische Untersuchungen vernachlässigend, zu psychologischen Strukturtypen.25 Alle diese Varianten des sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Methodenspektrums der Geistesgeschichte verallgemeinern die Einzeldaten des literaturgeschichtlichen Prozesses typologisch, um in bewusster Opposition zur „mikrologischen Nichtigkeitskrämerei" 26 einer verselbständigten Detailforschung umfassende Perspektiven und Sinnangebote zu erzeugen. Damit sind nicht nur erweiterte Forschungsfelder, sondern auch Orientierungskompetenzen für eine zunehmend unübersichtliche Welt gewonnen. In dieser Verbindung von wissenschaftlicher Innovation und (behaupteter) weltanschaulicher Kompetenz gründet die Überzeugungskraft eines geistesgeschichtlichen Umgangs mit Literatur: Die Integration diversifizierter Wissensbestände in ganzheitlichen „Synthesen" setzt nicht nur dem Relativismus einer sich selbst genügenden Philologie scheinbar sichere Normen des Wissenswerten entgegen, sondern stellt auf drängende Fragen der weltanschaulichen Orientierungssuche zugleich ein bildungsidealistisches „Ethikangebot" bereit.27
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Vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Christoph König, Eberhard Lämmert(Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925, S. 177-198. Deutlich etwa in Fritz Strichs erstmals 1922 veröffentlichtem Werk DEUTSCHE KLASSIK U N D ROMANTIK ODER VOLLENDUNG U N D UNENDLICHKEIT, w o d e r b e h a u p t e t e A n -
26 27
tagonismus zweier Charaktertypen („klassisch" vs. „romantisch") zum Axiom wird, zu dessen Illustration eine historische Konstellation nur noch Belegmaterial bereitstellt. Rudolf Unger: Philosophische Probleme der neueren Literaturwissenschaft, S. 8. Rainer Kolk: Reflexionsformel und Ethikangebot. In: C. König, E. Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 38-45.
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2. Zugänge
Die meisten der so begründeten literaturgeschichtlichen Darstellungen visibilisieren ihre Prämissen und Präsuppositionen aber nur unzureichend. Voraussetzung ihrer Fixierung des literaturhistorischen Prozesses auf Ideen oder geistige Prinzipien sind radikale Ausblendungen: Unterbelichtet bleiben sowohl sozialhistorische Konditionen als auch gesellschaftsgeschichtliche Bezugsprobleme der literarischen Produktion; der Gesamtdeutung entgegenstehende Einzelbefunde wie empirische Beobachtungen schwinden unter unifizierenden Begrifflichkeiten, die ihre Abkunft aus geschichts- und lebensphilosophischen Schemata nur schwer verbergen. 2.3.3 Historische Semantik Trotz ihrer zum Teil gravierenden Mängel stellen die hier umrissenen geistesund ideengeschichtlichen Textumgangsformen nicht zu vernachlässigende Einsichten für spätere Modellbildungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen bereit. Ein wesentlicher Gewinn besteht in der Integration poetischer Texte in übergreifende kultur- und wissensgeschichtliche Horizonte: Literatur ist mehr als nur die Summe von (besonders gestalteten) Werken; sie ist Bestandteil und zugleich Resultat wie Katalysator geistig-kultureller Zirkulationsprozesse, in denen Ideen und Probleme generiert, wechselseitig beobachtet und in je eigener Weise bearbeitet werden. Damit ist der Gegenstandsbereich literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit irreversibel erweitert. Auch wenn die geistes- und ideengeschtlichen Zugänge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keine eigene Beschreibungssprache und Erklärungskonzepte für die komplizierten Beziehungen zwischen literarischer Kommunikation und Wissenskulturen entwickeln und sich - wie mehrfach selbst eingestanden - vor allem bei der Philosophie und der Kunstgeschichte bedienen, stecken sie doch zumindest das Terrain ab, auf dem sich spätere Ansätze entfalten können. Zu diesen zählen vor allem die Varianten eines integrativen Forschungsprogramms, das die historische Semantik und also den geschichtlchen Wandel von Begriffen und Konzepten untersucht. Denn selbstverständlich sind die Formen, in und mit denen Alltagserfahrungen wie Erkenntnisse spezialisierter Einzelwissenschaften und die symbolischen Welten der Literatur erzeugt und fixiert werden, nicht starr und unveränderlich. Von ihren Metamorphosen und Umbildungen zeugen umgangssprachliche Ausdrücke ebenso wie die geschichtlichen Grundbegriffe „Antike" und „Moderne" oder die Zentralkategorien dieses Buches „Literatur" und „Wissen". Auf diesem Feld der stets geschichtlich konkreten Erzeugung, Weitergabe und Veränderung von Begriffen und Konzepten findet die historische Semantik ihr Arbeitsgebiet. Sie umfasst die Varianten einer (modernen) Problemgeschichte und die Arbeitsfelder einer Begriffs- und Ideengeschichtsschreibung, die im englischen Sprachraum mit dem Wirken von Arthur Oncken Lovejoy
2.3 Geist, Ideen, Probleme. Integrative Konzepte
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(1873-1962) und dem von ihm begründeten JOURNAL OF THE HISTORY OF IDEAS, in Deutschland mit den Namen Erich Rothacker, Hans Blumenberg, Reinhart Koselleck u.a. verbunden sind. Der Philosoph Erich Rothacker (18881965), der gemeinsam mit dem Literaturhistoriker Paul Kluckhohn die renommierte DEUTSCHE VIERTELJAHRSSCHRIFT FÜR LITERATURWISSENSCHAFT UND GEISTESGESCHICHTE gegründet hatte, ruft 1955 das Periodikum ARCHIV FÜR BEGRIFFSGESCHICHTE ins Leben, um - wie im Nebentitel kenntlich gemacht - „Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie" zu sammeln. (Dieses HISTORISCHE WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE erscheint nach Initiative von Joachim Ritter und herausgegeben von Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel in 12 Artikelbänden zwischen 1971 und 2005. Es gilt als das weltweit erfolgreichste Großprojekt der deutschen akademischen Philosophie.) Der Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) gibt zwischen 1972 bis 1997 mit seinen Kollegen Otto Brunner und Werner Conze ein achtbändiges „Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland" u.d.T. GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE heraus, das gleichfalls zum Standardwerk avanciert: Über 100 Begriffe wie Herrschaft, Demokratie, Monarchie, Partei werden in ihrem historischen Wandel unter Berücksichtigung philosophischer, juristischer und ökonomischer Einflussnahmen rekonstruiert. - Hans Blumenberg (1920-1996) schließlich, ausgebildeter Philosoph auch er, erweitert diese Explorationen durch eine frühzeitig gewonnene Einsicht in die grundlegende Bedeutung sprachlicher Bilder: Seit seiner 1960 erschienenen Schrift PARADIGMEN ZU EINER METAPHOROLOGIE verfolgt er anhand ausgewählter Beispiele aus der Geistes- und Philosophiegeschichte die These, dass bestimmte Tropen wie etwa die metaphorisch gebrauchten Ausdrücke „Schifffahrt" und „Schiffbruch", „Licht" und „nackte" Wahrheit einen begrifflich nicht ersetzbaren Bestand unserer kommunikativen Welterzeugung und Welterschließung bilden und sich nicht vollständig in logisch eindeutige Aussagen „übersetzen" lassen. Diese von ihm als „absolute Metaphern" bezeichneten Ausdrucksformen konstituieren eine Vorstellung von Wirklichkeit, die in ihrer Anschaulichkeit und ihrem Sinngehalt propositional nie vollständig einholbar ist und das menschliche Denken und Handeln gleichwohl richtungsweisend orientieren; sie bilden einen wesentlichen Bestand unseres kulturellen Gedächtnisses und gehen als anschauungs- wie diskursleitende Größen in besonderer Weise auch in literarische Texte ein. Doch dazu später mehr.
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2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus
2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus
Während sich die deutsche Literaturforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Konstruktion geistesgeschichtlicher „Synthesen" widmet und dabei das Wissen von und über Literatur ideen- und problemgeschichtlich perspektiviert, vollziehen sich in der Literaturforschung der europäischen Nachbarn Veränderungen, die nicht zu unterschätzende Folgen haben sollen. In Frankreich findet seit Beginn des 20. Jahrhunderts das Programm einer „explication de textes", das auf eine Analyse von Stil und Komposition literarischer Werke zielt, zunehmende Verbreitung an Universitäten und Lyzeen auch wenn die normierte Verbindung von Lektüre und Interpretation eher ein Hilfsmittel der Pädagogik als ein methodologisches Prinzip der Literaturwissenschaft darstellt. Seit 1915 wandelt sich die Literaturwissenschaft in Russland - und eröffnet mit neuen Verfahren der Beschreibung und Erklärung auch einen neuen Zugang zum Wissen der Literatur: In Moskau und Sankt Petersburg entstehen in den Arbeiten von Boris Michajlovic Èjchenbaum (18861956), Roman Osipovic Jakobson (1896-1982), Viktor Borisovic Sklovskij (1893-1984), Jurij Nikolajevic Tynjanow (1894-1943) und anderen jungen Philologen neuartige Beobachtungsverfahren, die im Unterschied zur auch hier vorherrschenden philologisch-historischen Behandlung von Literatur nach der spezifischen Differenzqualität poetischer Texte bzw. ihrer „jiHTepaTypHocn»" (literaturnost'; Literarizität) fragen. Ihre Bemühungen um eine eigene Terminologie für die Beschreibung literarischer Texte profitieren von den Vorleistungen einer Sprachwissenschaft, die - von der Phänomenologie Edmund Husserls in besonderer Weise angeregt - die Funktionen der menschlichen Sprache erforscht. Wenn Sprache als Zeichensystem und gleichsam natürlicher Prototyp jedes mit Bedeutung versehenen Ausdrucks angesehen wird, hat das weitreichende Folgen fur ihre wissenschaftliche Behandlung: Linguistische Fakten sind nicht nur im Hinblick auf ihre historische Entwicklung, sondern auch in ihrem Funktionieren in aktuellen Sprachformen zu untersuchen. Zugleich kann über die empirischen Daten der vergleichenden Sprachforschung hinausgegangen und eine universale Grammatik zur Beschreibung von Sprache „als solcher" projektiert werden. Bei der Vermittlung von Husserls Überlegungen - in den epochemachenden LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN von
1900/01 niedergelegt - kommt dem Philosophen Gustav Gustavovic Spet (1879-1937) eine überragende Rolle zu. Er macht die Moskauer Philologen mit Begriffen wie „Bedeutung", „Form", „Zeichen" und „Bezugsgegenstand" bekannt. Nachdrücklich warnt Spet auch vor der Gefahr, Linguistik und Psychologie zu verwechseln, wie es die deutsche „Völkerpsychologie" á la Wilhelm Wundt und Lazarus/Steinthal praktiziert hatte: Kommunikation ist nach Spet als Faktum gesellschaftlichen Verkehrs und also nicht durch individual-
2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus
127
oder kollektivpsychologische Spekulationen zu erklären. Ausdrucksformen und namentlich die Sprache sind nicht als sekundäre Symptome psychischer Vorgänge zu behandeln, sondern als eigenständige Realitäten, die als Objekte sui generis eine strukturelle Beschreibung erfordern. Auf der Basis einer so begründeten Begrenzung besteht die Hauptaufgabe der Sprachforschung darin, die intersubjektive Bedeutung einer Äußerung und ihrer Komponenten festzustellen sowie die besonderen Zwecke von Arten des sprachlichen Ausdrucks zu bestimmen. Literarische Texte gewinnen in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen besondere Relevanz. Zum ersten sind sie aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften gleichsam prädestiniert für die Exploration von Formen und Funktionen, die als Realisationen eines expliziten bzw. impliziten Wissens verstanden werden können: Poetische Sprache organisiert (nahezu alle) ihre Komponenten nach konstruktiven Prinzipien, um ästhetische Effekte zu erzielen. Zum zweiten hat die Bearbeitung literarischer Texte forschungspraktische Vorteile: Die traditionelle Sprachwissenschaft hat sich für deren Prinzipien und Funktonen bislang wenig interessiert; eine Beschäftigung mit ihnen kann sich auf diesem Feld also leichter durchsetzen, ohne von traditionellen Regeln gehemmt oder blockiert zu werden. Ein dritter und wichtiger Grund ist das kulturelle Umfeld: Die in Russland besonders intensive futuristische Bewegung legt in ihren Texten sprachliche Mittel in einer Weise offen, dass dieses Laboratorium der modernen Dichtung gleichsam direkt und im Prozessieren zu studieren ist. Die Sprachexperimente von Velemir Chlebnikow, Alexej Krutschenych und Wladimir Majakowskij demonstrieren eindringlich die Funktionen der poetischen Sprache und unterscheiden sie dezidiert von allen Arten der bloßen Mitteilung. 2.4.1 Poetische Sprache, Beschreibung und Erklärung Vorgaben des Wissenschaftssystems und gesteigerte Selbstreflexivität des Literatursystems inspirieren Forschungen, die im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts organisierte Formen annehmen: 1915 gründet eine Gruppe von Studenten der Moskauer Universität den „Moskauer Linguistik-Kreis"; ein Jahr später vereinen sich in Sankt Petersburg junge Philologen und Literarhistoriker in der „ O ö i u e c T B O royneHHa noeravecKoro H3biKa" (Obscestvo izucenija poeticeskogo jazyka; dt. Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache), die unter der Abkürzung „Ono«3" (Opojaz) bekannt wird. Treibende Kraft des Moskauer Linguisten-Zirkels wird Roman Jakobson, der in Studien über die poetische Sprache Velemir Chlebnikows nicht nur eine Analyse der lyrischen Mittel und Verfahren gibt, sondern zugleich die formalistische Konzeption von Dichtung und ihrer Erforschung darlegt. In der Petersburger „Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache" profiliert sich Viktor Sklovskij, der mit dem bahnbrechenden Aufsatz HCKYCCTBO, KAK ΠΡΗΕΜ
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2. Zugänge
(ISKUSSTVO, KAK PRIEM; dt. DIE KUNST ALS VERFAHREN) 1 9 1 7 e i n e r a d i k a l e
Revision der bisherigen Vorstellungen vom poetischen Bild liefert. Die in literarischen Texten gebrauchte Bildsprache erklärt nicht Unbekanntes mit Hilfe des Bekannten, sondern verfahrt genau umgekehrt: Jede Form der Übertragung „verfremdet" die gewohnte Wahrnehmung und lässt so etwas entdecken, was im konventionalisierten Umgang verschüttet bleibt. Indem die bewusst gestaltete Form künstliche Hindernisse zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt aufbaut, wird die Kette gewohnheitsmäßiger Verknüpfungen und automatischer Reaktionen unterbrochen. Das „Verfahren der Verfremdung" (npneM ocrpaHeHHfl) lässt die sprachlich gegebenen Dinge überhaupt sehen, statt sie bloß wiederzuerkennen. Das „Verfahren" (npneM), verstanden als Technik des bewussten Herstellens eines sprachlichen Kunstwerks durch Formung seines sprachlichen Materials und Deformierung seines Stoffes, d.h. der „Wirklichkeit", avanciert zum Schlüsselbegriff des Formalismus. „Wenn die Literaturgeschichte Wert darauf legt, eine Wissenschaft zu werden, muss sie das Verfahren als ihr einziges Anliegen erkennen", erklärt Roman Jakobson in seiner 1921 in Prag veröffentlichten Aufsatzsammlung über moderne russische Poesie.' Er trifft sich darin mit Viktor Sklovskij, der in einem vielzitierten Essay über Vasiii Vasil'evic Rosanow im gleichen Jahr definitorisch festlegt: „Ein literarisches Werk ist die Summe aller darin angewandten stilistischen Mittel."2 Andere Komponenten des literarischen Textes wie ideelle Gehalte oder historische Bezugsprobleme hält man dagegen für zweitrangig oder gänzlich irrelevant. Untersucht (und durch Referate bei den Versammlungen des Moskauer Linguisten-Zirkels vorgestellt) werden deshalb Attribute der poetischen Sprache wie Epetitha, konsonantische Häufungen in Versen, metrische Formen etc. - Diese ahistorische Konzentration auf Ausdrucksmittel und Verfahren hat mehrere Ursachen, zu denen die Abgrenzung von Konkurrenten im wissenschaftlichen Feld gehört: Mit apodiktisch vorgetragenen Geltungsansprüchen markieren die Formalisten ihre Opposition zu einer biographistisch orientierten Philologie, die sich in der Erforschung des Nationaldichters Alexander Sergej ewitsch Puschkin (ähnlich wie die Goethe-Philologie in Deutschland) in steriler Akkumulation unzusammenhängenden Detailwissens verloren hatte. Eine Korrektur der einseitigen Konzentration auf die literarische Form setzt mit dem Wachstum der Bewegung seit Beginn der 1920er Jahre ein. Schon 1924 ersetzt Jurij Nikolajevic Tynjanow die statische Bestimmung des literarischen Werkes als Summe aller in ihm realisierten Mittel durch seine Modellierung als ästhetisches „System", in dem jedes Verfahren eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat. „Die Einheit eines literarischen Werkes liegt nicht
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Roman Jakobson: Novejäaja russkaja poèzija. Prag 1921, S. 11. Viktor Sklovskij: Rosanov. Sankt Petersburg 1921, S. 15.
2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus
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in einem streng symmetrischen Ganzen, sondern in dynamischer Integration [...] Die Form eines literarischen Kunstwerks muss als dynamisch bezeichnet werden."3 Wird so die Funktion der künstlerischen Mittel bzw. Verfahren in Abhängigkeit vom ästhetischen Gesamtzusammenhang eines Werkes beobachtet, kann die historische Dimension nicht mehr vernachlässigt werden: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt tragisch wirkt, kann in einer anderen historischen Umgebung komische Effekte auslösen. Um also zwischen den verschiedenen Anwendungen eines „Verfahrens" unterscheiden und deren Rolle innerhalb eines gegebenen ästhetischen Systems - ob Einzeltext, Gesamtwerk eines Autors oder literarische Bewegung - unterscheiden zu können, muss das „ literarische Faktum " wieder in seinen geschichtlichen Bezügen beobachtet werden: und dazu gehören auch die Wissensbestände und Erkenntnisse im Entstehungszeitraum. Die damit eingeleitete Thematisierung der „ literarischen Evolution " schlägt sich in zahlreichen Untersuchungen zu Autoren des „30JIOTOH Ββκ", des „Goldenen Zeitalters" der russischen Poesie und ihren ideen- und poesiegeschichtlichen Beziehungen nieder.4 Boris Tomasewskij fixiert in der 1 9 2 5 veröffentlichten Übersichtsdarstellung TEOPLIA ΛΗΤΕΡΑΤΥΡΜ erstmals den Terminus „Literaturtheorie" als Arbeitsfeld einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit poetischen Texten. Zugleich vollziehen sich innerhalb der formalistischen Bewegung interne Differenzierungsprozesse. Seit den Anfängen ihrer gegen die akademische Literaturwissenschaft gerichteten Forschungstätigkeit bestehen zwischen der Petersburger „Gesellschaft für die Erforschung der poetischen Sprache" (Opojaz) und dem Moskauer Linguisten-Kreis erhebliche Unterschiede, die vor allem aus konträren Auffassungen des Verhältnisses von Literatur- und Sprachwissenschaft erwachsen. Sind die in Petersburg konzentrierten Literaturhistoriker an der Linguistik als einem Handwerkszeug für literaturtheoretische Problemstellungen interessiert, so sehen die in Moskau tätigen Sprachwissenschaftler in der Dichtung einen Prüfstein für ihre Methodologien. Mit anderen Worten: Für Viktor Sklovskij und Boris Éjchenbaum bildet die Sprachwissenschaft eine Hilfsdisziplin, während Roman Jakobson die Poetik als integralen Bestandteil der Linguistik behandelt. - Zugleich gibt es Schwierigkeiten, als sich nach 1925 die Literaturtheoretiker marxistischer Provenienz sammeln. Eine Kampagne beginnt und Leo Trotzki polemisiert in seinem 1924 in Moskau veröffentlichten Buch JIHTEPATYPA H PEBOJIIOIJR3 (LITERATUR UND REVOLUTION) in einem ganzen Kapitel gegen die „formalistische Schule" und ihren angeblich „reaktionären Charakter". Den Hauptangriffspunkt bilden 3 4
Jurij NikolajeviC Tynjanow: Problema stichotvornogo Jazyka. Leningrad 1924, S. 10. Jurij Tynjanow schreibt über ßOCTOEBCKHH Η ΓΟΓΟΛΤ.. Κ TEOPHH ΠΑΡΟΛΗ (Dostoevskij und Gogol'. Zur Theorie der Parodie; 1921) und APXAHCTM H IlyuiKHH (Die Archaisten und Puschkin; 1926), Boris Tomasewskij über ΠΥΙΙΙΚΗΗ (Puschkin; 1925). Boris Éjchenbaum verfasst die eindringlichen Studien MOJTOflOH TOJICTOH (Der junge Tolstoj; 1922) und JlEPMOHTOB (Lermontov; 1924).
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2. Zugänge
weniger die deskriptiven Verfahren, die sich laut Trotzki auf ein Zählen wiederkehrender Vokale und Konsonanten, Silben und Beiwörter beschränkten und in ihrer Funktion als Hilfsmittel der Forschung sogar Anerkennung finden. Kernstück von Trotzkis Polemik ist vielmehr eine massive Attacke gegen Viktor Sklovskij, der in der Schrift Xofl KoHfl (RÖSSELSPRUNG) von 1923 soziologische Interpretationen von Literatur ad absurdum zu fuhren versucht hatte. Auch wenn Trotzki - im Unterschied zu einer sich bereits formierenden Kunstdoktrin sowjetischer Prägung - die Eigengesetzlichkeit der literarischen Evolution akzeptiert und die Beurteilung eines Kunstwerks „nach seinem eigenen Gesetz, das heißt nach dem Gesetz der Kunst" fordert, beharrt er auf dem Kompetenzanspruch des historischen Materialismus für ihre kausale Erklärung: „Aber nur der Marxismus kann erklären, warum und woher in einer gegebenen Epoche eine bestimmte Richtung in der Kunst entstanden ist, d. h. wer und warum das Verlangen nach solchen und nicht nach anderen künstlerischen Formen geäußert hat." 5 Trotz verschiedener Anstrengungen, einen gemeinsamen Nenner von formalistischer und materialistischer Literaturforschung zu finden, gerät die auf Formen und Verfahren rekurrierende Beobachtung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in eine Krise, aus der sie sich nicht mehr erholen wird. Ursache dafür sind nicht allein kultur- und wissenschaftspolitische Lenkungsansprüche des sowjetischen Staatsapparates, der ein mit dem Namen Stalins verbundenes Repressionssystem auszubilden und abweichende Meinungen mehr und mehr zu unterdrücken beginnt.6 Der Zerfall des Formalismus ergibt sich auch aus methodologischen Einseitigkeiten eines Forschungsprogramms, das es nicht geschafft hatte, überzeugende Antworten auf die Frage nach gesellschaftsgeschichtlichen Konditionen der literarischen Evolution zu finden. 2.4.2 Relationale Verhältnisse von Elementen. Strukturalismus Die Wirkungen formalistischer Textumgangsformen sind bedeutend. Die von den russischen Formalisten begonnenen Recherchen nach den Verfahren poetischer Texte und deren sprachlichen Organisationsprinzipien finden zuerst in 5 6
Leo Trotzki: Literatur und Revolution. Integrale Übersetzung nach der russischen Erstausgabe von 1924 von Eugen Schäfer und Hans von Riesen. Essen 1994, S. 181. 1930 veröffentlicht die JlHTEPATyPHAfl ΓΑ3ΕΤΑ Viktor Sklovskijs reumütigen Artikel riAMHTHHK HAYHHOH ΟΙΠΗΒΚΗ (Denkmal eines wissenschaftlichen Irrtums), in dem der vormalige Wortführer des Petersburger Zirkels zugibt, den auf literarischem Gebiet ausgetragenen „ K l a s s e n k a m p f ' ignoriert und literarische Prozesse von zugrundeliegenden sozialen Kräften getrennt zu haben. Der Formalismus sei „eine Sache der Vergangenheit"; übrig bleibe eine „heute allgemein anerkannte Terminologie sowie eine Reihe von technologischen Beobachtungen". Mit dieser von orthodoxen Marxisten als Tarnungsmanöver heftig verurteilten Erklärung (der Sklovskij noch eine weitere, nun von Autoritäten wie Marx, Engels, Plechanow und Mehring beglaubigte Distanzierung folgen ließ) ist der Formalismus in der russischen Literaturwissenschaft beendet.
2.4 Sprachliches Wissen. Formalismus und Strukturalismus
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Osteuropa und - nach diversen Wanderungsbewegungen und kognitiven Wandlungsprozessen - in den USA ein Echo.7 Zentrale Instanz zur Vermittlung der auf Form und Funktion zentrierten Beobachtungsverfahren ist Roman Jakobson, der seit 1920 in Prag lebt und tschechische Philologen mit dem russischen Formalismus vertraut macht. In dem sich 1926 formierenden Prager Linguistik-Kreis gibt Jakobson die von ihm mitgeprägten Konzepte an junge Linguisten sowie an den linguistisch orientierten Ästhetiker Jan Mukarowsky, den Slawisten N. S. Trubetzkoy und den Anglisten René Wellek weiter. Aus dieser Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaftlern geht - nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss der von Ferdinand de Saussure im 8 COURS DE LINGUISTIQUE GÉNÉRALE 1916 begründeten Semiotik - eine fruchtbar erweiterte Behandlung von Texten hervor: Indem die Sprache nun als zentrales (wenn auch nicht als einzig mögliches) Zeichensystem aufgefasst wird, kann der literarische Text als Relation von Zeichen und Bedeutung beschrieben sowie regelgeleitet analysiert werden. Das beschränkende Diktum des Moskauer Linguisten-Kreises, Dichtung sei Sprache in ihrer „ästhetischen Funktion" und durch Ermittlung ihrer „Verfahren" zu erfassen, weicht der Auffassung, die poetische Sprache sei (wie andere Zeichensysteme auch) ein zusammenhängendes Ganzes, in dem alle Teile aufeinander einwirkten und im relationalen Verhältnis von Elementen eine „Struktur" ausbildeten. Mit diesem Perspektivwechsel wandelt sich der „Formalismus" zu einem „Strukturalismus", der weit mehr darstellt als nur eine spezifische Textumgangsform. Schon zeitgenössische Akteure erkennen in ihm eine „allgemeine Denktendenz" (Ernst Cassierer) bzw. ein „noetisches Prinzip" (Jan Mukarowsky), das sich sowohl in geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Linguistik als auch in Psychologie und Biologie durchsetzen kann. 7
Die Literaturforschung in Deutschland nimmt wenig Notiz, obwohl sie den Formalismus frühzeitig kennenlernen konnte. Schon 1925 erscheint in der ZEITSCHRIFT FÜR SLAVISCHE PHILOLOGIE d e r F o r s c h u n g s b e r i c h t FORMPROBLEME IN DER RUSSISCHEN
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LITERATURWISSENSCHAFT von Victor Maksimovic Zirmunskij; 1928 reist Oskar Watzel nach Leningrad und Moskau und gilt danach (irrtümlicherweise) als ein Wegbereiter formalistischer Methoden: Als „Schule Oskar Walzeis" erscheint der Formalismus bei Anatoli Lunatscharskij: Die Kritik [1931]. In: Ders.: Philosophie. Kunst. Literatur. Ausgewählte Schriften 1904-1933. Hrsg. von Lydia Reinhardt. Dresden 1986, S. 201256, hier S. 242. Dagegen jetzt Michael Dewey: „Wir sind ohne den ,Geist' der Deutschen ausgekommen...". Zum ambivalenten Verhältnis der russischen Formalisten zu den deutschen Geisteswissenschaften. In: Scientia Poetica 8 (2004), S. 69-96. Der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) entwickelt in den postum veröffentlichten Vorlesungen GRUNDFRAGEN DER ALLGEMEINEN SPRACHWISSENSCHAFT (1916; deutsch 1967) eine allgemeine Theorie der Sprache und damit zugleich eine Methode, Zeichensysteme zu analysieren: In methodologischer, nicht objektgegebener Unterscheidung ist Sprache zugleich von Konventionen gesteuert und soziales Produkt (langue), nicht unmittelbar sichtbar, aber aus den Äußerungen ihrer Sprecher (parole) rekonstruierbar.
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Zentralen Einfluss und Wirkungsmacht in den Literatur- und Kulturwissenschaften gewinnt der Strukturalismus nach einer erneuten transnationalen Wanderungsbewegung. Nachdem der Anglist und Komparatist René Wellek er hatte in Prag dem um Roman Jakobson versammelten Linguisten-Kreis angehört und war durch seinen Bruder Albert Wellek bestens über die aktuellen Entwicklung in Psychologie und Soziologie informiert - 1939 als Dozent für englische Literatur an die University of Iowa gekommen war, verfasst er gemeinsam mit dem hier lehrenden Warren Austin die Übersichtsdarstellung THEORY OF LITERATURE (New York 1949), die in den 1950er und 1960er Jahren zu einem international rezipierten Lehrwerk avancieren soll. Das in 25 Sprachen übersetzte Werk verdankt seine Bedeutung dem Vermögen, ideelle Gehalte und emotionale Wirkungen zum Gegenstand der Analyse zu machen sowie einer kompromisslosen Abweisung aller interpretierenden Fremdbestimmungen des literarischen Kunstwerks, namentlich durch soziologische und psychologische Vorurteile. - Nicht zuletzt auf Basis dieses Buches und wesentlich befördert durch Anstösse aus Linguistik und Anthropologie entstehen in den 1960er und 1970er Jahren Konzepte zur Bedeutungsanalyse, die ein präzises Verfahren bereitstellen, um die Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung von literarischen Texten auf bestimmte, für die semantische Struktur wichtige Sachverhalte zu lenken und dazu anhalten, das entwickelte Verständnis genau zu explizieren (so dass es ähnlich genau kritisierbar wird). Zugleich erlaubt eine so begründete strukturale Semantik, größere Textmengen vergleichend zu analysieren - und zwar unabhängig von ihrer Gattungszugehörigkeit, doch mit Blick auf die ihnen eingeschriebenen Bedeutungsgehalte, die von einem allgemeinen Weltwissen bis zu spezialisierten Erkenntnissen reichen können. 2.4.3 Strukturale Semantik Ausgangspunkt der strukturalen Semantik ist die bereits dargestellte Einsicht in die différentielle Organisation von Sprache: Zeichenbedeutungen lassen sich ermitteln, weil sie im Zusammenhang mit anderen Signifikaten stehen und mit diesen durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede verbunden sind (vgl. 1.2.3). Das graphische Symbol S erhält ebenso wie das Wort „Schrift" eine Bedeutung aufgrund seines Bezugs zum semiotischen System „Benutzeroberfläche" bzw. zum semiotischen System „Sprache" - und zugleich durch die Abgrenzung von anderen Bedeutungseinheiten. Auf der graphischen Benutzeroberfläche eines PC steht die Bedeutung des graphischen Symbols S [Schrift] in Opposition zu anderen Befehlen wie etwa zum Befehl [Bild, Graphik], dargestellt durch das Icon Q . Im semiotischen System Sprache steht das Signifikat des Wortes „Schrift" etwa im Gegensatz zu dem Signifikat des Wortes „Bild"; die Bedeutungen [schriftlich bzw. symbolisch-abstrahierend] und [graphisch
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bzw. bildlich konkret] sind damit ähnlich distinktive Merkmale wie Phoneme auf der Ebene der Signifikanten. Wenn [symbolisch-abstrahierend bzw. sekundär bedeutend] als Seme des Wortes „Schrift" aufgefasst werden können, lassen sich über die Feststellung von Oppositionen zugleich weitere Seme ermitteln - in der Unterscheidung von natürlichen Zeichen wie Tierspuren etwa das Sem [bewusst produziertes Zeichen], in der Gegenüberstellung zum konkretanschaulichen Bild etwa die Seme [unanschaulich, allgemein], Signifikate lassen sich so als Menge von bedeutungsunterscheidenden Merkmalen verstehen. Semantische Reihen entstehen, wenn Worte durch gemeinsame Seme miteinander verbunden sind: „Schrift", „Bild" und „Bedeutung" bilden eine semantische Reihe mit dem Sem [zeichenhaft]; das Sem [phonetisch, abstrakt] verbindet die semantische Reihe „Lautschrift", „Wort", „Satz". Jedes Element unseres semiotischen Systems Sprache steht über Ähnlichkeiten und Oppositionen mit anderen Elementen in Beziehung; Texte sind von einem Netz semantischer Merkmale und Merkmalsoppositionen überzogen. Und bei Textvergleichen zeigt sich, dass einige dieser Merkmalsoppositionen eine kulturspezifische Verbreitung aufweisen. Da die Bedeutung eines Textes durch diese Beziehungen (mit)bestimmt wird, ist ihre Erschließung eine zentrale Aufgabe. Als nützlich erweist sich die schon demonstrierte Suche nach Binäroppositionen, die ein strukturelles Prinzip zur Erzeugung von Aussagen bilden und die in Wendungen wie „Bild und Schrift", „Tag und Nacht", „Wahrheit und Lüge" anzutreffen sind. Wie erwähnt, finden wir Binäroppositionen in Sprichwörtern („Wer hoch steigt, kann tief fallen") wie in den Imperativen der Philosophie („Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."9) Im Mittelpunkt strukturalistischer Textumgangsformen steht also die Rekonstruktion jener regelhaften Zusammenhänge von (sprachlichen) Zeichen, die allen Aussagen zugrunde liegen - aber eben nicht direkt sichtbar sind, sondern erschlossen werden müssen. Ziel einer solchen Strukturanalyse ist es, die Einheiten sprachlicher Systeme herauszuarbeiten und zu klassifizieren sowie die Regeln ihrer Kombination zu beschreiben - um so Beziehungen explizit zu machen , die von Produzenten wie Rezipienten auf der Basis eines zumeist impliziten Wissens verwendet und modifiziert werden. Die Verbindung von Mythenanalyse, Modellierung von Kommunikation und Strukturerforschung poetischer Texte hat Einsichten ermöglicht, die an dieser Stelle zumindest kurz genannt werden müssen. Der russische Literaturforscher Vladimir Propp (1895-1970) hat in seiner erstmals 1928 veröffentlichten MORPHOLOGIE DES MÄRCHENS eine wegweisende Erzähltextanalyse vorgenommen, die gattungstypische Einheiten der Handlung und die Regeln
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So das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" in Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, § 7. Ders.: Werke in 12 Bden. Bd. 7, S. 140.
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ihrer Zusammenstellung untersucht: und dabei eine Tiefenstruktur entdeckt, deren Elemente in jedem Text dieses Typus in einer bestimmten Reihenfolge wiederkehren. Dieser Zugang zur „Grammatik" des Zaubermärchens legt nicht nur Funktionen und Handlungsrollen der Aktanten frei (die sich aus den Positionen ergeben, die sie im Zusammenspiel mit anderen Elemente gewinnen); sie legt zugleich den Grundstein zu einer strukturalen Analyse von Erzähltexten, an die Roland Barthes, Umberto Eco u.a. anschließen können. Eine weitere fruchtbare Erweiterung strukturalistischer Beobachtungen wird durch den französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (*1908) vorgenommen. Bei seiner Erforschung von Mythen entdeckt er, dass der narrative Verlauf selbst nicht schon eine abschließende Sinnebene repräsentiert, sondern die hinter ihr liegende Ebene der Konzepte - und zwar gerade jener Konzepte, deren Oppositionsstruktur unaufhebbar und unvermittelbar zu sein scheint („männlich - weiblich", „tot - lebendig", „Himmel - Erde", „Pflanze - Tier" etc.). Zugleich demonstriert der französische Ethnologe, wie logisch nicht aufhebbare Gegensätze (etwa zwischen Leben und Tod) mit Hilfe andere Oppositionen in narrativ realisierbare Differenzen „übersetzt" werden können. Und er zeigt, wie durch Permutierbarkeit - also durch Vertauschung und Umstellung - komplexe narrative Strukturen entstehen können. Die Analyse von Mythen deckt jedoch nicht allein ihre (auf Opponenten Beziehungen beruhenden) Einheiten auf. Das Projekt von Claude Lévi-Strauss geht noch weiter: Durch Rekonstruktion von „Mythemen" - so nennt er in seinem zwischen 1964 und 1971 erschienenen vierbändigen Werk MYTHOLOGIQUES die kleinsten Einheiten der in allen Kulturen anzutreffenden Anfangs- bzw. Schöpfungsgeschichten - soll zu grundlegenden Mustern des menschlichen Denkens überhaupt vorgestoßen werden: Da Mythen ein Produkt ihrer Kultur seien, würden sie zugleich Informationen über die kulturstrukturierenden Denkgesetze geben, welche ihrerseits durch Verfassung und Wirkungsweise des menschlichen Gehirns bestimmt seien. Über die Mythenanalyse könne man also, so die Hoffnung von Lévi-Strauss, bis zu universalen, das heißt für alle Menschen geltenden Denkstrukturen vorstoßen: was der Ethnologe durch konkrete Untersuchungen an Mythen aus Nord- und Südamerika in Angriff nimmt. Auf der Suche nach ihrer inneren Ordnung findet er mehrere grundlegende „Shortskripts", d.h. Typen immer wieder wiederkehrender Geschichten. Für die Analyse und die Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Wissen ist aus diesen Ansätzen viel zu lernen. Anwendbare Einsichten betreffen einerseits den analytischen Umgang mit Texten: Erzählte Welten - ob in Mythen oder in anderen Erzähltexten - aber auch Interaktionen in Dramen oder lyrische Einzelreden in Versen können segmentiert und also in Einheiten zerlegt werden, deren Bestandteile zueinander in Beziehung stehen, weil sie semantische Äquivalenzen aufweisen. Diese Texteinheiten (wie etwa Geschehensmomente in narrativen Texten) folgen nicht nur aufeinander, sondern
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weisen auch untereinander Ähnlichkeiten auf. Diese Ähnlichkeiten erlauben es, aus ihnen sinnvolle Gruppen zu bilden - selbst wenn sie im Textgeschehen zeitlich weit voneinander entfernt liegen können. Dadurch wird jeder Text zweifach lesbar: Zum einen auf syntagmatischer Ebene - also in der mehr oder weniger chronologisch geordneten Abfolge von Einheiten bzw. Momenten; zum anderen auf paradigmatischer Ebene - also in einer Reihe von Ähnlichkeitsbeziehungen dieser Momente untereinander. Über die analytische Segmentierung von Texten in semantisch äquivalente Einheiten hinaus gestatten strukturale Beobachtungen die Ermittlung von Konzepten, die als nicht immer direkt einsehbare, doch stets wirksame Muster die narrativen Ökonomik und den Beziehungssinn der kulturellen Bedeutungsproduktion regulieren und in noch zu klärenden Relationen zu den Mustern der Welt-Anschauung stehen. Konzepte zur Verknüpfung von Geschehensmomenten wie Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Schuld und Sühne partizipieren ebenso wie sprachlich sedimentierte Ordnungen des Sozialen (oben - unten, alt - neu, arm - reich etc.) an übergreifenden Regularien zur Deutung und Erklärung von Welt, die als Produkte sozialer Kommunikation Ergebnis wie Katalysator konkreter Aushandlungs- und Konstruktionsprozesse sind. Fruchtbar werden diese Beobachtungs- und Erklärungsverfahren im Werk eines Literatur- und Kulturtheoretikers, der sie später überwinden will. Roland Barthes (1915-1980) nutzt in seinen zunächst in Zeitschriften veröffentlichten und 1957 als Buch publizierten MYTHOLOGIES - auf deutsch 1964 u.d.T. MYTHEN DES ALLTAGS erschienen - eine Kombination aus marxistischer Gesellschaftstheorie, Psychoanalyse und strukturalistischen Verfahren für eine kritische Analyse der französischen Gesellschaft und ihrer Selbstdeutungen. Nachdem er sich der Analyse literarischer Werke zugewandt und in einer Erzählgrammatik universale Verknüpfungsregeln von Textbausteinen erarbeitet hatte, distanziert er sich in seiner Balzac-Studie S/Z vom Verfahren, das Besondere von Erzähltexten auf allgemeine Strukturprinzipien zu reduzieren. Nun versteht er Literatur als sekundäres Zeichensystem, das sich parasitär der Sprache als Trägermaterial bedient; Lesen wird zu einem Akt der Dekomposition, in dem es darum geht, den vorliegenden Text aufzulösen und den Spuren älterer Texte nachzugehn. Barthes hat diesen Bruch später selbst beschrieben: Zielte die INTRODUCTION À L'ANALYSE DE STRUCTURALE DES RÉCITS noch auf eine „allgemeine Struktur, von der dann die Analysen kontingenter Texte abgeleitet würden", dreht das Balzac-Buch diese Perspektive um und verwirft die Vorstellung eines „verschiedenen und - mehr noch - alle Texte überschreitenden Modells". 10 Zugleich verlässt er endgültig wissenschaftlichklassifizierende Formen und wendet sich literarisch-subversiven Schreibweisen zu; Grenzen zwischen Gegenstand und eigenen Verfahren schwinden.
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Roland Barthes: Die Körnung der Stimme. Frankfurt/M. 2002, S. 148f.
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Für neuere Modellierungen des Verhältnisses von Literatur und Wissen werden diese Innovationen überaus bedeutsam: Von der Auffassung des Textes als eines „Gewebes" von Zitaten profitieren nicht nur Autorschafts-Debatte und Intertextualitätstheorie, sondern auch Textumgangsformen, die in der Dekonstruktion von „konventionellen" Bedeutungszuweisungen ihr zentrales Betätigungsfeld erblicken. Das bewusst inszenierte „Spiel" des Beobachters mit seinen Gegenständen inspiriert Kulturpoetiken wie den New Historicism, der auf methodologisch nicht genau geklärte Weise in „Verhandlungen" mit dem Objekt seiner Observationen eintreten soll.
2.5 Entgrenzungen. Nach dem Strukturalismus
Wird Wissen als Gesamtheit von historisch veränderlichen Kenntnissen begriffen, die innerhalb kultureller Systeme durch wiederholte Beobachtungen erworben und in Zeichen fixiert werden, dann leisten die Beschreibungs- und Erklärungsverfahrungen des Strukturalismus einen wesentlichen Schritt zur Reflexion von deren Entstehung und Beschaffenheit. Denn die strukturalistische Tätigkeit besteht laut Roland Barthes darin, „ein ,Objekt' derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine Funktionen' sind)"1' - und das bedeutet nicht weniger als die regelgeleitete Zerlegung kultureller Artefakte in ihre Bestandteile und Elemente mit dem Ziel, ihr Arrangement zu erschließen. Diese Operationen des Zerlegens und Arrangierens sichern dem Strukturalismus überzeugende Optionen zum Umgang mit unterschiedlichen Zeichen und Zeichensystemen. Von der semiologischen Unterteilung der menschlichen Rede in langue - als ein unabhängig von seinen Sprechern existierendes Zeichensystem - und parole - den im einzelnen Sprechakt aktualisierten Äußerungen profitiert die Linguistik. Die gleichfalls im Rahmen der Semiologie entwickelte Unterscheidung von Signifikant und Signifikat befruchtet Analysen von Literatur wie von Mode, Film, Fotografie. Für den Gewinn anschlussfahigen Wissens aus und von literarischen Texten werden schließlich Verfahren zur Unterscheidung und Benennung ihrer sprachlichen Beziehungen bedeutsam: Die Differenzierung von Syntagma und Paradigma erlaubt die Ermittlung von Ordnungsbeziehungen in narrativen wie in lyrischen Texten; die Abgrenzung von Denotation und Konnotation nimmt Weisen des Bedeutungsaufbaus durch Sprache in den Blick und schärft das Bewusstsein für die spezifischen Qualitäten literarischer Werke; die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache
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Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch 5 (1966), S. 190-196; hier S. 191, zu Zerlegung und Arrangement ebenda S. 192.
2.5 Entgrenzungen. Nach dem Strukturalismus
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ermöglicht schließlich eine Selbstreflexion analytischer Verfahren. Die im Rahmen der strukturellen Semantik entwickelten Schrittfolgen zur Aufdeckung von elementaren Strukturen zielen darauf ab, kleinste bedeutungstragende und bedeutungsunterscheidende Einheiten aufzuspüren - wenngleich die Konzentration des Suchprogramms auf grundlegende Binäroppositionen zu einseitigen Blicken und Perspektiven fuhren können. Diese Einseitigkeiten strukturalistischer Konzepte und Verfahren lösen alternative Theoriebildungen aus, in denen Fragen nach der Spezifik von Literatur und ihrem Wissen in völlig neuer Weise gestellt und beantwortet werden. Gemeinsamer Nenner dieser in Frankreich schon Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Bewegungen ist ein ambivalenter Bezug auf Theorie und Praxis des Strukturalismus: Einsichten in die différentielle Organisation von Zeichen und Zeichensystemen werden zumindest partiell geteilt, Versuche zum Nachweis universell gültiger Strukturen aber abgelehnt.12 Doch wird von diesen nachstrukturalistischen Programmen nicht nur bestritten, dass literarische Objekte sinnvoll als eindeutige „Strukturen" oder „Systeme" rekonstruierbar seien. Da Zeichenträger nicht auf feststehende Bedeutungen und damit auf stabile Signifikate zurückfuhrbar wären, sei jede Zeichenverwendung prinzipiell unabschließbar; Texte könnten nicht als Träger eines fixierten Sinns angesehen und entsprechend interpretiert werden. Doch mehr noch. In poststrukturalistischen Überlegungen existieren keine Beziehungen zwischen feststehenden Elementen, die sich hierarchisch um ein Zentrum gruppierenm, wie es strukturalistische Konzepte annehmen und Binäroppositionen wie männlich-weiblich, Natur-Kultur, Bewusstes-Unbewusstes etc. aufbauen. Die kritischen Erben bzw. Überwinder des Strukturalismus gehen vielmehr davon aus, dass in diesen Gegensatzpaaren immer eine Seite unterdrückt bzw. verdrängt wird - und formulieren deshalb einen Forschungsimperativ, der die Aufmerksamkeit auf differente und plurale Elemente richtet und die „Verdrängungsleistungen" von
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Die ersten Manifeste dieser poststrukturalistischen Bewegung(en) erscheinen, als der Strukturalismus in Frankreich gerade seinen Höhepunkt erreicht. 1965 veröffentlicht Tzvetan Todorov unter dem Titel THEORIE DE LA LITTÉRATURE eine Anthologie von Texten russischer Formalisten; die Zeitschrift ALETHEIA bringt 1966 ein Heft LE STRUCTURALISME (mit Beiträgen von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes), COMMUNICATIONS 1966 eine Nummer zur „analyse structurale du récit" (mit Beiträgen von Roland Barthes, Gerard Genette, Tzvetan Todorov und Algirdas Greimas); LES TEMPS MODERNES fragt nach den „Problèmes de structuralisme" und publiziert mit den von Pierre Bourdieu kommenden Überlegungen zum CHAMP INTELLECTUEL ET PROJET CRÉATEUR einen (schon bald ins Deutsche übersetzten) Beitrag zur Soziologie des kulturellen Feldes. 1966 erscheint Algirdas Julien Greimas' SÉMANTIQUE STRUCTURALE im gleichen Jahr wie die „Archéologie des sciences humaines" LES MOTS ET LES CHOSES des Philosophen Michel Foucault und der erste Band der ÉCRITS des Psychosemiotikers Jacques Lacan. In der Folge erscheinen Jacques Derridas DE LA GRAMMATOLOGIE (1967) und Julia Kristevas RECHERCHES POUR UNE SÉMANALYSE (1969); Roland Barthes legt 1970 seine Balzac-Studie S/Z vor.
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Sprache und Kultur in besonderer Weise thematisiert: Nicht die Rekonstruktion von Bedeutungen und Bedeutungszuweisungen, sondern deren Dekonstruktion soll vollzogen werden, indem man die Prozesse der Zuschreibung von „Sinn" und „Bedeutung" kritisch hinterfragt; nicht die der Sprache und Literatur (irrtümlicherweise) zugeschriebenen Repräsentationsfunktionen gilt es zu erforschen, sondern das in sie eingetragene verdrängte Wissen, das durch Lektüren „gegen den Strich" sichtbar zu machen ist. 2.5.1 Arbeit am Verdrängten Umgang mit Texten wird in poststrukturalistischer Perspektive so zu einer „Arbeit am Verdrängten", geht es doch um nicht weniger als um die Restitution kulturell tabuisierter Wissensbestände und also um eine Reaktivierung des Ausgegrenzten und „Unliebsamen". 13 Das erklärt wohl auch die Faszination, die poststrukturalistisches Denken in und an der Psychoanalyse gefunden hat. Der wichtigste Vertreter eines solchen „Psychostrukturalismus" ist der französische Therapeut Jacques Lacan (1901-1981), der das Unbewusste als Sprache begreift und Freuds Verfahren zur Aufdeckung verdrängter Strebungen mit dem Zeichenkonzept von Ferdinand de Saussure verbindet, um so eine Psychosemiotik zu begründen. Exemplarische Anwendung finden seine Überlegungen zur Überlagerung von Begehren und Zeichenprozessen in der Analyse von literarischen Texten - ein Seminar über Edgar Allen Poes Erzählung DER ENTWENDETE BRIEF gilt als Gründungsurkunde der mit seinem Namen verbundenen Bewegung. 14 Das Beispiel zeigt zugleich, dass poststrukturalistische Überschreitungen nicht an einzelne Fächer gebunden sind, sondern ihre Wirkungen disziplinenübergreifend entfalten; gleichwohl sind sie eine besondere Herausforderung für die Literaturforschung geworden. Die Attraktivität eines poststrukturalistischen Umgangs mit Literatur speist sich nicht zuletzt aus dem Versprechen, zentrale und gleichwohl bislang unbearbeitete Aspekte der kulturellen Bedeutungsproduktion zu erschließen: Texte erscheinen in diesen Theoriebildungen als ein „Gedächtnis" ausgeschlossenen Wissens; poetische Schöpfungen kehren - so die prominente bulgarisch-französische Literaturund Kulturtheoretikerin Julia Kristeva - „die Schranken des gesellschaftlich nützlichen Diskurses hervor und tragen den Stempel dessen, was verdrängt wurde: des Prozesses, der über das Subjekt und die Kommunikationsstrukturen hinausweist". 15
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Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart 2000, S. IX. Jacques Lacan: Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief'. In: Ders.: Schriften (1966). Bd. 1, Ölten 1973, 7-60. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache (1974). Frankfurt/M. 1978, S. 30.
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Die Entgrenzungen strukturalistischer Observationen gehen aber noch weiter. Mit der Modifikation des von Michail Bachtin (1895-1975) geprägten Begriffs der „Dialogizität" werden zugleich die Bezugs- und Verweisungszusammenhänge von Texten maximiert. In poststrukturalistischer Perspektive baut sich jeder Text als „Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes".16 Intertextualität beschränkt sich also nicht mehr auf intentionale Bezüge oder Anspielungen auf andere Texte (die bereits in Begriffen der klassischen Rhetorik und Poetik benannt und bearbeitet wurden).17 Hatte Bachtin noch betont, dass jeder Text einen Sprecher oder Autor habe und Sprache also stets die Form einer Äußerung annehme, die zu einem bestimmten Subjekt gehöre, löst sich diese Bindung in Kristevas Intertextualitäts-Begriff und bei den ihr folgenden Poststrukturalisten auf. Die Grenzen zwischen lesendem und schreibendem Subjekt verschwimmen: „Derjenige, der schreibt, ist auch derjenige, der liest" und ist „selbst nur ein Text, der sich aufs neue liest, in dem er sich wieder schreibt".18 2.5.2 Unabschließbare Differenz Ein so entgrenzter Intertextualitäts-Begriff eröffnet Perspektiven, deren Folgen nicht zu unterschätzen sind. Dann nun verwandelt sich die Erfahrungswirklichkeit der Menschen in einen riesigen, sich beständig selbst reproduzierenden und transformierenden Text. „Es gibt kein Außerhalb des Textes",19 postuliert
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Julia Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin (1967). In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt/M. 1972, S. 345-375, hier S. 348. Schon die klassische Rhetorik kennen die Kategorie imitatio, die eine Nachahmung vorbildlicher Autoren in Stil und Struktur, d.h. also ein Sprechen in fremden Stimmen umschreibt und Verweise wie Entlehnungen eher als Qualitätsmerkmale denn als Stigmata bestimmt. Der postmoderne Intertextualitätsbegriff basiert auf denkgeschichtlichen Voraussetzungen, die sich im Zusammenhang mit Umwertungen der westlichen Individualitätssemantik ausbilden. Zentral wird zum einen die Vorstellung vom besondern Wert der Originalität eines Autors, zum anderen die besondere Prämierung der Einzigartigkeit und Einmaligkeit von Texten. Vor diesem Hintergrund enthüllt sich die provokative Gewalt einer Vorstellung, die nicht nur sprachliche Texte im engeren Sinne in das Gewebe von Intertextualität eingesponnen sieht, sondern letztlich die ganze kulturelle Welt in einen texte général verwandelt. Dieser Radikalvariante steht eine gemäßigte Version gegenüber, der es um die Beschreibung konkreter Bezugnahmen zwischen Texten geht. Der hier favorisierte Intertextualitätsbegriff geht von einem intentionalen Bezug auf andere Texte und einem kalkulierten Intertextualitätsbewusstsein aus, das sich durch konkrete „Intertextualitätssignale" manifestiert. Umfassend dazu jetzt R. Klausnitzer, Guido Naschert: Gattungstheoretische Kontroversen? Konstellationen der Diskussion von Textordnungen im 20. Jahrhundert. In: R.K., Carlos Spoerhase (Hrsg.): Literaturtheorie in der Kontroverse, S. 369-412. Julia Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin, S. 372. Jacques Derrida: Grammatologie (1967). Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1983, S. 274.
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denn auch der Philosoph Jacques Derrida (1930-2004), der ersten Ruhm vor allem an Literatur-Departments von US-amerikanischen Universitäten gewinnen sollte. Seine frühen Arbeiten beschäftigen sich kritisch mit dem westlichmetaphysischen „Logozentrismus", von dessen Ursprungsdenken und „Phonozentrismus" er sich dezidiert absetzt. Im Gegensatz zur traditionellen westlichen Philosophie, die verschiedene Begriffe als Signifikanten eines transzendentalen Signifikats (Gott, Identität, Sinn, Vernunft) bestimmt und über Oppositionspaare (Gott-Teufel, Identität-Differenz, Sinn-Unsinn, vernünftig-unvernünftig) fest gefugte hierarchische Ordnungen erzeugt habe, wird nun die Abwesenheit solcher transzendentalen Signifikate betont und das Feld des Bezeichnens ins Unendliche geöffnet. Zugrunde liegt diesem Ansatz eine Aufwertung von „Schrift" gegenüber von „Stimme". Während die Stimme aufgrund ihrer Bindung an den Logos bzw. das sprechende Subjekt die Präsenz eines Signifikats betone, erweise sich Schrift als Ort der Differenz. In ihr sei die Folge der Signifikanten nicht auf ein Signifikat rückfuhrbar, da sie durch Arbitrarität und Differenzialität von Zeichen geprägt sei. Jede neue Lektüre einer Schrift verschiebe durch eine Aktualisierung der Sinnkonstitution die ursprünglichen Signifikat-Annahmen und führe zu neuen Sinnkonstitutionen, die unendlich weitergeführt werden könnten. Diesen Vorgang und seine Bedingungen versucht Derrida mit dem Begriff der „Différance" zu fassen. Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Auflösung der Einheit von Signifikant und Signifikat sind hier nicht näher darzustellen. Festzuhalten aber ist der darauf gründende Zeichen- und Textbegriff, an den verschiedene Spielarten des Poststrukturalismus anschließen können. Texte sind in dieser Lesart immer Transformationen anderer Texte, so wie Zeichen als Umwandlungen anderer Zeichen erscheinen. Demzufolge kann man sich nicht mit einem Text von einer hierarchisch höheren Position aus über andere Texte äußern; Interpretation im hermeneutischen Sinn wird unmöglich. An ihre Stelle tritt das Verfahren der Dekonstruktion, das Derrida an zahlreichen Beispielen vorgeführt hat und das darin besteht, die per se unendlichen Verweisungsketten der kulturellen Zeichenproduktion aufzudecken. Dekonstruktion will zeigen, wie in jeder Bedeutungszuweisung die Selbstauflösung von Bedeutung bereits angelegt ist. Vormals feste Grenzen lösen sich auf: Wie etwa zwischen Ökonomik (der Hausverwaltungskunst) und Chrematistik (der Kunst des Gelderwerbs) gibt es auch keinen Unterschied mehr zwischen Falschgeld und Geld denn Falschgeld ist, „was es ist, nämlich falsch und nachgemacht" nur insofern, „als man dies nicht weiß, das heißt sofern es zirkuliert, aussieht und funktioniert wie richtiges und guíes Geld."10 Ist so der Unterschied von Wahrheit und Fiktion in der Geldwirtschaft aufgehoben, hat er auch in den Textwelten der Geschichte und der Literatur keinen Platz: „Alles, was sich über Falsch-
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Jacques Derrida: Falschgeld: Zeit geben I ( 1991 ). München 1993, S. 81 f.
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geld sagen läßt, wird man von der Geschichte sagen können, vom fiktiven Text."21 Fiktionalität und Realität, Text und Natur werden zu ununterscheidbaren Einheiten von Textualität: Es gibt „keine Natur, sondern allein Naturwirkungen [...], Denaturierung oder Naturalisierung. Die Natur, die Bedeutung von Natur wird nachträglich wiederhergestellt ausgehend von einem Trugbild (zum Beispiel der Literatur), für dessen Ursache man sie hält."22 Der bereits erwähnte Kultur- und Literaturtheoretiker Roland Barthes wendet diese Zeichenkonzeption auf den Umgang mit literarischen Texten an. Die Folgen sind weitreichend und betreffen zum einen die Rezeption: Erst in der Lektüre wird das Potential des unendlichen Verweisungsspiels der Texte aktualisiert; indem ein Leser einen Texte auf- bzw. wahrnimmt, schreibt er ihn erst eigentlich. Da Lektüren keinem Sinnzwang unterworfen sind und der Leser die Freiheit besitzt, Sinn zu- oder abzuerkennen, geht es nach Barthes beim Lesen letztlich um nichts anderes als um das Ausleben und Aktualisieren von Lust. - Die Vorstellung von der aktiven Erzeugung eines Textes durch mehrdimensionale Zeichenketten revolutioniert auch die Auffassung von Autor und Bedeutung. In seinem Aufsatz L A MORT DE L'AUTEUR von 1 9 6 7 / 6 8 demontiert Barthes die Figur des „Autor-Gottes" und seiner „Botschaft" als Zentralpunkt von Interpretationen; zugleich weist er die Behauptung eines präsenten Sinnes von Texten überhaupt zurück. Hätte man einen Text bisher als einen „fertigen Schleier" aufgefasst, hinter dem ein verborgener Sinn bzw. die Wahrheit zu entdecken sei, soll nun das Werden des Textes als „Gewebe von Zitaten" in den Mittelpunkt gestellt werden: „Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die .Botschaft' des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur."23 Zentralidee dieser „generativen Vorstellung" ist die Idee, „dass der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge."24 Dem entsprechend habe man zu untersuchen, wie Autoren als Regulatoren bzw. Verknüpfungsinstanzen von „Diskursen" arbeiteten oder in der Ermittlung von „Textbewegungen" die „Strategien" des Sagens jenseits des Gesagten herauszupräparieren.
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Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 217. Roland Barthes: Der Tod des Autors (1967/68). In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martinez, Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185-193, S. 190:
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Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, S. 94.
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2.5.3 Die Macht der Diskurse und ihre Analyse Genau dieses Feld bearbeitet der Historiker und Philosoph Michel Foucault (1926-1984), der seit 1970 einen Lehrstuhl für Geschichte der Denksysteme am Collège de France in Paris inne hat und mit seinen Schriften nachhaltige Wirkungen auf die Erforschung des Wissens der Literatur auslöst - obwohl seine Rekonstruktionen epistemischer Ordungen von ihm selbst nicht auf das Feld der literarischen Kommunikation angewandt werden und Literatur vornehmlich zur Illustration und Plausibilisierung geistes- und ideengeschichtlicher Szenarien dient. Foucaults Interesse greift weiter aus und richtet sich auf historisch situierte Redeformationen bzw. „Diskurse", die neben Texten auch kulturelle Praktiken und Institutionen umfassen und das Wissen einer Kultur überhaupt konditionieren. In seiner Antrittsvorlesung DIE ORDNUNG DES DISKURSES von 1970 formuliert er die grundlegenden Bestimmungen eines Begriffsfeldes, das in zahlreichen literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen dann geradezu inflationäre Verwendung finden wird: „Diskurse" unterliegen der Kontrolle und Kanalisation durch bestimmte Prozeduren, zu denen verschiedene Formen der Ausschließung, Klassifikation oder Sprachregelung gehören; sie sind Ergebnisse von Macht und deren (ungleicher) Verteilung in regulierten Konstellationen. Diskursanalytische Untersuchungen sollen durch Umkehrung gängiger Sprach-Regelungen und unter besonderer Berücksichtigung diskontinuierlicher Elemente die Aufmerksamkeit auf das „Verdrängte" dieser Denk- und Redeformationen lenken. Vor allem geht es darum, die Mechanismen jener Zuschreibungen offen zu legen, in denen Berufungen auf ein begründendes Subjekt oder auf eine ursprüngliche Erfahrung den Umstand verdecken, dass sich Redegegenstände überhaupt erst im Rahmen von regelgeleiteten Praktiken (und damit stets vorläufig) konstituieren können. In dieser besonderen Aufmerksamkeit für historische Dimensionen und Dokumente wie für die Ordungen des Denkens unterscheidet sich Foucaults Ansatz von textorientierten Konzepten poststrukturalistischer Provenienz, die sich kritisch gegen die Repräsentationsfunktion von Sprache wenden; mit der Auflösung vormals verbindlicher Demarkationslinien zwischen „Diskursen" teilt er ihren entgrenzenden Anspruch. Denn das von ihm entwickelte und in zahlreichen Untersuchungen historisch angewandte Konzept einer „Diskursarchäologie" sucht keine Ausgangs- und Endpunkte, sondern will das „Archiv" als Summe diskursiver Ereignisse rekonstruieren. Es zielt auf die Ermittlung von Regeln, die eben nicht mehr nur Relationsgefüge von Zeichen, sondern auch Praktiken dirigieren. In der Erweiterung und Neubesetzung einer in Linguistik und Narratologie länger gebrauchten Kategorie gewinnt der DiskursBegriff bei Foucault eine Materialität von eigener Konsistenz und Zeitlichkeit; er avanciert zu einer Wertgröße des Wissens einer Kultur und umschließt die Redeweisen von sozialen Klassen und Berufsständen, Generationen und Epo-
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chen ebenso w i e von wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Milieus. „Diskurs" und „diskursive Praxis" stehen nicht neben der Gesellschaft, sondern konstituieren sie eigentlich erst - denn sie definieren nicht allein, w a s nach bestimmten Regeln hervorgebracht wird, sondern auch, w a s mit spezifischen Ausschlussmechanismen als das „Nicht-Sagbare" exkludiert wird und damit gleichsam „draußen" bleibt. 25 Ein solch ausgreifender Diskurs-Begriff hat Konsequenzen. Eine davon ist die Entwicklung großräumiger Szenarien der Denk- und Wissensgeschichte, in deren Zentrum die von Foucault als Episteme bezeichneten historischen Wissensformationen stehen. D i e Entwicklung des Denkens in der abendländischen Kultur vollzieht sich in diesen (nicht selten spekulativen) Szenarien als A b l ö sungsprozeß verschiedener epistemischer Ordnungen, z w i s c h e n denen keine Vermittlung mehr möglich scheint. 26 - Eine weitere Konsequenz ist die Verabschiedung eines emphatischen Subjektbegriffs (die Roland Barthes' TodesErklärung des genialen Autors korrespondiert): In Foucaults Diskursgeschichten handeln weniger Individuen als vielmehr Strukturen und Mechanismen; das Subjekt agiert als Element bzw. Fiktion in einem ihm stets vorausgehenden diskursiven Regelwerk. 2 7
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Wie diese Mechanismen funktionieren, demonstriert die Antrittsvorlesung an der Rezeption von Gregor Mendels Vererbungslehre; vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1971). Frankfurt/M. 1974, S. 24. Die erstmals 1966 veröffentlichte „Archäologie der Humanwissenschaften" LES MOTS ET LES CHOSES (deutsch u.d.T. DIE ORDNUNG DER DINGE; 1971) diagnostiziert im Ver-
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hältnis des Menschen zur Welt zwei tiefe Brüche: Bis zur Renaissance im 16. Jahrhundert werden Zeichen nach Ordnungen der Ähnlichkeit organisiert; Wortzeichen und Ding sind austauschbar. Diese an magische Praktiken anschließenden Beziehungen finden in analogischen Entsprechungen ihren Ausdruck: Wie oben, so unten; wie im Makro-, so im Mikrokosmos. Eine sich seit dem 17. Jahrhundert formierende und mit Descartes' Namen verbundene Ordnung des Denkens bricht mit dieser Vorstellung: Wörter und Dinge trennen sich; das Zeichen wird zu einer Größe, die von den Dingen selbst radikal separiert ist. Zeichenhafte Bezüge zu Gegenständen werden willkürlich; die Dinge werden in Taxonomien der Naturgeschichte oder mathematischen Ordnungen aufgelöst. Im epistemischen Bruch „um 1800" wird diese Ordnung umgekehrt; die Zeichen verlieren ihre Transparenz und werden „dunkel": Sie sind nur noch an der Oberfläche angesiedelt und entfalten sich nicht mehr in einem Tableau der Dinge, sondern nur noch in Methoden des Erkennens, die auf bestimmte Gegenstandsbereiche anzuwenden sind. In Wissensräumen öffnen sich Dimensionen der Lebensprozesse, der Produktionsformen und des Diskurswandels, was Geschichte, Arbeit und Leben zu den Gegenständen von Humanwissenschaften, politischer Ökonomie und Philologie macht. In seinem Vortrag QU'EST-CE QU'UN AUTEUR? vor der Französischen Gesellschaft für Philosophie kritisiert Foucault spezifische Umgangsweisen mit dem Begriff „Autor". In der Wissenschaft sei die Nennung von Autorennamen oftmals mit dem Wunsch verbunden, bestimmte Schriften in einen Kontext einzuordnen oder sie durch das Konzept einer „Autorenfamilie" miteinander zu verbinden, ohne dass sich diese Relationen aus den Texten selbst ergeben würden. Nach Foucault ist ein Autorname nicht einfach nur ein Element in einem bestimmten Redezusammenhang, sondern Träger einer „klassifikatorischen Funktion". Mit einem Automamen gruppiere man Texte, grenze bestimmte
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Obwohl der französische Philosoph seine Überlegungen nicht als Verfahren zur Beschreibung oder Deutung literarischer Texte konzipiert und Literatur wie Kunst für ihn eher illustrative Funktionen übernehmen, hat die Diskursanalyse in der Literaturforschung ein vielstimmiges Echo gefunden. Ihre bis heute anhaltende Faszination speist sich aus Erweiterungen des Gegenstandsbegriffs und methodischen Innovationen, von denen insbesondere die Erforschung der Beziehungen von Literatur und Wissen profitiert. Denn diskursanalytische Verfahren wollen nicht durch interpretative Verfahren zu einem adäquaten Sinnverstehen des singulären Werkes gelangen; sie deuten das Kommunikationsdreieck aus Autor, Text und Leser vielmehr neu, um Relationen und intertextuelle Verweise im Prozessieren diskursiver Formationen zu beobachten. Diskursanalysen fragen danach, welche Aussagen in einer bestimmten Zeit, Disziplin oder Gattung überhaupt gemacht werden konnten, was als wahrheitsfahiges Wissen galt und was von vorgängigen Regularien ausgeschlossen, also nicht denkbar oder sagbar und damit nicht wissenschaftsfahig war. Diskursanalytische Fragestellungen stellen mithin weniger eine Methodik zur Untersuchung einzelner Texte dar, sondern konstituieren Textgruppen auf der Basis neuer Objektbereiche und Fragestellungen, die kulturelle Relevanz beanspruchen: Körperteile, Haut und Haar machen als Gegenstände von „Grenzdiskursen" nun ebenso wissenschaftliche Karriere wie Beziehungen zwischen Literatur und Medizin oder Literatur und Recht. Erweiterungen von Gegenstandsbereich und Fragestellungen ermöglichen also neue Thematisierungsweisen und rekonstruktive Schrittfolgen für Explorationen des Verhältnisses von Literatur und Wissenskulturen. Gleichwohl werfen gerade sie nicht zu unterschätzende Probleme auf und haben zu entsprechenden Interventionen geführt. Ein erster Einwand richtet sich gegen den demonstrativen Wechsel von Interpretationen zu „Lektüren": Auslegungen bzw. Deutungen können ihren Geltungsanspruch verlieren, wenn es keine Kriterien mehr gibt, die eine intersubjektive Geltung von Bedeutungszuweisungen garantieren; Beziehungen zwischen poetischen Werken und diskursiven Praktiken ihrer Entstehungszeit sind zwar „spannend", eröffnen aber erst einmal nur begrenzte Einsichten in die spezifisch literarischen Qualitäten von
Texte von anderen ab, schließe aus und stelle gegenüber. Zugleich richteten sich die Fragen nach dem Autor auf irrelevante Aspekte: „Wer hat eigentlich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer? Mit welcher Authentizität oder welcher Originalität? Und was hat er vom tiefsten seiner selbst in seiner Rede ausgedrückt?" (Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M. 1993, S. 31.) Demgegenüber plädiert Foucault für eine Umkehr der Blickrichtung: Zu fragen sei nicht, wer spreche, sondern: „Welche Existenzbedingungen hat dieser Diskurs? Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?" Es geht also um die Erfassung von Diskursregeln, die etwa über die Verteilung von Macht- und Herrschaftsansprüchen verraten - und den individuellen Autor zu einer Funktion reglementierter Äußerungen degradieren.
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Textgesamtheiten. - Weitere Einwände richten sich gegen das Theorem des „Historischen Apriori", das innerhalb von Foucaults System wie in einer kulturwissenschaftlichen „Wissensgeschichte" eine zentrale Stellung einnimmt, sowie gegen den grundlegenden Wissens-Begriff, der es aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades erlauben soll, nicht nur unterschiedliche Gegenstände der Wissenschaften, sondern diese auch mit Erkenntnisformen in den historischen Lebenswelten zu korrelieren. Die substanzielle Differenz zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Wissen wird gradualisierend aufgelöst, wenn Wissen in der erstmals 1969 veröffentlichten ARCHÄOLOGIE DES WISSENS als Ergebnis einer „diskursiven Praxis" erscheint. 28 Zugleich
werden Erkenntnisansprüche von der Bindung an ein wissendes Subjekt getrennt - so dass nicht mögliche Wahrheit oder Gewißheit ein Wissen charakterisieren, „sondern daß ,Wissen' heißt: einem vorgegebenen, unhintergehbaren Feld von symbolischen Handlungen eingeschrieben sein, dessen Regeln es [das Wissen] nicht schafft, sondern nachvollzieht."29 Werden in den Begriff des Wissens neben den empirischen Erkenntnissen einer Epoche alle Formen der symbolischen Bedeutungsproduktion eingemeindet, dann ist Wissen extensional universell. Entsprechend heisst es bei Foucault denn auch: „Das Wort Wissen wird also gebraucht, um alle Erkenntnisverfahren und -Wirkungen zu bezeichnen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind."30
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Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969). Übersetzt von Ulrich Koppen. Frankfurt/M. 1981, S. 261f.: „Diese Menge von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildeten und für die Konstitution einer Wissenschaft unerläßlichen Elementen, obwohl sie nicht notwendig dazu bestimmt sind, sie zu veranlassen, kann man Wissen nennen. Ein Wissen ist das, wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann, die dadurch spezifiziert wird: der durch die verschiedenen Gegenstände, die ein wissenschaftliches Statut erhalten werden, konstituierte Bereich [...]; ein Wissen ist auch der Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat [...]; ein Wissen ist auch das Feld von Koordination und Subordination der Aussagen, wo Begriffe erscheinen, bestimmt, angewandt und verändert werden [...]; schließlich definiert sich ein Wissen durch die Möglichkeit der Benutzung und Aneignung, die vom Diskurs geboten werden [...]. Es gibt Wissensgebiete, die von den Wissenschaften unabhängig sind (die weder deren historischer Entwurf noch ihre gelebte Kehrseite sind), aber es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert. - Konkreter hatte es zuvor geheißen, die Archäologie habe „empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur" zu rekonstruieren; M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966). Frankfurt/M. 1971, S. 9. So kritisch Manfred Frank: Ein Grundelement der historischen Analyse: die Diskontinuität. Die Epochenwende von 1775 in Foucaults „Archäologie". In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik XII). München 1987, S. 97-130, hier S. 102. Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 32.
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Damit aber können Möglichkeiten zur Rekonstruktion v o n Differenzen z w i s c h e n historisch bestehenden Geltungsansprüchen verloren gehen: A l s gleichursprüngliche Realisationen einer „Episteme" oder „diskursiven Praxis" sind Unterschiede z w i s c h e n einer Luftpumpe und einer philosophischen Gesellschaftstheorie nichtig - w a s Foucault auch konsequent reflektiert, indem er erklärt, in der historischen Rekonstruktionsarbeit eines j e spezifischen Wissens könne man die Grenzen z w i s c h e n den „Disziplinen, die man Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte des Denkens und auch Literaturgeschichte nennt", vernachlässigen. 3 1 Eine auf so breite Füsse gestellte „Wissensgeschichte" begreift sich selbst als transdisziplinär und grenzenüberschreitend sind doch fur Rekonstruktionen der historischen Episteme alle Gegenstände qualitativ gleich und Disziplingrenzen also notwendig aufzuheben. 3 2 „Transdiziplinarität" bildet einen Ausgangs- b z w . Zielpunkt von Forschungen, die Wissen und Wissensformationen unter Aufhebung bisheriger Grenzziehungen erforschen wollen; weitere basale Elemente sind der auf Foucaults Begriffskombination des „historischen Apriori" 33 rekurrierende Imperativ der „radikalen Historisierung" 34 und die „archäologische" Recherche nach dem allen konkreten Wissens- und Erkenntniserscheinungen einer Epoche 31 32
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Michel Foucault: Archäologie des Wissens, S. 10. So etwa Claudia Benthien, Christoph Wulf: Einleitung. Zur kulturellen Anatomie der Körperteile. In: Dies. (Hrsg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hamburg 2001, S. 9-26; Claudia Benthien, Hans-Rudolf Velten: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hamburg 2002, S. 16; Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart, Weimar 2003, S. 3f.; Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003, S. 8. Als historiographische Kategorie erscheint der Begriff schon in Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 204 und 261: „Dieses historische Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, dem alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird. [...] Die Geschichte des Wissens kann nur ausgehend von dem gebildet werden, was ihm gleichzeitig war, und nicht in Termini gegenseitiger Beeinflussung, sondern in Termini von Bedingungen und in der Zeit gebildeter Apriori." Die paradoxale Struktur dieser Begriffskombination wird später explizit eingestanden; vgl. M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 184: „Diese beiden Worte nebeneinander rufen eine etwas schrille Wirkung hervor." Die auf Foucault zurückgreifende Formel von der „radikalen Historisierung" findet sich u.a. bei Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München S. 35; Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse. Hamburg: Rohwohlt 1999, S. 15f.; Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller (Hrsg.): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg 2000, S. 106; Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der Versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen: Wallstein 2001, S. 8; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/M. 2001, S. 170 sowie Jürgen Martschukat (Hrsg.): Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt, New York 2002, S. 14.
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zugrundeliegenden Regelwerk, das die konkreten Denk- und Redeformationen lebensweltlicher, literarischer oder wissenschaftlicher Art hervorbringt. Die weitreichenden Intentionen seiner „Archäologie" hat Foucault selbst auf den Punkt gebracht: „Was ich jedoch erreichen wollte, war ein positives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist [...]. Was der Naturgeschichte, der Ökonomie und der Grammatik in der Klassik gemeinsam war, war dem Bewußtsein des Wissenschaftlers sicher nicht präsent [...]; aber die Naturgeschichtler, die Ökonomen und die Grammatiker benutzten - was ihnen unbekannt blieb - die gleichen Regeln zur Definition der ihren Untersuchungen eigenen Objekte, zur Ausformung ihrer Begriffe, zum Bau ihrer Theorien. Diese Gesetze des Aufbaus, die für sich selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffende Theorien, Begriffen und Untersuchungsobjekten zu finden sind, habe ich zu enthüllen versucht, indem ich als den für sie spezifischen Ort eine Ebene isolierte, die ich, vielleicht zu willkürlich, die archäologische nannte."35 Die Konsequenzen eines so begründeten Umgangs mit Wissen und Wissensformationen liegen auf der Hand. Systematische Auseinandersetzungen mit philosophischen Texten oder historische Überprüfungen der Ergebnisse empirischer Wissenschaften werden obsolet; da jede Form transhistorischer Geltung unmöglich ist, erlischt nicht allein die Notwendigkeit, sondern sogar die Möglichkeit der Wahrheitsfrage. Dennoch (oder vielleicht gerade deshalb?) hat dieser strenge Historismus unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten eröffnet: nicht zuletzt aufgrund des Versprechens, die allen konkreten Wissens- und Erkenntniserscheinungen einer Epoche zugrundeliegende Systematik ermitteln zu können, die zugleich alles konkrete Denken und Reden generiert. Zu den wirkungsmächtigen Adaptationen gehören die Programme des „New Historicism" und die „Poetologien des Wissens", die als gegenwärtig prominente Konzeptionen nun kurz vorgestellt werden sollen, um abschließend analytische Alternativen zum Problem der literarischen Erkenntnis zu dokumentieren.
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Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 12.
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
2.6 Erweiterungen und Limitationen Die skizzierten Einsätze poststrukturalistischer Theoriebildung eröffnen unterschiedliche Optionen für die Arbeit an den Relationen von Literatur und Wissen. Zum einen inspirieren sie „Dekonstruktionen" von (konventionellen) Bedeutungszuschreibungen, in dem sie durch genaues Lesen (close reading) die Wechselspiele von „Blindheit und Einsicht" (Paul de Man) in den unhintergehbar rhetorischen Strukturen von Sprache offen zu legen suchen. Zum anderen bieten sie Chancen fur Verschränkungen von Literaturbeobachtung und psychoanalytischer Therapeutik, wenn sie Texte als Krankengeschichten lesen und mit „symptomalen Lektüren" traktieren. Ein in unterschiedlichen Zusammenhängen entwickelter, von Michel Foucault wirkungsvoll neu besetzter Diskurs-Begriff eröffnet Chancen, Literatur als historisch-genealogische Formation wie als Objekt einer historischen Epistemologie zu beschreiben. Schreibweisen in Literatur und Wissenschaft werden nun als Voraussetzung wie als Ergebnis regelgeleiteter Praktiken sichtbar, die Rückschlüsse auf die Denk-Möglichkeiten und -Strukturen einer Epoche gestatten und also bislang verborgene „Sub-Texte" oder „Handbücher" freilegen. Gemeinsamer Grund aller dieser Einsätze ist eine neue Relationierung von poetisch-zeichenhaften Verfahren und Wissen. Die in kulturellen Systemen erworbenen und weitergegebenen Kenntnisse sind nicht mehr KontextElemente, deren Wirkungen auf literarische Texte in wechselnden Modellen beschrieben werden; sie manifestieren sich auch nicht in Binäroppositionen, die auf eine textexterne Wirklichkeit referieren. Wissen avanciert vielmehr zum integralen Bestandteil eines Diskursuniversums, das keine Grenzen zu einer atextuellen Außenwelt mehr hat. Als Summe symbolischer Ordnungen und Zuschreibungen zirkulieren Wissensbestände in den Regelsystemen der Kultur und bilden den generativen Grund der Bedeutungsproduktion in Lebenswelt, Literatur und spezialisierten Expertenkulturen. - Voraussetzungen wie Konsequenzen eines solchen ausgeweiteten Wissensbegriffs sind an dieser Stelle nur noch einmal zusammenzufassen: Todes-Erklärungen des Autors und Zweifel an einem traditionellen, auf Einheit und Kohärenz angelegten Werkbegriff verbinden sich, wenn Texte als Schnitt- und Knotenpunkte von Diskursen und nicht länger als selbständige, voneinander abgrenzbare Gebilde verstanden werden. In jedem Text sprechen - so die These - verschiedene andere Texte mit; jeder Text kann als Antwort auf weitere Texte gedeutet werden, so dass jeder Umgang mit ihnen niemals bei einem in sich selbst „sinnvollen" Text stehenbleiben kann, sondern bis ins Unendliche auf andere Texte verwiesen ist. Diese Auffassungen einer entgrenzten Intertextualität korrespondieren dem Verfahren der différance, in dem dieselbe Figur des ins Unendliche „aufgeschobenen" Sinnes, der sich nur aus dem unendlichen differentiellen Spiel der Zeichen ergibt, entfaltet wird - dort auf Ebene der Zeichentheorie.
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Die Erben dieser Bewegungen sind nun kurz vorzustellen: Zum einen der sich als „Poetik der Kultur" begreifende „New Historicism", der in „Verhandlungen" mit diskursiven Konstellationen eintritt und den „Austausch" bzw. die „Zirkulation" von „sozialer Energie" zu zentralen Beschreibungskategorien erhebt, mit denen Wissensökonomie und Beziehungssinn der als „semantische Kraftfelder" bestimmten Texte zu erfassen sind; zum anderen eine „Poetologie des Wissens", die epistemologische und rhetorische Revisionen der Literaturund Wissenschaftsgeschichtsschreibung postuliert und „Sozialität", „Historizität", „Diskursivität", „Konstruktivität" und „Poetizität" als grundlegende Kategorien ihrer Erkenntnisinteressen exponiert. Abschließend sind Überlegungen der analytischen Philosophie zum Problem der literarischen Erkenntnis zu dokumentieren, die als Alternative zum entgrenzenden Anspruch poststrukturalistischer Modellierungen gelten können. 2.6.1 Poetik der Kultur. New Historicism Der auch im Rahmen poststrukturalistischer Theoriebildungen vollzogene „rhetoric turn", der eine prinzipielle Gleichstellung von Texten und Kontexten im Zeichen ihrer „Lesbarkeit" begründet, bildet eine Basis für die Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Wissen, die sich unter dem Label „New Historicism" in den 1980er Jahren formiert. Programmatisch für diese von US-amerikanischen Universitäten ausgehende Richtung der Literaturforschung - die sich von textimmanenten Verfahren des „New Criticism" abgrenzt und auf den machtanalytischen Diskursbegriff von Michel Foucault ebenso zurückgreift wie auf das vom Ethnologen Clifford Geertz entwickelte methodologische Paradigma der „thick description" und den „cultural materialism" eines Raymond Williams - ist die Verbindung von zwei bekannten Thesen mit einer überraschenden Pointe. Die (bekannte) Einsicht in die historische Dimension von Texten koppelt man mit der (ebenfalls bekannten) Einsicht in das textuell vermittelte Wissen von und über Geschichte - und erhält als Pointe den folgenschweren Chiasmus von der „Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität der Geschichte".1 Diese These von der unhintergehbaren Textualität von Geschichte ist nicht ohne Brisanz. Denn die Vertreter des „New Historicism" wie etwa Stephen Greenblatt, 1943 geborener Professor am Department of English an der University of California, Berkeley, meinen nicht nur, dass Geschichte und Geschichtsschreibung auf Quellentexte angewiesen seien, sondern dass auch der Gegenstand solcher Geschichte wie ein Text verfasst sei. Jede historisch zu erfassende Kultur wäre als ein sinnhafter Zusammenhang, als eine symbolisch strukturierte Praxis bzw. als System von Zeichen zu „lesen" und zu „deuten". Wird Kultur als semiotisch organisierte 1
Louis A. Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 22001, S. 60-93, hier S. 67.
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
Wirklichkeit aufgefasst, gehören Gebrauchsanleitungen und Gedichte ebenso zu ihr wie Experimentalanordnungen, Fußballspiele oder Hahnenkämpfe. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine Modellierung der Relationen zwischen Literatur und Wissen sind gravierend. Für den „New Historicism" geht es nicht mehr um eine Rekonstruktion der literarischen Transformationen von begründeten Erkenntnissen oder Geltungsansprüchen, sondern um das, was als bereits symbolisch strukturiertes Material in einen Text eingeht bzw. was sich ihm als kollektiver Sinn „einschreibt". Kulturelle Ausdrucksformen sind in ihrer Aussagekraft gleichwertig - Hexenbeschuldigungen, medizinische Traktate und Kleidung gelten wie gelehrte und literarische Texte als „komplexe symbolische und materielle Artikulationen der imaginativen und ideologischen Strukturen jener Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat".2 Das mit einer solchen Gegenstandserweiterung und Gewichtsverlagerung das Objekt von Literaturforschung aus dem Blick gerät, liegt auf der Hand. Als Ziel seines Buches SHAKESPEAREAN NEGOTIATIONS nennt Stephen Greenblatt deshalb auch eine „Poetik der Kultur", die es erlauben soll, die „dynamische Zirkulation von Lüsten, Ängsten und Interessen" bzw. die „Zirkulation sozialer Energie" zu erfassen.3 Der geschichtlich in der Tat nur schwer greifbare Autor William Shakespeare wird in dieser Perspektive kein Gegenstand historischphilologischer Rekonstruktion, sondern erscheint als semantisches „Kraftfeld", durch das die sozialen und ästhetischen „Energien" seiner Zeit strömen. Der „New Historicism" delegiert Fragen nach dem Status und der Funktion von Wissen in und von literarischen Texte aber nicht nur an eine weiter ausgreifende „Kulturwissenschaft"; er macht Texte zugleich zum Gegenstand von „Verhandlungen", an denen retrospektive Beobachter auf eine methodisch nicht vollständig zu klärende Weise teilnehmen können. Welche Folgen dieses betont kontingente, die eigene Konstruktivität hervorhebende Verfahren hat, zeigen die Arbeiten des Historikers Hayden White. Sein bereits 1973 erschienenes Buch METAHISTORY. T H E HISTORICAL IMAGINATION IN NINETEENTHCENTURY EUROPE und die 1 9 8 6 in deutsch veröffentlichten Studien mit dem programmatischen Titel AUCH KLIO DICHTET ODER DIE FIKTION DES FAKTISCHEN deklarieren die Organisationsschemata der Geschichtsschreibung als rhetorische Sprachspiele: Historische Darstellungen sind demnach tropologische Konstrukte, die keinen Bezug auf empirisch verifizierbare Daten aufweisen müssen und in fiktionalen Texten ebenso gut funktionieren wie in historiographischen. Die „philologische Abstinenz" dieses reduktiven Verfahrens, das archetypische Mythen als Muster voraussetzt, um sie in Geschichtswerken wiederaufzufinden, wurde in der davon ausgelösten Diskussion ebenso
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Stephen Greenblatt: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin 1991, S. 14. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance (1988). Berlin 1990. Im Original lautet der Nebentitel „The Circulation of social Energy in Renaissance England".
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bemängelt wie die Konsequenzen eines Programms, das wissenschaftliche Ansprüche dispensiert und dafür Lizenzen als methodisch nicht nachvollziehbare Sprachspiele ausschöpft. In detaillierter Rekonstruktion der Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Friedrich Schiller und Leopold von Ranke wurde zudem überzeugend nachgewiesen, dass bereits auf der Ebene des Erzählvorgangs historiographisches und fiktionales Erzählen unverwechselbar auseinandertreten und also verschiedene Arten von Gegenständen erzeugen.4 2.6.2 Poetologien des Wissens Die für den „New Historicism" verbindliche Auffassung von Texten als dynamische, mit soziokulturellen und ästhetischen Energien aufgeladene Interdependenz-Bündel teilen auch Forschungsrichtungen zum Zusammenhang von Literatur und Wissen, die sich im deutschen Sprachraum im Austausch mit internationalen Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre formieren.5 Auch diese Zugangsweisen interessieren sich für literarische Texte in ihren Interaktionen mit anderen, nicht-literarischen Texten und kulturellen Praktiken und versuchen, kausale wie teleologische Deutungsmuster zu unterlaufen. Sie nehmen jedoch weniger konkrete Einflussbeziehungen und Konstruktionen von Identitäten als vielmehr weiträumige Interferenzen zwischen Literaturund Wissens(chafts)geschichte in den Blick - mit dem nicht unbescheidenen Anspruch, ein 1959 durch den englischen Literaturkritiker Charles P. Snow ausgelöstes, durch Literature and Science Studies sowie epistemologische
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Zur „philologischen Abstinenz" vgl. Patrick Bahners: Hayden White liest Edward Gibbon. Zur Ironie der Rezeptionsgeschichte. In: Jörn Stückrath, Jürg Zbinden (Hrsg.): Metageschichte. Hayden White und Paul Ricoeur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich. BadenBaden 1997, S. 125-138; überzeugende Kritik an den Konsequenzen von Whites Programm in den Spielarten des New Historicism übt Klaus Weimar: Der Text, den (Literar-)Historiker schreiben. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 29-39. Den überzeugenden Nachweis, das bereits auf der Ebene des Erzählvorgangs historiographisches und fiktionales Erzählen unverwechselbar auseinandertreten und also zwei völlig verschiedene Arten von Gegenständen erzeugen, liefert die detailliert vorgehende Dissertation von Johannes Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780-1824). Stuttgart 2000. Fast zeitgleich erscheinen die Texte, die Label und Programmatik formulieren: Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens (1991). Frankfurt/M. 1994 (hier S. 17 die Bestimmung, die „Poetik des Wissens" erforsche „die Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede konstituiert"); Joseph Vogl: Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault. In: François Ewald, Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt/M. 1991, S. 193-204.
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
Einsätze vorgeprägtes Diskussionsfeld besetzen und Deutungsmacht fur das Verhältnis der „zwei Kulturen" gewinnen zu können: „Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft, dessen systematische Erforschung der Streit zwischen Snow und Leavis allererst ausgelöst hat, ist unwiederbringlich zu einer literaturwissenschaftlichen Frage geworden. Ihr Gegenstand mag die Naturwissenschaft sein, ihre Antwort wird sie ohne Beteiligung von Vertretern dieses Gegenstandes geben müssen", proklamiert Nicolas Pethes in einem 2003 veröffentlichten Forschungsüberblick, der eine Entwicklungslinie skeptizistischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung von Ludwik Fleck über Gaston Bachelard und Georges Canguilhem bis zu Michel Foucault zieht und Joseph Vogls „Poetologie des Wissens" zu deren synthetischem Höhepunkt erklärt.6 Auf der Basis dieser Traditionskonstruktion erfolgt die programmatische Forderung nach einer revidierten Literatur- und Wissensgeschichtsschreibung: „Fünf Aspekte scheinen nach diesem Durchgang entscheidend für eine epistemologische und rhetorische Revision der Wissenschaftsgeschichte: die Sozialität, Historizität, Diskursivität, Konstruktivität und Poetizität des Wissens." 7 Eine so propagierte „Poetologie des Wissens" scheint auf andere, etwa nicht-skeptizistische Varianten von Wissenschaftsforschung ebenso verzichten zu können wie auf die Entwicklung stichhaltiger Transfermodelle zwischen den Sphären von Entdeckung und Begründung, Genese und Geltung wissenschaftlicher Tatsachen, die in wissenschaftsphilosophischen Überlegungen zum „context of discovery" und „context of justification" diskutiert werden. Denn wissenspoetologische Einsätze zielen nach eigener Aussage vielmehr auf „die Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird" und also auf einen „wissenshistorischen Zugang, der an die Stelle der Überprüfung des Wahrheitsgehaltes die Untersuchung der Bedingungen der Wahrheitsbildung in den Wissenschaften treten läßt."8 Die Konsequenzen dieses Perspektivwechsels von den Objekten des Wissens zu den Diskursen, die dieses Wissen erst erzeugen, sind ebenso weitreichend wie anspruchsvoll: Wenn die „Konstitution des Faktums" eben „nicht vom Gegenstand zum B e g r i f f , sondern „vielmehr in umgekehrter Richtung" verläuft und also „Beobachtung und Experi6
Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL28, 1 (2003), S. 181-231, hier S. 191. Der Physiker Charles P. Snow hatte in sein e r 1 9 5 9 g e h a l t e n e n R e d e - L e c t u r e THE T w o CULTURES A N D THE SCIENTIFIC REVO-
LUTION eine Unvereinbarkeit von literarischer Kultur und naturwissenschaftlicher Intelligenz postuliert, worauf eine erregte Debatte folgte; dazu David K. Cornelius, Edwin St. Vincent (Eds.): Cultures in Conflict: Perspectives on the Snow-Leavis Controversy. Chicago 1964; Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die „zwei Kulturen". Stuttgart 1969. Snow reagierte mit d e r 1 9 6 3 v e r ö f f e n t l i c h t e n S c h r i f t THE T w o CULTURES: A SECOND LOOK.
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Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 208. Ebenda, S. 209.
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ment nur unter d e m Z w a n g vorausgehender Bahnungen möglich" sind, 9 werden Konzepte und Verfahren notwendig, die genau diese „vorausgehenden Bahnungen" identifizieren und erklären können. Eine mögliche Variante ist eine Perspektive, „die das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift" 10 - und also nach den ästhetischen Strategien und performativen Dimensionen forscht, in und mit denen sich wissenschaftliche Erkenntnisse formieren." Weitere Konsequenzen des wissenspoetologischen Engagements betreffen das Verhältnis v o n W i s s e n und Literatur. Kategoriale Unterschiede z w i s c h e n Erkenntnisformen in literarischen Texten und spezialisierten Expertenkulturen scheinen eingeebnet, w e n n die „Frage nach Zeichenproduktionen und deren Zusammenhang mit physiologischen, medialen und textuellen Umgebungen", die „Frage nach einem Regierungswissen" und die „Frage nach der Entstehung der Konzepte" unterschiedslos an „Dichtung und Reflexion, Erzählung und Wissen" angelegt werden. 1 2 D i e Folgen davon sind bedenkenswert: Denn nun setzen Umdeutungsprozesse ein, die es nicht nur erlauben, „wahnsinnige Texte" („nach einer bestimmten Zeit") als literarische Werke zu lesen, sondern auch „literarische Texte als psychiatrische Anleitungen" zu rezipieren. 13 Voraussetzung für eine solche Grenzüberschreitung sind miteinander verbundene
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Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann (Hrsg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Stuttgart 1997, S. 107-129, hier S. 114. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 9-15, hier S. 13. Welche Probleme mit der Durchführung dieses Programms verbunden ist, zeigen etwa Versuche, aus Georg Büchners naturphilosophischer Dissertation .poetische Techniken' herauszupräparieren; so etwa Daniel Müller-Nielaba: Die Nerven lesen. Zur LeitFunktion von Georg Büchners Schreiben. Würzburg 2001; Helmut Müller-Sievers: Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen 2003. Auch wenn Büchners Text über die Schädelnerven der Barben rhetorische Verfahren aufweist, bleibt der Nachweis einer konstitutiven Funktion dieser Formen für die wissenschaftliche Argumentationsbewegung und deren Ergebnis ein nicht risikofreies Unterfangen. Ohne Anleihen bei einer Poetologie des Wissens werden die vielfaltigen Beziehungen dagegen rekonstruiert bei Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. - Zudem entspricht es nicht den Tatsachen, wenn wissenspoetologische Wortführer suggerieren, die bisherige Wissenschaftsgeschichtsschreibung habe die Rolle poetischer Techniken für die Wissensgewinnung vernachlässigt (so etwa Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 186). Wissenschaftshistorisch wie methodologisch einschlägig ist nach wie vor der Sammelband von Lutz Danneberg, Jürg Niederhauser (Hrsg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998; dazu umfassend hier Kapitel 3. 3: Generative Epistemologie. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Poetologien des Wissens, S. 9 und 14. So Wolfgang Schäffner: Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin. München 1995, S. 8.
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
Suspensionen: Zum einen müssen die Eigenlogiken wissenschaftlicher und literarischer Geltungsansprüche mitsamt ihren je eigenen Darstellungsformen aufgehoben und im geräumigen Container der „Schreibweisen" vermischt werden; zum anderen sind spezifizierte Einflussbeziehungen zwischen wissenschaftlichen „Quellenstrukturen" und literarischem Werk als Erkenntnisziel aufzugeben und durch weitergehende („kulturwissenschaftliche") Problemstellungen zu ersetzen.14 Schon Hölderlin aber wusste: „Unterschiedenes ist gut." Deshalb sind die Gewinne von wissenschaftsphilosophischen Reflexionen über die Relationen von Entdeckung und Begründung ebenso zu bewahren wie literaturtheoretische Differenzierungen zwischen Text- und Kontextelementen, die nicht in diskursanalytischer Gleichheit aufgehen. Möglicherweise können Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Literatur, die in der analytischen Philosophie gemacht wurden, den Blick für diese (notwendigen) Unterscheidungen schärfen. 2.6.3 Analytische Unterscheidungen Während „New Historicism" und „Poetologien des Wissens" vorrangig die inszenatorischen Dimensionen und performativen Praktiken der kulturellen Bedeutungsproduktion thematisieren und dabei eine konstruktive Aufhebung der kategorialen Unterschiede zwischen Literatur und spezialisierten Wissenskulturen in Kauf nehmen, verfolgen analytische Philosophie und Ästhetik einen anderen Weg. Auch sie thematisieren die Erkenntnisleistungen von Literatur und die Darstellungsformen wissenschaftlicher Texte, versuchen aber diese kognitiven und performativen Funktionen durch Abgrenzung und differenzierte Klärung der Begrifflichkeiten genauer zu erfassen. Die unter anderem an Unterscheidungen des Philosophen Gottlob Frege (1848-1925) und die Sprachkritik von Ludwig Wittgenstein (1889-1951) anschließende analytische Ästhetik versteht sich dabei nicht als eine materiale Lehre vom Schönen, sondern eher als eine Art metatheoretische Reflexion über die Bedingungen ästhetischer Erkenntnis: Sie will weniger sagen, was Kunst und Literatur sind, sondern vielmehr analysieren, was man meint, wenn man von künstlerischen oder literarischen Werken spricht. Dazu werden die entsprechenden Prädikate untersucht und in ihren Geltungsansprüchen unterschieden: Handelt es sich um deskriptive Bestimmungen, um klassifikatorische 14
Exemplarisch zu studieren in der Habilitationsschrift von Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, der sich auf S. 12 zu einer „kulturwissenschaftlich ausgerichteten Problemstellung" bekennt und betont, dass „Querverbindungen zwischen kulturgeschichtlichen und astronomischen Quellenstrukturen einerseits und dem Werk Hölderlins andererseits nur selten von jener Stringenz (sind), die man im positivistischen Sinne beweiskräftig nennen dürfte".
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Einteilungen oder um normativ diktierte Wertungen? Zugleich analysiert man die Regeln, mit denen (alltägliche) Dinge in Kunstwerke transformiert werden und die damit verbundenen Zuschreibungsverfahren: „Welche Art von Prädikat ist ,ein Kunstwerk' überhaupt?"15 Antriebsmotor dieses Programms ist die Hoffnung, durch analytische Rekonstruktion des Sprachgebrauchs die Probleme selbst klären bzw. lösen zu können - geleitet von Wittgensteins Diktum, dass die Grenzen der Sprache zugleich der Grenzen der Welt bilden und sich alles Sagbare (und damit von der Welt zu Wissende) klar sagen lasse. Für die hier zur Debatte stehende Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissen werden drei Einsichten der analytischen Ästhetik bedeutsam: (a) die bereits vom Philosophen und Kantforscher Ernst Cassirer (1874-1945) formulierte Einsicht in die konstitutive Rolle von Symbolen und Zeichen für die Entdeckung bzw. Erschließung von Wirklichkeit; (b) die Differenzierung von Ebenen in den welterschließenden Symbolsystemen von Kunst und Wissenschaft; (c) die separate Untersuchung von propositionalen und nichtpropositionalen Gehalten im Zeichensystem Sprache. Schon für Ernst Cassirer, den Verfasser einer dreibändigen PHILOSOPHIE DER SYMBOLISCHEN FORMEN bildet Kunst neben Erkenntnis, Mythos, Sprache und Religion ein „symbolisches Universum", das die Wirklichkeit nicht aboder nachbildet, sondern durch besondere Zeichen entdeckt und also konstituiert: „Die echte Wirklichkeit kann nicht auf einmal ergriffen und abgebildet werden, sondern wir können uns ihr nur in immer vollkommeneren Symbolen beständig nähern."16 Kunst und Literatur vollziehen diese symbolischen Annäherungen durch gestalthafte Kreationen; doch nicht in Form von Abstraktionen und Ordnungsleistungen, sondern mit Ordnungsüberschreitungen und in fortschreitender Konkretisation. - Daran kann Nelson Goodman anschließen, der nicht primär Symbole untersucht, die in Verbindung mit Kunst gebraucht werden, sondern die Zeichen, die diese Kunstwerke selbst sind. In seinem Werk LANGUAGES OF ART. A N APPROACH TO A THEORY OF SYMBOLS ( 1 9 6 8 ) analysiert Goodman ästhetische Zeichensysteme, die - wie die Praktiken der Wissenschaft - als Mittel der Welterschließung erscheinen. Dabei unterscheidet er drei Arten der Symbolisierung: Denotation (als Bezug auf einen Gegenstand, nicht seine „Abbildung") - Exemplifikation (als Eigenschaft des Werkes selbst und Verweis darauf) - Konnotation (als Ausdrucksfunktion durch figurative Attribute). Das in leuchtenden Farben gemalte Bild eines Meeresstrandes be15 16
Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (1981). Frankfurt/M. 1991, S. 26. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. II. Berlin 1907, S. 187, Hervorhebung im Original. Wichtig auch unmittelbar im Anschluss erfolgende Bestimmung: „Es ist kein Zufall, der uns dazu drängt, die Verhältnisse der Begriffe durch Verhältnisse der ,Zeichen' zu ersetzen; sind doch die Begriffe selbst in ihrem Wesen nichts anderes als mehr oder minder vollkommene Zeichen, kraft deren wir in die Struktur des Universums Einblick zu nehmen suchen."
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
zieht sich auf eine Landschaft aus Sand und Wasser, exemplifiziert die verwendeten Farben und drückt (vielleicht) eine besondere Stimmung aus. Ein lyrischer Text wie Theodor Storms zweistrophiges Gedicht DIE STADT bezieht sich denotativ auf die Lage einer abgelegenen „grauen Stadt" (Husum) am „grauen Meer" (Nordsee), exemplifiziert in jambischen Versen Eintönigkeit und Gleichmaß und drückt so eine (melancholische) Stimmung aus. In dieser besonderen Ausdrucksqualität des lyrischen Textes manifestiert sich eine zentrale Differenz zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten. Denn wie Storms Gedicht über seinen Gegenstand spricht, kann mit Hilfe poetologischer und rhetorischer Kategorien noch bestimmt werden; schwieriger aber wird es, wenn wir beschreiben und erklären wollen, was es in seinen besonders gestalteten Aussagen mitteilt. Diese - im Fall von Lyrik unter Umständen nur schwer zu ermittelnden - Behauptungen, die sprachliche Texte in Form von Prädikationen realisieren, markieren den propositionalen Gehalt einer satzförmigen Äußerung und damit jenes Bedeutungsmoment, das äquivalent auf verschiedene Weise ausgedrückt werden kann. Den Reichtum an (mehrdeutigen) sprachlichen Formen (die selbstverständlich auch in fachwissenschaftlichen und philosophischen Texten zu finden sind) erfasst dagegen der Begriff der Konnotation·, er umschreibt die assoziativ hervorgerufenen „Mitbedeutungen" sprachlicher Äußerungsformen. Damit sind Kategorien gegeben, die der (normativen) Abgrenzung dienen können: Während wissenschaftliche Texte - zumindest der Regel nach - wahrheitsfähige Aussagen enthalten, die in klarer und eindeutiger Weise formuliert sind, um für propositionale Gehalte intersubjektive Geltung beanspruchen zu können, sind genau diese Eigenschaften bei literarischen Texten nicht erforderlich. Im Gegenteil: Uneigentlicher, figurativer Sprachgebrauch galt und gilt aufgrund der dadurch erzielten Wirkungen als besonderes Kriterium poetischer Sprache; (intendierte) Ambiguität ohne expliziten Anspruch auf propositionale Erkenntnis bestimmt ihren Status. - Gleichwohl zeigen zahlreiche Beispiele aus der Wissenschaftsund Philosophiegeschichte, dass es auch in deren vermeintlich eindeutigen Aussagen von mehrdeutigen Ausdrücken wimmelt und ihre (literarischen) Formen keineswegs nur äußerliches Schmuckwerk sind. Dieser Befund gilt nicht nur für offenkundig „literarisierte" Texte wie die platonischen Dialoge, Friedrich Nietzsches ZARATHUSTRA oder Seren Kierkegaards Spiele mit Pseudonymen, Masken und fiktiven Herausgeberinstanzen. Auch Texte von Ludwig Wittgenstein, dem vehementen Vertreter einer „klaren" Sprachverwendung und kanonischen Autor der analytischen Tradition, kommunizieren Einsichten in einer Form, die eben kein (wechselbarer) Container ist, sondern
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konstitutive Gestalt von Wissensansprüchen, deren Ignoranz oder Verkennung zu interpretativen Fehlleistungen führen kann.17 Auf diesem Feld hat sich eine Diskussion entwickelt, die von nicht zu vernachlässigender Bedeutung für spätere Modellbildungen zum Verhältnis von Literatur und Wissen ist. Gehen einige Vertreter einer analytischen Ästhetik davon aus, dass es literarische Formen zur Vermittlung einer spezifischen nicht-propositionalen Erkenntnis gebe, wird genau diese Ansicht von anderen Theoretikern zurückgewiesen. Ausgangspunkt der erstgenannten, von Gottfried Gabriel und anderen Philosophen vertretenen Erweiterung des Erkenntnisbegriffs ist die These von einer komplementären Beziehung zwischen logischen und analogischen Formen des Sprachgebrauchs: Logik und Rhetorik sind nicht voneinander getrennte Bereiche, sondern ergänzen sich: was in Ausprägungen wissenschaftlicher bzw. philosophischer Texte wie dem Brief, der Quaestio, der Autobiografie sowie in Monolog und Dialog besonders sichtbar wird. Wie in Untersuchungen zu „philosophischen Masken" gezeigt, lassen sich literarische Formen aber auch in argumentativ vorgehenden Lehrwerken und Systemen auffinden.18 - Dagegen hat der Literaturwissenschaftler Harald Fricke interveniert: Es existierten keine Formen einer nicht-propositionalen Erkenntnis; Literatur leiste „keinen Beitrag zur Argumentation und damit zur philosophischen Theorie des Textes".19 Poetische Darstellungsformen erfüllen
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So Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie. In ders., Christiane Schildknecht (Hrsg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 1-25, hier S. 11 mit der Einschätzung, es habe „die Nichtbeachtung der Form des TRACTATUS zu dem Mißverständnis seiner positivistischen Lesart beigetragen. Und die Nichtbeachtung der Form der PHILOSOPHISCHEN UNTERSUCHUNGEN hat das Mißverständnis von deren linguistischer Lesart hervorgebracht [...]." Dass diese Aufmerksamkeit für die konstitutive Funktion von Form lange vor wissenspoetologischen Reklamationen entwickelt war, dokumentieren nicht nur die Analysen zur Rhetorik in den Wissenschaften (dazu Kapitel 3.4), sondern schon der Aufsatz von Gottfried Gabriel: Logik als Literatur? Zur Bedeutung des Literarischen bei Wittgenstein. In: Merkur 32 (1978), S. 353-362. Die hier formulierte Ablehnung logischpositivistischer Lesarten insbesondere des frühen Wittgenstein wird aufgenommen in den Interpretationen des Sammelbandes von R. Read, A. Crary (Eds.): The New Wittgenstein. London 2000. Die Auffassung gehen allerdings in der Frage auseinander, ob Wittgenstein mit den „Nonsens-Sätzen" des TRACTATUS eine indirekte Mitteilung eines sonst (logisch) Unaussprechlichen intendierte. Die Relevanz nicht nur der literarischen Form fur die Interpretation von Wittgensteins Texten, sondern auch die Fruchtbarkeit seiner Überlegungen für die Philosophie der Literatur dokumentieren die Beiträge in J. Gibson, W. Huemer (Hrsg.), Wittgenstein und die Literatur. Frankfurt/M. 2006. Vgl. Christiane Schildknecht: Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg, Stuttgart 1990; dies., Dieter Teichert (Hrsg.): Philosophie in Literatur. Frankfurt/M. 1996. Harald Fricke: Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: G. Gabriel, C. Schildknecht (Hrsg.): Literarische Formen der Philosophie, S. 26-39, hier S. 26.
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2.6 Erweiterungen und Limitationen
jedoch wichtige didaktische Zwecke: Im Gegensatz zu rein argumentierenden Texten würden sie den Leser „ins Philosophieren hineinziehen" und also ein „nicht-propositionales Lernen" ermöglichen.20 Zwischen diesen Polen bewegt sich noch die gegenwärtige Diskussion der analytischen Ästhetik über den kognitiven Gehalt von Literatur, literarisch vermittelte Wissensformen und die Rolle ästhetischer Erfahrung. Der Einfachheit halber sollen hier verschiedene Ansätze zu drei wesentlichen Positionen zusammengefasst werden, (a) Eine kognitivistische Position schreibt literarischen Werken eine besondere Befähigung zu begrifflicher Bewusstseinsbildung zu. Das bedeutet, dass man durch Literatur nicht nur affektive, emotionale und kognitive Einstellungen verschiedener Art (gleichsam unbewusst) hat, sondern zugleich eine Sprache gewinnt, in der diese Einstellungen ausgedrückt und verständlich gemacht werden können. Durch Veränderungen von Einstellungen verhelfen literarische Texte zu einem aktiven Weltverhältnis und befördern personale Autonomie: Indem Texte ihren Lesern eine (sprachlich vermittelte) imaginative und emotionale Teilhabe an neuen und fremdartigen Situationen erlauben, vermitteln sie (prozedurales) Wissen, das aus der Teilnahme an Sachverhalten hervorgeht und also Erfahrungen ermöglicht, die sich von einem propositionalen Wissen über Sachverhalte unterscheiden. Anders gesagt: Der kognitive Wert literarischer Werke beruht nicht auf der Wahrheit fiktionaler Sätze, sondern auf Lektüre und Interpretation. Denn versuchen wir, komplexe fiktionale Welten zu verstehen, müssen wir unsere sprachlichen und begrifflichen Ressourcen - und zugleich jenen Bereich unserer Welt, den wir als „erschlossen" bezeichnen - überdenken und oft auch erweitern. (b) Betonen kognitivistische Positionen die Potenziale von Literatur zur Erweiterung sprachlicher und kognitiver Kompetenzen, stellen andere Auffassungen genau diese Leistungen in Abrede. Ihnen zufolge ist es gerade der qualitative und nicht-propositionale Gehalt einer ästhetischen Erfahrung (also wie sich etwas für uns anfühlt, wie etwas uns erscheint), der unser Verständnis von Welt und Selbst erweitert. Wird die ästhetische Erfahrung allerdings so bestimmt, dann stellt sich die Frage, wie nicht-propositionale Gehalte als Grundlagen für (propositionale) ästhetische Urteile fungieren können. Zudem sind Begründungen für diese Urteile nicht kommunizierbar: Ausgedrückt werden kann nur, dass man über eine phänomenale ästhetische Erfahrung verfuge, nicht aber, was diese genau sei. Auch lassen sich auf dieser Basis keine objektiven Standards für zutreffende ästhetische Urteile aufstellen. (c) Moderat kognitivistische Standpunkte versuchen zu vermitteln. Sie gehen davon aus, dass zwar keine zwingenden Beweise für die Geltung ästhetischer Urteile geliefert werden können, wohl aber plausible Argumente. Solche Argumente sind von der jeweiligen Beschreibung ästhetischer Objekte abhän-
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Ebenda.
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gig, denn jede Beschreibung identifiziert relevante Eigenschaften, die das ästhetische Objekt exemplifiziert. Da die Zahl möglicher Beschreibungen innerhalb eines durch das ästhetische Objekt inhaltlich gesetzten Rahmens unbegrenzt und unbestimmt sei, bleibe auch die Menge ästhetischer Urteile offen - doch eine Urteilsfindung möglich. Übereinstimmung zwischen diesen hier nur skizzierten Positionen herrscht in der Auffassung, dass literarische Werke bestimmte kognitive Funktionen realisieren können, diese aber nicht nach dem Modell eines kumulativen Erkenntniserwerbs wie etwa in den Wissenschaften zu verstehen sind. Literarische Texte erweitern nicht in erster Linie ein deklaratives Faktenwissen, sondern vermitteln vor allem prozedurale Kenntnisse und kognitive Kompetenzen, etwa in der Form alternativer Wahrnehmungsweisen in Bezug auf sich selbst und die Welt. Aufgabe künftiger Forschung wird es sein, die entsprechenden Konzepte epistemischen Fortschritts und begrifflicher Bewusstheit genauer zu explizieren. Der selbstverständlich ergänzungsbedürftige Durchgang durch die verschiedenen Zugänge zum Wissen der Literatur und zur Literatur des Wissens schließt hier, kommt damit jedoch nicht an sein Ende. Denn die hier vorgestellten Zugänge werden auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen: Zum einen im nachfolgenden Kapitel mit integrativen Modellbildungen, die auf den seit der Antiken gewonnenen Einsichten in die komplizierten Relationen zwischen Erkenntnisformen und poetischen Sprachspielen aufbauen; zum anderen im Kapitel mit historischen Fallstudien zur exemplarischen Demonstration unterschiedlicher Umgangsweisen mit dem Problemfeld Literatur und Wissen. Vermittelt wurde - so jedenfalls ist zu hoffen - nicht nur die Einsicht in die lange Geschichte des Nachdenkens über das Wissen der Literatur, sondern vor allem auch eine erhöhte Sensibilität fur die Reichweite und die Bedeutung von Reflexionen, die Literatur wie Erkenntnis ernst nehmen und im Bewusstsein ihrer differenzierten Formen und Sprachen beobachten. Denn gerade als Gegenstand des Wissens machen Erkenntnisse der Literatur und Gestaltungen von Erfahrungen in literarischen Texten jene analytischen Trennungen erforderlich, die sie in oftmals subtiler Weise ausstellen und problematisieren, aber auch unterlaufen und konterkarieren. Zu ihrer genaueren Erfassung sollen die nun zu entwickelnden Modelle beitragen.
3. Modelle
Im August 1802 beginnt Friedrich Schiller mit der Arbeit am Trauerspiel DIE BRAUT VON MESSINA, das er im Februar des folgenden Jahres abschließt und dem er eine Vorrede „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie" voranstellt. In dieser Vorrede heißt es: Jeder Mensch zwar erwartet von den Künsten der Einbildungskraft eine gewisse Befreiung von den Schranken des Wirklichen, er will sich an dem Möglichen ergötzen und seiner Phantasie Raum geben. Der am wenigsten erwartet, will doch sein Geschäft, sein gemeines Leben, sein Individuum vergessen, er will sich in außerordentlichen Lagen fühlen, sich an den seltsamen Kombinationen des Zufalls weiden, er will, wenn er von ernsthafterer Natur ist, die moralische Weltregierung, die er im wirklichen Leben vermißt, auf der Schaubühne finden. Aber er weiß selbst recht gut, daß er nur ein leeres Spiel treibt, daß er im eigentlichen Sinn sich nur an Träumen weidet, und wenn er von dem Schauplatz wieder in die wirkliche Welt zurückkehrt, so umgibt ihn diese wieder mit ihrer ganzen drückenden Enge, er ist ihr Raub, wie vorher, denn sie selbst ist geblieben, was sie war, und an ihm ist nichts verändert worden. Dadurch ist also nichts gewonnen, als ein gefalliger Wahn des Augenblicks, der beim Erwachen verschwindet. Und eben darum, weil es hier nur auf eine vorübergehende Täuschung abgesehen ist, so ist auch nur ein Schein der Wahrheit oder die beliebte Wahrscheinlichkeit nötig, die man so gern an die Stelle der Wahrheit setzt. Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat f r e i zu mac h e n , und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen. Und eben darum weil die wahre Kunst etwas Reelles und Objektives will, so kann sie sich nicht bloß mit dem Schein der Wahrheit begnügen; auf der Wahrheit selbst, auf dem festen und tiefen Grunde der Natur errichtet sie ihr ideales Gebäude.1 Das lange Zitat ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Die hier versammelten Aussagen liefern einerseits Bestimmungen „wahrer Kunst", die mehr leisten soll als nur eine temporäre Mobilisierung der Einbildungskraft und eine zeitlich befristete Befreiung von den Begrenzungen der menschlichen Existenz. Sie zeigen zum anderen, wie durch universalisierende Attribute (, jeder Mensch"; „wahre Kunst", „wirklich und in der Tat"; „Wahrheit selbst" etc.) allgemeine Aussagen geltend gemacht und zu einem normativen Modell verknüpft werden. Die zentrale These dieses konditionalen Modells ist 1
Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder. In: Ders.: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München31962. Bd. 2, S. 816.
3. Modelle
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knüpft werden. Die zentrale These dieses konditionalen Modells ist unschwer zu erfassen. „Wahre Kunst" (und damit „echte Literatur") geht über „vorübergehende Täuschung" hinaus und macht den Rezipienten „wirklich und in der Tat" frei - wenn sie dauerhafte Distanzierungsformen und Objektivierungsvermögen ausbildet, die ein ästhetisches Verhältnis zur Welt ermöglichen. Auch die philosophisch-weltanschaulichen Grundlagen dieser Modellierung „wahrer Kunst" lassen sich rasch identifizieren: Schiller formuliert auf poetologischer Ebene eine Zentralidee des Idealismus, wonach vorgängige geistige Einheiten bzw. „Ideen" die Wahrnehmung der uns sinnlich zugänglichen Welt regulieren und materielle Verhältnisse bestimmen. Die Implikationen dieses normativen Modells aber sind erheblich und betreffen unmittelbar auch das Verhältnis von ästhetisch-literarischer Simulation und Wissen - beziehen sie sich doch auf die seit Piaton und Aristoteles angestellten Reflexionen über die Erkenntnis der Kunst und verwenden nicht ohne Grund einen emphatischen Begriff von Wahrheit. Schillers Bestimmungen gehen zum ersten davon aus, das die Wirkung künstlerischer Artefakte auf dem spezifisch menschlichen Vermögen der Einbildungskraft basiert, die eine „Befreiung von den Schranken des Wirklichen" durch Mobilisierung eines Möglichkeitssinns erlaubt. Sie weisen künstlerischen Artefakten explizit kompensatorische Funktionen zu: Ihr Rezipient kann „sein gemeines Leben" vergessen und sich „an den seltsamen Kombinationen des Zufalls weiden"; zugleich kann er die in der Realität versagte Gerechtigkeit im Raum sanktionierter Simulation („auf der Schaubühne" und in der Literatur) finden. Diese imaginativen und kompensatorischen Funktionen erfüllen ästhetische Artefakte wie literarische Texte, indem sie Problemlagen der „realen" Welt modellieren und ein temporäres Probehandeln in fiktionalen Welten erlauben. Sie können aber nur dann tatsächlich überzeugen, wenn sie - und darauf legt Schiller besonderen Wert - „auf der Wahrheit selbst" bzw. sogar „auf dem festen und tiefen Grunde der Natur" beruhen: und damit also Geltungsansprüche erheben, die nicht mit Alltagskenntnissen oder Wissensansprüchen der empirischen Wissenschaften gleichzusetzen sind. Auch wenn diese Verknüpfung von Literatur mit einem emphatischen Wahrheitsbegriff noch zu diskutieren bleibt, umreißen Schillers Reflexionen doch wesentliche Aspekte eines Problemfeldes, das jetzt entfaltet werden soll. Ausgehend von den im ersten Abschnitt gewonnen Begriffen und den im zweiten Teil dokumentierten Perspektiven sind nun Modelle des Verhältnisses von Literatur und Wissen in systematischer Perspektive zu erläutern. Ziel ist nicht die nochmalige Darstellung von bereits erklärten Zugängen, sondern der Gewinn von einfachen und überzeugenden Regularien zur Beschreibung und Erklärung der mehrfach dimensionierten Zusammenhänge zwischen Literatur bzw. literarischer Kommunikation und Wissen bzw. Wissenskulturen.
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3. Modelle
Unter Konzentration auf zentrale Aspekte der vielfältigen Verhältnisvarianten sind vier Relationen zu modellieren: (a) literarische Kommunikationen als (Bestandteile von) Wissenskulturen, an deren Gestaltung textproduzierende Autoren mit Ausdrucksinteressen, Wissensbeständen und weltanschaulichen Überzeugungen eine ebenso zu rekonstruierende Rolle spielen wie Leser mit Kenntnishorizonten und Instanzen des kommunikativen Handelns mit und über Literatur (deren Agieren ihrerseits von historisch bedingten Wissens- und Wertvorstellungen dirigiert wird); (b) fiktionale und faktuale Welten der Literatur als spezifische Erkenntnisformationen, die historisch variablen Regeln der Simulation folgen, mögliche Referenzen von Textfiguren auf realweltliche Personen realisieren und/oder empirisches Wissen bzw. philosophisch-weltanschauliche Ideen in hypothetischen Szenarien gestalten; (c) poetische Schreibweisen und Textverfahren als Funktionselemente von Wissen, deren ästhetische, inszenatorische und performative Dimensionen sowohl die Erkenntnisproduktion in spezialisierten Expertenkulturen als auch den Gewinn hypothetischen Wissens in Belletristik und Essayistik konditionieren; (d) Literatur als Produkt von Wissensordnungen, die - wie etwa in Formen der Geschichtsschreibung, der Philosophie oder des populärwissenschaftlichen Sachbuchs - narrative Verfahren und rhetorische Techniken zur Darstellung und Demonstration sowie zur Illustration und Plausibilisierung von gesicherten Erkenntnissen nutzen bzw. im Anspruch auf unterhaltsame Belehrung an weitreichende Traditionen anschließen. Dementsprechend wird in vier Kapiteln vorgegangen. Das erste Kapitel widmet sich den Zusammenhängen von Literatur in und mit historisch konkreten Wissenskulturen und entwickelt modellbildend Antworten auf Fragen nach den Wechselverhältnissen zwischen literarischer Kommunikation und ausdifferenzierten Wissenskulturen: Wie lassen sich die unterschiedlichen Arten und Formen, in denen Autoren, Texte und Leser an einem in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zirkulierenden Wissen partizipieren, beschreiben und erklären? Wie reagieren sie auf Ergebnisse und Problemstellungen der wissenschaftlichen Wissensproduktion - und wie wirken sie an deren Erzeugung und Entwicklung mit? In welchem Verhältnis steht das spezifische Wissen literarischer Texte zu anderen Formen symbolisch codierter Speicherleistungen, die in ihrer Gesamtheit als „kulturelles Gedächtnis" beschrieben werden können? - Im zweiten Kapitel sind die Beschaffenheiten literarischer Texte zu modellieren, die in je unterschiedlicher Weise Wissensansprüche gestalten: Die faktualen und fiktionalen Welten der Literatur werden zu segmentieren und in Zusammenhang mit (historisch variablen) Regeln der Simulation zu
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bringen sein, um so die Integration von unterschiedlichen Wissensbeständen und ihre Erkenntnisleistungen zu erfassen. - Das dritte Kapitel modelliert Formatierungen von Wissen durch Varianten der ästhetischen Vermittlung und thematisiert jene poetischen und rhetorischen Verfahren, die Aussagensysteme und Darstellungen in wissenschaftlichen Zusammenhängen so formieren, dass diese Texte auch als ästhetische Kompositionen lesbar sind. Zu klärende Fragen sind: Wie erzeugen poetische Verfahren den Gegenstand der wissenschaftlichen Observation? Welche poetischen und rhetorischen Techniken werden intentional eingesetzt und welche Verfahren und Strategien gehen gleichsam hinter dem Rücken der beteiligten Akteure in ihre Texte ein? Welche Folgen hat der Einsatz sprachlicher Bilder und Vergleiche in fachsprachlichen Texten? - Das daran anschließende vierte Kapitel nimmt literarische Genres zur Vermittlung spezialisierten Wissens in den Blick und entwickelt im Anschluss an neuere Forschungen zur Poetik des Sachbuchs ein Modell zur Beschreibung der Zusammenhänge von rhetorischen Techniken und narrativen Verfahren in Texten, die als Produkte von Wissensordnungen gelten können. Nur prophylaktisch ist an diese Stelle darauf hinzuweisen, dass die hier vorgestellten Modelle natürlich nicht sämtliche Einsichten von Rhetorik, Poetik, Ästhetik und Literaturtheorie integrieren können. Sie verstehen sich als einfache und ökonomische Repräsentationen komplexer Zusammenhänge, die zu heuristischen Zwecken analytisch getrennt und isoliert behandelt werden müssen. Ihren Ausgangspunkt bilden die gewonnenen Einsichten in die sprachlich und kulturell konditionierte Verfassung von Wissen: Wie die sprachlichen Manifestationen eines Alltags- und Weltwissens oder die Darstellungsformen spezialisierter Wissenschaften stellen auch literarische Texte keine „Behälter" dar, die vorgängig produzierten Einsichten und Erkenntnissen nur zur mehr oder weniger austauschbaren Aufbewahrung dienten. Als grundlegende Bedingung für Erzeugung und Speicherung, Weitergabe und Wiedereinschaltung von Kenntnissen, die ohne diese Formen nicht erscheinen und in Wirkung treten könnten, sind Texte in ihren konkreten gattungsspezifischen Erscheinungsweisen und die mit ihnen verbundenen Instanzen der Produktion (also Autoren mit rekonstruierbaren Bezugnahmen auf historisch konkrete Wissensbestände) und der Rezeption (also Leser mit je eigenen Wissenshorizonten) jene elementaren Einheiten, von denen ausgehend die vielschichtigen Beziehungen zwischen Wissenskulturen und literarischen Kommunikationen beschrieben und erklärt werden können. Zu berücksichtigen sind dabei die mehrfach dimensionierten Beziehungen zwischen Autorfunktionen, Textstrategien und Leserverhalten wie Gesamtheit von expliziten bzw. impliziten Wissensbeständen und Wertvorstellungen, die den Zusammenhang von Erkenntnisgewinn und Darstellungsformen in je konkreten Konstellationen regulieren.
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3. Modelle
Zu den zeitlich wie örtlich differerierenden und darum genau zu bestimmenden Bezugswerten gehören auch die mehr oder weniger verbindlichen kulturellen Konventionen und Tabus sowie gruppen- und schichtenspezifische Normen, die Beziehungssinn und Zeichenökonomie literarischer Formate nachhaltig prägen. Unabdingbar bleibt nicht zuletzt der Rekurs auf textbezogene Sprachhandlungssituationen im Literatur- und im Wissenschaftssystem: also auf die vielfältigen Varianten des kommunikativen Handelns mit Texten in den Zirkulationssphären von Verbreitung, Vermittlung, Bewertung etc. Um es noch einmal knapp zu sagen: Die komplizierten Relationen von Literatur und Wissen sind weniger mit grenzauflösenden Modellen von „Schreibweisen" oder Vordergrund-Hintergrund-Metaphoriken zu erfassen. Zu ihrer analytischen Rekonstruktionen sind vielmehr Segmentierungen erforderlich, die gleichzeitig die Zusammenhänge wie die Separationen zwischen symbolischen Praktiken, Technologien und Zeichenprozessen im Auge behalten. Wie komplex ein solches Modell bei aller Vereinfachung beschaffen bleibt, soll hier in Form eines Schemas skizziert werden, das in den folgenden Kapiteln zu entfalten ist: Wissen als dynamische Gesamtheit kommunikativer Interaktionen zwischen Individuen, kollektiven Gruppen und Institutionen, die gesicherte Erkenntnisse produzieren und in Prozessen von Differenzierung und Integration stabile Muster und Regelkreise ausbilden; Horizont von expliziten bzw. impliziten Normen und Wertvorstellungen, die Bedeutungs- und Individualitätskonzepte regulieren (Ideen, Konventionen, Gruppennormen, Tabus etc.)
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Autor Textproduzent, der Ausdrucksinteressen, Gattungsregeln und Wissenshorizonte des Publikums vermittelt 4 Produkt und Bestandteil historisch-konkreter Wissenskulturen: (teilnehmender) Beobachter und Deuter
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Text 4 Erzeugnis eines Autors und also Produkt konkreter Entstehungs- und Verbreitungsumstände; 4 wirkungsspezifisch formiertes Simulacrum zur Formierung von Geltungsansprüchen 4 in sprachlicher Verfassung und thematischer Bezügen ein Element gesellschaftlicher Kommunikation und ihrer Wissensbestände
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IÎ Leser 4 Produkt und Bestandteil historisch konkreter Wissenskulturen; 4 Rezipient von Texten mit spezifischem Wissen, der emotionale und kognitive Energien investiert
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Sprachhandlungssituationen und Textumgangsformen: Kommunikationen mit und über Literatur (Distribution, Evaluation, Interpretation etc.)
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
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3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
Wissensansprüche werden stets in konkreten Umgebungen erzeugt und ausgetauscht, diskutiert und modifiziert, kanonisiert oder vergessen - genau wie literarische Texte, die an lebensweltlich und/oder wissenschaftlich produzierten Kenntnissen partizipieren und diese in wirkungsspezifischer Gestalt vermitteln. Im Prozess wiederholter Beobachtungen als kondensierte Unterscheidungen gewonnen, in Zeichensystemen fixiert und mit materialen Trägermedien wie Tontafeln oder Papyrus, Pergament oder Papier, DVD oder WWWSeiten verbreitet, „gehören" begründete Geltungsansprüche jemandem und sind von den Bedingungen ihrer Erzeugung und Weitergabe in Texten, Institutionen, Kulturen schwerer ablösbar als etwa Daten und Informationen, die isoliert gespeichert und weiter verwendet werden können (vgl. 1.3.1). Wissensbestände bilden somit keine ungeordneten Datenmengen, sondern weisen generalisierbare Formen auf; sie sind an Ordnungen und Strukturen gebunden, die im Prozess permanenter Informationsverarbeitung nach Regeln entstehen. Die Ordnungen und Strukturen des Wissens erwachsen aus dem Umgang mit einem stetigen Fluss von Signalen, die als Informationen markiert und bearbeitet werden; zugleich konstituieren sie erst die Fähigkeit zu deren Bewertung und ihrer Einbettung in Kontexte. Wenn sich Wissen also in Formen und Verfahren der Aufzeichnung, Speicherung und Wiedereinschaltung, kurz: durch kulturelle Techniken zur dauerhaften Fixierung und Reproduktion von epistemischen Geltungsansprüchen unter je konkreten Bedingungen manifestiert, ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen. Aufzeichnungs- und Präsentationsformen stehen einem historisch konkreten Wissen nicht äußerlich gegenüber, kleiden es ein oder umhüllen „reine" Erkenntnis in mehr oder minder schmuckvoller Weise. Im Gegenteil machen ihre Formen es vielmehr überhaupt erst möglich, Wissensansprüche als dynamische und in kulturellen Systemen gewonnene Kenntnisse zu fixieren und zu kommunizieren, zu überliefern und zu modifizieren. Denn Kenntnisse entstehen als Produkt regelgeleiteter Prozesse, die von vielfaltigen sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Konditionen abhängen; gleichzei-
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3. Modelle
tig erzeugen sie diese Bedingungen durch ihr Prozessieren immer wieder neu und bilden so mehr oder weniger stabiler Strukturen aus, die sich auch institutionell verdichten können: Verhaltensregeln und Klugheitslehren, Diagramm und Tabelle, Tableau und Periodensystem sind wie Experiment und Labor, Archiv und Bibliothek historisch konkrete Ergebnisse von Wissensordnungen und Wissenskulturen, in denen die Resultate kondensierter Beobachtungen ebenso fixiert und kommuniziert werden wie die Praktiken, die die Formierung und Tradierung dieser Wissensansprüche ermöglichen. Strukturell ähnlich verhält es sich mit jenen kommunikativen Ereignissen, die aufgrund von Eigenschaften und Umgangsformen als Literatur bezeichnet bzw. behandelt werden. Auch die in je konkreten Umgebungen entstehenden Werke der Literatur sind ohne Aufzeichnung und Speicherung, ohne materiale Trägermedien wie Tontafeln oder Papyrus, Pergament oder Papier, DVD oder WWW-Seiten nicht vorstellbar; sie richten sich - wie die Texte einer spezialisierten Wissensproduktion - an Adressaten mit je eigenen Kenntnissen und Erwartungen und sie bedürfen wie diese spezieller Instanzen, die aus der Fülle des Produzierten das Bewahrenswerte auslesen, bewerten, interpretieren und kanonisieren. Für alle diese Umgangsformen mit literarischen Texten sind Erfahrungen und Kenntnisse nicht nur notwendige Bedingung, sondern zugleich auch Resultat und Katalysator. Sie strukturieren ein Wissen, das aus Interaktionen zwischen individuellen Ausdrucksinteressen und Gattungskonventionen, Erfahrungsbeständen des Textproduzenten und Erwartungshorizonten seiner Leser erwächst. Literarische Kommunikation - hier vorerst kurz und unvollständig definiert als dynamische, historisch variable Gesamtheit von personellen und institutionellen Interaktionen, in denen Texte mit spezifischen Geltungsansprüchen und Adressierungen produziert, vervielfältigt und verbreitet, rezipiert und diskutiert werden - ist also zugleich Bestandteil wie Ergebnis von Wissenskulturen. Denn literarische Kommunikation basiert auf Kenntnissen des Notationssystems Schrift (und nutzt dieses Wissen von Regeln zugleich zu deren Subversion); sie gründet auf Erfahrungen über soziale Zusammenhänge (und macht dieses zum Teil implizite Wissen von Gesellschaften durch demonstrative Verletzung von Konversationsmaximen sichtbar). Literatur partizipiert in Gestalt ihrer fach- und sachkundigen Autoren an Spezialdiskursen; sie ist an Leser gerichtet, die im Akt der Lektüre je eigene Wissensbestände, Normen und Konventionen aufrufen und aktualisieren. Über Begriff und Geltung von Literatur wird schließlich in Verhandlungen entschieden, die ihrerseits auf umfassenden Kenntnis- und Werthorizonten beruhen: Was „Literatur" ist, wird durch das Unterscheidungswissen von Literaturkritik ebenso bestimmt wie durch die zeitinvestiven Beobachtungen von Literaturwissenschaftlern, die im Verbund mit anderen Instanzen jene Prozesse der Kanonbildung und -bearbeitung in Gang halten, die bewahrenswerte Bestände des Produzierten in das kulturelle Gedächtnis überführen und damit einen
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3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
Wissensspeicher schaffen, der normen- und regelbildend wirken kann. Gerade eine Zeit und Aufmerksamkeit investierende Literaturwissenschaft kann aber auch „vergessene" Autoren und Werke sowie bislang übersehene oder ignorierte Konstellationen wieder ans Licht holen: und damit nicht nur ihre eigene Beschäftigung mit neuem Material versorgen, sondern auch zeigen, wie die (stets wissenskulturell bedingten) Praktiken von Akzeptanz und Ignoranz, von Einschluss und Ausschluss funktionieren. Zum komplexen Gebilde der Wissenskulturen, in dem verschiedene Instanzen interagieren und in mehrfach dimensionierten Kommunikationen jene stets eigensinnig formatierten Datenströme erzeugen, die wir als Wissen beobachten können, gibt es unterschiedliche Zugänge. Wenn nun Modelle zur Beschreibung von Wissensordnungen und Wissenskulturen entworfen werden, dann ist noch einmal ist zu betonen, dass zusammengehörende Instanzen hier zu heuristischen Zwecken getrennt und gesondert behandelt werden - denn natürlich sind Akteure und Institutionen wie Gelehrte und Wissenschaftler, kommunikative Zirkel, Universitäten und Akademien deshalb Träger von Wissen, weil sie Konzepte und Methoden, Verfahren und Techniken zur spezialisierten Problembearbeitung realisieren und damit zugleich zu Produzenten wie Rezipienten von Erkenntnissen werden. Sehr vereinfacht lässt sich eine in fortgesetzten Zirkulationen entstehende Wissenskultur so vorstellen: Soziokultureller Rahmen: Normen- und Wertvorstellungen in Bezug auf Wissen; gesellschaftliche bzw. gruppenspezifische Wahrnehmung; finanzielle Alimentierung und soziale Akzeptanz IT Akteure und Institutionen
—•
1 Konzepte und Methoden, Verfahren und Techniken
I Ergebnisse der Wissens—> Produktion in spezifischen Darstellungsformen
IT Adressaten, —ι Rezipienten
TI IT IT . . T I Weltanschauliche Ausdeutung und Bewertung - populäre Vermittlung bzw. „Übersetzung" künstlerische bzw. literarische Gestaltung und Modellierung
Dieses statische Modell lässt sich in dynamische Perspektiven überfuhren, wenn nach Prozessen und Verfahren innerhalb von Wissenskulturen gefragt wird und dabei die einzelnen Instanzen in den Blick genommen werden. Beraten, Informieren, Kommunizieren: Autoren, Gelehrte, Wissenschaftler im Dienst der Polis oder von Mäzenen, der Gelehrtenrepublik, des Staates bzw. forschungsfordernder Organisationen ... IT Aufsteigen und Fallen: Sozialtopographie mit Karrieremustem, Reputation, Erfolg etc.
I Lesen und Urteilen: Formen der Lektüre und Wissensaneignung; kritische Verfahren, Rezensionswesen etc.
I Beobachten und Experimentieren: Forschung in Kompilation, Experiment, Theoriebildung; in Archiv und Bibliothek, Labor und Seminar etc.
TI Vermittlung und Verbreitung; Austausch inner- und außerhalb der Gelehrten- bzw. Wissenschaftlerwelt
TI IT IT TI Wahrnehmen und Reagieren: Gelehrte und Wissenschaftler im Austausch mit weltanschaulichen Ideen und Problemen ihrer Zeit, Populärwissenschaft, Kunst und Literatur...
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3. Modelle
Jede der hier schematisch sortierten Instanzen von Wissenskulturen kann mit unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven bearbeitet werden - wobei sich für die Modellierung der Verhältnisse von Literatur und Wissen vor allem Zugänge eignen, die nach den Zusammenhängen zwischen den Formen und Formaten spezialisierten Erkenntnisgewinns und Mustern der kulturellen Zeichen- und Bedeutungsproduktion in jeweils konkreten Varianten der weltanschaulichen Ausdeutung und Bewertung, der populären Vermittlung und der künstlerisch-literarischen Gestaltung fragen. Denn auch wenn die Schemata diesen Eindruck vermittelt, sind die kulturellen Bezugnahmen kein bloßer Rahmen einer „im Inneren" nach eigenen Regeln ablaufenden Wissensproduktion. Die hier getrennten Bereiche sind vielmehr in einer Weise verschränkt, dass genaue Rekonstruktionen auf Basis anschlussfahiger Modelle nötig werden. Wie komplex die stark vereinfachten Relationen tatsächlich sind, zeigt beispielsweise der Schweizer Universalgelehrte Albrecht von Haller (1708— 1777), in dessen Lebensweg und poetisch-wissenschaftlicher Produktion sich Problemlagen und Entwicklungen der Wissenskultur des 18. Jahrhunderts exemplarisch spiegeln: In einer Person Mediziner und Botaniker, praktischer Arzt und Bibliothekar agiert er als Universitätsprofessor und als Magistrat, als Präsident wissenschaftlicher Gesellschaften und Korrespondent sowie als profilierter Autor und mächtiger Rezensent. Sammelnd und experimentierend, ist der Enzyklopädist und Spezialforscher einerseits moderner Forscher, andererseits Poet und Verfasser des bereits erwähnten Gedichts DIE ALPEN. Zugleich praktiziert er einen christlichen Glauben, in dessen Dienst er 1751 nicht nur die evangelisch-reformierte Gemeinde Göttingen begründet, sondern sich auch um den Bau ihrer Kirche kümmert (und deren ersten Pfarrer als Dozenten fur Philosophie an der Universität Göttingen unterbringt - was von Kenntnissen im Personalmanagement zeugt). Ausgangspunkt fur die Modellierung dieser nicht einfachen Verhältnisse kann also die segmentierende Analyse jener Instanzen sein, die diese Zirkulationsprozesse initiieren und in immer neuen Formen und Verfahren fortschreiben. In einem ersten Zugriff sind die personalen Akteure der Wissens- und Zeichenproduktion in den Blick zu nehmen: Gelehrte, Wissenschaftler und Autoren, die in je konkreten epistemischen Konstellationen textuell fixierte Geltungsansprüche erheben, kritisieren, propagieren, popularisieren und modifizieren. Zu ermitteln ist, welche Rollen Gelehrte, Wissenschaftler und Literaten zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen epistemischen Situationen einnehmen bzw. zugewiesen bekommen, welche Bilder sie von sich selbst vermitteln und wie sie wahrgenommen werden - nicht zuletzt durch Instanzen der weltanschauliche Ausdeutung und Bewertung, der populären Vermittlung und der künstlerischen bzw. literarischen Gestaltung und Modellierung.
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
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3.1.1 Gelehrter Dichter, Genie, Literat. Dimensionen des Autors
Nachdem ohne Angabe eines Verfassernamens zur Michaelismesse am 29. September 1774 in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig ein Buch mit dem Titel D I E LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS erschienen war, drucken die FRANKFURTER GELEHRTEN ANZEIGEN am 1. November desselben Jahres eine gleichfalls anonyme und vermutlich von Heinrich Leopold Wagner stammende Rezension, die mit Fragen beginnt: Die Leiden des jungen Werthers? - ein sonderbarer Titel! - und von wem? Von wem? das könnt ich Ihnen wohl sagen, wenn ich mich berechtigt dazu glaubte, so aber mag ich nicht: - und wofür thät ichs? - Das Buch wird gesucht, gelesen, und geschätzt, von einer sympathetischen Seele auch durchgefühlt werden - ohne daß es den Nahmen seines Verfassers zur Empfehlung nöthig hätte. - -
Schon bald aber verbreitet sich - mit emphatischen Stellungnahmen für und gegen das Buch - auch der Name seines Autors. Doch nicht nur das. 1775 publiziert K. W. von Breidenbach, Hannoverscher Gardeleutnant und Rechtspraktikant in Wetzlar, eine BERICHTIGUNG DER GESCHICHTE DES JUNGEN WERTHERS, in der er die „Wahrheit" der im Roman geschilderten Ereignisse aufdeckte. Alle im Buch enthaltenen Vorfälle hätten sich „ohne Ausnahme" in und um Wetzlar zugetragen, dem Ort des Reichskammergerichts, an dem Johann Wolfgang Goethe zwischen Mai und September 1772 als Praktikant arbeitete. Akribisch genau listet Breidenbach Stätten und Personen auf, die unter partieller Veränderung ihrer Namen in den literarischen Text eingegangen wären: vom Dorf Garbenheim, das im Roman als Wahlheim erscheint, bis zur Person der Charlotte Buff, die schon im fünfzehnten Lebensjahr dem Bremischen Gesandtschafts-Sekretär Kestner versprochen gewesen war und die Goethe bei einem Ball am 9. Juni 1772 kennengelernt hatte. Allerdings zieht Breidenbach bei seinen Recherchen nach Parallelen zwischen Leben und Werk keine Identität von Autor Goethe und dem Briefschreiber Werther in Betracht: „Ob der Verfaßer das alles für Charlotten, und sie wieder für ihn so vieles gefühlt, als das Werk zu verrathen scheinet, ist mir unbekannt. Es scheint auch
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3. Modelle
unwahrscheinlich, und ich hoffe nicht, daß Ke[stne]r hierüber unruhig ist."' Goethes Zeitgenossen und spätere Leser haben sich dieser Vorsicht nicht immer angeschlossen. In seiner Autobiographie A u s MEINEM LEBEN. DICHTUNG
UND WAHRHEIT berichtet der Autor von der „unleidlichen Qual", die ihm nach der Veröffentlichung bereitet wurde. Anstelle substantieller Wertungen wollte man nur wissen, „was denn eigentlich an der Sache wahr sei". Neben der Vorbildgestalt für die Figur des Werther - die rasch in der Person des Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem gefunden wurde, der sich aus unglücklicher Liebe zur Gattin eines Freundes das Leben genommen hatte - bewegte die Frage nach der Identität der Lotte und die Beziehung des Autors zu ihr die Gemüter. Nach eigenem Bekenntnis hatte Goethe in der literarischen Figur Lotte disparate Züge unterschiedlicher Frauen kompiliert. Als das forschende Publikum nun „Ähnlichkeiten von verschiedenen Frauenzimmern" entdeckte, brachten „diese mehreren Lotten" weitere „unendliche Qual" - „weil jedermann, der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei?"2 Die Hinweise auf die Probleme des Verfassers Goethes nach der Veröffentlichung seines (ihm Weltruhm sichernden) Briefromans haben auf zentrale Bezugsgrößen des Autor-Begriffs aufmerksam gemacht. Sie zeigen zudem eine (selbst heute noch anzutreffende) Umgangsweise mit Literatur, die im Kurzschluss von „Leben" und „Werk" einen (literarischen) Text zu einer Quelle von Wissen erhebt, dessen vermeintlich empirischer Gehalt dann wiederum zu bestimmten Einstellungen und Wertungen führen kann - von der Suche nach weiteren chiffrierten Referenzen und verschlüsselten Botschaften bis hin zu juristischen Schritten gegen den Verfasser. Die spezifischen Wissenselemente in fiktionalen Texten im allgemeinen und in der sogenannten SchlüsselLiteratur im besonderen werden im nächsten Kapitel detailliert erläutert. An dieser Stelle gilt die Aufmerksamkeit zuerst einmal dem Autor als Bestandteil und Produzent einer sich entwickelnden literarischen Kommunikation, dessen unterschiedliche Erscheinungsweisen die oben angedeuteten Verwirrungen motivieren. Denn einerseits tritt der Autor als der real existierende Produzent einer literarischen Äußerung und als Träger von (feststellbaren) Erfahrungen und Wissensbeständen in Erscheinung; andererseits agiert er in seinen Texten als abstrakte Steuerungsinstanz der lyrischen Aussprache, der Narration oder der dramatischen Rollenrede. Während dieser implizite Autor als unsichtbare,
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K. W. von Breidenbach: Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers. Zweite verbeßerte Auflage. Frankfurt und Leipzig 1775, zitiert nach Karl Eibl, Fotis Jannidis, Marianne Willems (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Frankfurt/M. 1998, CD-Komponente. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: J. W. Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 16. Hrsg. von Peter Sprengel. München 1985, S. 626.
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
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doch durchgängig anwesende Steuergröße eines Textes zwischen Haltungen oder Rollen situations- und kontextabhängig wechseln kann (und etwa als Herausgeber für angeblich aufgefundene Schriften oder als Protokollant von scheinbar ungefilterten Gedankenströmen tätig wird), ist der empirische Autor als tatsächlich existente Person durch spezifizierte Indizien festgelegt. Diese Dualität sorgt aber nicht selten für Konfusionen. Der Name des empirischen Autors verbürgt die Authentizität eines „Werkes", dessen Einheit mit dem „Leben" und den Erfahrungs- und Wissensbeständen seines Urhebers von Lesern wie von Literaturwissenschaftlern immer wieder vorausgesetzt und gesucht wird. Eben weil die zeitgenössischen Leser der LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS hinter dem literarischen Text die Person Goethes als Schöpfer sahen und einen Zusammenhang zwischen dessen Wissen und seinem Werk vermuteten, stellten sie die den Autor quälende Frage, „was denn eigentlich an der Sache wahr sei". Die „unendliche Qual", die schon Goethe bei diesen Erkundigungen empfand, soll hier nicht vermehrt werden. Deshalb erweisen sich analytische Trennungen als notwendig. Zum einen ist zwischen den empirischen Daten der Autor-Existenz mit seinen historisch gegebenen Erfahrungs- und Kenntnisbeständen einerseits und den Formen auktorialer Selbstdarstellung und der Suggestion von Wissensbeständen in Texten andererseits zu trennen. Wenn der Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS mit den Zeilen beginnt „Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, dass ihr mir's danken werdet", so redet hier nicht der 25-jährige Jurist Johann Wolfgang Goethe, der in der Tat ein sehr genaues Wissen über die Hintergründe und den Hergang von Jerusalems Selbsttötung hatte und die Bestandteile der berühmten zwei letzten Sätze direkt aus Kestners Bericht übernahm.3 Hier spricht vielmehr eine narrative Instanz bzw. ein impliziter Autor, der als Herausgeber fingierter Briefe und später als auktorialer Erzähler in Erscheinung treten wird, um selbst über die letzten Tage und Stunden Werthers zu berichten: und dabei ein Wissen fingiert, das eben nicht empirische Verifizierbarkeit beansprucht, sondern von anderer Geltung ist. Zum anderen ist zwischen der Wirkungsabsicht des personalen Urhebers, also der Autor-Intention und der Wirkungsabsicht seiner Texte (Text-Intention) zu unterscheiden - vor allem bei Versuchen, aus Texten bestimmte Wissensbestände über den Autor und historische Konstellationen zu gewinnen. Was Goethe mit Niederschrift und Veröffentlichung seines Briefromans tatsächlich wollte, können wir nur partiell aus Selbstzeugnissen und Aussagen dritter Personen rekonstruieren: und diese tragen wie alle 3
Vgl. Kestners Bericht vom Freitod Jerusalems vom 2.11.1772, hier zitiert nach der Wiedergabe in Karl Eibl u.a. (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit, CDKomponente: „[...] Barbiergesellen haben ihn getragen; das Kreuz ward voraus getragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet."
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3. Modelle
Formen performativer Darstellung ein nicht geringes Risiko der unbewussten Fehleinschätzung oder der absichtlichen Verzeichnung. Ermittelbar sind dagegen Wirkungsabsichten des Textes - und zwar aus dem Text selbst. Wir finden sie im WERTHER zum Teil bereits in der Vorrede ausgesprochen, in der sich ein fiktiver Herausgeber direkt an den Leser des Buches wendet: „Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst." Der literarische Text wird hier als „Freund" und Partner einer gleichberechtigten Kommunikation angeboten. Über andere Text-Intentionen, Wissensbestände und Wertvorstellungen aber lässt sich streiten. Schon die zeitgenössischen Rezipienten diskutierten nicht allein die realen Referenzpersonen, sondern auch die Stellungnahmen des Textes zu Werthers Selbstmord, der nach christlicher Auffassung eine besonders furchtbare Sünde darstellte, da Reue und somit Vergebung unmöglich waren. Weil das Buch eine „Apologie des Selbstmordes" 4 genannt werden könne, wurden Druck und Vertrieb in Leipzig am 30. Januar 1775 verboten, was aufgrund oberflächlicher Durchführung aber keine Folgen hatte: Noch im gleichen Jahr veranstaltete der Leipziger Verleger Weygand äußerlich identische Doppeldrucke der Erstauflage und eine „zweyte ächte Auflage". 5 Verständlich (vor allem auch für spätere Leser) werden diese Reaktionen auf einen literarischen Text nur aufgrund eines Wissens, das sowohl die Dimensionen des Autors wie auch den Kenntnisstand und die Normen der Entstehungs- und Handlungszeit seiner Texte reflektiert. Von den Trennungen zwischen empirischer Autor-Existenz und Formen auktorialer Selbstdarstellung sowie zwischen Urheber-Intention und Textintention ausgehend, lassen sich vier Festlegungen des Autorbegriffs formulieren, die weitergehend zu präzisieren sind: (1) Ein Autor tritt als personaler (und zumeist individueller) Urheber von Texten in Erscheinung, der im Rahmen historisch konkreter Wissenshorizonte und Wertvorstellungen kohärente Äußerungen produziert, diese an Leser oder Hörer bzw. an die Distributionsinstanz Verlag weitergibt und dadurch ein Verhältnis zu einem rezipierenden Publikum gewinnt, das seiner-
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Antrag der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig auf ein Verbot der Leiden des jungen Werthers vorn 28. Januar 1775. Hier zitiert nach der Wiedergabe in Karl Eibl u.a. (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit, CD-Komponente. Nur knapp ist auf die Reaktionen des Autors Goethe hinzuweisen, der rasch erkannte, dass sein neuartiger Text auf ein Publikum ohne ästhetische Distanz zum poetischen Gegenstand gestoßen war. Um die Differenz zwischen Kunst und Leben zu markieren, stellte er der zweiten rechtmäßigen Ausgabe von 1775 Titelstrophen voran, die eine „fehlgehende" Rezeption verhindern sollten. Die Titelstrophe zum zweiten Teil wandte sich an die männliche Jugend, unter der das „Werther-Fieber" mit angeblich mehrfacher Nachahmung der Selbsttötung grassierte: „Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,/ Rettest sein Gedächtniß von der Schmach;/ Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:/ Sey ein Mann, und folge mir nicht nach."
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
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seits konkrete Wissenshorizonte und Wertvorstellungen aufweist. (2) Als Urheber von literarischen Äußerungen ist der Autor Träger von mehrfach dimensionierten Geltungsansprüchen, die aus Text- bzw. Kontextelementen erschlossen werden können und zwischen Ausdrucksinteressen und Gattungsmustern, Wissenshorizonten und Wertvorstellungen seiner Zeit vermitteln. (3) In Texten agiert ein Autor als Steuerungsinstanz von lyrischen Aussagen, Narrationen, Rollenreden etc. Als impliziter Autor ist er innerhalb des Textes durchgängig anwesend, wenn auch nicht immer direkt präsent - und nicht mit dem realen Verfasser gleichzusetzen. (4) Ein Autor ist der Urheber von Texten, die im Prozess der Herstellung, Zirkulation und Rezeption ein Werk konstituieren. Im Urheberrecht bezeichnet der juristische Terminus „Werk" das Produkt eines Autors; in literaturwissenschaftlicher Perspektive umgreift der Begriff „Werk" den Zusammenhang zwischen Text, (mitgeteilten oder anders erschließbaren) Intentionen und den durch Reproduktion und Verbreitung ermöglichten Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen. Diese Bestimmungen sind wie alle anderen Parameter des Literatursystems keine überzeitlich gültigen Größen. Sie sind vielmehr das Resultat einer langwierigen Entwicklung, in deren Verlauf sich sowohl die Vorstellungen von der Produktion und Gestaltung literarischer Texte wie auch die Auffassungen von der Rolle des Autors in diesem Gestaltungsprozess grundlegend wandeln. Eine entscheidende Rolle in dieser Entwicklung spielt jener Text, der im September 1774 ohne Nennung seines Verfassers erschienen war und folgenreiche Veränderungen im Verständnis von Literatur, Autorschaft und Werk zusammenführte. Denn was der 25jährige Autor Johann Wolfgang Goethe mit der literarischen Gestaltung mehrerer Tabubrüche im Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS realisiert, stellt in der Tat ein Novum dar: Sein Werk markiert nicht nur die Entstehung einer Literatur, die sich von der Illustration moralischer Prinzipien und didaktischen Unterweisungen trennt und nun die ungelösten Probleme einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft reflektiert. Die Wahl des Genres wie dessen Radikalisierung sind Ergebnis wie Katalysator eines neuartigen Autor-Bewusstseins, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbildet und noch heute anzutreffende Vorstellungen vom regelbefreiten „Genie" prägt. Bis dahin aber dominierten ganz andere Vorstellungen vom Autor. Was in der Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als Poet oder Autor (von lat. auctor, „Förderer" bzw. augeo, „etwas entstehen lassen") bezeichnet wurde, war dem emphatischen Schöpfer-Begriff des 18. Jahrhunderts entgegengesetzt. Zwar findet sich in der griechischen Antike und namentlich in Piatons Dialog ION die Auffassung vom Autor als einem gleichsam unbewussten Medium mythischer Wahrheiten: Der inspirierte Dichter wird aufgrund von göttlichen Eingebungen zur Instanz einer Offenbarung; eigentlicher Urheber seiner Äußerungen ist ein göttlicher Wille (Ion 533d-e; Phaidros 244a-245a; 249d-e).
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3. Modelle
Dagegen vertreten Aristoteles und seine Schüler sowie später der römische Poet Horaz die Meinung, der Autor handle als Kenner eines Fachwissens, der mit Kompetenz und Technik das Schreiben als ein Handwerk beherrsche (Horaz: Ars poetica V. 291f., 385f., 454f.). Die Regelsysteme von Poetik und Rhetorik reflektieren und stabilisieren diese Verbindung von literarischer Produktion und Erkenntnis, systematisieren sie doch erlernbare Muster, die in kunstfertiger Weise anzuwenden sind und den Autor zu einem wissensgeleiteten Textproduzenten machen. Bis in das 18. Jahrhundert bleibt dieses Verständnis dominant: Durch Unterweisung (lectio), Übung (exercitatio) und Nachahmung vorbildlicher Muster (imitatio) bildet sich der gelehrte Dichter (poeta doctus). Von besonderer Bedeutung wird das ausgewogene Verhältnis zwischen natura bzw. ingenium als den angeborenen, nicht erlernbaren Fähigkeiten und ars als einem rhetorischen und praktischen Kunst-Wissen. Handwerkliches Können, Anschluss an Traditionen und individuelle Fertigkeiten bilden keinen Gegensatz. Die Betonung der Professionalität, die ein implizites wie explizites Wissen umfasst, geht jedoch noch weiter: Der „gelehrte Dichter" besitzt nicht nur Arbeitsethos und Traditionsbindung, die Exklusivität für die Verständigen sichert, sondern orientiert sich an Wissenschaft wie an Reflexion und Theorie.6 Diesem Ausgleich korrespondiert die Stellung des Dichters in der ständischen Gesellschaft: Der poeta doctus setzt sein poetisches Können situationsspezifisch ein und integriert sein Dichten in einen umfassenden beruflichen und sozialen Lebensentwurf. Einer der prominentesten „gelehrten Poeten" ist der 1487 durch Kaiser Friedrich III. zum „poeta laureatus" gekrönte Conrad Celtis (1459-1508), der als Universitätsprofessor Poetik lehrt und Elegien, Oden, Epigramme sowie Festspiele veröffentlicht. Zu denken ist aber auch an Hans Sachs (14941576), der als Schuhmacher und Dichter in Nürnberg lebt. Die Bindung an Regeln lässt die Verfertigung von Texten zu einem Programm werden, dessen angegebene Einzelschritte bei genauer Befolgung zu analogen Resultaten führen sollten, so dass - wie der als Professor fur helvetische Geschichte tätige Johann Jakob Bodmer noch 1740 formuliert - „ein jeder anderer Mensch in gleichmäßigen Umständen eben dergleichen Werk hätte verfertigen können".7
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So die fünf Grundmerkmale bei Wilfried Barner: Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Brummack (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 724-752, hier S. 728. Blütezeit dieser Vorstellungen vom „gelehrten Dichter" sind Humanismus und Barock sowie die Zeit der Frühaufklärung; Affinitäten zum Ideal des poeta doctus aber lassen sich noch in der Moderne beobachten: Die Werke von Thomas Mann, Robert Musil, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Bertolt Brecht oder Hermann Broch sind ohne Bezug auf Erkenntnisse aus den Naturund Kulturwissenschaften nicht zu denken. Johann Jakob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Nachdruck der Ausgabe von 1740. Stuttgart 1966, S. 6.
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Dieses Verhältnis ändert sich im deutschen Sprachraum seit dem 18. Jahrhundert. Im Zuge einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und des literarischen Lebens entsteht der freie Autor als der einmalige und unverwechselbare „Schöpfer" individueller Werke. Seine „Freiheit" weist mehrere Aspekte auf. Zum einen erfährt die Rolle des Dichters bzw. Schriftstellers im Gegensatz zu anderen Berufen keine Professionalisierung: Während für Tätigkeiten im sich ausbreitenden Verwaltungsapparat, im Bildungswesen und im Militär feste Berufsbilder mit geregelten Zugangsvoraussetzungen und Laufbahnmustern entstehen, bleibt die Existenz des Autors literarischer Texte ohne formale Regulierung. Zum anderen wird die Freisetzung der Autorpersönlichkeit durch eine Auflösung der rhetorischen Kultur mit ihrer regelgeleiteten Theorie und Praxis des Schreibens begleitet. Die Erhebung des „Originalgenies" in der Ästhetik des Sturm und Drang markiert den entscheidenden Einschnitt, von dem an sich Schaffensprozesse individualisieren und der Ausdruck subjektiver Empfindungen zum Maßstab von originaler Autorschaft wird. Während Dichter in der ständischen Gesellschaft in ihren Texten den Spielraum von Normerfüllung und Variation nutzten, den vorgegebene poetische Muster und Regeln absteckten und sich mit ihren (zum Teil auf Bestellung entstandenen) Werken an Kenner von Geschmack richten, wendet sich der „freie Autor" an alle mitfühlenden Individuen und gegen die gelehrte Poesie mit ihren einschränkenden Normen und Traditionen: „Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen", verkündete der junge Goethe 1771 seinen Straßburger Freunden in seiner Rede ZUM SCHÄKESPEARS TAG: „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sähe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte ihre Türme zusammenzuschlagen.8 Diese Freiheit aber hat auch ihre Kehrseite. Waren gelehrte Dichter in der ständischen Gesellschaft durch gesellschaftliche Ämter sozial integriert, bleibt für freie Autoren ein spannungsvolles Nebeneinander von poetischer und gesellschaftlicher Existenz charakteristisch. Aufgrund sozial-ökonomischer Rahmenbedingungen konnten (und können) nur wenige Schriftsteller von ihren Publikationen leben und eine wirklich freie Existenz führen; zumeist waren und sind Autoren als Dramaturgen, Herausgeber, Journalisten, Kritiker, Lektoren tätig oder gehen einem Brotberuf als Arzt, Jurist, Lehrer, Pfarrer, Verwaltungsbeamter nach. Dieses „Doppelleben" hat aber - zumindest für die
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Johann Wolfgang Goethe: Zum Schäkespears Tag. In: J. W. Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 1.2: Der junge Goethe, S. 411-414, hier S. 412.
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3. Modelle
daraus hervorgehende Literatur - durchaus positive Seiten: Gottfried Benns radikale Verse über den Menschen wären ohne die Erfahrungen des Autors als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten wohl anders ausgefallen; der Roman D E R PROCESS hätte ohne die Kenntnisse eines promovierten Juristen nicht so geschrieben werden können. Begleitet und befördert wird die Individualisierung des Autors von einer Dynamisierung und Differenzierung des literarischen Lebens. Zwischen Autor und Leser tritt ein expandierender Buchmarkt mit einem anonymen Publikum, das sich zunehmend für poetische und fiktionale Texte interessiert und dessen Kenntnishorizonte und Erwartungen einzukalkulieren sind, wenn man Erfolg haben möchte. Vom quantitativen Zuwachs zeugen signifikante Daten: Waren zur Leipziger Ostermesse 1765 noch insgesamt 688 deutschsprachige „Originalschriften" erschienen, sind es 1775 bereits 1056, zehn Jahre später schon 1581. In den 1790er Jahren schätzen Zeitgenossen die Produktion des deutschen Sprachraums ohne das Habsburgerreich auf rund 5000 Novitäten pro Jahr. Besonders deutlich zeigt sich die tiefgreifende Umwälzung der Marktstruktur am quantitativen Zuwachs von „Poesie", d.h. „schöner Literatur". Nahm sie 1740 mit knapp 6% in der Rangordnung der Sachgruppen den sechsten Platz ein, so stand sie 1770 mit 16,5% bereits an zweiter Stelle; im Jahr 1800 hatte sie mit 21,45% den ersten Rang erreicht und die Theologie überflügelt. Diese Zahlen dokumentieren einen historischen Vorgang mit weitreichenden Folgen: Es etabliert sich eine Nationalliteratur für ein zumeist bürgerliches Lesepublikum, das kulturelle Bildung als soziales Distinktionsmerkmal auffasst und verwirklicht.9 - Auf diesem schnelllebigen Markt der „schönen Literatur" vollziehen sich Prozesse der Binnendifferenzierung, die auf Progressionen des Wissens innerhalb und außerhalb der Poesie reagieren. Exemplarisch reflektiert werden diese Veränderungen in einer Übersicht über die Romanproduktion seit 1770, die die ALLGEMEINE LITERATUR-ZEITUNG fünf Jahre nach Beginn des 19. Jahrhunderts gibt und in deren Rahmen thematisch gebundene Perioden mit entsprechenden „Choephoren" aufgelistet werden. Die „empfindsame Periode" findet sich durch Johann Martin Millers „Klosterge9
Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die juristische Fassung des Urheberrechts als Persönlichkeitsrecht, das sich in Europa im 18. Jahrhundert durchsetzt. 1709 in England, 1793 in Frankreich und mit dem Preußischen Landrecht 1794 auch in Deutschland eingeführt, soll das Urheberrecht unkontrollierte und willkürliche Vervielfältigungen von Texten ausschließen. Einzelkopien zum Eigengebrauch wie für wissenschaftliche und schulische Zwecke sind gestattet; Veränderungen, Übersetzungen und Bearbeitungen dürfen nur mit Einverständnis des Urhebers veröffentlicht werden. Auf eine Schutzfrist von 70 Jahren (beginnend mit dem Tod des Autors) beschränkt, sichert das Urheberrecht bis heute den ökonomischen Status des Autors und macht den freien Schriftsteller als sozialen Akteur überhaupt erst möglich. Die juristische Regulierung rückt den Autor aber auch in eine nicht unproblematische Rolle: Unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt wird er zu einem Warenproduzenten, der die Publikationsrechte für sein geistiges Eigentum gegen Honorar veräußert.
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schichte" SIEGWART repräsentiert; für die daran anschließende „komische Periode" stehen die Romane von Johann Karl August Musäus, August Gottlieb Meißner und Johann Friedrich Ernst Albrecht. Die „psychologische Periode" konstituiert sich aus den von Christian Heinrich Spieß veröffentlichten Sammlungen BIOGRAPHIEN DER SELBSTMÖRDER und BIOGRAPHIEN DER WAHNSINNIGEN, die ein durch Karl Philipp Moritz' MAGAZIN ZUR ERFAHRUNGSSEELENKUNDE begründetes psychologisches Interesse aufnehmen und moraldidaktisch profilieren. Für die „Ritter-Periode" steht Goethes GÖTZ VON BERLICHINGEN, die „Geisterseher-, Geister- und Zauber-Periode" findet in Friedrich Schillers Fortsetzungsroman DER GEISTERSEHER ihre prototypische Gestalt. Für die danach folgende „geheime Ordens- und Hofkabalen-Periode" gelten Heinrich Zschokkes und Karl Gottlob Cramers Romane als literarische Garanten, während die anschließenden Phasen („häusliche Periode", „MusterkartenPeriode" und „Räuber-, Diebes- und Gauner-Periode") durch Autoren wie August Lafontaine, Gotthelf Wilhelm Christoph Starke, Christian August Vulpius bestimmt werden.10 Diese Periodisierung zeugt nicht nur von genauer Beobachtung rasch wechselnder Verhältnisse, deren Segmentierung fur den Bedeutungszuwachs der erzählenden Prosa und namentlich der bislang randständigen Gattung Roman sorgen sollte." Sie dokumentiert zudem Wandlungen in der Geschmacksbildung, die als wechselnde Interessen an empfindsamer Erbauung, komischer Distanzierung, psychologischer Durchdringung, spannender Unterhaltung modelliert und in Beziehung zur literarischen Produktion gebracht werden. Auf die Existenz als „freier Autor" haben Poeten und Schriftsteller seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedlicher Weise reagiert: Johann Gottlieb Klopstock (1724-1803) prägt den Typus des hohen Dichters, der sein Leben ganz in den Dienst am Werk stellt. Das religiöse Muster von Prophet und Gemeinde wird von ihm auf das literarische Leben übertragen; der Autor verkündet einer ausgewählten Schar seine poetischen Wahrheiten. (Ein ähnliches Verständnis findet sich dann bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Hölderlin, Stefan George u.a.) Demgegenüber positioniert sich seit Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und Christoph Martin Wieland (1733-1813) der Typus des Schriftstellers als Katalysator einer kritischen Öffentlichkeit: Dem sich entwickelnden Journalismus aufgeschlossen gegenüberstehend, handelt der 10 11
[Anonym:] Romanen-Literatur. In: Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 103-106 (1805), Sp. 153-159, 161-165, 169-173, 177-184, 161. Die erzählende Literatur steigerte ihren Anteil an der literarischen Gesamtproduktion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts enorm: Betrug ihr Anteil im Jahre 1770 noch 4%, wuchs er bis 1800 auf knapp 12%; vgl. Albert Ward: Book Production, Fiction and the German Reading Public 1740-1800. Oxford 1974, S. 64; die „Marktfähigkeit" der Texte betont Michael Hadley: The German Novel in 1790. A descriptive account and critical bibliography. Frankfurt/M. 1973, S. 231, 238: „Marketability was a prime consideration in the writing of novels. [...] Most novels strike one as factory products."
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Schriftsteller als Autor seiner Zeit für seine Zeit, bevorzugt Prosa und kleinere literarische Formen und bildet feuilletonistische Schreibweisen aus. Mit Gottfried August Bürger (1747-1794) und den von Johann Gottfried Herder initiierten Bemühungen romantischer Autoren um die „Volksdichtung" kommt es zu ersten Bestrebungen, die Rolle des Autors zugunsten eines schöpferischen Kollektivs aufzuheben und literarische Texte in den Zusammenhang einer übergreifenden Poesie zu verorten; die durch Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebene Sammlung DES KNABEN WUNDERHORN wie auch die KINDER- UND HAUSMÄRCHEN der Brüder Grimm sind ein Ergebnis. Paradigmatisch für die Vorstellung der durch mustergültige Autoren realisierten Einheit von Leben und Werk wird dann das Schaffen Goethes und Schillers wobei zu beachten ist, dass auch ihre Auratisierung zu „Klassikern" ein Produkt der späteren Rezeptionsgeschichte ist, die eigene (und zumeist gruppenspezifische) Werte und Bestrebungen auf (wehrlose) Dichter projiziert. Die nachfolgenden Abbildungen dokumentieren den hier nur sehr verkürzt dargestellten Wandel in den Vorstellungen vom Autor:
Hiltbolt von Swanegoen [Manessische Handschrift, 1320]
Der arme Poet [Carl Spitzweg, 1839]
Erasmus von Rotterdam [Hans Holbein d. J., 1523]
Paul Melissus, Poeta Laureate [Tobias Stimmer, 2. Hälfte 16. Jhd.l
Johann Wolfgang Goethe Schlittschuh laufend auf dem Main
Thomas Mann. [Fotografie, 1905]
Friedrich Schiller beim Vortrag seines Dramas DIE RÄUBER
Stefan George in seinem Kreis [Fotografie, um 1905]
Angesichts der Wandlungen des Autor-Begriffs und seiner Funktionen im Literatur- und Wissenssystems verwundert es nicht, dass poststrukturalistische Auflösungen der Begriffe „Autor" und „Werk" nur bedingt erfolgreich waren. Und das nicht allein aufgrund interner Inkonsistenzen von Todes-Erklärungen, die auch bei Negation des Autorbegriffs auf Wissensbestände über einen Verfasser zurückgreifen - und sei es zur raumzeitlichen Markierung der Entstehungszeit eines Textes. Viel wichtiger ist der Umstand, dass sich vielleicht auf
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den Begriff „Autor" verzichten lässt, kaum aber auf die Funktionen, die er in Literaturtheorie und Interpretation, Literaturgeschichtsschreibung und Editionsphilologie sowie zur Bestimmung der Zusammenhänge von Literatur und Wissen einnimmt. Denn mit den Kategorien Autor, Werk und Autorschaft kann praktikabel operiert werden - wenn man genau sagt, was und in welchen Zusammenhängen gemeint ist. Bezieht man sich auf den Autor, um gesicherte Texte zu erstellen, Bedeutung(en) zu ermitteln oder Werke historisch einzuordnen, muss man den jeweiligen Bezugsaspekt angeben: Spricht man (a) über den Autor als historisch identifizierbaren Urheber von Texten, der an Wissenshorizonten, weltanschaulichen Ideen und Normen partizipiert und in seinen Produktionen ein Verhältnis dazu entwickelt; (b) über den Autor als intentionale bzw. intentionsfáhige Instanz, deren Wirkungsabsichten aus Textund Kontextelementen erschlossen werden können; (c) über den Autor als eine in Texten durchgängig anwesende Steuerungsfunktion, die fur alle Texteigenschaften - von der Gattungswahl bis zum letzten Satzzeichen - verantwortlich ist. Die Dimensionen des Autors als eines teilnehmenden Beobachters in und von Wissenskulturen lassen sich schematisch zusammenfassen:
Die Funktionen des Autor-Begriffs für den Gewinn eines gesicherten Wissens über Literatur sind nur anzudeuten. In der Editionsphilologie als dem Fachbereich mit der Aufgabe, zuverlässige Texte zu erstellen, nahm und nimmt der Begriff des Autors als Urheber bzw. Verfasser einen zentralen Platz ein - was
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schon dadurch ersichtlich wird, dass in der Regel sein Name auf Titelseite und Buchrücken erscheint. Unter einem „gesicherten Text" verstand man bis in die 1970er Jahre eine dem Willen des Verfassers entsprechende oder eine diesem Willen möglichst nahe kommende Wiedergabe des von ihm konzipierten Werkes. Um einen solchen authentischen Text zu erhalten, wurde ein autorisierter Textzeuge - also etwa eine vom Autor noch selbst verantwortete Ausgabe zur Grundlage der Edition ausgewählt. War ein solcher autorisierter Textzeuge nicht überliefert (wie bei Schriften aus der Antike oder aus dem Mittelalter) musste ein Überlieferungsstammbaum - ein sog. Stemma - konstituiert werden, das eine möglichst große Nähe zur Intention des Autors aufweisen sollte. Die Probleme eines solchen Verfahrens liegen auf der Hand: Woher „weiß" der Editor, was der Autor „wollte"? Lässt sich die Autorintention tatsächlich in so eindeutiger Weise ermitteln, wie es die Gestalt des „autorisierten Textzeugen" nahe legt und die doch stets Ergebnis eines redaktionellen Prozesses ist? Markant sichtbar werden diese Probleme etwa im Falle von Texten, die durch Fremdredaktion literaturgeschichtliche Bedeutung erlangten: Wollte Goethe die Aphorismensammlung MAXIMEN UND REFLEXIONEN, die nicht durch ihn, sondern durch die kompilatorische Arbeit des Herausgebers Max Hecker entstand? Wäre Franz Kafka einverstanden mit der Textgestalt seiner Romane, die durch ihren ersten Herausgeber Max Brod bestimmt wurde? Aufgrund dieser Überlegungen soll nunmehr der überlieferte Text bewahrt werden; alle scheinbar verbessernden oder sinnstiftenden Eingriffe editorischen Charakters müssen als solche sichtbar gemacht werden. (Welcher Aufwand - und welche Umgewöhnung auf Leserseite - damit notwendig werden, zeigt die seit 1997 durch Roland Reuß und Peter Staengle edierte Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte von Franz Kafka. Anstelle fortlaufender Lesetexte präsentiert sie Kafkas Manuskripte als fotomechanische Reproduktion der originalen Handschrift mit diplomatischer Umschrift, d.h. einer genauen Wiedergabe der Handschrift mit sämtlichen Eigenheiten im ursprünglichen Zusammenhang der Überlieferung. Die innovativen Potentiale dieser editorischen Technik wird exemplarisch an der Präsentation von Kafkas Roman DER PROCESS sichtbar: Ohne eine Entscheidung über den Status der Kapitel und ihre vermutliche Anordnung der Handlung werden die faksimilierten Textkonvolute als Hefte in einem Schuber versammelt; so wie man die Originale im Deutschen Literaturarchiv in Marbach vorfindet. Jeder Leser kann über den Zusammenhang der mehr oder weniger abgeschlossenen Abschnitte nun selbst entscheiden und damit auch überprüfen, ob die Editionsvorschläge von Max Brod und Malcolm Pasley mit ihren Anordnungen plausibel sind:
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Die Folgen einer solche Fakimile-Edition für ein erweitertes Wissen über den personalen Urheber eines Textes sind nicht unbeträchtlich. Zum einen erscheint der Autor durch seine Handschrift mitsamt ihren materialen Eigenschaften, Gebrauchsspuren und Verschreibungen in einer Weise präsent, die nicht nur seine Todeserklärungen dementiert, sondern auch die Integrität der ursprünglichen und auktorial beglaubigten Überlieferung gegenüber wirkungsgeschichtlich vielleicht höchst bedeutsamen Eingriffen späterer Herausgeber verteidigt. Zum anderen enthält das technisch reproduzierte Abbild des handschriftlichen Urtextes eine Menge von auswertbaren Informationen: Eigenschaften des Trägermediums können ebenso wie die Art des Schreibgeräts und Gebrauchsspuren als Indizien fur Dispositionen des Schreibens und des Schreibenden ausgewertet werden. Aus der Handschrift lässt sich auf die Verfassung des Autors schließen; gestrichene oder verbesserte Stellen lassen sich als Zeugnisse verworfener Schreibabsichten entziffern und erlauben u. U. weitreichende Folgerungen für die Beschreibung und Deutung des Textes.) In der Literaturgeschichtsschreibung rangiert der Begriff Autor neben der Einteilung von Epochen als der wichtigste Begriff zur Auswahl, Bewertung und Beschreibung von Texten. Von der Maxime ausgehend, dass der Autor ein Werk für Leser produziert, erlauben Autornamen eine historisch perspektivierte Ordnung der tendenziell unüberschaubaren Menge von Texten. Autorennamen verdichten biographische Informationen über die Verfasser von Texten zu Charakteristiken, die dann sowohl die empirische Person als auch seine Texte näher bestimmen. Eine besondere Rolle spielt der Autor-Begriff in einer sozialhistorisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung und in wissensgeschichtlich orientierten Untersuchungen. Hier fungiert der Verfasser von Texten als zentraler Gegenstand von Untersuchungen, die soziale Herkunft und intellektuelle Prägungen, Berufsfelder und Zugang zu Ressourcen in den Blick nehmen, um den Zusammenhang zwischen literarischen Äußerungen, gesellschaftlichen Bedingungen und Wissenselementen zu modellieren. Auch für die Interpretation von literarischen Texten sind die Begriffe Autor und Autorschaft nach wie vor bedeutsam. Wird das Spannungsverhältnis zwischen (a) dem Verfasser als historischer Person, (b) einer intentionsfahigen Instanz und (c) seiner Rolle als durchgängig anwesender Steuerungsinstanz in Texten berücksichtigt, dann lassen sich mehrere Dimensionen des Autor-
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Begriffs in Interpretationen angeben. Eine Minimalfunktion erfüllt der Autor in strukturbestimmenden Interpretationen, die ein zugrundeliegendes Schema des Textes ermitteln: Ein Verfasser - etwa die durch die Lebensdaten 17491832 markierte Person Johann Wolfgang Goethe - tritt als diejenige Instanz auf, die einen Text - etwa den Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS - als Träger von Bedeutung raum-zeitlich fixierte, d.h. in vier Wochen des Jahres 1774 niederschrieb. Die bedeutungtragende Struktur aber ist allein durch Beobachtung von Binäroppositionen im Text selbst zu ermitteln. Eine stärkere Beachtung findet der Autor als Verfasser in stilbestimmenden Interpretationen, in denen nach der spezifischen Form eines Textes gefragt wird und andere Texte des jeweiligen Urhebers zum Vergleich hinzugezogen werden. Bei einer Rekonstruktion von im Text dargestellten Ideen, Wissensbeständen und Normen ist der implizite Autor als Steuerungsinstanz zu rekonstruieren. Bei einer psychologischen Interpretation geht es darum, (verdeckte) Aussagen des Textes über seelische Dispositionen seines Urhebers aufzuspüren und zu erklären, wobei man gegebenenfalls auf Selbstaussagen des Autors zurückgreift. Die autorphilologische Interpretation betrachtet Texte im Kontext eines Gesamtwerkes und hat dabei Beziehungen zwischen dem empirischem Verfasser, seinen Texten und seinem Erscheinen in ihnen zu thematisieren. Außerdem stehen Aussagen des Autors zur Bestätigung oder Widerlegung von Deutungshypothesen zur Verfugung. Eine dazu notwendige Einordnung von Texten in historische, ideen- und mediengeschichtliche Kontexte wird sich ebenfalls auf den Verfasser beziehen. Die Konsequenzen eines reflektiert verwendeten Autor-Begriffs für die Überlieferungssicherung wie für die Beschreibung und Deutung von Texten sind also erheblich. Als Faustregel für interpretative Verwendungen kann gelten, dass kultur- und wissensgeschichtliche Informationen über einen Autor, die Entstehungszeit seiner Texte und mögliche Einflüsse zuerst einmal einen Kontext für die Begründung von Aussagen bereitstellen, die aus dem Text selbst zu gewinnen und auf diesen bezogen sind. Die Dimensionen von Autorschaft sind dabei von besonderer Bedeutung - erlauben sie es doch, Kontextsegmente als primär bzw. subsidiär auszuwählen und diese Wahl zu legitimieren. Auf diese Weise werden Deutungsmöglichkeiten eingeschränkt und präzisiert. Das macht überzeugende Erklärungen von Textbeobachtungen wahrscheinlicher. Argumentationen in Bezug auf den Autor und dessen Wissensbestände können also dazu beitragen, Deutungshypothesen zu plausibilisieren, zu illustrieren oder sie nochmals auf ihre Gültigkeit zu kontrollieren - wenn sie ungerechtfertigte Anachronismen verhindern und den für zeitgenössische Akteure zugänglichen Kennntnisstand rekonstruieren. Werden literarische Werke dagegen zur Rekonstruktion von „Diskursen" und „diskursiven Praktiken" herangezogen, gewinnen andere Dimensionen an Bedeutung. Im Zentrum dieser Beobachtungs- und Erklärungsverfahren stehen
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nicht Einzelwerke und deren Interpretationen, die reflektierte Kontextbildung und -Verwendung unter Einbeziehung aller erreichbaren Informationen über den Autor notwendig machen, sondern vielmehr die aus Texten und anderen symbolischen Ordnungen gewonnenen Regelwerke der Kultur, des Wissens, der Theatralität oder Performativität etc. Ihre Szenarien stellen literarische Texte gleichberechtigt neben anderen Textkorpora und weisen ihnen wie diesen exemplarische, illustrative bzw. repräsentative Funktionen zu; der Autor erscheint hier als „semantisches Kraftfeld" und Verknüpfungsinstanz von Schriftströmen und Wortketten, die seine Äußerungen mit anderen Zeichenbzw. Symbolsystemen verbinden. Die besondere Aufmerksamkeit für die diskursiven Regeln und performativen Dimensionen von Text- und Symbolsystemen ist zwar nicht vor der Gefahr gefeit, die Dimensionen des Autors zu depotenzieren. Doch haben gerade diese Perspektivierungen deutlich gemacht, in welchen differenzierten Relationen sich literarische Kommunikationen entfalten und wie vielfältig jene zentrale Größe von Literatur- und Wissensordnungen beschaffen ist, die nur näher zu bestimmen sein wird. 3.1.2 Botschaft, Mitteilung, Schrift. Archivfunktionen Das im September 1774 erstmals veröffentlichte Buch D I E LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS weist schon äußerlich bemerkenswerte Eigenschaften auf. Es enthält weder auf dem Titelblatt noch an anderer Stelle eine Verfasserangabe, dafür aber eine vorangestellte Erklärung über die „mit Fleiß" erfolgte Sammlung alles dessen, „was von der Geschichte des armen Werther" nur auffindbar war. Es enthält zugleich eine als gewiss markierte Antizipation von Leserreaktionen („weiß, dass ihr mir's danken werdet") mitsamt deren emotionalen Folgen („Bewunderung", „Liebe", „Tränen"). Und es versammelt besonders gestaltete Schriftstücke, die jeder Leser aufgrund eines vorgängigen Wissens über Textsorten und Gattungskonventionen sofort als Briefe identifizieren kann, auch wenn charakteristische Merkmale wie Anrede und Schlussformel fehlen. - Als zweites Schreiben erscheint mit der Datumsangabe „Am 10. Mai" ein Brief, in dem die Titelfigur Werther seinem Freund Wilhelm über eine „wunderbare Heiterkeit" berichtet, die seine „ganze Seele" ergriffen hat. „Ich bin so glücklich, mein Eiester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet", schreibt er und fährt fort: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründ-
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lichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! Wenn's dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten - dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dass es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! - Mein Freund - Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.12 Um die verschiedenartigen Wissensbestände in dieser kurzen Botschaft ermitteln zu können, ist zuerst einmal die Kommunikationsituation zu erfassen, in deren Rahmen mehrfach dimensionierte Kenntnisse formuliert und vermittelt werden. Diese ist keineswegs simpel. Denn der Briefsteller Werther wendet sich zum einen an den Freund Wilhelm, zum anderen an sich selbst, wenn er seine Gefühle angesichts einer überwältigend schönen Natur und die dadurch ausgelösten Gedanken auszusprechen und mitzuteilen versucht. Zugleich ist diese schriftliche Äußerung einer fiktionalen Textfigur in ein Werk eingebettet, das durch Druck und Verbreitung zum Bestandteil einer literarischen Kommunikation geworden ist und sich also an Leser außerhalb des fingierten Briefkontaktes wendet. Werthers Botschaft ist also mindestens dreifach adressiert. Ihr emphatischer Gestus wird durch eine Reihung von Wendungen erzielt, die weitergehende Aufmerksamkeit verdienen. Auffallig sind zum einen die verwendeten Adjektive, die den bezeichneten Sachverhalten eine besondere Eigentümlichkeit verleihen: „wunderbare Heiterkeit", ,ganze Seele", „süße Frühlingsmorgen", „mit ganzem Herzen", „das liebe Tal", „die hohe Sonne", „das innere Heiligtum", „in ewiger Wonne"... Sieht man die Abfolge der so charakterisierten Gegenstände und Sachverhalte näher an, ist eine zweite Auffälligkeit zu bemerken: Jedem Textelement, das die Außenwelt beschreibt, folgt eine Aussage über die Innenwelt des Schreibenden. Die Wahrnehmung von Umwelt und subjektiver Befindlichkeit korrespondieren - bis eine sich steigernde Abfolge von Konjunktiven („könntest du das wieder ausdrücken", könntest du dem Papiere das einhauchen", „dass es würde der Spiegel deiner Seele") zu einem höhepunktartigen Anruf („- Mein Freund - " ) und zum verbalen Abbruch der Kommunikation führt. Die Aussage der brieflichen Botschaft lässt sich kurz und unvollständig zusammenfassen: Angesichts der vielfältigen Details einer frühlingshaft erwachenden Natur und seiner davon ausgelösten Emotionen wird einem jungen Mann namens Werther bewusst, wie beschränkt seine eigenen Möglichkeiten zum Ausdruck 12
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757-1775. Hrsg. von Gerhard Sauder. München 1985, S. 198-199.
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dieser Schönheit und seiner Gefühle sind. - Damit sind erste Einsichten gewonnen. Was aber hat es mit den Termini und Wendungen auf sich, die nicht ohne weiteres paraphrasierbar und in unsere heutige Vorstellungswelt zu transferieren sind? Während ein Ausdruck wie „das innere Heiligtum" noch ohne größere Probleme erschließbar scheint und auch die Rede vom „Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf unter Rekurs auf die biblische Schöpfungsgeschichte in Genesis 1,1 verständlich wird, bedarf eine paradoxale Äußerung einer weitergehenden Beachtung. Denn was bedeutet Werthers briefliche Aussage, er könnte jetzt „nichts malen, nicht einen Strich" - und sei „doch nie ein größerer Maler gewesen"? Wahrscheinlich meint er, das unmittelbare Erleben der Naturschönheit sei wichtiger als das Produzieren eines Werkes, auch wenn die bloße Versenkung in die unendliche Natur ihn zu einem Maler ohne Bild mache. Zugleich nimmt der Briefschreiber damit einen Gedanken auf, der sich unter anderem in Gotthold Ephraim Lessings Trauerspiel EMILIA GALOTTI findet (von dem ein Exemplar in Werthers Sterbezimmer liegen wird). Im Gespräch zwischen dem Maler Conti und dem Prinzen heißt es hier: „Ha! Daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! [...] Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht daß größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden?" 13 Die Selbstdarstellung als Maler ohne Bild, als Künstler ohne Werk korrespondiert der wortreichen Klage, die dann in einer Abfolge konjunktivischer Wendungen vorgebracht wird. Wenn der Briefschreiber Werther sich an sich selbst wendet und ausruft: „Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt...", formuliert er binäre Oppositionen: Auf der einen Seite stehen seine Empfindungen, die als vielfaltig und unausschöpflich mit einem Maximum an Bedeutung versehen werden - auf der anderen Seite seine begrenzten Fähigkeiten zum Ausdruck dieses unendlichen Reichtums. Der so formulierte Gegensatz von unausschöpfbarer Natur bzw. unendlicher Seele und begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten bildet ein zentrales Thema seines Briefes; er fuhrt zugleich über die Ebene des Textes hinaus und eröffnet einen Wissenshorizont, der mehrere Dimensionen aufweist. Denn eine erste Ebene dieses Wissens umfasst emotionale und kognitive Dispositionen der schreibenden Textfigur. Das empfindsame Individuum Werther artikuliert angesichts einer vielfältigen und unausschöpfbaren Natur und der davon ausgelösten Emotionen sein Unvermögen zur Wiedergabe dieser unendlichen Schönheit; er erkennt eine Grenze und hebt sie auf (denn wie später Hegel formulieren soll, heißt eine Grenze denken, sie
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Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders. Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a. München 1970. Bd. 2, S. 133f.
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zu überschreiten).14 - Damit ist die Bedeutung dieser Textstelle als Quelle von Erkenntnissen über die Dispositionen einer literarischen Figur noch nicht erschöpft. Denn eine weitere Wissensebene kann unter Rekurs auf weitere Textund Kontextelemente erschlossen werden. Zurückzugreifen ist dabei auf den Text im Ganzen, auf Informationen über den Autor und die Entstehungszeit sowie über ideen- und kulturgeschichtliche Hintergründe des Werkes. Eine so informierte Hypothese könnte lauten: Werthers Brief vom 10. Mai artikuliert in emphatischer Rede die Gedanken und Gefühle eines empfindsamen Individuums angesichts einer unendlichen Natur, um eigene Dispositionen zu bezeichnen und so bestimmte Informationen für den weiteren Verlauf seiner Geschichte bereitzustellen. - Zur argumentativen Bekräftigung dieser These sind innertextuelles und extratextuelles Kontextwissen heranzuziehen, also Kenntnisse, die wir erst aufgrund genauer Lektüre des gesamten Briefromans sowie weiterer Texte dieser Zeit erlangen. Zum innertextuellen Kontextwissen gehört beispielsweise die Kenntnis über die Stellung des Briefes im Rahmen des gesamten Werkes: Er erscheint als zweiter Brief fast unmittelbar zu Beginn des Textes und übernimmt also expositorische Funktionen. Aus der Verbindung dieses Kontextwissens mit Kenntnissen über den Aufbau erzählender Prosa lässt sich so die These erhärten, dass der vorliegende Brief spezifizierte Einsichten in die Dispositive einer Textfigur mitteilt und begründet, um deren spätere Entwicklung zu motivieren. Die besondere Qualität dieser Disposition wurde bereit benannt und verweist auf ideen- und literaturgeschichtliche Konditionen: Werther präsentiert sich als ein empfindsames Individuum, das seine emotionalen und kognitiven Bewegungen in emphatischer Rede artikuliert und also Gefühls- und Gedankenflüsse in Schriftverkehr überfuhrt. Dabei ist diese literarische Figur nicht nur mit einem Maximum an Sensibilität und reflexiven Vermögen ausgestattet, sondern partizipiert in metaphorischer Sprache und Ideen zugleich an übergreifenden Bewegungen, die in Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung als „Empfindsamkeit" und „Pietismus" bezeichnet werden. Um diese weiterreichende Deutung zu stützen, müssten Kenntnisse über Figurenkonstellationen und Äußerungsformen in den Werken der sog. Empfindsamkeit sowie über die Sprache des Pietismus herangezogen und mit Goethes Text verglichen werden: was Werthers Sprachbild von der „Seele als Spiegel Gottes" als Bestandteil des traditionellen pietistischen Wortschatz erweisen würde. Auch wenn diese rekonstruktiven Schritte hier nicht vorgenommen werden können, dürfte doch klar geworden sein, welche Folgerungen sich aus einer genauen, den Text als mehrfach dimensionierte Botschaft verstehenden Beobachtungsperspektive ergeben - insbesondere dann, wenn weitergehend
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Zu beachten bleibt, dass mit dieser Deutungshypothese andere Verständnismöglichkeiten nicht auszuschließen sind. So könnte die Aussage Werthers auch als eine generelle Aussage über die Unmöglichkeit von Kunst angesichts (überwältigender) Natur verstanden werden.
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Texte und Textgruppen in ihren Beziehungen zu Konditionen der kulturellen Kommunikation in den Blick genommen werden. Die Dimensionen des literarischen Textes als Produkt und Bestandteil einer kultur- und wissensgeschichtlich konditionierten Kommunikation sind an diesem Beispiel zumindest in Ansätzen deutlich geworden. Texte funktionieren nicht nur im Falle von Werthers Briefen als Botschaften, da sie Mitteilungen bzw. Nachrichten abwesender Sprecher oder Schreiber in Zeichen festhalten und zu ihren Empfangern, also Hörern oder Lesern transportieren. Der literarische Text, dessen noch heute geltende Attribute im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen (und noch näher zu bestimmenden Änderungen in Experimental- und Wissenskulturen korrespondieren), ist Bestandteil eines kommunikativen Prozesses, zu dessen Beschreibung ein Modell geeignet scheint, das der Sprach- und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson (1896-1982) entwickelt hat: Kontext = Bezugselemente einer Nachricht; Informationen um und in Bezug auf den Kommunikationsakt Sender (Sprecher, Autor)
—•
Nachricht = zeichen- bzw. schriftsprach-
Empfanger
lieh fixierte Botschaft, Mitteilung
(Zuhörer, Leser)
Kontaktmedium = physischer Mittler zwischen Sender und Empfanger Kode = gemeinsames Repertoire kommunizierbarer Einheiten
Mit diesen Begriffen lassen sich alltagssprachliche und literarische Kommunikationsprozesse beschreiben. Als Sender einer Nachricht treten in literarischen Texten etwa Erzählinstanzen auf, die sich an Leser wenden und vermittelt bzw. unvermittelt ihre Geschichten loswerden. Lesen wir etwa den ersten Satz eines berühmten und zugleich rätselhaften Romanes: „Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." Der in medias res und also direkt in ein Geschehen einfuhrende Satz stellt eine Nachricht dar, deren Übermittlung und Verständnis an zwei Bedingungen geknüpft ist. Zum einen bedarf es eines Kontaktmediums, d.h. eines physischen Mittlers zwischen Sender und Empfanger. Sind es in der mündlichen Kommunikation Schallwellen, die in der Verständigung von Angesicht zu Angesicht transportiert werden; benötigt der Schriftverkehr der Literatur materiale Träger wie bedruckte Papierseiten eines Buches. Zum anderen bedarf es eines gemeinsamen Repertoires an kommunizierbaren Einheiten, d.h. einer verständlichen Sprache - wobei zu diesem Kode im Beispielfall nicht nur Worte wie „Aprilnachmittag" und „schönste Stunde", sondern auch sozialhistorisch dimensionierte Begriffe wie
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„reicher Baron" und botanische Fachtermini wie „Pfropfreiser" gehören. Die Bezugselemente einer Nachricht, im weiteren Sinne alle Informationen um und in Bezug auf den Kommunikationsakt lassen sich mit Jakobson als Kontext bezeichnen, der - und das ist folgenreich - in extratextuelle Kontextbestände, also Bezugselemente aus einer außersprachlichen Realität, und in inner- bzw. intertextuelle Kontexte, d.h. in Bezüge zwischen Elementen eines Textes bzw. zwischen verschiedenen Texten, differenziert werden kann. Während alltagssprachliche Kommunikation weitgehend zirkulär abläuft und von der Möglichkeit eines fortwährenden Wechsels zwischen Sender- und Empfanger-Position geprägt ist, zeichnet sich die literarische Kommunikation durch eine andere Struktur aus: Der Autor als der Produzent eines Textes, der mittels des Kontaktmediums Buch oder Zeitschrift, Audio-Datei oder WWWSeite seinen Leser oder Hörer erreicht, ist von seinem Empfänger zeitlich und räumlich getrennt - unmittelbares Nachfragen sind ebenso wie direkte Antworten zumeist unmöglich. Die Trennung zwischen dem Autor eines Textes und seiner Rezeption durch spätere Leser ist eine Quelle für die seit der Antike beobachtbaren Anstrengungen, die Bedeutung(en) von Texten trotz der historischen, kulturellen oder sprachlichen Differenz zwischen Entstehungs- und Wahrnehmungszeit zu ermitteln; die Philologie als methodisch angeleitetes Unternehmen zur Sicherung und Untersuchung von Texten und die Hermeneutik als systematisierte Deutungstheorie fanden und finden hier ihr Aufgabengebiet (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2). Worin aber bestehen nun die entscheidenden Unterschiede zwischen einer literarischen Kommunikation einerseits und den Formen alltagssprachlicher Verständigung und wissenschaftlicher Diskurse andererseits? Folgt man Roman Jakobsons Kommunikationsmodell, dann beruht die Besonderheit literarischen Sprechens und Schreibens vor allem auf der Dominanz einer Sprachfunktion, die der Nachricht selbst und ihrer besonderen Gestaltung verstärkte Aufmerksamkeit sichert.15 Diese poetische Funktion von Sprache begegnet in Sprichwörtern und in Liedzeilen, in Schlagzeilen und in wissenschaftlichen Werken. Sie macht mit Klangfiguren, Wortfiguren und Tropen die Besonder-
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In Abhängigkeit von den Elementen des Kommunikationsprozesses bestimmt Jakobson verschiedene Funktionen von Sprache. Bezieht sich die Nachricht primär auf den Sender (beispielsweise in der Äußerung „Ich bin so traurig"), so liegt eine emotive Funktion vor. Dominiert der Bezug auf den Kontext, also auf die außersprachliche Realität (wie im Satz „Jetzt regnet es"), wird eine referentielle Funktion realisiert. Steht das Kontaktmedium im Zentrum der Aussage („Die Schrift ist fast unleserlich"), spricht Jakobson von der phatischen Funktion. Thematisiert eine Nachricht den Kode, also die Beschaffenheit der Zeichen, mit deren Hilfe wir kommunizieren („In diesem Satz fehlt das Subjekt nicht"), so liegt eine metasprachliche Funktion vor. Den Bezug auf den Empfanger einer Nachricht (wie in der Anweisung „Bitte öffne das Buch") nennen wir mit Jakobson konative Funktion. Erregt die Nachricht selbst aufgrund ihrer besonderen Gestaltung verstärkte Aufmerksamkeit, liegt nach Jakobson eine poetische Funktion vor.
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heiten der Sprache selbst spür- und beobachtbar. Die poetische Funktion von Sprache basiert also nicht auf einer exklusiven Thematik; sie setzt keine gehobene Stilistik, keinen ausgewählten Wortschatz oder eine gepflegte Syntax voraus. Sie ist vielmehr eine besondere Gestaltung der Ausdrucksseite von Zeichen, welche die Mitteilung selbst ins Zentrum rückt. Durch die auffällige Gestaltung der Ausdrucksseite entsteht eine wahrnehmbare Differenz zur Alltagssprache mit ihren Normen, Gewohnheiten und Automatismen. So hebt die poetische Sprache das Gesagte hervor - und bindet dieses Gesagte zugleich an die sprachlichen Mittel und Möglichkeiten des Sagens. Die „Nachricht", „Botschaft" oder „Information" der poetischen Rede verweist nicht mehr nur auf (außersprachliche) Sachverhalte und Tatsachen, sondern zugleich auf das Verhalten der Sprache selbst. Zwischen poetischer Funktion der Sprache und poetischen bzw. literarischen Texten gibt es jedoch Unterschiede: Während die poetische Funktion in den Formen der Alltagsrede ebenso auftreten kann wie in wissenschaftlichen Texten (und hier dekorative, expressive oder persuasive Aufgaben übernimmt), ist sie von konstitutiver Bedeutung fur Texte, die aufgrund bestimmter Markierungen von den Regeln der alltäglichen Kommunikation und des sachbezogenen Austauschs befreit sind. Bestimmte Aspekte dieser Markierungen wurden bereits benannt. Paratexte in Form von Buchtiteln wie „Gedichte" oder „Ein verwilderter Roman" manifestieren spezifische Eigenschaften von Texten, die sich durch besondere Gestaltung ihrer Ausdrucksseite und den Verzicht auf pragmatische Informationsangaben von anderen Textsorten unterscheidet. Lesen wir als den ersten Satz eines Textes „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt", so macht der Vergleich mit unserem Weltwissen rasch klar, dass es sich hier nicht um die Wiedergabe eines empirisch überprüfbaren Sachverhalts handelt. Und entdecken wir, dass in diesem Satz nicht nur Angaben über das Innenleben eines fremden Menschen und seine Verwandlung enthalten sind, sondern diese Angaben zugleich auch in besonderer Weise mitgeteilt werden, wissen wir mehr oder weniger sicher, dass es sich um einen literarischen Text handelt. In allen diesen Bestimmungen ist ein Medium vorausgesetzt, das Textbotschaften als solche überhaupt erst möglich macht: Schrift. Als konventionalisiertes System graphischer Zeichen im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris entstanden und im 8. vorchristlichen Jahrhundert durch die griechische Übernahme der phönizischen Silbenschrift revolutioniert, ist Schrift die Bedingung der Möglichkeit von Schreiben und Lesen, von Verstehen und Missverstehen, und also von Wissen schlechthin. Mit der Anpassung der nur Konsonanten wiedergebenden Silbenschrift der Phönizier an die vokalreiche griechische Sprache entsteht das phonetische Alphabet, das zur Grundlage unseres
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Schriftsystems wird und im Vergleich zu Bilderschriften eine Fülle von Vorteilen bietet. Denn nun lässt sich mit einer begrenzten Menge einfacher Lautzeichen durch Kombination eine unabschließbare Menge von Worten und Wortverbindungen wiedergeben. Relativ leicht erlernbar, basiert Buchstabenschrift (im Unterschied zu Bilderschriften) auf dem Code der oralen Kommunikation; als Lautschrift optimiert sie den traditionellen mündlichen Austausch und bildet so die Basis für ein Lesen, das in stiller Versenkung wie in lauter Deklamation vollzogen werden kann: Im Akt des Lesens verwandelt sich ein schriftlich fixierter Text in gesprochene Sprache. Lesen ist Versprachlichung von Schrift; im Lesen sprechen wir zu uns (und/ oder zu anderen) im Namen einer abwesenden Instanz und überwinden eine Distanz, die zwischen uns als dem gegenwärtigen Empfanger und dem (vergangenen) Verfasser einer Botschaft besteht. Den Ausgangspunkt der Entwicklung von Lesen und Schreiben, von Produktion und Rezeption verschriftlichter Texte bildet also jene Situation, die die Informationstheorie als „zerdehnte Kommunikation" beschreibt: Verfasser und Empfanger einer Botschaft sind räumlich und/oder zeitlich voneinander getrennt und benötigen ein Medium zur Bewahrung und Weitergabe ihrer Nachrichten. Wurde in illiteralen Kulturen ein „lebendes" Speichermedium wie das Gedächtnis von Boten oder fahrenden Sängern genutzt, um Informationen gleichsam körperlich zu bewahren und mündlich weiterzugeben, können mit dem körperexternen Notationssystem der Schrift nun Nachrichten dauerhaft fixiert und beständig wieder aufgenommen werden. Wissensbestände und Erfahrungen, Regeln und Vorstellungen fixierend, bewahrt Schrift die Aussagen eines abwesenden Sprechers bzw. Schreibers - so dass ferne oder längst tote Autoren und ihre Mitteilungen in Schrift buchstäblich unübersehbar anwesend bleiben. Die zivilisatorische Bedeutung dieser zweiten großen Vergegenständlichungsleistung ist gewaltig. Durch schriftliche Fixierung bindender Verträge setzt sich ein zuverlässiges Rechtssystem durch; Gewinn und Verlust werden berechenbar; mythische und religiöse Vorstellungen sowie bislang mündlich tradiertes Wissen können in weitaus umfangreicherer und genauerer Weise vermittelt werden. Die Phonetisierung der Schrift und die damit verbundene flexible Gestaltung von Texten fuhrt aber auch zu Problemen. Mit einer stetig steigenden Produktion von Schriftwerken sammeln sich Texte in solcher Fülle an, dass deren Verwahrung und Verwaltung spezielle Institutionen übernehmen müssen; schon im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert beherbergen Alexandria, Athen und Pergamon florierende Bibliotheken, in denen man sich um möglichst korrekte Editionen und textkritische Sorgfalt bemüht (vgl. Kapitel 2.2). Ein Ausfuhrverbot von Papyrus nach Pergamon soll um 200 v. Chr. die Entwicklung eines ErsatzBeschreibstoffes aus Tierhäuten notwendig gemacht haben, dem die Stadt auch ihren Namen gab; er löst das schnell brüchig werdende Trägermaterial Papyrus
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ab, welches außerhalb eines heißen und trockenen Klimas nach 200 Jahren zerfiel, während Pergament leicht ein Jahrtausend und mehr überdauern konnte. Die erste öffentliche Bibliothek der Neuzeit wird 1444 durch Cosimo de Medici in Florenz gegründet; hier entstehen auch Übersetzungen und Ausgaben bedeutender Werke des Altertums, deren Wirkungen für die nachfolgende Geistes- und Ideengeschichte bedeutend sind. Dass ein in Schriftform ausgelagertes und rasch in unüberschaubare Dimensionen wachsende Wissen kein „wirkliches" Wissen sei, moniert aber schon Piaton. Im Dialog PHAIDROS lehnt Sokrates die - angeblich vom ägyptischen Gott Theuth erfundene - Kunst des Schreibens ab, da sie zu „Vergessenheit" und „Schein-Weisheit" führe: Wer auf Schrift und also fremde Zeichen vertraue, schöpfe Wissen nicht aus sich selbst heraus. Lesen und Schreiben dienten nicht dem Erinnern, sondern allein dem Gedächtnis und produzierten also nur scheinbares Wissen. - In der Antike erscheint erstmals auch ein Problem, das für professionalisierte Textumgangsformen ebenfalls von Bedeutung werden sollte: Wenn jeder Mensch, der des Lesens und Schreibens mächtig war, Texte produzieren und damit einen Anspruch auf Wahrheit erheben konnte: Wie ist dann mit schriftlich Fixiertem (das sich nicht umstandslos korrigieren lässt) umzugehen? Insbesondere dann, wenn sich Texte widersprechen oder deren Aussagen dem eigenen Augenschein zuwiderlaufen? Text und Schrift, Lesen und Schreiben sind deshalb mehr als grundlegenden Kulturtechniken. Sie konstituieren Wissensordnungen und Wissenskulturen, in dem sie Strukturen der Wahrnehmung ausprägen und fixieren, Spezialdiskurse möglich machen und Abwesendes wie Vergangenheit und Zukunft thematisieren. Markant sichtbar werden die Folgen einer schriftlichen Kommunikation für die Ordnungen des Wissens im Vergleich von oralen und literalen Kulturen. Während orale, d.h. ohne Schriftsprache verkehrende Kulturen weitgehend zyklische Zeitvorstellungen entwickeln, weisen schriftliche Kulturen überwiegend lineare Vorstellungen von Zeit auf. Schrift ordnet Zeichen in Folgen; also müssen Erfahrungen in eine kausale Ordnung gebracht und sukzessiv repräsentiert werden. Die Linearität der Zeile führt das Prinzip der Abfolge von Ursache und Wirkung gleichsam vor Augen, auch wenn die in den europäischen Sprachen übliche Anordnung der Buchstaben- und Zeilenrichtung von links nach rechts nur eine mögliche Form von phonetischer Schrift ist. (Im Hebräischen und Arabischen wird von rechts nach links gelesen und geschrieben. In China und Japan liest und schreibt man in Kolonnen von oben nach unten; die mittelamerikanischen Maya benutzten vertikale Doppelreihen; Texte im antiken Griechenland wechselten die Zeilenrichtung „wie man Pflugochsen wendet"). Wie die materialen Träger von schriftlichen Texten wandeln sich die Weisen des Schreibens. Wurden die ersten Zeichen der mesopotamischen Bilderschrift auf Tontäfelchen eingeritzt, fixiert man im antiken Griechenland die
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Buchstabenschrift auf Schriftrollen aus Papyrus. Diese Texte bestehen aus Worten, die ohne Interpunktionszeichen aneinander gereiht sind und ein lautes Vorlesen bzw. ein Murmeln erzwingen: Denn erst durch einen Sprecher oder Vorleser wird die Wortschlange zu einem gegliederten und verständlichen Text. Nach dem Bericht des Sueton war es Julius Cäsar (100-44 v.Chr.), der Schriftrollen zu Seiten zusammenfassen ließ, um sie seinen Truppen zuzusenden. Die so gebundenen Papyrus-Manuskripte - im Singular Codex, im Plural Codices genannt - erleichtern nicht nur den Transport, sondern erlauben zugleich die Einführung von Seitenzahlen und damit eine bessere Orientierung in längeren Texten. (Cäsars praktische Erfindung wird dann von den frühen Christen in Rom übernommen: Verbotene Texte lassen sich so bequem herumtragen und in Gewandfalten verstecken.) Die Einteilung in Kapitel, das Anlegen von Inhaltsverzeichnissen und die Erstellung von Registern verbessern die „Lesbarkeit" vor allem längerer Schriften weiter. - Die Erfindung des Bleisatzes aus beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg 1455 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Kommunikationsgeschichte und in der Geschichte des Lesens. Bücher und Flugschriften können nun massenhaft hergestellt und verbreitet werden. Zwischen 1456, dem Erscheinungsjahr der 42zeiligen Gutenberg-Bibel, und 1500 erscheinen allein in Deutschland ca. eine Million gedruckter Schriften, was die Buchherstellung zur ersten Form der Massenproduktion überhaupt macht. Die erleichterte Reproduzierbarkeit von Texten führt dazu, dass Spezialdiskurse verschriftlicht werden und neue Textsorten entstehen. Die Möglichkeit der vervielfachten Produktion und Verbreitung verschiedener Bücher ruft zugleich vermehrte Anstrengungen auf den Plan, die Wahrheit des Buchs der Bücher zu verteidigen - werden doch neben der Bibel nun auch Texte zugänglich, die den dort fixierten Wahrheiten eigene Beobachtungen entgegenstellen. Die massenhafte Fabrikation von gedruckten Texten verschärft das schon benannte Problem der Unübersichtlichkeit weiter - was sowohl gesellschaftliche Institutionen wie den individuellen Leser zu Veränderungen im Umgang mit Texten zwingt. Es wächst die Bedeutung von Bibliographien und Bibliotheken, die den Strom der Bücher ordnen und katalogisieren sollen. Um den Leser bei Auswahl und Bewertung einer zunehmend unübersichtlichen Flut von Druckwerken zu unterstützen, entwickelt sich das Genre der Rezension: Seit 1682 erscheinen in Leipzig die ACTA ERUDITORUM als erste (noch in Latein verfasste) Literaturzeitung Deutschlands; ab 1700 veröffentlicht Leibniz' Sekretär Johann Georg Eckhart in Hannover MONATHLICHE AUSZÜGE AUS ALLERHAND mit kurzen Besprechungen zu Druckwerken aller Wissensbereiche. Die 1785 in Jena gegründete ALLGEMEINE LITERATURZEITUNG reagiert noch schneller. Sie erscheint täglich und eröffnet Buchhändlern wie Lesern ein Informationsportal, das es bis dahin nicht gegeben hatte. Zugleich beziehen sich Texte mehr und
NEU HERAUSGEGEBENEN NÜTZLICHEN UND ARTIGEN BÜCHERN
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mehr auf andere Texte: Explizit (in Form von kenntlich gemachten Zitaten und Kommentaren) oder implizit (durch nicht ausgewiesene Anleihen, Anspielungen und Verweise), stellen sie die Leser nun vor die Aufgabe, sich in einem zunehmend dichteren Netz von Beziehungen zu orientieren. Einen weiteren entscheidenden Einschnitt in der Entwicklung zur modernen Textkultur bedeutet im deutschen Sprachraum die durch Martin Luthers Bibel-Übersetzung begonnene und endgültig im 18. Jahrhundert vollzogene Ablösung des Lateinischen als universeller Verkehrssprache. Nun finden breitere Leserschichten Zugang zu gedruckten Texten und zur „schönen Literatur" - vor allem als sich zwischen 1750 und 1800 der Ausstoß an Belletristik vervielfacht und zahlreiche Romane den sich ausbildenden literarischen Markt überfluten. Wie Immanuel Kant 1798 feststellt, ist die „Leserey ... zum beynahe unentbehrlichen und allgemeinen Bedürfniß geworden";16 Pamphlete wie die 1794 in Hannover veröffentlichten VERTRAUTEN BRIEFE ÜBER DIE JETZIGE ABENTEUERLICHE LESESUCHT warnen vor der „Lesewuth" wie vor einer gefährlichen Krankheit. - Genau diese Zeit ist die Epoche, in der sich komplizierte und hier vorerst nur anzudeutende Differenzierungs- und Integrationsprozesse vollziehen. Während die Naturforschung empirische Untersuchungen und Experimentalanordnungen weiter entwickelt und sich in langwierigen und nicht widerspruchsfreien Bewegungen zu einem System von Beobachtungsund Erklärungswissenschaften entfaltet, emanzipiert sich die Poesie von bisherigen Zweckbindungen an didaktische Belehrung und moralische Instruktion. Als „schöne Wissenschaft" korrespondiert sie mit neuen Interessen am Menschen als einem biopsychosozialen Organismus ähnlich gerichteten Bestrebungen in Anthropologie, Medizin, Jurisprudenz; ihre Thematisierungen psychologischer Einsichten entstehen als exemplarische Anwendungen von „Erfahrungsseelenkunde" und Introspektionspraktiken, die diese mit Material wie mit Darstellungsformen versorgen. - In dieser neuen epistemischen Situation des 18. Jahrhunderts kann es im Umgang mit neuartigen literarischen Texten leicht zu Spannungsverhältnissen kommen. Denn die Versuchung liegt nah (und die WERTHER-Rezeption zeigt es exemplarisch) literarische Äußerungen in emphatischer bzw. naiver Weise als „Informationen" oder „Nachrichten" zu erfassen und Wissensbestände über vermeintliche Tatsachen aus ihnen herausziehen zu wollen. Literarische Texte werden zu Quellendokumenten, die durch applikative Lektüren um ihre besonderen Qualitäten gebracht werden. Eben deshalb formieren sich in dieser Zeit auch jene korrektiven Instanzen, auf die später noch einzugehen ist: Literaturkritik und Publizistik, auktoriale Erklärungen und poetologische Reflexionen sind erkenntnisgeleitete wie -anleitende Interventionen, die Distanz schaffen sollen und dabei wichtige Einsichten entfalten wie fortschreiben. Im Ergebnis aller dieser Entwicklungen entsteht
16 Immanuel Kant: Über die Buchmacherey. Königsberg 1798, S. 65.
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eine literarische Kommunikation, die sich in mehrfacher Weise von der bisherigen Zirkulation von Texten absetzt und in Grundzügen noch heute beobachtet werden kann. - Voraussetzung wie ständig aktualisiertes Resultat solcher sich seit dem Zeitalter des Lichts keineswegs geradlinig und widerspruchslos ausbildenden Textumgangsformen bleibt eine Kulturtechnik, die seit dieser Zeit nicht nur im aufgeklärten Preußen im Grundschulalter erlernt wird und wesentliche Bedingung für die Teilnahme an verschriftlichter Kommunikation ist: das Lesen. Und so wie der Gegenstandsbereich „schöne Literatur" sich als Objekt lesender und schreibender Beobachter im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formiert, vollziehen sich in dieser Zeit bis heute fortwirkende Umwälzungen in Lektürekultur und -verhalten, die das Wissen von Literatur nachhaltig verändern. Ihnen ist nun nachzugehen. 3.1.3 Codes, Normen, Werte. Leserwissen Am 22. Oktober 1774 und also kaum vier Wochen nach der Erstveröffentlichung von Goethes WERTHER druckt der WANDSBECKER BOTHEN eine Rezension von Matthias Claudius, die mit der Feststellung eines unsicheren Wissens beginnt, um dann umstandslos eigene und als gewiss bekundete Einsichten auszubreiten: „Weiß nicht, obs 'n Geschieht oder 'n Gedicht ist; aber ganz natürlich gehts her, und weiß einem die Thrähnen recht aus 'm Kopf herauszuholen. Ja, die Liebe ist 'n eigen Ding; läßt sich's nicht mit ihr spielen wie mit einem Vogel. Ich kenne sie, wie sie durch Leib u. und Leben geht, und in jeder Ader zückt und stört' und mit 'm Kopf und der Vernunft kurzweilt. Der arme Werther! er hat sonst so gute Einfalle und Gedanken." 17 - Mit der Unsicherheit, ob es sich bei dem Briefroman um ,,'n Geschieht oder 'n Gedicht" handele, steht Matthias Claudius nicht allein. Im Gegenteil. Ähnlich wie der weltliterarisch versierte Übersetzer und produktive Autor wissen zahlreiche Zeitgenossen nicht, wie sie den anonym veröffentlichten Text einzuordnen und zu verstehen haben: ob als Bericht über ein tatsächliches Geschehen und also ,,'n Geschieht" oder aber als Darstellung eines fiktiven, nur imaginierten Geschehens und also ,,'n Gedicht". Eben deshalb kommt es zu den zahlreichen Fragen nach der „Wahrheit" der im Text geschilderten Ereignisse. Gestellt werden diese Fragen nach der „Wahrheit" eines Textgeschehens durch jene Akteure der literarischen Kommunikation, ohne die weder Autoren noch Texte in Wirkung treten können: durch Leser, die im Prozess der Lektüre eine kaum wahrnehmbare und doch überaus komplexe Tätigkeit vollziehen, in dem sie visuell wahrnehmbare Pixelformationen als schriftsprachliche Zeichen bzw. Zeichen-
17
Matthias Claudius: Rezension in: Der Deutsche, sonst Wandsbecker Bothe vom 22. October 1774, hier zitiert nach der Wiedergabe in Karl Eibl u.a. (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit, CD-Komponente.
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folgen erkennen und diese auf graphemisch-phonologischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene mit Bedeutung(en) versehen. Der Akt des Lesens basiert auf dem Vermögen, schriftsprachliche Zeichen zu erkennen und zu verstehen: und also auf einem Wissen, das seinen Grund in kulturell erworbenen Konventionen und Traditionen findet und mit diesen weitergeben, um- und neugeschrieben, diskutiert und modifiziert wird. Lesen ist wie Schreiben mehr als nur eine grundlegende Kulturtechnik. Es ist gleichzeitig integraler Bestandteil und beständig reproduziertes Resultat von Wissensordnungen, die je eigene Praktiken der Lektüre ausbilden. Ein erster Zusammenhang zwischen materialen Verschriftlichungsformen und Lesepraktiken wurde bereits angedeutet: Die ungetrennte Abfolge von Worten erzwingt in Antike und Mittelalter ein lautes bzw. leise gemurmeltes Lesen (alta voce), das in Hellenismus und römischer Kaiserzeit ebenso gepflegt wird wie später in Klöstern und Skriptorien. Laut gelesen wurden Texte auch deshalb, weil sie als Offenbarung einer abwesenden Stimme galten, was auch daraus ersichtlich wird, dass man anstelle des Terminus „Text" die Begriffe „oratio" oder „sermo" („Rede") verwendet. Erst mit der Einführung von Wortzwischenräumen und Interpunktionszeichen kann sich das stille Lesen durchsetzen. Mit der scheinbar kontemplativen Versenkung in einen gedruckt vorliegenden, durch den Buchmarkt verbreiteten Text entsteht im 17. und 18. Jahrhundert eine noch heute verbindliche Lesekultur (auch wenn Hörbücher einer aktiven Lektüre heutzutage zunehmend Konkurrenz machen). Das „stille Lesen" aber ist nur äußerlich ein bewegungsloses Verharren vor bedruckten Seiten. Lesen realisiert sich als komplexe und aktive Tätigkeit, bei der man sich mit umherzuckenden Augenbewegungen schwarzen Pixeln auf Papiergrund nähert, visuelle Informationen aufnimmt, durch Neuronenketten sendet und dabei Bedeutungen) zuschreibt, indem man Beziehungen zwischen den Sätzen des Textes und vorgängigen Wissensbeständen und Erfahrungen herstellt.18 Bei diesen im Akt des Lesens vorgenommen Bedeutungszuweisungen handelt es sich jedoch keineswegs um einmal festgelegte und überzeitlich gültige Zuschreibungen, die durch jeden anderen Leser genau so vorgenommen werden können. Wie die irritierten Reaktionen auf Goethes Roman und die davon ausgelösten Unmutsäußerungen des Autors zeigen, sind alle Umgangsformen mit Texten und insbesondere ihre Lektüre abhängig von Prakti18
Diese Bestimmung umschließt eine Menge von kognitiven Fähigkeiten. Im Akt des Lesens sind (a) gleiche bzw. ähnliche Elemente zu identifizieren und von irrelevanten Unterschieden zu trennen, (b) Unterschiede gegenüber irrelevanten Gleichheiten bzw. Ähnlichkeiten wahrzunehmen, (c) wichtige Bestandteile aus einer Menge von unwichtigen bzw. redundanten Teilen auszuwählen, (d) kommende Elemente auf Basis semantisch-syntaktischer und enzyklopädisch-pragmatischer Regularitäten vorwegzunehmen sowie Lücken zu schließen, (e) ganzheitliche Komplexe in Elemente zu zerlegen und individuelle Zeichen zu komplexen Ausdrücken zusammenzufügen.
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ken der Codierung und Decodierung sowie von Produktions- und Rezeptionsinstanzen, die sich modellhaft so darstellen lassen:
Die Bedeutung von kulturell erworbenen und tradierten Kenntnissen im lesenden Umgang mit Texten wird deutlicher, wenn man sich die - im Schema nur unzureichend wiedergegebene - Komplexität von Lesermodellierungen in Texten sowie Lektürevorgänge in je konkreten Situationen vor Augen fuhrt. Sie demonstrieren nachhaltig, dass die Lektüre von literarischen Texten ein Ergebnis und zugleich integraler Bestandteil von Wissensordnungen ist, die durch Akte des Lesens immer wieder aktualisiert werden. Beginnen wir mit den Lesermodellierungen in Texten. Schon die Einfuhrung von expliziten bzw. fiktiven Lesern basiert auf kenntnisgeleiteten Konstruktionsleistungen, deren Spektrum von der Imagination von Erzählrunden (wie etwa in E.T.A. Hoffmanns Sammlung D I E SERAPIONSBRÜDER) bis zu direkten Ansprache mit Hypothesen über das Leseverhalten reichen.19 An einen
19
So etwa in Ludwig Tieck: Peter Lebrecht. Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der „Schriften" von 1828-1854 unter Berücksichtigung der Erstdrucke hrsg. von Marianne Thalmann. München 1963. Bd. 1, S. 75: „Lieber Leser, du glaubst nicht, mit welcher innigen Wehmut ich dich diese Blät-
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direkt angesprochenen Leser richten sich auch die Briefe des jungen Werther, der als Textfigur ebenso fiktional ist wie sein nicht weiter in Erscheinung tretender Freund Wilhelm und mit dieser Wendung an den teilnehmenden Freund eine Intimität fingiert, an der die Leser außerhalb dieser Textwelt partizipieren. Die Teilhabe an dieser vertraulichen Kommunikation wird umso stärker, je weniger der imaginäre Leser Wilhelm als konturierter Charakter in Erscheinung tritt; der reale Leser vertritt ihn, fühlt sich angesprochen und zu emotionalen Stellungnahmen herausgefordert. - Daneben steuern weitere kulturell konventionalisierte Signale die Lektüre. Gattungsbezeichnungen, Motti und Widmungen sind ebenso wie Titel und Nebentitel („Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten", „Ein Buch fur alle und keinen") paratextuelle Markierungen zur Wahrnehmungslenkung, die auf der Basis eines vorgängigen Wissens über literarische Äußerungsformen funktionieren. Ebenso wirken Kapitel und Kapitelüberschriften, die den Text und damit auch das Leseverhalten gliedern und anleiten. Schwieriger zu entdecken sind textinterne Strategien, den Leser auf bestimmte Fährten und in verborgene Wissensspeicher zu locken, etwa durch Vorausdeutungen, Ahnungen und Träume von Figuren. Alle diese rezeptionssteuernden Momente - die sich sowohl in den paratextuellen „Rahmungen" eines Werkes als auch in seinen internen Kommunikationsebenen finden können - sind das Werk eines impliziten bzw. abstrakten Autors, der weder mit der Figur eines Erzählers noch mit der textexternen historischen Person des Verfassers verwechselt werden darf. Der durch den USamerikanischen Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth eingeführte und nicht unumstrittene Begriff des „implied author" meint nichts anderes als jene abstrakte Instanz, der alle Textstrategien - also alle Formen einer absichtsvollen Gestaltung vom Titel bis zum letzten Satzzeichen - zuzuschreiben sind. Implizit ist diese Instanz, weil sie - anders als eine Erzählerfigur - im Text nie ausdrücklich auftritt, sondern nur indirekt (jedoch durchgehend) anwesend ist. Abstrakt ist diese Instanz, weil sie als ein textuell erschließbares Bewusstsein nie die konkrete Individualität einer textexternen historischen Verfasserperson haben kann. Denn aus dem Text erfahren wir nur, was für den Text von Bedeutung ist - Rückschlüsse auf einen konkreten Verfasser und seine sozialen, psychischen u.a. Dispositionen bergen hohe Risiken und bedürfen zusätzlicher Überbrückungsannahmen und Argumente. Tritt bei der Produktion eines Textes ein impliziter Autor als abstrakte Steuerungsinstanz aller Texteigenschaften in Erscheinung, so gibt es eine analoge Erscheinung auch auf Seiten des Rezipienten. Der implizite Leser lässt sich, den Überlegungen von Wolfgang Iser und der von ihm mitbegründeten Rezeptionsästhetik folgend, als eine abstrakte Wahmehmungsinstanz begrei-
ter in die Hand nehmen sehe, denn ich weiß es voraus, dass du sie wieder wegwerfen wirst, sobald du nur einige flüchtige Blicke hineingetan hast."
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fen, die alle Orientierungen eines (fiktionalen) Textes realisiert. Anders ausgedrückt: Der implizite Leser ist jener hypothetische Rezipient, der alle Eigenschaften, Anspielungen und Verweise eines Textes erfasst und versteht sichtbare wie unsichtbare, dem Autor bewusste wie unbewusste. Diese Forderungen kann ein empirischer Leser wohl kaum erfüllen. Wie die Kategorie impliziter Autor fungiert der Begriff des impliziten Lesers als eine Größe zur besseren Beschreibung von Wirkungspotentialen und Effekten, die in einem Text enthalten sind und im realen Akt des Lesens entdeckt werden können. Diese Eigenschaften des Lesers als einem mehrfach dimensionierten Akteur der literarischen Kommunikation sind Ergebnis einer langwierigen und noch im Fluss befindlichen Entwicklung. Wie sich das Leseverhalten änderte, kann hier nur angedeutet werden. Bis etwa 1740 dominiert in Deutschland von gelehrter Fachlektüre und dem Lesen in Oberschichten abgesehen - intensive Wiederholungslektüre: Nur eine kleine Auswahl von Büchern oder gar nur ein einziges wird ein Leben lang immer wieder gelesen. Diese Lektüre reproduziert zumeist den im Gedächtnis bereits vorgegebenen Inhalt und dient so dem Nachvollzug vertrauter Orientierungsmuster zur Bewältigung weltlicher und geistlicher Probleme. Doch selten ist dieses Lesen wirklich „intensiv"; zumeist besteht es in der mechanischen Repetition eines limitierten Kanons, der sich vor allem aus Katechismus, Erbauungsbüchern, Traktaten und der Bibel zusammensetzt. Die wenigen und oft über Generationen vererbten Bücher besitzen zeitlose Autorität; sie werden als unmittelbar praxisbezogene, normative Anleitungen konsultiert. Die ritualisierte Rezeption eines stark begrenzten Textkorpus schwindet, als neue Lese-Formen durch die Verbreitung von Zeitungen entstehen. Laut Johann Goldfriedrichs GESCHICHTE DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS ist die erste gedruckte Wochenzeitung im deutschen Sprachraum eine Straßburger Zeitung, die von dem Buchhändler Johann Carolus herausgegeben wird und deren Jahrgang 1609 fast vollständig erhalten ist.20 Noch im selben Jahrhundert nehmen Zahl und Häufigkeit des Erscheinens zu; das FRANKFURTER JOURNAL erscheint im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wöchentlich dreimal, im 18. Jahrhundert regelmäßig viermal in der Woche. Ein solches periodisch erscheinendes Medium erzwingt neue Lesegewohnheiten. Wiederholtes Lesen muss mit der einmaligen und extensiven Lektüre einer jeweils aktuellen Zeitungsausgabe verbunden werden. Zugleich bildet die Zeitungslektüre einen Gegensatz zur Erbauungslektüre: Sie vermittelt vorrangig innerweltliche Informationen ohne religiöse Bezüge. Vorangetrieben werden diese Umstellungen der Lese-Kultur durch soziale Separationen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildet sich eine zwischenständische und sozial mobile Intellektuellenschicht aus, die den entste20
Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels. Bd. 2: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Litteraturperiode (1648-1740). Leipzig 1908, S. 40f.
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henden literarischen Markt als aussichtsreiches Artikulationsmedium nutzt. Zugleich beginnen Schichten, die wir unter retrospektiven Homogenitätsannahmen als „Bürgertum" bezeichnen, ein nichthöfisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Autonomie und individuelle Identität aber sind - zumal in den politisch rückständigen deutschen Ländern - am ehesten in der geistigen Sphäre zu behaupten. Also nutzt man diese Chance: Durch aufgeklärte Nützlichkeitsmoral und Streben nach Bildung grenzen sich „Bürger" nach oben und unten ab. In diesen Abgrenzungsbemühungen gewinnt Lektüre einen besonderen Stellenwert. Lesen erweitert den moralischen und geistigen Horizont, lässt den Pflichtenkreis besser beherrschen und befördert zugleich das weltliche Fortkommen in Konkurrenz zu den weniger gebildeten Ständen (wozu auch der Adel gerechnet wird). Mit wachsendem wirtschaftlichen Erfolg steht dem Bürgertum mehr Zeit fur Lektüre wie auch genügend Geld zum Bücherkauf zur Verfügung. So tritt die extensive Lektüre ihren Siegeszug an: Eine potentiell unbegrenzte Menge neuen und abwechslungsreichen Lesestoffs wird zu Bildung und Zerstreuung konsumiert. - Dieses extensive Lesen findet vor allem innerhalb des akademisch gebildeten Bürgertums statt. Es bleibt jedoch nicht standesspezifisch beschränkt, sondern breitet sich auch im Kleinbürgertum und im Adel aus; „Bücherwut" und „Lesesucht" um 1800 ziehen sich durch nahezu alle alphabetisierten Schichten der Gesellschaften, auch wenn die als „Krankheit" beschriebene „Lesewut" vorrangig bei Frauen diagnostiziert wird. Aus den in Deutschland besonders starken Spannungen zwischen der sozialen Mobilität bürgerlicher Schichten einerseits und einer nur geringen Wirksamkeit im politisch-öffentlichen Raum andererseits resultiert jene Konzentration auf Bildung, Kultur und Lektüre, welche die „Leserevolution" zum spezifisch deutschen Beitrag zur Modernisierung des traditionellen europäischen Lebens am Ende des 18. Jahrhunderts werden lässt: „In England dominierte die Revolution in Außenhandel und Industrie, in Frankreich die politische Revolution, in Deutschland die Leserevolution. [...] All das Außerordentliche, was die englischen Seefahrer und Entdecker, die Pioniere und Parteien in Nordamerika und die Wegbereiter und Helden der Französischen Revolution vollbrachten und erlitten, erlebte das deutsche Publikum in Nachvollzügen und Ersatzformen der Literatur."21 Die Ausbildung einer neuen Lesens- und Wissenskultur um 1800 hat gewichtige Voraussetzungen und Folgen. Zum einen erhöht sich die Zahl von Textproduzenten rapide: Weist das Schriftstellerlexikon von Georg Meusel um 1766 noch keine 3.000 Autoren nach; ist ihre Zahl im Jahre 1806 auf rund 11.000 angestiegen. Zum anderen wächst die Anzahl derjenigen, die - nicht zuletzt aufgrund aufgeklärter Politik - des Lesens fähig sind. Nach den von 21
Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 10 (1969), Sp. 945-1002, hier Sp. 983f.
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Rudolf Schenda vorgelegten Schätzungen beträgt in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Zahl der Leser unter der erwachsenen Bevölkerung im deutschsprachigen Mitteleuropa etwa 10%. Bis 1770 steigt die Zahl der Lesekundigen auf 15%, bis 1800 weiter auf 25%. Im Jahre 1900 sind schließlich 90% der Bevölkerung Mitteleuropas potentielle Leser.22 - Wichtiger als diese Zahlen sind Veränderungen, die das sich seit 1750 neu definierende Medium „Literatur" betreffen. Denn die „Lese-Revolution" verändert auch den Status dessen, was nun als „schöne Wissenschaft" oder „Literatur" firmiert. Übernahmen poetische Texte bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem die Funktion, religiöse Lehren zu transportieren oder moraldidaktische Imperative zu illustrieren, wandeln sie sich nun zu einem autonomen Organon der Problemartikulation. Ein Text wie Goethes Briefroman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS führt diese neuen Leistungen paradigmenbildend vor: Literatur formuliert in der fiktionalen Gestaltung subjektiver Aussprache zentrale Probleme einer sich neu bestimmenden Individualität - ohne allgemein akzeptable Lösungen anbieten zu können und zu wollen. Mit dieser Verweigerung didaktischer Applikation aber trifft der Text auf ein Publikum, das den Unterschied zwischen Kunst und Leben noch nicht kennt. So entstehen die mehrfach beschriebenen Irritationen. Zugleich leiten Texte wie Goethes WERTHER jene Prozesse ästhetischer Distanznahmen und epistemischer Autonomisierung ein, die bis in die Literaturproduktion der Gegenwart wirksam sind und deren Umkehrung signifikante Folgen haben kann: Werden Differenzen zwischen Literatur und Leben ignoriert, dann erscheint der ästhetische Tabubruch als moralischer Skandal; liest man literarische Texte als Quellen empirischen Wissens, liegen Forderungen an den Autor - von zudringlichen Fragen nach dem Wohnort fiktiver Figuren bis zu juristischen Klagen auf Schmerzensgeld - nicht weit. 3.1.4 Publikum, Kritik, Kanon. Sprachhandlungswissen Die Wirkungen des zur Herbstmesse 1774 erschienenen Briefromans DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS waren nicht unbeträchtlich. Nach Goethes eigenen Worten waren sie sogar „ungeheuer" - vor allem deshalb, da das anonym veröffentlichte Büchlein „genau in die rechte Zeit traf': „Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Aus-
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Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970, S. 443f.
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bruch kam."23 Rasch folgten Rezensionen, die emphatisch zum Verhalten des Titelhelden Stellung bezogen und sich für oder gegen das Recht auf Selbsttötung aussprachen, vermeintlich richtigstellende Aufklärungen über die „tatsächlichen" Vorgänge in Wetzlar, Parodien wie etwa Friedrich Nicolais FREUDEN DES JUNGEN WERTHERS sowie ein wirkungsloses Verbot. Mit dem Ab-
stand von fast 40 Jahren resümierte der Autor Goethe die Verwirrungen seiner damaligen Leser: Man kann von dem Publikum nicht verlangen, daß es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet [...], und daneben trat das alte Vorurteil wieder ein, entspringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, daß es nämlich einen didaktischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.24 Goethes Äußerungen enthalten mehrere Beobachtungen, die für eine Modellierung der Beziehungen zwischen Sprachhandlungswissen und literarischer Kommunikation nützlich sein können. Sie betreffen das Publikum als rezipierendes Kollektiv, an das sich literarische Texte richten und das über diese Erzeugnisse mit stets historisch bestimmten Wissenshorizonten und Wertmaßstäben urteilt. Sie tangieren zum anderen das Verhältnis zwischen Lesererwartungen und Autorschaft, das in Goethes Jugendzeit einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Und sie thematisieren den Zusammenhang von Literatur und Wissensformen, indem sie didaktische Zweckbindungen als „altes Vorurteil" verwerfen und die Geltungsansprüche der „wahren Darstellung" proklamieren: Als folgerichtige Entwicklung von „Gesinnungen und Handlungen" enthält sich diese neue Literatur moralischer Beurteilung - und wird dadurch zum Ursprung einer besonders gestalteten „Erleuchtung" und „Belehrung". Um die Wissensbestände von Publikum und Literaturkritik genauer bestimmen zu können, ist zuerst der aktive Charakter von Rezeptionsprozessen zu erfassen, dessen Dimensionen Goethe in der Metapher von den „explosiven" Wirkungen seines Werkes aussprach. Leser und Publikum als individuelle bzw. kollektive Adressaten der von Autoren verfassten, von Verlagen reproduzierten und vom Buchhandel verbreiteten Werke sind keine passiven Zeugen, sondern aktive Partner in kommunikativen Zusammenhängen. Erst durch ihre aktiven Tätigkeiten des Lesens und Beurteilens - die unterschiedliche und von einem Autor nicht Steuer- oder vorhersehbare Folgen haben können werden die Potentiale literarischer Texte erschlossen. Diese Rezeptionsprozesse sind tendenziell unabschließbar, gehen sie doch über die Wahrnehmung zur Zeit der Erstveröffentlichung hinaus und werden im günstigen Fall von jeder
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Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: J. W. Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 16, S. 623. Ebenda.
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nachwachsenden Generation mit neuen Einsichten vollzogen. Wechselnde Lektüren, Bedeutungszuschreibungen und Beurteilungen durch individuellen Leser bzw. das Publikum gehören als integrale Bestandteile der Wirkungsbzw. Rezeptionsgeschichte zu den Dimensionen eines Werkes, das eben mehr ist als nur eine Summe gebundener bzw. fadengehefteter Seiten. Diesen aktiven Rezeptionsprozess strukturieren Wissensbestände, Normen und Konventionen eines vorliegenden Textes ebenso wie die Erwartungen und Kenntnishorizonte des Publikums. Wenn Goethe eine Diskrepanz zwischen dem Charakter seines Werkes und der Reaktion des Publikums konstatierte, das sein „geistiges Werk" nicht „geistig" aufgenommen habe und didaktische Prinzipien vermisste, so verweist diese Klage auf ein Beziehungsgefuge mit dynamischen Komponenten. Es umfasst (a) den Autor mit individuellen Ausdrucks- und Distinktionsinteressen, Wissensbeständen und Werten, (b) seine literarische Äußerung als konkreter Realisation dieser Ausdrucksinteressen und Vermittlung mit Gattungsnormen und Publikumserwartungen, (c) eine in sich differenzierte Rezipientengemeinschaft mit vorgeprägten Wissensbeständen, Erfahrungen mit Texten und so konditionierten Erwartungen. Der Autor produziert seine literarischen Äußerungen als Vermittlungsleistungen, deren komplexe Parameter bereits vorgestellt wurden: Ausdrucksinteressen, Gattungsregeln und Lesererwartungen sind zu vereinbaren, um sich adäquat äußern und erfolgreich innerhalb eines vorstrukturierten Feldes positionieren zu können. Das Publikum als faktische oder zumindest imaginierte Zielgruppe dieser Äußerungen weist ebenfalls mehrere Dimensionen auf: Es ist sozial, alters- und geschlechterspezifisch differenziert, kennt unterschiedliche Formen des Umgangs mit Texten sowie divergierende Rezeptionshaltungen. Modellhaft lassen sich diese Beziehungen zusammenfassen:
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
203
Wie groß die Unterschiede zwischen Rezeptionshaltungen sein können, zeigt die WERTHER-Rezeption nachdrücklich. Einerseits gibt es die von Goethe beschriebene „falsche" Rezeption ohne Distanzierung durch große Teile des zeitgenössischen Publikums: Werthers Kleidung (blauer Frack, gelbe Weste) avanciert zum Modekostüm; das „Wertherfieber" grassiert; angeblich legen junge Männer nach dem Vorbild der literarischen Figur Hand an sich. Wenn es im Verbotsantrag der Leipziger Theologen heißt: „Diese Schrift ist eine Apologie und Empfehlung des Selbst Mordes; und es ist auch um des Willen gefahrlich, weil es in wiziger und einnehmender Schreib Art abgefaßt ist", so identifiziert diese Argumentation nicht nur Literatur und Leben. Sie erklärt die fiktionale Darstellung - die nach Goethes Aussage nur die folgerichtige Entwicklung von „Gesinnungen und Handlungen" war - zugleich zu einem Dokument mit einem weit darüber hinausgehenden Geltungsanspruch, deren besonderes Risiko eben in ihrer überzeugenden Form bestehe. Andererseits formieren sich zeitgleich neue Positionen, die moralische Ansprüche als unangemessen zurückweisen. Die Kritiker hielten Goethes Roman für eine subtile Verteidigung des Selbstmordes, beginnt Jakob Michael Reinhold Lenz in seinen 1 7 7 5 / 7 6 entstandenen BRIEFEN ÜBER DIE MORALITÄT DER LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS, um dann dagegen zu setzen: „Das gemahnt mich, als ob man Homers Illiade fur eine subtile Aufmunterung zu Zorn, Hader und Feindschaft ausgeben wollte. Warum legt man dem Dichter doch immer moralische Endzwecke unter, an die er nie gedacht hat. [...] Als ob der Dichter sich auf seinen Dreifuß setzte, um einen Satz aus der Philosophie zu beweisen. Das geht dem Autor wohl an, der an den Nägeln käuet, aber warum mißt man einen Riesen nach dem Zwerge. Nichts mehr und nichts weniger als die Leiden des jungen Werthers wollt' er darstellen [...]"25 - Unterschiede zeigen sich nicht zuletzt im unterschiedlichen Verhalten von zwei Generationsund Geistesgenossen in Bezug auf Goethes Text: Während der Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn ( 1 7 2 9 - 1 7 8 6 ) das WERTHER-BUCII von Goethes Briefpartnerin Sara von Grotthus mit dem Vorwurf der Religionslosigkeit aus dem Fenster warf, brachte ihr Gotthold Ephraim Lessing ein neues Exemplar. Um es zusammenzufassen: Das Publikum tritt als Gesamtheit von sozial, alters- und geschlechterspezifisch sowie nicht zuletzt wissenskulturell differenzierten Adressaten in Erscheinung, die in je individuellen Rezeptionsprozessen die Potentiale literarischer Texte erschließen. Der Adressat literarischer Produktionen ist also stets eine individuenübergreifende Gruppe - doch keineswegs ein gemeinschaftlich rezipierendes und übereinstimmend urteilendes Kollektiv. Eine präzise Bestimmung der Fraktionierungen innerhalb dieser faktischen oder imaginierten Zielgruppe erweist sich deshalb als besondere 25
Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers [1775/76], In: J. M. R. Lenz: Werke und Schriften. Hrsg. von B. Titel und H. Haug. Stuttgart 1966. Bd. 1. S. 383-402, hier S. 384f.
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3. Modelle
Herausforderung. Sie hat intellektuelle Diskrepanzen zwischen Adressaten ebenso zu berücksichtigen wie unterschiedliche Motivationen beim Lesen, Verstehen und Beurteilen. Und sie hat die Voraussetzungen und Konditionen zu reflektieren, die im Rahmen grundlegender sozialer und epistemischer Umbauten der Gesellschaft entstehen und als Basiselemente einer literarischen Wissenskultur noch heute die Grundlagen des literarischen Lebens bilden: Alphabétisation als Bedingung der Möglichkeit, in den Adressatenkreis literarischer Äußerungen eintreten zu können; literarische Sozialisation als Bedingung der Möglichkeit, Texte verstehen und beurteilen zu können und so als kompetenter Partner am Gespräch über Literatur teilnehmen zu können; marktförmige Distribution von Schriften bzw. Werken als Bedingung der Möglichkeit, einen kollektiven Adressaten zu erreichen; öffentliche Institutionen wie Bibliotheken und Archive, Zeitschriften und literarische Zirkel, Schulen und Hochschulen, die den Austausch innerhalb eines zunehmend diversifizierten Publikums gewährleisten. Als faktische bzw. imaginierte Zielgruppe gewinnt ein Publikum mit historisch spezifizierten Kenntnisbeständen und Erfahrungshorizont einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf Textverfahren und Schreibstrategien von Autoren. Jeder Verfasser - wenn er nicht bewusst nur für die Schublade produziert - hat individuelle Ausdrucksinteressen und Ideen mit vorgeprägten Gattungsregeln, Wissenshorizonten und antizipierten Erwartungen seiner Leser zu vermitteln. Die kollektive Instanz Publikum erweist sich jedoch nicht nur in dieser Hinsicht als aktiver Partner in der literarischen Kommunikation. Der de facto aus individuellen Lesern bestehende Verbund, dem die Qualität eines Subjekts zugeschrieben wird, kann immer auch sein Verständnis und seine Bewertung der an ihn adressierten Texte artikulieren: Das Publikum - so zumindest erwarteten es seine Theoretiker seit der Zeit der Aufklärung - soll Werke kompetent beurteilen, um als mündiger Partner von Autoren auftreten zu können. Die damit verbundenen Hoffnungen auf einen gleichberechtigten Austausch formuliert Johann Gottfried Herder: „Bei jeder Gattung des Publikums aber denket man sich ein verständiges, moralisches Wesen, das an unsern Gedanken, an unserm Vortrage, an unsern Handlungen teilnimmt, ihren Wert und Unwert zu schätzen vermag, das billiget oder mißbilliget, das wir also auch zu unterrichten, eines Bessern zu belehren, in Ansehung seines Geschmacks zu bilden und fortzubilden uns unterfangen dürfen. Wir muntern es auf, wir warnen; es ist uns Freund und Kind, aber auch Lehrer, Zurechtweiser, Zeuge, Kläger und Richter. Belohnung hoffen wir von ihm nicht anders als durch Beifall, in Empfindungen, Worten und Taten."26 26
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hrsg. von Heinz Stolpe. Berlin und Weimar 1971. Bd. 1, S. 292; Hervorhebungen im Original.
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
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Nun benötigt das Publikum - dessen kollektive Größe ja eine wirksame Fiktion ist - zur Äußerung seiner Meinung(en) eine Stimme. Als „Sprachrohr" des Publikums formiert sich im 18. Jahrhundert eine Instanz, die aus einer Tätigkeit in der Bildungsinstitution der Grammatik hervorgeht, sich zunehmend der aktuellen Literaturproduktion zuwendet und in der Form periodisch erscheinender Journale institutionellen Charakter gewinnt: die Literaturkritik als Gesamtheit von kommentierenden und urteilenden, klassifizierenden und orientierenden, aber auch werbenden oder denunzierenden Äußerungen über Literatur.27 Alle diese vielfältigen Erscheinungsformen des kommunikativen Handelns mit und über Literatur setzen ein gegliedertes Wissen voraus und erzeugen es zugleich. Nicht nur Anzeigen und Buchsprechungen, die sich in einem zunehmend autonomen Rezensionswesen ausdifferenzieren, sondern auch Zensururteile, Parodien und literaturbezogene Satire bedürfen zumindest partiell nachvollziehbarer Kenntnisse, die ihrerseits zum Ausgangspunkt weiterer Unterscheidungen werden können. Als wesentliche Voraussetzungen für den Funktionswandel literaturkritischen Wissens gelten Faktoren, die bereits benannt wurden. Es sind die zunehmende Alphabetisierung und eine damit verbundene Ausbildung von unterschiedlichen Leserschichten, ein expandierender Buchmarkt mit einer rasch steigenden Zahl von Neuerscheinungen und der daraus resultierende Aktualitätsdruck fur Reaktionen, der sich mit beschleunigtem Ausstoß neuen Lesestoffs noch erhöht. Alle diese Umstände fuhren zur Entstehung der Literatur-
27
Wie erwähnt, gehört „Kritik" - vom griechischen Verbum κρίυειυ [unterscheiden, trennen, urteilen] - in der spätgriechischen Philologie wie im Schulbetrieb des Mittelalters zur Grammatik und besteht in der Anwendung eines linguistisch-systematischen Regelwissens sowie eines historisch-materialen Sachwissens auf die Kommentierung der Überlieferung. Konzentriert sich Sach- und Stilkritik bis in die Frühe Neuzeit auf die Arbeit am Kanon und auf regulierende Begleitung der Nachahmung klassischer Autoren, so gewinnt sie mit dem Zuwachs der literarischen Produktion und der Entstehung periodisch erscheinender Zeitschriften seit dem 17. Jahrhundert eine prinzipiell neue Bedeutung. Von Frankreich ausgehend, etabliert sich Literaturkritik als Gefolge einer je aktuellen literarischen Produktion. Ermöglicht und vorangetrieben wird diese neue Funktion durch regelmäßig erscheinende Zeitschriften, die Rezensionen, kritische Artikel bzw. Essays, Berichte und Nachrichten über Ereignisse des literarischen Lebens veröffentlichen. Nach den bereits genannten ACTA ERUDITORUM, die in lateinischer Sprache seit 1682 in Leipzig erscheinen, folgt im Zuge der fortschreitenden Ausdifferenzierung von Literatur im 18. Jahrhundert eine spartenspezifische Trennung, bei der es zur separaten Entwicklung der in Deutschland durch Gottsched und Lessing vertretenen Theaterkritik kommt. Die im 18. Jahrhundert begonnene Institutionalisierung einer die aktuelle Produktion und marktförmige literarische Kommunikation beobachtenden Kritik setzt sich im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert durch interne Entwicklungen fort. Eine auch theoretisch anspruchsvolle Literaturbetrachtung trennt sich vom populären Besprechungswesen im Feuilleton; politische und moralische Akzentuierungen setzen ein (etwa in der „Gesinnungskritik" durch Autoren des „Jungen Deutschland"); Typen und Habitusformen von Kritik und Kritikern bilden sich heraus. Um 1910 entwickelt sich die Filmkritik als Derivat der Theaterkritik.
3. Modelle
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kritik als einer Instanz, die bis in die Gegenwart wichtige Funktionen der Auswahl, Qualitätskontrolle, R e f l e x i o n übernimmt und in der Erkenntnisökonomie des literarischen Lebens eine zentrale Position besetzt. D i e Leistungen literaturkritischen Wissens sind breit gefáchert. Literaturkritik informiert, ind e m sie einen Überblick über die zunehmend unüberschaubare Zahl von N e u erscheinungen verschafft. Literaturkritik wählt aus, indem sie durch die Selektion rezensionswürdiger Literatur und ihre Bewertung potentiellen Lesern eine Entscheidungshilfe z u m Kauf und zur Lektüre gibt. Literaturkritik wirkt didaktisch, indem sie Wissen und Fähigkeiten im U m g a n g mit Texten vermittelt und dabei vor allem die Lektüre von Werken erleichtert, die aufgrund ihres Bruchs mit eingespielten Leseerwartungen zu Verständnisschwierigkeiten führen. Literaturkritik sichert Qualität, indem sie Autoren und Verlage mit begründeten Interventionen auf Stärken und Schwächen publizierter Texte hinweist und in der Artikulation v o n Wertmaßstäben und Erwartungshaltungen auf die z u k ü n f t i g e Buchproduktion wirkt. N i c h t zuletzt stimuliert Literaturkritik die ö f f e n t l i c h e R e f l e x i o n über Literatur und treibt so s e l b s t r e f l e x i v e Prozesse innerhalb des Literatursystems voran: Mit polemischen Stellungnahmen löst sie verfestigte (Vor-)Urteile auf und trägt so zur Dynamisierung der ästhetischen Geschmacksbildung bei. 28
28
Personaler Träger dieser (sich historisch wandelnden und bisweilen konfligierenden) Funktionen ist der Literaturkritiker. Sein Adressatenkreis ist das literarisch interessierte, nicht notwendig wissenschaftlich vorgebildete Publikum; seine Darstellungs- und Publikationsformen sind journalistische Gattungen, insbesondere Rezension und Essay. Besondere Relevanz gewinnen die Spielräume des Kritikers für die individuelle Darstellung und Bewertung, in die Wissenshorizonte und Wertmaßstäbe in oftmals nur schwer zu rekonstruierender Weise eingehen. Während wissenschaftliche Aussagen über literarische Texte - etwa in Monographien und Aufsätzen der universitären Literaturforschung - intersubjektive Überprüfbarkeit beanspruchen (und dazu philologische Standards sowie diskursive Argumentationen in Anschlag bringen), sind Stellungnahmen des Literaturkritikers stets Aussagen eines persönlich deutenden und subjektiv wertenden Subjekts. Gleichwohl war und ist der Einfluss von Kritikern innerhalb des literarischen Lebens nicht zu unterschätzen. Friedrich Nicolai (1733-1811), in Personalunion Verleger und Herausgeber der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIBLIOTHEK, des bedeu-
tendsten Rezensionsorgans der Aufklärung (das zwischen 1765 und 1806 auflagestark und mit universellem Anspruch die gesamte wissenschaftliche wie belletristische Buchproduktion deutscher Sprache kritisch durchmusterte), wurde zum bewunderten und umschmeichelten, aber auch verhöhnten Präzeptor der Berliner Aufklärung und zur kritischen Instanz mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit. Alfred Kerr (1867-1948), der in der Zeit der Weimarer Republik Theaterkritiker am BERLINER TAGEBLATT war und die Einteilung von Dichtung in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik postulierte, verfasste Besprechungen, die zu kulturellen Tagesereignissen aufstiegen. Marcel Reich-Ranicki, 1960-73 Literaturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT, 1973-88 Literaturredakteur der FRANKFURTER ALLGEMEINEN
ZEITUNG
und
langjähriger
Diskutant
in
der
ZDF-
Fernsehsendung DAS LITERARISCHE QUARTETT steigerte durch die Besprechung von Büchern nicht nur deren Nachfrage, sondern stellte auch eine „Kanon-Bibliothek" zusammen, die im Insel-Verlag erscheint. - Als Auswahl- und Beurteilungsinstanzen mit z.T. massenmedialer Präsenz haben Kritiker schon früh Unmut und Zorn von Autoren
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
207
Während sich die Literaturkritik mit Rezensionen und Essays, Autorenporträts und Interviews an ein breites, nicht durch Zugangsbeschränkungen begrenztes Publikum wendet und für ihre wertenden Aussagen textsortenspezifisch wirkende Begründungspflichten zu erfüllen hat, geht die Literaturwissenschaft andere Wege. Denn als Produzentin eines wissenschaftlichen und also besonders gesicherten Wissens über Texte und historische Konstellationen ist sie institutionell an Universitäten, Akademien und Forschungseinrichtungen gebunden; ihre Geltungsansprüche werden in Aufsätzen und Monographien, Fachzeitschriften und Sammelbänden fixiert, die in wissenschaftlichen Verlagen erscheinen. Literaturkritik als Orientierungs- und Beurteilungsinstanz des literarisch-kulturellen Lebens ist dagegen im Feuilleton und in den Kulturredaktionen von Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen verankert. Der Beruf des Literaturwissenschaftlers ist durch eine geregelte Ausbildung stärker professionalisiert als die Tätigkeit des Literaturkritikers; universitäre Sozialisation mit akademischen Graden und entsprechenden Prüfungen konditioniert den Nachwuchs in konzeptioneller wie methodologischer Hinsicht und sichert eine Kontinuität von Fragestellungen und Verfahren. Als historische Disziplin hat die Literaturwissenschaft eine größere Distanz zu ihren Untersuchungsgegenständen als die dem Aktualitätsdruck der Massenmedien unterliegende Literaturkritik; und sie nimmt sich mehr Zeit: Während Literaturkritik oft innerhalb weniger Tage oder Wochen reagieren muss, können Literaturwissenschaftler ihre Aufmerksamkeit in wiederholte Beobachtungen investieren.
und Lesern hervorgerufen. Vorgeworfen wurde ihnen illegitime Machtanmaßung und willkürlicher Umgang mit Auswahl- und Wertungskriterien; unterstellt wurde die Instrumentalisierung der Kritik zur Verlagswerbung und zur Vernichtung von Autorenexistenzen. „Kritikaster" oder „Krittler" sind noch milde Interventionen gegen die kritische Gewalt von Rezensenten. Doch gibt es auch weitergehende verbale Gegenwehr: Der junge Goethe veröffentlicht im März 1774 in der Zeitschrift WANDSBECKER BOTE ein Gedicht, das mit einem gereimten Mordaufruf schließt: „Der Tausendsakerment!/ Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." (Johann Wolfgang Goethe: Rezensent. In: J. W. Goethe: Sämtliche Werke (Münchner Ausgabe). Bd. 1.1: Der junge Goethe 1757-1775, S. 223f.) Wahrscheinlich beziehen sich diese Verse auf Christian Heinrich Schmid (1746-1800), einen seit 1771 an der Universität Gießen Poesie und Beredsamkeit lehrenden Literaten und Kritiker, der Goethes Aufsatz VON DEUTSCHER BAUKUNST und den GÖTZ rezensiert hatte und den der Autor bereits in einem Brief an Kestner vom 25. 12. 1772 als „Scheiskerl in Glessen" [sie] qualifiziert hatte - was von genauer Beobachtung der Verhältnisse zeugt. Ähnliche Affekte mobilisiert auch Martin Walser, der in seinem 2001 veröffentlichten Roman TOD EINES KRITIKERS einen durch das lesende Publikum wohl wiederzuerkennenden - Rezensenten namens André Ehrl-König scheinbar sterben ließ (und daraufhin heftige Angriffe seitens einer Öffentlichkeit erlebte, die den endgültigen Text noch gar nicht kannte). Bodo Kirchhoffs im gleichen Jahr publizierter SCHUNDROMAN imaginiert den Mord an einem Literaturkritiker namens Louis Freytag, um einer tiefsitzenden Abneigung gegen eine bestimmte Öffentlichkeit Luft zu machen - auch dieser Text funktioniert auf der Basis von Kenntnissen eines Literaturbetriebs, in dem Autoren und Rezensenten asymmetrische Positionen besetzen.
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3. Modelle
Ergebnis sind Wissensansprüche, die sich an einen eingeschränkten Adressatenkreis richten und (begründete) Unterscheidungen über Texte, Gattungen und Autoren unter Beachtung fachsprachlicher und formaler Regulierungen vornehmen. Während literaturkritische Praxis empfiehlt bzw. ablehnt und also Wertungen trifft, verfolgt Literaturwissenschaft primär keine evaluativen Ziele und hat ihre Urteile (zumeist) gut zu begründen. Ein letzter Unterschied betrifft die wechselseitige Wahrnehmung beider Textumgangsformen: Während Literaturkritik einen Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft darstellt - etwa in der Rezeptionsforschung, die Kritiken als wichtige historische Dokumente heranzieht - widmet sich Literaturkritik der universitären Literaturforschung unter jener Optik, mit der sie auch die Literaturlandschaft observiert. Ihre Leitdifferenzen sind dann Oppositionen wie „aktuell" vs. „veraltet", „interessant" vs. „uninteressant" oder „populär" vs. „expertenspezifisch". Ergebnis der Tätigkeit aller dieser literaturvermittelnden Institutionen (zu denen neben dem Deutschunterricht als der schulischen Vermittlungsinstanz von sprachlichem Regelwissen und Textkenntnissen auch Bibliotheken und Lesungen, Buchpräsentationen im Radio und Verfilmungen gehören) sind Normen und Konventionen, die stabilisierende Funktionen für die Kommunikation über Literatur und das kulturelle Selbstverständnis überhaupt übernehmen. Denn diese von historisch konkreten Bedingungen abhängigen Normen und Konventionen entscheiden darüber, was in einer Gesellschaft bzw. in gesellschaftlichen Gruppen als Literatur angesehen wird; sie fundieren weitergehende Differenzierungen zwischen „wertvoller" und „trivialer", „guter" und „schlechter" Literatur. Einen sichtbaren Ausdruck finden diese Normierungen in der Zusammenfassung von Texten, deren Gesamtheit als Kanon bezeichnet wird. Der vom griechischen Terminus ,,κανον" (Richtschnur, Vorschrift) abgeleitete Begriff tritt in unterschiedlichen Bedeutungen auf, bezieht sich aber stets auf die Geltungskraft von Regeln - und damit auf ein Wissen, das sowohl in expliziten Formulierungen als auch durch implizite Erfahrungen weitergegeben werden kann. Stellt der Kanon in Logik oder Bildender Kunst eine Summe verbindlicher Grundsätze dar, ist er in der Musik ein mehrstimmiges Tonstück, bei dem die Singstimmen in festgelegter Abfolge mit der gleichen Melodie einsetzen. In Bezug auf literarische Kommunikation dient der Begriff zur Zusammenfassung exemplarischer Werke: Verzeichneten antike Kanones die als vorbildlich geltenden Schriftsteller mit ihren Werken, so umfasst der Kanon in religiösen Zusammenhängen die als echt anerkannten Bücher einer Kirche, insbesondere die Bücher der Bibel (im Unterschied zu Apokryphen). Im Umgang mit Literatur funktionieren Kanon und Kanonisierungen als historische Regelgrößen, die wenig über die kompilierten Texte, doch viel über ihre Produzenten verraten. Denn Kanonbildungen als Konstitution eines anerkannten Korpus von normativ gültigen Texten vollzieht sich in Schritten, an
3.1 Literarische Kommunikation als Wissenskultur
209
denen neben den Angehörigen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der literaturkritischen Öffentlichkeit auch Vertreter der Bildungsinstanz Schule und der Massenmedien beteiligt sind. In einem ersten „Innovationsakt" werden dabei Texte bzw. Textgruppen zusammengefasst, die in einem zweiten Schritt eine Primärrezeption erfahren und auf Grundlage eines Wissens- und Wertesystems kommunikativ bestätigt, ergänzt oder ausgelesen werden. Dritter und entscheidender Schritt sind die Formen von „Sekundärrezeption", die - schon in historischer Distanz - Textkorpora akzeptieren und als kanonisch etablieren. Alle diese Prozesse beruhen auf Akten der Homogenisierung und Abgrenzung: Um Texte zu einem Kanon zusammenzufassen und sie von vorhergehenden Entwicklungen (also älteren Traditionen) und der nachfolgenden Literatur unterscheiden zu können, sind Differenzen zu nivellieren; problematische Aspekte müssen in Normverhalten transformiert und ästhetische Einzelheiten auf übergreifende Prinzipien von Form und Technik reduziert werden. Schließlich wird ein so gewonnener Textkorpus durch Gründerfiguren historisch legitimiert. Ihren Abschluss finden Kanonisierungsprozesse in einem kommunikativen Konsens, der weitere Auswahlprozesse erlaubt und Anschlüsse gestattet. Jeder Umgang mit einem Kanon und kanonischen Texten wird deshalb fragen müssen, auf welchen Prinzipien der (stets ausgrenzenden) Auswahl und Homogenisierung diese Zusammenfassung beruht. Denn Kanon und Kanonisierungen als zumeist retrospektive Konstrukte verraten nur wenig über zusammengefasste Texte, dafür jedoch eine Menge über Wissen und Wertvorstellungen ihrer Konstrukteure. Und dieses Wissen über das Wissen kanonsetzender Instanzen kann für eine Rekonstruktion literarischer Kommunikationsverhältnisse durchaus hilfreich werden.
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3. Modelle
3.2 Regeln der Simulation. Literatur als Erkenntnisformation
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Emblemata D.A. Alciati, [...] Lyon 1551, S. 22: „Sobriè viuendum: & non temere credendum".
Julius Wilhelm Zinckgref: Emblematvm Ethico-Politicorvm Centvria. [Frankfurt/M.] 1619, Nr. 88: „oculata fides"
Adrian d'Amboise: Devises Royales [...]. Paris 1621, S. 23: „qvi me sibi ivnxit amores abstvlit"
Die rechte Hand mit dem geöffneten Auge auf der Innenfläche gilt in den Emblembüchern zum einen als Sinnbild von Besonnenheit, Umsicht und Weisheit. Wie das von Arthur Henkel und Albrecht Schöne herausgegebene Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts dokumentiert, weist die emblematische Hand weitere Bedeutungen auf. Im EMBLEMATA MORALIA-Buch des Juan de Borja findet sich die ausgestreckte, fingerspreizende und messende Hand als Sinnbild für die Kürze des Lebens („La vida es breve"); die geöffnete und die geschlossene Hand im gleichen Buch symbolisiert Gleichmut gegenüber dem Schicksal. 40 Die aus den Wolken ragende Hand kann aber auch auf die Steuerung von Emotionen und Leidenschaften in personalen wie politischen Zusammenhängen verweisen, wie das Emblembuch des Peter Isselburg belegt:
40
Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Stuttgart 1967, Sp. 1008-1024.
334
4. Exemplarische Analysen
Peter Isselburg: Emblemata Politica. In aula magna Curi® Noribergensis depicta. Nürnberg 1617
Möglicherweise gewinnt der intensivierte Einsatz der Hand in emblematischen Zusammenhängen durch einen wissenschaftsgeschichtlichen Rekurs an Plausibilität. Seit Leonardo da Vinci mit seinen anatomischen Handstudien um 1510 die innere Struktur der Hand ermittelt und mit zahlreichen Kommentaren versehen bekannt gemacht hatte, setzt eine verstärkte Erforschung des aktivsten menschlichen Körperteils ein. Sowohl das Knochengerüst als auch die Muskelstränge und Nervenbahnen der Hand werden in naturwissenschaftlichen Studien erforscht und in unterschiedlichen Darstellungen vermittelt:
Leonardo da Vinci: Handstudien, um 1510
Adriaan van den Spiegel: Opera quae extant omnia. Amsterdam 1645
Govard Bidloo: Anatomia humani corporis [...]. Amsterdam 1685
Diese Explorationen erweisen bereits im 16. Jahrhundert die Komplexität eines Körperteils, der mit 27 Knochen, 22 aktiv beweglichen Gelenken und 33 Muskeln ein hochpräzises Universalorgan der Weltwahrnehmung wie der Welterfassung bildet. Sie ermitteln zugleich seine extreme Sensibilität: Auf jedem Quadratzentimeter der Fingerkuppen enden etwa 3.500 Nervenbahnen und lassen die Hand zum nach der Zunge empfindlichsten Sensor für Druck und Temperatur werden.
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
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Den anatomischen Einsichten in die komplizierte Feinmotorik der Hand korrespondieren zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen. Zum einen bemüht sich die bis in die Antike zurückreichende Chiromantie um eine Deutung von individuellen Eigenschaften des Menschen durch Beobachtung seiner Hand und steigert auf diese Weise deren Bedeutungspotential. Zum anderen strebt eine gleichfalls auf antike Wurzeln zurückgehende Gebärdensprache nach Begründung einer manualen Universalsprache - besonders wirksam seit der 1 6 4 4 veröffentlichten CHIROLOGIA, OR THE N A T U R A L LANGUAGE OF THE H A N D des englischen Arztes und Physiker John Bulwer, dessen Überlegungen bis zu Lavaters physiognomischer Grammatik fortgeschrieben werden. Die Chiromantie (Handlesekunst) folgt den Analogieprinzipien der Mantik, nach der die gesamte sichtbare wie unsichtbare Wirklichkeit einen Zusammenhang bildet - und zwar nicht einfach mechanisch, sondern mit einem gewissen Spielraum für Eigenbewegungen, jedoch stets unter dem Einfluss des Ganzen: Wie oben, so unten; wie im Großen, so im Kleinen. Darum ist es dem Prinzip nach möglich, aus sichtbaren Dingen und Sachverhalten auf verborgene Prinzipien zu schließen. Bestimmte Phänomene lassen dieses Verborgene besonders deutlich erfassen - und dazu gehört die menschliche Hand. Sie spiegelt die Harmonie des gesamten Körpers und offenbart in ihren sichtbaren Proportionen die unsichtbaren Harmonien zwischen Mensch und Weltlauf:
Johann Hartlieb: Die Kunst Chiromantia. Augsburger Blockbuch [um 1480]
Agrippa von Nettesheim: De Occulta Philosophie libri tres. Köln 1533
Deshalb erscheint am Ende des zweiten Buches von Agrippas D E OCCULTA PHILOSOPHIA von 1533, das die verborgene Einheit der Welt aus Zahl, Ton und Gestirnsbeziehungen ermittelt, eine Hand, die mit Gestirnssymbolen beschriftet ist: Fingerberge und Handfläche sind mit den Zeichen für Merkur, Sonne, Saturn und Jupiter sowie mit Luna, Mars und Venus bezeichnet, wobei die Attribute der Handteile den Eigenschaften korrespondieren, die man den entsprechenden Planeten zuschreibt. 1661 wird Joseph Glanvill - der erstmals auch die Metapher „invisible hand" gebraucht - von einer „new kind of Chiromancy11 berichten: „Sympathized hands" überbrückten selbst große Distanzen, indem sie die Sensitivität bestimmter Partien zur Übertragung von Botschaften nutzen würden: „And thus the distant friend by a new kind of Chiro-
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4. Exemplarische Analysen
mancy may read in his own hand what his correspondent had set down in his."41 (Nur anzumerken ist, dass sich die Chiromantie im 16. Jahrhundert verändert. Erkenntnisziel der Handlesekunst wird eine Charakterologie, aus deren Einsichten man erst in einem zweiten Schritt Aussagen über die Zukunft ableitet. Chiromantie wird so zum Bestandteil der Physiognomik - und erscheint noch in Lavaters PHYSIOGNOMISCHEN FRAGMENTEN von 1 7 7 5 als Mittel, den unverstellten und nicht durch Täuschung verzerrten Charakter des Menschen zu ermitteln. „Jede Hand, jeder Finger, jeder Muskel stellt eine all bedeutsame Sprache fur die Augen dar [...], denn der feinste Heuchler, und der schlaueste Verstellungskünstler kann weder an dem Umrisse, noch an der Farbe, noch an der Muskulosität, noch an der Länge, Kürze, Breite, Proportion der ganzen Hand und ihrer einzelnen Teil das allermindeste verändern." 42 ) In anderer Weise lädt die Chirologie das Bedeutungspotential der Hand auf. John Bulwers 1644 veröffentlichte C H I R O L O G I A beschreibt die Gestik der Hand als die einzige natürliche Sprache beziehungsweise die bei allen Menschen gleichermaßen angelegte Universal-Sprache. Sein Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass nur die „naturall Language of the hand" von der babylonischen Sprachverwirrung verschont geblieben sei und die Hand des Erlösers sie geheiligt habe. Als Beleg für die Universalität einer manualen Kommunikation zitiert er über zweihundert christliche und antike Quellen, beruft sich im wesentlichen aber auf Anweisungen antiker Rhetoriken und Klassifikations versuche in klösterlich-lithurgischen Regelwerken.
John Bulwer: Chirologia: or the naturall Language of the hand. Composed of the speaking Motions, and discoursing gestures thereof. Whereunto is added Chironomia: Or the Art of Manuali Rhetoricke. Consisting of the naturall expressions, digested by art in the hand, as the chiefest instrument of eloquence, by historicall manifestos [...] London 1644
41
Joseph Glanvill: T h e Vanity of D o g m a t i z i n g , S. 205.
42
Johann C a s p a r Lavater: P h y s i o g n o m i s c h e F r a g m e n t e zur B e f ö r d e r u n g der M e n s c h e n kenntniß u n d M e n s c h e n l i e b e . Bd. 4. Leipzig u n d Winterthur 1778, S. 47, 51.
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
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Bemerkenswert ist der Titelkupfer von Bulwers CHIROLOGIA: Ausgerechnet die als natürliche Körpersprache beschriebene Gestik wird durch eine hieroglyphische Bildersprache erläutert, die eine Fülle von Anspielungen auf das metaphorische Potential der Hand enthält. Als Mutter der Hände-Sprache steht links die Natura loquens, die sprechende Natur in Gestalt der mehrbrüstigen Diana Ephesia vor der dodonäischen Eiche. Rechts im Bild erscheint die Muse Polyhymnia, die unter anderem für Pantomimik und Rhetorik verantwortlich ist. Zwischen den beiden weiblichen Figuren erstreckt sich eine offene Handfläche, in der das Haupt von Minerva erscheint. Aus dem Mund der Göttin der Weisheit ergießt sich ein Strom in das Becken, das mit Cisterna Chirosophia beschriftet ist. Diese „Zisterne der Handweisheit" hat verschiedene Abteilungen, die emblematisch chiffriert sind: Während die erhobene geöffnete Hand den Intellekt repräsentiert, zeigt die erhobene halbgeschlossene Hand den Willen an. Die geschlossene Hand mit eingeklemmtem Daumen symbolisiert das Gedächtnis; die mit dem Daumen verriegelte Faust steht fur die Scientia, die Wissenschaft. Aufschlussreich sind noch die Embleme direkt unter den Frauengestalten: Die geöffnete Hand mit Mund steht fur die Sprache der Hände, die Hand mit den natürlichen Zahlen fur Arithmetik, die Hand mit der Zunge für die Eloquenz beziehungsweise Beredsamkeit, die geschlossene Hand fur die Logik. Und ein Emblem begegnet gleich zweimal: In den Innenseiten der Zisterne repräsentiert die Hand mit dem Auge die Vorsicht. - Und noch ein aufschlussreicher Hand-Dialog findet sich in diesem Titelkupfer: Über der Titelkartusche sieht man zum einen Merkur, den Gott der Beredsamkeit, mit seinem Caduceus; zum anderen am oberen Bildrand den manualen Verkehr zwischen Gott und Menschen: Während die rechte Hand Gottes segnet, antworten die Hände der Menschen mit Gebet und Bewunderung. Die Thematisierung einer gelingenden, gleichsam göttlich abgesegneten Kommunikation ist jedoch nur ein Aspekt, der mit dem Bildfeld der Hand veranschaulicht werden konnte. Seit der Frühen Neuzeit kann das Bild auch zur Visualisierung invisibilisierter Manipulationen eingesetzt werden:
Georgette de Montenay: Emblematum Christianorum Centuria Cum eorundum Latina interpretatione. Zürich 1584, Emblem Nr. 22: „sie vivo".
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4. Exemplarische Analysen
Das 1584 in Zürich gedruckte Emblem mit dem Motto „Sic vivo" scheint rätselhaft - doch der kommentierende Text liefert eine Erklärung für die Darstellung einer Eule, die auf einem Baumstumpf sitzt und eine linke Hand an einem Stab zu einer brennenden Öllampe führt. Die Eule steht für das Papsttum, für die konservativen Theologen und die Jesuiten, die den wahren Glauben unterdrücken. Diese Feinde der Reformation manipulieren Könige, um das Licht des Glaubens auszulöschen und sich zu selbst zu bereichern, ohne entdeckt zu werden. Die törichte Hand des Königs - dargestellt im handtragenden Stab, der an die Herrschaftsinsignien des französischen Königtums „main de la justice" erinnern soll - droht sich zu verbrennen, während die bösartige Eule im Schutz einer Anonymität agiert, die ihr kriminelle Machinationen erlaubt.43 In dieser Graphik ist nicht nur die Thematisierung der Hand von Interesse. Bemerkenswert ist auch die Perspektive, die eine innerweltliche Konstellation in den Blick nimmt und die Handlungen verborgener Akteure wahrzunehmen vermag. Damit aber ist eine Beobachter-Position gewonnen, die von zentraler Bedeutung für die Rede von der „invisible hand" in den Moral- und Sozialdiskursen des 18. Jahrhunderts werden soll: Soziale Handlungen von individuellen und kollektiven Akteuren sind nun als partikulare und von egoistischen Eigeninteressen diktierte Bestrebungen zu observieren, die ohne Rücksicht auf einen göttlichen Heilsplan funktionieren und entsprechend gedeutet und erklärt werden müssen. Auf den Problemhintergrund dieser Umstellungen in der Modellierung sozialen Handelns, die ihre Fixierung in verhaltensregulierenden Klugheits- und Morallehren finden, kann hier leider nicht einmal ansatzweise eingegangen werden. Relevant für den hier zu verhandelnden Metaphernkomplex aber sind nicht unwesentliche Veränderungen in der Bewertung des Unsichtbaren beziehungsweise Verborgenem War das Nicht-Sichtbare noch in der Antike und in der Heiligen Schrift positiv konnotiert - etwa als Attribut Gottes oder als Eigenschaft seiner auf das „Ewige und Unsichtbare hinblickenden" Gemeinde 44 - wandeln sich mit der Lizenz zum Täuschen und Ver-
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Nur hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Umstand; dass die Emblesmes ou devises chrestiennes der Georgette de Montenay nicht nur eine neue Form protestantischer Propaganda schufen, sondern auch die Jesuiten zur Schaffung einer neuen ikonographischen ,Wissenschaft', der Iconomystica, anregten; dazu Mario Praz: Studies in Seventeenth Century Imagery. Rom 1964, S. 169-179.
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In der theologischen Adaption eines von Heraklit antizipierten und durch Piaton formulierten Gedankens, der die ideelle oder transzendente Welt dem Unsichtbaren gleichsetzte, sah der Apostel Paulus die Christen dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht auf das Sichtbare sehen, sondern nach dem Unsichtbaren ausblicken: „Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig" (2 Kor 4, 18). Unsichtbarkeit galt als Prädikat Gottes, der sich und sein unvergängliches Wesen in der sichtbaren Schöpfung offenbart habe; vgl. Rom 1, 19f.; Kor 1, 15; 1 Tim. 1, 17. Auch intendierte Einschränkungen des Zugangs zu einem Wissens- oder Glaubensanspruch - die zwar äußerlich ähnliche Formen zur Darstellung und Kommunikation aufwiesen, in ihrer Struktur aber zu unterscheiden sind - konnten grundsätzlich positiv bewertet werden. Das
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stellen, zu simulatio und dissimulatio auch die Bewertungen des Verborgenen. Schon frühneuzeitliche Verhaltenslehre wie Castigliones BUCH VOM HOFMANN, Niccolò Machiavellis Abhandlung DER FÜRST und vor allem Baltasar G r a c i á n s HANDORAKEL ODER KUNST DER WELTKLUGHEIT b e s c h r e i b e n
die
soziale Welt jenseits der Familie als vermintes Terrain, auf dem eigene Verhaltensweisen sorgfältig zu kalkulieren und möglichst viele der verborgenen Affekte der Anderen zu entdecken sind.45 Reaktion und Katalysator dieser Verhaltenslehren der Simulation sind Praktiken der Selbst- und Fremdbeobachtung, die geringste Details des Verhaltens als Zeichen von Unaufrichtigkeit lesen und auf „verborgene" Gründe zurückführen sollen: Schon der Jesuit Gracián - der das individuelle Dasein als „Krieg gegen die Bosheit des Menschen"46 bestimmt - sucht eine verhaltensbezogene Kunst des Chiffrierens im Sinne einer Regelgebung für raffiniertes Verstellen und Verrätsein der eigenen Absichten wie auch eine Kunst des Dechiffrierens zu vermitteln: „[...] man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele herauszubuchstabie-
Markus-Evangelium begrenzte die Einsicht in das Geheimnis des Gottesreiches auf einen abgesonderten Kreis (Mk 4, 11-12), implizierte damit jedoch keine Formen der Sekretierung und des Verzichts auf Öffentlichkeit, sondern ein verborgenes Wissen (mysteriori), das im Gegensatz zu einer scheinbar offenkundigen Sicht- und Wahrnehmbarkeit nur der eingeweihten Gemeinde zugänglich war; so etwa in der Anmerkung Martin Luthers zu Eph 5, 33: „Sacrament oder mysterium / heisset Geheimnis oder ein verborgen ding / das doch von aussen seine bedeutung hat. Also ist Christus vnd seine Gemeine ein Geheimnis / ein gros heilig verborgen ding / das man gleuben vnd nicht sehen kann." Auf diese Weise ließen sich auch anforderungsbezogene Limitationen bei der Verbreitung von Glaubenslehren rechtfertigen. 45
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Castigliones 1528 veröffentlichtes iL LIBRO DEL CORTEGIANO beschreibt den diskreten Hofmann, der sein eigenes Verhalten sorgfaltig kalkuliert und möglichst viele der verborgenen Affekte seines Gegners entdeckt. Machiavellis iL PRINCIPE empfiehlt dem Fürsten explizit Verstellung, Treuebruch und Heuchelei bei Glaube und Tugend sowie die Lüge, wenn es die necessità erfordert: „Ein Herrscher braucht also all die [...] guten Eigenschaften nicht in Wirklichkeit zu besitzen; doch muß er sich den Anschein geben, als ob er sie besäße. Ja, ich wage zu behaupten, dass sie schädlich sind, wenn man sie besitzt und stets von ihnen Gebrauch macht, und dass sie nützlich sind, wenn man sich den Anschein gibt, sie zu besitzen"; Niccolò Machiavelli: Der Fürst. II Principe (1532). Übersetzt von Rudolf Zorn, Stuttgart 6 1978, XVIII (S. 73). Der Jesuit Baltasar Gracián postulierte die situationsangemessene Anpassung (versatilitas) an eine bedrohliche Welt für jeden Lebensbereich: „Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. [...] Sogar wo man sich herauslässt, vermeide man, offen zu sein, eben wie man auch im Umgang sein Inneres nicht jedem aufschließen darf." Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647). Deutsch von Arthur Schopenhauer. Mit einer Einleitung von Karl Voßler, Stuttgart 1967, Nr. 3, 13 (S. 5, 9). Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, 13 (S. 9): „Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit fuhrt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen." Ebenda, 273 (S. 115).
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4. Exemplarische Analysen
Mit diesen Einsichten in die simulative Natur des Menschen und die Notwendigkeit seiner sozialen Observation ist eine Grenze der Vorstellung von einer göttlich geordneten Natur erreicht. Soziale Differenzierung und fortschreitende gesellschaftliche Arbeitsteilung machen neue Modelle zur Deutung und Erklärung individuellen Verhaltens und überindividueller Verkehrsverhältnisse erforderlich. In dieser Situation gewinnt der metaphorische Ausdruck „unsichtbare Hand" eine neue Qualität - nicht zufallig in moralphilosophischen Überlegungen und narrativen Szenarien, die seit Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt werden. II. Wie erwähnt, ist die Wortkombination „invisible hand" keine Prägung des schottischen Moralphilosophen Adam Smith. Auch das in dieser Metapher verdichtete Konzept einer sich gleichsam hinter dem Rücken der beteiligten Akteure vollziehenden Ordnung komplexer Systeme war nicht seine Erfindung. Konzept und metaphorischer Ausdruck entstehen vielmehr als Endpunkt unterschiedlicher Anläufe zur Deutung und Erklärung von Koordinationsprozessen in arbeitsteilig organisierten und hochgradig spezialisierten Gesellschaften der Neuzeit. Anders gesagt: Die seit Ende des 17. Jahrhunderts in unterschiedlichen Varianten bearbeiteten Konzepte spontaner Ordnung und seine metaphorischen Ausdrücke sind längerfristig verfolgte Versuche zur theoretischen Modellierung von komplexen Gleichgewichts- und Wachstumssystemen, deren spezifisches Problem daraus entsteht, dass Gleichgewichte genau dann vorhanden sind, wenn sich ihre verschiedenen Komponenten verändern, und zwar nicht nur absolut, sondern auch relational zu einander. Die Modellierung von Fließgleichgewichten aber ist gerade in dieser Zeit eine soziale wie epistemologische Herausforderung: Die sich erweiternde Sphäre der marktvermittelten Kommunikation fuhrt zur zunehmenden Einbindung des individuellen Handelns in stets weitere und undurchschaubarere soziale Räume; die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge schließt praktisch gerade das aus, was die traditionelle Moral verlangt: dass die Individuen das parallele Handeln der anderen Gesellschaftsmitglieder und dessen Folgen so weit antizipieren (können), dass eine Einarbeitung beziehungsweise Berücksichtigung dieser Folgen in die eigene Praxis auf befriedigende Weise möglich wird. Aus der Perspektive der beteiligten Akteure heißt das: Die gleichzeitige Emanzipation verschiedener Gesellschaftsmitglieder aus vorgegebenen Handlungsbahnen, die mit marktförmiger Vergesellschaftung und bürgerlicher Sozietät verbunden ist, erzeugt einen Ungewissheitsschub im Verhältnis der Individuen zum gesamtgesellschaftlichen Prozess. Traditionelle moralphilosophische Konzepte - die etwa Einordnung beziehungsweise Unterordnung des Bürgers unter das politische Gemeinwesen fordern - genügen nicht mehr, weil individuelle Erwartungen durch die Konsequenzen sozialer „Überkomplexität" systematisch frustriert werden.
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Diese Konsequenzen sind fiir die historischen Akteure unmittelbar erfahrbar. Konfessionelle Bürgerkriege und wirtschaftliche Krisen - bis hin zu den Hungerjahren von 1693/94, die in Frankreich ebenso viele Todesopfer fordern wie die „années d'Apocalypse" in der Mitte des 17. Jahrhunderts48 - demonstrieren, dass Staat und korporative Assoziationen nicht mehr die Harmonie eines in sich ruhenden Ganzen repräsentieren. Ihre Regularien müssen vielmehr aus veränderlichen Situationen erschlossen werden. Die leitenden Beschreibungs- und Erklärungsverfahren entstammen der empirischen Naturforschung und zielen auf Ermittlung einer kohärenten und in sich dynamisierten Ordnung hinter den disparaten Phänomenen: Gesetzmäßige Beziehungen zwischen scheinbar ungeordneten Bewegungen und Dingen sucht nicht nur die Mechanik zu erkennen, sondern auch Thomas Hobbes' „Lehre vom Bürger", die das Beispiel der sich selbst bewegenden Uhr als Analogon für die Analyse des Staates heranzieht.49 In Bernard Mandevilles FABLE OF THE BEES fungieren anatomische Studien als Vorbild für eine Untersuchung jener Bestandteile und Verhältnisse im „sozialen Organismus bürgerlicher Gesellschaften", die „das ungewohnte Auge entweder übersieht oder doch nicht weiter beachtet" und die doch „die wichtigsten Organe [...] für die Erhaltung der Bewegung im ganzen Mechanismus unseres Leibes" wären.50 Die BIENENFABEL fuhrt zugleich exemplarisch vor Augen, welcher anthropologischen Vor-Einstellung diese neue Aufmerksamkeit folgt: Nicht mehr Geselligkeitstrieb, Mitleid oder Wohlwollen gelten als Voraussetzungen von Sozialität; sondern die „schlechtesten und am meisten verabscheuten Eigenschaften" des Menschen sind konstitutiv für „glückliche und blühende Gemeinschaften".51 Damit wird ein unstetiges, wechselhaftes oder sogar feindseliges Verhalten als Gründungsakt von Kultur zu einem Wissensgebiet, das individuelle Akteure und ihre Verbindungen nicht mehr als unveränderliche Substanzen feststellt, sondern als Schnittmengen aktueller Verhaltensweisen und variabler Relationen beobachtet.
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Vgl. Georges Duby, Armand Wallon (Eds.): Histoire de la France rurale. Bd. 2: L'age classique 1340-1789. Paris 1975, S. 206f., 211; Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg, Berlin 1974. Vgl. Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger, S. 72: „Schon bei einer Uhr, die sich selbst bewegt, bei jeder etwas verwickelten Maschine kann man die Wirksamkeit der einzelnen Teile und Räder nicht verstehen, wenn sie nicht auseinandergenommen werden und die Materie, die Gestalt und die Bewegung jedes Teiles für sich betrachtet wird. Ebenso muß bei den Rechten des Staates und bei Ermittelung der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch wie ein aufgelöster betrachtet werden, d.h. es muß die menschliche Natur untersucht werden, wieweit sie zur Bildung des Staates geeignet ist oder nicht, und wie die Menschen sich zusammentun sollen, wenn sie eine Einheit werden wollen; denn nur so kann hier die rechte Einsicht gewonnen werden." Bernard Mandeville: Die Bienenfabel (The Fable of the Bees, or: private vices, publick benefits; 1714). Berlin 1957, S. 19. Ebenda.
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4. Exemplarische Analysen
Die neuartige epistemische Situation, auf die metaphorische Konzepte der „invisible hand" reagieren, lässt sich kurz zusammenfassen: (a) Providentielle Lenkung der Weltgeschichte und zufällige Ereignisse sind - zumindest im Rahmen kontrafaktischer Imaginationen - ausgeschlossen. Während noch Hutcheson mit seinem Konzept der „invisible union" innerhalb einer statischen Moralphilosophie dem Glauben an eine benevolente Schöpfung verhaftet bleibt und die Idee einer unsichtbaren Steuerungsinstanz (wie bei Shaftesbury) religiös fundiert, liegt bei späteren Vertretern der schottischen Aufklärung und namentlich bei Adam Smith der Akzent auf einer optimistischen Legitimierung partikularer Handlungsorientierung - ohne eine Providentia Dei einzukalkulieren. Zugleich werden Ordnungsvorstellungen für die Observation der sozialen Welt bewahrt. Deren Gesetze will man durch empirische Beobachtungen und Modellbildungen (analog zu Physik und Astronomie) entdecken, wobei zu berücksichtigen bleibt, dass ein gleichzeitiges Wirken mehrerer Gesetze komplexe und nur schwer zu deutende Resultate impliziert. (2.) Vorstellungen über einen korporativen Zusammenschluss von Individuen auf Basis eines gemeinsamen Willensaktes - etwa in der naturrechtlichen Idee vom „Gesellschaftsvertrag"- werden durch die Modellierung egoistisch motivierter und eigennützig handelnder Akteure ergänzt bzw. substituiert. Es sind nicht mehr nur soziale Atome, die gedacht werden müssen, sondern sich abstoßende Sozial-Atome, deren Zusammenhalt gerade angesichts ihrer notwendig egoistischen Natur theoretisch zu begründen ist. (3.) In dieser Situation stellen Newtonsche Physik und Galileis Körpermechanik Annahmen bereit, die auf die menschliche Natur übertragen werden und zunehmend kompliziertere Sozialverhältnisse analog zu mechanischen Gleichgewichtsmodellen deuten lassen. Hutchesons Moralphilosophie will „axioms, or natural laws of calm desire" formulieren und bestimmt Tugend als , just balance" im Widerspiel sozialer Kräfte.52 Damit wird umgesetzt, was Spinozas E T H I K festgeschrieben hatte: „Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden als durch einen anderen, entgegengesetzten und stärkeren Affekt." 53 Unterstellt und gesucht wird ein Zentrum, das eine Balance zwischen Anziehung und Fliehkraft sozialer Atome herstellt. Dieses Zentrum lässt sich dann auffinden, wenn die Beobachtung nicht mehr nur einen Akteur und seine begrenzten Motive, Zwecke und Absichten wahrnimmt und beurteilt, sondern das soziale Universum als eine Kette von Ursachen und Wirkungen erfasst. (4) Neben der Körpermechanik bilden anatomische Studien das Vorbild für eine Untersuchung jener Bestandteile und Verhältnisse im „sozialen Organismus bürgerlicher Gesellschaften", die „das
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Vgl. Wolfgang Leidhold: Ethik und Politik bei Francis Hutcheson. Freiburg, München 1985, S. 122; zum Einfluss der Newtonschen Physik auf die Diskussion bislang negativ bewerteter Leidenschaften vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 210-248. Baruch Spinoza: Ethik (1677). 4. Teil, 7. Lehrsatz, hier zitiert nach der Ausgabe von Helmut Seidel. Leipzig 1982, S. 233.
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ungewohnte Auge entweder übersieht oder doch nicht weiter beachtet" und die doch „die wichtigsten Organe [...] für die Erhaltung der Bewegung im ganzen Mechanismus unseres Leibes" 54 sind. Eine gleichsam sezierende Aufmerksamkeit nimmt nun die Natur des Menschen und insbesondere seine egoistischselbstsüchtigen Bestrebungen in den Blick - und erhebt diese zu den eigentlichen Triebfedern gesellschaftlicher Dynamik.Alle diese Faktoren bewirken einen veränderten Einsatz der metaphorischen Rede von unsichtbaren' Regelgrößen. Ihren besonderen Status gewinnt diese Rede bereits durch ihren Kontext: Die metaphorische Umschreibung invisibler Steuerungsorgane findet sich vornehmlich in moralphilosophischen Überlegungen zur Deutung und Erklärung von komplexen Koordinationsleistungen in arbeitsteilig organisierten Wachstumsgesellschaften des 18. Jahrhunderts. Eine der ersten Ausprägungen ist Mandevilles FABLE OF THE BEES, die 1714 in London gedruckt wird. Der Vergleich zwischen einem altruistisch und einem eigennützig organisierten Bienenstock kommt zu dem Schluss, dass der egoistisch enthemmte Bienenstock weitaus besser floriert als der durch Triebunterdrückung gekennzeichnete Tugend-Staat. Eine theoretisch ausgearbeitete Argumentation, wie die Umwandlung von privaten Lastern in öffentliche Vorteile funktioniert, liefert Mandeville nicht. Die Stelle einer systematischen Erklärung nehmen vielmehr Illustrationen und metaphorische Modellierungen ein: Ein „schlauer Trick" der von „Politik" unterrichteten „Tugend" und die „vorgeschriebene Bahn" (der Gesellschaft) fuhren zum allgemeinen Ausgleich und also dazu, dass „der Allerschlechteste sogar / Fürs Allgemeinwohl tätig war".55 Nachdem Hutcheson im erstmals 1728 veröffentlichten ESSAY ON THE N A T U R E AND CONDUCT OF THE PASSIONS AND AFFECTIONS v o n e i n e r
„invi-
sible union" der Gesellschaft gesprochen hatte, benutzt sein Schüler Smith die Metapher „invisible hand" - insgesamt nur drei Mal und eher beiläufig, doch überaus wirkungsvoll. In seinem wissenschaftstheoretischen Aufsatz THE PRINCIPLES WHICH L E A D AND D I R E C T PHILOSOPHICAL ENQUIRIES; ILLUSTRA-
TED BY THE HISTORY OF ASTRONOMY fungiert die Metapher als psychologisches Hilfsmittel zur Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie. Der Ausdruck veranschaulicht hier eine vorläufige Erklärung für Phänomene, deren eigentlicher Ursprung noch nicht verstanden oder aufgedeckt wurde. Sowohl in der THEORY OF MORAL SENTIMENTS von 1 7 5 9 wie im 1 7 7 6 veröffent-
lichten Hauptwerk WEALTH OF NATIONS erscheint die Metapher als Lösung ftir das Paradoxon der gesamtwirtschaftlichen Koordination aus einzelwirtschaftlicher Entscheidungsfreiheit. In beiden Fällen aber funktioniert der metaphorische Ausdruck als eine black box zur Umschreibung von Koordinationsmechanismen, die auf andere
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Mandeville: Die Bienenfabel, S. 19.
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Ebenda, S. 84.
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4. Exemplarische Analysen
Weise nicht verbalisierbar sind. Hintergrund der von moralphilosophischen Problemen ausgehenden und zur Begründung der modernen Wirtschaftswissenschaft führenden Überlegungen sind signifikante Steigerungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die marktwirtschaftlich strukturierten Tauschprozesse weisen bereits zu dieser Zeit eine solche Komplexität auf, dass ihre Berechnung bzw. mathematische Modellierung unmöglich ist. Smith' metaphorische Aussage von der „invisible hand", durch die Einzelindividuum und Gesellschaft „as in many other cases" geführt werden, lässt sich dementsprechend zur Behauptung entfalten, dass im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Lösung des Koordinationsproblems systemimmanent erfolgt und die Notwendigkeit einer gesamtwirtschaftlichen Steuerungsinstitution entfallt. Die ökonomischen Aktivitäten der voneinander getrennten und sich selbst bestimmenden Wirtschaftssubjekte regulieren sich - so legt es der metaphorische Ausdruck nahe - in einer Weise, dass das zentrale Problem der „doppelten Kontingenz" eine ebenso suggestiv einleuchtende wie rational wenig überzeugende Lösung erfahrt. Die Reichweite dieses Grundproblems moderner Gesellschaften kann hier nicht einmal angedeutet werden; zu benennen ist nur die mit ihm verbundene Herausforderung des moral- und gesellschaftstheoretischen Denkens: Komplexe sinnbenutzende Systeme, die füreinander undurchsichtig und unkalkulierbar sind, können sich weder wechselseitig durchschauen noch prognostizieren.56 Wenn die Bildung gegenseitiger Erwartungen bezüglich des anderen Akteurs und die Handlungsorientierung an diesen Erwartungen ausgeschlossen ist - da beide Akteure die Erwartungen des jeweils anderen nicht in ihre Überlegungen einbeziehen können und also nicht wissen, ob der andere dasselbe tut - ist koordiniertes Handeln nicht möglich. Die metaphorische Ökonomik von Adam Smith bietet einen Lösungsansatz für dieses Problem, indem sie ein egoistisches Handeln als gerechtfertigtes Eigeninteresse voraussetzt (wodurch das Handeln des anderen nicht mehr unprognostizierbar bleibt) - und zugleich das Wirken einer Steuerungsinstanz behauptet, die das selbstsüchtige Streben partikularer Akteure zum allgemeinen Wohl vermittelt. Leider kann an dieser Stelle nicht mehr darstellt werden, mit welchen Mitteln Smith selbst eine Interpretation seines metaphorischen Ausdrucks vornimmt." Nur kurz sei deshalb noch einmal auf einen Metapherngebrauch hin56 57
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984, S.156. Die Interpretation der Metapher der unsichtbaren Hand' findet sich nicht in der Textstelle im WEALTH OF NATIONS, in welcher der Begriff explizit genannt wird, sondern im Buch I, Kapitel VII, in dem Smith darstellt, wie sich durch Tauschaktivitäten der im Wettbewerb stehenden Wirtschaftssubjekte das Marktsystem selbst reguliert: Das hier dargestellte „System der natürlichen Freiheit" beschreibt - ausgehend von einem Durchschnitts- oder Normalzustand - wie Anpassungsprozesse, die beim Abweichen von diesem Zustand ausgelöst werden, das System in einer Art Gleichgewichtszustand halten. Analog zu einem Regelkreissystem sorgen ökonomische Rückkopplungsprozes-
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gewiesen, der einen tropischen Ausdruck als heuristisches Modell für komplexe Zusammenhänge verwendet, die nur über ihre Eingangs- und Ausgangsdaten spezifiziert werden. Denn während die Eingangs- und Ausgangsdaten durch idealisierte, aber grundsätzlich beobachtbare Aktivitäten der Akteure (Preiswettbewerb), dynamische Konzepte (Marktpreis, Gewinn und Verlust) sowie plausible Annahmen über das Verhalten der Marktteilnehmer (Eigeninteresse) bestimmt sind, bleiben die eigentlichen Verlaufsformen und Mechanismen des marktwirtschaftlichen Anpassungsprozesses weiterhin verborgen sie sind in der Tat invisibel und selbst durch komplexe Berechnungen und Modellierungen nicht vollständig rationalisierbar. Damit wird das Attraktionspotential der Metapher noch deutlicher sichtbar. Indem sie kontra-intentionale Regelmechanismen eines zunehmend komplizierten Sozial- und Wirtschaftssystems veranschaulicht, erbringt die Rede von der „unsichtbaren Hand" illustrierende bzw. epistemisch sensibilisierende Leistungen; als Versuch zur Deutung und Erklärung von Organisationsstrukturen in selbstregulativen Systemen zielt sie zum anderen auf die Explanation von nicht direkt einsehbaren Prozessen. Dabei aber funktioniert sie als eine black box, die Eingangs- und Ausgangselemente registriert, doch eben nicht zeigt oder erklärt, wie und warum eine behauptete optimale Allokation von Interaktionen und Ressourcen mitsamt der Herstellung allgemeiner Wohlfahrt vor sich geht. Die bis ins 20. Jahrhundert beobachtbare Attraktionskraft der Metapher resultiert aus eben diesem ambivalenten epistemischen Status und einem konnotativen Reichtum, der weit in die europäische Ideen- und Imaginationsgeschichte zurückreicht. Denn wie gezeigt, gehen in die metaphorische Rede vielfaltige Wissensbestände und Vorstellungskomplexe ein - von den bereits in der Antike tradierten Bildern der vorhersehenden, wissenden und umsichtigen Hand über chiromantische und chirologische Deutungspraktiken bis zu anatomischen Untersuchungen, die schon im 16. und 17. Jahrhundert ermitteln, auf welchen biologischen Prinzipien die komplexen Leistungen der greifenden und wahrnehmenden Hand beruhen. Während schon die sichtbare Hand - deren Muskelstränge und Nervenbahnen man durch zergliedernde Sektionen immer genauer aufklärt und in-
se (Wettbewerb und Eigeninteresse) dafür, dass die Preise und Mengen stets zu ihren (langfristigen) Durchschnittswerten tendieren. In den einschlägigen Textbüchern zur Thematik finden sich noch heute fast wortwörtliche Wiedergaben der Beschreibung dieses Anpassungsmechanismus. Das von Smith projektierte „System der natürlichen Freiheit" muss als Entwurf einer Interpretation der Metapher betrachtet werden. Wie in der THEORY OF MORAL SENTIMENTS hat die metaphorische Rede von der unsichtbaren Hand' auch im WEALTH OF NATIONS nur die Funktion eines Stellvertreters für die eigentliche Theorie der markwirtschaftlichen Selbstorganisation. Ohne eine solche Theorie muss die Metapher als Erklärung für ein Koordinationsproblem betrachtet werden, deren erkenntnistheoretischer Gehalt auf einem Niveau mit dem Metaphemgebrauch in d e r HISTORY OF ASTRONOMY s t e h t .
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4. Exemplarische Analysen
strumentalisiert - Rückschlüsse auf (verborgene) Eigenschaften oder Spezialkommunikationen ermöglichen soll, macht die übertragende Rede von der unsichtbaren Hand noch weitergehende Karriere: Sie setzt Vorgänge ins Bild, die eigentlich unbeobachtbar sind - indem sie (virtuell) aus partikularen Handlungssequenzen regelmäßige, das heißt vom Standpunkt eines übergeordneten Beobachters sinnvoll geordnete Strukturen hervorgehen lässt. Diese sinnvoll geordneten Strukturen aber sind Ergebnis vorgängiger Konstruktionen: Ein als optimal ausgezeichneter Zustand wird so beschrieben, als sei er das Ergebnis eines verborgenen Koordinationsorgans, das kontingente und partikulare Handlungen auf einer höheren Ebene zusammenfuhrt und sinnhaft kombiniert. - Möglicherweise aber garantieren gerade diese pseudosinnlichen und zugleich pseudorationalen Potentiale die Suggestionskraft einer Metapher, die biomorphe, soziomorphe und technomorphe Modellvorstellungen nahezu unauflöslich ineinander verschlingt. Genau zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung von Adam Smith' WEALTH OF beginnt der an der Karlsschule ausgebildete Mediziner Friedrich Schiller mit der Niederschrift eines Textes, der invisible Steuerungsorgane menschlichen Handelns auf gleich mehreren Ebenen in Szene setzt. Sein Fortsetzungsroman D E R GEISTERSEHER, dessen erste Abschnitte er am 9. Oktober 1786 an den Verleger Göschen übermittelt und dessen Anfang im vierten Heft der THALIA im Januar 1 7 8 7 erscheint, wird zu einem sensationellen Erfolg und markiert mit dem Einsatz eines neuen literarischen Erzählens zugleich einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einer „autonomen", von moralischer Didaxe befreiten Literatur. Seine dichten Referenzen auf Wissens- und Vorstellungskomplexe der Entstehungszeit - insbesondere aus den Sektoren eines unsicheren Wissens über Geheime Gesellschaften und Physiognomik, Arkanpolitik und geisterbeschwörende Machinationen - erlauben es, die literarische Modellierung von Erkenntnissen aus divergierenden Bereichen zu beobachten und umfassend zu kontextualisieren - und so zur Beschreibung und Erklärung jener komplizierten Transformationen beizutragen, die Wissen und Literatur miteinander verbinden. NATIONS
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4.1.2 Arkanpolitik und Physiognomik, Geister- und Regierungswissen Im Frühjahr des Jahres 1786 befindet sich Friedrich Schiller in einer Krise. „Ich bin mürrisch, und sehr unzufrieden", klagt er am 1. Mai aus Dresden an Ludwig Ferdinand Huber: „Kein Pulsschlag der vorigen Begeisterung. Mein Herz ist zusammengezogen und, die Lichter meiner Phantasie sind ausgelöscht."1 Doch gibt es einiges zu lesen: Im Mai-Heft der BERLINISCHEN M O NATSSCHRIFT erscheint eine panegyrische Darstellung der dem Körner-Kreis nahestehenden Elisa von der Recke über ihre Heilung vom Geistersehen mitsamt einer ausfuhrlichen Einleitung der Herausgeber und einer knappen Nachschrift der Autorin über das Wirken des geheimnisumwitterten Geisterzitierers Cagliostro.2 Im selben Heft findet sich ein Beitrag Johann Erich Biesters über die drohende VERBREITUNG DES KATHOLICISMUS durch die „im Dunkeln herumschleichenden gar zu geheimen Gesellschaften"3 sowie ein ausführlicher Aufsatz über Venedig mit einer Darstellung des Tribunals der Staatsinquisition und ihrer unheimlichen Strafmaßnahmen.4 Die im Frühjahr 1786 anonym veröffentlichte ENTHÜLLUNG DES SYSTEMS DER WELTBÜRGER-REPUBLIK aus der Feder des Ernst August Anton von Göchhausen verwirrt die Gemüter, wird doch hier die von zahlreichen Zeitgenossen und auch von Schiller selbst beobachtete „Anarchie der Aufklärung" einem verborgenen und zugleich omnipräsenten „Jesuitism" zugeschrieben, zu dessen Exemplifizierung die Geschichte eines Fürsten berichtet wird, der mittels undurchschaubarer Manipulationen „erst fascinirt, dann gelenckt ward, wohin gescheute Leute ihn haben wollten".5 Im Juni publiziert die BERLINISCHE MONATSSCHRIFT einen weiteren
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Friedrich Schiller an Ludwig Ferdinand Huber. Brief vom 1. Mai 1786. Werke. Nationalausgabe. 24. Bd.: Briefwechsel. Schillers Briefe 1785-1787. Weimar 1989, S. 51. Elisa an Preißler. Nebst einer Vorerinnerung der Herausgeber und einer Nachschrift der Verfasserinn Frau von der Recke in Mitau, über Cagliostro. In: Berlinische Monatsschrift vom Mai 1786, S. 385-398. Johann Erich Biester: Verbreitung des Katholicismus. In: Berlinische Monatsschrift vom Mai 1786, S. 436-457, Zitat S. 438. Auszüge aus einer neuen, noch ungedruckten Beschreibung von Venedig. Von einem Manne, welcher sich drei Jahre daselbst aufgehalten hat. In: Berlinische Monatsschrift vom Mai 1786, S. 457-480. [Ernst August Anton von Göchhausen:] Enthüllung des Systems der WeltbürgerRepublik. In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers. Wahrscheinlich manchem Leser um zwantzig Jahre zu spät publizirt. Rom [Leipzig] 1786, S. 301. Die Schrift aus der Feder des ehemaligen preußischen Offiziers und späteren sächsischen Kammerassessors bündelt einerseits konservative Vorwürfe an eine Aufklärung, der man unterstellt, durch „offen vorgetragene, so allgemein als möglich gehaltene Philosophie" (S. 215) eine „allgemeine Anarchie im Reich der Geister, und im gemeinen Wesen" herbeiführen zu wollen (S. 260). Zum anderen benennt sie als Träger dieser Bewegung einen geheimgesellschaftlichen Kollektivakteur, der jedoch nur Instrument und Teil eines noch geheimeren Planes sei. „Tausende arbeiten fur unseren Plan, ohne zu wissen, für wen, und zu welchem Endzweck", weiht ein numinoser „Meister X" seinen
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4. Exemplarische Analysen
Beitrag zu Cagliostro und entdeckt in dessen angeblich chiffrierter Kommunikation mit „unbekannten Obern" das „nehmliche Geheimnis der Bosheit, womit Europa sich itzt so gutwilligerweise täuschen läßt".6 Nachdem Prinz Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg in der BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT vom Juli 1786 die Möglichkeiten einer Kommunikation mit Geistern bejaht7 und im gleichen Heft der umfangreiche Aufsatz NOCH ETWAS ÜBER GEHEIME GESELLSCHAFTEN IM PROTESTANTISCHEN DEUTSCHLAND das 18 Monate andauernde Versteckspiel um einen „verlarvten Kryptokatholiken" und „heimlichen Jesuiten der vierten Klasse" durch namentliche Identifizierung des Darmstädter Oberhofpredigers Johann August Starck beendet,8 nimmt Schillers Untätigkeit ein Ende. Angeregt von diesen Nachrichten findet er die Idee für ein Sachbuch-Projekt, das er im Dresdner Sommer gemeinsam mit dem begeisterungsfahigen Freund Huber entwickelt und das mit dem Titel GESCHICHTE DER MERKWÜRDIGSTEN REBELLIONEN UND VERSCHWÖRUNGEN 1 7 8 8 er-
scheinen wird.9 - In den publizistischen Kontroversen des Frühjahrs und Sommers 1786 entdeckt er zugleich das Figurenarsenal und den Plot fur einen Erzähltext, dessen erste Abschnitte er am 9. Oktober 1786 an den Verleger Göschen übermittelt: DER GEISTERSEHER. Der in Fortsetzungen gedruckte Text, dessen Anfang im Januar 1787 im vierten Heft der THALIA erscheint, wird zu einem sensationellen Erfolg und gibt dem finanziell bedrängten Verfasser die Chance, lang aufgelaufene Schulden abzutragen - obwohl es Schiller zunehmend schwer fällt, „in eine planlose Sache Plan zu bringen, und so viele zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen".10 Nicht nur diese Schwierigkeiten, sondern auch andere Pläne verhindern die weitere Arbeit, so dass die vom
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masonisch interessierten Gesprächspartner Wilhelm St. und damit auch den Leser ein: Die Freimaurerlogen und ihre Mitglieder sind nur unwissende Werkzeuge in den Händen eines omnipotenten und omnipräsenten „Jesuitism", der durch „Alleinherrschaft der kalten Vernunft über Menschenköpfe, und Herzen" nicht weniger als die Restitution der „politischen Universalmonarchie Roms" anstrebt (S. 286 und 290). Dazu jetzt umfassend Verf.: Poesie und Konspiration, S. 298-324. [Anonym:] Cagliostros ägyptische Pyramiden. In: Berlinische Monatsschrift vom Juni 1786, S. 566-568, hier S. 567. Prinz Friedrich Eugen von Württemberg: Über Eilsens Aufsatz im Mai der Berliner Monatsschrift 1786. In: Berlinische Monatsschrift vom Juli 1786, S. 1-9. [Anonym:] Noch etwas über Geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland. In: Berlinische Monatsschrift vom Julius 1786, S. 44-104. Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen aus den mittlem und neuern Zeiten. Bearbeitet von verschiedenen Verfassern, gesammelt und herausgegeben von Friedrich Schiller. Erster [und einziger] Band. Leipzig 1788. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner. Brief vom 17. Mai 1788. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 25, S. 90. Vorangegangen war der Bericht über die Aufnahme der Fortsetzung im fünften Heft der THALIA: „Hier macht die Thalia wieder schrecklich viel Aufsehen; sie circuliert durch alle Häuser [...] Soviel ist indessen gewiß, dass ich mir diesen Geschmack des Publicums zu Nutzen machen soviel Geld davon ziehen werde, als nur immer möglich ist."
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Publikum dringend erwartete Fortfuhrung erst im April 1788 erscheint. Nachdem die dritte, wiederum nach Jahresfrist im April 1789 veröffentlichte Folge eine retrospektive Aufschlüsselung versucht, die der Schluss des „Ersten Buches" vorschnell angekündigt hatte, integriert Schiller mit dem großangelegten „philosophischen Gespräch" ein eigenes Interessengebiet; die kurz danach erschienene vierte Folge fuhrt mit der Gestalt der „schönen Griechin" ein weiteres, den Autor in seinen PHILOSOPHISCHEN B R I E F E N bewegendes Thema ein. Als diese Folgen im sechsten und siebten Heft der Thalia erschienen sind, muss Schiller nach Jena aufbrechen, um seine universalhistorischen Vorlesungen zu beginnen - und so kommt es im Herbst 1789 zu einem zweifachen Abschluss des Projekts. Im achten Heft der T H A L I A lässt Schiller einen Text unter dem Titel D E R A B S C H I E D drucken, der mit dem Nebentitel E I N F R A G MENT A U S D E M ZWEITEN B A N D E DES GEISTERSEHERS Hoffnungen auf Ergänzung weckt; außerdem legt er eine Buchausgabe vor, die er in Nachauflagen von 1792 und 1798 „verbessert" und „vermehrt". Doch ist der Fragment gebliebene Roman nicht allein wegen seiner Entstehungsgeschichte von Interesse." Der konzeptionell uneinheitliche und gleichwohl spannende Text kann als Auftakt eines literarischen Genres sowie als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer „autonomen", von moralischer Didaxe befreiten Literatur gelten. Zugleich entwickelt er in narrativen Verfahren und Verweisstrukturen ein bis heute beeindruckendes Spiel mit Wissensstufen und Erkenntnisgraden.'2 Somit erlaubt der Text, mit Fortsetzungsankündigung begonnen und vom Publikum als „äusserst interessanter
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Vgl. dazu Adalbert von Hanstein: Wie entstand Schillers Geisterseher? Berlin 1903; Walter Bußmann: Schillers Geisterseher und seine Fortsetzer. Ein Beitrag zur Struktur des Geheimbundromans. Göttingen 1960; Klaus Deinet: Friedrich Schiller. Der Geisterseher. München 1991; Kurt Oesterle: Taumeleien des Kopfes. Schillers Hemmungen, einen Roman zu beenden, und die Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist der Theorie. In: Martin Lüdke, Delf Schmidt (Hrsg.): „Siegreiche Niederlagen". Scheitern: die Signatur der Moderne. Reinbek 1992, S. 42-61; Mathias Mayer: Anhang. In: Friedrich Schiller: Der Geisterseher. Stuttgart 1995, S. 195-243. Die musterbildende Wirkung von Schillers GEISTERSEHER erkenn bereits die Zeitgenossen; vgl. etwa die Aussage in der Rezension von Carl Grosses Roman DER GENIUS. AUS DEN PAPIEREN DES MARQUIS C * VON G * * . In: A l l g e m e i n e D e u t s c h e B i b l i o t h e k
112 (1792), S. 107: „Zuverlässig würden wir ohne Schillers Geisterseher und den großen Beyfall, den dieses vortreffliche Werk erhielt, weder diesen noch ähnliche Werke erhalten haben, die offenbar durch jene Schrift zuerst veranlaßt wurden." Die gattungsgeschichtliche Novität betonen auch Walter Bußmann: Schillers „Geisterseher" und seine Fortsetzer. Ein Beitrag zur Geschichte des Geheimbundromans. Diss. Göttingen 1960, hier S. 38 die Bestimmung als „Anfang der literarischen Form des Geheimbundromans"; ähnlich Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in „Wilhelm Meisters Lehrjahre", hier S. 10 und 12 die Rubrizierung des Werkes als Prototyp des „deutschen Geheimbundromans", der „das Geheimnis zum erstenmal aus der Realität in den Bereich der eingestandenen Fiktion entrückte und ihm dort einen Spielraum immer neuer Aufdeckungen und Überhöhungen verschaffte."
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4. Exemplarische Analysen
Aufsatz" und „meisterhaft geschriebene Erzählung" begrüßt,13 eine genaue Observation ambivalenter Strategien im Umgang mit zeitgenössischen Lesererwartungen, Wissenshorizonten und Techniken der Illusionserzeugung. In segmentierender Schrittfolge ist zu klären, wie Erzählverfahren changierende Erkenntnisse und (unsicheres) Wissen in ein zwischen Fiktion und Faktualität changierendes Szenario integrieren, (II) warum die beeindruckend dichten Referenzen auf Wissensbestände erzeugt werden; (III) welche Konsequenzen diese ästhetische Modellierung von Wissen für die Entwicklung des Literatursystems hatte. (I) Narrative Verfahren, interne Verweisstrukturen. Schon paratextueller Rahmen und Eingangspassage insinuieren einen uneindeutigen Status des Textes zwischen Authentizität und Fiktion. Denn nach dem Titel folgt eine (fingierte) Quellenangabe, die je nach Ausgabe anders ausfallt: „Aus den Papieren des Grafen von O." heißt es in der THALIA-Veröffentlichung; „Eine Geschichte aus den Mémoires des Grafen von O**" in der ersten Buchausgabe von 1789; in den zwei von Schiller autorisierten Buchausgaben von 1792 und 1798 dann „Aus den Mémoires des Grafen von O**". In der Buchausgabe folgt dieser schwankenden Rubrizierung das Credo eines Berichterstatters, eine Begebenheit wiederzugeben, „die vielen unglaublich scheinen wird, und von der ich großenteils selbst Augenzeuge war".14 Die nachfolgend ausgesprochene Selbstverpflichtung auf „reine, strenge Wahrheit" markiert den Anspruch auf faktuale Geltung des Berichteten; die Deklaration als „Schlüssel" zu „einem gewissen politischen Vorfalle" steigert die Erwartung realhistorischer Aufschlüsse nachhaltig. Zugleich relativiert die Eingangspassage den behaupteten authentischen Charakter durch Signale der Uneindeutigkeit, in dem sie den vorliegenden Text als „Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes" exponiert und Leitbegriffe einer faszinierten Lektüre einführt: „Man wird über die Kühnheit des Zwecks erstaunen, den die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen imstande ist; man wird über die Seltsamkeit der Mittel erstaunen, die sie aufzubieten vermag, um sich dieses Zwecks zu versichern."' 5 Mit diesem zwischen Authentizität und Fiktion changierenden Gestus operiert der Text weiter. Einerseits werden konkrete Angaben zum Handlungsort Venedig und zu realen Institutionen der Lagunenstadt gemacht, Namen durch Initialen abgekürzt und Briefe als scheinbar authentische Dokumente mit
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So die Rezension zu Heft 3 und 4 der THALIA in: Gothaische gelehrte Zeitungen vom 20. Juni 1787, S. 404f.. 14 Friedrich Schiller: Der Geisterseher. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 16. Bd.: Erzählungen. Hrsg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 45. 15 Ebenda, S. 45; Hervorhebungen im Original.
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Kommentaren des als Herausgeber auftretenden Autors Schiller integriert.16 Andererseits erzeugen ungenaue Zeitangaben („im Jahr 17**") und das Verschweigen von Klarnamen eine Unbestimmtheit, die den fiktiven Charakter des geschilderten Geschehens unterstreicht. Eine Verstärkung erfahren fingierte Authentizität und signalisierte Fiktionalität durch die Attribute des mehrfach konnotierten Handlungsortes: Nahezu alle geschilderten Ereignisse geschehen in der Stadt Venedig, die im Gegensatz zur „Ewigen Stadt" spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Ort des Zerfalls und des Abenteuers galt;17 die durch den Grafen von O** erzählte Handlung beginnt zur Karnevalszeit und also in einer Zeit sanktionierter Simulation. - Diese Attribute strukturieren das im Textverlauf präsentierte Geschehen, das sukzessive als großangelegte Verschwörung gegen einen protestantischen Prinzen deutscher Herkunft enthüllt wird. Einen Hinweis auf die Qualität dieser Enthüllung gibt bereits die Eingangswendung von der erstaunlichen „Kühnheit der Bosheit" und der „Seltsamkeit" ihrer Mittel. Indem der Erzähler das „Mystère d'iniquité" mit der menschlichen Eigenschaft der Kühnheit ausstattet und so gleichsam personalisiert, lenkt er den Blick des Lesers auf die Spur verborgener Akteure, die als heimliche Agenten böser Pläne auftreten und entlarvt werden sollen. Weitere handlungsimmanente Hinweise auf die Ansatzpunkte konspirativer Strukturen finden sich in der Charakteristik der Hauptfigur, wenn es über den Prinzen von ** heißt: „Niemand war mehr dazu geboren, sich beherrschen zu lassen, ohne schwach zu sein. Dabei war er unerschrocken und zuverlässig, sobald er einmal gewonnen war, und besaß gleich großen Mut, ein erkanntes Vorurteil zu bekämpfen und für ein anderes zu sterben."18 Auch das Ziel der personal bestimmten „Bosheit" wird angedeutet, indem der Berichterstatter über die Situation des zentralen Protagonisten konstatiert, dass er „als der dritte Prinz seines Hauses ... keine wahrscheinliche Aussicht zur Regierung" hat.19 Die festgestellte Ordnung gerät ins Wanken, als der unheimliche Hauptakteur der nachfolgenden Verwicklungen erscheint und bereits bei seinem ersten Auftritt die typischen Attribute des Geheimnisträgers präsentiert: Ein als „Armenier" maskierter Unbekannter verfolgt den Prinzen und seinen Begleiter, lässt sich trotz
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Die Kommentare des fingierten Herausgebers (mit expliziter Anrede an „meine Leser") waren in der THALIA-Fassung enthalten und wurden in der Buchausgabe von 1789 gestrichen; vgl. den kritischen Apparat in Schillers Werke. NA Bd. 16, S. 431-443. Die an der Adria liegende und dem Orient zugewandte Metropole war eine Zentralstation von Bildungsreisenden aus ganz Europa und also ein Brennspiegel der Tendenzen des Zeitalters. Neben dem BM-Beitrag vom Mai 1786 nutzte Schiller weitere Quellen wie etwa die vom Kanzler der Karlsschule Le Bret stammende STAATSGESCHICHTE DER REPUBLIK VENEDIG u n d d e s s e n VORLESUNGEN ÜBER DIE STATISTIK, in d e n e n u . a .
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der Saal der Staatsinquisition in ähnlicher Weise wie in Schillers Erzähltext geschildert wurden; vgl. Schillers Werke. NA Bd. 16, S. 428f. Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA. Bd. 16, S. 46. Ebenda, S. 46.
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4. Exemplarische Analysen
Täuschungsmanöver nicht abschütteln und offeriert durch seine Kenntnis des Namens des inkognito in Venedig weilenden Prinzen und die kryptische Angabe einer Todesstunde seinen Status als Inhaber eines geheimnisvollen Wissens über unzugängliche Zusammenhänge. Die geheimnisumwitterte Präsenz des maskierten Unbekannten verstärkt sich, als sechs Tage später die Nachricht eintrifft, dass am bezeichneten Abend um neun Uhr tatsächlich der bisherige Erbprinzen gestorben sei. Die Potenzen des unbekannten Maskenträgers reichen jedoch noch weiter: Er dirigiert die rasche Tat der Staatsinquisition zur blutigen Sühne einer dem Prinzen geschehenen Beleidigung; er informiert dessen Diener und er inszeniert eine Geisterbeschwörung mit anschließender Entlarvung des „sizilianischen Magiers", der sich selbst als Betrüger und den „Armenier" als omnipräsenten wie omnipotenten Lenker einer undurchschaubaren Aufklärung identifiziert. Obgleich der Prinz zunächst alle diese Vorgänge als Mittel einer umfassenden Intrige durchschaut, geht in seinem Wesen nun ein merkwürdiger Wandel vor: Bislang ernst und zurückgezogen, stürzt er sich nach diesen Erlebnissen in den Trubel äußeren Lebens und tritt der libertären Gesellschaft „Bucentauro" bei, „die unter dem äußerlichen Schein einer edeln vernünftigen Geistesfreiheit die zügelloseste Lizenz der Meinungen wie der Sitten begünstigte".20 Zugleich vermittelt ihm eine „schlimme Hand" den Lektürestoff, der aus dem „Schwärmer" einen „Zweifler" und zuletzt einen „ausgemachte[n] Freigeist" macht.21 Unter dem Einfluss einer von ominösen Agenten vermittelten „neuen Philosophie" gerät er schließlich in einem „fortdauernde[n] Zustand von Trunkenheit, von schwebendem Taumel"22 und verschuldet sich. Als sich sein Fürstenhaus aufgrund manipulierter Meldungen über sein Verhalten von ihm lossagt und der Prinz den Reizen einer unbekannten „schönen Griechin" erliegt, wird er vollständig von den Kabalen des Marchese Civitella und seines Oheims, des Kardinals A***i, abhängig. Der berichtende Graf von O**, der den Prinzen aufgrund der Machenschaften einer „unsichtbaren Hand" verlassen musste, erfahrt diese Geschehnisse aus Briefen des Barons von F***, eines Vertrauten des Prinzen (der seinerseits keine Antwort empfangt, da auch der Postverkehr des Prinzen kontrolliert und manipuliert wird). Das Romanfragment endet mit der überstürzten Reise des Grafen von O** nach Venedig, wo dieser sich Aufschluss über das erhofft, was der letzte Brief des Barons von F*** nur andeutet: Der Prinz habe Civitella im Duell tödlich verletzt und werde von den Häschern des Kardinals gesucht; in einem Kloster halte er sich verborgen, verzweifelt über die rätselhafte Ermordung der Geliebten, die ihn noch auf dem Sterbebett vergebens zum Katholizismus zu bekehren versuchte. In Venedig angekommen, erfahrt der Graf von O** aus
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Ebenda, S. 106. Ebenda, S. 105f. Ebenda, S. 109.
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einer Epistel seines erkrankten Informaten, dass alle Bemühungen vergeblich waren: „Reisen Sie zurück, liebster O**, wo Sie hergekommen sind. Der Prinz bedarf Ihrer nicht mehr, auch nicht meiner. Seine Schulden sind bezahlt, der Kardinal versöhnt, der Marchese wieder hergestellt. Erinnern Sie sich des Armeniers, der uns voriges Jahr so zu verwirren wusste? In s e i η e η Armen finden Sie den Prinzen, der seit fünf Tagen - die erste Messe hörte."23 Damit scheint ein Ziel der großangelegten Verschwörung realisiert. Mit seiner Konversion ist der Prinz ein Apostat und also Opfer einer konspirativ betriebenen „Proselytenmacherei" geworden. Verschiedenen Hinweisen innerhalb des Erzähltextes aber sind weitergehende Absichten zu entnehmen: Das konspirative Netzwerk, das aus personalen Handlungsträgern wie dem rätselhaften „Armenier", dem „sizilianischen Magier" als seiner „Puppe", dem vielfach begabten Diener Biondello, dem Marchese Civitella und dem Kardinal A***i sowie verborgenen Akteuren der „schlimmen" „unsichtbaren Hand" besteht, intendiert nicht nur den Übertritt des Prinzen zum Katholizismus; es zielt zugleich auf ein Verbrechen, auf das der Prinz vorbereitet wird und das ihn auf einen Thron heben soll, auf den er keinen Anspruch hat.24 Dieser umfassenden, im Erzähltext nur angedeuteten Zielstellung entspricht ein umfassender Apparat heimlicher Mittel, deren Wirkungsweise der Erzähltext meisterhaft in Szene setzt. Denn die personalen Elemente des imaginierten konspirativen Netzwerkes erfüllen nicht nur katalytische Funktionen innerhalb einer spannenden, weil permanent die Einbildungskraft mobilisierenden Darstellung. Sie operieren zugleich in jenem Status der Unentscheidbarkeit, der sowohl die Textfiguren wie den mitbeobachtenden Leser vor die Aufgabe einer Erklärung uneindeutiger Geschehensmomente stellt. Die Un23 24
Ebenda, S. 159, Hervorhebung im Original. Vgl. dazu neben dem zehnten Brief des Baron von F*** verschiedene Vorausdeutungen innerhalb des Textes, so vor allem den das erste Buch abschließenden Kommentar des Grafen von O** über die „unerhörte Teufelei" und den „schwarzen Anschlag, vor dessen entferntester Annäherung ihn sein guter Genius warnte": „Wenn man ihn nunmehr auch nach dieser glücklichen Vorbereitung dessenungeachtet fallen sieht;[...] so wird man weniger über seine Torheit spotten als über die Größe des Bubenstücks erstaunen, dem eine so wohl verteidigte Vernunft erlag. Weltliche Rücksichten können an meinem Zeugnisse keinen Anteil haben; denn er, der es mir danken soll, ist nicht mehr. Sein schreckliches Schicksal ist geendigt; längst hat sich seine Seele am Thron der Wahrheit gereinigt, vor dem auch die meinige längst steht, wenn die Welt dieses lieset; aber man verzeihe mir die Träne, die dem Andenken meines teuersten Freundes unfreiwillig fällt - aber zur Steuer der Gerechtigkeit schreib ich es nieder: Er war ein edler Mensch, und gewiß wär er eine Zierde des Thrones geworden, den er durch ein Verbrechen ersteigen zu wollen sich betören ließ." Ebenda, S. 102. Von Schillers ursprünglicher Konzeption, nach welcher der Prinz durch den Armenier verleitet werden sollte, sich durch ein Verbrecher den Weg zum Thron zu erschließen, zeugt auch der in der ThaliaFassung enthaltene (später unterdrückte) Kommentar des Grafen von O**: „Ich führe dieses mit Fleiß hier an, weil ich glaube, dass es zu einem Beweise dienen kann, wie entfernt er noch damals von jeder herrschsüchtigen Absicht gewesen ist."
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4. Exemplarische Analysen
eindeutigkeit bzw. Rätselhaftigkeit tangiert mehr oder weniger alle Personen und Konstellationen des Textverlaufs und wird durch explizite Attribute wie durch implizite Andeutungen realisiert: Der „Armenier", zentraler Mittelpunkt der im ersten Buch gesponnenen Intrige, agiert in „Maske" und „Verkleidung" und also mit den mehrfach erwähnten Appositionen des Verschwörers; die ihm zugeschriebenen Taten lassen ihn als omnipräsenten Drahtzieher eines undurchschaubaren Geschehens erscheinen und initialisieren seine Wahrnehmung als „höhere Gewalt" bzw. Instanz von „Allwissenheit" und unentrinnbarer Kontrolle.25 Der die Geisterbeschwörung inszenierende „Avantürier aus Palermo" tritt als „Magier" auf, dessen Zitation als kalkuliertes Täuschungsmanöver mit vorbereiteten Medien entlarvt werden. Für die Textfigur des scharfsinnig kombinierenden Prinzen (und damit auch für den Leser) erweist sich dieser „sizilianische Magier" rasch als „Puppe" des im Hintergrund agierenden „Armeniers", um ihn „unbeobachtet und unverdächtig, mit unsichtbaren Seilen" desto fester zu binden;26 Identität und Intention des Puppenspielers aber werden nicht aufgedeckt. Während die erste Stufe der Intrige durch den Prinzen wie den Leser erkannt und so gleichsam entschärft werden kann, ist die weiterreichende Verschwörung nicht beendet. Das nachfolgend brieflich berichtete Geschehen folgt einem nur andeutungsweise offenbarten Plan mit raffinierter Perfidie: Der vom Prinzen durchschaute Verblendungszusammenhang ist Werk des „Armeniers", der den auf seine rationalen Fähigkeiten stolzen Prinzen so in Sicherheit wiegt und sich seiner Person auf subtilere Weise bemächtigen kann. Das unausgesprochene Kalkül besteht in einer Aufwertung der personalen Vernunft bis zur Hybris, um das dann haltlos gewordene Subjekt dann manipulativ mit Liebe und Religion einzufangen und zu binden. Zur Erlangung des ersten partialen Zieles nutzt man philosophische Unterweisung durch „modernste Lektüre" sowie die durch heimliche Mittäter realisierte Erziehung zu einer Libertinage, der nichts mehr heilig ist. Die so vollzogene Emanzipation aber ist - so kommentiert es die Erzählinstanz - nur die Befreiung eines „leibeignen Sklaven, der „mit der Kette entsprungen" ist; „eben darum mußte er der Raub eines jeden Betrügers werden, der sie entdeckte und zu gebrauchen verstand".27 Die Agenten dieser subtilen Verschwörung partizipieren an der bereits erwähnten Uneindeutigkeit zentraler Textelemente. Neben der libertären Ge-
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So explizit im Kommentar des Prinzen nach den unerklärbaren Ereignissen in Venedig und während der Spazierfahrt auf der Brenta, ebenda, S. 54: „Eine höhere Gewalt verfolgt mich. Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte." Ebenda, S. 96. Ebenda, S. 104. Unmittelbar im Anschluss die Vorausdeutung: „Dass sich ein solcher fand, wird, wenn man es noch nicht erraten hat, der Verfolg dieser Geschichte ausweisen."
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heimgesellschaft Bucentauro - deren täuschender Schein mehrfach betont und ihrem verborgenen Charakter gegenübergestellt wird28 - handeln sowohl der Diener Biondelli als auch der vermeintlich durch den Prinzen gerettete Marchese Civitella zwielichtig und zweifelhaft. Mit den im hypothetischen Modus zugeschriebenen Eigenschaften der Omnipräsenz und Omnipotenz („als wenn er tausend Augen hätte, tausend Hände in Bewegung setzen könnte") und seinen ästhetischen Qualitäten als begabter Flötenspieler erweist sich Biondelli als funktionale Korrespondenzfigur des maskierten „Armeniers"; seine demonstrierte „Treue" und seine Taten (wie etwa die durch ihn inszenierte „Rettung" des Kardinalsneffen Civitella) offenbaren erst angesichts späterer Einsichten in seine Manipulation der postalischen Kommunikation des Prinzen ihre konspirativen Dimensionen. Letztes Werkzeug der umfassenden Verschwörung ist die „schöne Griechin", der der Prinz erstmals in der „schaurigkühlen Dunkelheit" der Kirche San Giorgio Maggiore begegnet. Als „romantisches Ideal von einer liebenswürdigen Schönheit" und zugleich „abgefeimte Betrügerin" mit einer „eingelernten Rolle" angelegt,29 suggerieren die Textaussagen über ihren Tod und „Spuren von Vergiftung" die Vermutung, diese katholische Deutsche „von der edelsten Abkunft" sei aus Neigung zum Prinzen von der Intrige zurückgetreten und vergiftet worden, da sie nicht länger das gefügige Werkzeug des „Armeniers" bleiben wollte.30 Schon auf der Textoberfläche weist Schillers Szenario also komplexe Strukturen zur Inszenierung eines unsicheren Wissens auf. Berücksichtigt ist dabei noch nicht einmal die den Text fundierende Bühnen- und Theatermetaphorik, die von der venezianischen Kulisse über die Masken und Verkleidungen des proteushaften „Armeniers" bis zu mehrfachen „Spiel im Spiel"Handlungen reichen. Ein solches „Spiel im Spiel" sind nicht nur die eingeschalteten Binnenerzählungen des „Sizilianers" über seine frühere Enttarnung
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Vgl. ebenda, S. 106 die Bestimmung des Bucentauro als „geschlossene Gesellschaft, die unter dem äußerlichen Schein einer edeln vernünftigen Geistesfreiheit die zügelloseste Lizenz der Meinungen wie der Sitten begünstigte"; S. 107: „der Schein von Gleichheit, der darin herrschte"; ebenda die explizite Aufnahme eines konspirationistischen Zentralattributs in der Aussage, dass dem Prinzen „der Geist des Instituts durch die Maske hindurch sichtbarer wurde". Hervorhebungen von mir, R. K. Der äußerliche Schein ist Simulacrum zur Verschleierung der tatsächlichen Bedrohung; vgl. ebenda, S. 107: „Ein geistvoller, durch feinen Witz aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhaltungen, das Beste aus der gelehrten und politischen Welt, das hier, wie in seinem Mittelpunkte, zusammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Gefahrliche dieser Verbindung." So der Autor Friedrich Schiller an Charlotte und Karoline von Lengefeld, hier zitiert nach NA Bd. 16, S. 418. Die Neuartigkeit, mit der Schiller die Figur der „schönen Griechin" als Einheit von vollendeter Schönheit mit intriganter Bosheit projektierte, wird in der Antwort der Karoline von Lengefeld deutlich, die auf die Bitte nach Mithilfe bei der Ausgestaltung abschlägig antwortet: „Ich kann mir eine liebenswürdige Schönheit nicht denken ohn' alle moralische Grazie." NA Bd. 16, S. 419.
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4. Exemplarische Analysen
durch den „Armenier" und des Marchese Civitella über die angeblich beobachtete Abschiedsbegegnung zwischen dem „Armenier" und der „schönen Griechin". Von zentraler Bedeutung für die weiterreichende Imagination ist schon der während des Ausflugs auf der Brenta erlebte pantomimische Tanz, mit dem der Prinz und seine Begleiter willkommen geheißen werden und in deren Verlauf die „Anführerin" des Tanzes, die eine Königin darstellt, „plötzlich wie von einem unsichtbaren Arme gehalten" (!) stehen bleibt, in tiefer Erstarrung verharrt, bis sie plötzlich „mit der Wut der Begeisterung in die Höhe" fahrt: „,Ein König ist unter uns', rief sie, riß ihre Krone vom Haupt und legte sie zu den Füßen des Prinzen."31 Diese inszenierte Pantomime ist einerseits funktionales Element konspirativer Machinationen, die den Prinzen zur verbrecherischen Thronübernahme motivieren sollen; sie ist andererseits bereits Element einer metapoetischen Reflexion über die Wirkung von Täuschung und Simulation - denn nicht nur die Zuschauer, sondern auch der Prinz und der berichterstattende Graf von O** sowie mit ihm der Leser sind „ungewiß, ob Bedeutung in diesem Gaukelspiel wäre, so sehr hatte der affektvolle Ernst dieser Spielerin getäuscht."32 - Schillers Erzähltext gestaltet also ein mehrfach gegliedertes Täuschungs- und Enthüllungsszenario mit variierenden Zielstellungen und Verfahren: Werden auf einer ersten Stufe mystizistische Praktiken inszeniert, die durch das Objekt der konspirativen Intrige durchschaut und entlarvt werden sollen, vollzieht sich in der zweiten Phase mit philosophischer Unterweisung und Einübung in libertäre Lebensführung eine schon schwerer erkennbare Manipulation des Opfers. Die dritte Stufe besteht in der Bereitstellung eines Liebesobjekts; die nur angedeuteten weiteren Schritte umfassen finanzielle Rettung und persönlichen Schutz bis zur erfolgten Apostasie. Diese mehrstufige Struktur der Manipulation - deren genau geplante Sukzession auf Praktiken detaillierter Menschenerkenntnis und Charakterforschung beruht33 - korrespondiert in auffalliger Weise einer Strategie, die der konservative Publizist Ernst August Anton von Göchhausen nur kurz zuvor demonstriert hatte. In seiner 1786 veröffentlichten (und ähnliche „Celebrität" wie Schillers Fortsetzungsroman erlangenden) ENTHÜLLUNG DES SYSTEMS DER WELTBÜRGERREPUBLIK finden sich nicht nur Hinweise auf einen (namentlich nicht identifizierten) Fürsten, der durch Machinationen „erst fascinirt, dann gelenckt ward, wohin gescheute Leute ihn haben wollten", sondern auch detaillierte Angaben zu den vielfältigen manipulativen Fähigkeiten des seit 1773 offiziell aufgeho-
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Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 53. Vgl. dazu Monika Schmitz-Emans: Zwischen wahrem und falschem Zauber: Magie und Illusionistik als metapoetische Gleichnisse. Eine Interpretation zu Schillers „Geisterseher". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), Sonderheft: Klassik, modern. Für Norbert Oellers zum 60. Geburtstag, S. 33-45. Etwa Friedrich Schiller: Der Geisterseher. N A Bd. 16, S. 109: „Man hatte seine Blößen durchschaut und die Leidenschaft gut berechnet, die man in ihm entzündet hatte."
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benen, doch heimlich angeblich weiterhin omnipräsenten und omnipotenten Jesuitenordens. Zugleich hatte Göchhausens Szenario von einer angeblich „römischjesuitisch-cosmopolitischen Weltverschwörung" einen stufenweise gegliederten Plan vorgestellt, der als Präfiguration von Schillers Romantext gelesen werden kann: Durch Unterstützung von Mystizismus und Aberglauben sowie forcierte Freigeisterei und deistische Unterminierung der Offenbarungsreligion sollte eine Werte und Normen auflösende „allgemeine Anarchie"34 erzeugt werden, um den Boden für die Machtergreifung der unumschränkten „römischen Monarchie" zu bereiten. Die Werkzeuge dieses weitausgreifenden Plans benannte Göchhausen ebenso deutlich: Geisterseher und Goldmacher, Philosophen und Schriftsteller, geheime Gesellschaften und wundertätige „Systemschöpfer". Damit hatte er Stichworte gelieferte, die auch Schillers Erzähltext leiten und nun zu rekonstruieren sind. (II) Externe Referenzen. Wie die bisherige Forschung gezeigt hat, lässt sich Schillers Erzähltext als Kompilation und ästhetische Verarbeitung verschiedener Vorstellungskomplexe der 1770er und 1780er Jahre beschreiben: Zu entdecken sind Referenzen auf die Geheimbund-Publizistik, auf die Diskussion um das Geistersehen und auf die aktuelle Debatte um „Anarchie" und „Despotie" der Aufklärung.35 Zugleich finden sich Anschlüsse an die einsetzende mediale Stilisierung der Lagunenstadt Venedig sowie an die in zahlreichen Zeitschriften und Büchern zirkulierende Imaginationsgeschichten von „unbekannten Oberen" und vermeintlich jesuitischen Netzwerken.36 Eine zentrale Quelle von Schillers literarischem Text wurde bereits genannt, von der Forschung freilich noch nicht in entsprechendem Maße gewürdigt - dabei stellt gerade sie eine entscheidende Klammer zwischen der Welt eines (uneindeutigen) Wissens und dem initiatorischen Erzählen im Geisterseher dar. Es ist die schon erwähnte ENTHÜLLUNG DES SYSTEMS DER WELTBÜRGER-REPUBLIK von Ernst August Anton von Göchhausen, die als wissensgeschichtlicher Subtext 34 35
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Ebenda, S. 260 Neben dem von Hans Heinrich Borcherdt besorgten Kommentar der Nationalausgabe vgl. Carl Graf von Klinkowstroem: Quellenkritische Bemerkungen zu Schillers Geisterseher. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 14 (1958), S. 385-388; Benno von Wiese: Schiller. Stuttgart 1959, S. 314-329; Marion Beaujean: Zweimal Prinzenerziehung: ,Don Carlos' und .Geisterseher'. Schillers Reaktion auf Illuminaten und Rosenkreuzer. In: Poetica 10 (1978), S. 217-235; Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 343-397; Ulrike Rainer: Schillers Prosa. Poetologie und Praxis. Berlin 1988; Klaus Deinet: Friedrich Schiller: „Der Geisterseher". München 1991; PeterAndré Alt: Schiller. München 2000, S. 567-585; Matthias Hurst: Im Spannungsfeld der Aufklärung. Von Schillers Geisterseher zur TV-Serie The X-Files: Rationalismus und Irrationalismus in Literatur, Film und Fernsehen. Heidelberg 2001, S. 91-235. Dazu Stefan Nienhaus: Ein Irrgarten der Verschwörung. Das Venedig-Sujet und die Tradition des Bundesromans. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 73 (1992), S. 87-105.
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4. Exemplarische Analysen
bzw. Préfiguration von Schillers fiktionaler Narration gelesen werden kann. Die hier vorgeführte Initiation in das „Geheimnis der Bosheit" („mystère d'iniquité") des in vielfachen Masken omnipräsenten „Jesuitism" entspricht exakt der sukzessiven Offenlegung einer weitreichenden Konspiration in Schillers Erzähltext, der schon in seiner Eingangspassage die erstaunliche „Kühnheit des Zwecks" hervorhebt, „den die Bosheit zu entwerfen und zu verfolgen imstande ist" und den permanenten Wechsel von Täuschung und Entlarvung als Handlungsauslöser wie Katalysator weiterer Verwicklungen exponiert. Die durch Göchhausens „Logenmeister X." wortreich beschriebenen Mittel und Werkzeuge zur Resurrektion der römischen Weltmonarchie finden eine literarische Exemplifizierung in Schillers Text, der die „Seltsamkeit der Mittel" der Bosheit illustrieren will und dem imaginierten Netzwerk krimineller Verschwörer genau jene Maßnahmen zuschreibt, wie sie Meister X. vor dem erschreckenden Adepten (wie vor dem nichtsahnenden Leser) ausgebreitet hatte: Mystizismus und Aufklärung, Schwärmerei und Libertinage sind nach ihm nichts anderes als Bestandteile eines „großen Plans" und Ingredienzien für „römischjesuitisch cosmopolitische Zauberträncke".37 In Göchhausens Werk findet der aufmerksame Leser zugleich eine Person mehrfach erwähnt, die seit angeblich „magischen Operationen" Ende der 1770er Jahre, spätestens aber seit seiner Einkerkerung in der Bastille im August 1785 und einem aufsehenerregenden Prozess im Mai 1786 das Gespräch Europas war: Guiseppe Balsamo, dessen Erscheinung als angeblich wundertätiger Graf Cagliostro der junge Friedrich Schiller 1781 mit der kurzen Anzeige 38 CALLIOSTRO - VIEL L Ä R M E N S UM NICHTS noch ironisch abgefertigt hatte. Göchhausen aber reihte den „Hanrey und Diamanten-Dieb" in eine unsichtbare Front ein; seine „Sardanapalischen Logen" gelten als Bestandteil des verborgen gesteuerten „großen Maurischen Dramas": „Im Hintergrund hincken die Baalspfaffen, die jesuitischen Weltbürger!"39 Als Werkzeug der „Unbekannten Obern", mit denen er in chiffrierter Weise kommuniziere, hatte ihn auch der im Juni 1786 veröffentlichte Beitrag CAGLIOSTROS ÄGYPTISCHE PYRAMIDEN in der BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT dargestellt und damit eine aus masonischen Kreisen kommende Kritik an seinen Versuchen, vermeintlich ägyptische
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[Ernst August Anton von Göchhausen]: Enthüllung [...], S. 445. Friedrich Schiller: Calliostro - viel Lärmens um nichts. In: Nachrichten zum Nutzen und Vergnügen vom 10. Juli 1781 (Nr. 55), S. 219-220; wieder in Klaus Η. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. Leipzig und Weimar 1991, S. 175-176. Der kurze Artikel richtete sich gegen Cagliostros Wunderheilungen in Straßburg und die Legendenbildung um seine Person, die nach Schiller auf einer Verwechslung nationaler Gewohnheiten mit Zeichen besonderer Erwähltheit basierten: Mochte der Schlaf im Lehnstuhl und täglicher Makkaroniverzehr in Straßburg außergewöhnlich erscheinen, wäre er anderenorts kein erwähnenswertes Kuriosum. Ernst August Anton von Göchhausen: Enthüllung des Systems der WeltbürgerRepublik, S. 445f.
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
Mysterienkulte
in die Freimaurerei einzuführen, 4 0 weitergetrieben. 4 '
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Exakt
d i e s e Attribute der historischen Figur Cagliostro kehren in Schillers Fortsetz u n g s r o m a n wieder. D e r „sizilianische Magier", der als „Aventürier aus Palermo" eingeführt wird - und b e i m z e i t g e n ö s s i s c h e n Leser seit der i m S e p t e m ber 1 7 8 6 i m COURRIER DE L'EUORPE erfolgten Entlarvung die entsprechende A s s o z i a t i o n w e c k e n konnte 4 2 - trägt U n i f o r m , gibt sich für e i n e n Kapitän aus und n i m m t den kostbaren R i n g des Prinzen a n g e b l i c h nur aus Freundschaft an. 43 W e i t e r e a u f Cagliostro v e r w e i s e n d e T e x t e l e m e n t e sind die „Repetieruhr" 44 und d i e bei der Geisterzitation getragene „ w e i ß e Schürze" mit g e h e i m e n Chiffren und s y m b o l i s c h e n Figuren. 4 5 E n t s c h e i d e n d aber ist das Verhältnis d e s „Sizilianers" z u m scheinbar omnipräsenten und o m n i p o t e n t e n „Armenier", das sich i m Z u g e der G e i s t e r b e s c h w ö r u n g s o w i e in d e n a n s c h l i e ß e n d e n A u s s a g e n enthüllt: I n d e m der „Aventürier aus Palermo" als Instrument und „Puppe" d e s im Hintergrund b l e i b e n d e n „Armeniers" e r w i e s e n wird, v e r w e i s t der Erzähltext a u f die seit B e g r ü n d u n g der „Strikten O b s e r v a n z " zirkulierenden Vorstellungen v o n a n g e b l i c h allmächtigen „Unbekannten Obern", die als unsichtbare Dirigenten die ( s c h l e c h t e n ) G e s c h i c k e der A r k a n w e l t e n i m a u s g e h e n d e n 18. Jahrhundert steuern sollten.
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[Anonym:] Etwas über Cagliostro. In: Journal für Freimaurer. Als Manuskript gedruckt für Brüder und Meister des Ordens, hrsg. von den Brüdern der [Loge] zur Wahrheit im Orient von Wien 3 (5786 = 1786), S. 216-238; wieder in Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 281-292. [Anonym:] Cagliostros ägyptische Pyramiden. In: Berlinische Montsschrift vom Juni 1786, S. 566-568. Das 1787 im Verlag von Friedrich Nicolai in Berlin und Stettin erschienene Buch Elisa von der Reckes NACHRICHT VON DES BERÜCHTIGTEN CAGLIOSTRO AUFENTHALTE IN MITAU beschrieb Cagliostro als Gründer der Loge d'Adoption und ordnete ihn dem rechten Flügel der Freimaurerei zu. Die auf Geheimhaltung verpflichteten Hochgradsysteme waren - so Recke nachdrücklich - für Cagliostros Betrügereien und Geisterinszenierungen forderlich, weil die vorgefundenen Strukturen mit Aufstiegsgraden und Schweigepflicht eine Denunziation oft unmöglich machten. Im Courrier de l'Europe vom September 1786 identifizierte dessen Herausgeber Thévenaeu de Morande den angeblichen Grafen Allessandro di Cagliostro als Guiseppe Balsamo aus Sizilien; vgl. Elsie Marina Butler: Goethe und Cagliostro. In: Publications of the English Goethe-Society 17 (1946), S. 1-28, hier S. 18. F. Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 57f. Über diese Eigenschaften Cagliostros informierte die 1786 erschienene Apologie von Jean-Charles de Thilorier MÉMOIRE POUR LE COMTE DE CAGLIOSTRO, ACCUSÉ, CONTRE M . LE PROCUREUR-GÉNÉRAL,
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ACCUSATEUR, die im selben Jahr in Frankfurt in deutscher Übersetzung erschien: Verteidigungsschrift des Grafen Cagliostro, Beklagtens, entgegen den Herrn GeneralProcurator, Ankläger, mit Hinsicht auf den Herrn Kardinal von Rohan, die Gräfin de la Motte und andere Mitbeklagte. Frankfurt/M. 1786, wieder in: Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 199-244, hier S. 228f. F. Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 51; Verteidigungsschrift des Grafen Cagliostro. In: Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 228f. Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 60.
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4. Exemplarische Analysen
Mit dieser Ausstattung seiner narrativen Figur partizipiert Schiller in signifikanter Weise an aktuellen Entwicklungen des Falles Cagliostro, dessen juristische Verfolgung mitsamt dem gegen ihn angestrengten Prozess vom 22. bis 31. Mai 1786 die kontinentale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.46 Die besondere Qualität von Schillers Beobachtung und ästhetischer Modellierung wird deutlicher, wenn man sie vor der Folie des publizistisch vermittelten Bildes vom angeblichen Wunderheiler und Geisterzitierer Cagliostro konturiert und dabei die Veränderungen berücksichtigt, die sich seit seiner Verstrickung in die „Halsbandaffare" vollzogen. Schon der Arkanaktivist Johann Joachim Christoph Bode - der Schiller Anfang September 1787 mit seiner „Lieblingshypothese" von einer jesuitischen Unterwanderung der Hochgradmaurerei bekannt machen sollte - hatte die von Cagliostro in Straßburg unternommenen „magischen Kuren" in seiner 1781 erschienenen Schrift EIN PAAR TRÖPFLEIN AUS DEM BRUNNEN DER WAHRHEIT. AUSGEGOSSEN VOR DEM NEUEN THAUMA-
als Täuschungsversuche mit bestochenen Medien zur Verfuhrung schwärmerischer Gläubiger bloßgestellt. Zugleich dementierte Bodes Schrift noch eine mögliche Zugehörigkeit des Geistersehers zur Welt der masonischen Logen und stellte den Wunderheiler als einen „Klecks" dar, den „ihr [der Freimaurerei] Vorübergehende anspritzen" wollten.47 Nachdem Kardinal Rohan am 15. August 1785 verhaftet und Cagliostro am 23. August 1785 wegen angeblicher Beteiligung an der „Halsbandaffäre" in der Bastille eingekerkert worden ist, steigert sich die Produktion von Enthüllungsschriften und Apologien. Eine Schrift, die Schiller schon 1785 über die vermeintlich magischen Qualitäten des selbsternannten Grafen Alessandro di Cagliostro informiert haben konnte, waren die MÉMOIRES AUTHENTIQUES POUR SERVIR A L'HISTOIRE DE CAGLIOSTRO, die zunächst über seinen legendären Lebensweg mit Geburt in Medina, Aufenthalten in Ägypten usw. berichteten und ihn anschließend vom Verdacht einer Beteiligung am Halsbandbetrug entlasteten.48 TURGEN CALJOSTROS
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Nach Freispruch und Entlassung aus der Bastille am 1. Juni 1786 war der angebliche Graf in einem Triumphzug an die Küste begleitet worden, um nach England überzusetzen. Am 2. Juni 1786 wurde das Schreiben eines gewissen Bernard aus Palermo aufgesetzt, das den angeblich in Medina geborenen und in Ägypten erzogenen Grafen Cagliostro als Guiseppe Balsamo aus Palermo denunzierte und im September 1786 in Paris eintraf. Zum Prozess wie zur medialen Wahrnehmung vgl. Cagliostro et l'affair du collier. Pamphlets et polémiques. Textes réunis commentés par Jean Jacques TatinGourirer. Saint-Etienne 1994; Walter Müller-Seidel: Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik; Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro; ders.: Okkultismus und Aufklärung aus medienkritischer Sicht: Zur Cagliostro-Rezeption. In: Karl Richter, Jörg Schönert (Hrsg.): Klassik und Romantik. Stuttgart 1983, 207-227. [J. J. Chr. Bode:] Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit. Ausgegossen vor dem neuen Thaumaturgen Caljostros. Am Vorgebürge [Frankfurt/M.] 1781; hier zitiert nach dem Abdruck in Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 177-198, S. 197. Cagliostro selbst distanzierte sich in seiner Verteidigung auch von den Vorwürfen des Geistersehens; seine Seancen wären eine „Komödie" gewesen, die er auf Anweisung
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
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Unmittelbaren Anstoß für Schillers literarische Produktion aber sind nicht allein die Cagliostro-Schriften. Es ist vielmehr die Kombination diverser Vorstellungs- und Wissenskomplexe, die den Autor inspirieren und deren Einfluss auf den Schreibprozess noch einmal hervorzuheben bleibt: Schiller schreibt den ersten Romanteil zwischen Mai und September 1786 nieder - und damit in jenem Zeitraum, in dem die BERLINISCHE MONATSSCHRIFT nicht nur Cagliostro als Werkzeug der „Unbekannten Obern" denunziert und den Darmstädter Oberhofprediger Johann August Starck als angeblichen „Kryptokatholiken" und „heimlichen Jesuiten der vierten Klasse" identifiziert, sondern zudem eine folgenreiche Debatte um den Verkehr mit Geistern entfacht.49 Dass Schiller sowohl Enthüllungen und Debatten sehr genau verfolgt und in seinem literarischen Text verarbeitet hat, steht außer Zweifel. Denn der am 9. Oktober 1786 zum Abdruck in der THALIA verschickte erste Abschnitt erweist gleich zu Beginn der aus Mitau stammenden Elisa von Recke seine Referenz: Der berichterstattende Prinzenbegleiter Graf von O** kommt wie die aufklärende Schriftstellerin aus Kurland; seine Deklaration der unmittelbaren Zeugenschaft korrespondiert wie die Verpflichtung auf „reine, strenge Wahrheit" den fortgesetzten Appellationen der Gräfin von Medem an Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit. Die literarische Figur des Prinzen verweist dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die realhistorische Person des Württemberger Prinzen Friedrich Heinrich Eugen, der als dritter Sohn des erbberechtigten Bruders von Karl Eugen wie der Romanprinz nur „wenig Aussicht zur Regie-
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des Kardinals Rohans lediglich zum Zweck gesellschaftlicher Unterhaltung inszeniert habe; vgl. [Jean-Charles de Thilorier:] Verteidigungsschrift des Grafen Cagliostro. In: Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 221. Im Mai 1786 erscheint zunächst das panegyrische Schreiben der Körner-Freundin Elisa von der Recke an J. M. Preißler, einen Professor der königlich dänischen Akademie der Künste. Darin berichtet Recke über ihre frühere schwärmerische Disposition, die sie für das Geistersehen empfanglich gemacht hatte. Auf Reckes Schrift folgt im Juli 1786 ein Aufsatz des Prinzen Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg, einem Neffen des Schiller aus der Karlsschulzeit bekannten Karl Eugen, der die Möglichkeit von Wundererscheinungen verteidigt und als Beleg das Alte Testament anführt; der Text endete mit Hinweisen auf die Grenzen der menschlichen Vernunft und dem daraus abgeleiteten Ratschlag, die Geisterseher schon deshalb von dem Vorwurf der Schwärmerei auszunehmen, weil man die Unmöglichkeit der Erscheinungen nicht beweisen könne. Elisas von der Recke Antwort macht unter Berufung auf Lessings Formel „Moralität statt Wunder" gegen die Anmaßungen des Prinzen Front: Es sei besser, „die schmerzhafte Wunde eines hülflosen Kranken zu verbinden, als den Umgang mit irgend einem überirdischen Wesen zu suchen"; Eilsens Antwort an Prinz Eugen von Würtemberg. In: Berlin. Monatsschrift vom September 1786, S. 197-207, hier S. 204. Erneut kritisiert sie die mystischen Schriften, in denen die Hauptursache der Schwärmerei liege und nennt neben Saint Martins ERREURS & DE LA VÉRITÉ das Johann August Starck zugeschriebene SAINT NICAISE, die „gewisse Secten" und „geheime Gesellschaften" benutzten und „verborgenes Gift" für der „Menschheit Glück" seien. Neben diesem versteckten Angriff gegen die mit Cagliostro assoziierten Martinisten in Lyon enthält der Beitrag auch klaren Aussage gegen die in Arkangesellschaften gepflegten mystizistischen Praktiken.
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4. Exemplarische Analysen
rung" hatte. Die literarische Figur ist wie die Real-Figur ein „religiöser Schwärmer"; er lebt in einer Phantasiewelt, ist Protestant „durch Geburt" und mit „verwirrten Begriffen".50 Diese Eigenschaften einer literarischen Figur sind noch keine eindeutigen Belege fur die These vom Verweis auf eine tatsächliche Person. Wenn aber die literarische Figur des Prinzen im Roman nach der ersten apprehensiven Szene genau jenes Shakespeare-Zitat vorbringt,51 das die Realperson des Württemberger Prinzen zur Rechtfertigung einer möglichen Kommunikation mit Geistern in einer vielbeachteten publizistischen Äußerung angeführt hatte,52 kann das wohl als Anspielung auf ein spezifisches Element des historischen Kontextes verstanden werden.53 Auch den mehrfach konnotierten Ort seines fiktionalen Textes hat Schiller einer publizistisch vermittelten Q u e l l e e n t n o m m e n : D i e in der BERLINISCHE MONATSSCHRIFT v o m Mai 1 7 8 6 abgedruckten AUSZÜGE AUS EINER NEUEN, NOCH UNGEDRUCKTEN BE-
SCHREIBUNG VON VENEDIG liefern nicht nur den topischen Rahmen der durch
Karneval, Inquisition und Bleidächer berühmten Stadt, sondern konkrete narrative Elemente wie die Kaffeehaus-Szene mit anschließender Enthauptung des Beleidigers (die Schillers Text allerdings drastischer ausmalt) und das Motiv der Dienstbotenspionage. - Von kontextuellen Zeugnissen der unmittelbaren Entstehungszeit weitgehend unabhängig ist dagegen die durch den „Aventürier aus Palermo" inszenierte Geisterbeschwörung, die den narrativen Höhepunkt des ersten Textabschnitts markiert.54
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Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 46. Vgl. ebenda, S. 49: „ , G r a f , sagte er mit den Worten Hamlets zu mir, ,es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als wir in unsern Philosophien träumen'." Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg: Über Eilsens Aufsatz im Mai der Berliner Monatsschrift 1786. In: Berlinische Monatsschrift vom Julius 1786, S. 1-9, hier S. 9: „Aber darf ich's wagen, auch ein Wort zum Vortheile des Freundes zu reden, der bat: die Mystiker, Schwärmer und Geisterseher zu übersehen? - Doch nein, nicht ich, sondern Shakespear rede: ,Es ist noch viel, sagt Er, zwischen Himmel und Erden, wovon unsere ganze Philosophie sich nichts träumen läßt.'" Vgl. Adalbert von Hanstein: Wie entstand Schillers Geisterseher?, S. 56 der Hinweis, dass die HAMLET-Passage „oft citiert" werde und Schiller bereits aus der Karlsschulzeit bekannt gewesen sei. Weitergehend diskutiert Hanstein u.a. Karl Alexander von Württemberg, Friedrich II von Hessen und Johann Friedrich von Braunschweig als mögliche Prinzen-Vorbilder, kommt aber ebenfalls zum Schluß, dass wohl Prinz Friedrich Heinrich Eugen von Württemberg die „unbewusste Veranlassung gegeben hat zu dem einzigen Roman des größten deutschen Dramatikers" (S.80). Als „Kreditiv eines Wundertäters" (Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 101) verlangt der Prinz vom „Sizilianer" die Beschwörung eines verstorbenen Freundes, dessen Erscheinung nachträglich Aufschlüsse über ein ins Grab genommenes Geheimnis liefern soll. Die topische Wahl - mit einer ähnlichen Geschichte hatte auch die Swedenborg-Rezeption begonnen - wird von den Anwesenden als „sinnreiche" dramatische Pointe empfunden, der sie „Beifall" bezeugen (S. 65). Das Gespenst erscheint schließlich unter Donnern und Blitzen als Rauchfigur an der Decke, wird aber durch das Auftreten eines zweiten Gespenstes gestört, das den nervösen Zusammenbruch des „Sizilianers" zur Folge hat. In der nachfolgenden Gefángnisszene erläutert der Inszenator
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Das von Schiller genutzte Material entstammt nicht den CagliostroSchriften, sondern verschiedenen anderen Texten zu Magie und Geisterbeschwörung.55 Wenn der Kommentar der Nationalausgabe als Vorlage der Beschwörungsszene aber neben den von Johann Salomo Semler herausgegebenen SAMLUNGEN VON BRIEFEN UND AUFSÄTZEN ÜBER DIE GASSNERISCHEN UND SCHRÖPFERISCHEN GEISTERBESCHWÖRUNGEN
von 1776 vor allem Christian
Wieglebs „natürliches Zauberlexikon" ONOMATOLOGIA CURIOSA ET ARTIFICI56 OSA ET MAGICA von 1784 identifiziert, ist Vorsicht geboten. Denn trotz der von Ernst Weizmann 1926 vorgetragenen Parallelen zwischen Schillers Roman und Wieglebs ONOMATOLOGIA ist dieser Konnex nicht unproblematisch, weil es sich bei Wieglebs Lexikon um ein alphabetisch geordnetes Nachschlagewerk handelt, das Schiller in der von Weizmann benutzten Fassung bei der Bearbeitung des GEISTERSEHERS nicht herangezogen haben konnte, da es erst 1798 erschien.57 Ein genauerer Blick auf die von Wiegleb dargestellten Metho-
dem desiilusionierten Prinzen, wie die Geistererscheinung als optischer Betrug funktionierte: Die sichtbare Erscheinung wird durch eine laterna magica erzeugt, die mit Hilfe eines geschliffenen Glases, eines Spiegels und eines gebündelten Lichtstrahls Bilder an eine Wand projizierte. Der versteckte Projektionsapparat entwirft allerdings nur ein Bild; der den Anschein von Bewegung erzeugende Rauch und die Stimme eines bezahlten Kollaborateurs sind intensivierende theatralische Effekte zur Verstärkung des „lebendigen" Charakters. Die individuellen Züge, die eine Identifizierung der projizierten „Geistes" mit einer realen Person ermöglichen sollen, werden durch ein vor die Linse gestelltes Porträt erzielt, sind aber in der Praxis durch die verzerrende Projektion oft entstellt. Sichtbar gemacht werden können diese Projektionen selbstverständlich nur in abgedunkelten Räumen, ein Effekt, den sich der Sizilianer durch das Erlöschen einer eingesetzten Spiritusflamme nutzbar macht. 55
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Entkleidungsszenen und Requisiten wie Bibel und Totenkopf gehörten zwar ebenso wie Anrufungen und Zuckungen zum Zeicheninventar Cagliostros; seine Geisterzitationen wurden jedoch mit Hilfe instruierter personaler Medien durchgeführt (zumeist Kinder, junge Frauen); dazu schon [Jean-Charles de Thilorier:] Verteidigungsschrift des Grafen Cagliostro. In: Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 22If. Vgl. Ν Α Bd. 16, 429f. Als weitere mögliche Quelle erwähnt der Kommentar der Nationalausgabe auch Benedict Christlieb Funk: Natürliche Magie, oder, Erklärung verschiedener Wahrsager- und natürlicher Zauberkünste. Berlin, Stettin 1783 sowie Johann Samuel Halle: Magie, oder, die Zauberkräfte der Natur, so auf den Nutzen und die Belustigung angewandt worden. Berlin 1783. Ernst Weizmann: Die Geisterbeschwörungen in Schillers ,Geisterseher'. In: GoetheJahrbuch 12 (1926), S.174 - 193. Als zentrale Quelle gilt hier das enzyklopädisch angelegte Werk von Christian Wiegleb: Onomatologia curiosa et artificiosa et magica. Oder natürliches Zauberlexicon, in welchem vieles Nützliche und Angenehme aus der Naturgeschichte, Naturlehre und natürlichen Magie nach alphabetischer Ordnung vorgetragen worden. Verbessert und mit vielen neuen Zusätzen vermehrt. Nürnberg 1784. Weizmanns Quellenstudie benutzt aber die „neue Auflage" von Wieglebs ONOMATOLOGIA CURIOSA ET ARTIFICIOSA ET MAGICA, die mit der Spezifikation „Verbessert und mit vielen neuen Zusätzen vermehrt" 1798 in Prag und Wien erschien. Zwar sind gegenüber der Schiller möglicherweise bekannten Ausgabe von 1784 die neu zugefügten Absätze von Wiegleb gekennzeichnet, doch nur ein Vergleich mit dem Original könnte letztlich
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4. Exemplarische Analysen
den zeigt denn auch, dass Schiller bei der Beschreibung der „magischen Operationen" eine andere Vorlage verwendet haben muss: Das von Wiegleb herausgegebene „Zauberlexikon" kennt schon in der Ausgabe von 1784 das modifizierte Bewegungsverfahren durch zwei aufeinanderliegende Glasscheiben; Schillers Geister zitierender „Sizilianer" benötigt dagegen einen Komplizen, der die Laterne mechanisch bewegt.58 Als Kontextdokument mit einem stärkeren Einfluss sind deshalb die von Semler veröffentlichten SAMLUNGEN VON BRIEFEN UND AUFSÄTZEN ÜBER DIE GASSNERISCHEN UND SCHRÖPFERISCHEN
anzusehen, die in zwei Teilen die Exorzismen des Ellwanger Pfarrers Johann Joseph Gaßner und die Geisterbeschwörungen des Leipziger Kaffeehauswirtes Schröpfer verhandeln. Die in Schillers Roman dargestellte Beschwörungsszene folgt den hier gelieferten Darstellungen der Schröpferschen Seancen bis ins Detail: Auch Schröpfers angebliche Geistererscheinungen ähnelten einem „geformten Dunst", ihre Arme seien „creuzweise über die Brust geschlagen" und „die Sprache, mit welcher sie auf seine Fragen antwortet, klang hohl."59 Diesen Berichten zufolge verwendete Schröpfer „chymische Materien", berief sich auf die „Offenbarung von Chaldäern, Egyptern" und auf eine „nach und nach unter den Juden gefaßte einheimische Beschreibung".60 Auch die „Zauberlaterne" wird in der Textsammlung erwähnt; ein Aufsatz von Moses Mendelssohn macht sie - bezeichnenderweise im explizit markierten Modus der Vermutung - für die Zitationen verantwortlich.61 GEISTERBESCHWÖRUNGEN
Zudem verknüpft man Schröpfers Geisterbeschwörungen mit katholischen Ritualen; als Indiz gilt etwa die Beobachtung , dass der angebliche Magier
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die Zuverlässigkeit dieser Kennzeichnungen bezeugen und das Verfahren einer direkten Konnexialisierung rechtfertigen. Vgl. Christian Wiegleb (Hrsg.): Onomatologia curiosa et artificiosa et magica [...] Nürnberg 1784, Sp. 1642f.; Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 71. Herrn D. Crusius Bedenken über die Schröpferische Theurgie. In: Johann Salomo Semler (Hrsg.) Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen. Halle im Magdeburgischen 1776. Zweites Stück, S.l-67, hierS. 9. Ebenda, S. 21 (Semlers Anmerkungen). Herrn Moses Mendelsohns Anmerkungen über einen schriftlichen Aufsaz die Wunderthaten des berüchtigten Schröpfers betreffend. In: Johann Salomo Semler (Hrsg.): Samlungen, Zweites Stück, S. 67-80, hier S. 77 und S. 79: „In der Vermuthung einer Zauberlaterne bestärken mich vornemlich auch folgende Umstände. Die Geister schienen sich zu bewegen, ohne einen Fuß zu regen, nur als schwebend. Durch die Fortrückung des Bildes in der Zauberlaterne kann man die Erscheinung fortschweben lassen, aber den Füssen keine besondere Bewegung mittheilen. Dieser Umstand scheinet mir von nicht geringer Wichtigkeit, zu seyn. Aus eben der Ursache werden auch wohl die Geister Arme und Hände auf die Brust geschlagen getragen haben, wie in dem Aufsatz erzählt wird. [...] Die Gesichter der Geister sehen wie ein geformter Dunst aus, welches vermittelst des Rauchs gar leicht zu bewerkstelligen ist. Die beiden Spiegel, in die er öfters hinein zu sehen pflegte, geben zu dieser Vermuthung Anlaß."
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„Dinge nach der Analogie des Papstthums gebrauchet, z.E. ein Crucifie, welches er stets in Händen führte, geweihte Lichter [...] Räuchern, Creutze". 62 Als Schiller im März 1788 - mehr als ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Teils - die Arbeit am Roman wieder aufnimmt, hat das öffentliche Interesse an Cagliostro und der Halsbandaffare nachgelassen. Der zweite Abschnitt des Romans, der im Mai 1788 im fünften Heft der THALIA erscheint, enthält denn auch die Entlarvung des Geistersehers und seine Inhaftierung sowie die Beschreibung des „Armeniers", der nun zur zentralen Figur des Geschehens aufsteigt. Wesentliche Anregungen für die Ausstattung dieser Textfigur entnimmt Schiller dem erstmals 1764 veröffentlichten und 1768 in deutscher Übersetzung erschienenen Schauerroman THE CASTLE OF ORTRANTO von Horace Walpole, freilich unter Modifikation von dessen Konzept: Handlung und Figurenarsenal, im englischen Gothic Novel in Mittelalter oder Früher Neuzeit angesiedelt, finden bei ihm in einer für die Zeitgenossen näher zugänglichen Realität statt.63 Wirkungen wie Angst und Schrecken erzeugt Schillers Text nicht mehr durch irrationale Bedrohungen und übermenschliche Akteure, sondern durch Schilderung undurchschaubarer Aktivitäten menschlicher Figuren; die ausgelösten Reaktionen - die von Furcht über weltanschauliche Skepsis bis zu agnostischem Zweifel reichen - sind ihre psychologisch genau kalkulierten Ergebnisse. Exemplarisches Beispiel für eine solche Verankerung des Schauerlichen ist etwa der Bericht des „Sizilianers" über die Potenzen des „Armeniers", der in dieser Rede als ein proteischer Verwandlungskünstler erscheint: „Es wird wenige Stände, Charaktere und Nationen geben, davon er nicht schon die Maske getragen."64 Zugleich werden ihm gleichsam übermenschliche Fähigkeiten zugewiesen: Unsterblichkeit und ewige Jugend, Unverwundbarkeit und Bilokation sind Stärken des „Unergründlichen", der „lang in Aegypten gewesen, ... und dort aus einer Pyramide seine verborgene Weisheit geholt habe". 65
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So Herrn D. Crusius Bedenken über die Schröpferische Theurgie, S. 8f.
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Besonders die Jeronymo-Episode weist deutliche Parallelen zu diesem Schauerroman auf; übernommenen sind die Hochzeit, der Brauttausch sowie die Frage nach der Herrschaftslegitimation. Zum Einfluß des englischen Schauerromans vgl. Ulrich Thiergard: Schiller und Walpole: Ein Beitrag zu Schillers Verhältnis zur Schauerliteratur. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 3 ( 1 9 5 9 ) , S . 1 0 2 - 1 1 7 ; allgemein Gero von Wilpert: Die Deutsche Gespenstergeschichte. Stuttgart 1994, S. 122. Für die Arbeit am zweiten Romanteil erbat Schiller von Reinwald auch das anonym erschienene Werk LE COMTE DE GABALIS, OU ENTRETIENS SUR LES SCIENCES SECRETES ( 1 6 7 0 )
im
Amsterdamer
Nachdruck von 1715; die deutsche Übersetzung war kurz vor Schillers Niederschrift erschienen: Montfaucon de Villiars: Graf von Gabalis, oder Gespräche über die verborgenen Wissenschaften. Aus dem Französischen. Berlin 1782. 64
Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 74.
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Ebenda, S. 74f. Die hier erfolgende Beschreibung des „Armeniers" durch die Textfigur des „Sizilianers" kann als musterbildend für die literarische Imaginationen eines om-
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4. Exemplarische Analysen
Die Ähnlichkeiten der Textfigur mit den medial kolportierten Eigenschaften des vermeintlichen Grafen Cagliostro fährten denn auch zu der Annahme, dass der „Armenier" auf die realhistorische Person referiere.66 Doch handelt es sich hier nur zum Teil um spezifische Attribute des angeblich in Ägypten initiierten Magiers, der eigentlich aus Palermo stammte. Weit aufschlussreicher fur das Referenzpotential dieser Textfigur sind narrative Funktionen innerhalb des Geschehens: Als alles bewegender Maschinist dirigiert der „Armenier" nicht nur den „Sizilianer" und damit die rasch entlarvte Anfangsintrige, sondern das gesamte weitere Geschehen der heimlichen Manipulation bis hin zur Konversion des Prinzen und den nur angedeuteten Verbrechen. Er ist nicht nur Emissär und Exekutor, sondern der zentrale Drahtzieher, als dessen „Puppen" bzw. Werkzeuge alle anderen Textfiguren agieren. Anders gesagt: Die Textfigur des „Armeniers" referiert in fiktionaler Form auf das in der Publizistik des späten 18. Jahrhunderts immer wieder ventilierte „Wissen" über vermeintliche „Unbekannte Obere"; in ihr akkumuliert der Erzähltext Schillers das gesamte Spannungspotential aus den im Modus des Gerüchts kolportierten „Kenntnissen" über angeblich besonders initiierte Akteure, die seit den Angaben „rektifizierter" Systemschöpfers die Gemüter masonischer Adepten bewegt hatten und in publizistisch verbreiteten Szenarien als jesuitische Drahtzieher hinter den arkanpolitischen Dissoziationen „enttarnt" worden waren. Mit der bis zum Abbruch des Romanprojekts fortgeschriebenen Konstruktion des „Armeniers" als dem narrativen Äquivalent eines unsicheren Wissens über „Unbekannte Obere" und jesuitische Netzwerke reagiert Schiller erneut auf die Cagliostro-Debatte. Denn im Herbst 1787 war Elisa von der Reckes Buch NACHRICHT VON DES BERÜCHTIGTEN CAGLIOSTRO AUFENTHALTE IN MITAU erschienen, in dem sie noch einmal die Geschehnisse des Jahres 1779 ausbreitete und mit scharfen Attacken gegen den Geisterseher und Wundertäter verband. Den eigentlichen Angriffspunkt von Reckes Buch, das ihr Verleger Friedrich Nicolai mit Vorwort und Kommentar versehen hatte, bilden die Machinationen heimlicher Jesuiten, als deren Emissär der „Aventürier aus Palermo" entlarvt wird: Das von Cagliostro verwendete Kürzel I.H.S gilt ebenso als Beweis seines Jesuitismus wie die von ihm vermittelten „magischen Wahrzeichen" Dreieck und Zirkel, die eine „geheime Beziehung, sowohl auf die zwölf Apostel, als auf die zwölf Obern der wahren mystischen Freimaurerei" symbo-
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nipräsenten wie omnipotenten Geheimnisträgers gelten, wie er später etwa in Karl Grosses Roman GENIUS erscheint. So schon Reinhold Taute: Ordens- und Bundesromane, S. 29; erneut Michael Rohrwasser: Coppelius, Cagliostro, Napeleon. Frankfurt/M. 1991, S. 36. Anders Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, S. 361, der annimmt, die Figur des „Armeniers" sei nach dem Vorbild des Magiers Sarpelli aus Johann August Starcks „Geschichte des Grafen von P. an den Abt von R.-I." (in J. A. Starck: Ueber den Zweck des Freimaurerordens. Germanien [Hamburg, Berlin] 1781, S. 58-115) modelliert.
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lisieren sollten.67 Wie schon Nicolai und seiner Berliner Bundesgenossen Johann Erich Biester und Friedrich Gedike versucht auch Elisa von der Recke eine jesuitische Unterminierung der geheimen Gesellschaften zu entlarven; ihre Warnungen vor „geheimen Verbindungen der Jesuiten" stellen das Gebot der Subordination sowie die Menschenkenntnis der Ordensemissäre als besonders gefährlich heraus. - Der Autor Schiller ist mit solchen Schuldzuweisungen nicht erst durch die Recke-Schrift vertraut. Bereits 1783 hat er Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald um Bücher über „Bigotismus", „seltne Verderbnisse des Karakters" und im gleichen Zug über „Jesuiten", „Inquisition", die Bastille und unglückliche Opfer gebeten.68 Als er Anfang September 1787 von Johann Joachim Christoph Bode über die angeblich jesuitische Verantwortung für „die Jezige Anarchie der Aufklärung" informiert wird,69 verbinden sich frühere Lektüre-Erlebnisse mit den Aussagen der ihm persönlich bekannten Elisa von der Recke und Bodes Instruktionen. Hinzu kommt mit dem im jesuitischen Moralsystem verankerten Probabilismus ein Ideenkomplex, der die literarische Imagination eines durch den Prinzen verübten Verbrechens motiviert, stellt doch die theoretische Legitimation eines „Tyrannenmordes" aus Sicht protestantischer Aufklärer eine der Societas Jesu zugeschriebene Lizenz fur die gerechtfertigte Tötung protestantischer Herrscher dar.70 Die Andeutungen auf das Verbrechen, das Schillers Roman-Prinz unter dem Einfluss der „unerhörten Teufelei" des „Armeniers" begehen soll, könnte ein Ergebnis der Probabilismus-Diskussion sein, die Nicolas de Bonneville in seinem 1788 erschienenen und umgehend von Johann Joachim Christoph Bode übersetzten anti-jesuitischen Pamphlet LES JÉSUITES CHASSÉS DE LA MAÇONNERIE, ET 71 LEUR POIGNARD BRISE PAR LES MAÇONS aktualisiert hatte.
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Elisa von der Recke: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen. Hrsg. von Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1787. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Klaus H. Kiefer (Hrsg.): Cagliostro, S. 20-143, hier S. 120.
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Ν Α Bd. 23, S. 69f. Vgl. Schillers Bericht im Brief an den Freund Christian Gottfried Körner vom 10. September 1787; Werke. NA. Bd. 24, S. 138: „Die Jezige Anarchie der Aufklärung meynt er [Bode] wäre hauptsächlich der Jesuiten Werk." - Gegen einen starken Einfluss der „Bodeschen Hypothese" auf Schiller spricht allerdings die im selben Brief artikulierte Gleichgültigkeit gegenüber diesen Nachrichten: „Er [Bode] ist sehr mit den Berlinern über die drohende Gefahr des Catholizismus einig. Ich habe aber schon vergeßen, was er mir alles darüber gesagt hat." Vgl. D. Johann August Ernesti: Neue Theologische Bibliothek darinnen von den neuesten theologischen Büchern und Schriften Nachricht gegeben wird. 7. Stück. Leipzig 1769, S. 616: „Es ist ein Grundsatz bey den Jesuiten, dass man einen Tyrannen umbringen darf, das ist, einen Regenten, der die katholische Religion in Gefahr setzt, oder sich den Forderungen des Papstes ernstlich widersetzt. Dieses ist die Meynung des ganzen Ordens, welcher sie allezeit standhaft vertheidigt hat." [Nicolas de Bonneville:] Die Schottische Maurerey verglichen mit den drey Ordens=Gelübden und das Geheimnis der Tempelherrn aus dem vierzehnten
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4. Exemplarische Analysen
Im Romantext sind es aber nicht allein diese funktionalen Züge, die die Figur des „Armeniers" und seine weitreichenden Pläne als Anspielung auf heimlichen „Jesuitismus" erkennen lassen. Indexikalische und katalysatorische Funktion übernehmen zugleich die Aussagen über seine „ganz ungewöhnliche Physiognomie", die in auffallender Weise der von Johann Kaspar Lavater gelieferten physiognomischen Deutung des Ordensgründers Ignatius von Loyola korrespondieren: „Durchblickender Blick" und despotischer Aktivismus („Der Mann kann nicht müßig seyn. Er muß würken - und herrschen") lauten Lavaters Diagnosen in den PHYSIOGNOMISCHEN FRAGMENTEN in der Rubrik
Religiose Physiognomien, Jesuiten-, „lichtscheue Tugend", „künstliche Beredsamkeit" und „Kühnheit" sowie „Verstellung" sind weitere hier fixierte Attribute der Ordensangehörigen.72 In ähnlicher und die ambivalente Wirkung noch intensivierender Weise führt Schillers Erzähltext den „Armenier" ein: „Nie in meinem Leben sah ich so viele Züge und so wenig Charakter, so viel anlockendes Wohlwollen mit so viel zurückstoßendem Frost in einem Menschengesichte beisammen wohnen. Alle Leidenschaften schienen darin gewühlt und es wieder verlassen zu haben. Nichts war übrig als der stille, durchdringende Blick eines vollendeten Menschenkenners, der jedes Auge verscheuchte, worauf er traf."73 Der „durchdringende Blick eines vollendeten Menschenkenners" als exponiertes Attribut ist Garant fur erfolgreiche Manipulationen. Denn dieser Blick legt die Dispositionen seiner Opfer und damit die Möglichkeit einer gelingenden Einflussnahme frei. Er zehrt von Wissen und erlaubt als Wissen ein (verderbliches) Handeln. Auch die Komplexität des narrativ in Szene gesetzten Planes - der die Apostasie des Prinzen durch rationale Auflösung des scheinbar Wunderbaren beginnen lässt und also Aufklärung als Triebkraft fur den letztlich triumphierenden Despotismus der allein selig machenden Kirche exponiert - ist Reflex eines anthropologischen Wissens, an dem Textfiguren wie Erzählverlauf partizipieren und das Kenntnisbeständen der Zeit entspricht: Die Pendelbewegung zwischen Schwärmerei und Skeptizismus als den Extrempolen einer Krankengeschichte findet sich in zahlreichen aufgeklärten Schwärmerkritiken;74 der Militärarzt Schiller kennt das Phänomen aus eigener Anschauung von seinem Miteleven Grammont.75
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Jahrhunderte. Aus dem Französischen, mit Anmerkungen des Uebersetzers. 1. Theil. Leipzig 1788, hier S. 75 zum jesuitischen „Probabilism". Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Hier zitiert nach der von Christoph Siegrist herausgegebenen Auswahl mit 101 Abbildungen, Stuttgart 1984, S. 250f. Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 53f. Vgl. H.-J. Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 211. Dazu Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte des Schiller und der „Philosophischen Briefe". Würzburg 1988, S. 45f.
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Im Roman bildet die Wunderskepsis die Einbruchsteile für ein „Verhängnis", das mit dem Pendelausschlag zwischen Schwärmerei und Agnostizismus endet; sie macht die Konversionsgeschichte des Prinzen zum Paradigma einer fehlgeleiteten Aufklärung. - Mit diesem narrativen Muster aber bezieht sich Schiller nochmals auf die von den Berliner Aufklärern verbreiteten Szenarien einer vermeintlichen Unterwanderung der Aufklärung. Schon Friedrich Nicolais vielbändige Reisebeschreibung hatte den Umschlag von blindem Glauben in Skeptizismus und Atheismus als ein Spezifikum der katholischen Aufklärung herausgestellt; denn deren Reflexion „führet dann, wenn jemand an seiner Religion zu zweifeln anfangt, gerade zu dem plumpsten Unglauben, der alle Religionswahrheit, ohne Unterschied verwirft. Ich habe in Wien mehr Atheismus reden hören, als an irgend einem Orte, und von Leuten von allen Ständen, auch vom geistlichen Stande."76 Schillers Roman über einen protestantischen Fürstensohn, der durch jesuitische Konspiration in die Fänge des Katholizismus gelockt und zum verbrecherischen Thron-Prätendenten gemacht wird, erweist sich so als überaus dichtes Gewebe zeitgenössischer Stoff- und Motiworlagen, unter denen diskursive Bestandteile aktueller Debatten über Arkanpolitik und Geisterzitationen, über Schwärmerei und Wunderskepsis einen hervorragenden Platz einnehmen. An zirkulierenden Manipulations- und Konspirationsszenarien partizipierend, präsentiert der fiktionale Text jedoch weitaus mehr als nur eine jesuitische Verschwörung gegen den Protestantismus. Als Imaginationsleistung führt er vielmehr die Grenzen einer Aufklärung vor, die eine rationale Enträtselung des Menschen und seiner sozialen Natur anstrebt, dabei aber Leidenschaft und Moral ignoriert. Zugleich formiert er seine vielfaltigen Referenzen auf zeitgenössische Diskurse über ungewisses Wissen in besonderer Weise - so dass wie der Autor in einem Eigenkommentar formulierte, „der Leser des Geistersehers gleichsam einen stillschweigenden Vertrag mit dem Verfasser machen (muß), wodurch der letztere sich anheischig macht, seine Imagination wunderbar in Bewegung zu setzen, der Leser aber wechselseitig verspricht, es in der Delikatesse und Wahrheit nicht so genau zu nehmen."77 Zu klären bleibt, mit welchen Absichten und weiterreichenden Resultaten der Autor diese ästhetische Modellierung unsicheren Wissens realisierte, um abschließend Fragen nach den Folgen für Erzählverfahren und Literatursystem beantworten zu können.
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Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. Bd. 5. Berlin, Stettin 1785, S. 12, Anmerkung. Friedrich Schiller an Charlotte und Karoline von Lengefeld. Brief vom 12. Februar 1789, hier zitiert nach dem Abdruck in Schiller NA Bd. 16, S. 420.
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4. Exemplarische Analysen
(III) Regeln der Simulation. Aufgrund der Adaption populärer Stoff- und Motivkomplexe seiner Entstehungszeit wurde Schillers Romanfragment mehrfach als „Trivialliteratur" rubriziert.78 Auch des Autors eigene Kritik verfuhr mit dem Text nicht gerade zimperlich: Die „Schmiererei" (so hieß es im bereits zitierten Brief an Körner) sei ihm lästig, die Fabel „planlos" und ihre Fortsetzung eine Last, die nur auf äußeren Druck erledigt und trotz Verlegerdrängens schließlich aufgegeben wurde.79 Ob diese Urteile eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Stoff dementieren oder nicht eher eine Stilisierung auktorialer Unsicherheit darstellen, soll im Folgenden nicht untersucht werden. Zu klären ist vielmehr, in welche literaturhistorischen Zusammenhänge der Text verortet werden kann und welche Konsequenzen die ästhetische Modellierung unsicheren Wissens für Erzählverfahren und literarische Kommunikation hatte. Eine Beantwortung dieser Fragen geht über eine Nachzeichnung autorund werkbiographischer Details hinaus. Denn Schillers Schwierigkeiten mit dem GEISTERSEHER fielen mit seinem zwischen 1 7 8 6 und 1 7 9 0 unternommenen Versuch zusammen, eine unabhängige Existenz als Literat zu begründen und sich - bei Bewahrung einer aufgeklärten Wirkungsästhetik -erfolgreich auf einem zunehmend kommerzialisierten Buchmarkt zu positionieren. Der als Fortsetzungsroman begonnene Text dokumentiert wie kein anderes Werk die dilemmatische Verfassung dieses Versuchs sowie Schillers ästhetische Entwicklung von den ersten Weimarer Jahren bis zum Entwurf einer klassischen Autonomieästhetik. Er zeigt zudem, unter welchen Bedingungen und mit welchen Strategien sich die Konstitution einer „Literaturgesellschaft" mitsamt ihrem innerästhetisch modifizierten Verhältnis von Autor, Werk und Publikum vollzog. Die literarische Formierung manipulativer Figurationen und unsicheren Wissens ist deshalb nicht nur als kalkulierte Akkomodation an den Zeitgeschmack, sondern zugleich als Ausdruck veränderter Strategien zur Stimulation literarischer Kommunikation zu rekonstruieren. Die zwischen Schiller und Körner ausgetragene Auseinandersetzung um Konzeption und Vermarktung der THALIA zeigt, dass der Autor sein ursprüngliches ästhetisches Programm nicht zuletzt angesichts des Erfolgs seines GEISTERSEHER-Romans modifiziert hatte. Die 1784 veröffentlichte Ankündigung der THALIA projektiert die Zeitschrift noch als eine Plattform für „alles, was fähig ist, den sittlichen Sinn zu verfeinern, was im Gebiet des Schönen liegt, alles, was Herz und Geschmack veredeln, Leidenschaften reinigen und allgemeine Volksbildung wirken kann".80 Am 12. Juni 1788 entwickelte der Autor 78 79 80
Rudolf Dau: Friedrich Schiller und die Trivialliteratur. In: Weimarer Beiträge 16 (1970), S. 162-189, S. 163. Vgl. die Einzelnachweise zur Entstehungsgeschichte N A Bd. 16, S. 414-426. Friedrich Schiller: Ankündigung der Rheinischen Thalia [1784]. In: F. Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke u.a. München 3 1962. Bd. 5, S. 857.
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vor dem Freund seine Idee einer besonderen Assimilation an den Publikumsgeschmack: „Für die Grundlage eines Journals, das man in viele Hände bringen will, ist Dein Plan offenbar zu ernsthaft, zu solid - wie soll ich sagen? - zu edel. Betrachte alle Journale, die Glück gemacht haben, und sieh nach, wodurch sies gemacht haben. [...] Cagliostros und Starks, Flamels, Geisterseher, geheime Chronicken, Reiseberichte, allenfalls piquante Erzählungen, flüchtige Wanderungen durch die jetzige politische und die alte Geschichtswelt, - das sind Objecte für Journale." 81 Bezeichnenderweise wird dieses „Programm" unter dem Eindruck eines Erfolgs formuliert, der Schiller in eine enthusiastische Stimmung versetzt hatte: Als spontane Reaktion auf die „Celebrität" seines Romans, dessen zweite Folge im April 1788 erschienen und nach Aussage des Autors durch nahezu alle lesenden Haushalte Weimars gewandert war, fixiert Schiller weniger eine apriorische Strategie als vielmehr eine Legitimation für die weitere Arbeit am Roman und zugleich eine Rechtfertigung fur seine Absicht, Körner den ,,größere[n] Theil der Aufsätze" zuzuspielen und sich selbst einen höheren Lohn für einen kleineren Anteil zu sichern.82 Im Verbund mit den permanenten Klagen über die Brotarbeit am GEISTERSEHER artikuliert er zugleich eine Spannung von künstlerischer Freiheit und äußerlichen Sachzwängen, die die Diskrepanz zwischen künstlerischer Produktion und ökonomischer Notwendigkeit zu einem ästhetischen Problem stilisiert.83 Schillers mehrfach bekundetes Desinteresse am GEISTERSEHER verändert sich jedoch nicht nur unter dem Eindruck eines signifikanten Erfolgs. Als er im Januar 1 7 8 9 das umfängliche PHILOSOPHISCHE G E S P R Ä C H und also nach Eigenaussage „ernste" und „edle" Themen erarbeitet, gesteht er gegenüber den Schwestern Charlotte und Karoline von Lengefeld, dass ihn der Roman „etlichemal sehr angenehm beschäftigt" habe.84 Es ist aber nicht nur die philoso81 82
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Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner. Brief vom 12. Juni 1788. N A Bd. 25. Schillers Briefe von 1789-90, S. 70. Vgl. Ν Α XXV, 72: „Ich glaube dass ich das [3 Louisdor für 25 Bögen im Jahr] mit Recht fordern kann, weil dieserlei Aufsätze mir erstlich mehr als einem andern die seinigen kosten, weil ich die Momente dazu abwarten muss; weil sie, auf seiner Seite, dem Debüt des Journals gewiß nützen." Der Ausstieg aus der THALIA wird schließlich durch die Geschichtsprofessur in Jena möglich. Jetzt gewinnt Schiller ein großes „Vergnügen" am Werk und kündigt Göschen sogar eine (nicht realisierte) Fortsetzung an; vgl. N A Bd. 16, S. 414f. Der letzte veröffentlichte Teil mit dem Titel DER ABSCHIED markiert zugleich die Trennung von einem ästhetischen Programm; dazu Fritz Martini: Erzählte Szene, Stummes Spiel. In: Vincent Günther u.a. (Hrsg.): Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. FS für Benno v. Wiese. Berlin 1973, S. 36-60. Friedrich Schiller an Charlotte und Karoline von Lengefeld. Brief vom 26. Januar 1789, hier zitiert nach N A Bd. 16, S. 418. Das PHILOSOPHISCHE GESPRÄCH hat im Roman zunächst die Funktion, den Umschlag des durch die „schlimme Hand" angeeigneten Agnostizismus in die schwärmerische Verehrung der „schönen Griechin" einzuleiten. Wie bereits die im dritten Heft der THALIA von 1786 gedruckten PHILOSOPHISCHEN BRIEFE und der hier enthaltenen THEOSOPIE DES JULIUS ist das PHILOSOPHISCHE GE-
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4. Exemplarische Analysen
phische Problematik der Ambivalenz von Schein und Sein bzw. trügerischer und wirklicher Erkenntnis mitsamt ihren moralischen bzw. amoralischen Konsequenzen, die ihn jetzt fesselt. Im Januar 1789 konzipiert er die Gestalt der „schönen Griechin", die in der Romanhandlung als Äquivalent einer neuen illusionären Verkennung und entscheidendes Werkzeug der konspirativen Manipulation auftritt.85 Angesichts der literarisch zu gestaltenden Diskrepanz
SPRACH von einer skeptischen Krise geprägt. Ihr wesentlicher Unterschied besteht in den Konsequenzen. Werden in der THEOSOPHIE DES JULIUS metaphysische Konzepte eingesetzt, um Materialismus und „Freidenkerei" abzuwehren, führt das PHILOSOPHISCHE GESPRÄCH im GEISTERSEHER zum Radikaldementi einer metaphysischen Fundierung und dokumentiert so eine „maligne Krise"; vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 242. Die in den Romantext eingetragene „Krise" korrespondiert einer Krise des Autors, der in dieser Zeit durch Kants Philosophie - vor allem von dessen Versuchen einer nicht-metaphysischen Begründung von Moralität - massiv verunsichert wird. Das PHILOSOPHISCHE GESPRÄCH greift diese Problematik auf: Der Abfall des Prinzen von der alten Religionsmetaphysik beinhaltet zugleich einen Abfall von der Moral. Der durch Schiller mehrfach verwendete Metaphernkomplex von den „beiden undurchdringlichen Decken" setzt die Unkenntnis der finalen Bestimmung des Menschen ins Bild, wenn der Prinz die schwärmerischen Moralvorstellungen mit dem Projektionen der laterna magica vergleicht und damit an die durch das Geistersehen ausgelöste Desillusionskrise anknüpft. Die wahrgenommenen künstlichen Schatten an der Wand stehen für die Bilder der „eigenen Brust", d.h. für die Projektionen der Vernunft, womit jetzt die Vorstellung eines extramundanen Gott sowie einer sinnvollen Weltordnung gemeint sind; vgl. Geisterseher. NA Bd. 16, S. 166f. Bezeichnenderweise wird diese Unkenntnis mit dem Gefühl des Schauderns als dem wirkungsästhetischen Äquivalent des Unbekannten belegt: „Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde." Deutlich sind die Reminszenen an das platonische Höhlengleichnis, dessen Verhältnis von Wahrnehmung und Wahrheit hier aber antimetaphysisch ausgedeutet wird: Können Piatons Höhlenbewohner hinter den Schatten noch eine Bedeutung erschauen, weist der Prinz eben diese Schau als menschliche Projektionen aus. Die damit verbundenen metaphysischen Zweifel bestimmt der Erzähler als „schneidende Sichel" der „grübelnden Vernunft", die jeden „neuen Zweig der Glückseligkeit" abzuschneiden droht, weil sie auch jede verbindliche Moral destruieren. Konsequenterweise scheitert der im folgenden unternommene Versuch einer rationalem Ableitung des Moralsystems und führt die zweite schwärmerische Episode ein. 85
Es kann als weitere subtile Ironie des Textes gelten, dass der Prinz im unmittelbaren Anschluss an die philosophische Entlarvung des Teleologie- und Unsterblichkeitsglaubens als Projektion beim anschließenden Besuch der abgelegenen Kirche einer neuen illusionären Verkennung verfällt. Diese Illusion ist ebenfalls mehrfach dimensioniert: Sie beruht zum einen auf einer Verwechslung von Kunstschönheit und sinnlicher Schönheit; zum anderen auf der Diskrepanz zwischen der „schönen" Erscheinung und ihrer verborgenen Existenz als Teil des Komplotts. Die nun einsetzende Objektverehrung kommt vom kunsttheoretischen Standpunkt einem doppelten Rückschritt gleich: Das ästhetische Wahrnehmen fällt nicht nur in eine sakrale, sondern in eine sinnlich-erotische Betrachtungsweise zurück. Die Disposition zur Schwärmerei hat der Prinz trotz Rationalitätsskepsis nicht abgelegt, was schon durch die Tatsache suggeriert wird, dass er bei dem vorausgehenden Besuch des Künstler-Ateliers unter drei Figuren nicht die heidnische Venus und nicht die klosterflüchtige Heliose, sondern gerade die Madonna wählt. Ausgerechnet der im PHILOSOPHISCHEN GESPRÄCH weniger kritische Graf versucht
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von sinnlicher Schönheit und „moralischer Grazie" spricht er gegenüber seinen Briefpartnerinnen nun ein Credo aus, das gleichsam Brückenfunktionen für den Übergang zur klassischen Autonomie-Ästhetik übernimmt: „Der Leser des Geistersehers muß gleichsam einen stillschweigenden Vertrag mit dem Verfasser machen, wodurch der letztere sich anheischig macht, seine Imagination wunderbar in Bewegung zu setzen der Leser aber wechselseitig verspricht, es in der Delikatesse und Wahrheit nicht so genau zu nehmen." 86 Damit benennt der Autor zentrale Parameter, die den besonderen historischen Ort seines Textes innerhalb eines sich ausdifferenzierenden Literatursystems markieren. Neben dem „stillschweigenden Vertrag" zwischen Autor und Leser als der conditio sine qua non für eine Textproduktion, die statt empirischer Verifizierbarkeit und didaktischer Applikation ein symbolisches Probehandeln ermöglichte, verdient vor allem das Pakt-Element der „wunderbar" in Bewegung gesetzten „Imagination" nähere Aufmerksamkeit. Denn wie angedeutet, wird das „Wunderbare" im Romantext nicht allein durch auktoriale Schilderung gleichsam von außen in Szene gesetzt, sondern vor allem durch Introspektionen beschrieben, die den Rezipienten in Erstaunen versetzen und ihm zugleich den Nachvollzug der ungewöhnlichen Handlungen gestatten. Die so erzeugte Binnenperspektive ersetzt das für den „konventionellen" Schauerroman typische naive Wunderbare (das zumeist durch übernatürliche Eingriffe oder paranormale Eigenschaften von Figuren realisiert wird), durch komplexere Perspektivierungen, in deren Rahmen das Geschehen nun als Zusammenwirken von Zufallen und natürlichen Gesetzmäßigkeiten deutbar ist. Damit scheint nicht nur ein Modell zur Lösung des Theodizeeproblems gefunden, sondern zugleich ein ästhetisches Formprinzip für den Roman entwickelt, das sich bis zu Goethes R o m a n WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE und seiner turmgesell-
schaftlichen „Lenkung" des Titelhelden verfolgen lässt. Die gleichsam wunderbar in Bewegung gesetzten Imagination hat jedoch noch weitere Konsequenzen. Die literarische Gestaltung unsicheren Wissens und krimineller Manipulation legt den Grundstein für eine neue Bestimmung des ästhetischen Scheins. Denn wie den inszenierten Geisterzitationen und den sich anschließenden Simulationen innerhalb des Handlungsverlaufs liegt auch der gleichsam abschließend inszenierten Erscheinung der „schönen Griechin"
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dem Eindruck des Prinzen mit einer „natürlichen Erklärung" zu begegnen und die Erscheinung der „schönen Griechin" mit Hinweisen auf optische Gesetzmäßigkeiten zu profanisieren: Neben den Lichtverhältnissen und dem schnellen Wechsel von Helligkeit zu „schaurigkühler Dunkelheit" als möglicher physiologischer Ursache einer Halluzination werden die Stille, die vorangegangene Kunstbetrachtung und die Beleuchtung der Figur angeführt. Wenn sich der Prinz gegen diese rationale Deutung wendet, die seine Erscheinung zu einem Produkt überspannter Einbildungskraft macht, haben „Schwärmer" und „Skeptiker" ihre Rollen wieder getauscht. Friedrich Schiller an Charlotte und Karoline von Lengefeld. Brief vom 12. Februar 1789. Schiller N A Bd. 16, S. 420.
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ein anthropologisch fundierter Täuschungsprozess zugrunde: Im Verbund mit anderen personalen Elementen des konspirativen Netzwerkes figuriert die „schöne Griechin" als Agentin einer illusionären Verkennung, deren Kern in der künstlich erzeugten Projektion einer Idee auf einen sinnlich wahrgenommenen Gegenstand besteht. Auch ihre Apotheose gründet auf einer Verwechslung von Schein und Sein, die nun jedoch mittels einer ästhetischen Illusion ins Werk gesetzt wird. Die „schaurigkühle Dunkelheit" der leeren Kirche, in die der Prinz aus dem „schwülen, blendenden Tageslicht" hineintritt, markiert den Rahmen für die Begegnung mit einer „Engelsseele", deren Erscheinung mit „Anmut" und „künstlicher Glorie" ihn sofort an eine als „anziehend" und „unwiderstehlich" empfundene Madonnenfigur erinnert; seine erste Reaktion ist ein „Schrecken", der aber rasch einen „süßesten Hinstaunen Platz machte."87 Und während der nun die Rolle des Skeptikers übernehmende Baron von F*** nach dem Realitätsgehalt dieser ästhetisch gestimmten Wahrnehmungen fragt, beschreibt der faszinierte Prinz die sinnliche Erscheinung als ein Gesamtkunstwerk unter Vergleich mit einer vorgängigen Kunsterfahrung. Der überwältigende Schein aber ist kalkulierter Trug zur Manipulation des Prinzen (wie des Lesers) und also ein Instrument zum Gewinn von Verfügungsgewalt. Der Handlungsverlauf erweist die Figur der „schönen Griechin" als Werkzeug des großangelegten Komplotts und ihren „schönen Schein" als integralen Bestandteil eines mehrfach dimensionierten Betrugs; ihre Erscheinung ist Simulacrum zur kalkulierten Erzeugung eines Eindrucks, dessen Wirkung verborgenen Zwecken dienen soll. Die sukzessive Enthüllung eines solchen simulativen Scheins ist mehr als ein Element der Narration. Sie amplifiziert zugleich ein literarisch-ästhetisches Programm. Denn wenn die Narration den konspirativen Doppelbetrug mitsamt seinen maximierten Täuschungseffekten aufdecken soll, muss der Schein als solcher erkannt und von zweckgebundener Simulation unterschieden werden. Der in der literarischen Imagination erzeugte „wahre" Schein aber muss gleichfalls frei von Zwecken sein: Als zweckfreier, durch den „stillschweigenden Vertrag" zwischen Verfasser und Leser garantierter Schein, realisiert er sich durch eine als scheinhaft markierte und bewusst simulierte Transformation von „Realität" in „Fiktion" - und also in einer Kunst, die sich bewusst als ein autonomes Spiel zur Konstruktion fiktionaler Welten ausweist und vollzieht.88 Doch umfasst der von Schiller formulierte „stillschweigende Vertrag" 87 88
Friedrich Schiller: Der Geisterseher. NA Bd. 16, S. 132. Im brieflichen Austausch mit den Schwestern Karoline und Charlotte von Lengefeld erörtert Schiller auch die Frage, ob der Grund der Täuschung im Objekt der Betrachtung oder im Subjekt dieser Wahrnehmungen gegründet sein sollte. Die Zweckentfremdung der „Griechin", ihre Funktion in der Intrige, muß als objektiver Tatbestand aus ihrer Erscheinung ableitbar sein. Die „schöne Griechin" muß aber dem Prinzen .wirklich' schön erscheinen. Nur der Widerspruch von Schönheit und Zweck kann die Verblendung des Prinzen zum einen glaubhaft machen und zum anderen als Täuschung auswei-
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zwischen Verfasser und Leser des Romans (und damit jedes Textes mit einem analogen Geltungsanspruch) nicht nur die auktoriale Verpflichtung zur permanenten Mobilisierung der Einbildungskraft im Modus des Scheins. Der Leser hat im Gegenzug zu versprechen, Ansprüche auf moralische Wahrhaftigkeit und historische Authentizität zu suspendieren, um sich von , jedem Schritt, den der Dichter im menschlichen Herzen tut",89 unterhalten zu lassen. Damit kann abschließend der literatur- und wissensgeschichtliche Ort von Friedrich Schillers unvollendet gebliebenem Roman bestimmt werden. Aufnahme und Ausgestaltung der skizzierten Wissensbestände - die von senationellen Nachrichten über arkangesellschaftliche Aktivisten über magische Praktiken und physiognomische Kenntnisse bis zu philosophischen Überlegungen reichen - schaffen den Freiraum für narrative und metanarrative Strukturen, in deren Rahmen sich ein initiatorisches Erzählen ebenso entfalten kann wie eine Neubestimmung des ästhetischen Scheins. Die Konstruktion von Akteuren, die im Horizont vermeintlicher Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit handeln und in ihren Attributionen auf Bestände eines unsicheren Wissens referieren, ermöglicht die Generierung einer komplexen fiktionalen Welt - und trägt mit der zu ihrem Nachvollzug notwendigen Mobilisierung der Einbildungskraft dazu bei, dass sich die unterhaltende Literatur als autonomer Bereich mit eigenen Mustern und Regeln weiter ausdifferenzieren kann. Der von Schiller in der Arbeit am GEISTERSEHER fixierte „stillschweigende Vertrag" zwischen Autor und Leser ist dabei von weitreichender Bedeutung: Er trennt literarische Geltungsansprüche von moralisch-historischen Wahrheitsansprüchen und kodifiziert eine neuartige, über Klassik und Romantik hinaus fortwirkende Literaturauffassung. Die Autonomieästhetik der klassische Literatur lässt sich so als ein Ergebnis von Auseinandersetzungen mit unsicherem Wissen und seinen scheinhaften Implikationen bestimmen. Doch um diese These bestätigen zu können, sind weitere Rekonstruktionen erforderlich. Diese sind im Anschluss zu leisten und gelten Johann Wolfgangs Goethes zum Paradigma des „Bildungsromans" erhobenen Werk WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE.
sen. In dieser Doppelfunktion ist die „schöne Griechin" zwar ein fehlerhaftes Ideal und Objekt der Verblendung, sie stellt aber zugleich Möglichkeit und Sinn ästhetischer Illusionserzeugung vor, die an die Stelle einer politisch nutzbar gemachten Illusion tritt. Der ästhetische Schein erfährt somit eine zweifache Funktionsbestimmung, die objektive und subjektive Aspekte zusammenführt. Das Kunstobjekt kann nur durch seine Freiheit von Zwecken die ästhetische Illusion erzeugen. Ihre außerästhetische Funktion liegt in der Vermittlung dieses Scheins als Schein; vgl. auch Gerd Ueding: Die Wahrheit lebt in der Täuschung fort. Historische Aspekte der Vor-Schein-Ästhetik. In: Ders. (Hrsg.): Literatur als Utopie. Frankfurt/M. 1978, S. 81-102. 89
So Schiller im Brief an Charlotte und Karoline von Lengefeld vom 12. Februar 1789. N A Bd. 16, S. 420.
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4. Exemplarische Analysen
4.3.3 Art von Experiment. Bildungsroman und Untergrund Am 26. Juni 1796 notiert Goethe im Tagebuch „Roman fertig" und schickt das Manuskript des abschließenden achten Buches von W I L H E L M M E I S T E R S L E H R 90 JAHRE an Friedrich Schiller nach Jena. Nach Kommentaren zu Figuren und narrativen Konstellationen gibt Schiller in einem umfänglichen Schreiben am 8. Juli 1796 seine Meinung zur Funktion der „Turmgesellschaft" ab: „Der Roman, so wie er da ist, nähert sich in mehrern Schritten der Epopee, unter andern auch darin, dass er Maschinen hat, die in gewissem Sinne die Götter oder das regierende Schicksal darin vorstellen. Der Gegenstand foderte dieses. Meisters Lehrjahre sind keine bloße blinde Wirkung der Natur, sie sind eine Art von Experiment. Ein verborgen wirkender höherer Verstand, die Mächte des Turms begleiten ihn mit ihrer Aufmerksamkeit, und ohne die Natur in ihrem freien Gange zu stören, beobachten, leiten sie ihn von ferne und zu einem Zwecke, davon er selbst keine Ahnung hat noch haben darf. So leise und locker auch dieser Einfluß von außen ist, so ist er doch wirklich da, und zu Erreichung des poetischen Zwecks war er unentbehrlich. [....] Dass Sie aber auch selbst bei diesem Geschäfte, diesem Zweck - dem einzigen in dem ganzen Roman, der wirklich ausgesprochen wird, selbst bei dieser geheimen Führung Wilhelms durch Jarno und den Abbé, alles Schwere und Strenge vermieden und die Motive dazu eher aus einer Grille, einer Menschlichkeit, als aus moralischen Quellen hergenommen haben, ist eine von denen Ihnen eigensten Schönheiten. Der Begriff einer Maschinerie wird dadurch wieder aufgehoben, indem doch die Wirkung davon bleibt, und alles bleibt, was die Form betrifft, in den Grenzen der Natur, nur das Resultat ist mehr, als die bloße sich selbst überlassene Natur hätte darstellen mögen."91 Bei allem Lob für die Gestaltung der „geheimen Führung" in einer textuellen Experimentalanordnung bringt der Leser Schiller zugleich Kritik vor. Denn er wünscht vom Autor Goethe, dass „das Bedeutende dieser Maschinerie, die notwendige Beziehung auf das innere Wesen, dem Leser ein wenig nähergelegt" werde, um dem Rezipienten einen klaren Blick „in die Ökonomie des Ganzen" zu gestatten („wenn diese gleich den handelnden Personen verborgen bleiben muß").92 Die Beweggründe für die Forderung nach Erläuterung der heimlich lenkenden „Maschinerie" sowie nach vollständiger Auflösung des „Wunderbaren und Überraschenden" benannte Schiller ebenso prägnant wie anspielungsreich: „Viele Leser, furchte ich, werden in jenem geheimen Einfluß bloß ein theatralisches Spiel und einen Kunstgriff zu finden glauben, um die Verwicklung zu vermehren, Überraschungen zu erregen u. dgl. [...] Es kann
90 Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. III. Abteilung: Goethes Tagebücher. Bd. 2, S. 44. 91 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe. Brief vom 8. Juli 1796. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Leipzig 1984. Erster Bd.: Briefe der Jahre 17941797, S. 196f., Hervorhebungen im Original. 92 Ebenda, S. 197, Hervorhebungen im Original.
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geschehen, dass die Aufmerksamkeit weit mehr auf das Zufällige geheftet wird und dass das Interesse des Lesers sich konsumiert, Rätsel aufzulösen, da es auf den innern Geist konzentriert bleiben sollte. Es kann geschehen, sage ich, und wissen wir nicht beide, dass es wirklich schon geschehen ist?"93 Mit dem Hinweis auf die Erfahrung einer fehlgehenden Rezeption zielt Schiller wohl auf die mit zunehmender Abwehr empfundene Suche seiner Leser nach abschließender Auflösung des rätselhaften und noch immer der Fortsetzung harrenden GEISTERSEHER-Romans, die er schon im XENIENEpigramm FRIVOLE NEUGIER verspottet hatte. Dem genauen Beobachter, der vom Autor Goethe nun näheren Aufschluss über die „Maschinerie" und damit näheren Einblick in die den Bildungsprozess steuernde „geheime Führung" verlangte, waren freilich wesentliche in den Text eingeschriebene Informationen über diese Instanz verborgen geblieben: Nahezu alle Attribute der heimlichen Beobachtung und Lenkung der Titelfigur durch Emissäre und Angehörige der „Turmgesellschaft" lassen sich als subtile und zugleich präzise Anspielungen auf Theorie und Praxis einer Arkangesellschaft deuten, der der Autor selbst angehört hatte. Dass der Leser Schiller diese Zusammenhänge übersah und vom Autor auch nicht eingeweiht wurde, erklärt sich aus den Verpflichtungen, die Goethe bei seiner Aufnahme in den Illuminatenorden am 11. Februar 1783 eingegangen war und die er - anders als im Falle seiner Mitgliedschaft in der Weimarer Freimaurer-Loge „Anna Amalia" - nie brach: In seinem Beitrittsrevers verpflichtete sich der Dichter und Minister „mit Verzicht auf allen geheimen Vorbehalt" (!), von den ordensinternen Mitteilungen „gegen niemanden, auch nicht gegen die vertrautesten Freunde und Verwandte, auf keine irgend mögliche Weise, weder durch Worte, Zeichen noch Blicke, oder sonst niemals nicht das geringste zu offenbaaren" sowie zur sicheren Verwahrung aller Ordenszeugnisse.94 Wenn Goethe etwas über den Illuminatenorden mitteilen wollte, konnte es nur in Form einer hoch aggregierten Camouflage geschehen: „Schlichte Gleichungen wird man nicht erwarten dürfen."95 Ohne die Recherchen nach Goethes geheimgesellschaftlichem Engagement durch weitere Spekulationen vermehren zu wollen, sind nun die arkanen 93 94
Ebenda, S. 197f. Dirk Kemper: „[...] die Vorteile meiner Aufnahme". Goethes Beitrittserklärung zum Illuminatenorden in einem ehemaligen Geheimarchiv in Moskau. In: Goethe-Jahrbuch 111 (1994), S. 315-322. Im Falle einer Mitteilung von Ordensschriften werde er „dieselben besonders verschließen und mit einer Adresse an ein belehrtes rechtschaffenes Ordensglied versehen, damit dieselben auf meinen unvorhergesehenen Todesfall auf keine Weise, Art und Wege in fremde Hände geraten."
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So prägnant Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meister' und das Erbe der Illuminaten. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 123-147, hier zitiert nach der durchgesehenen Fassung in: Walter Müller-Seidel, Wolfgang Riedel (Hrsg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2002, S. 177-203, S. 182.
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4. Exemplarische Analysen
Untergründe des „Bildungsromans" freizulegen - und dazu Wissensbestände und Kenntnisse zu rekonstruieren, die den Autor und seinen Text stärker prägen, als bisher angenommen. Die literarische Imagination der „Turmgesellschaft" im Roman WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE erlaubte Goethe - so die im Anschluss zu entfaltende These - sein Schweigegelübde zu halten und dennoch spezifische Wissensbestände über Pläne und Praktiken arkaner Gesellschaften und namentlich des Illuminatenordens in den Text einfließen zu lassen. Die von Friedrich Heinrich Jacobi als „die wichtigsten Urkunden des Jahrhunderts" 96 bezeichneten ORIGINALSCHRIFTEN des seit 1785/86 verfolgten Ordens wie die in Goethes Bibliothek befindliche Apologie PYTHAGORAS ODER BETRACHTUNGEN ÜBER DIE GEHEIME WELT- UND REGIERUNGS-KUNST
aus der Feder Adam Weishaupts sind als Subtext einer Narration zu lesen, die diesen Einflussfaktor aus mehreren Gründen aufnahm und gleichzeitig geschickt verbarg. Denn nicht allein die bereits erwähnte Aufnahmerituale und die zahlreichen Textelemente der „geheimen Lenkung" der Titelfigur spielen in chiffrierter Form auf masonische und illuminatische Praktiken an. Von ebenso weitreichender, wenn nicht sogar größerer Bedeutung als diese Reminiszenzen sind die Analogien, die sich zwischen anthropologischpädagogischen Vorstellungen im Illuminatenorden und dem narrativen Konzept des Romans entdecken lassen. Zuvor aber sind in einem ersten Schritt die Elemente der im Romantext gestalteten „geheimen Lenkung" zu ermitteln, die schon auf dieser Ebene ein vielfaltiges Spiel mit besonderen, zwischen Gewissheit und Unsicherheit changierenden Wissensbeständen demonstrieren. Nicht ohne Grund imaginiert schon der erste Satz des Romans die Welt des Theaters; und die unmittelbar im Anschluß mitgeteilten Informationen entfalten den Imaginationskomplex der scheinhaften Existenz. - Aufgenommen und aufgefächert wird dieses zentrale Problem des Scheins im zweiten Kapitel, das in einer Rückwendung die frühe Liebe der Titelfigur zum Puppenspiel erläutert und an die „vergnügten Augenblicke" bzw. „manche vergnügte Stunde" im Banne der ästhetischen Simulation erinnert.97 Der in diesem Abschnitt begonnene und bis zum achten Kapitel fortgeführte Bericht Wilhelms über die kindliche Erfahrung des Puppen- und Theaterspiels präfiguriert das weitere Romangeschehen: Das „magische Gerüs-
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Friedrich Heinrich Jacobi: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. In: Deutsches Museum 1788, Bd. 1, S. 153-188, h i e r S . 175. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethes Werke HA Bd. 7, S. 7 und S. 14. Neben Hinweisen auf die Wirkung des artifiziell erzeugten Scheins umschreibt der Text mehrfach seine Äquivalente: Im Gespräch mit der Mutter schildert Wilhelm das Gefühl der Neugier nach dem, „was wohl Blinkendes und Rasselndes sich hinter der halb durchsichtigen Hülle verbergen möchte" (ebenda, S. 12); als die Titelfigur die früher faszinierenden Puppen gefunden hat, fühlt er sich „in jene Zeiten versetzt, wo sie ihm noch belebt schienen" (ebenda, S. 14).
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te" und der „mystische Schleier" der theatralischen Imagination sind Objekte einer dauerhaften Faszination, die durch Einsicht in die Mechanik der Illusion und Partizipation am Verhältnis von „Bezauberten und Zauberern" qua imitano rationalisiert wird. Die Instanz dieser expressis verbis als „Einweihung" in „Geheimnisse" 98 beschriebenen Auflösung des scheinbaren Wunderbaren ist ein vielfach talentierter „Lieutenant"; seine praktische Unterweisung fuhrt den Knaben zur intensiven Beschäftigung mit allen Formen des Theaters und so zum Wunsch, eine Schauspielerlaufbahn einzuschlagen, während ihn die Familie zum Handelsstand bestimmt. Die im abschließenden siebzehnten Kapitel des ersten Buches geschilderten Ereignisse lösen die bereits ausgesprochenen Vorausdeutungen ein und präfigurieren in mehrfacher Hinsicht die weitere Narration: Zum einen tritt in Gestalt eines unbekannten Fremden, der überraschende Kenntnisse über die Kunstsammlung von Wilhelms Großvater offenbart, erstmals ein Emissär der „Turmgesellschaft" an die Titelfigur heran; zum anderen erfährt Wilhelm von der vermeintlichen Untreue der Geliebten und stürzt aus Traumvorstellungen auf den Boden ernüchternder Tatsachen. Es ist kein Zufall, sondern kalkulierter Effekt der narrativen Verknüpfung, dass bereits an dieser Stelle des Romangeschehens den „äußeren" Ereignissen eine durch die Textfiguren ausgesprochene Reflexion korrespondiert, deren Initiator eine Instanz der „geheimen Lenkung" ist. Die im Gespräch zwischen der Titelfigur Wilhelm und dem unbekannten Fremden vollzogene Reflexion nimmt wesentliche Elemente des bisherigen Handlungsverlaufs auf und kommentiert sie in einer Weise, die mehrfach deutbar ist: Wenn der unbekannte Fremde und Wilhelm bei einem Glas Punsch über die zentralen Themenkomplexe Kunst und Leben bzw. Notwendigkeit und Zufall disputieren, können ihre Aussagen zum einen als Deutungen bislang erzählter Ereignisse aufgefasst werden; zugleich lassen sie sich als weitreichende Vorausdeutungen auf das gesamte kommende Geschehen lesen. Und wenn der unbekannte Fremde sein Credo einer vernünftigen „Lenkung", „Leitung" und „Nutzung" des Zufalls artikuliert, ist das sowohl ein Kommentar zu Wilhelms bisheriger (offensichtlich gut beobachteter) Entwicklung wie auch ein - in seiner Reichweite noch kaum abschätzbarer - Hinweis auf die Maximen der ihn entsendenden „Turmgesellschaft". 99 Die Instanz der heimlichen Beobachtung und Leitung des Titelhelden wird jedoch erst im neunten Kapitel des siebten Buches enthüllt, in 98 99
Ebenda, S. 21. Vgl. ebenda S. 71 das durch den Fremden ausgesprochene Credo: „Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufallige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in dem Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufalligen eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei."
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dessen Rahmen auch der „in jener bedeutenden Nacht" gesponnene Reflexionsfadens aufgenommen und sinnstiftend mit allen anderen Episoden und Konstellationen verknüpft wird.100 Schon während dieses Erstkontakts mit der „bedeutenden Maschinerie" der geheimen Lenkung formuliert ihr unbekannter Emissär jenen Imperativ, der in verschiedenen Formulierungen nochmals durch die Textfigur des Abbé vorgetragen und durch die Titelfigur Wilhelm lebensgeschichtlich beglaubigt werden soll: „Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allem; nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein."101 Mit dieser Appellation ist das strukturierende Muster fur weitere Interventionen vorgegeben. Denn die nachfolgenden Einflussnahmen auf die Textfigur Wilhelm variieren in Form und Inhalt den gleichsam modellbildenden Erstkontakt, der - wie gleich zu zeigen sein wird - illuminatischen Rekrutierungsregeln folgt. Die durchgängig mit einem überraschenden Informationsvorsprung ausgestatteten Emissäre wirken durch das gesprochene (bzw. gestickte) Wort als dem Medium von Reflexion und Unterweisung; die zentrale Botschaft aller ihrer Kontaktaufnahme ist die Aufforderung zur Bildung durch Lebenskunst, die „gelernt und sorgfältig ausgeübt sein" will. Schon Wilhelms zweites Zusammentreffen mit einem weiteren Emissär der „Turmgesellschaft" erweist sich als Variation der ersten Begegnung. Auch der bei einer Bootsfahrt mit den Schauspielern um Laertes und Philine auftauchende Unbekannte, „den man an seiner Kleidung und seiner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geistlichen hätte nehmen können", 102 erwähnt die frühe Liebe zum Puppenspiel (und versetzt Wilhelm damit in „einige Bestürzung"); gegen Wilhelms These vom ,,glückliche[n] Naturell" als der exklusiven Ursache für den Erfolg des Künstlers wie des Menschen setzt er die Idee einer „Bildung", die „aus ihm macht, was er sein soll".103 Als Wilhelm in diesem Disput das „Schicksal" als Erziehungsinstanz verteidigt, spricht sein Gesprächspartner schließlich den (gleichfalls illuminatiseli imprägnierten) Gedanken von einer Leitung durch Vernunft aus: „Das Schicksal [...] ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich würde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszufuhren, was jenes beschlossen hatte."104
100 Vgl. ebenda S. 494 die Initiationsszene, in der Wilhelm den Fremden wiedererkennt: ,„Sonderbar!' sagte er bei sich selbst, .sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein?'" 101 Ebenda, S. 72. 102 Ebenda, S. 119. 103 Ebenda, S. 120. 104 Ebenda, S. 121.
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Bis zur dramatisch inszenierten Initiation der Titelfigur in die „Gesellschaft vom Turm" erfolgen weitere Kontaktaufnahmen, die das eingeführte Muster aufnehmen und variieren. Sowohl Jarno, der Wilhelm die ShakespeareLektüre vermittelt und ihm den Rückzug vom Theater nahe legt (um „in ein tätiges Leben überzugehen" 105 ) als auch der fremde Offizier, der Wilhelm die Annahme von Jarnos Vorschlag rät, verfügen über frappierende Einsichten in Wilhelms Schicksal und fordern zu einer „Umbildung" auf. Der auf dem Höhepunkt von Wilhelms Schauspieler-Laufbahn erscheinende Geist - der in der HAMLET-Inszenierung auftritt und in der Welt des bühnenhaften Scheins zwischen artifiziellem und authentischem Wunderbaren changiert - hinterlässt mit dem Schleier und seiner kryptischen Aufforderung zur Flucht einen weiteren Hinweis auf die vermeintlich übernatürlichen Potenzen der beobachtenden und lenkenden Instanz. Die am Ende des siebten Buches vollzogene Initiation der Titelfigur in die „Gesellschaft vom Turm" deckt dann alle scheinbar übernatürlichen Verwicklungen als kalkulierte Inszenierungen eines omnipräsenten pädagogischen Kollegiums auf. Die sich ihm nun eröffnende „kleine Welt" aber ist nichts weniger als ein chiffriertes und artifiziell verfremdetes Abbild jenes Geheimbundes, dessen Gründer Adam Weishaupt nach den 1784/85 in Bayern erlassenen Verbotsdekreten gegen seinen Illuminatenorden 1787 in Gotha Asyl gefunden hatte und seitdem gleichsam in der Nachbarschaft Goethes lebte. Nicht nur in den internen Materialien dieser Geheimgesellschaft (der Goethe seit 1783 angehörte), sondern auch in den auf Befehl des bayrischen Kurfürsten Karl Theodor gedruckten ORIGINALSCHRIFTEN DES ILLUMINATENORDENS konnte jeder aufmerksame Leser die Intentionen und Verfahren einer Organisation finden, die auf eine sehr spezifische „Bildung" und „Erziehung" abzielte: „Am meisten suche ich diejenigen Wissenschaften zu betreiben, die auf unsre allgemeine, oder Ordens Glückseligkeit, oder auch privat Angelegenheiten Einfluss haben [...] Dazu kann ich die Leute nicht brauchen, wie sie sind, sondern muss sie mir erst bilden. Und jede vorhergehende Klasse muß die Prüfungsschul für die zukünftige seyn. [...] In solcher wird gearbeitet, an Karakteren, historischen und lebenden, Studium der Alten, Beobachtungsgeist, Abhandlungen, Preisfragen, und in specie mache ich darinnen jeden zum Spion des andern, und aller. [...] Anbey wird gearbeitet an Erkenntniß und Ausreitung der Vorurtheile. Diese muß jeder anzeigen, welche er bey sich entdeckt? welches das herrschende ist? wie weit er in Bestreitung derselben gekommen etc. dieses ist bey uns eben soviel, was bei den Jesuiten die Beichte war. [...] Und am Ende folgt die totale Einsicht in die Politic und die Maximen des Ordens. In diesem obersten Conseil werden die Project entworfen, wie den Feinden der Vernunft und Menschlichkeit nach und nach auf den Leib zu ge-
105 Ebenda, S. 193.
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4. Exemplarische Analysen
hen sey: w i e die Sache unter den OrdensMitgliedern einzuleiten, w e m es anzuvertrauen? W i e ein jeder a proportione seiner Einsicht könne dazu gebraucht werden; eben so werde ich es auch mit der Erziehung und andern machen." 106 „Bildung" in sukzessive aufsteigenden „Klassen", „Arbeit" an „Charakteren" durch „Studium", „Beobachtung" und wechselseitige „Spionage", Einsicht und Beseitigung von Vorurteilen durch permanente Selbst- und Fremdreflexion s o w i e stufenweise Einfuhrung „in die Politic und die M a x i m e n des Ordens": D a s sind Leitbegriffe des realen Illuminatenordens, die zugleich strukturelle Muster für das Handeln der fiktionalen Turmgesellschaft abgeben. 107 In den illuminatischen ORIGINALSCHRIFTEN finden sich weitere Instruktionen, die buchstäblich als Vor-Schrift für die literarische Gestaltung konspirativer Akteure in Goethes Roman g e l e s e n werden können. Benennen die Ordensdokumente , j u n g e Leute" als primäre Objekte der Bundesbemühungen,' 0 8 korrespondiert das den im Romantext erwähnten Interessen der Turmgesellschaft für die „hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend". 109 Werden als Mittel zur Selbstdarstellung des Ordens unterschiedliche Möglichkeiten zur Suggestion v o n Omnipotenz und Omnipräsenz durch detaillierte H i n w e i s e für die Inszenierung des scheinbar Wunderbaren aufgeführt, 110 erinnert dies nicht nur an
106 Spartacus Catoni S.d. [am 10. März 1778]. In: Einige Originalschriften des Illuminatenordens, S. 215-217. 107 Vgl. die durch Jarno dargelegte Bundesgeschichte, HA Bd. 7, S. 549, in der diese Leitbegriffe in der Abfolge erscheinen: „Beobachtung" - „Bildung" - „Tätigkeit" (in der man sich „zu beobachten und zu erlauschen imstande sei") - „Gesellschaft" (mit „gesetzlichen Zusammenkünften") - stufenweiser Aufstieg („mit den Benennungen von Lehrlingen, Gehülfen und Meistern") - „Archiv unserer Weltkenntnis" - „Lehrjahre". 108 Adam Weishaupt: Instruction der Präfecten oder Local-Obern. In: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo; jetzt zum erstenmal gedruckt und zur Beherzigung bey gegenwärtigen Zeitläuften hrsg. [von Ludwig Adolf Christian von Grolman]. [München] 1794, S. 170-191, hier S. 172: „Bey der Aufnahme soll Bedacht genommen werden, dass man wißbegierige, fähige, folgsame, gesetzte, fleißige, thätige, gutgeartete, wissenschaftliche junge Leute erhalte, welche noch nicht viel wissen, Begierde haben mehr zu lernen, und mit der Zeit ihre Aufklärung dem Orden zu verdanken haben. Junge Leute sind also das vorzüglichste Augenmerk des Ordens [...]" 109 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. HA Bd. 7, S. 265. 110 Adam Weishaupt: Instruction für den ganzen Regentengrad. In: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo, S. 158-160: „Der Mittel auf die Menschen zu wirken, sind unendlich viele. [...] zu einer Zeit wirkt man durch den Hang der Menschen zum Wunderbaren, zu einer anderen durch den Reitz mächtiger Verbindungen. Deswegen ist es zuweilen nöthig, den Untergebenen vermuthen zu lassen (ohne jedoch selbst die Wahrheit zu sagen) als wenn insgeheim von uns alle übrige Orden und Freymaurer-Systeme dirigirt, oder als wenn die grösten Monarchen durch den Orden regiert würden, welches auch wirklich hie und da der Fall ist; wo eine große herrliche Begebenheit vorgeht, da muß gemuthmaßt werden, dass sie durch uns geschehe; wo ein großer sonderbarer Mann lebt, da müßte man glauben, er sey von den Unsrigen. Man ertheile zuweilen ohne weitern Zweck mystische Befehle, lasse z.B. einen Untergebenen an einem fremden Orte, in einem Gasthofe unter seinem Teller ein Ordens-Sendschreiben finden, das man ihm viel bequemer zu Hause geben könnte. Man reise zu den Zeiten der Messe, wenn
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Jarnos Aussagen über die „Neigung der Jugend zum Geheimnis, zu Zeremonien und großen Worten", die als psychologische Einsicht in die Attraktionskraft des Arkanums die „Turmgesellschaft" rational begründeten.'" Die hier vorgeschlagenen
Erscheinungsformen
von Bundes-Emissären
-
„bald
als
Kaufmann, bald als Abbe, bald als Officier" - entsprechen in kaum zu übersehender Weise den Kontaktpersonen in Goethes Romantext; kalkulierte Wirkungen („erwecke sich aller Orten den R u f eines vorzüglichen achtungswürdigen, in wichtigen Geschäften und Angelegenheiten gebrauchten Mannes") charakterisieren auch die Auftritte der Turm-Gesandten. Selbst die in illuminatischen Instruktionen formulierten Einsichten in weibliche Vermögen und ästhetische Verfahren zur sinnlichen Vermittlung „moralischer Wahrheiten" kehren als strukturelle Muster im literarischen Text wieder: Jedes Buch des Romans wird von einer Frauengestalt dominiert, die auf die Entwicklung der Titelfigur einwirkt; das Haus der Wilhelms Erfahrungsweg abschließenden Natalie ist Kunstkammer und Erziehungsanstalt." 2 Eine Kongruenz zwischen illuminatischen Wissensbeständen und literarischem Text lässt sich schließlich hinsichtlich der Zentralidee der Bildung
ent-
decken. Indem der Ordensgründer Weishaupt in seiner 1 7 8 6 veröffentlichten APOLOGIE DER ILLUMINATEN individuelle Bildung zum Teil einer sukzessive voranschreitenden Gattungsgeschichte erhebt und jeder Stufe eigenständigen Wert zuspricht," 3 formuliert er ein Prinzip, das strukturbildend und gleichwohl
man kann, in die großen Handelsstädte, bald als Kaufmann, bald als Abbe, bald als Officier, und erwecke sich aller Orten den Ruf eines vorzüglichen achtungswürdigen, in wichtigen Geschäften und Angelegenheiten gebrauchten Mannes. [ . . . ] Oder man schreibe wichtige Befehle mit einer chymischen Tinte, die nach einiger Zeit von selbst wieder verlöscht, und dergleichen mehr." 111 J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehijahre. HA. Bd. 7, S. 548f.: „Man will in diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der Jüngling, der vieles ahnet, glaubt in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel legen und durch dasselbe wirken zu müssen. In diesen Gesinnungen bestärkte der Abbé eine junge Gesellschaft teils nach seinen Grundsätzen, teils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im Verborgenen gewirkt haben mochte." 112 Vgl. Adam Weishaupt: Instruction für den ganzen Regentengrad. In: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo, S. 160: „Durch Weiber wirkt man oft in der Welt am mehrsten [...] Hieraus ziehe man Nutzen für die gute Sache! Dieß Geschlecht hat einen großen Theil der Welt in seinen Händen!" Ebenda, S. 182: „Man soll die Zöglinge gewöhnen, sich jede moralische Wahrheit sinnlich unter Bildern vorzustellen. Daher begünstigen wir gute Dichter, Fabeln und Romanen; und wer andere unterrichten will, soll sich vorzüglich mit Bildern und Beyspielen bekannt machen, um seinem Unterrichte die gehörige Lebhaftigkeit zu geben." 113 [Adam Weishaupt]: Apologie der Illuminaten. Frankfurth und Leipzig [Nürnberg] 1786, S. 125-127: „In dem Maaß als mehrere Bedürfnisse entstehen und befriedigt werden, entdekt der Mensch neue Verhältnisse und Eigenschaften der Dinge; mehrere ihm vordem gleichgültige Wesen erhalten einen Wehrt, und erscheinen als Mittel zu seinem Vergnügen; seine Erkenntnißkraft wird bereichert, und sein Zustand verbessert; er wird
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modifiziert in der narrativen Struktur des Roman wie im „pädagogischen praktischen Traum" des Abbé wiederkehren soll."4 Die durch Weishaupt vorgenommene Aufwertung scheinbarer Übel zu notwendigen „Stuffen, die wir durchlaufen, um zu höhern zu gelangen" korrespondiert der Aussage des Hamlet-Geistes in Wilhelms Initiationsszene über die „nur durch Umwege" zu erklimmenden „steilen Gegenden"; sie beantwortet Wilhelms irritierte Frage nach der scheinbaren Ignoranz der geheimen Lenkung angesichts seiner Irrtümer und „Spiele"."5 - Ordensinterne Vorschriften für die Eigenschaften von „Regenten" scheinen schließlich auch Pate für die literarische Modellierung der Turmgesellschafter gestanden haben: Was über die „Lehrer und Regierer der Menschheit" gesagt wird,116 trifft auf den „heroisch activen" Lothario eaufgelegter, ein neues Bedürfniß vorherzusehen, er wird dadurch aufgefordert, eine neue Entdeckung zu machen, durch die er neue Mängel vorhersieht, um neue Mittel zu ihrer Befriedigung zu finden. Und so ist die ganze Geschichte des Menschengeschlechts eine Reihe aus einander entstandener und befriedigter Bedürfnisse, ein unaufhörlicher Uebergang von einem minder vollkommenen Zustand, zu einem vollkommenem und bessern, die stuffenweise Entwiklung einer ursprünglichen Kraft, von einem niedern zu einem höhern Grad. In iedem Moment befindet sich das Menschengeschlecht, in Vergleich gegen den so eben vorhergehenden, in einem verbesserten Zustand. Das Gesez der ganzen Entwiklung fuhrt allezeit zum Bessern; alle Uebel sind bloß niedere Stuffen, die wir durchlaufen, um zu höhern zu gelangen; sie sind Mittel zur Vervollkommnung unseres Geistes; ohne solche wäre diese ein Unding; sie hören nun auf ein Uebel zu seyn, und werden sogar vorzügliche Güter. Alles ist ein Kind der Zeit; iede noch so drückende Einrichtung ist tur die Umstände angemessen, in welchen sie geschieht; alles trägt ohne Ausnahme zum Besserseyn bey, ist ein harmonirender Theil von einem ungeheuren Ganzen, und ist insofern vollkommen und gut. Alle Uebel richten sich nach dem Gesichtspunct; verlieren sich gänzlich in dem Allgemeinsten, und der Egoist sieht ihrer am meisten. Die Illuminaten betrachten also alles als Theil eines höhern Ganzen, als Mittel zu einem hohem Zwek, als Versuche zum Besserseyn, aber nicht als das Besserseyn selbst. [...] Sie sehen nach diesen Grundsätzen vorher, dass alles Gute unendlich langsam, oder gar nicht reifen könne ohne zugleich alle damit verwandten Stuffen des Uebels zu durchlaufen, weil dieß nöthig ist, um Bedürfnisse zu erwecken, und durch diese unsere Kräfte auf den Grad zu entwickeln, der unsern Zustand verbesert." 114 Das neue Konzept für den Abbé („Pädagogischer praktischer] Traum") fixiert Goethe in einem Notizbuch von 1793, in: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. (Weimarer Ausgabe). Abt. I, Bd. 21. Weimar 1898, S. 332. Im Roman wird es u.a. durch Natalie ausgesprochen, die im dritten Kapitel des achten Buches seine Maxime wiedergibt, Wilhelm Meisters Lehijahre. HA Bd. 7, S. 520f. 115 Ebenda, S. 495. 116 Adam Weishaupt: Instmetion für den ganzen Regentengrad. In: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo, S. 156: „Da der Orden die Absicht hat, wahre menschliche Glückseligkeit zu befördern, die Tugend liebenswürdiger darzustellen, und dem Laster furchtbar zu werden; so versteht sichs, dass die Lehrer und Regierer der Menschheit auch öffentlich als die besten Menschen bekannt sein müssen. Ein Regent soll also einer der vollkommensten Männer seyn, klug, vorsichtig, geschickt, beliebt, gesucht, frey von Vorwürfen und Tadel, im allgemeinen Rufe von Einsicht, Aufklärung und Menschenliebe, voll Integrität, Uneigennützigkeit, Liebe zum Großen, Allgemeinen und Außerordentlichen. Die Regenten sollen die Kunst studieren zu herrschen, ohne das Ansehen davon zu haben." Vgl. J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. HA Bd. 7, S. 552 die
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benso wie auf den „pädagogischen" Abbé zu - wenngleich, wie Hans-Jürgen Schings gezeigt hat, die „weitgespannten Abstraktionen" des WeishauptOrdens im Roman durch die „Konkretion der natürlichen Individualität" aufgehoben werden." 7 Damit sind nicht zu übersehende Differenzen zwischen dem Subtext der Narration und seiner literarischen Umformung angedeutet, die zum einen den „Endzweck" der projektierten Assoziationen, zum anderen ihre spezifischen Mittel betreffen. Hinweise auf diese Differenzen sind in Goethes Romantext eingeschrieben und zu entdecken; partiell sogar unter wörtlicher Verwendung illuminatischer Schlüsselbegriffe. Einen ersten Hinweis liefert das vierte Buch des Romans, in dem Aurelie über Lotharios Geschichte berichtet und danach fragt, „ob unter der großen Masse eine Menge von Anlagen, Kräften und Fähigkeiten verteilt sei, die durch günstige Umstände entwickelt, durch vorzügliche Menschen zu einem gemeinsamen Endzwecke geleitet werden können."" 8 Der hier ausgesprochene Terminus „Endzweck" ist nicht nur ein Zentralbegriff allgemeiner teleologisch-utopischer Entwürfe, sondern durchgehender Bestandteil illuminatischer Verlautbarungen, die dem Ordensmitglied Goethe bekannt gewesen sein müssen. Während aber der „Endzweck" von Weishaupts Geheimbund in nicht weniger als der „Erlösung des Menschen-Geschlechts" durch Aufrichtung eines „Sittenregiments" und den Eintritt in das „Reich der Vernunft" besteht," 9 ist der „Endzweck" der fiktionalen Turmgesellschaft weitaus bescheidener. Zum einen funktioniert sie als Assekuranz-Unternehmen für den Fall von „Staatsrevolution" und Besitzverlust; zum anderen - und das scheint wichtiger - soll sie der als „wunderbar" bezeichneten Zusammenkunft von Individuen eine Grundlage bieten und gestatten, „zusammen auf eine würdige Weise tätig [zu] sein".120 - Wenn der so resümierende Lothario zugleich die „Leitung" durch einen „gebildeten" und ohne Herrschsucht fuhrenden Menschen herausstellt, ist ein weiterer Differenzpunkt zu illuminatischen Praktiken bezeichnet. Und wenn er schließlich seine Schwester Natalie als „lebhaftes Beispiel" für eine solche Leitung exponiert, die in ihrer „Handlungsweise"
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durch Jarno vorgetragene Einschätzung des Abbé: ,,[W]as ihm gewissermaßen die Herrschaft über uns alle erhält, ist der freie scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt; jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern; nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen. Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und zu befördern." Vgl. Hans-Jürgen Schings: ,Wilhelm Meister' und das Erbe der Illuminaten, S. 196. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. HA. Bd. 7, S. 264. Johann Heinrich Faber (Hrsg.): Der ächte Illuminât oder die wahren, unverbesserten Rituale der Illuminaten, S. 203; Nachtrag von weitem Originalschriften, Bd. 2, S. 80, 84, 113. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehijahre. HA Bd. 7, S. 608.
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4. Exemplarische Analysen
als „schöne Seele" der „Vorschrift" der Natur folgt, hebt der Romantext sowohl die Beschränkungen des realen Männerbundes wie dessen negative Anthropologie auf.121 Den Differenzen hinsichtlich des „Endzweckes" entsprechen Unterschiede in den Mitteln zu seiner Realisierung. Beharrt der Illuminatenorden auf „Stillschweigen", „Geheimniß" und „Mißtrauen" der Ordensangehörigen untereinander,122 wird diese Strategie der Sekretierung und heimlichen Beobachtung im Romangeschehen als Fehlentwicklung benannt und aufgelöst.123 Die Offenlegung des Assekuranz-Unternehmens, als das sich die Gesellschaft vom Turme letztlich darstellt, kann ähnlich wie die drei Mesalliancen am Romanende und der abschließende Kommentar Friedrichs als ironischer Antidot gelesen werden - nicht nur gegen die Geheimniskrämerei der Freimaurerei und den Despotismus des Illuminatenordens, dem der Autor kurzzeitig angehört hatte. Dieser ironische Gestus der Aufnahme und Gestaltung arkangesellschaftlichen, pädagogischen und sozialen Wissens wirft jedoch die Frage auf, warum und mit welchen Folgen der Autor Goethe auf diese Muster und ihre spezifische Modifikation zurückgreift. Dazu lohnt sich ein Blick auf den im ersten Kapitel dieses Untersuchungsabschnitts behandelten Text. Denn vergleicht man Goethes 1 7 9 5 / 9 6 erschienenen Roman WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE mit Schillers Fragment gebliebenem Fortsetzungsroman D E R GEISTERSEHER, fallen mehrere Parallelen auf. Beide Erzähltexte situieren ihre Handlungen in einer Welt des umfassenden Scheins, der funktionale wie indexikalische Bedeutungen aufweist: Setzt die Handlung von Schillers Romanfragment in der durch Masken und Verkleidungen dominierten Karnevalszeit in Venedig ein, fuhrt schon der erste Satz von Goethes abgeschlossenem Werk in die Welt des 121 Ebenda, S. 608. 122 Vgl. Statuten der Illuminaten. In: Einige Originalschriften des Illuminatenordens, S. 17: „Stillschweigen, und Geimniß sind die Seele unsers Ordens, nur gegen Obere ist verständige Offenherzigkeit Tugend; gegen andere Ordensbrüder ist vernünftiges Zurückhalten, und Mißtrauen der Grundstein, und Grunderforderung..." Ähnlich Adam Weishaupt: Pythagoras oder Betrachtungen über geheime Welt- und Regierungskunst. 1. Bd. Frankfurt und Leipzig 1790, S. 277 das Credo, „dass es gute und gemeinnützige Zwecke gebe, welche durch den Weg der Verborgenheit am sichersten erreicht werden." Siehe aber auch Adam Weishaupt: Instruction für den ganzen Regentengrad. In: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo, S. 165: „Wenn die Form unserer Classen nicht allenthalben passend seyn sollte, so läßt sichs überlegen, wie man es anzufangen habe, unter einer andern Gestalt zu wirken. Wenn nur die Zwecke erreicht werden, so ist es gleichgültig, unter welcher Hülle es geschieht, und eine Hülle ist immer nöthig. Denn in der Verborgenheit beruht ein großer Theil unserer Stärke." 123 Ein prägnante Reflexion enthält Jarnos Bericht von der Bundesgeschichte, deren Parallelen zum Illuminatenorden nicht zu übersehen sind; vgl. J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 549. Wenn die Textfigur in gleichsam historischer Rückschau resümiert, dass die Angehörigen der Turmgesellschaft anfingen, „nur die Fehler der andern und ihre Beschränkung zu sehen und uns selbst für treffliche Wesen zu halten", ist damit eine Kritik am Despotismus des Weishaupt-Bundes ausgesprochen.
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
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Theaters. Beide Texte imaginieren als zentrale Textfigur ein formbares Individuum, das durch vermeintlich omnipräsente und omnipotente Beobachter nach verborgenen Plänen gelenkt und manipuliert wird. In beiden Texten werden geheime Gesellschaften geschildert, die auf je spezifische Weise die Zentralfigur beeinflussen. Und beide Texte verhandeln das Problem der Selbst- und Fremdbestimmung mitsamt ihren anthropologischen Implikationen, indem sie Wissensbestände und Idee, Konzepte und Metaphern aus Diskursen ihrer Entstehungszeit aufnehmen und modellbildend umsetzen. Unterschiede betreffen die Ausgestaltungen. Gewinnen in Schillers Kolportageroman die Indizien des Scheins im Zuge einer sich steigernden Verrätselung und Mystifikation immer größere Bedeutung, bilden die Akteure der Bühnenwelt im WILHELM MEISTER die Kontrastfolie zur „würdig tätigen" Turmgesellschaft, deren Emissäre den theatralischen Schein mehrfach diskursiv in Frage stellen und die Titelfigur schließlich davon ab-lenken. Erweist sich die Hauptfigur in Schillers Kolportageroman als raffiniert getäuschtes Objekt eines konspirativen Netzwerkes, über dessen weitreichende Pläne nur Andeutungen informieren, wird die Titelfigur in Goethes Roman mit ihrem sprechenden Namen in die Geheimnisse seiner „Lenkung" eingeweiht und emanzipiert sich schließlich von ihr. Auch das in beiden Texten virulente Geheimbundmotiv erfahrt divergierende Ausprägungen. Die im zweiten Buch des GEISTERSEHER beschriebene „geschlossene Gesellschaft" des Bucentauro stellt zwar eine libertinäre und nicht obskurante Verbindung dar, die auf „geheimen Graden" und „universeller Gleichheit" basiert und deren Mitglieder „aus der gelehrten und politischen Welt" sich durch „feinen Witz" und „ausgebildeten Geschmack" auszeichnen. Die hier praktizierte „zügelloseste Lizenz der Meinungen wie der Sitten" wird für den Prinzen jedoch zu einem „schrecklichen Korrosiv", das die „natürlichen Stützen seiner Glückseligkeit" zersetzt und gegen „Sophismen" eintauschen lässt.124 Während die hier tätige „unsichtbare Hand" die zentrale Textfigur sukzessive zu kriminellen Zwecken dispositioniert, streben in Goethes Roman die „geheimnisvollen Mächte des Turms" entsprechend ihrer explizit formulierten Maximen die Bildung des Individuums und seine Integration in eine das „Nützliche" wie das „Schöne" befördernde Gemeinschaft an.125 Mit diesen gegensätzlichen Bestimmungen sind zentrale Unterschiede zwischen beiden Texten bezeichnet, die gleichwohl auf einem gemeinsamen realhistorischen und imaginationsgeschichtlichen „Untergrund" beruhen: Bezugsebene sind einerseits die mentalitäts- und sozialgeschichtlich markierbaren Erfahrungen einer fortschreitenden Freisetzung des Individuums aus vorgeprägten Rollenmustern und Wertehorizonten, die in literarischen Produktionen
124 Friedrich Schiller: Der Geisterseher. N A Bd. 16, S. 106f. 125 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehijahre. HA Bd. 7, S. 547.
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4. Exemplarische Analysen
der Zeit und insbesondere in den hier behandelten Texten durch (symbolisch konnotierte) Narrationen und Reflexionen realisiert werden. Bezugsebene sind zum anderen zeitgenössische Beschreibungs- und Erklärungskonzepte zur Modellierung sozialen Handelns, die in personalisierenden Szenarien sowohl publizistisch wie literarisch generiert und verbreitet wurden. Das in Schillers musterbildendem Fortsetzungsroman erwähnte Motiv der „unsichtbaren" bzw. „schlimmen Hand" wie die in Goethes „Bildungsroman" operierende Instanz der „geheimen Lenkung" können so als Textelemente beschrieben werden, die an spezifizierte theoretische wie praktische Wissensbestände ihrer Zeit anschließen und sie zugleich literarisch transzendieren, indem sie den zwischen Verschleierung und Einweihung changierenden „Schein" wie seine sensationsträchtige „Enthüllung" als Vorlage aufnahmen und zur Mobilisierung der Einbildungskraft nutzen. Wie weit dieser zweckfrei unterhaltende Schein einer autonomisierten Literatur sich aber von seinen Ursprüngen emanzipiert hat, zeigt der Umstand, dass eine Lektüre von Goethes LEHRJAHREN ohne jede Berücksichtigung seines arkangesellschaftlichen Kontextes möglich ist.126 Die Auflösung konkreter Referenzen auf die Arkanwelten der 1780er und 1790er Jahre beruht wohl auf dem von Goethe selbst bezeichneten „gewissen realistischen Tic" und demonstriert einmal mehr die Besonderheit seines Vertextungsverfahrens: Die im und durch den Text vollzogene Simulation einer verborgenen Lenkung löscht das „Geheimnis" seines Realbezugs so vollständig aus, dass es selbst fur einen produktiven Leser wie Friedrich Schiller nicht mehr sichtbar war.'27 Das literarische Genre, das der Literarhistoriker Karl Morgenstern 1803 auf den Begriff „Bildungsroman" bringt (und zwischen 1817 und 1824 in einer Serie von Aufsätzen erläutert), wird also in nicht zu unterschätzender, doch artifiziell invisibilisierter Weise von sehr speziellen Wissensbeständen des ausgehenden 18. Jahrhunderts beeinflusst. Die Frage nach Wirkungen dieser Prägung im 19. und 20. Jahrhundert kann in diesem Rahmen nicht beantwortet werden; erinnert sei hier nur an Thomas Manns Roman D E R ZAUBERBERG, der neben strukturellen Homologien mit Goethes LEHRJAHREN zugleich Debatten
126 So etwa in der Gesamtdarstellung des Romans durch U w e Steiner: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3: Prosaschriften. Hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt ( t ) . Stuttgart, Weimar 1997, S. 113-152. 127 J. W. Goethe an F. Schiller. Brief vom 9. Juli 1796. In: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 201. In Reaktion auf Schillers Forderung nach einer deutlicheren Darstellung der verborgen wirkenden „Maschinerie" verteidigte sich Goethe: „Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gern inkognito reisen, das geringere Kleid vor dem besseren wählen,... und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und meine eigne Erscheinung stellen. Sie wissen recht gut, teils wie es ist, teils wie es zusammenhängt."
4.1 Geheime Lenkung, unsichtbare Hand. Menschenwissen, 1776-1796
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zwischen dem (über Adam Weishaupts Illuminatenbund wie über das Rosenkreuzertum dozierenden) Jesuiten Naphta und dem (masonische „Regierungskunst" erläuternden) Kosmopoliten Settembrini enthält, in deren Verlauf auch Vokabeln wie „Emissär", „Obskurantismus" oder „Proselytenmacherei" ihre Reaktivierung finden.'28 - Das besondere Menschenwissen, das in den Jahrzehnten zwischen 1776 und 1796 Eingang in die experimentellen Szenarien der Literatur findet, zeitigt also Wirkungen, die noch einmal zusammenzufassen sind. Begründete Erkenntnisse über die soziale Natur des Menschen im Wechselspiel von Schein und Sein, Simulation und Authentizität bilden den Ausgangs- und Bezugspunkt für die Entwicklung fiktionaler Welten und befördern so die Autonomisierung des Literatursystems, in dem sie (a) die personalen Konfigurationen von Texten erweitern; (b) in der Etablierung von Differenzen zwischen täuschendem Schein und verborgenem Sein innovative Verknüpfungen von Geschehensmomenten ermöglichen; (c) durch asymmetrische Verteilung von Informationen ein initiatorisches Agieren (von Textfiguren innerhalb der fiktionalen Darstellung) und ein initiatorisches Erzählen (über Vorgänge in der fiktionalen Welt) in Gang setzen. Die Bedeutung dieses Prinzips der epistemischen Diskrepanz für die Entwicklung narrativer Textwelten wie für die Entwicklung eines eigenständigautonomen Literatursystems ist noch einmal zu unterstreichen. Denn eine strukturelle Asymmetrie des Wissens (über Sachverhalte, Konstellationen, Personen etc.) bestimmt nicht nur das Verhältnis zwischen literarischen Geheimnisträgern und ihren Gegenspielern auf der Ebene der textinternen Narration, sondern auch das Verhältnis zwischen Textwelt und Leser. Die Erzeugung, Steigerung und sukzessive Auflösung dieser strukturellen Asymmetrie realisiert ein Erzählen, das auf der Ebene der textinternen Narration ein verborgenes Wissen der Textfiguren aufdeckt und in der Kommunikation mit dem Leser zugleich ein Spannungsverhältnis konstituiert, das die Einbildungskraft des Rezipienten dauerhaft bindet. In dieser permanenten Mobilisierung eines Imaginationsvermögens besteht nach dem von Friedrich Schiller während der Arbeit am GEISTERSEHER formulierten „stillschweigenden Vertrag" zwischen Autor und Leser die zentrale Aufgabe des Verfassers; der Leser aber hat im Gegenzug alle Ansprüche auf historische Wahrheit oder moralische Wahrhaf-
128 Vgl. Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M. 1952, S. 696f. wo Naphta die Geheimbundgründung des Adam Weishaupt „ganz nach dem Muster des Jesuitenordens" erläutert und gegen die These von einem Verfall der Arkangesellschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts opponiert. Deutlich konspirationistisch geprägt ist Naphtas Warnung, es sei „ebensowenig daran zu zweifeln, dass die Logen ihre Hand im Weltspiel haben, wie dass man in diesem liebenswürdigen Herrn Settembrini mehr zu sehen hat als eben nur ihn selbst, dass Mächte hinter ihm stehen, deren Verwandter und Emissär er ist..." (S. 702f.). Welche Funktion die Dispute zwischen Naphta und Settembrini haben, wird im Romantext explizit ausgesprochen: Ihr Ziel ist, „wie Hans Castorp wohl wusste,... die Bildsamkeit lichtsuchender Jugend zu bearbeiten" (S. 640).
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4. Exemplarische Analysen
tigkeit zu suspendieren. Das initiatorische Erzählen kann so als ein Startsignal fur die Trennung von faszinierender Unterhaltung, historischer Wissensvermittlung und moralischer Didaktik gelten; die narrativ inszenierte „Entlarvung" konspirativer Akteure bzw. die „Einweihung" in ihre Geheimnisse mitsamt ihren scheinhaften Äquivalenten bildet in dieser Perspektive ein Antriebsmoment für die Autonomisierung einer Literatur, die im Aufbau fiktionaler Welten eigenen „Gesetzen" (Goethe) folgt. Angesichts dieser bis heute wirksamen Muster sind die Funktionen von Wissenselementen in fiktionalen Texten noch einmal zu benennen. Mit interner Komplexitätssteigerung sowie dem Gewinn eines initiatorischen Erzählens auf Grundlage einer mehrfach dimensionierten informationellen Diskrepanz profitieren Romane und Erzählungen, aber auch Dramen und Balladen von Imaginationsgeschichten, in deren Zentrum die Erkenntnis des Menschen als ein Ensemble biopsychosozialer Verhältnisse steht. Der Aufbau fiktionaler Welten mit komplexen Figuren, Handlungssträngen und simulativen Täuschungen folgt der erkenntnisbefördernden Maxime, dass nichts ist, wie es scheint', die Maximierung des Bedeutungspotentials durch funktionale und indexikalische Belegung von Textelementen korrespondiert dem erkenntnistheoretischen Imperativ, die Bestandteile eines markierten Zusammenhangs als verweisende Zeichen auszuwerten. Dichte Verweisungszusammenhänge auf der Textoberfläche sowie subtextuelle Referenzen machen literarische Texte nicht erst, doch in besonderer Weise seit dem 18. Jahrhundert zu einer Herausforderung für den Leser wie den professionalisierten Interpreten: Wenn jedes Element fiktionaler Welten ein (mehrfach deutbares) Zeichen ist, muss der Rezipient zum Träger eines universalen Misstrauens werden - und damit letztlich zum Verbündeten von Textfiguren im Kampf um die Entschleierung des „Scheins". Dieser Schein aber ist - so hat es Friedrich Schiller narrativ demonstriert und theoretisch reflektiert - ein ästhetisches Simulacrum, das zu immer neuen und genaueren Beobachtungen auffordert; Investition von Zeit und Aufmerksamkeit sind die Einsätze, mit denen Leser und Literaturforscher dieses „Schattenspiel" (Ludwig Tieck) bis heute verfolgen.
4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus
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4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus
Ludwig Tieck ist 58 Jahre alt und hat als Dramaturg am Königlichen Theater in Dresden erstmals in seinem Leben eine Stelle, ein Gehalt und einen Titel („Hofrat IV. Classe") inne, als im NOVELLENKRANZ AUF DAS JAHR 1831 sein Erzähltext DIE WUNDERSÜCHTIGEN erscheint. Die 1829 entstandene Novelle schildert eine Krise, die zwei Geheimbund-Emissäre in der sich vernünftig glaubenden Gesellschaft einer Residenzstadt hervorrufen. Auffällig sind schon genaue Markierungen von Handlungsort und Handlungszeit, wenn im ersten der zahlreichen Dialoge die Furcht vor einem erneuten Aufflammen mystizistischer Praktiken mit einem Hinweis auf lebende Garanten einer toleranten Vernunft abgewiesen wird: „So lange noch solche Geister in Deutschland regieren, wie hier uns nahe Friedrich der Zweite, und dort Joseph der Zweite, so lange noch ein Mann wie Lessing schreibt und wirkt, haben wir Nichts zu fürchten."1 Der Leser findet sich also in das Preußen der Jahre vor 1781 zurückversetzt und damit nicht nur in die Kinderzeit des Autors, sondern auch in die bewegte Zeit der Berliner Aufklärung, in der Geheime Gesellschaften und ihre mysteriösen Begleiterscheinungen die Gemüter bewegten. In episch breiter Weise führt die so situierte Novelle die Zerstörung wie die Restauration der aufgeklärten Vernunft vor. Die Aktivisten der Destruktion sind die Bundes-Emissäre Sangerheim und Graf Feliciano, die sich mit der Demonstration angeblich magischer Kräfte der Familie des Geheimrats von Seebach bemächtigen, die öffentliche Meinung okkupieren und das Logenwesen der Freimaurer untergraben. Sich als Meister konkurrierender Geheimgesellschaften ausgebend, inszenieren sie Wundertaten und versprechen ihren Adepten die Einweihung in immer tiefere Geheimnisse - was verständlicherweise beständig verschoben wird. So sammeln sie eine wachsende Schar von Anhängern um sich, die ihren Verheißungen Glauben schenken, bis die Radikalisierung ihrer Vorhaben zur Entlarvung führt: Sangerheim fordert den Protestanten Seebach zur Konversion auf und entpuppt sich als Emissär jesuitischer Propaganda, der selbst von „unbekannten Oberen" gelenkt und geleitet wird. Der Magier Feliciano gibt sich als Inkarnation des Messias zu erkennen, und macht auf diese Weise das Maß voll, denn diesem Frevel kann nur die Entthronung folgen. Von seiner Selbstinszenierung und exzessivem Alkohol-Genuss berauscht, entlarvt er sich selbst lallend als skrupelloser Betrüger - und seinen Adepten, allen voran dem verführten Sohn des Geheimrats von Seebach, gehen endlich die Augen auf. Der Freitod des jesuitisch manipulierten Sangerheim, die Heimkehr des verlorenen Sohnes und das Bekenntnis zur Vernunft beschließen den Text.
1
Ludwig Tieck: Die Wundersüchtigen. In: Ludwig Tieck's Schriften. Dreiundzwanzigster Band. Berlin 1853, S. 157-294, hier S. 164.
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4. Exemplarische Analysen
Auf den ersten Blick zeigen Erzählstruktur und Handlungsverlauf keine besonderen Auffälligkeiten: Es gibt kriminelle Akteure und mehr oder weniger unschuldige Bürger, heimliche Machinationen sowie eine sukzessive Entfaltung von „Schwärmerei" und „Wundersucht" bis zur endlichen Vernichtung der Obskurantisten durch Entlarvung ihrer Geheimnisse. Die Re-Integration der getäuschten Wundersüchtigen in eine bürgerlich-vernünftige Lebensordnung stellt die Harmonie des Anfangs wieder her. Die Forschung hat diese Novelle - deren Handlung durch breite Gesprächspartien mit Reflexion von verschiedenen Standpunkten aus erweitert und kommentiert wird - denn auch als ein Exempel für „die Neigung des alten Tieck zu tendenziöser und dadurch simplifizierender Darstellung"2 verbucht.3 Doch einer genaueren Lektüre offenbart der 1831 veröffentlichte Erzähltext zahlreiche Anspielungen und Verweise, die ein breites kulturhistorisches Wissen dokumentieren und durch umfassende Kontextualisierung zu erschließen sind: In fiktionaler Gestalt finden sich nicht allein Hinweise auf die Praxis der Gold- und Rosenkreuzer, die den preußischen Kronprinzen und seit 1786 regierenden König Friedrich Wilhelm II. folgenreich manipulierten, sondern auch vielfaltige Anschlüsse an die vor allem in der BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT intensiv kolportierte These von der jesuitischen Unterwanderung der aufklärerischen Arkangesellschaften. Daneben enthält die Novelle kenntnisreiche Beschreibungen des „Magnetisierens", d.h. jenes Suggestionsverfahren auf der Basis des von Franz Anton Mesmer entdeckten „animalischen Magnetismus", das in „Magnetischen Gesellschaften" praktiziert wurde und dessen vermeintlich konspirative Verbreitung einen Hauptgegenstand der spätaufklärerischen Publizistik bildete. Zugleich belegt die Novelle DIE WUNDERSÜCHTIGEN eine signifikante Kontinuität im erzählerischen Werk Ludwig Tiecks, spielt sie doch narrativ die Wirkungen und Gegenwirkungen geheimer Machinationen durch, die den Einzelnen wie die soziale Gemeinschaft ergreifen können. Nicht zuletzt dokumentiert der Text den Versuch, auf aktuelle Entwicklungen innerhalb des kulturellen Feldes literarisch zu reagieren. Zur Entfaltung und Klärung dieser Eigenschaften sind knappe Anmerkungen zu machen.
2 3
Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart, Weimar 1995, S. 275. Vgl. Roger Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie. München 1988, S. 265287; detailliert und mit vergleichenden Ausblicken auf die Taschenbuchnovellistik der Biedermeierzeit Ralf Stamm: Ludwig Tiecks späte Novellen. Grundlagen und Technik des Wunderbaren. Stuttgart u.a. 1973, zur Novelle DIE WUNDERSÜCHTIGEN hier S. 106-118. Die Zurechenbarkeit der Novelle zur Tendenzdichtung diskutiert Peter Wosellek: Ludwig Tieck oder der Weltumsegler seines Inneren. Anmerkungen zur Thematik des Wunderbaren in Tiecks Erzählwerk. Wiesbaden 1984, S. 182-195.
4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus
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4.2.1 Diskursive Korrespondenzen Leitend für die Feststellung von Korrespondenzen zwischen historischen Beschreibungs- und Erklärungselementen einerseits und Konstellationen und Handlungsverläufen des narrativen Textes andererseits ist die Annahme, dass die in der Novelle DIE WUNDERSÜCHTIGEN imaginierten Vorgänge um die Geheimbund-Emissäre Sangerheim und Graf Feliciano in exakter Weise einem Diskurs korrespondieren, der seit 1785 in der von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike herausgegebenen BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT gefuhrt wurde und als „Jesuiten-Riecherei" in die Geschichte der deutschen Spätaufklärung eingegangen ist. Dessen verbindende Idee war die von Johann Joachim Christoph Bode, Adolph von Knigge, Friedrich Nicolai sowie Johann Erich Biester und Friedrich Gedike verbreitete These, die 1773 offiziell aufgehobene Gesellschaft Jesu sei der Drahtzieher einer umfassenden Verschwörung gegen die Aufklärung. Durch Verbreitung von „Schwärmerei" und „Aberglauben", vor allem aber durch Unterwanderung von Geheimgesellschaften und Manipulation von Monarchen sollten die Selbstgesetzgebung der Vernunft eingeschränkt und die Macht der katholischen Kirche ausgeweitet werden. Als wichtigste Indizien für die umfassende und konspirativ agierende Oppositionsbewegung gegen die Aufklärung galten die Aktivitäten der geheimnisumwitterten Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Umtriebige Angehörige wie der Jesuitenpater Ignaz Frank (Beichtvater des bayrischen Kurfürsten Karl Theodor und zugleich Zirkelsekretär der Münchener Rosenkreuzer), der Offizier Johann Rudolf von Bischoffwerder (Ratgeber und späterer Generaladjutant von Friedrich Wilhelm II.) und der Pfarrer Johann Christoph Wöllner (Justizminister und Chef des geistlichen Departments unter Friedrich Wilhelm II.) sicherten dieser Arkangesellschaft in der Tat politischen Einfluss und wurden namentlich durch protestantische Aufklärer als Speerspitze des „Kryptokatholizismus" angesehen und bekämpft. Eine direkte Korrespondenz zwischen diesen realhistorischen Vorgaben der Handlungszeit und den Vorgängen in Tiecks Erzähltext hatte Julian Schmidt schon 1854 festgestellt. Umstandslos identifizierte er den handlungstragenden Geheimbund-Emissär Sangerheim als den berüchtigten Geisterbeschwörer Schrepfer - der „gewöhnlich als Werkzeug der Jesuiten und einer der ersten Apostel der Rosenkreuzer bezeichnet"4 wurde - und den sich als Messias ausgebenden Grafen Feliciano als den Arkanpolitiker Cagliostro.5 Auch
4 5
Georg Schuster: Die geheimen Gesellschaften, Verbindungen und Orden. Bd. 2. Leipzig 1906, S. 120. Julian Schmidt: Neue Romane. Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. In: Die Grenzboten 1854, 4, S. 100-107, hier S. 105, wo es über DIE WUNDERSOCHTIGEN heißt: „Eine der besten Novellen unseres Dichters. Die beiden Figuren des Cagliostro und Schrepfer sind sogar nicht ohne Genialität angelegt, und der Wunderglaube des gebildeten Pöbels
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4. Exemplarische Analysen
o h n e sich dieser direkten D e c h i f f r i e r u n g anzuschließen, lassen sich Entsprec h u n g e n z w i s c h e n E l e m e n t e n der historischen V o r s t e l l u n g s w e l t und den Figurationen in T i e c k s N o v e l l e auffinden. D e n n in
figurativer
Ausstattung und
Handlungsstrukturen, vor a l l e m aber in der A n l a g e d e s „aufklärenden" Erzählens i m Sinne einer rationalen Erklärung scheinbar übernatürlicher P h ä n o m e n e griff T i e c k in vielfältiger W e i s e auf W i s s e n s b e s t ä n d e der
novellistischen
H a n d l u n g s z e i t zurück. Ein z u s ä t z l i c h e s Indiz für die historische R e f e r e n z des N o v e l l e n t e x t e s auf R o s e n k r e u z e r - U m t r i e b e u m den preußischen T h r o n f o l g e r Friedrich W i l h e l m liefert die A u s s a g e einer zentralen Textfigur, dass sich „abergläubische M e n s c h e n aus leicht z u errathenden A b s i c h t e n an d e n Erbprinzen [ . . . ] drängen". 6 In d i e s e m Horizont lassen sich die zentralen Protagonisten und ihre B e z i e h u n g e n s o w i e die Konstellationen ihres H a n d e l n s verorten: D e r Geheimrat v o n S e e b a c h präsentiert die ( e x e m p l a r i s c h in L e s s i n g s Freimaurer-Gesprächen ERNST UND FALK a u s g e s p r o c h e n e ) Ü b e r z e u g u n g , n a c h j u g e n d l i c h e r S u c h e nun im „ o f f e n e n G e h e i m n i s " der „ e c h t e n Maurerei" das
6
ist mit einem köstlichen Humor dargestellt." - Die Person des Johann Georg Schrepfer [Schröpfer] (1730-1774) weist in der Tat mehrere Parallelen zur literarischen Figur des Sangerheim in Tiecks Novelle auf: Der aus Nürnberg stammende, im siebenjährigen Krieg als Husar in preußischen Diensten stehende und danach als Kaufhauswirt auftretende Schrepfer hielt in Leipzig spiritistische Seancen ab, in deren Rahmen Geisterzitationen unternommen wurden, bevor er sich im Oktober 1774 in Gegenwart von Freunden - darunter auch Hans Rudolf von Bischoffswerder - im Rosenthal bei Leipzig erschoss. Vorher hatte er diesen Freunden ein Wunder versprochen. Von Schrepfer soll Bischoffwerder eine Laterna Magica zur Geisterbeschwörung geerbt haben, die angeblich durch den sächsischen Kaufmann Christian Emanuel Froehlich von Leipzig nach Berlin transportiert und hier zur manipulativen Beeinflußung Friedrich Wilhelm II. eingesetzt wurde; vgl. Johannes Schultze: Die Rosenkreuzer und Friedrich Wilhelm II. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte Berlins 46 (1929), S. 1-51, hier S. 42, wo zugleich die der Gerüchte um den Transport von Schrepfers Laterna Magica als „Gerede" disqualifiziert werden. - Gegen die von Julian Schmidt vorgenommene Identifizierung der literarischen Akteure Sangerheim und Graf Feliciano mit Schrepfer und Cagliostro wendet Ralf Stamm (Ludwig Tiecks späte Novellen, S. 111) ein, dass Tiecks Text „keinerlei direkte Indizien dafür bietet", gibt jedoch keine nähere Begründungen. Dabei sind die Differenzpunkte zwischen der historischen Person und der literarischen Figur unübersehbar: Während der realhistorische Schrepfer bürgerlicher Herkunft, ungebildet und gewalttätig war, entstammt die literarische Figur Sangerheim der illegitimen Verbindung eines französischen Prinzen und einer bürgerlichen Deutschen, erlangt auf ausgedehnten Reisen durch Europa umfassende Kenntnisse des esoterischen Schrifttums und überzeugt durch kultivierte Umgangsformen. L. Tieck: Die Wundersüchtigen, S. 163. Nach dem schmählichen Ende der Geheimbundaktivisten Sangerheim und Feliciano und der Auflösung der „Wundersucht" erfolgt auf der vorletzten Seite noch ein weiterer Hinweis auf den inzwischen erfolgten Thronwechsel und die Regierung Friedrich Wilhelm II.: Der irregeführte, doch auf den Pfad der Vernunft zurückgekehrte Geheimrat lacht nun über die „abgeschmackte Figur mit dem vielfaltigen Abracadabra, die er damals an abergläubische Brüder nach der nahen Residenz gesendet hatte" und „wurde plötzlich ernst, denn er bedachte, wie in jenem Lande dort der als Monarch herrsche, der damals nur nächster Erbe gewesen war, und welche Thorheiten dort in der Nähe des Thrones getrieben wurden." (Ebenda, S. 293.)
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Ziel der aufgeklärten Vernunft gefunden zu haben. Der Bundes-Emissär Sangerheim vermag zwar durch übernatürlich scheinende Magie zu beeindrucken und den Geheimrat temporär von den Positionen der Aufklärung abzuziehen, entpuppt sich aber als ein von „unbekannten Oberen" jesuitischer Provenienz gelenkter Katholik, der den Protestanten von Seebach zur Konversion bewegen will. Damit personifiziert er jene „Proselytenmacherei", vor denen die BERLINISCHE MONATSSCHRIFT seit Biesters unter dem Pseudonym Akatholikus Tolerans veröffentlichten Beitrag FALSCHE TOLERANZ [...] vom Februar 1784 immer wieder gewarnt hatte. In den mitgeteilten Spekulationen über den geheimnisvollen Wundertäter lassen sich sogar direkte Übernahmen von BMBeiträgen identifizieren: „Man erzählte: dieser Sangerheim sei nichts anders als ein Spion, von einer großen Macht des südlichen Deutschlands ausgesendet, um in den nördlichen Provinzen Zwiespalt auszusäen, und Mißtrauen zwischen Volk und Regierung zu erregen. Der verhaßte Name der Jesuiten wurde nicht geschont, um ihn und seine Freunde zu bezeichnen und verdächtig zu machen. Man wollte in seiner Wohnung eine weiße Frau oder vielmehr ein entsetzliches Gespenst gesehn haben, und der neuerungssüchtige Pöbel fügte hinzu, dass Kobolde und Teufel in seiner Wohnung freien Aus- und Eingang hätten."7 Der imposant agierende Graf Feliciano suggeriert seine angebliche Unsterblichkeit und Einweihung in jahrtausendealte Mysterien mit souveränen Auftritten, entlarvt sich jedoch selbst als zynischer Betrüger. Damit bündelt er Eigenschaften jener Hochstapler in den Hochgradsystemen des 18. Jahrhunderts, die aus der Sucht nach dem Geheimnisvollen persönlichen Gewinn schlugen und als deren bekanntester Vertreter der Sizilianer Guiseppe Balsamo alias Alessandro Cagliostro in Erscheinung trat.8 Während der Sohn des Geheimrats dem vermeintlichen Magier folgt, beabsichtigt der Verlobte von Seebachs Tochter Clara den Übertritt zur katholischen Kirche. Garant der aufgeklärten Vernunft bleibt die Tochter des Geheimrats von Seebach mit dem spre-
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Ludwig Tieck: Die Wundersüchtigen, S. 201. Hier finden sich zum einen Vorstellungen a u s d e m B M - A r t i k e l SCHREIBEN EINES S c H L E S i E R S AN DEN AKATHOLIKUS TOLERANS
vom Juni 1784, in dem nach Hinweisen auf Positionsgewinne der katholischen Kirche in Schlesien über Vorgänge in einer „ziemlich großen, freien Handelsstadt" - wahrscheinlich Augsburg - berichtet und der Kampf gegen den Kryptokatholizismus eröffnet wurde. Zum anderen lässt sich im Gerücht von der „weißen Frau" eine Anspielung auf die abergläubischen Vorstellungen entdecken, die Johann August Eberhard in sein e m B e i t r a g ÜBER DEN URSPRUNG DER FABEL VON DER WEISSEN FRAU in der BERLI-
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NISCHEN MONATSSCHRIFT vom Januar 1783 attackiert hatte. Vgl. dazu den im Dezember 1784 in der BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT publizierten B e i t r a g DER PSEUDO-GRAF CAGLIOSTRO ( A U S DEM TAGEBUCH EINES REISENDEN.
STRAßBURG 1783), in dem eine Personenbeschreibung des angeblichen Grafen gegeben wurde, die in mehreren Details („kleiner, höchst breitschultriger, breit- und hochbrüstiger, dick- und steifnackichter Kerl") mit der Beschreibung des Grafen Feliciano in Tiecks Erzähltext („klein und stark, von breiten Schultern, und sein Kopf stand zwischen diesen etwas eingepreßt auf einem dicken Halse") übereinstimmt.
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4. Exemplarische Analysen
chenden Namen Clara, der nicht zufallig an die Protagonistin in E.T.A. Hoffmanns „Nachtstück" D E R S A N D M A N N erinnert. 4.2.2 Restauration der Vernunft Die in den 1780er Jahren zirkulierenden Wissensbestände und Imaginationskomplexe über Geheimgesellschaften und ihre mysteriösen Trabanten liefern jedoch nicht nur Elemente zur Konstruktion der handelnden Akteure und ihrer Motivationsstruktur. Sie prägen zugleich auch die Muster, mit denen der narrative Text die Ziele und Mittel der geheimen Manipulatoren aufdeckt. Ausführlich erläutert die auktoriale Erzählinstanz die Persönlichkeit des Bundesemissärs Sangerheim und führt ihre Defekte auf eine Sozialisation in den diffusen Arkanwelten des 18. Jahrhunderts zurück. Auch die anfänglich erfolgreiche Suggestion seiner paranormalen Fähigkeiten findet eine rationale Erklärung: Sangerheim beherrscht die Fähigkeit des „Magnetisierens" und setzt seine Ehefrau als somnambules Medium zur Recherche im Unterbewusstsein anderer Personen ein. Diese Rückführung der geheimnisvollen Fähigkeiten des manipulierten Emissärs auf das Vermögen des Magnetisierens ist deshalb so aufschlussreich, weil es dem in den 1780er Jahren verbreiteten Vorstellungskomplex von einer konspirativen Vereinigung katholischer bzw. kryptokatholischer „Proselytenmacher", magnetischer Manipulateure und jesuitischer Drahtzieher korrespondiert. Hinter den magnetischen Gesellschaften und der von französischen Mesmer-Schülern gegründeten „Société Harmonique" vermuteten die „Nicolaiten" schon frühzeitig das Wirken geheimer Orden und vorzüglich das Wirken der offiziell aufgehobenen Societas Jesu; in den „magnetischen Strichen" wollte man eine geheime Botschaft in Form eines Drudenbzw. Alp-Fußes ermittelt haben; die von Cagliostro unternommenen „magnetischen Kuren" hatte der Weimarer Illuminât Bode bereits 1781 als Täuschungsversuche mit bestochenen Medien zur Verführung „schwärmerischer" Gläubiger bloßgestellt. Ihren wohl deutlichsten Ausdruck fanden diese Vorstellungen in der BERLINISCHEN MONATSSCHRIFT vom November 1788, in der eine Maskerade zur Visualisierung der von den magnetischen Gesellschaften ausgehenden Gefahren beschrieben wurde. Diese verschwörungstheoretische Kombinatorik - die in Erzeugung des künstlichen Somnambulismus ein Instrument geheim agierender Jesuiten erkannte - findet sich auch in Tiecks Erzähltext wieder: Der von „unbekannten Oberen" manipulierte Sangerheim nutzt „magnetische Operationen" an der eigenen Ehefrau zum Gewinn seines vorgeblich magischen Wissens, riskiert aber durch die Anwendung des künstlichen Somnambulismus die zunehmende Schwächung und schließlich den Tod seines Mediums. Der narrative Anschluss an die konspirationistische Fabel vom Zusammenhang zwischen simulierter Magie, parapsychologischen Phänomenen und kriminellen Intentionen verschworener Dunkelmänner er-
4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus
397
möglicht auf der Ebene der Erzähllogik die „natürliche" Aufklärung scheinbar übernatürlicher Vorgänge;9 in Bezug auf zugrundeliegende Muster der Beobachtung und Deutung bezeugt er die Wirkungsmacht diskursiver Strukturen, die in den Debatten um „Aufklärung" und „Schwärmerei" in den Arkanwelten des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausgeprägt und in Schillers Romanfragment D E R GEISTERSEHER literarisch umgesetzt worden waren. - Mit der „rationalen Erklärung" geheimer Machinationen griff der Text aber nicht nur auf Wissensbestände und Denkmuster seiner Handlungszeit zurück, sondern schloss sich zugleich einer von Moses Mendelssohn 1785 in der BERLINISCHEN M O N A T S SCHRIFT gegebenen Empfehlung zum Umgang mit einer anwachsenden „Wundersucht" an. Unter der Überschrift SOLL MAN DER EINREISSENDEN SCHWÄRMEREI DURCH SATIRE ODER DURCH ÄUBERLICHE VERBINDUNG ENTGEGENAR-
BEITEN? hatte Mendelssohn explizit erklärt, dass die „Quelle des Übels [...] nicht anders als durch Aufklärung verstopft werden" könne.'0 Wie Mendelssohn, der explizit die Erforschung der Ursachen gefordert und eine verflachte Aufklärung als Grund für die Flucht in Aberglauben und Okkultismus benannt hatte, lieferte Tiecks Text eine sozialpsychologische Erklärung fur die Aufnahme mystizistischer Ideen, die zugleich ein konspirationistisches Misstrauen gegen invisible Hintermänner bewahrte: „Ihm [Sangerheim] war ein brennen-
9
Die rationale Aufklärung scheinbar paranormaler Fähigkeiten verbindet der Text mit expliziter moralischer Verurteilung, die von der somnambulen Agentin in ihrer Todesstunde ausgesprochen wird: „Brauche ich Dir zu sagen, dass alles, was Du bis jetzt errungen hast, Kunststücke sind, die nur darum den Menschen unbegreiflich und wundervoll erscheinen, weil die Wissenschaft sie noch nicht gefunden hat? Jeder Gelehrte kann sie zufällig entdecken, und diese donnernden Explosionen, die sich durch einen Wurf, ohne Spur entladen, werden dann vielleicht ein Spielwerk, mit dem sich die Kinder erschrecken. Und Deine Operationen, diese Blendwerke der Erscheinungen, diese Bilder, die Du zeigst, Deine künstliche, innerliche Sprache, die, wie aus der Ferne, wie die eines Fremden klingt, und womit Du so Viele entsetzest, und sie zu Deinen Zwecken fuhrst; dass ich selbst auch als Geist auftreten muß, - o Alexander, wohin sind wir gekommen? [...] Dass ich auf diese Weise in Deinen weltlichen Absichten Dir habe helfen müssen, ist vielleicht die größte Sünde, die Dir der Himmel nicht anrechnen, und mir meine Schwäche und Nachgiebigkeit verzeihen möge. [...] Dieser künstliche Schlaf, dieser unnatürliche, den Du mir anfangs erregtest, und der sich jetzt immer mehr von selbst einstellt, hat mir Gesundheit und Kräfte aufgezehrt. [...] Ja wohl ist dies eine Zauberei zu nennen, die den Menschen aus seinem eigenen Innersten entrückt; aber eine verderbliche. So Vieles habe ich Dir entdecken müssen, hier und in jener Stadt. Mir ist, ich habe nicht allein die Kräfte meines Körpers, sondern auch Theile meiner Seele dabei zugesetzt." (Ludwig Tieck: Die Wundersüchtigen, S. 265f.)
10
Moses Mendelssohn: Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satire oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten? In: Berlinische Monatsschrift vom März 1785, S. 133-137, hier S. 135. Prägnant auch die sozialpsychologische Erklärung: „Wenn seichte Philosophie und Unsittlichkeit die Gemüter verwildert haben, so sehnen sich die Menschen wieder nach Kindereinfalt und verfallen wieder in Kindertorheit. Man will lieber von Gespenstern umgeben sein, als in einer toten Natur zwischen lauter Leichnamen wandeln. Man will lieber im Schlaraffenlande als länger ohne Gott leben."
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4. Exemplarische Analysen
der Haß gegen die sogenannte Aufklärung, gegen jenen Indifferentismus, der seine Zeit charakterisierte, beigebracht worden. Er hielt es für nothwendig, dass jene Freimaurer, die sich der Rosenkreuzerei, dem Goldmachen und Geisterrufen widersetzten, als Schädliche und Verderbliche ausgerottet werden müßten, weil sie hauptsächlich durch ihren Einfluß und ihre Logen jene lebentödtende Aufklärung verbreiteten."11 Die Gestaltung der Arkanwelten des späten 18. Jahrhunderts, die rationale Auflösung scheinbar übernatürlicher Phänomene und die sozialpsychologische Deutung der „Wundersucht", wie sie Tiecks 1829 entstandener Erzähltext DIE WUNDERSÜCHTIGEN demonstriert, ist jedoch keineswegs nur eine literarische Erinnerung an historische Vorstellungen. Wenn ein zeitgenössischer Leser wie Joseph von Hormayr dem Autor mitteilt, die in der Novelle gegeißelten „Thorheiten" würden „in Berlin immer mehr an Boden" gewinnen,12 belegt diese Aussage die aktuellen Dimensionen eines Textes, der zum einen auf intensivierte Debatten um Magnetismus und Somnambulismus sowie um den wiederhergestellten Jesuitenorden, zum anderen auf Entwicklungen innerhalb des literarischen Feldes reagiert. Nachdem Justinus Kerners 1824 veröffentlichte GESCHICHTE ZWEIER SOMNAMBÜLEN ein eher schwaches Echo gefunden hatte, erregt seine zweibändige Schrift DIE SEHERIN VON PREVORST. ERÖFFNUNGEN ÜBER DAS INNERE LEBEN DER MENSCHEN UND ÜBER DAS HEREINRA-
(Tübingen 1829) sensationelles Aufsehen und löst eine erregte Debatte aus. An der rasch polarisierten Diskussion beteiligen sich Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftler, Literaten und die interessierte Öffentlichkeit in einer Weise, dass Rezensionsorgane eine „neue Wundersucht"13 konstatieren, einen tief eingewurzelten Hang zum Wunderbaren feststellen,14 oder sich von einer Gegenwart distanzieren, in der sich Mystizismus und Frömmelei förmlich organisiert hätten, „um Proselyten zu machen".15 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Bemerkung in einer Rezension zu Tiecks Novelle, das hellsehende Medium Theodora Sangerheim sei „eine Seherin von Prevorst in poetischer Gestaltung"16 - was wiederum auf die mögliche Absicht des Autors verweist, zu gegenwärtigen Disputen um einen neu auflebenden Okkultismus Stellung zu nehmen. Denn neben Kerners kontrovers diskutierter Geisterlehre beunruhigt eine vermeintliche Offensive des im August 1814 durch Papst Pius VII. wiederhergestellten Jesuitenordens und die spätestens seit Beginn der 1820er Jahre signifikante Verbindung zwischen GEN EINER GEISTERWELT IN DIE UNSERE
11 12 13 14 15 16
Ludwig Tieck: Die Wundersüchtigen, S. 276. Joseph von Hormayr an Ludwig Tieck. Brief vom 15. 10. 1830. In: Karl von Holtei. Briefe an Ludwig Tieck. Breslau 1864. Bd. II, S. 14. Literaturblatt zum Morgenblatt für gebildete Stände 1834, Nr. 111, S. 221. Blätter fur literarische Unterhaltung, 1830, S. 599. Blätter für literarische Unterhaltung, 1830, Nr. 185. Blätter für die literarische Unterhaltung 1830, Nr. 326, S. 1303.
4.2 Magnetische Operationen. Imaginationen des Mesmerismus
399
halbwissenschaftlicher Psychologie und religiösem Obskurantismus die Gemüter. Diese Verbindung manifestiert sich im besonderen auch in Clemens Brentanos hierognostischen und magnetischen Experimenten mit der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick und trägt dem ehemaligen romantischen Kollegen Tiecks (insbesondere nach dem Erscheinen des ersten Teils seiner Emmerick-Schriften) den Ruf ein, „korrespondierendes Mitglied der katholischen Propaganda"17 zu sein. Im Kontext dieser seit September 1818 unternommenen und publizistisch ausgebeuteten Versuche kann die in Tiecks Novelle gestaltete Sterbeszene des Mediums Theodora Sangerheim nicht nur als fiktionalisierte Bearbeitung der historischen Spekulationen um „Magnetiseure" und ihre zumeist weiblichen Opfer gelesen werden, sondern zugleich auch als versteckte Abrechnung mit den parapsychologischen „Erkundigungen" des einstigen Mitstreiters aus Jenaer Zeiten.18 - Damit aber schreibt sich der Text in ein attraktives Themenfeld ein. Schon zeitgenössischen Beobachtern war nicht entgangen, dass die erzählende Literatur der 1820er und 1830er Jahren von der Attraktivität der Phänomene „Magnetismus" und „Somnambulismus" nur profitieren konnte: Im Rückblick stellt Wolfgang Menzel 1836 fest, in der jüngsten Vergangenheit habe es kein neues poetisches Taschenbuch gegeben, in dem nicht „eine magnetische oder Geistergeschichte gestanden hätte".19 Als Motiv zur Erzeugung irrationaler Schauerwirkung fand sich der MagnetismusKomplex bereits in E.T.A. Hoffmanns „Phantasiestück" D E R M A G N E T I S E U R von 1813, in Carl Weisflogs D O K T O R V E R B E R von 1827 oder in Lauritz Kruses M E S M E R I S C H E L I E B E von 1830; ironisch gebrochen erschienen die vermeintlichen Wirkungen „magnetischer Operationen" in Karl Immermanns Erzählung D E R C A R N A V A L U N D DIE S O M N A M B Ü L E von 1829 und in Tiecks späterer Novelle L I E B E S W E R B E N aus dem Jahre 1839.20
17
18
So Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin und Weimar 2 1972. Bd. 5, S. 152. In Tiecks Novelle erscheint der Terminus „Propaganda" bezeichnenderweise in Verbindung mit dem für Konspirationstheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts typischen Begriff der „geheimen" bzw. „unbekannten Oberen"; vgl. L. Tieck: Die Wundersüchtigen, S. 217. Der erste Teil von Brentanos Krankengeschichte der stigmatisierten Nonne erschien u . d . T . DAS BITTERE LEIDEN UNSERS HERRN JESU CHRISTI. NACH DEN BETRACHTUNGEN DER GOTTSELIGEN ANNA KATHARINA EMMERICH 1 8 3 3 in S u l z b a c h : d a m i t a n j e -
19 20
nem Ort, der für die magisch-alchemistischen Traditionen des frühen 18. Jahrhunderts sowie für die Formierung des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer 1778 eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Wolfgang Menzel Die deutsche Literatur. Zweite, vermehrte Aufl. in 4 Bdn. Stuttgart 1836. Bd. IV, S. 237. Als sekundäres Motiv oder Stichwort erschien der Somnabulismus bereits in Achim von Arnims Roman GRÄFIN DOLORES von 1810, in E.T.A. Hoffmanns Erzählung DER DOPPELGÄNGER v o n 1 8 1 9 u n d in T i e c k s N o v e l l e n DAS ZAUBERSCHLOSS ( 1 8 2 9 ) u n d
DIE AHNENPROBE (1833). Noch Heinrich Zschokkes VORBEDEUTUNGEN von 1847 variieren das Thema.
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4. Exemplarische Analysen
Tiecks Erzähltext DIE WUNDERSÜCHTIGEN, der unter Rekurs auf die Imaginationsgeschichte geheimer Machinationen im „Jahrhundert des Lichts" die Restauration der Vernunft und damit die Wiederherstellung aufgeklärten Wissens vorfuhrt, weist also mehrere Dimensionen und Adressierungen auf. Zum einen dokumentiert er die sichere Beobachtung des sich ändernden literarischen Feldes durch einen versierten Autor, der seine Position als Repräsentant einer geläuterten Romantik zu behaupten sucht. Zum anderen vermittelt die Novelle mit ihren vielfältigen Hinweisen auf die Arkanwelten des ausgehenden 18. Jahrhunderts einen Eindruck von den Wandlungen literarischer Textverfahren in den 1830er Jahren. Zu vermuten bleibt, dass Tiecks späte Novellistik ein Teil jener restaurativen Erinnerungskultur ist, von der unter anderem Karl Varnhagen von Ense mit seinen biographischen Essais profitieren sollte: Auch dessen biographische Darstellung von Franz Michael Leuchsenring geht eindringlich dem kollektiven Verfolgungswahn des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach und manifestiert in der historischen Beschäftigung mit dem vermeintlich ersten „Jesuitenriecher" den Abstand, den die ergrauten Matadoren der Romantik zu den Projektionen ihrer Jugendzeit gewonnen hatten. Eine fundierte Erklärung sozialen Handelns aber sollte erst eine Gesellschaftstheorie leisten, die von Vertretern der nachfolgenden Generation in Auseinandersetzung mit romantischen Positionen entworfen wurde: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis",21 formuliert Karl M a r x 1845 in den THESEN ÜBER FEUERBACH die A u f n a h m e
und Fortfuhrung einer Religionskritik, die ihr Wahrheitspathos aus dem Gestus der Entlarvung gewonnen hat und im analytischen Durchgang durch die rationalen Formen der modernen Gesellschaft deren verborgenen Grund zu entdecken sucht. Zentrale Denkfiguren wie rhetorische Formulierungen in den Frühschriften von Marx und Engels dokumentieren das subkutan fortwirkende Attraktionspotential eines Enthüllungsdiskurses: Die sich in den 1840er Jahren formierende Gesellschaftstheorie beabsichtigt nicht weniger als die Auflösung von „theoretischen" wie „praktischen Illusionen", die „Entlarvung" der „Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten", die Entzauberung einer zum „Fetisch" erhobenen Geld- und Warenwelt. - Das aber ist eine Geschichte, der es nun nachzugehen gilt.
21
Karl Marx: Thesen über Feuerbach (1845). Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956ff. (MEW). Bd. 3, S. 535.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
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4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
Nicht einmal zwei Jahrzehnte nachdem Ludwig Tieck in seiner Novelle DIE WUNDERSÜCHTIGEN die Zerstörung der bürgerlich aufgeklärten Ordnung durch sinistre Minipulateure mit jesuitischem Hintergrund gestaltet und eine Bewältigung dieser Bedrohung durch Vernunft dargestellt hatte, erscheint im MANIFEST DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI v o n K a r l M a r x ( 1 8 1 8 - 1 8 8 3 )
und
Friedrich Engels (1820-1895) ein anderes, nun kontinental umgehendes „Gespenst", zu dessen Jagd sich „alle Mächte des alten Europa" zusammengefunden hätten. Mit dem Ziel, den aus dem geheimen „Bund der Geächteten" hervorgegangenen „Bund der Gerechten" zum „Bund der Kommunisten" umzuformen und aus dem Dunkel der Konspiration herauszuführen, entwerfen die Autoren Marx und Engels eine neuartige Gesellschaftstheorie: Im Zentrum ihrer systematisch entwickelten Auffassungen stehen komplexe ökonomische Bedingungen, in denen die als Klassenangehörige gedachten Individuen agieren und als sozial konditionierte Kollektivsubjekte zugleich Träger eines langfristigen Emanzipationsprozesses sind. Diese Beschreibung und Erklärung sozialer Verhältnisse schließt monokausale Reduktionen gesellschaftlicher Verhältnisse auf Intentionen bzw. Planungen personaler Akteure aus und bildet zugleich ein Modell für politisches Handeln - es stellt also ein begründetes Wissen dar, in das Erkenntnisse der englischen Nationalökonomie ebenso eingehen wie utopische Gesellschaftsentwürfe französischer Sozialisten und philosophische Spekulationen des deutschen Idealismus. Ein besonderes Charakteristikum dieses neuartigen und überaus folgenreichen Wissens aber sind rhetorische Formen, in denen es erscheint und in Wirkung tritt: Die von Hegels Dialektik wie von Feuerbachs Religionskritik inspirierte Gesellschaftstheorie zielte expressis verbis auf die „Enthüllung" der von gesellschaftlichen Akteuren mit spezifischen Interessen produzierten „Mystifikationen" und auf die „Entlarvung" von Verhältnissen, die die historischen Subjekte selbst hervorgebracht und die sich zu vermeintlich undurchschaubaren Mächten verdinglicht hatten. Noch im berühmten Abschnitt „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" seines 1867 veröffentlichten Hauptwerks DAS KAPITAL wird Marx das „Geheimnisvolle der Warenform" mit charakteristischer Metaphorik als verkehrenden Schein bestimmen - als einen Schein, der „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen". 1 Die virtuelle Selb-
1
Karl Marx: Das Kapital. Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. M E W Bd. 23, S. 6.
402
4. Exemplarische Analysen
ständigkeit einer gesellschaftlich erzeugten Warenwelt wie der davon diktierten Sozialbeziehungen entsteht durch Tilgung ihres artifiziellen und mithin profanen Ursprungs; die in den Dingen akkumulierte Macht ihrer Produzenten scheint als Macht der Dinge selbst zurück und verleiht dem Produkt die „Maske" einer Fremdartigkeit, die seinen „Zauber" und seine „Aura" als Ware ausmacht. Werden in der kapitalistischen Produktionsweise und im Tauschprozess die erzeugten Güter zu Waren, die scheinbar autonomen Bewegungsformen folgen und weder vom Einzelnen noch von der Gesellschaft als selbst produzierte Verhältnisse wiederzuerkennen sind, ist es Aufgabe einer kritischen Theorie, diese „Verblendung" aufzulösen. - Das von Marx und Engels seit den 1840er Jahren verfolgte Projekt, die Differenz zwischen den Subjekten und den Erzeugnissen ihrer Tätigkeit theoretisch einsichtig zu machen und den gesellschaftlich geschaffenen Reichtum praktisch wieder anzueignen, erweist sich so als Ergebnis eines ökonomisch-philosophisch reformulierten Misstrauens gegenüber scheinhaften Verhältnissen (deren Erzeugung aber jetzt nicht mehr intentional handelnden Urhebern, sondern der Logik des Produktionsprozesses zugeschrieben wird). Es realisiert sich in Narrationen und rhetorischen Formen, die in den vorangehenden Abschnitten bereits umrissen wurden: Personalisierende Reduktionen auf intentionale Handlungssubjekte verabschiedend, übersetzt die Marx'sche Gesellschaftstheorie die Erzählung von der Differenz zwischen sichtbaren Wirkungen und unsichtbaren Ursachen in eine Strukturgeschichte der ökonomisch erzeugten Verblendung. Nicht ein von Priestern praktizierter Betrug, nicht die Machinationen arkaner Politik oder die Absichten von Eigentümern sind für die Einrichtung der (schlechten) Verhältnisse verantwortlich - es sind die von den historischen Subjekten selbst hervorgebrachten Produktions-, Distributions- und Konsumtionszusammenhänge und die davon regierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die aufgrund interner Komplexion und wachsender Verflechtung das Gepräge des Undurchdringlichen annehmen. Um den Bann dieser scheinbar undurchdringlichen Verhältnisse zu brechen, ist nicht nur eine politische Theorie zu entwickeln, welche die „Waffen der Kritik" mit einer „Kritik der Waffen" verbinden und das Proletariat als dafür geeigneten Akteur gewinnen sollte. Notwendig ist zugleich eine wissenschaftlich begründete Nationalökonomie, der Marx seit den frühen 1840er Jahre intensive Studien widmet und die nach langen Jahren im Lesesaal des British Museum in den drei Bänden seines (unvollendeten) Hauptwerks D A S KAPITAL Gestalt annehmen wird. Dass auch diese Formulierungen einer wissenschaftliche Theorie als literarisch gestaltete Texte mit dichten Verweisstrukturen und poetischen Formen gelesen werden können, ist nun zu zeigen.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
403
4.3.1 Enthiillungsfiguren des historischen Materialismus 1836 scheiden mehrere Mitglieder aus dem zwei Jahre zuvor von deutschen Emigranten in Paris gegründeten Geheimbund der „Geächteten" aus und bilden den „Bund der Gerechten".2 Während der „Bund der Geächteten" bald ganz einschläft, entwickelt sich die neue Organisation rasch. Ursprünglich nur ein deutscher Zweig des an babouvistische Erinnerungen anknüpfenden französischen Arbeiterkommunismus und wie dieser „halb Propagandaverein, halb Verschwörung",3 gewinnt er nach der erzwungenen Übersiedlung der Aktivisten Heinrich Bauer und Karl Schapper nach London ein erweitertes Wirkungsfeld.4 Noch überwiegen geheimgesellschaftliche Organisationsmuster: Die Gemeinden heißen „Hütten"; Verbindungen werden durch Emissäre hergestellt, der öffentlich wirkende „Deutsche Arbeiterbildungsverein" dient zur Werbung von Mitgliedern fur den im Untergrund tätigen Bund. Im Frühjahr 1847 erscheint der Bundesemissär Joseph Moll bei dem in Brüssel lebenden Karl Marx und unmittelbar danach bei Friedrich Engels in Paris, um sie im Namen seiner Genossen zum Eintritt aufzufordern. Man sei von der allgemeinen Richtigkeit ihrer Auffassungen ebenso sehr überzeugt wie von der Notwendigkeit, die bisherigen konspirativen Traditionen und Formen zu überwinden. Würden die beiden Theoretiker beitreten, sollten sie Gelegenheit erhalten, ihren „kritischen Kommunismus" auf einem Bundeskongress sowie in einem Text zu entwickeln, das als Manifest der Organisation veröffentlicht würde. Marx und Engels willigen ein. Im Sommer 1847 findet ein erster Bundeskongress in London statt, der zunächst institutionelle Änderungen beschließt.
2
Siehe dazu schon die tendenziös verzeichnende Darstellung von Karl Georg Ludwig Wermuth und Wilhelm Stieber: Die Communi sten-Verschwörungen des 19. Jahrhunderts. 2 Theile. Berlin 1853 und 1854. Auch dagegen richtete sich die von Marx 1854 v e r ö f f e n t l i c h t e n ENTHÜLLUNGEN ÜBER DEN KOMMUNISTENPROZEß ZU KÖLN
und
Friedrich Engels 1885 publizierte Darstellung ZUR GESCHICHTE DES BUNDES DER KOMMUNISTEN. Eine dreibändige Quellensammlung (mit deutlicher Parteinahme für die „proletarischen Kräfte, die sich ihrer eigenen Interessen bewußt zu werden und kommunistische Theorien zu entwickeln begannen") wurde vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der KPdSU herausgegeben: Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien. Berlin 1970-84, Zitat Bd. 1: 1836-1849, S. 11); die trotz zahlreicher Detailstudien erste historische Gesamtdarstellung stammt von Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten 1836-1852. Frankfurt/M. u.a. 1993. 3 4
Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten [1885]. M E W Bd. 21, S. 207. Karl Schapper hatte als Student der Forstwissenschaft in Gießen 1832 dem von Georg Büchner gestifteten Verschwörerzirkel angehört und sich am 3. April 1833 am Sturm auf die Frankfurter Konstablerwache beteiligt, bevor er in Paris und London die konspirative Sammlung deutscher Handwerker anleitete. Von Friedrich Engels als „Musterbild des Revolutionärs von Profession" geschätzt ( M E W Bd. 21, S. 207), separierte er sich mit einer „Partei der Tat" im September 1850 vom Bund der Kommunisten.
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4. Exemplarische Analysen
Begriffe und Verfahren des geheimgesellschaftlichen Agierens werden abgeschafft; eine Gliederung in Gemeinden, Kreise, Zentralbehörde und Kongress vorgenommen und eine Umbenennung vollzogen: Der öffentlich auftretende „Bund der Kommunisten" soll eine Partei konstituieren, die ihre Ziele - Aufhebung der bürgerlichen und Begründung einer klassenlosen Gesellschaft durch Propaganda und theoriegeleitete Überzeugung erreichen will. Der zweite Kongress, der von Ende November bis Anfang Dezember 1847 stattfindet, überträgt Marx und Engels die Aufgabe, ein Programm auszuarbeiten. Dem Auftrag folgen die Freunde umgehend. Im Februar 1848 geht in London eine Schrift in den Druck, deren Einleitung an obskurante Verfolger der neuen politischen Bewegung erinnert und der durch „alle Mächte des alten Europa" eröffneten „heiligen Hetzjagd" gegen das „Gespenst des Kommunismus" eine Deklaration von Anschauungen und Zielen („vor der ganzen Welt") entgegensetzt: D A S M A N I F E S T DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI. 5 Organisatorische Reformen und Publizität sind - so jedenfalls stellen es Marx und Engels später dar -praktische Konsequenz eines Wissens, das sie in kritischer Aneignung von klassischer deutscher Philosophie, englischer politischer Ökonomie und Projekten des französischen Sozialismus gewonnen hatten und in die seit 1844 formulierte materialistische Gesellschaftstheorie eintragen: Nicht der noch von Hegel als Krone der sozialen Entwicklung dargestellte Staat, sondern die bürgerliche Gesellschaft ist die Sphäre, in welcher der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Gattungsgeschichte zu suchen sei; deren Grundlage aber bilden materielle Prozesse der Produktion, Distribution und Konsumtion, die in komplexer Weise die politisch-sozialen und ideellen Vorgänge bestimmen.6 Deshalb sei der Sturz bestehender Regierungen „nur eine Episode in dem großen bevorstehenden Kampf', der auf strukturelle Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ziele: Nicht allein die Herrschaft personaler Tyrannen, Despoten und Usurpatoren müsse gebrochen, sondern die Herrschaft „einer weit gewaltigeren, weit furchtbareren Macht für immer zertrümmert werden: die des Kapitals über die Arbeit".7
5 6
7
K. Marx, F. Engels: Manifest der kommunistischen Partei. M E W Bd. 4, S. 461. Schon vor der vielzitierten Formulierung von der „ökonomische Struktur der Gesellschaft" als der „realen Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen" in der KRITIK DER POLITISCHEN ÖKONOMIE (1859; M E W Bd. 13, S. 8) finden sich die terminologisierten Metaphern Termini „Basis" und „Überbau" in Schriften der 1840er Jahre; so etwa in Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. M E W Bd. 1, S. 207, 298, 313; ders.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. M E W Bd. 40, S. 505, 536; ders., Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. M E W Bd. 2, S. 32, 98, 138; dies.: Die deutsche Ideologie. M E W Bd. 3, 23, 28, 33, 35f., 38, 43, 45, 47, 50-77, S. 356; dies: Manifest der Kommunistischen Partei. M E W Bd. 4, S. 473. Friedrich Engels: Der Kommunisten-Prozeß zu Köln. M E W Bd. 8, S. 398f.
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Ein Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen des MANIFESTS DER K O M nimmt der Begründer des kritischen Rationalismus Karl Raimund Popper ihre Verfasser vor dem Vorwurf konspirationistischer Reduktionen in Schutz und erklärt Marx zu einem der „ersten Kritiker der Verschwörungstheorie": Die materialistische Gesellschaftstheorie habe erstmals die unbeabsichtigten Konsequenzen der Handlungen von Menschen analysiert, die in sozialen Systemen agierten und in ihren Verhaltensweisen von vorgeprägten Konditionen abhängig blieben.8 Im „Netz des Gesellschaftssystems gefangen", sei der Kapitalist nach Marx „kein dämonischer Verschwörer, sondern er wird von den Umständen gezwungen, so zu handeln, wie er es tatsächlich tut; er ist für die Lage der Dinge ebenso wenig verantwortlich wie der Proletarier."9 Mit der Einsicht in den konditional determinierten Charakter und die unbeabsichtigten Folgen sozialen Handelns dementiert die von Marx und Engels formulierte Gesellschaftstheorie in der Tat eine zentrale Prämisse des neuzeitlichen Konspirationismus, der auf der Annahme einer direkten Kausalrelation zwischen Absichten bzw. Motiven innerweltlicher Akteure und gesellschaftlichen Verhältnissen gründet: Beobachtbare Ereignisse der sozialen Welt - und auch solche, die unzusammenhängend und unbeabsichtigt scheinen - gelten in dieser Perspektive als zusammenhängende Resultate intentionaler Handlungen von Menschen, die an eben diesen Ergebnissen interessiert sind. Ließen sich diese Akteure und ihre Ziele nicht umstandslos entdecken, waren diese aufgrund bestimmter Motive der Sichtbarkeit entzogen und mussten (der Prämisse entsprechend, dass nichts ist, wie es scheint) aus dem Dunkel invisibler Absprachen und heimlicher Machinationen entborgen werden. MUNISTISCHEN PARTEI
Diesem Tableau, das soziale Beziehungen analog zur Bewegungslehre der klassischen Mechanik modelliert, setzt die materialistische Gesellschaftstheorie die Auffassung vom komplexen Charakter eines widerspruchsvoll determinierten sozialen Handelns entgegen. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", umschreibt Marx in vielzitierten Sätzen die Prin-
8
Karl R. Popper: Versuch einer rationalen Theorie der Tradition (1949). In: ders.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis (1963). T. 1: Vermutungen. Tübingen 1994, S. 175-197, hier S. 181f. Zugleich schränkt er ein: „Aber der wahrhaft wissenschaftliche (wenn auch meiner Meinung nach zu deterministische) Ansatz von Marx ist bei seinen späteren Anhängern, den Vulgärmarxisten, in Vergessenheit geraten, die statt dessen eine populäre Verschwörungstheorie der Gesellschaft aufgestellt haben, die in ihrer Haßerfulltheit (und Neiderfülltheit) nicht besser ist als der Nazi-Mythos vom Protokoll der Weisen von Zion."
9
Ders.: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften (1948). In: ders.: Vermutungen und Widerlegungen. T. II: Widerlegungen. Tübingen 1997, S. 487-503, S. 496.
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4. Exemplarische Analysen
zipien des historischen Materialismus.10 Weniger oft zitiert finden sich die unmittelbar anschließenden Sätze: „Und wenn sie [die Menschen] eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."11 - Mit dieser Einsicht benennt der an Hegel wie an Feuerbach gleichermaßen geschulte Marx einen Grundzug der eigenen Theoriebildung: Entlehnte „Schlachtparolen" und „Kostüme" sowie eine „erborgte Sprache" prägen auch die Formulierung eines Wissens, das in der Beobachtung nicht kalkulierbarer Folgen intentionaler Handlungen bisherige Deutungs- und Erklärungsmuster des Sozialen in Frage stellte - und diese neue, umwälzende Erkenntnis in einer rhetorischen Gestalt vorträgt, die ihre Überzeugungskraft aus dem Gestus radikalen Entlarvens, Demaskierens, Enthüllens und im Medium der Metapher gewinnt: „Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven", heißt es schon in Marx' 1844 veröffentlichter Schrift ZUR KRITIK DER HEGELSCHEN RECHTSPHILOSOPHIE, die Feuerbachs Aufde-
ckung der verschleierten Konstruktionsprinzipien religiöser Anschauung aufnimmt und eine theoretische Transformation von „Kritik" projektiert.12 Schon hier geht der Begriff der „Kritik" über ein theoretisches Verhalten hinaus: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf." Sind anfanglich nur „Gewebe von praktischen Illusionen" aufzulösen,14 „Geheimnis" und „Mysterium" der Bürokratie zu entschleiern15 oder die theoretischen Irrtümer früherer Weggefährten zu „entlarven",16 richten sich die Bemühungen schon bald auf 10 11 12 13 14 15 16
Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], MEW Bd. 8, S. 115. Ebenda. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1, S. 379; Hervorhebungen im Original. Ebenda, S. 379; Hervorhebungen im Original. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW Bd. 1, S. 248; Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 249. Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie [1845/46], MEW Bd. 3, S. 13: „Der erste Band dieser Publikation hat den Zweck, diese Schafe, die sich für Wölfe halten und dafür gehalten werden [Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner u.a.] zu entlarven, zu zeigen, wie sie die Vorstellungen der deutschen Bürger nur philosophisch nachblöken, wie die Prahlereien dieser philosophischen Ausleger nur die Erbärmlichkeit der wirklichen deutschen Zustände widerspiegeln. Sie hat den Zweck, den philosophischen Kampf mit den Schatten der Wirklichkeit, der dem träumerischen und duseligen deutschen Volk zusagt, zu blamieren und um den Kredit zu bringen."
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
407
die Aufdeckung verborgener Gesetzmäßigkeiten: Die Vorrede zum 1867 veröffentlichten KAPITAL bestimmt als „letzten Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" und so dem in der Gesellschaft wirkenden „Naturgesetz ihrer Bewegung" auf die Spur zu kommen.17 Dieser Zielstellung entsprechen Denkfiguren und rhetorische Verfahren: Um etwa die „Verwandlung von Geld in Kapital" zu verfolgen, muss der Beobachter die „geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre (des Markts oder der Zirkulationssphäre) verlassen" und „zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer [...] in die verborgne Stätte der Produktion" eindringen: „Hier wird sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital. Das Geheimnis der Plusmacherei muß sich endlich enthüllen."18 Ein so gewonnenes Wissen erfasst gegensätzliche Phänomene als Aspekte eines Prozesses, dessen Qualitäten durch rhetorische Maximierungen und traditionsreiche Narrative besonders drastisch vor Augen gestellt werden. Der Kenntnis ökonomischer Gesetze enthüllt sich der „innere Zusammenhang" zwischen der „Hungerpein der fleißigsten Arbeiterschichten" und dem auf privater Kapitalanhäufung gegründetem „Verschwendungskonsum der Reichen"; 19 die Einsicht in das „Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation" 20 legt - die alttestamentarische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies umkehrend die Antinomie des modernen Kapitalismus frei: „Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben."21 Diese Rhetorik des Entlarvens, Demaskierens, Enthüllens weist mehrere Funktionen auf. Die bildgewaltige Sprache mit ihren konstitutiven Metaphern eröffnet zum einen den epistemischen Raum, in dem sich ein die Differenz von Schein und Sein deklinierendes Entdeckungswissen entfalten kann. Sie zielt zum einen auf die überzeugende Visibilisierung verborgener Prozesse, deren Spezifik eben darin besteht, dass sie nicht mehr personal zurechenbar sind. Denn der Einsicht in die ökonomisch fundierten Bedingungen sozialen Handelns entsprechend, beobachtet die moderne Gesellschaftstheorie nicht mehr
17
18 19 20 21
Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Bd. 23, S. 15f. Von „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion" spricht Marx im Vorwort schon vorher (ebenda, S. 12) und bezeichnet Ware und Wertform der Ware zugleich als „ökonomische Zellenform" der bürgerlichen Gesellschaft, deren Analyse mit einer „mikrologischen Anatomie" zu leisten sei. Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 189. Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 687 Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 741. Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 741.
4. Exemplarische Analysen
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individuelle Akteure oder arkane Zirkel, die hinter einer bewusst erzeugten Fassade der Täuschung ihre (im Blick des Beobachters) klar definierten Absichten und Ziele verfolgen, sondern Klassen und Schichten, deren Handlungsweisen im öffentlichen Raum die ihren Angehörigen zum Teil selbst verborgenen Intentionen zum Ausdruck bringen, durchkreuzen und neue Maskierungen erzeugen können. Observiert wird also eine von Klassenverhältnissen diktierte und von Kollektivsubjekten realisierte Handlungslogik, die es ermöglicht, „der exploitierenden Klasse" die „Maske" bzw. „trügerische Larve abzureißen"22 - die aber nicht den beteiligten Akteuren zuzurechnen sind, sondern sich aus dem „naturgeschichtlichen Prozeß" der „Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation" ergeben.23 4.3.2 Warenanalyse und symbolische Interpretation Damit gelangt jener Schnittpunkt in den Blick, der die besondere Qualität der marx'schen „Enthüllungen" ausmacht. Denn die von Theorie und Rhetorik geleiteten Akte des Entlarvens, Demaskierens und Enthüllens scheinhafter Zusammenhänge richten sich auf jenes Zentrum, das die bislang übersehene Basis sozialer Beziehungen ausmacht: die Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren. Die wissenschaftlich begründete Waren- und Wertanalyse bildet das Feld, auf dem sich Poesie und Wissen, Rhetorik und Erkenntnis begegnen und durchdringen. Ausgang (und Ziel) bildet eine Einsicht, die in der Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie und Feuerbachs Religionskritik gewonnen und in einem immer wieder ausgesprochenen wissenspoetischen Imperativ artikuliert wird: Eine „verkehrte Welt" und ein davon bestimmtes „verkehrtes Weltbewußtsein" sollen theoretisch erkannt und praktisch aufgehoben werden.24 Auf dieser Grundlage lassen sich alle transzendenten Anschauungen - insbesondere der Religion - als phantasmagorische Codierungen menschlicher Kräfte und Beziehungen entschlüsseln: und zugleich die Figuren der irdischen Entfremdung aufdecken. Eben deshalb formuliert der junge Marx ein Programm, das geschichtsphilosophische Erwartung und gesellschaftstheoretische Analyse mit einer Rhetorik der Konsequenz verknüpft:
22 23
Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. MEW Bd. 7, S. 29. Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 15f. wo es gegen „mögliche Mißverständnisse" prononciert heißt: „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag."
24
Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1, S. 378; Hervorhebungen im Original.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
409
„Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik."25 Der entscheidende Punkt dieses Programms ist eine Gegenstandskonstitution, die einem spezifischen Beobachtungsverfahren korrespondiert und ihre Ergebnisse wieder in den modellierten Gegenstand einträgt. Denn die Forderung, „die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven" und die „Kritik des Himmels" in eine „Kritik der Erde" zu überfuhren, setzt die Annahme von Analogieverhältnissen zwischen religiösen Mystifikationen und verkehrten irdischen Beziehungen voraus, die durch Entdeckung ihrer verborgenen Grundlagen aufgedeckt werden können. Diese Präsupposition prägt die theoretische Modellierung der modernen Gesellschaft. Religiöse Vorstellungen stellen nicht nur historisch vergangene symbolische Formen dar, deren Herrschaft durch eine säkularisierende „Entzauberung" gebrochen ist; vielmehr bleiben sie auch unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen dominante Konstituenten des gesellschaftlichen Bewusstseins, die kritisch zu entziffern und praktisch zu überwinden sind. Für die marxistische Theoriebildung gilt, dass verzerrende religiöse Formen der Selbstentfremdung auch die moderne ökonomischen Entfremdung imprägnieren: Gleichsam magisch wirkende Kräfte prägen auch die moderne Gesellschaft, so dass in einer profanen Arbeitsgesellschaft erneut Figuren der religiösen Mystifikation erscheinen - doch nicht mehr in abgegrenzten Symbolwelten, sondern in der Tiefenstruktur der Produktion und des Warentausches selbst. Geld zirkuliert als „der wirkliche Geist aller Dinge" und als die „sichtbare Gottheit", die eine „Verwandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil, die allgemeine Verwechslung und Verkehrung der Dinge" möglich macht;26 der „Goldgral" erscheint der modernen Gesellschaft als „die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips";27 der Übergang von Warenwert in Tauschwert vollzieht sich als verwandelnde „Transsubstantiation".28 Die entscheidende Operation, mit der die Modellierung der aufgeklärt-rationalen Gesellschaft zu einer von Schein und Verblendung beherrschten Gesellschaft vollzogen wird, be-
25 26
Ebenda. Hervorhebungen im Original. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. MEW Bd. 40, S. 564. Die aus William Shakespeares Drama TIMON VON ATHEN übernommene Umschreibung des Geldes als „sichtbare Gottheit" erscheint wieder in der Gemein-
27 28
Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 146f. Ebenda, S. 118.
s c h a f t s a r b e i t D I E DEUTSCHE IDEOLOGIE, M E W B d . 3, S. 2 1 2 .
410
4. Exemplarische Analysen
steht in der Einführung und Modifizierung eines Begriffs- bzw. Bildfeldes, das der junge Marx während seiner Bonner Studienzeit kennen lernte: Der Terminus „Fetisch" und seine Konnotationen, die sich der Student der Rechte im Zuge von Exzerpten fur ein gemeinsam mit Bruno Bauer geplantes Publikationsprojekt über die Hegeische Religionsphilosophie angeeignet hatte, ermöglicht den Übergang von einer ökonomisch-soziologischen Analyse zu einer symbolischen Interpretation der Gesellschaft,29 Dabei wechselt das FetischKonzept selbst seinen Status. Von einem deskriptiven Terminus zur Bezeichnung von Ritualformen traditionaler Gesellschaften (wie bei Charles de Brosses und Auguste Comte) avanciert „Fetisch" zu einer Zentralmetapher, die es erlaubt, die verborgenen Tiefenstruktur des modernen Kapitalismus polemisch zu entlarven. Die religiöse Denkfigur wird von Marx gesellschaftskritisch gewendet und zugleich generalisiert, wodurch die rational warenproduzierende und -tauschende Gesellschaft ihrerseits als untergründig religiös strukturierter Verblendungszusammenhang erscheint. Die privatkapitalistische Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums verkehrt Arbeit - wesentliche Form der menschlichen Entäußerung und Selbstverwirklichung - in abstrakte Waren- und Tauschverhältnisse, so dass die vom Menschen selbst hervorgebrachten Gegenstände und Beziehungen nicht als Resultate seiner Tätigkeit erscheinen, sondern sich als unpersönliche Mächte verselbständigen und dem Menschen als fremdartige und unbeherrschbare Gewalten gegenüberstehen. Der berühmte Abschnitt „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" im ersten Band des KAPITALS, von Karl Korsch als „Kern der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie" bezeichnet,30 bringt es auf den Punkt: Hier wird das „Geheimnisvolle der Warenform" aufgedeckt und für die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen" eine Analogie aus der „Nebelregion der religiösen Welt" gefunden, die überzeugend erklärt, wie die artifiziellen 29
30
Vgl. Hartmut Böhme: Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext. In: Volker Gerhardt (Hrsg.): Marxismus. Versuch einer Bilanz; Magdeburg 2001, S. 289-319. Marx exzerpiert das 1760 erschienene Buch Du CULTE DES DIEUX FÉTICHES von Charles de Brosses, das erstmals die Religionen Zentralafrikas mit ägyptischen Zauberkulten parallelisiert hatte. In Rückgang auf ältere Quellen leitete de Brosses das Wort Fetisch vom portugisieschen fetisso ab und löste sich von der lateinischen Etymologie (factitius, künstlich, falsch), was den Fetisch abwertend in die Nähe falschen Zaubers gerückt hatte. Die begriffliche Abstraktion von Fetisch zu Fetischismus erlaubt eine präzisere Bestimmung der (neben dem Sternenkult ältesten) Religionsform als Kult irdischer und materieller Gegenstände oder auch von Tieren, die keineswegs Götter selbst darstellten, wohl aber mit einer göttlichen Kraft ausgestattet seien, wozu de Brosses auch Amulette und Talismane zählte. Das Werk de Brosses' erschien 1785 auf deutsch in Berlin und Stralsund und wurde von Mythenforschern wie Creutzer und den Grimms sowie von Philosophen wie Kant, Schelling und Hegel zur Kenntnis genommen. Die von Marx 1842 in Bonn angefertigten Exerpte finden sich in MEGA IV/1, S. 320-329; dazu auch Klaus Marquardsen: Fetische als Negation der Wirklichkeit. Prolegomena zu einer Theorie des Fetischismus. Frankfurt/M. 1984, S. 21 f. Karl Korsch: Karl Marx. Frankfurt/M. 3 1971, S. 101.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
411
Züge der produzierten Güter und Beziehungen verschwinden und ihren Produzenten als virtuell fremde Mächten gegenüberstehen.31 Gesellschaftlich erzeugte Produkte werden zu „Fetischen", wenn sie den Schein einer gleichsam naturhaften und außermenschlichen Existenz annehmen und die in ihre Herstellung investierten Wesenskräfte des Menschen als Macht der Dinge zurückspiegeln. Durch privatkapitalistische Aneignungs- und Tauschverhältnisse zu Waren transformiert, werden die Produkte von ihren Produzenten separiert und gewinnen eigene Bewegungsformen, die sich zwischen die Subjekte und ihre Lebensmittel schieben. Die so verdinglichte Warenwelt schlägt das Subjekt in einen Bann und lässt in der Ware nicht mehr die Signatur der eigenen Tätigkeit erkennen: Der Fetischcharakter verleiht dem Produkt die „Maske" einer Fremdartigkeit, die seinen Zauber und seine Aura als Ware ausmacht. Zum anderen erklärt das Fetisch-Konzept die Kohäsionspotentiale „entfremdeter" Verhältnisse, die sich aus Arbeitsteilung, Privateigentum, Warentausch und der Herrschaft der „sichtbaren Gottheit" des Geldes ergeben und alle sozialen Beziehungen beherrschen. Der fetischisierende Charakter der kapitalistischen Warenproduktion verschleiert die Entfremdung; er spendet ihre zugleich beängstigende wie anziehende Macht und verleiht der abstrakten Logik der Tauschverhältnisse soziale Bindungskraft. Seine Pointe gewinnt der so dimensionierte Metaphernkomplex aus einer Verschmelzung von analytischer Schärfe und rhetorischer Gewalt, die ein praktisches Ziel hat. Die „Kritik der politischen Ökonomie", als die sich Marx' wichtigste Schrift versteht, verschlingt das Auflösungsvermögen wissenschaftlicher Erklärungen mit dem Gestus der kritischen Entlarvung verborgener Verhältnisse in der Absicht, die Bannkraft dieses (rhetorisch maximierten) Fetischismus aufzulösen und zu brechen. Dazu aber müssen die invisiblen Regeln der Warenproduktion und des Tauschverkehrs aufgedeckt und verkehrte Vorstellungen als Resultat eines davon diktierten Verblendungszusammenhangs einsichtig gemacht werden - was Marx durch ein Feuerwerk poetischer Formen und aufschlussreiche Änderungen an der ursprünglichen Verwendung des „Fetisch"-Begriffs vornimmt. Waren Fetische in traditionalen Kulturen transitorisch, ortsgebunden und abhängig von Manipulationen des „Fetischdieners" (dereine göttliche Energie durch rituelle Handlungen implantieren oder auch entziehen konnte), gilt der Fetischcharakter der Ware nun ebenso wie der Fetischismus des Wirtschaftshandelns als strukturelle Eigenschaft des modernen Kapitalismus: Die Macht des Fetischs ist universal; sie verleiht dem Geld - „nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs"32 - „göttliche" bzw. „wahrhaft schöpferische Kraft", die gleichsam zauberhaft die endlichen Potentiale des Subjekts multipliziert und die mensch-
31 32
Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 86f. Ebenda, S. 108.
412
4. Exemplarische Analysen
liehe Wesenskräfte zu etwas macht, was sie an sich nicht sind." Der Fetischismus ist in wechselnden Gestalten präsent: In der „Magie des Geldes"34 ebenso wie in Gold und Silber, die ein „Naturprodukt, ein in den Eingeweiden der Erde steckendes und aus ihr ausgrabbares Metall" sind und zugleich „den Reichtum als Fetisch in der Form eines einzelnen Dings kristallisieren".35 Er findet seine „Inkarnation" in Edelmetallen, „die nicht nur Produkt des Zirkulationsprozesses, sondern in der Tat sein einziges ruhendes Produkt" sind,36 während Gold - „der materielle Repräsentant des stofflichen Reichtums" wiederum „der Form nach die unmittelbare Inkarnation der allgemeinen Arbeit und dem Inhalt nach der Inbegriff aller realen Arbeiten" ist.37 Wird das in Geld transformierte Gold auch als „der Herr" tituliert, der vom „Knecht" bzw. dem „bloßen Handlanger" und „Mittler der Zirkulation" zum „Gott der Waren" aufgestiegen sei,38 sprechen die metaphorischen Ausdrücke ihre ideengeschichtliche Herkunft und Stoßrichtung offen aus: Die dialektische Modellierung der Beziehungen von Herr und Knecht aus Hegels PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES und die von Feuerbach vorgeführte Entschleierung religiöser Mystifikationen speisen ein Szenario sozialen Handelns, das den Bann scheinhafter Verblendung durch rhetorische Intensivierungen anschaulich und fühlbar machen will. Deshalb spricht Marx dem Geld eine „goldene Herrlichkeit" zu;39 deshalb nutzt er zur Modellierung der Ware-Geld-Ware-Zirkulation christologische und eucharistische Metaphern wie „Trinität", „Inkarnation" und „Transsubstantiation",40 auf mythische Zusammenhänge verweisende Begriffe wie „Metamorphose" und „Hieroglyphe",41 oder auf abergläubische Vorstellungen rekurrierende Formeln wie „Zauber und Spuk".42 Um den abstrakten Verhältnissen von Warenproduktion und Warentausch auf den verborgenen Grund zu gehen und dieses Ursachenwissen zu kommunizieren, greift er zu personifizie-
33 34 35 36 37 38 39 40
41
42
So schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844, MEW Bd. 40, S. 565; weiter im ersten Band des Kapitals, MEW Bd. 23, S. 144ff. Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 107. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859], MEW Bd. 13, S. 130f. Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 103, Hervorhebung im Original. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 103. Von der „Trinitität" Kapital - Arbeit - Arbeitslohn bzw. der „ökonomischen Trinitität" spricht Marx im dritten Band des Kapital, MEW Bd. 25, S. 825, 837, 838; die Begriffe „Inkarnation" und „Transsubstantiation" finden sich in Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859], MEW Bd. 13, S. 67, 70, 103, 128, 130, 134 sowie im ersten Band des Kapital, MEW Bd. 23, S. 81, 107, 113, 117, 132, 145-147, 151,618. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie [1859], MEW Bd. 13, S. 69-79 („Die Metamorphosen der Waren"), 83, 85, 100, 103-106, 113, 114-116, 118 u.ö.; ders.: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 118-120, 124f„ 127-130, 144, 149f„ 172 u.ö. Karl Marx: Das Kapital. Erster Bd. MEW Bd. 23, S. 90; ders.: Das Kapital. Dritter Bd. MEW Bd. 25, S. 838.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
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renden Tropen: Er schildert nicht nur das „Überspringen des Warenwertes aus dem Warenleib in den Goldleib",43 sondern auch „die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben".44 Dieses Arsenal rhetorischer Figuren wird mit einem Ziel aufgeboten, dem schon der junge Marx folgt: „Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. [...] man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!"45 Die aufsprengende Darstellung versteinerter Verhältnisse aber folgt jener Logik der Entlarvung, die das Verkehrte umso radikaler zu enthüllen vermag, je stärker es zuvor in seine Beobachtung eingeschrieben wurde. Mit anderen Worten: Besteht das Ziel in der Auflösung eines „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist",46 muss dessen bannende Gewalt entsprechend intensiv formuliert werden. Um den „anklebenden", alles beherrschenden Schein zu durchschauen, sind rhetorisch maximierte Entlarvungsgesten notwendig, die den Gegenstand ihrer Observationen partiell selbst erzeugen. Eben darum radikalisiert der dritte Band des KAPITALS die Rhetorik einer mystisch-mythischen Animation bis zur Modellierung einer lebendigen, sich selbst reproduzierenden und vermehrenden Macht: Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis „seine äußerlichste und fetischartigste Form";47 der in Geldform akkumulierte Reichtum erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, mithin seiner eigenen Vermehrung. In der reinen „Ding"-Form des „zinstragenden Kapitals", die keine Reifikation, sondern Belebung eines toten Aggregats zu selbstreproduktiver, organischer Substanz darstellt, erkennt Marx, wie „dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet" wird und zugleich so natürlich Zins abwirft wie der Birnbaum Birnen trägt.48 Um diese „Kapitalmystifikation in der grellsten Form"49 zu entschleiern, zieht der Text widersprüchliche Bestimmungen heran: Der Fetisch ist „inhaltlose Form" und „ursprüngliche und reine Formel", gleichzeitig aber „Ding" und also anorganische Materie; Geld heckendes Geld trägt „keine Narben seiner Entstehung" und also keine Spuren organischer Existenz, funk-
43
Karl Marx: Das Kapital. Erster Bd. MEW Bd. 23, S. 120.
44
Karl Marx: Das Kapital. Dritter Bd. M E W Bd. 25, S. 838.
45
Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Bd. 1, S. 381. Karl Marx: Das Kapital. Erster Bd. M E W Bd. 23, S. 86f.
46 47
Karl Marx: Das Kapital. Dritter Bd. MEW Bd. 25, S. 404.
48
Ebenda, S. 405.
49
Ebenda, S. 405.
414
4. Exemplarische Analysen
tioniert „automatisch" und zwar (wie im ersten KAPITAL-Band explizit ausgesprochen) als ein perpetuum mobile,50 d.h. als eine sich selbst antreibende Maschine ohne Energieverlust - was später mit dem Hinweis auf das Gesetz des fallende Profitrate wieder dementiert wird. 5 ' Gleichzeitig aber wächst und vermehrt sich das Kapital analog zu organischen Gestalten, folgt den Regulativen autopoietischer und selbstreferentieller Prozesse und kennt als „beseeltes Ungeheuer" Eros und Begehren: „Arbeitet" das Kapital schon bei der Umwandlung von Geld in Ware, „als hätt' es Lieb' im Leibe";52 ist vor allem das zinstragende Geldkapital von libidinöser Energie beherrscht: „Das Geld hat jetzt Lieb' im Leibe", zitiert Marx im dritten Band aus Goethes FAUST.53 Als Produkt vergangener Arbeit ist Geld im Zinsprozess „geschwängert mit einem Stück gegenwärtiger oder zukünftiger lebendiger Mehrarbeit".54 Noch die abschließende Bestimmung der „vollendeten Vorstellung vom Kapitalfetisch" verbleibt in irritierender Ambivalenz, wenn dem in Geldform „aufgehäuften Arbeitsprodukt" einerseits „Kraft" und „eine eingeborne geheime Qualität" zugeschrieben wird, es andererseits als „reiner Automat" mit „geometrischer Progression" erscheint.55 Die so formulierte handlungsleitende Einsicht aber ist das Produkt von Zuschreibungen, deren konstruktive Mechanismen noch einmal zu betonen sind. Die rhetorischen Formeln, mit denen der systemimmanente „Fetischismus" aufgelöst und die „verzauberte und verkehrte Welt" mitsamt dem „verkehrten Weltbewußtsein" richtig gestellt werden sollen, demonstrieren ein Beobachtungsverfahren, das über die Modellierung ökonomischer Zusammenhänge hinaus eine semiologische Theorie des Gesamtprozesses der kapitalistischen Gesellschaft entwirft und zugleich ihre Überwindung projektiert.56 Schon im MANIFEST DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI von 1848 folgt der luziden Darstellung der versachlichten Beziehungen in der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft der knappe Ausblick auf eine Assoziation, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".57 Ähnlich führt es D A S KAPITAL vor: Innerhalb des Kapitels zum „Fetischcharakter der Ware" schließt sich der Analyse des Warentauschs eine kontrafaktische Imagination 50 51 52 53 54 55 56
57
Karl Marx: Das Kapital. Erster Bd. MEW Bd. 23, S. 144. Karl Marx: Das Kapital. Dritter Bd. MEW Bd. 25, S. 411. Karl Marx: Das Kapital. Erster Bd. MEW Bd. 23, S. 209. Karl Marx: Das Kapital. Dritter Bd. MEW Bd. 25, S. 406; Johann Wolfgang von Goethe. Faust I,v. 2132-49. Karl Marx: Das Kapital. Dritter Bd. MEW Bd. 25, S. 412. Ebenda. So William Pietz: Fetishism and Materialism: The Limits of Theory in Marx. In: Emily Apter, William Pietz (Eds.): Fetishism as cultural discourse. Ithaca, London 1993, S. 119-151. Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. MEW Bd. 4, S. 482.
4.3 Gespenstergeschichten. Theorien sozialer Systeme
415
an, die in einer Utopie eines „Vereins freier Menschen" gipfelt und die Auflösung theoretischer wie praktischer Mystifikationen in Aussicht stellt: „Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht."58 So werden die Funktionen der Enthüllungs-Rhetorik in der marxistischen Theoriebildung verständlich: Die kontrafaktisch imaginierte Transparenz von frei vergesellschafteter Produktion und planmäßigem Gütertausch bildet die Folie, vor welcher die anarchische Warentauschgesellschaft den Status eines magischen Banns gewinnen kann. Die positiv bewertete Komplexitätsreduktion in idealkommunistischer Gemeinschaft liefert das Hintergrundbild fur die negativ hypostasierte Komplexitätssteigerung des Kapitalismus, der in „industrielle Pathologie" 59 und fetischistische Verblendung mündet. Das so erzeugte Bild eines mit der Warenproduktion unzertrennlich verbundenen Banns zwingt einen handlungspraktischen Schluss förmlich auf: Keine Reform, sondern nur eine Revolution kann diese strukturelle Verzauberung brechen. Die verzerrten Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft sind nicht reformierbar, sondern nur mit einem Schlag abzustreifen. Die von den Menschen selbst erzeugte „zweite Natur" gewinnt im omnipräsenten Verblendungszusammenhang jenen fatalistischen Schein, der nicht nur theoretisch entlarvt, sondern praktisch zerschlagen werden muss. Um eine solche utopische Energie zu generieren, muss sich die moderne Gesellschaftstheorie als Enthüllungsdiskurs präsentieren, der mit dem faszinierenden Bild frei vergesellschafteter Individuen die wissenschaftliche Aufdeckung verborgener Gesetzmäßigkeiten befeuert - und diese Entdeckung eines verborgenen Banns wiederum zum Antrieb von Hoffnung macht. Das Bild des Kapitalismus als Produkt und Produzent idolatrischen Scheins ist Resultat einer Observation, deren untergründige Fundamente nun ebenso benannt werden können wie ihr rhetorisches Kraftzentrum: Die Suche nach dem verborgenen Grund sozialer Verhältnisse und die Entlarvungsfiguren einer Religionskritik, die nicht mehr den Priestertrug, sondern die Konstruktionsprinzipien religiöser Anschauungen freizulegen sucht, verbinden sich mit utopischen Entwürfen aus deutschem Illuminatismus und französischem Frühsozialismus, die schon die frühen Bundesgenossen von Marx und Engels bzw. diese selbst zeitweise beeinflusst hatten.60 Mit seiner in den 1840er Jahren
58 59 60
Karl Marx: Das Kapital. MEW Bd. 23, S. 94. Ebenda, S. 384f. Ideelle und organisatorische Wirkungen von Illuminatismus und Jakobinismus auf den frühen „Communismus" sind nicht zu unterschätzen: Der Junghegelianer Edgar Bauer beginnt in der von Karl Marx redigierten RHEINISCHEN ZEITUNG eine Artikelfolge COMMENTARE ZUR GESCHICHTE DES ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS, d e r e n e r s t e r T e i l
ADAM WEISHAUPT UND DIE ILLUMINATEN am 5. Mai 1842 erscheint. Bruno Bauer
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4. Exemplarische Analysen
begonnenen Analyse der warentauschenden Gesellschaft partizipiert Karl Marx an Mustern und Strukturen, die Poesie und Wissen unauflöslich miteinander verschlingen; in der Suche nach den verborgenen Gründen für sichtbare Verwerfungen steigern sich das rhetorische Pathos einer entlarvenden Kritik und die Magie des Kritisierten wechselseitig. Die religiös-fetischistische Energie, die seine Texte im kritisierten Kapitalismus entdecken bzw. ihm mit bestechender Diktion imputieren, imprägniert die Kritik in so starker Weise, dass sich auch auf Seiten des Beobachters Magie, Fetischismus und Idolatrie des Scheins entfalten können. Marx und Engels, vor allem aber ihre Adepten, die in kritischer Absicht Verblendungszusammenhänge entlarven und Fetischisierungen entzaubern wollen, bleiben zumindest partiell jenem Bann verhaftet, den sie analytisch aufzuheben suchen.61
veröffentlichte in der von ihm herausgebenen ALLGEMEINEN LITERATUR-ZEITUNG eine INNERE GESCHICHTE DES ILLUMINATEN-ORDENS ( A L Z N r . 1 1 / 1 2 v o m O k t o b e r 1 8 4 4 , S. 1 - 2 5 ) s o w i e in d e n NORDDEUTSCHEN BLÄTTERN FÜR KRITIK, LITERATUR UND UNTERHALTUNG d i e D a r s t e l l u n g DER STURZ DES ILLUMINATEN-ORDENS ( N r . 5 v o m N o -
vember 1844, S. 35-49); später erscheint seine Monographie: Freimaurer, Jesuiten und Illuminaten in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. Berlin 1863. Marx und Engels beabsichtigten eine deutsche Ausgabe der 1828 von Filippo Michele Buonarroti veröff e n t l i c h t e n S c h r i f t CONSPIRATION POUR L'ÉGALITÉ, DITE DE BABEUF, d i e v o n M o s e s
61
Hess übersetzt werden sollte; vgl. Arthur Lehning: Buonarroti's ideas on communism and dictatorship. In: International Review for Socialist Ideas 2 (1957), S. 266-287; Wolfgang Eßbach: Die Jungehegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München 1988, S. 178f. und 262f. So schon Jean Pouillon: Fetische ohne Fetischismus. In: Jean-Baptiste Pontalis (Hrsg.): Objekte des Fetischismus. Frankfurt/M. 1972, S. 196-216, der die Fetisch-Kritik von Marx als Form der Selbstfetischisierung kritisiert. Indem Marx annahm, man könnte den semiotischen Prozeß entlarvend unterlaufen und so die „Wirklichkeit" gewinnen, sei er zu einem Kritiker geworden, „der in gewissem Sinn vielleicht am meisten an Fetische glaubt" (S. 201).
5. Glossar Abduktion: Schlussverfahren zur Identifikation und Bedeutungszuweisung von Î Zeichen, bei dem (1) ein Phänomen als Zeichen identifiziert wird, (2) aus einem Set möglicher Codes eine Regel zu diesem Phänomen ermittelt wird, (3) ein - erkenntniserweiternder - Schluss aus Phänomen und Regel gebildet wird. Adresse/ Adressat: Im Kommunikationsmodell von Roman Jakobson die Empfängerinstanz einer j Nachricht. In literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen werden auch (konstruierte) Text-Instanzen als Adressaten schriftsprachlicher Botschaften bezeichnet und analysiert, so z.B. der f ideale bzw. implizite Leser. Ästhetischer Code: Gesamtheit von Gestaltungsweisen kommunikativer Äußerungen bzw. Artefakte, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Beschaffenheit des so gestalteten Objekts lenken. Ästhetische Kodierungsweisen sind in allen Textarten und Genres anzutreffen, insbesondere aber in Werken der fLiteratur, die mit Verfahren der Konnotationen und Autofunktionalität (unterschiedliche) Interpretationen auf den Plan rufen können. Ästhetische Gestaltungsprinzipien finden sich auch in den Manifestationen des f Alltagswissens, in lebensweltlicher Kommunikation und in Texten der I Wissenschaft (auch wenn diese normativ Mehrdeutigkeiten ausschließen wollen). Alltagswissen: Gesamtheit des in lebensweltlichen Zusammenhängen gewonnenen, tradierten und aktualisierten Regel- und Weltwissens, das auch als Î Erfahrung bezeichnet wird und sowohl in expliziter Formulierung (Ratgeber, Sprichwörter, Verhaltenslehren) als auch implizit (durch praktische Instruktionen und Imitationen) vermittelt werden kann. Autor: Produzent von "(Texten, der durch deren (handschriftlicher oder drucktechnischer) Vervielfältigung und Einspeisung in Zirkulationsmedien individuelle Leser bzw. ein Publikum gewinnt. Als zentraler Bestandteil der literarischen Kommunikation ist er geprägt durch Ausdrucksinteressen, Erfahrungen und Wissensbestände, die er bei der Textproduktion mit Konventionen der gewähltem ^Gattung, poetischen Regularien und den Erwartungs- bzw. Kenntnishorizonten eines Publikums zu vermitteln hat. Bedeutung: Ergebnis von Zuordnungs- und Verknüpfüngsverfahren, bei dem Phänomene als Zeichen identifiziert und im Zusammenhang mit anderen Zeichen und |Codes interpretiert werden. Die Semiotik als Lehre von den |Zeichen erfasst Bedeutung als eine strukturelle und also relationale Beziehung zwischen (materialen) j Zeichenträgern und den mit ihnen arbiträr verknüpften ideellen Gehalten, die nach dem Prinzip der fDifferentialität organisiert ist. Im Kommunikationsmodell von Roman Jakobson wird Bedeutung mit dem "[Inhalt einer ^Nachricht gleichgesetzt. Neuere Einsätze fokussieren die Verfahren der Bedeutungserzeugung und der jInterpretation. Beobachtung: In der Einheit von Unterscheidung und Benennung vollzogenes Verfahren zur begrifflich-diskursiven Erfassung von Phänomenen. Beobachtungen sind stets abhängig von kulturellen Konditionen, die sie im Akt der Observationen zugleich auch bestätigen und modifizieren. Zu diesen kulturellen Konditionen gehören Beschreibungssprache, îCodes sowie | Schluss verfahren wie | Abduktion und "["Induktion.
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5. Glossar
Code: System von aufeinanderbezogenen Konventionen zur Korrelierung von materialen tZeichenträgern (Signifikanten) und ideellen Gehalten ("fBedeutung). Codes und Kodierungsweisen schaffen die Rahmen, in denen die nach dem Prinzip der fDifferentialität organisierten fZeichen einen Sinn machen; sie funktionieren als instruktive Regelgrößen für Interpretationen, die von flnterpretationsgemeinschaften realisiert werden. Codes können explizit formuliert oder implizit vermittelt werden; sie werden in sozialhistorischen Prozessen der fKodifizierung fixiert und modifiziert. Decodierung: Entschlüsselung einer |Nachricht durch einen jEmpfänger unter Bezugnahme auf einen relevanten fCode. Deduktion Schlussverfahren, bei dem aus einer allgemeinen Regel auf besondere Fälle geschlossen wird. Deduktive Schlüsse gehen von Axiomen bzw. gegebenen Sätzen aus, gelten mit Notwendigkeit und werden vor allem in Mathematik und Logik verwendet. Denotation: Definitiv festgelegte, mehr oder weniger eindeutige Bedeutung eines Zeichens (im Unterschied zur j Konnotation, die durch Assoziationen mehrere Bedeutungszuweisungen hervorrufen kann). Diskurs: Disziplinenübergreifend in Philosophie, Soziologie, Geschichte und Literaturwissenschaften verwendeter Begriff mit unterschiedlichen Ausprägungen. In der Linguistik bezeichnet Diskurs zusammenhängende, die Satzgrenze überschreitende Texte (Konversation, Rede); in der Philosophie umschreibt er (etwa in der von Jürgen Habermas entwickelten Theorie des kommunikativen Handelns) einen Kommunikationstyp, mit dem sich Personen über den Geltungsanspruch von Normen verständigen. In der Erzähltheorie bezeichnet discour das Grundgerüst des Erzählens (in Abgrenzung von der histoire, dem konkret ausgestalteten Erzählten). In poststrukturalistischen Überlegungen ist Diskurs ein überpersönlich und überindividuell wirksames Regelsystem, das gesellschaftliche Wissenssysteme herstellt, in spezifischen Formationen ordnet und aufrechterhält. Als Minimaidefinition kann gelten: Diskurse sind Systeme des Denkens und Argumentierens, die durch einen gemeinsamen Redegegenstand, Regularien der Rede und durch Relationen zu anderen Diskursen bestimmt werden. Diskursarchäologie: Verfahren des französischen Historikers und Philosophen Michel Foucault, um sichtbare wie nicht sichtbaren Regeln und Praktiken eines ^Diskurses freizulegen. Episteme (griech. episteme: Wissen, Verstehen): historisch variable Wissensformation; zentrale Kategorie in der f Diskursarchäologie von Michel Foucault. Unter Episteme oder diskursiver Formation versteht Foucault eine allen konkreten Wissens- und Erkenntniserscheinungen einer Epoche zugrundeliegende Systematik, die, ohne jemals vollständig ausgeführt zu werden, ja ausgeführt werden zu können, zugleich alles konkrete Denken - sei es wissenschaftliches, sei es lebensweltliches - hervorbringen bzw. generieren können soll.
5. Glossar
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Epistemische Dinge: Objekte des Wissens, die nicht natürlich gegeben sind, sondern durch wissenschaftliche Prozeduren, diskursive Praktiken und rhetorische Verfahren erzeugt und bearbeitet werden. Erkenntnis: Gesamtheit von aktiven Prozessen der "[Beobachtung, fDeutung und Î Erklärung sowie deren Resultate, die auf begründete Einsichten in die Beschaffenheit und in die Ursachen von Phänomenen zielen. Erklärung: Satzformig artikulierte Erkenntnisform, die neben begründeten Angaben über die Beschaffenheit eines Phänomenbereichs begründete (bzw. begründbare) Aussagen über dessen Ursachen trifft. Experiment: Methodisch angelegte Versuchsanordnung in empirisch beobachtenden, theoretischen und praktisch-technischen Wissenschaften, die durch Wiederholbarkeit die Gültigkeit methodisch gewonnener Erkenntnisse garantieren soll und dazu z.T. hochgradig artifizielle Konstruktionen entwickelt. Das Experiment gehört zu den wichtigsten wissenschaftlichen | Methoden, um zuverlässige Aussagen über UrsacheWirkungs-Beziehungen zu ermöglichen. Die Auswertung der Versuchsergebnisse erfolgt in Schlussfolgerungen, durch die neue j Erkenntnisse gewonnen sowie "[•Hypothesen bestätigt oder widerlegt werden. Experimente können im Labor (d.h. unter definierten Bedingungen, die mögliche störende Variablen kontrollieren lassen), im Feld (ohne Veränderung der natürlichen Verhältnisse) und in Gedanken durchgeführt werden. Dass insbesondere der Beobachter Bestandteil des Experiments ist, ist eine der grundlegenden Einsichten der modernen Wissenschaftsforschung. Faktuales bzw. faktisches oder faktographisches Erzählen: Wiedergabe eines „tatsächlichen" Geschehens in einer als real ausgezeichneten Welt im Modus der berichtenden Rede. Wie im jfiktionalen Erzählen kann auch der f Modus des faktualen bzw. faktographischen Erzählens fingiert werden: Durch unpersönliche Rede, sachlichknappe Stilebene, explizite oder implizite Gültigkeitsbehauptungen u.a. Verfahren wird ein „realer" Status des Berichteten und dessen „objektive" Darstellung behauptet. Fiktion: Ontologischer Status bzw. Präsentationsmodus von Dingen, Ereignissen und Konstellationen, die es in einer als real ausgezeichneten Welt in dieser Form nicht gibt. Fiktionales Erzählen: Narrative, d.h. durch eine Erzählinstanz realisierte Präsentation eines Geschehens, das es in dieser Form in einer als real ausgezeichneten Welt nicht gibt. Wie jedes Erzählen wird auch die fiktionale Narration räumlich und zeitlich perspektiviert sowie auf einen Hörer bzw. Leser ausgerichtet. Und wie im Fall des Ifaktualen bzw. faktographischen Erzählens kann auch der Modus des fiktionalen Erzählens fingiert werden. Es ist also nicht die Summe von textinternen Merkmalen, sondern der Verbund von intrinsischen Eigenschaften des Textes, paratextuellen Markierungen und kulturell konditionierten Umgangsweisen, die über die entsprechende Behandlung entscheiden. Fiktionale Welt(en): Durch Imagination erzeugte, durch fiktionale Darstellungen hervorgerufene Vorstellungsinhalte bzw. mentale Repräsentationen, die es in dieser Form in einer als real ausgezeichneten Welt nicht gibt. Auch wenn die in literarischen
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5. Glossar
Texten, Spielfilmen oder Computersimulationen vermittelten fiktionalen Welten über Lizenzen zur Aufhebung von Regeln und Gesetzen der Realität verfugen, müssen sie zumindest partiell an lebensweltliche Erfahrungen und Schlußverfahren anschließen, um kommunikativ erfolgreich zu sein; sie partizipieren also auch bei radikalen Grenzüberschreitungen an Kenntnis- und Wissensbeständen ihrer Entstehungszeit. Gattung: Zusammenfassung konkreter Einzelerscheinungen zu größeren Gruppen, um Ordnungen zu ermöglichen. In der literarischen Kommunikation funktionieren Gattungen als Textgruppenbildungen, die mit (historisch variablen) ^Konventionen die Zirkulationsprozesse zwischen Autoren, Texten und Lesern konditionieren. Gattungsbegriffe entstehen im Ergebnis des Handelns mit synchronen Textkorpora und erfüllen kommunikative Funktionen: Lesern signalisieren sie die Einnahme einer bestimmten Rezeptionshaltung, indem externe und interne Gattungssignale erste Vermutungen über Sinn und Bedeutung des Textes nahelegen und so den hermeneutischen Zirkel, also die Bewegung des Verstehens zwischen Teil und Ganzem, in Gang setzen. Für Autoren bilden Gattungen ein Bezugssystem, in dem Verstöße gegen geltende Regeln ebenso prägend und bedeutungskonstitutiv sind wie Bestätigungen. Genre "[Gattung. Hypothese: (Begründete) Vermutung in Form einer Aussage, die durch weitere Explorationen zu bestätigen oder zu widerlegen ist. Als wichtiges Mittel zum Gewinn von ^Erkenntnis basieren Hypothesen auf vorgängigen Beobachtungen, die im Prozess der Hypothesenbildung verbunden und kausal bzw. final erklärt werden. Diese Verknüpfungsleistungen finden nicht nur in im | Alltagswissen und den Erkenntnisprozessen der empirischen Wissenschaften statt, sondern auch in |fiktionalen Welten und bei der f Rezeption literarischer Texte. Hypothetisches Wissen: Vorläufiges bzw. unsicheres Wissen, dessen Geltungsanspruch im Modus einer (begründeten) Vermutung formuliert werden kann. Idealer bzw. impliziter Autor: Modellhaft-abstrakte Steuerungsinstanz von Texteigenschaften. Dieser rekonstruierbaren Instanz können Geltungsansprüche und Wissensbestände zugeschrieben werden, die sich aber nicht mit Absichten oder Kenntnissen des realen Autors decken müssen. Idealer bzw. impliziter Leser: Modellhaft-abstrakte Wahmehmungsinstanz, die alle Orientierungen eines Textes realisieren kann; eine der | Adressen von textuell verfassten fNachrichten. Imagination: Einbildungskraft; kulturell entwickeltes Vermögen zur simulativen Erzeugung und Ausgestaltung von Figuren, Ereignissen und Konstellationen, die es in einer als real ausgezeichneten Welt in dieser Form nicht gibt. Induktion: Schlussverfahren, bei dem ausgehend von einem Fall und einem Resultat eine Regel gebildet wird. Die Induktion verfahrt synthetisch: Auf der Basis von fBeobachtungen werden bei genügender Häufigkeit Regeln formuliert, wobei die Schlussfolgerung nicht notwendig ist.
5. Glossar
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Interpretation: Aktive Umgangsform mit Zeichen bzw. Zeichensystemen, bei der Phänomene als Zeichen identifiziert und diesen auf Basis kulturell vermittelter fCodes und gleichfalls kulturell konditionierter jDecodierungs verfahren (begründbare) jBedeutung(en) zugewiesen werden. Interpretationen sind als satzförmige Aussagen mit einem einlösbaren Geltungsanspruch formulierbar, stellen also Wissensansprüche dar und können sich auf verschiedene Aspekte eines Textes beziehen. Interpretationsgemeinschaft: Eine vom US-amerikanischen Literaturtheoretiker Stanley Fish eingeführte Kategorie zur Zusammenfassung von Autoren und Lesern, die einen gemeinsamen Code benutzen. In der Linguistik existiert dafür auch der Terminus „Diskursgemeinschaft", während der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn den Begriff der „textual community" zur Bezeichnung einer epistemologisch verbundenen Gruppe mit gemeinsamen Interpretationsweisen und Überzeugungen verwendet. Egal, wie man den Zusammenhang bezeichnet: In Gemeinschaften vollziehen sich die Prozesse der Konstruktion and Ausgestaltung fepistemischer Dinge, die durch rhetorische Verfahren immer zugleich „naturalisiert", d.h. von ihrem konstruierten Charakter befreit werden. Intertextualität: In unterschiedlichen Extensionen gebrauchter Terminus zur Umschreibung der Beziehungen zwischen Texten. Während ein weiter (und vor allem im Poststrukturalismus verwendeter) Intertextualitätsbegriff jedes singulare Textereignis als „Gewebe von Zitaten" (Roland Barthes) und damit letztlich unendlichen Verweisungszusammenhang auffasst, geht ein engerer Begriff von spezifizierten Bezugnahmen wie Einfluss- und Zitationsrelationen, Allusion und Pastiche aus. Kodifizierung: Sozialhistorischer Prozess, in dessen Verlauf die Konventionen und Regeln eines ÎCodes gebildet und (partikulare) Kodierungsweisen allgemein durchgesetzt werden. Kodierung: Produktion einer ^Nachricht durch einen Produzenten bzw. f Sender unter Bezugnahme auf einen relevanten jCode. Kommunikation: Gesamtheit von sozio-kulturell konditionierten Interaktionen zum Austausch von jBedeutung vermittelnden tNachrichten und auf der Basis gemeinsam geteilter f Codes, fKodierungsweisen und jSchlussverfahren. Als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens realisiert sich Kommunikation verbal und nonverbal; in lebensweltlichen Beziehungen und Netzwerken wie in Expertenkulturen von Wissenschaft, Politik und Künsten. Sie umfasst Individual- und Massenkommunikation, biund multidirektionale Kommunikation, diachrone und synchrone Kommunikation etc. Konnotation: Gesamtheit von soziokulturell und individuell konditionierten Assoziationen, die bei der Dekodierung einer Nachricht, etwa bei der Lektüre eines Textes durch einen Leser, produziert werden. Konnotationen werden durch fZeichen hervorgerufen, die nach dem Prinzip der fDifferentialität organisiert sind und mehrgliedrige Bedeutungszuweisungen in Gang setzen.
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5. Glossar
Konvention: Kulturelle Übereinkunft, die den Beziehungssinn wie die Zeichenökonomie von Symbolsystemen reguliert. Von zentraler Bedeutung im System der natürlichen Sprache, deren materiale fZeichenträger (laut- bzw. schriftsprachlich fixierte Worte) in arbiträrer Beziehung zu der mit ihnen verknüpften "[Bedeutung stehen. Konventionalität: Umgangsform mit Symbol- bzw. Zeichensystemen, die den Regeln kultureller Übereinkunft über "[Zeichen, "[Codes und "[Schlussverfahren folgt. Der konventionelle Charakter von Zeichen und Schlussverfahren impliziert, dass diese gelernt werden müssen (wenn auch nicht notwendig auf formale Weise) und zugleich verändert werden können. Methode (griech. μέθοδος méthodos; aus metà: hinterher, nach und hodós: Weg, Gang; wörtlich also Nachgehen, Verfolgen, Weg) ist ein auf Regeln bzw. einem Regelsystem aufbauendes Verfahren, das zur Erlangung von Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen dient. In wissenschaftlichen Zusammenhängen wird damit die Gesamtheit von systematischen Vorgehensweisen bezeichnet, mit denen neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Mimesis (Nachahmung): Imitation beobachtbarer Aspekte der Realität, so als ob sie direkt erfahrbar und ohne Vermittlung gegeben wären. Bereits in Poetiken der Antike und insbesondere von Aristoteles diskutiert, wird sie zur Grundlage sog. realistischer Verfahren in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Modalität: Status eines "["Zeichens, "[Textes oder "[Genres in Bezug auf eine als real ausgezeichnete Welt. Im Umgang mit Texten treffen Leser auf der Basis sogenannter Modalitäts-Markierungen Urteile, indem sie auf der Basis von Texteigenschaften über „Plausibilität", „Zuverlässigkeit", „Genauigkeit" und „Wahrheit" befinden und Darstellungsgesamtheiten (bzw. Elemente in ihnen) als |faktisch oder "[fiktional rubrizieren. Klar dürfte sein, dass dafür Weltwissen wie Regelwissen wichtig ist. Modell: Resultat konstruktiver Verfahren, in denen Eigenschaften komplexer Sachverhalte, Konstellationen oder Systeme wie Struktur, Funktion, Verhalten zu heuristischen Zwecken abstrahiert bzw. vereinfacht werden. In der wissenschaftlichen Theoriebildung entsteht ein Modell als Ergebnis einer abstrahierenden und Relationen hervorhebenden Darstellung des behandelten Phänomens; es soll erlauben, aus den dargestellten Zusammenhängen Bedingungen und Prognosen bezüglich des Phänomens oder Problems abzuleiten. Mythos: Eigentlich Göttergeschichte(n), die in uneigentlicher Rede über transzendente, d.h. die menschliche Erfahrung übersteigende Bereiche erzählen und in symbolischer Umschreibung auch Deutungen und Erklärungen natürlicher und sozialer Prozesse vermitteln. Mythen sind in allen Kulturen anzutreffen und können als erste Manifestationen von Literatur gelten; literarische Texte nehmen bis in die Gegenwart vielfältigen Bezug auf sie. Nachahmung "[Mimesis
5.Glossar
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Nachricht: Kommunikative Einheit, die ein Sender (Autor) produziert, in Distributions- und Zirkulationsmedien einspeist und durch einen Empfänger (Leser) rezipiert wird. Stets abhängig von wissenskulturellen Konditionen wie sprachlichem fCode, rhetorischen Verfahren und Schlussprinzipien. Narration: Prozess und zugleich Ergebnis der sprachlich-textuellen Wiedergabe eines Geschehens als einer Abfolge von Zustandsveränderungen. Basis des kultur- wie wissensgeschichtlich bedeutsamen Erzählens, das durch unterschiedliche |Modalität gekennzeichnet ist und durch variierende Perspektivierungen und Ausrichtungen auf Adressaten je spezifische Wirkungen realisiert. Narrativ: Sprachlich-textuelle Repräsentation einer Kette von Ereignissen. Von zentraler Bedeutung ist die Verknüpfung von Geschehensmomenten durch Konzepte (Ursache-Wirkung, Grund-Folge etc.) und Ziele; sie transformieren eine (chronologische) Abfolge in einen sinnhaften Zusammenhang. Naturalisierung: Transformationsprozess, bei dem Regelsysteme einer Kultur wie Codes und Wissensobjekte gesellschaftlich verbreitet bzw. in der Sozialisation vermittelt werden, so dass sie nicht mehr als Ergebnis kulturell konditionierter Konstruktionen, sondern als gleichsam natürlich gegebene Phänomene erscheinen. Persuasion, persuasive Kommunikation: Rhetorisch konditionierte Form der zwischenmenschlichen Verständigung, die einen Hörer oder Leser überzeugen bzw. zu etwas überreden will. Poetische Funktion: Im Kommunikationsmodell von Roman Jakobson die fZeichenfunktion, die die Aufmerksamkeit auf die f Nachricht selbst und ihre (besondere) Gestaltung lenkt. Proposition (lat. Satz): im linguistischen Verständnis der Inhalt eines Satzes, d.h. der durch einen Satz ausgedrückte Sachverhalt, der äquivalent auf verschiedene Weise formuliert werden kann. Eine Proposition ist also das, was in einem geäußerten Satz in einem bestimmten Kontext über bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte der Welt ausgesagt wird. In der Psychologie wird der Terminus zur Bezeichnung der kleinsten, abstrakten Wissenseinheit verwendet, die einen Sachverhalt beschreibt und die es ermöglicht, dass zwischen unterschiedlichen Repräsentationen von Wissen gewechselt werden kann, etwa von Begriffen zu Bildern und umgekehrt. In der Logik ist eine Proposition eine Aussage bzw. ein sprachliches Gebilde, von dem es sinnvoll ist zu fragen, ob es wahr oder falsch ist (Aristotelisches Zweiwertigkeitsprinzip). Es ist nicht erforderlich, sagen zu können, ob das Gebilde jwahr oder falsch ist; es genügt, dass die Frage nach Wahrheit („zutreffend") oder Falschheit („nicht zutreffend") sinnvoll gestellt werden kann, was bei Fragesätzen, Ausrufen und Wünschen nicht der Fall ist. Aussagen sind somit Sätze, die Sachverhalte beschreiben und denen man einen jWahrheitswert zuordnen kann. Referenz: Bezug eines Zeichen, Textes, Textbestandteils oder Genres auf eine textexterne Realität, die in Formen der "["Modalität beurteilt wird.
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5. Glossar
Register: Eine für einen bestimmten Kommunikationsbereich charakteristische Redeund Schreibweise, bei dem kulturelle und soziale Beziehungen sprachlich abgebildet werden. Repräsentation: Wiedergabe eines Geschehens oder Sachverhalts in Form von Zeichen oder Zeichensystemen bzw. Texten. Stets als konstruktive Schrittfolgen realisiert, unterliegen Repräsentationen durch permanente Verwendung einer "^Naturalisierung und können deshalb als gleichsam natürliche Größen erscheinen. Sender: Produzent einer zeichhaft vergegenständlichten "[Nachricht, die mit Hilfe eines Kontaktmediums an einen Empfänger geleitet wird; zentrale Größe im Kommunikationsmodell von Roman Jakobson Signifikation: Aktiver Prozess der Verknüpfung von materialem, sinnlich wahrnehmbarem fZeichenträger mit ideeller "[Bedeutung auf der Basis kulturell konditionierter Wissensbestände und "[Konventionen. Signifikant: Materialer, sinnlich wahrnehmbarer Bestandteil eines "[Zeichens, das im Prozess der [Signifikation mit einem [Signifikaten verbunden wird und zu Untersuchungszwecken analytisch getrennt werden kann; f Zeichenträger. Signifikat: Ideeller, im Prozess der "[Signifikation mit einem "[Signifikanten verknüpfter Bestandteil eines fZeichens, das zu Untersuchungszwecken analytisch getrennt werden kann; f Bedeutung. Simulation: Artifiziell-modellierende Nachahmung eines Systems oder Prozesses in der realen (bzw. der als real ausgezeichneten) Welt. In wissenschaftlich-technischen Zusammenhängen ist die Simulation ein Vorgehen zur Analyse von Systemen, die aufgrund dynamischer Verhaltensweisen für theoretische oder formale Behandlungen zu kompliziert sind. Bei Simulationen werden Experimente an [Modellen durchgeführt, um Erkenntnisse über das reale System zu gewinnen. Ergebnisse dieser Simulationsexperimente können interpretiert und auf das zu simulierende System übertragen werden. Symbol: Zeichen, dessen arbiträrer, d.h. kulturell konventionalisierter Charakter eine mehrgliedrige Schrittfolge zur Bedeutungszuweisung erforderlich macht. Text: Kohärenter Zusammenhang sprachlicher Zeichen mit kommunikativen Funktionen, der durch kulturell konditionierte Praktiken erzeugt und verbreitet, rezipiert und tradiert, kanonisiert oder vergessen wird. Wahrheit: Zentrale Kategorie zur Qualifizierung von "[Erkenntnissen, bei deren Verwendung zwischen dem Begriff von Wahrheit und Wahrheitskriterien zu unterscheiden ist. Hinsichtlich des umgangssprachlich gebrauchten Begriffs lässt sich „Wahrheit" grundsätzlich von Falschheit, Lüge oder Irrtum abgrenzen; zugleich lassen sich ein substantivischer („Ich sage die Wahrheit"), ein attributiver („Das ist wahre Kunst") und ein prädikativer Sinn („Es ist wahr, dass dieser Satz ein Subjekt hat") unterscheiden. In der philosophiegeschichtlich weitgehend dominierenden Korrespondenz- oder Adäquationstheorie wird Wahrheit als Übereinstimmung von Aussagen mit den durch sie be-
5. Glossar
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nannten Tatsachen verstanden. Dagegen behauptet die Kohärenztheorie der Wahrheit, dass Wahrheit nicht in einer Entsprechung von Aussagen und Tatsache besteht n, sondern in der Verträglichkeit von Aussagen mit anderen Aussagen. Die Konsenstheorie der Wahrheit schließlich stuft eine Aussage dann als wahr ein, wenn ihr alle relevanten Gesprächsteilnehmer zustimmen. Wahrheitswert: gibt in der Logik den Grad der Wahrheit eines Satzes an. Gibt es in einem logischen System mehr als die zwei Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" der klassisch zweiwertigen Logik, spricht man von Quasiwahrheitswerten, Pseudowahrheitswerten oder Geltungswerten. Nach dem gängigen Verständnis haben nur Aussagesätze Wahrheitswerte, nicht aber Fragesätze oder einzelne Wörter. Der Begriff des Wahrheitswertes ist nicht an eine bestimmte Wahrheitstheorie gebunden. Wissen: Gesamtheit von begründeten (bzw. begründbaren) Kenntnissen, die innerhalb kultureller Systeme durch Mitteilung, Erfahrung oder Lernprozesse erworben werden und einen reproduzierbaren Bestand von ^Erkenntnis-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen. Zeichen: Einheit von materialem fZeichenträger und ideeller jBedeutung, die auf der Basis kultureller f Konventionen miteinander verknüpft werden. Als grundlegende Einheiten kommunikativer Prozesse stehen Zeichen nicht für sich selbst und haben keine intrinsische(n) Bedeutung(en), sondern gewinnen diese erst im Rahmen ihrer kulturell konditionierten Benutzung. Zeichenfunktionen: Im Kommunikationsmodell von Roman Jakobson die Dominanz eines von sechs Faktoren des Sprach- und Zeichengebrauchs. Die referentielle Funktion orientiert auf den ÎKontext und also auf die Bezugselemente; die expressive Funktion richtet die jNachricht auf den Adressaten aus. Die phatische Funktion thematisiert das Kontaktmedium, die metasprachliche den verwendeten fCode. Die poetische Funktion rückt schließlich die Beschaffenheit der Nachricht selbst ins Zentrum. Zeichenträger: Materialer, sinnlich wahrnehmbarer Teil eines "["Zeichens, der im Prozess der î Signifikation mit jBedeutung(en) bzw. | Signifikaten verbunden wird; t Signifikant.
6. Auswahlbibliographie Diese Bibliographie versammelt wichtige, doch selbstverständlich nicht alle Arbeiten zum Thema. Nur in Ausnahmen berücksichtigt werden Beiträge zu einzelnen Autoren (denn schon die Verzeichnung von Publikationen etwa zum Themenkomplex Goethe und die Wissenschaften würde ein eigenes Buch erfordern). Zusätzlich zu den aufgelisteten Titeln sind die bibliographischen Angaben im Anmerkungsapparat zu nutzen, die hier nicht noch einmal aufgeführt werden. Nachschlagewerke und Textsammlungen Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart, Weimar 2000. Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Julian Nida-Rümelin und Monika Betzier. Stuttgart 1998. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Begründet von Joachim Ritter. Hrsg. von Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. 13 Bde. Basel, Darmstadt 1971-2007. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 1-8 (noch nicht abgeschlossen) Tübingen 1992-2007. Lexikon literaturtheoretischer Werke. Hrsg. von Rolf Günter Renner und Engelbert Habekost. Stuttgart 1995. Literatur und Erkenntnis. Texte zum Streit zwischen Dichtung und Wissenschaft. Hrsg. und kommentiert von Ulrich Charpa. Stuttgart 1988. Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Hrsg. von Bettina von Jagow und Florian Steger. Göttingen 2005. Literature and Science. An Anthology from English and American Literature 1600-1900. Edited by Grant McColley. Chicago 1940. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart 1998. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar. 3 Bde. Berlin, New York 1997-2003. Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt 2007. Systematische Überlegungen; Forschungsberichte und Diskussion Amis, Kingsley: New Maps of Hell. A Survey of Science Fiction. New York 1960. Bogards, Roland; Neumeyer, Harald: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer fur eine entgrenzte Philologie. In: Walter Erhart (Hrsg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar 2004, S. 210-222. Charpa, Ulrich: Künstlerische und wissenschaftliche Wahrheit. Zur Frage der Ausgrenzung des ästhetischen Wahrheitsbegriffs. In: Poetica 13 (1981), S. 327-344. Crum, Ralph B.: Scientific Thought in Poetry. New York 1931. Daston, Lorrain (Ed.): Things That Talk. Object Lessons from Art and Science. Cambridge/Mass, London 2004. Gabriel, Gottfried: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991. Gabriel, Gottfried: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn u.a. 1997. Green, Martin: Science and the Shabby Curate of Poetry. London 1964. Gymnich, Marion (Hrsg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier 2006.
6. Auswahlbibliographie
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