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German Pages 570 Year 2014
Thomas Ernst Literatur und Subversion
Literalität und Liminalität | Band 16
Thomas Ernst (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur-, Kultur- und Medientheorien sowie deutschsprachige, interkulturelle und multilinguale Literaturen und die Neuen Medien.
Thomas Ernst
Literatur und Subversion Politisches Schreiben in der Gegenwart
Diese Arbeit wurde vom Fachbereich »Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften« der Universität Trier unter dem Titel Pop – Minoritäten – Untergrund. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa als Promotionsleistung anerkannt. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. Eine digitale Version dieses Buches steht ab dem 1.1.2015 unter der Lizenz CC BY-NC-ND auf www.thomasernst.net/lus im Sinne des Open Access zur freien Verfügung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist bis zum 31.12.2014 ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Umschlagabbildung: Dr. Thomas Ernst Lektorat: Dr. Wolfgang Delseit Satz: TIESLED Satz & Service, Köln Register: Dr. Thomas Ernst, Dr. Katharina Graef, Charline Porte Abbildungen: Thalia Brückner, Thomas Ernst, Florian Kreft Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1484-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Politisches Schreiben in der Gegenwart. Eine Einführung | 11 1. Literatur und Politik. Zum aktuellen Stand eines problematischen Verhältnisses | 19 1.1.
Literatur und Politik im 20. Jahrhundert. Engagierte Literatur und die Intellektuellen | 20 1.1.1.
Konzeptionen engagierter Literatur und des Autors als Intellektuellen: Zola, Brecht, Sartre und die deutsche Nachkriegsliteratur | 20 1.1.2. Debatten über die engagierte Literatur und die Figur des Intellektuellen im 20. Jahrhundert: Avantgarde, Adorno und der ›Tod der Literatur‹ | 26 1.2. Literatur und Politik in der Gegenwart. Das Ende der engagierten Literatur und der Intellektuellen | 29 1.2.1. Das Ende der Intellektuellen. Über die kulturelle und mediale Globalisierung und die Postmoderne | 29 1.2.2. Das Ende der Geschichte. Über den flexiblen Kapitalismus und eine andere ökonomische und politische Globalisierung | 34 1.2.3. Das Ende der Gutenberg-Galaxis. Über Neue Medien und die Transformation der Literatur | 41 1.2.4. Die Berliner Republik. Über die Konstruktion neuer Generationen und die Normalisierung der deutschen Nation | 45 1.2.5. Eine neue deutsche Literatur. Über Debatten und Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 | 50
1.3. Literatur als Subversion. Zur Untersuchung des politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa | 70 1.3.1. Der Begriff der Subversion. Zu seiner Aktualität | 73 1.3.2. Literatur und Subversion. Zur Forschungslage | 76 1.3.3. Felder der subversiven Gegenwartsprosa. Der Kanon der Untersuchung | 79
2. Der Begriff der Subversion und Literatur als Subversion: Diskursanalysen, Literatur- und Kulturtheorien, Analysemodelle | 87 2.1. Der politisch-institutionelle Diskurs der Subversion: Subversion als revolutionärer Staatsumsturz und die Manifeste der Revolution | 92 2.2. Der künstlerisch-avantgardistische Diskurs der Subversion: Literatur als (Neo-)Avantgarde | 96 2.2.1. Der künstlerisch-avantgardistische Diskurs der Subversion: Subversion als künstlerisch-prozessuale Bewegung | 96 2.2.2. Literatur als Avantgarde: Historische Avantgarde, NeoAvantgarde und die Verschiebung von Diskursgrenzen | 107 2.3. Der subkulturelle Diskurs der Subversion: Literatur als minoritäre Distinktion | 118 2.3.1. Der subkulturelle Diskurs der Subversion: Subversion als minoritär-distinktive Bewegung | 118 2.3.2. Literatur als minoritäre Distinktion: (Inter-)Diskurstheorie, die kleine Literatur, Feldtheorie, Cultural Studies und Poptheorie | 126 2.4. Der poststrukturalistische Diskurs der Subversion: Literatur als Dekonstruktion | 144 2.4.1. Der poststrukturalistische Diskurs der Subversion: Subversion als Dekonstruktion | 144 2.4.2. Literatur als Dekonstruktion: Gender Studies, postkoloniale Theorie und Intertextualität | 156 2.5. Die Diskurse der Subversion und die Literatur. Ein literatur- und kulturwissenschaftliches Analysemodell | 170
2.5.1. Rhizom und Multitude. Die Diskurse der Subversion als Patchwork und im Widerstreit | 170 2.5.2. Literatur und Subversion. Konzeption eines literaturund kulturwissenschaftlichen Analysemodells | 177
3. Pop, Literatur und Subversion: Thomas Meineckes avancierte Popromane Tomboy (1998) und Hellblau (2001) | 183 3.1. Von Grenzüberschreitungen und Positionsfeldern. Geschichte und Theorien der deutschsprachigen Popliteratur | 185 3.1.1. Grenzüberschreitungen und Underground-Distinktion. Die Anfänge der deutschsprachigen Popliteratur | 186 3.1.2. ›Avancierte Popliteratur‹ versus ›Mainstream-Popliteratur‹. Die Felder der Popliteratur nach 1995 | 189 3.1.3. Marketing, Schnitt-Techniken, Positionsfelder, Gegenwartsbezug. Theorien der Popliteratur | 193 3.2. Pop, Literatur und Subversion: Thomas Meineckes Romane Tomboy (1998) und Hellblau (2001) | 202 3.2.1. Der Roman als Rhizom und Pop-Theorie. Die intertextuelle Schreibweise Thomas Meineckes | 205 3.2.2. Minoritär-distinktive Positionsfelder. Popkulturelle Archive, Erinnerungsdiskurse und verlangsamte Gegenwart | 221 3.2.3. Theorie als Erzählung. Der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion im Roman | 232 3.2.4. Terrorismus, gefährliche Diaspora und Geheimbotschaften. Topoi der Subversion | 259 3.2.5. Der Autor als öffentliche Person. Meineckes Re- und Dekonstruktionen der starken Autorfigur | 267 3.3. Thomas Meineckes avancierte Popliteratur, die Dekonstruktion und ihre Aporien. Ein Fazit | 275
4. Minoritäten, Literatur und Subversion: Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) und Koppstoff (1998) | 279 4.1. Vom ›Gastarbeiter‹ zum ›Kanaken‹. Minoritäre Literaturen in Deutschland | 281
4.1.1. Vom ›Gastarbeiter‹ zur Globalisierung. Generationen der Migration in Deutschland | 282 4.1.2. Etiketten des ›Nicht-Deutschen‹. Zur Kategorisierung der ›Gastarbeiter-‹, ›Migranten-‹ und ›minoritären Literatur‹ | 286 4.1.3. »Keine Frage der Nationalität«. Der Paradigmenwechsel zur ›Kanak-Bewegung‹ | 295 4.2. Minoritäten, Literatur und Subversion: Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) und Koppstoff (1998) | 302 4.2.1. Die ›Kanak Sprak‹. Eine subversive Kunstsprache | 304 4.2.2. ›Kanak‹ und ›Aleman‹. Dekonstruktionen der rassistischen Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ | 327 4.2.3. ›Mann‹ und ›Frau‹. Rekonstruktionen der sexistischen Unterscheidung der Geschlechter | 344 4.2.4. ›Kanakischer Rap‹ gegen ›alemannische MTV-Popdeppen‹. Popkulturelle Distinktionen und der Mainstream der Minderheiten | 352 4.2.5. Attacke und Aufklärung, Revolutionär und Islamist, Underground und Ghetto. Topoi der Subversion | 360 4.2.6. Der Autor als öffentliche Person. Feridun Zaimoğlu zwischen ›kanakischen‹ Abgrenzungen und preiswürdigem Popstartum | 372 4.3. Dekonstruierte Ethnizität, rekonstruiertes Geschlecht: Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ als minoritäre und dekonstruktive Kunstsprache. Ein Fazit | 389
5. Untergrund, Literatur und Subversion: Die Social-Beat-Bewegung als ›ausserliterarische Opposition‹ | 395 5.1. Zensur, Verfolgung, Verweigerung. Zum Begriff der Untergrund-Literatur | 397 5.1.1. Zensur und Distinktionen. Die gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen der Untergrund-Literatur | 400 5.1.2. Ökonomisch unabhängige Literaturproduktion. Untergrundverlage in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren | 404 5.1.3. Verfolgung und Selbstinszenierung. Autorenbilder und Literaturgruppen des Untergrunds | 409
5.1.4. Dilettantismus, Cut-up und Szenesprachen. Formen und Schreibweisen der Untergrund-Literatur | 414 5.1.5. Minoritäten, Subkulturen und Hässlichkeit. Inhalte, Personen, Topografien und Topoi der Untergrund-Literatur | 418 5.1.6. Jenseits des Literaturbetriebs. Eigenschaften von Untergrund-Literaturen – eine Zusammenfassung | 420 5.2. Untergrund, Literatur und Subversion. Social Beat als Netzwerk und die Anthologie Social Beat, Slam Poetry (1997) | 423 5.2.1. Zwischen Dilettantismus und Experimenten. Formen und Schreibweisen des Social Beat | 427 5.2.2. Ausbeutung, Sexismus, Exotismen und Drogen. Die Inhalte des Social Beat | 431 5.2.3. Von Subkulturen, hässlichen Städten, Illegalität und Ironie. Topoi, Personen, Topografien und Strategien der Subversion im Social Beat | 445 5.2.4. Untergrund versus Literaturbetrieb, Authentizität versus Absorption. Social Beat als Autorennetzwerk | 452 5.3. Der Social Beat als literarische Nachlassverwaltung im subkulturellen Diskurs der Subversion. Ein Fazit | 466
6. Diskurse und Aporien der Subversion: Politisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Ein Fazit | 475 7. Anhang | 491 7.1. Siglen | 491 7.2. Literaturverzeichnis | 491 7.2.1. 7.2.2. 7.2.3. 7.2.4. 7.2.5.
Literatur, Anthologien und Manifeste | 491 Theorietexte und Sekundärliteratur | 497 Zeitungs- und Magazinartikel | 553 Internetquellen (Stand: 15.11.2013) | 559 Filme und Musik | 560
7.3. Personenregister | 560 Danksagung | 565
Politisches Schreiben in der Gegenwart Z UR E INFÜHRUNG
The End of History sei erreicht, verkündet Francis Fukuyama in zeitlicher Nähe zum Zusammenbruch des real-sozialistischen Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges: Wenn wir heute an einem Punkt angelangt sind, wo wir uns keine Welt vorstellen können, die sich wesentlich von der unseren unterscheidet, wo anscheinend keine grundsätzliche Verbesserung gegenüber unserer derzeitigen Ordnung mehr denkbar ist, dann müssen wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Geschichte an ihrem Ende angelangt ist. (Fukuyama 1992: 89)
Es gehe zukünftig nur noch darum, sich in den liberalen Demokratien der kapitalistischen Welt einzurichten. Etwa zeitgleich ruft Norbert Bolz ebenso entschieden das Ende der Gutenberg-Galaxis aus: Wir leben in neuen Kommunikationsverhältnissen, die mit dem Leitmedium der Neuzeit, dem Buch, gebrochen haben. Computer und elektronische Medien befördern das Ende einer Welt, die Marshall McLuhan Gutenberg-Galaxis genannt hat. (Bolz 1993: 7)
Was bedeuten diese Behauptungen für den Typus des literarischen Intellektuellen, der sich im 20. Jahrhundert mit seinen Büchern, öffentlichen Äußerungen und politischen Manifesten für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft eingesetzt hat? Wird das Konzept der engagierten Literatur als Sondermüll von den blühenden posthistorischen Feldern einer kapitalistischen und multimedialen Gegenwart entfernt? Oder lässt sich eine Transformation dieser Konzepte beschreiben, die Entwicklung neuer literarischer Formen, die sich subversiver Strategien und Konzepte bedienen? Den Thesen Fukuyamas und Bolz’ stehen zahlreiche Beispiele der letzten beiden Dekaden entgegen, die auf unterschiedliche Weise zeigen, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihren literarischen Texten auch heute noch öffentliche Aufmerksamkeit erreichen, sogar sanktioniert oder bekämpft werden. Peter Handke veröffentlicht 1996 seinen Essay Gerechtigkeit für Serbien und
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wird zum Gegenstand heftiger Angriffe der Feuilletons und Politik (vgl. Handke 1996). Nachdem er 2006 eine Grabrede für Slobodan Milošević hält, wird ihm der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis nicht verliehen, die Comédie Française setzt sein Stück Spiel der Fragen ab. 2005 engagieren sich Autoren wie Benjamin Lebert, Moritz Rinke, Feridun Zaimoğlu und Juli Zeh für die rot-grüne Bundesregierung (Bartels 2005); Günter Grass lädt einige der Unterstützer nach Lübeck ein und gründet mit ihnen am 5. Dezember 2005 die Gruppe 05; am 4. April 2012 veröffentlicht er sein Gedicht Was gesagt werden muss und löst eine breite kulturelle und politische Debatte – nicht nur in den Feuilletons – aus. Stehen diese Aktionen und ihre öffentliche Rezeption nicht in der Tradition des engagierten Intellektuellen? Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele: Der Autor und Kolumnist Wiglaf Droste wird 2001 zur Zahlung von 2100 DM auf Bewährung verurteilt, weil er in einer Kolumne Bundeswehrsoldaten als »Waschbrettköpfe« (Droste 2003) bezeichnet. 2006 erwirkt der SPD-Vorsitzende Kurt Beck eine einstweilige Verfügung gegen das Titelbild Problembär außer Rand und Band – knallt die Bestie ab der Satirezeitung Titanic (vgl. Anonym 2006; Schmitt 2012). Dies sind nur zwei Beispiele dafür, dass »zensorische Maßnahmen« oder zumindest rechtliche Sanktionen gegen Bücher auch in der »jüngsten Vergangenheit« (Lorenz 2009: 10) vorgenommen werden. Wäre dies notwendig, wenn Bücher gesellschaftlich wirkungslos blieben? Nicht nur Prozesse gegen Bücher und ihre Autorinnen und Autoren werden im deutschsprachigen Raum noch immer angestrengt, manchmal sehen sich die Literaturproduzentinnen und -produzenten staatlicher oder politischer Verfolgung ausgesetzt oder werden sogar des Landes verwiesen.1 Es gibt zahllose Beispiele, dass viele Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, u.a. auch die in dieser Untersuchung zu analysierenden von Thomas Meinecke, Feridun Zaimoğlu und der Social-Beat-Bewegung, von den Autorinnen und Autoren selbst, ihren Verlagen, der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft in die Tradition der Auf klärung oder der politischen, engagierten oder subversiven Literatur eingeordnet werden. Diese kleine Auswahl zeigt, dass sich auch nach 1989/90 noch Autoren politisch engagieren und Texte verboten, diffamiert und verklagt werden. Auf dem Abstellgleis der Geschichte scheint der Diskurs um die engagierte, aufklärerische Literatur noch nicht gelandet zu sein; dennoch behaupten Fukuyama und Bolz (und viele andere, wie noch gezeigt wird), dass sich die Grundbedingungen für eine politische Literatur und ihre Wirkungskraft in den letzten Dekaden radikal verändert hätten.
1 | Der Pass des deutschen Schriftstellers Peter Paul Zahl wird 2002 von der deutschen Botschaft in Kingston/Jamaika eingezogen und ihm somit (wenngleich letztlich nur für kurze Zeit) die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, vgl. Diederichs 2006.
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Fragestellungen, Struktur, Methoden und Ziele der Studie Mit diesem Spannungsverhältnis befasst sich die vorliegende Studie,2 die analysieren wird, in welcher Weise sich Texte der deutschsprachigen Gegenwartsprosa nach der historisch-politischen Umwälzung von 1989/90 überhaupt als ›subversiv‹ beschreiben lassen. Da die Gattungen Lyrik und Theater texte in derselben Zeit eine andere Entwicklung genommen haben, liegt in dieser Untersuchung der Fokus auf der Prosa; weil die deutschsprachige Gegenwartsprosa aktuell unter westlich-demokratischen und kapitalistischen Bedingungen produziert, distribuiert und rezipiert wird, bezieht sich die Arbeit in ihren literaturhistorischen Rückgriffen vorrangig auf ähnliche Staaten (weshalb u.a. die DDR-Literatur nur eine kleine Rolle spielt). Im Zentrum der Arbeit steht dabei die Suche nach systematischen Beschreibungsmöglichkeiten von subversiver Literatur. Vor dem Hintergrund einer Analyse der veränderten politischen, kulturellen und medialen Diskurse seit 1989/90 werden verschiedene einschlägige Literatur- und Kulturtheorien daraufhin befragt, inwiefern sie sich zur Beschreibung des subversiven Potenzials literarischer Texte eignen. Auf drei exemplarischen Feldern der deutschsprachigen Gegenwartsprosa wird das entwickelte Theorie- und Begriffsinstrumentarium dann überprüft. Das Hauptanliegen der Arbeit lässt sich in fünf verschiedene Fragestellungen und Untersuchungskomplexe differenzieren: Erstens geht es darum, eine kleine Begriffsgeschichte der Subversion zu schreiben und diesen Begriff diskursanalytisch in seinen verschiedenen historischen Bedeutungskomponenten darzustellen und zugleich für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung operationalisierbar zu machen. Dabei wird sich erweisen, dass sich vier Diskurse der Subversion, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sind und bis heute nebeneinander stehen, voneinander abgrenzen lassen: eine politisch-revolutionäre Subversion, eine künstlerischavantgardistische Subversion, eine minoritär-distinktive Subversion und eine dekonstruktivistische Subversion. Im Anschluss an diese Differenzierung des Subversionsbegriffs stellt sich zweitens die methodologische Frage, welche Literatur- und Kulturtheorien zur Untersuchung subversiver Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa geeignet sind. In der Vergangenheit wurden sehr unterschiedliche Methoden zur Analyse subversiver Literaturen genutzt – von traditionellen hermeneutischen Ansätzen über psychoanalytische und neomarxistische bis hin zu diskurs2 | Diese Arbeit wurde vom Fachbereich »Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften« der Universität Trier unter dem Titel Pop – Minoritäten – Untergrund. Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa als Promotionsleistung anerkannt. Mit dieser Studie liegt nun eine gekürzte und aktualisierte Version vor; das Analysemodell und die Ergebnisse dieser Studie wurden in der Zwischenzeit komprimiert bereits in einzelnen Aufsätzen präsentiert; vgl. u.a. Ernst 2008b, Ernst 2010a u. Ernst 2013.
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analytischen, medientheoretischen, dekonstruk tivistischen und jenen der Gender Studies. Die Literatur- und Kulturtheorien der Subversion, die die vorliegende Analyse der deutschsprachigen Gegenwartsprosa anwendet, werden daher im Theorie- und Methodenkapitel systematisiert und um neuere Ansätze, wie z.B. jene der postkolonialen Theorie und der Cultural Studies, ergänzt. Konkrete Literaturanalysen sollen dann ermöglichen, noch weitere Fragestellungen zu beantworten. Die Arbeit wird sich daher drittens mit den Formen und Schreibweisen subversiver literarischer Texte der deutschsprachigen Gegenwartsprosa befassen. Welche subversiven Formen und Schreibweisen werden in der Gegenwartsprosa genutzt? Welche ästhetischen Verfahren wenden die Texte an, wie erneuern sie die Strategien engagierter und avancierter Texte und wie subvertieren sie traditionelle Erzählweisen? Inwiefern finden sich autoreflexive Auseinandersetzungen im Medium Buch, das seine relativierte gesellschaftliche Bedeutung thematisiert? Oder versucht Literatur, auf anderen Wegen neue Geltungsmacht zu erlangen (und, wenn ja, wie gelingt dies)? Inwiefern werden die Ästhetiken anderer Medien – wie Film, Musik, Fotografie oder Internet – zum Gegenstand der Texte, und wie funktioniert diese intermediale Bezugnahme mit literarischen Mitteln? Wo lassen sich die Texte auf dem Feld der Gegenwartsliteratur und in Abgrenzung von Phänomenen wie der ›neuen deutschen Lesbarkeit‹, der ›Rückkehr zum Erzählen‹, der ›Netzliteratur‹ bzw. ›Netzkunst‹ ästhetisch verorten und welche Wechselbeziehungen bestehen möglicherweise zwischen diesen Tendenzen der Gegenwartsliteratur? Viertens wird die Frage untersucht, welche Inhalte und Topoi in subversiven literarischen Texten der deutschsprachigen Gegenwartsprosa präsentiert werden. Dies betrifft allerdings sehr unterschiedliche Bereiche: In welcher Weise werden nach 1989/90 subversive Konzepte, Figuren und Themen in der Gegenwartsprosa weitergeschrieben und mit- und gegeneinander verhandelt? Lässt sich ein systemischer, diskursiver oder personalisierter Feind oder Gegner in den Texten beschreiben oder wie setzen sich die Texte mit den dezentralisierten Machtstrukturen auseinander? Werden Geschichte und Gesellschaft als veränderbare Größen gezeichnet oder wird ein Raum des Posthistoire konstruiert? Finden die Prozesse der kulturellen und ökonomischen Globalisierung Eingang in die Texte oder vollziehen diese eine Rückzugsbewegung auf starke Subjekte und verhandeln sie ihre Themen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen? Werden die nationalen Normalisierungsprozesse in Deutschland und seine (nationalsozialistische) Vergangenheit zum Thema? Welche (dichotomischen) Identitätsmatrizen des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹, des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹, des ›Reichen‹ und ›Armen‹ etc. werden in den Texten (de-)konstruiert? Welche Milieus oder Generationen werden in den Texten aufgerufen, mit Hilfe welcher Abgrenzungsstrategien werden die jeweiligen sozialen Gruppen konstituiert? Schließlich müssen fünftens die Autorenbilder sowie Intellektuellenfiguren analysiert werden, die um die literarischen Texte in der Öffentlichkeit insze-
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niert werden, damit geklärt werden kann, in welchen (traditionellen oder neuen) Weisen Vorstellungen über die gesellschaftliche Rolle des literarischen Intellektuellen heute noch virulent sind. Dabei muss zwischen den literarischen Texten einerseits und den öffentlichen (Medien-)Inszenierungen ihrer Autorinnen und Autoren andererseits unterschieden werden. Zudem muss darauf eingegangen werden, auf welchen gesellschaftlichen Feldern und in welchen Medien sie wie präsentiert werden; es kann aufschlussreich sein, inwiefern sich die Poetologien literarischer Texte und ihre Äußerungen in nicht-literarischen Diskursen widersprechen. Zugleich wird somit untersucht, ob die These von der Zersplitterung der literarischen Öffentlichkeit und die inszenierte Medienpräsenz von Autorinnen und Autoren und ihren Texten als Gesamtkunstwerk eine zutreffende ist. Gibt es noch Gesten der Verweigerung gegenüber dem Literaturmarkt? Legitimieren Autorinnen und Autoren ihre öffentlichen politischen Äußerungen durch den Rekurs auf universelle Werte oder sprechen sie als spezifische Intellektuelle? Wo siedeln sie ihre Position in den nationalstaatlichen und globalen Entwicklungen an und inwiefern subvertieren sie ihre Rede als Intellektuelle, wenn sie eine entsprechende Haltung einnehmen? Die Fragestellungen dieser Arbeit werden in insgesamt sechs Kapiteln untersucht, wobei zur Analyse des komplexen Untersuchungsgegenstandes, der sich am Schnittpunkt von politischen, sozialen und medialen Diskursen konstituiert, ein Methodenpluralismus genutzt wird. Zu Beginn steht die Analyse der historischen und aktuellen sowie der medialen, politischen, ökonomischen und sozialen Hintergründe des Themenfeldes Literatur und Subversion – politisches Schreiben in der Gegenwart. Dabei werden die Gegenstände der Studie literaturhistorisch eingeordnet, indem in kursorischen Lektüren ausgewählte Texte und Forschungsarbeiten vorgestellt werden (Kap. 1). Anschließend wird der Begriff der Subversion differenziert und für diese Untersuchung operationalisierbar gemacht sowie die wichtigsten Literaturtheorien der Subversion untersucht und beschrieben (Kap. 2). Die dann folgenden konkreten Literaturanalysen verfügen allesamt über einen ähnlichen Aufbau: Zunächst rekapitulieren sie die historischen Hintergründe des jeweiligen literarischen Diskurses und seiner Beschreibungen als ›subversiv‹. Anschließend analysieren sie erstens die von den Texten genutzten Formen, Techniken, Sprachen und Schreibweisen; in einem zweiten Schritt ihre Inhalte, Themen und handelnden Figuren; in einem dritten Schritt ihre Verwendung von Topoi der Subversion; viertens betrachten sie die von den Autorinnen und Autoren inszenierten Autorenbilder und deren Verhältnis zum Typus des Intellektuellen. Dabei wird die avancierte Popliteratur am Beispiel von Thomas Meineckes Romanen Tomboy (1998) und Hellblau (2001) als Erstes zum Thema (Kap. 3); daran schließt sich die Untersuchung der minoritären Literatur am Beispiel von Feridun Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹-Konzept an, das dieser in seinen Büchern Kanak Sprak (1995) und Koppstoff (1998) entwickelt hat (Kap. 4); abschließend steht die Auseinandersetzung
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mit der Untergrund-Literatur am Beispiel von Anthologien der Social-Beat-Bewegung (Kap. 5). Äußerungen der Autorinnen und Autoren zu ihren eigenen Schriften dienen dabei nicht zu deren Erklärung, sondern werden als Teil des Diskurses über die Texte gelesen. Ein Fazit beantwortet dann die fünf Fragestellungen dieser Arbeit (Kap. 6). Während sich die Analyse der inszenierten Autorenbilder und Intellektuellentypen – unter Einbezug der sozialen, politischen und medialen Hintergründe – diskursanalytisch sowie teilweise mit Hilfe von Bourdieus Theorie des literarischen Feldes vollzieht, nutzen die Textanalysen verschiedene literatur- und kulturwissenschaftliche Theorien. Dazu zählen neben hermeneutischen und textimmanenten Lektüren, die die Strukturen und Formen der Texte zu bestimmen versuchen, auch poststrukturalistische Ansätze, die bei der Analyse der Aporien, Doppelfiguren und der Ironie der Texte helfen. Die in den Texten vorgenommenen Distinktionsbewegungen können unter Nutzung der Cultural Studies, der Feld- und Poptheorie, der Theorie des Normalismus und des Konzepts der kleinen Literatur nachvollzogen werden. Mit Theorien der Intertextualität kann gezeigt werden, auf welche Wissensarsenale die Texte rekurrieren und wie diese Zitate in den Text geschnitten werden. Schließlich liegen die (De-)Konstruktionen geschlechtlicher und ethnischer Identitäten in den Texten unter den methodologischen Rastern der Gender Studies und der postkolonialen Theorien. Da die zu untersuchenden Texte auf dem Feld der Gegenwartsliteratur positioniert werden sollen, werden teilweise auch andere Primärtexte zum Vergleich herangezogen, z.B. von Rainald Goetz, Florian Neuner oder Benjamin von Stuckrad-Barre, damit einzelne Merkmale der jeweiligen Schreibverfahren voneinander abgegrenzt und prägnanter beschrieben werden können. Insgesamt arbeitet die Studie einen Paradigmenwechsel im politischen Schreiben in der deutschsprachigen Literatur heraus: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kann man beschreiben, dass sich – nach den breiten Debatten über die deutsche Literatur im Anschluss an die politisch-historische Wende von 1989/90 – neben der ›engagierten, aufklärerischen Literatur‹ ein Typus ›subversiver Literatur‹ etabliert, der an ältere ästhetische und politische Konzeptionen anschließt. Diese Formen politischen Schreibens haben sich unter veränderten politischen, ökonomischen, sozialen und medialen Bedingungen entwickelt und lassen sich in ein produktives Verhältnis zu ›Diskursen der Subversion‹ setzen, da sie mit den traditionellen Kategorien einer ›engagierten Literatur‹ und des Autors als Intellektuellem nicht angemessen zu fassen sind. Dabei verfangen sich diese Formen ›subversiven Schreibens‹ allerdings unabdingbar in verschiedenen Aporien. Damit die Studie diese neuen Formen differenziert darstellen kann, konzentriert sie sich auf die Phase des Paradigmenwechsels und analysiert vor allem literarische Texte der Jahre 1995 bis 2001. Der Paradigmenwechsel von einer ›engagierten Literatur‹ zu einer ›subversiven Literatur‹ wirkt jedoch bis heute fort, wie man auch anhand von Analysen
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jüngerer Texte belegen könnte (und es finden sich zugleich noch immer Beispiele ›engagierten Schreibens‹, die jedoch seit den 1990er Jahren in weiten Teilen der Öffentlichkeit delegitimiert sind, wie diese Studie zeigen wird). Status und Aktualität der Studie Als die ersten Recherchen für diese Studie begannen, schien das Ende der Geschichte oder zumindest das Ende der engagierten Literatur noch festzustehen. Kaum jemand ahnte, dass sich heute der Kapitalismus als Wirtschaftssystem in einer Krise befinden würde, einige große europäische Banken verstaatlicht wären und in der Occupy-Bewegung, bei den Indignados oder im Arabischen Frühling die Fragen nach politischen Alternativen und einer Subversion der Machtverhältnisse wieder sehr aktuell werden würden. Im Bereich der deutschsprachigen Literatur wird seit etwa 2006 und noch einmal intensiviert seit 2010 die Frage nach den Formen und Wirkungen des politischen Schreibens in der Gegenwart neu gestellt. So proklamiert Frank Schirrmacher im März 2011 in der FAZ: In den siebziger und achtziger Jahren war die Literatur, waren die Schriftsteller in hohem Maße politisch engagiert. Dann wurde das Engagement wohlfeil und starb ab. Nun bietet unsere Gegenwart Gründe zuhauf, um das Politische poetisch wiederzugewinnen. (Schirrmacher 2011)
Seit 2006 sind einzelne Studien und Sammelbände erschienen, die Formen des politischen Schreibens (in der Gegenwart) untersuchen3 oder sich mit skandalisierten, zensierten oder verbotenen Büchern beschäftigen.4 Seit 2007 sind verschiedene historische und aktuelle Konzeptionen der Kulturkritik einer Revision unterzogen worden,5 zahlreiche wissenschaftliche Konferenzen und Forschungsprojekte haben seit 2010 nach der politischen Gegenwartsliteratur gefragt und dazu teilweise auch die Kategorie der Subversion genutzt.6 3 | Vgl. u.a. Gilcher-Holtey/Kraus/Schößler 2006; Hägele 2010; Barbey/Tommek 2012; Stahl 2013. Frühere Sammelbände, die sich mit der Fragestellung dieser Studie unter den Leitbegriffen ›das Politische im literarischen Diskurs‹ bzw. ›Postmoderne‹ und ›Ästhetik des Widerstands‹ am Beispiel der Nachkriegsliteratur beschäftigen, sind Kramer 1996a und Harbers 2000. 4 | Vgl. u.a. Plachta 2006; Neuhaus/Holzner 2007; Schäfer 2007; Weidermann 2008; Lorenz 2009; Fuld 2012. 5 | Vgl. u.a. Bollenbeck 2007; Misik 2008; Werber 2011; Petras/Sina 2011. 6 | Dazu zählen u.a. die Konferenzen ›Gegen den Strich.‹ Das Subversive in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 (Universiteit Antwerpen, 13./14.9.2010); Literatur als Wagnis/Literature as a Risk (erstes komparatistisches DFG-Kolloquium, Villa Vigoni, 3.–7.10.2011); Thomas Bernhard – Persiflage und Subversion (Université Libre de Bruxelles, 23.–25.11.2011); Zur Aktualität der Bohème nach 1968 (Universität Siegen,
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Diese Studie schreibt sich somit in einen akademischen und medialen Diskurs ein, dessen Protagonisten die Kategorie der ›politischen Literatur‹, ihre Formen und ihre gesellschaftliche Relevanz unter veränderten politischen, ökonomischen und medialen Bedingungen neu zu denken versuchen. Dabei ist sie Hans Ulrich Gumbrechts Postulat »vom ›riskanten Denken‹ als Verpflichtung und Privileg der Geisteswissenschaftler« (Gumbrecht 2010: 12) gleich in doppeltem Sinne verbunden, indem sie erstens Formen riskanten Denkens und politischen Schreibens zu ihrem Gegenstand macht und zweitens selbst ein in seiner Komplexität riskantes Modell zur Analyse des politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa vorlegt.
1.–3.2.2012); Ökonomie – Narration – Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Markts (Université du Luxembourg, 13.–14.2.2012); Links liegen lassen? Politische Tendenzen im literarischen Feld nach 1989/What’sLeft? Political Perspectives in German Literature and Film After 1989 (Washington University in St. Louis, 24.–25.2.2012); Aus Versehen politisch? Das Politische in der jungen deutschen Gegenwartsliteratur (Evgl. Akademie Loccum, 23.–25.3.2012); Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 11.–13.7.2013); sowie die Forschungsprojekte Triumph der Subversion? Das Ende der Massenideologien und neue Oppositionsdynamiken im Nahen Osten und Nordafrika (Centrum für Nah- und Mitteloststudien der Universität Marburg, seit 2011) sowie Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft (Graduate School Practices of Literatur an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster, seit 2012).
1. Literatur und Politik Z UM AK TUELLEN S TAND EINES PROBLEMATISCHEN V ERHÄLTNISSES
Literatur wird […] minoritär. Sie ist ein Anachronismus, ein langsames Medium, ein latenter Luxus, ein Relikt, ein schöner Überfluss. Doch eben auch ein Überfluss von bemerkenswerten Erkenntnis- und Einsichtsmöglichkeiten. […] Der mediale Anachronismus von Gegenwartsliteratur ist ihr grösstes Vermögen. Jochen Hörisch (1995: 38)
Zu Beginn dieser Untersuchung soll der aktuelle Stand des problematischen Verhältnisses von Literatur und Politik und seine Geschichte kurz dargestellt werden, um die folgende Analyse historisch und politisch zu fundieren. Vor allem geht es darum, den Diskurs der Gegenwartsliteratur im Verhältnis zu den ökonomischen, politischen, sozialen und medialen Diskursen der Vergangenheit und Gegenwart zu kontextualisieren und zu reflektieren. Dabei kann gezeigt werden, dass sich die konfligierenden Positionen einer eher engagiertaufklärerischen Literatur einerseits sowie einer eher subversiv-avancierten Literatur andererseits bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts manifestieren. Zunächst wird das Verhältnis von Literatur und Politik im 20. Jahrhundert sowie die Entstehung einer engagierten Literatur und des Typus des literarischen Intellektuellen in einem kurzen historischen Abriss beschrieben (1.1.). In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis von Literatur und Politik in der Gegenwart reflektiert; die Diskurse über das Ende der Intellektuellen, das Ende der Geschichte, das Ende der Gutenberg-Galaxis sowie die deutschen Diskurse auf dem Weg vom Mauerfall in die Berliner Republik und die Debatten und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989/90 sowie die literaturwissenschaftliche Forschungslage zur Gegenwartsliteratur werden zusammengefasst. Diese Beschreibungen legen nahe, in der Untersuchung des gegenwärtigen Verhältnisses von Literatur und Politik mit dem Begriff der Subversion zu operieren (1.2.). Schließlich wird die vorliegende Untersuchung des politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa ihren eigenen Ansatz darstellen und begründen. Eine Zusammenfassung ihrer wichtigsten
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Ausgangspunkte, Reflexionen über den in dieser Untersuchung zentralen Begriff der Subversion, Angaben zum Forschungsstand über das Verhältnis von Literatur und Subversion sowie ein Überblick über die wichtigsten Felder subversiver Literatur und die Begründung der Textauswahl beenden diesen ersten, einführenden Teil der Untersuchung (1.3.).
1.1. L ITER ATUR UND P OLITIK IM 20. J AHRHUNDERT. E NGAGIERTE L ITER ATUR UND DIE I NTELLEK TUELLEN Im Verlauf des 20. Jahrhunderts etabliert sich ein Diskurs, der der Literatur eine politische Wirkung und Autorinnen und Autoren eine eingreifende Funktion zuschreibt und für den die Namen Zola, Brecht und Sartre einstehen können. Innerhalb dieses Diskurses werden die Begriffe des Intellektuellen und der engagierten Literatur zentral, die jedoch immer wieder problematisiert und delegitimiert werden. Diese Gegenüberstellung der engagierten Literatur und des Typus der Intellektuellen einerseits (1.1.1.) sowie ihrer andauernden Problematisierung (insbesondere durch politisch bewusste und radikale Theoretiker wie u.a. Theodor W. Adorno) andererseits (1.1.2.) soll zeigen, dass die Behauptung zu simpel ist, vor 1989/90 sei das Konzept der engagierten Literatur hegemonial gewesen und mit dem Mauerfall sei es delegitimiert worden.7 Vielmehr führte die deutschsprachige Literatur im Laufe des 20. Jahrhunderts – und auch schon vor 1968 – kontroverse Debatten über die Frage, wie sich das Verhältnis von Literatur und Politik fassen ließe und ob Literatur überhaupt eine eingreifende Wirkung haben könne. Dabei wurden bereits verschiedene alternative Poetologien entworfen und realisiert, die zwar mit der Konzeption der engagierten Literatur und des Autors als Intellektuellen brechen, sich aber als Formen eines politischen (bzw. subversiven) Schreibens verstehen.
1.1.1. Konzeptionen engagierter Literatur und des Autors als Intellektuellen: Zola, Brecht, Sartre und die deutsche Nachkriegsliteratur Als im 18. Jahrhundert die Geltung der Rhetorik zurückgedrängt wurde und die Autorinnen und Autoren zudem ihre institutionelle Anbindung verloren, konnte sich der Typus des freien Schriftstellers ausbilden.8 Zum Ende des 19. 7 | Die folgende Darstellung zum Begriff des Intellektuellen findet sich modifiziert auch an anderer Stelle, vgl. Ernst/Gehlen 2009: 231–235. 8 | Vgl. Jäger 2000: 12f. Eine Übersicht über die Entwicklung der Funktion Autor im literarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts findet sich bei Parr 2008a.
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Jahrhunderts differenzierte sich die traditionelle Gesellschaft in »autonome Wertsphären im Sinne Max Webers« aus wie Religion, Staat und Politik, Recht, Wissenschaft und Kunst, »die ihrerseits weitgehend auf einen über die jeweilige Wertsphäre hinausgehenden Geltungsanspruch verzichteten.« (Emmerich 2001: 30) Mit dem Verschwinden eines universellen und verbindlichen Moraloder Gottesmodells eröffnete sich für freie Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Möglichkeit, dieses Vakuum zu besetzen und innerhalb der Gesellschaft als die autonomen Wertsphären übergreifende Vertreter universeller und verbindlicher Werte aufzutreten. Als sich Émile Zola 1898 in die Dreyfus-Affäre einschaltete, wurde der Begriff des Intellektuellen begründet. Der elsässische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, dessen jüdische Abstammung eine entscheidende Rolle spielte, war 1894 wegen angeblichen Landesverrats vor ein Kriegsgericht gestellt und verbannt worden – obwohl später seine Unschuld bewiesen worden war, verhinderte der französische Generalstab eine Revision des Urteils. Daraufhin schrieb der Schriftsteller Émile Zola am 13. Januar 1898 in der Zeitung L’Aurore unter dem Titel J’accuse (Ich klage an) einen offenen Brief an den Staatspräsidenten, in dem er die antisemitischen und reaktionären Hintergründe des Prozesses anklagte. Einen Tag später erschien in derselben Zeitung unter der Überschrift Une protestation das Manifeste des Intellectuels – eine Erklärung weiterer Personen des öffentlichen Lebens, die Zola zur Seite traten. Die Öffentlichkeit spaltete sich in zwei Lager, die Nationalisten und die Dreyfusards, die von ihren Gegnern immer wieder pejorativ als Les intellectuels bezeichnet wurden, bis diese den Begriff schließlich annahmen und positiv für sich umwerteten. Zola wurde im Februar 1898 für seinen offenen Brief verurteilt und ging ins Exil nach London. Für Georg Jäger zeigen sich in Zolas Handeln prototypisch die Merkmale, die in der Zukunft den Begriff des Intellektuellen bestimmen sollten: – Ein Schriftsteller setzt sein Ansehen ein, um sich in einem konkreten Fall politisch zu engagieren. – Er tut dies im Namen allgemeiner aufklärerischer Werte wie der Wahrheit […] und der republikanischen Grundwerte […]. – Der Schriftsteller bedient sich der Medien, um Öffentlichkeit herzustellen, und setzt dabei spezifische publizistische und rhetorische Mittel ein (Offener Brief, Appell, Erklärung, Resolution, Gruppenmanifest). – Der Schriftsteller bewährt sein Engagement, indem er persönlich die Konsequenzen trägt (Verurteilung, Exil). (Jäger 2000: 15)
Auch in Deutschland schalteten sich freie Schriftstellerinnen und Schriftsteller als Intellektuelle in öffentliche Debatten ein, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg und in der von radikalen politischen Kämpfen gekennzeichneten Weimarer Republik, die als »Eldorado für Intellektuelle« (Bialas 1997: 15) be-
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zeichnet wird.9 Eine wichtige Intellektuellen-Figur dieser Zeit ist Bertolt Brecht, der seinen Lehrstücken (vgl. Brecht 1966) und seinem Konzept des epischen Theaters eine direkte politische Wirkung auf die Zuschauer zuschreibt: Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. […] Das »Natürliche« mußte das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zutage treten. […] Die Bühne begann, lehrhaft zu wirken. (Brecht 1992: 986)
Nicht die Präsentation einer direkten politischen Botschaft, sondern die verfremdende Darstellung erzeuge die politische Wirkung des Theaters, so Brecht. Auch zum Intellektuellen-Diskurs äußerte sich Brecht, indem er vom eingreifenden Intellektuellen den Typus des Tui (Tellekt-Uell-In) unterscheidet, der als Kopfarbeiter seinen Intellekt an die Mächtigen vermiete und sich von diesen instrumentalisieren lasse. Brechts Unterscheidung zwischen Intellektuellen und Tuis beschreibt eine Differenz, die während des Nationalsozialismus auf bestürzende Weise wirksam geworden war: Während sich die Nationalsozialisten ihre Tuis hielten, mussten die Intellektuellen in das Exil fliehen, wurden in den Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet oder entgingen ihrer aussichtslosen Lage durch den Suizid. Die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 zeigten, dass ein faschistischer Staat die eingreifenden Gesten der Intellektuellen und den Geist der engagierten Literatur meint auslöschen zu müssen, um funktionieren zu können – insgesamt verboten die Nationalsozialisten »12.400 Titel und das Gesamtwerk von 149 Autoren.« (Fuld 2012: 102) Zahlreiche deutsche Intellektuelle wie u.a. Bertolt Brecht, Thomas Mann und Anna Seghers erfüllten eine solche Funktion als engagierte Autorinnen und Autoren durch die Produktion literarischer und politischer Texte oder öffentliche Stellungnahmen aus dem Exil (oder betätigten sich im direkten politischen Widerstand wie u.a. Jean Améry). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Holocaust und den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki schien die moralische Verpflichtung der Autoren, für eine bessere Welt einzutreten, größer denn je. Jean-Paul Sartres Entwurf einer Littérature engagée von 1947 wurde, wie Wolfgang Jäger und Ingeborg Villinger schreiben, zur »›Urfigur‹ auch der westdeutschen ›Nachkriegs-Intellektuellen‹.« (Jäger/Villinger 1997: 16) In Qu’est-ce que la littérature? erklärt Sartre apodiktisch, dass alle literarischen Texte praktische Handlungen seien und eine politische Positionierung bedeuteten. Von 9 | Vgl. auch Fähnders u.a. 1974a und Fähnders u.a. 1974b, beide Untersuchungen beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Linksradikalismus und Literatur in der Weimarer Republik.
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daher sei es unmöglich, den Beruf des Schriftstellers auszuüben, ohne politisch zu sein: »Der ›engagierte‹ Schriftsteller weiß, daß Sprechen Handeln ist […]. Er hat den unmöglichen Traum aufgegeben, ein unparteiisches Gemälde der Gesellschaft und des Menschseins zu machen« (Sartre 1981: 26). Ausgehend von dieser Grundannahme postuliert Sartre eine engagierte Literatur, die sich inhaltlich z.B. für diskriminierte Bevölkerungsgruppen einzusetzen habe. Die Autoren besäßen eine klare politische Aufgabe, diese liege in der Aufklärung ihrer Leserschaft. Es sei »die Funktion des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß niemand über die Welt in Unkenntnis bleibt […]. Mit einem Wort, es geht darum, worüber man schreiben will: über Schmetterlinge oder über die Situation der Juden.« (Ebd.: 27 u. 29) Sartres Entwurf schreibt den Autorinnen und Autoren sogar die Aufgabe zu, sich als Gewissen der gesamten Menschheit zu verstehen – eine Annahme, deren Negation später zu einem der entscheidenden Argumente für das Ende der Intellektuellen wird: »[D]er engagierte Schriftsteller […] darf sich niemals sagen: ›Ach was, allenfalls werde ich dreitausend Leser haben‹; sondern: ›Was würde geschehen, wenn alle Welt läse, was ich schreibe?‹« (Ebd.: 27) Während der Studierendenbewegung von 1968 radikalisiert Sartre sein Programm und erklärt, dass der Intellektuelle »den Begriff der Revolution zu überdenken« und sich für »die provisorische Errichtung der Diktatur der Arbeiterklasse« (Sartre 1971: 27f.) einzusetzen habe. Die in der jungen Bundesrepublik gegründete und von Anfang an als antifaschistisch inszenierte Gruppe 47 etabliert mit Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Günter Grass in den 1950er und 60er Jahren den Typus des politisch und literarisch engagierten Intellektuellen in Westdeutschland, nachdem die Nationalsozialisten diesen Typus der modernen und kritischen Denker während ihrer Herrschaft diffamiert und auszulöschen versucht hatten. 1952 belegt der Linguist Gotthard Monteresi, dass durch »›den Ausdruck ›Intellektueller‹ ein starkes Unbehagen geweckt‹« (Monteresi, zit. n. Schlich 2000: 18) werde. Erst sehr spät setzt sich »im Rahmen der Spiegel-Affäre 1962 oder auch erst der Schleyer-Affäre und Sympathisantendebatte im Herbst 1977 […] in der BRD ›ein Ensemble positiver Definitionselemente und Assoziationen‹ durch.« (Jäger 2000: 2f.)10 Allerdings kennt auch die freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an und bis heute ihre Grenzen, Beschränkungen und Kontrollinstanzen: Das westdeutsche pen-Zentrum hält 1954 eine Resolution gegen die Buchzensur für notwendig (vgl. Wagenbach u.a. 1979: 125); der Bundeskanzler Ludwig Erhard diffamiert engagierte Autoren als ›kleine Pinscher‹ (vgl. Glaser 1997: 204); ein Autor wie Bertolt Brecht ist bis in die 1960er Jahre hinein auf westdeutschen Bühnen unspielbar; auch im 21. Jahrhundert führt die Bundeszentrale für ju10 | Noch 1978 veröffentlicht der Linguist Dietz Bering ein Buch mit dem Titel Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfworts, vgl. Bering 1978.
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gendgefährdende Schriften noch über 300 Bücher auf ihrer Indizierungsliste.11 Gegen die früh einsetzenden restaurativen Tendenzen der jungen Bundesrepublik stützen sich viele Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 (die als Gruppe politisch ›asketisch‹ bleibt [vgl. Gilcher-Holtey 2000]) von Anfang an eher auf einen politischen denn einen ästhetischen Konsens, wie Helmut Heißenbüttel feststellt: Die Auswahl der Eingeladenen sei »immer weit mehr von dieser Losung der ersten Stunde (Antifaschismus, Antimilitarismus, Demokratie) bestimmt worden als von literarischen oder gar publizistischen Argumenten« (Heißenbüttel 1972: 125), die Autorinnen und Autoren begriffen sich gar als die »›Wächter‹ einer demokratischen Öffentlichkeit« (Bogdal 1999: 144). In den letzten Jahren hat die Forschung allerdings zunehmend aufgearbeitet, inwiefern die Gruppe 47 und ihre Selbstgründung selbst »eklatant mythische Züge trägt.« (Emmerich 2001: 35) Briegleb hat 2003 eine Kontroverse um seine These ausgelöst, dass sich die Gruppe 47 nicht »um den deutschen Antisemitismus nach der Shoah […] gekümmert hat.« (Briegleb 2003: 11) Auch das lange Schweigen von Günter Grass und seinen engeren Kollegen über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS lässt retrospektiv die antifaschistische Position der Gruppe in ihrer moralischen Begründung problematisch erscheinen. Das politische Engagement der Gruppe 47 führt aber in jedem Fall dazu, dass sich verschiedene Autorinnen und Autoren an Manifesten beteiligen und öffentliche Erklärungen abgeben; ein SPD-Wahlkontor formuliert Wahlslogans für die SPD und engagiert sich öffentlich, dazu zählen u.a. Ilse Aichinger, Günter Grass, Peter Härtling, Marie-Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Martin Walser. Heinrich Böll wird durch seinen Text Freies Geleit für Ulrike Meinhof? (1972) zum Gegenstand einer öffentlichen Hetzjagd, über 100 Autorinnen und Autoren geben daraufhin eine Solidaritätserklärung für ihn ab, er selbst verarbeitet die Ereignisse in seinem Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) (vgl. Wagenbach u.a. 1979: 188, 199, 216 u. 229f.). Insbesondere Peter Weiss, der mit seiner dreiteiligen Ästhetik des Widerstands (1975/78/81) und seinen dokumentarischen Texten paradigmatische Beispiele einer ›engagierten Literatur‹ vorlegt, wird zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur und Politik.12 Politisch und/oder ästhetisch radikale Autorinnen und Autoren dieser Zeit sind u.a. Arnfrid Astel, Peter O. Chotjewitz, Gisela Elsner, Christian Geissler, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Urs Jaeggi, Hermann Peter Piwitt, Michael Scharang, Arno Schmidt, Ror Wolf und Peter Paul Zahl.
11 | Sigrid Löffler verweist darauf, dass noch 2003 insgesamt »334 Bücher, Broschüren und Comics« (Löffler 2003: 17) verboten sind. 12 | Vgl. Burmeister 1985; Garbers u.a. 1990; Kienberger 1994; Kramer 1996b; Meyer 1989; Müller 1991; Weiss 1988.
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Auch die Interessen diskriminierter oder minorisierter Gruppen werden von Schriftstellern in der Öffentlichkeit politisch und literarisch vertreten. Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt bemüht sich 1970 um »die Darstellung der Situation abhängig Arbeitender« mit dem Ziel, »die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Arbeitenden zu verändern« (Werkkreis Literatur der Arbeitswelt 1990: 142). Die journalistischen und dokumentarischen Arbeiten von Bernt Engelmann (u.a. Meine Freunde – die Manager. Ein Beitrag zur Erklärung des deutschen Wunders, 1966; Krupp. Legenden und Wirklichkeit, 1969) oder Günter Wallraff (Industriereportagen. Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben, 1970; Ganz unten, 1985) sind Ausdruck dieser aufklärerischen Bemühungen, die im Ruhrgebietsautor Max von der Grün (Leben im gelobten Land. Gastarbeiterportraits, 1975) ihren prominentesten literarischen Vertreter finden. Aus dem Kreis dieser Arbeiterliteratur wendet sich Erika Runge (Bottroper Protokolle, 1968) der als Frauenliteratur bezeichneten Bewegung zu, die sich im differenzfeministischen Sinne für die Emanzipation der Frauen einsetzt. Als Beispiele gelten die dokumentarischen Interviewsammlungen Frauen. Versuche zur Emanzipation (1970) von Erika Runge und Frauen gegen den § 218 (1971) von Alice Schwarzer sowie die Erzählung Häutungen (1975) von Verena Stefan, deren Protagonistin aus der entfremdeten heterosexuellen Beziehung in eine lesbische hineinwächst und erst auf diesem Wege die Möglichkeit erhält, ihre minorisierte Position in der patriarchalen Welt zu verlassen. In Protestsongs und mit politischer Lyrik äußert sich der sog. Agitprop, eine Kurzform von Agitation und Propaganda, dem die Lieder und Texte Franz Josef Degenhardts und Dieter Süverkrüps zuzurechnen sind. Im Grips-Theater in Berlin findet diese Richtung ihren theatralen Ausdruck, der vor allem auf die politisch-ästhetische Erziehung des jüngeren Publikums zielt. Bis heute wird dieser Strang literarisch-dokumentarischer Texte, die klare hegemoniale Gegner benennen und diese mit journalistischen oder ironischen Mitteln vorführen und entlarven, u.a. in der Reihe der Konkret-Texte fortgesetzt, z.B. im Buch Herrschaftszeiten oder Freiheit ist immer die Freiheit von Radio Luxemburg (1996) ihres Herausgebers Hermann L. Gremlitza (vgl. Gremlitza 1996). In der DDR hatte sich unterdessen eine paradoxe Situation entwickelt: Einerseits wurden die Schriftsteller von staatlicher Seite geradezu gedrängt, sich öffentlich politisch zu positionieren, andererseits griff der Staat durch Zensurund Sanktionsmaßnahmen massiv in die literarische Produktion und den Literaturbetrieb ein. Schon in den Anfangsjahren der DDR standen sogar dreimal so viele Bücher auf dem Index wie während des Nationalsozialismus (vgl. Löffler 2003: 11); die Ausweisung des oppositionellen Liedermachers Wolf Biermann 1976 wird oft als finale Delegitimation des real-existierenden sozialistischen Staates DDR bewertet. Aufgrund des repressiven Staatswesens, in dem sie sich bewegten, nahmen Autorinnen und Autoren wie Volker Braun, Stefan Heym, Heiner Müller, Klaus Schlesinger oder Christa Wolf »die Rolle der Ersatzöffentlichkeit, des Aufklärers und Tabubrechers (wahr), die ihre westdeut-
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schen Kollegen allenfalls in der Adenauerära hatten spurenweise wahrnehmen müssen« (Emmerich 2001: 42), sie waren jedoch zugleich deutlich größeren Gängelungen unterworfen als ihre westdeutschen Kollegen.
1.1.2. Debatten über die engagierte Literatur und den Intellektuellen im 20. Jahrhundert: Avantgarde, Adorno und der ›Tod der Literatur‹ Bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts positionieren sich zahlreiche Gruppen, Autoren und Theoretiker, die die Grundannahmen der Intellektuellen und der engagierten Literatur in Frage stellen und eine radikale Veränderung der Gesellschaft auf anderen literarischen Wegen zu erreichen versuchen. Schon in den historischen Avantgarden verknüpft sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Wille zu politischer Veränderung mit einer Skepsis gegen die bürgerlichen, aufklärerischen und humanistischen Formen des literarischen und intellektuellen Engagements. Während die negativen Seiten der Aufklärung in der anonymen Massen- und Industriegesellschaft und im Ersten Weltkrieg mit seinen Tötungsmaschinen und -techniken offen zu Tage treten, verweigern die Dadaisten eine klare Benennung eines Feindes. Sie zertrümmern mit ihren Lautgedichten die semantische Ebene der Sprache und kündigen somit den Glauben an eine direkte Wirkung politischer Botschaften von Autorinnen und Autoren oder Intellektuellen bei ihrem Publikum auf. Gleichsam in Trümmern liegen der Typus des Intellektuellen und die Wirksamkeit der engagierten Literatur für Theodor W. Adorno angesichts des Zivilisationsbruches Holocaust (auch wenn Sartre gerade durch den Holocaust zu seinem Traktat über die engagierte Literatur veranlasst wurde). Adorno geht davon aus, dass Hitler »den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen (hat): ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« (Adorno 1997: 358) Angesichts der »Selbstzerstörung der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 2000: 3), die in der industriellen Vernichtung von mehreren Millionen Menschen ihre barbarische, andere Seite gezeigt habe, sind für Adorno alle bisherigen Voraussetzungen für die mögliche Wirksamkeit einer politischen Literatur verschwunden. Er postuliert deshalb die Verweigerung der Kunst gegen ihre ökonomische Nutzung in der Kulturindustrie, die die Fortsetzung des goebbelschen Propagandaapparates mit anderen Mitteln betreibe. Während Adorno seinen apodiktischen Satz, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Adorno 1995: 49), später differenziert, bleibt er doch ein Kritiker jener engagierten Intellektuellen, die in der Tradition Brechts und Sartres den Literaturbetrieb Nachkriegsdeutschlands bestimmen. Deren Engagement laufe »auf Geblök hinaus, auf das, was alle sagen oder wenigstens latent alle gern hören möchten« (Adorno 1994c: 429), die engagierte Literatur
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gleiche sich der uniformen Massengesellschaft und ihrer Sprache an, um ihre Botschaft transportieren zu können, so dass sie die notwendige ästhetische Radikalität zu deren Auflösung nicht mehr erreichen könne. Demgegenüber seien avancierte moderne Texte wie »Kafkas Prosa, Becketts Stücke oder der wahrhaft ungeheuerliche Roman ›Der Namenlose‹« (ebd.: 426) Beispiele literarischer Werke, die »durch nichts anderes als ihre Gestalt […] dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.« (ebd.: 413) Adorno plädiert für eine avantgardistische und autonome Kunst, die als einzige subversiv sein könne, wenn sie das potenzielle Einverständnis der Lesermassen aufkündige und sich gegen jeden didaktischen Gebrauch auf ihre ästhetischen Eigenheiten zurückziehe. Während Adorno sich vor allem gegen den Gebrauchswert von Literatur wendet, der ästhetische Werke korrumpiere, ist den Aktivisten der Studentenbewegung von 1968 insbesondere der Gebrauchswert der engagierten Literatur zu gering. Im November 1968 wird im Kursbuch 15 die berühmte Debatte über den ›Tod der Literatur‹ geführt, die als Ausdruck des zunehmenden Konflikts zwischen der Studierendenbewegung und ihren praktischen politischen Aktionen einerseits und den engagierten Autorinnen und Autoren und ihrer Literatur andererseits gewertet werden kann (so leiten die spontaneistischen Störungen im Oktober 1967 während der Gruppe 47-Tagung in der Pulvermühle bei Erlangen den inneren Zerfall und letztlich die Auflösung der Gruppe ein). Im Kursbuch 15 reflektieren Karl Markus Michel und Hans Magnus Enzensberger die Frage, ob man »die moderne Literatur insgesamt abschaffen (könnte), ohne daß sich mehr änderte als durch ihre Existenz.« (Michel 1968: 178) Michel und Enzensberger proklamieren jedoch nicht den ›Tod der Literatur‹ in toto, vielmehr loten sie aus, welche Formen von Literatur in Zeiten revolutionärer Umbrüche, als welche sie die damalige Gegenwart deuten, noch eine gesellschaftliche Funktion besäßen. Enzensberger behauptet zwar einerseits kategorisch: »Für literarische Kunstwerke läßt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben« (Enzensberger 1968b: 195), erklärt allerdings andererseits, dass es »für Leute, die lesen und schreiben können, begrenzte, aber nutzbringende Beschäftigungen« gebe. Als historische Vorbilder nennt er Ludwig Börne und Rosa Luxemburg, für seine Gegenwart die journalistischen und dokumentarischen Arbeiten von Georg Alsheimer, Ulrike Meinhof, Bahman Nirumand und Günter Wallraff. Anschließend verweist er jedoch darauf, dass sich die Genannten noch im Rahmen der Moderne bewegten: »Die Verfasser halten an den traditionellen Mitteln fest: am Buch, an der individuellen Urheberschaft, an den Distributionsgesetzen des Marktes, an der Scheidung von theoretischer und praktischer Arbeit. Ein Gegenbeispiel gibt die Arbeit Fritz Teufels ab« (Enzensberger 1968: 196). Diese bewegt sich im Bereich des Situationismus und treibt mit ihrem politischen Protest zugleich auch »die postmoderne Flexibilisierung und
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Pluralisierung« (Kiesel 1998: 629) voran, von der auch diese Studie in ihrer Reflexion über politisches Schreiben in der Gegenwart ausgeht. Auch Michel beschreibt die Erstarrung der engagierten Literatur, die die »lesenden Massen von heute« nicht erreiche, sondern »für eine ›Leserelite‹« geschrieben werde, während die Gruppe 47 dem »Establishment zugeschlagen« (Michel 1968: 177) werden müsse. Michel proklamiert ebenfalls keinen Tod der Kunst, sondern erkennt in der Studierendenbewegung »neue Ausdrucksformen, die den literarischen Avantgardismus senil erscheinen lassen und die progressive westliche Literatur insgesamt an ihre Ohnmacht gemahnen, die aus ihrer Privilegiertheit folgt.« (Michel 1968: 179) Insbesondere im »Pop, Happening und manchen Formen der Subkultur« (ebd.: 172) sieht er jene produktive politisch-ästhetische Verbindung von Literatur und Realität, die die engagierte Literatur vermissen lasse.13 Unter dem Motto ›Tod der Literatur‹ ist also weniger das Ende der engagierten Literatur diskutiert worden als vielmehr die Erstarrung des modernen Konzepts engagierter Literatur und intellektuellen Engagements. Martin Hubert stellt in seiner Studie Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik fest, dass ›1968‹ als Einschnitt in den Diskurs über das Verhältnis von Literatur und Politik in der Bundesrepublik zu sehen sei:14 Dieser ›Praxisschock‹ führte selbstverständlich nicht zum Ende der autonomen Literatur, aber er relativierte die Selbstverständlichkeit, mit der bislang die kunst-ästhetische Autonomie als quasi unangreifbare, eigenständige geschichtliche Größe behandelt wurde. Vor allem rückte die 68er-Bewegung die Tatsache in den Blickpunkt, daß sinnliche und ästhetische Artikulationsweisen, Wirkungsstrategien und Darstellungstechniken durch Kulturindustrie und Warenästhetik immer stärker vergesellschaftet bzw. im Alltag des gesellschaftlichen Lebens präsent sind. (Hubert 1974: 366)
Die Krise der engagierten Literatur um 1968 verweist somit auf jene Postmodernisierungsschübe, die sich in den 1960er Jahren bereits andeuteten und in den folgenden Dekaden das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland
13 | Urs Jaeggi entkoppelt 1972 bereits wieder die Bereiche ›(revolutionäres) politisches Engagement‹ und ›literarisches Schreiben‹: »Sinnvoll ist es deshalb noch immer, literarische Texte zu schreiben: Literatur als Parodie […]. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme hängt nicht vom Schriftsteller ab. Dieser befindet sich, so gesehen, in einer Sackgasse. Er kann listig sein, kann schreien, er kann aufrühren, rühren und beides gleicherweise dem Gelächter preisgeben. Er ist, wie immer er sich anstellt, privilegiert, und dieses Privileg ist seine Hypothek.« (Jaeggi 1972: 141) 14 | Keith Bullivant und Klaus Briegleb haben 1992 die Folgen dieser ›Krise des Erzählens‹ beschrieben und einige avancierte Schreibweisen, wie jene von Hubert Fichte, Helmut Heißenbüttel oder Alexander Kluge, analysiert, die sie einer ›bürgerlichen‹ bzw. ›engagierten Literatur‹ gegenüberstellen, vgl. Bullivant/Briegleb 1992.
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zunehmend flexibilisierten. Diese sozialen, politischen und ökonomischen Transformationen veränderten zwangsläufig auch den Stellenwert der Literatur und ihre gesellschaftliche Funktion, was sich bis heute in weiteren Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Literatur und Politik niederschlägt.
1.2. L ITER ATUR UND P OLITIK IN DER G EGENWART. D AS E NDE DER ENGAGIERTEN L ITER ATUR UND DER I NTELLEK TUELLEN Die Grundthese ist dabei, dass der Diskursstrang, der die Wirksamkeit und hohe gesellschaftliche Relevanz der eingreifenden intellektuellen Rede und der engagierten Literatur behauptet, zwar noch immer – vor allem von der älteren Autorengeneration – fortgeführt wird, zahlreiche seiner Grundannahmen jedoch fundamental erodiert und kaum mehr zu legitimieren sind. Ein Paradigmenwechsel hat sich vollzogen: Das Verhältnis von Literatur und Politik lässt sich heute angemessener mit dem Begriff der Subversion als mit jenem des Engagements beschreiben. Um diesen Ansatz zu plausibilisieren, werden zunächst Diskurse der 1990er (und teilweise auch 2000er) Jahre reflektiert, die das Ende der Intellektuellen angesichts einer kulturellen und medialen Postmoderne (1.2.1.), das Ende der Geschichte in Zeiten eines flexibilisierten Kapitalismus (1.2.2.) und das Ende der Gutenberg-Galaxis in Zeiten neuer Medien (1.2.3.) behaupten. Anschließend werden die Diskurse einer Normalisierung der deutschen Nation in der Berliner Republik (1.2.4.) und die Debatten und Tendenzen der neuen deutschen Literatur nach 1989/90 (1.2.5.) thematisiert, ohne die sich eine deutschsprachige Gegenwartsliteratur nicht als ›politisch‹ analysieren ließe. Das letzte Unterkapitel liefert zudem einen literaturwissenschaftlichen Forschungsüberblick über Arbeiten zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
1.2.1. Das Ende der Intellektuellen. Über die kulturelle und mediale Globalisierung und die Postmoderne Der Begriff der Globalisierung wird inflationär benutzt, selten präzise bestimmt und immer wieder zur Erzeugung eines »Pathos des Epochenwechsels« (Görg 2004: 106) eingesetzt. Mit Barrie Axford, Ulrich Beck, Anthony Giddens und Leslie Sklair unterscheidet Josef Esser vier Formen der Globalisierung: – Globalisierung als ökonomischer Prozeß weltweiter Produktions- und Marktintegration, vorangetrieben von transnationalen Unternehmen; – Globalisierung als Herausforderung für die Möglichkeiten und Grenzen jeder Art politischer Regulierung oder Gestaltung, sei es regional, national, international;
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Literatur und Subversion – Globalisierung als Einebnung unterschiedlicher kultureller Räume und Lebenspraxen und als die Herstellung einer ›Weltgemeinschaft‹ mit einer Vielzahl »globaler Dörfer«; – Globalisierung als ökologische Herausforderung und Gefahr. (Esser 1999: 132)
Globalisierung lässt sich somit als ökonomischer, politischer, kulturell-medialer und ökologischer Prozess begreifen,15 wobei es naheliegend ist, dass sich literaturwissenschaftliche Arbeiten vor allem mit der kulturellen und medialen Globalisierung beschäftigen. Stuart Taberner bestimmt in seinem Sammelband über German Literature in the Age of Globalisation (2004) die Globalisierung mit John Tomlinson, Fredric Jameson und David Held als das »establishment of worldwide networks faciliated by new media such as the internet« und als »heterogenity […] in ethnicity, cultural coherence or the exclusion of ›difference‹« (Taberner 2004: 1), also ebenfalls vor allem als ein mediales und kulturelles Phänomen. Dabei bleibt allerdings festzuhalten, dass gerade die mediale Globalisierung neue Heterogenitäten und Ungerechtigkeiten etabliert. Noch immer können eine Milliarde Menschen weder lesen noch schreiben (vgl. Breidenbach/ Zukrigl 2000: 205), zudem ist die Verbreitung des Internet »eben nicht global […], sondern […] auf die Industrie- und Schwellenländer konzentriert.« (Görg 2004: 107) Das von Joana Breidenbach und Ina Zukrigl als ›Globalkultur‹ bezeichnete weltweite Referenzsystem ist »nicht unter gleicher Partizipation aller Kulturen entstanden« und noch immer »den ständigen Hegemonialbestrebungen der Teilnehmer ausgesetzt« (Breidenbach/Zukrigl 2000: 207). Da diese germanistische Studie sich thematisch vor allem dafür interessiert, welchen Einfluss die kulturellen und medialen Globalisierungsprozesse auf die Position der Intellektuellen in Deutschland haben, nimmt sie bei aller Offenheit letztlich vor allem eine germanozentrische Perspektive ein. Die Prozesse politischer, kultureller und medialer Globalisierung haben zu einer Differenzierung der gesellschaftlichen Milieus und zu einer Modifikation der Rolle von Nationalstaaten (wenn auch nicht zu ihrer Verabschiedung) geführt. Seit den 1980er Jahren sind mit den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) neue Akteure aktiv, die die geschwächten Positionen der Nationalstaaten, ihrer Regierungen und ihrer intellektuellen Gegenspieler ergänzen. Die Intellektuellen inszenierten sich der Tradition nach als authentische Vertreter universeller Werte in einer nationalen Gemeinschaft; die Verhandlung politischer Themen auf supranationaler Ebene verlangt jedoch andere Formen der Intervention. Schon 1987 stellt Hans Magnus Enzensberger fest, dass gesellschaftliche Probleme komplexer und globaler geworden seien und es daher intellektuelle 15 | In der deutschen Debatte zum Begriff der Globalisierung ist Beck 2007 einschlägig, dessen Perspektiven auf die Globalisierung jedoch in Essers pointierter Zusammenfassung enthalten sind.
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Figuren wie Heinrich Böll nicht mehr gebe: »Vielleicht liegt es daran, daß sie in gewisser Weise überflüssig geworden sind. Ich glaube, es ist eine Vergesellschaftung solcher Rollen eingetreten. Wir haben Heinrich Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace« (Enzensberger 1988: 239). Unter den Bedingungen globalisierter Kommunikation gelinge es einzelnen Intellektuellen nicht mehr, ihr moralisches und fachliches Expertentum öffentlich zu legitimieren, denn Einzelne könnten den komplexen globalen Zusammenhängen nicht mehr adäquat begegnen und sich dabei auf ihr universelles Wissen berufen. Das »Ende der Utopien und das Scheitern globaler Ideologien« entzögen dem Intellektuellen »die legitimierenden Bezugspunkte und rauben ihm die großen Perspektiven, so daß seine Rede im Zeitalter des Wertepluralismus und Kulturrelativismus der Beliebigkeit anheimzufallen droht« (Jäger 2000: 24), fasst Georg Jäger kulturkritisch zusammen. In ganz ähnlicher Weise haben Jean-François Lyotard und Michel Foucault schon in den 1970er und 80er Jahren das Ende des universellen Intellektuellen proklamiert, gar dessen Grabmal errichtet. Foucault unterscheidet 1972 den klassischen Typus des universellen Intellektuellen (›l’intellectuel universel‹) vom notwendigen Typus des spezifischen Intellektuellen (›l’intellectuel spécifique‹); die verschiedenen (wissenschaftlichen, juridischen, ökonomischen, politischen, künstlerischen etc.) Diskurse seien in einer Weise voneinander differenziert, dass es nicht mehr möglich sei, übergreifende Formen des Wissens und der Moral zu repräsentieren und daraus die Wahrheit der eigenen Rede abzuleiten. Es müsse vielmehr um lokale Praxen der Konfrontation mit der Macht gehen: »Heute kommt es dem Intellektuellen […] nicht mehr zu, sich an die Spitze oder an die Seite aller zu stellen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichzeitig deren Objekt und deren Instrument ist: in der Ordnung des ›Wissens‹, der ›Wahrheit‹, des ›Bewußtseins‹, des ›Diskurses‹.« (Foucault/Deleuze 1987: 107f.) Die Einnahme einer Position universeller Moral sei also nicht mehr möglich; zukünftig sollten sich die Diskurssubjekte als spezifische Intellektuelle in jenem Diskurs politisch positionieren, dessen Regelsysteme sie beherrschen. Jean-François Lyotard wird eine Dekade später noch radikaler, indem er auch die Alternative des spezifischen Intellektuellen ablehnt. Der französische Minister Max Gallo wundert sich am 26. Juli 1983 in Le Monde über das ›Schweigen der Intellektuellen‹ angesichts der gescheiterten Bildungsreform. Dies veranlasst Lyotard zu seiner berühmten Antwort unter dem Titel Tombeau de l’intellectuel (dt. Grabmal des Intellektuellen). Schon in seiner Bestimmung der Postmoderne ist Lyotard vom Zersplittern eines gesamtgesellschaftlichen Wissens ausgegangen, das bei ihm als Ende der großen Erzählungen zum Programm wird. Eine Gemeinschaft könne sich aus den zahllosen atomistischen Sprachspielen nur bilden, wenn gemeinsame Erzählungen das Separate zu Gleichem vereinten. Im Zeitalter der Moderne hätten große Erzählungen wie Aufklärung und Emanzipation oder der deutsche Idealismus das Wissen legi-
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timiert. Diese Erzählungen seien in der postindustriellen, medial globalisierten Welt an ihr Ende gelangt und könnten sich nicht mehr legitimieren: »Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel« (Lyotard 1994: 14). Das Ergebnis sei die Atomisierung der Gesellschaft: »Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist« (ebd.: 54). In dieser postmodernen Welt nach dem Ende der großen Erzählungen lasse sich das Subjekt nur noch relational bestimmen, es wird kursiv gesetzt – und steht also gleichsam auf schwankenden Beinen. Zugleich werde es dem Intellektuellen unmöglich, seine Rede als eine authentische und universell gültige zu legitimieren. Lyotard antwortet Gallo 1983: Es dürfte also keine ›Intellektuellen‹ mehr geben, und wenn es trotzdem noch welche gibt, so darum, weil sie blind sind gegenüber einem im Vergleich zum 18. Jahrhundert neuen Tatbestand in der Geschichte des Abendlandes: daß es kein universelles Subjekt oder Opfer gibt, das in der Wirklichkeit ein Zeichen gäbe, in dessen Namen das Denken Anklage geben könnte (Lyotard 1985: 17).
Gerade in diesem Ende des universellen Intellektuellen sieht Lyotard jedoch eine Chance: Gegen die »Obsession der Totalität« plädiert er für die »Vielheit der Verantwortlichkeiten« und für »Geschmeidigkeit, Toleranz und ›Wendigkeit‹« (ebd.: 18). Foucault und Lyotard stellen also kategorisch fest, dass die Idee »eines universellen Subjekts, mit dem sich die Intellektuellen von Voltaire über Zola bis Sartre identifizieren konnten, heute obsolet geworden ist« (Schlich 2000: 60). Damit steht zwar das Konzept des universellen Intellektuellen in Frage, allerdings bleibt bei beiden die Möglichkeit der politischen Einflussnahme bestehen. Ähnlich wie Enzensberger feststellt, dass in Zeiten kultureller Globalisierung nicht mehr eine intellektuelle Figur, sondern NGOs wie Greenpeace und Amnesty International die politische Öffentlichkeit vertreten, ordnen auch Foucault und Lyotard das Ensemble politischer Akteure, ihrer Gegnerschaften und die Form ihrer Kämpfe um. Den Schriftstellern, so Foucault, komme es nicht mehr zu, sich über alle gesellschaftlichen Diskurse zu erheben, sondern als spezifische Intellektuelle innerhalb der literarischen und kulturellen Diskurse lokale Kämpfe auszutragen. Für Lyotard lässt sich ein allgemeiner Konsens über einen mächtigen Gegner nicht mehr legitimieren; allerdings lasse sich noch immer ein ästhetischer Widerstand »gegen die Unterdrückung des Ereignisses durch die Regeln der politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Diskurse« (Münker 2000: 65) organisieren. Die »Verabschiedung der Einheitsobsessionen« der Moderne sowie das entschiedene Eintreten für eine »radikale[ ] Pluralität« (Welsch 1997: 36) werden somit die Aufgaben postmoderner Mikropolitiken, die das Modell des universellen Intellektuellen ablösen sollen. Anders ausgedrückt: Wenn die Einsicht der Postmoderne richtig ist, »daß die Diversität der Lebens-
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formen, Orientierungsmuster, Sprachspiele und Bedürfnisstrukturen unüberschreitbar und legitim ist« (Welsch 1998: 214), dann ergibt sich daraus eine »generalized suspicion of authority and its grand narratives, and a concern to encourage diversity and cultural difference« (Sim 1998: 340), die die vereinheitlichende und autoritäre Figur der Intellektuellen delegitimiert und die Notwendigkeit zur Verteidigung radikaler Pluralität begründet. Andreas Huyssen hat diese Verschiebungen exemplarisch anhand der Delegitimation der politischen Funktion der modernen Kunst in den 1970er und 1980er Jahren beschrieben. Während die klassische Moderne den Weg in die Museen und die wichtigen Stätten des Kunstbetriebs hinter sich gebracht hatte, fanden die radikalen politischen Auseinandersetzungen in deren Abwesenheit auf den Straßen statt. Die Diversifizierung der Lebensbereiche, die die postmoderne Theorie behauptet, zeige sich auch in der Auflösung dichotomischer Differenzen: Dabei ist es vor allem das wachsende Selbstbewußtsein von Minderheitskulturen und deren Rezeption durch eine breitere kulturelle Öffentlichkeit, was den modernistischen Glauben an die kategorische Trennung von ›high‹ und ›low‹ Lügen straft […] – mit ihrer Rettung von bislang ›unsichtbaren‹ oder verstellten Traditionen, ihrer Betonung von geschlechts- und rassenbedingter Subjektivität in künstlerischen Produkten sowie in ihrer Weigerung, sich durch den Kanon der klassischen Moderne einengen zu lassen. (Huyssen 1997: 22)
Huyssen beschreibt diese Entwicklungen jedoch als eine Selbstreflexion der Moderne und bezeichnet die Postmoderne als eine »Krise dieses Projekts der Moderne«; die Rede von der Postmoderne trage eine »apokalyptische Hysterie« (ebd.: 42) in sich. Stuart Sim bemerkt an anderer Stelle relativierend, dass Lyotard selbst darauf verwiesen habe, dass »the modern and the postmodern alternate over time, in which case our current phase of postmodernity may be no more than a temporary respite before another outbreak of modernity.« (Sim 1998: 340f.) Jürgen Habermas’ Begriff des Diskurses – der dem in dieser Studie verwendeten Diskursbegriff Foucaults allerdings entgegensteht – geht nach wie vor davon aus, dass sich in einem herrschaftsfreien Raum zwischen den Individuen einer Gesellschaft jener Konsens herstellen lasse, den Lyotard als unmöglich ablehnt, da sich keine gemeinsamen Satzverwendungsregeln mehr bestimmen ließen. Manfred Frank vertritt in diesem Konflikt Habermas und erkennt in Lyotards Schriften den Widerspruch, dass sich dieser selbst »am argumentativen Diskurs orientiert«, in seinen Schriften eine »implizite Ethik« vertrete und »Geltung für sein Urteil« (Frank 1988: 98) beanspruche; Lyotard verfechte somit Aussagen und Ansprüche, die nach seiner eigenen Theorie nicht legitimierbar wären. Diese Auseinandersetzung kann hier nicht ausgeführt werden. Es lässt sich jedoch festhalten, dass seit den 1970er Jahren wichtige Legitimations-
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grundlagen intellektueller Rede und engagierter Literatur in Frage stehen. Wolfgang Jäger und Ingeborg Villinger erkennen in Lyotards »Absage an Kunst und Universalität […] ex negativo eine präzise Definition des in den Jahren 1989/90 in der medialen Öffentlichkeit präsenten Selbstverständnisses vieler Intellektueller.« (Jäger/Villinger 1997: 19) NGOs, spezifische Intellektuelle, verschiedene Formen von Mikropolitiken setzen sich nun ein für Pluralität, Toleranz, gesellschaftliche Minoritäten und sind skeptisch gegen jede Autorität, auch gegen jene der kritischen öffentlichen Rede, wie sie die Intellektuellen und die engagierte Literatur zu führen gewohnt waren. Diese Untersuchung muss sich damit der Frage widmen, wie sich literarische Texte der Gegenwartsliteratur und ihre Autorinnen und Autoren zum Intellektuellen-Diskurs positionieren, inwiefern sie ihre öffentliche Rede über universelle Werte legitimieren oder zu problematisieren versuchen, wo sie ihre Wirksamkeit und Positionierung nationalstaatlich, global oder in einer anderen räumlichen Form ansiedeln. Zugleich lässt sich vermuten, dass die moderne Konstruktion der intellektuellen Leitfigur, die sich unbestechlich für die Wahrheit einsetzt, höchstens noch in gebrochener Form realisiert und eher verweigert oder ironisiert wird.
1.2.2. Das Ende der Geschichte. Über den flexiblen Kapitalismus und eine andere ökonomische und politische Globalisierung Die Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg waren – aus einer mitteleuropäischen Sicht, die diese Arbeit einnimmt – vom Kalten Krieg geprägt, der bestimmt wurde durch den Kampf zwischen dem kapitalistischen Westen, mit der Weltmacht USA im Zentrum, sowie dem sozialistischen Osten, geführt von der Weltmacht Sowjetunion. Auch wenn nur wenige westliche Intellektuelle ernsthaft den sog. real existierenden Sozialismus zu ihrer Utopie erklärten, so hielt zumindest die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus die Antwort auf die Frage nach dem besseren Wirtschaftssystem offen. Die Öffnung der Berliner Mauer läutet am 9. November 1989 den Zusammenbruch des Ostblocks ein und hat massive Folgen für den Diskurs über die Intellektuellen und die engagierte Literatur. Die Systemalternative fällt weg und Francis Fukuyama erklärt 1992 das Ende der Geschichte für erreicht: Mit dem Umbruch von 1989/90 habe sich die im westlichen Kapitalismus entwickelte Form der liberalen Demokratie als »Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit« und »endgültige menschliche Regierungsform« erwiesen. Es habe »sich in den letzten Jahren weltweit ein bemerkenswerter Konsens […] herausgebildet«, dass die liberale Demokratie in ihrem Ideal »nicht verbesserungsbedürftig« sei (Fukuyama 1992: 11). Die Aufgabe der Intellektuellen, im Namen der Menschenrechte ggf. die radikale Veränderung des Gesellschaftssystems einzufordern, scheint damit obsolet geworden zu sein.
Literatur und Politik
Hauke Brunkhorsts Textsammlung Der entzauberte Intellektuelle von 1990 passt zumindest dem Titel nach gut zu dieser Proklamation, die mit dem Verlust der Utopien und dem Ende der Geschichte auch das Ende der Intellektuellen und des Engagements behauptet. Schnell wird The Failure of German Intellectuals im Umgang mit der Wende zum Thema (vgl. u.a. Huyssen 1991); in der Debatte um Christa Wolf wird das sozialistische Engagement der ostdeutschen Intellektuellen von der westlichen Literaturkritik gleichsam entsorgt (vgl. Anz 1991). Hans Christoph Buch formuliert exemplarisch eine der zahlreichen Absagen der ehemals politisch engagierten Schriftstellern an ihre eigene Funktion: »[D]er Autor als politischer Guru« habe ausgedient, der Zusammenbruch der sozialistischen Regime habe »nicht nur die Berliner Mauer, sondern auch die Podeste und Podien geschleift.« (Buch 1996: 252f.) Luckscheiter stellt fest: »Schon kurz nach dem Fall der Mauer ändert sich der Ton, in dem über Intellektuelle geschrieben wird« (Luckscheiter 2000: 386). Auch zahlreiche andere wissenschaftliche Arbeiten konstatieren rückblickend »dramatic changes in the public function and importance of writers […] since the Wende and the reunification of 1989/90« (Emmerich 2001: 45) und beziehen sich nochmals auf Hauke Brunkhorsts endgültige »Verabschiedung des ›Großintellektuellen‹« bzw. einen »›Bruch der Intellektuellenrolle‹« (Jäger 2000: 24). Doch nicht nur der historische Wegfall der Systemalternative und somit indirekt auch des utopischen Raumes delegitimieren die intellektuelle Rede und das literarische Engagement. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das sich vom befeindeten Gegner zum siegreichen und solitären Projekt verwandelt habe (so die nun herrschende Rede), etabliert in den 1980er und 1990er Jahren mit Hilfe konservativer Regierungen und unter den Bedingungen der ökonomischen Globalisierung seine neoliberalen Regime, die neue, flexibilisierte Arbeitsverhältnisse durchsetzen und die alten dichotomischen Ausbeuter-Ausgebeutete-Schemata transformieren. In der postmodernen und globalisierten Welt gestaltet sich die alte Trias der hegemonialen Diskurse zunehmend problematisch: Ansatzpunkte früherer politischer Kämpfe waren die Kategorien Klasse (zur Beschreibung sozio-ökonomischer Differenzen wie Bourgeoisie versus Proletariat), Geschlecht (binär-patriarchale Geschlechterordnung: Mann versus Frau) und Rasse (ethnische und koloniale Differenzen: Einheimischer versus Ausländer; Weiß versus Dunkel, Herr versus Sklave). Während es früher jedoch möglich war, innerhalb dieser binären Matrizen der Macht klare Gegnerschaften zu benennen und die Körper der Feinde zu bezeichnen, haben sich die klaren Dichotomien zunehmend aufgelöst und realisieren sich die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse über komplexe Verinnerlichungsstrategien. Die Ausgebeuteten und Minorisierten werden Teil der ausbeutenden Macht, die binären Freund-Feind-Schemata in Vielheiten aufgelöst, die den Zuordnungen von Gut und Böse nicht mehr gehorchen. In Abgrenzung von Foucaults Modell der Disziplinargesellschaften, die sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert formiert und die die zu Disziplinierenden
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in den Einschließungsmilieus Familie, Schule, Kaserne und Fabrik sowie ggf. auch noch Klinik und Gefängnis organisiert und angeordnet haben (vgl. Foucault 1994), beschreibt Gilles Deleuze die westlichen Länder im Jahre 1990 als Kontrollgesellschaften. Das Unternehmen löse die Fabrik ab, das lebenslange Lernen die Schule, die kontinuierliche Kontrolle die Examen – eine durchgängige, flexibilisierte Kontrolle ersetze die bislang vorherrschende vorübergehende Disziplinierung mit anschließendem Freizeitausgleich: »Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlauf bahn.« (Deleuze 1993: 258) Heim und Arbeit waren in der Disziplinargesellschaft noch voneinander geschiedene Stätten, in der Kontrollgesellschaft ist die Heimarbeit zu einem entscheidenden Produktionsfaktor geworden. Die Kontrollgesellschaft etabliere neue Regime, »die Einführung des ›Unternehmens‹ auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungswesens« (Deleuze 1993: 261) sei nur ein Beispiel auf dem Feld des Schulregimes. Dieser »fortschreitende und gestreute Auf bau einer neuen Herrschaftsform« entwickele zwar neue, offenere Formen der Macht, diese dienten aber noch immer zur Betonierung fundamentaler Ungerechtigkeiten16 – mit dem Unterschied, dass die Unterprivilegierten inzwischen an ihrer eigenen Diskriminierung mitarbeiteten. Es sei somit im politischen Engagement auch nicht mehr möglich, einen klaren Gegner oder Feind zu benennen. »Die Windungen einer Schlange«, so schreibt Deleuze abschließend, »sind noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurf baus.« (Deleuze 1993: 262) Ansatzpunkte des Widerstands seien schwerer zu finden; man müsse die Windungen der Schlangen nachahmen: »Wo jeder Einspruch als Feedback ins System eingespeist wird und seine Leistungsfähigkeit steigert, wo Nonkonformismus sich als avancierteste Form der Anpassung erweist, muss Kritik auf einen ›Standpunkt‹ verzichten und so flexibel werden wie ihre Gegenstände.« (Bröckling u.a. 2004: 14)17 Zu ähnlichen Ergebnissen wie Deleuze kommt Richard Sennett, der die Verhältnisse am Ende des 20. Jahrhunderts untersucht hat. Sennett konzentriert sich allerdings auf das Feld der globalisierten Ökonomie und stellt die These auf, dass sich eine ›Kultur des neuen Kapitalismus‹ ausgeprägt habe, in der sich ein ›flexibler Mensch‹ konstituiere, für den Ungewissheiten, Instabilitäten und kurzfristige Veränderungen zur Normalität geworden seien: »Flexible capitalism has blocked the straight roadway of career.« (Sennett 1999: 9) Anstelle dessen suggeriere der neue Kapitalismus, »flexibility gives people 16 | Bei Deleuze heißt es: »Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, daß drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung, zu zahlreich zur Einsperrung.« (Deleuze 1993: 260) 17 | Siehe auch Bröcklings Ausführungen über das ›unternehmerische Selbst‹, vgl. Bröckling 2007.
Literatur und Politik
more freedom to shape their lives. In fact, the new order substitutes new controls rather than simply abolishing the rules of the past – but these new controls are also hard to understand.« (ebd.: 10) Das Machtsystem, das sich hinter der Flexibilisierung der kapitalistischen Arbeitswelt verberge, bestehe aus drei Elementen: »discontinuous reinvention of institutions; flexible specialization of production; and concentration […] without centralization of power.« (ebd.: 47) Ein Beispiel für diesen Umbau sei der verstärkte Einsatz von Teamwork: Auf vordergründig gleichberechtigter Ebene dürften die Arbeitenden sich und ihre eigenen Ideen in den Problemlösungsprozess einbringen; nach Sennett existiert die neue Freiheit und Offenheit dieser Verfahren nur oberflächlich, in Wirklichkeit konstituieren diese ein Subjekt, das den Arbeitsdruck und die autoritären Vorgaben internalisiert und selbst immer wieder reproduziert – die Macht wird nach innen verlagert. Ein solches flexibilisiertes ›Ich‹, das nicht mehr sei als ein von Machtdiskursen durchkreuztes und dadurch konstituiertes, lasse sich nur noch ironisch als ein solches bezeichnen. Gegen diese Auflösung und Flexibilisierung versucht Sennett, im Rückgriff auf die Moderne die Subjekte als festes ›Ich‹ zu stärken. In seinen Beobachtungen der kapitalistischen Arbeitswelt erkenne er das Streben der flexiblen Menschen »for coherence and a solid authorial ›I.‹ It might be said that theirs is […] a narrative of resistance.« (ebd.: 134) Anders als Lyotard, Foucault und Deleuze – nach deren Auffassung man hinter die postmoderne Zersplitterung der modernen Einheitsideen nicht mehr zurücktreten, diese Auflösung jedoch für neue Formen politischen Widerstands nutzen könne – zielt Sennett darauf, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Die Herrschenden des ›flexiblen Reichs‹, so beschreibt er seine Beobachtungen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, fürchteten sich vor einer neu entstehenden Solidarität der flexibilisierten und zersplitterten Massen: »›We‹ is also a dangerous pronoun to them. […] [A] regime which provides human beings no deep reasons to care about one another cannot long preserve its legitimacy.« (ebd.: 147f.) Sennett beschreibt dieses solidarische Kümmern als eine Art anthropologische Konstante, die zu einem Massenaufstand führen werde, wenn sie zu lange unterdrückt würde, eine Sichtweise, die Lyotard, Foucault und Deleuze nicht teilen würden. Der Raum für radikale politische Widerstandsgruppen schien direkt nach dem (scheinbar finalen) globalen Sieg des Kapitalismus von 1989/90 verschlossen zu sein – seit Mitte und Ende der 1990er Jahre hat sich jedoch mit der Gruppe der Globalisierungskritiker eine neue soziale Bewegung formiert, die gegenüber der neoliberalen Durchsetzung der ökonomischen Globalisierung eine kritische und in Teilen auch intellektuelle Gegenposition einnimmt. Dabei handelt es sich u.a. um Kritiker, die wie George Soros aus Führungspositionen des kapitalistischen Systems kommen und den Abbau der sozialen Sicherungssysteme anklagen, ohne das kapitalistische System selbst zu hinterfragen (vgl. Soros 1998). Es entstehen jedoch auch neue radikale Konzeptionen wie Antonio Negris und Michael Hardts Beschreibung des Empire (2000), die neo-
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marxistische und postmoderne Theorien zu verknüpfen versucht (vgl. Hardt/ Negri 2003; vgl. auch Kap. 2.5.1). Bekannte und neue Linksintellektuelle wie Noam Chomsky, Naomi Klein, Maria Mies, Michael Moore oder Arundhati Roy plädieren ebenso für eine andere Globalisierung wie neugegründete NGOs, z.B. die Attac-Bewegung, die sich 1998 in Frankreich gründet. Der Suhrkamp Verlag bündelt 2007 diese Phänomene und beschäftigt sich im 2 500. Band der edition suhrkamp mit neuen Formen des politischen Protests. Herausgeber Heinrich Geiselberger versammelt Beiträge zu Nichtregierungsorganisation wie Attac, Medienaktivisten wie Indymedia und den Yes Men oder zu neuen Parteien wie der Piratenpartei (vgl. Geiselberger 2007). Zuletzt erreichten politische Manifeste aus Frankreich eine weltweite Aufmerksamkeit: Die Skizze des Comité invisible (dt. Unsichtbares Komitee), wie Der kommende Aufstand (2007, frz. L’Insurrection qui vient) auszusehen habe, wurde international stark rezipiert, der Aufruf Indignez-vous! (2010; dt. Empört euch!) des Widerstandskämpfers Stéphane Hessel verkaufte sich über eine Million Mal (vgl. Unsichtbares Komitee 2010 u. Hessel 2011). Das Unsichtbare Komitee formiert sich im Anschluss an die sozialen Unruhen in den französischen Banlieus und in Griechenland und formuliert eine paradoxe Forderung: »Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. […] Nichts ist unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger.« (Unsichtbares Komitee 2010: 35) Diese neuen Konzepte und Skizzen des politischen Widerstands bilden ein internationales globalisierungskritisches Bewusstsein ab, das sich auf den Straßen formiert und für das die Proteste in Seattle gegen die Ministerkonferenz der World Trade Organisation (WTO) im November 1999 eine Art ›Initiation‹ darstellten und sich beim G-8-Gipfel in Genua 2001 zuspitzen: Hier kommt es zwischen der Polizei und den 300 000 Protestierenden zu schweren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der junge Demonstrant Carlo Giuliani stirbt.18 Im Rahmen der Banken- und Finanzkrise der letzten Jahre haben sich neue globale Formen des Protests etabliert: Ab dem Mai 2011 besetzen in Spanien die Indignados (›Empörte‹) den öffentlichen Raum, ab dem Herbst 2011 besetzt die Occupy-Bewegung (›Wir sind die 99 Prozent‹) medienwirksam repräsentative öffentliche Plätze. Joseph Vogl zeigt, dass das »längst fällige[ ] Ende der Oicodizee« (Vogl 2010: 174) – also der Vorstellung, dass die Finanzmärkte selbstreguliert am besten funktionieren – erreicht sei, was »eine Denaturierung ökonomischen Wissens, seine Herauslösung aus dem alten providentiellen Hang und seine Überstellung in ein offenes historisches Feld« (Vogl 2010: 175) zur Folge habe.
18 | Diese Ereignisse präsentiert und reflektiert Fausto Paravidino in seinem Theaterstück Genua 01. Vgl. zu den globalisierungskritischen Bewegungen auch Aguiton 2002; Machart 2006.
Literatur und Politik
Wolfgang Kraushaar fasst die globalen Proteste des Jahres 2011, zu denen er auch den Fall der arabischen Autokratien zählt, als Aufruhr der Ausgebildeten zusammen, allerdings habe es sich bei den westlichen Bewegungen vor allem um einen »symbolischen Protest«, ein »gigantisches Als-ob« und »ein gewaltiges Medienspektakel« (Kraushaar 2012: 210f.) gehandelt. Die Aktivitäten der globalisierungs- und kapitalismuskritischen Bewegungen erreichen zumindest eine Modifikation der Durchsetzungsstrategien der neoliberalen Ideologie, die sich nicht in den von Fukuyama angenommenen festen, demokratischen Ordnungen vollzieht, sondern in einem von Giorgio Agamben gesetzten Ausnahmezustand. Agamben bestimmt die globale Gegenwart als einen ›weltweiten Bürgerkrieg‹, in dem »sich der Ausnahmezustand […] immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens« erwiesen habe. Der Stellenwert der von Fukuyama als Ende und Gipfelpunkt der Geschichte beschriebenen Verfassungsformen drohe sich »radikal zu verändern – und hat es tatsächlich schon merklich getan«. Der Ausnahmezustand markiere eine unbestimmte Gegenwart »zwischen Demokratie und Absolutismus« (Agamben 2004: 9) und führe »den Okzident derzeit in den weltweiten Bürgerkrieg« (ebd.: 103). Neben Agambens Beschreibung des Ausnahmezustands und Hardts und Negris Analyse des Empires veröffentlichen in den 2000er Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschafler wie Alain Badiou, Zygmunt Baumann, Elena Esposito, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Ranciere, Paolo Virno, Joseph Vogl oder Slavoj Žižek Arbeiten, die die neuen Machtstrukturen (kritisch-)theoretisch zu erfassen versuchen und sich teilweise auch für neue Wege des (ästhetischen) Widerstands interessieren. Auch der Begriff der Revolution wird nach 1989/90 noch zur Beschreibung historischer Veränderungen genutzt, wobei er allerdings gegenwärtig nicht mehr den Schritt von einer ständischen oder kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaftsform beschreibt, wie im 20. Jahrhundert in China, Kuba und Russland, sondern nationalistisch und kapitalistisch gewendet wird. Die singende Revolution in Estland, Lettland und Litauen (1988–1991) sowie die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei (1989) zielten auf die Herstellung nationaler Autonomie in Abgrenzung von Russland, die Rosenrevolution in Georgien mit bis zu 100 000 Protestierenden (2003) sowie die orangene Revolution in der Ukraine (2004) mit bis zu 250 000 Protestierenden sorgten für die Durchsetzung der Wahlergebnisse in der neuen liberal-demokratischen Ordnung. Der Spiegel macht die neue Form der Revolution 2005 sogar zu seinem Titelthema und beschreibt diese ›Revolutions-GmbH‹ wie folgt: Die postmodernen Revolutionäre profitieren von der Globalisierung. Sie kennen sich blendend aus mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten wie dem Internet, richten regimekritische Websites ein, tauschen codierte SMS-Botschaften auf ihren Handys, verabreden ständig neue Treffs. […] Ideologische Scheuklappen sind den Demokratiemachern fremd. Sie schauen sich bei der Entwicklung ihrer Strategien bei den Werbe- und Verkaufspraktiken der Multis um […]. (Anonym 2005a)
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Diese ›postmodernen Revolutionen‹ verweisen zugleich auf eine notwendige Differenzierung globalisierungskritischer Bewegungen in der Gegenwart. Es muss unterschieden werden zwischen einerseits Gruppen, die sich für eine andere Globalisierung einsetzen und davon ausgehen, dass die Hybridität und Auflösung nationaler Identitäten nicht hintergehbar ist, sich also für eine kulturelle Globalisierung und gegen eine neoliberale ökonomische Globalisierung engagieren, sowie andererseits Gruppen, die eine Politik der generellen AntiGlobalisierung vertreten und an der Rekonstruktion starker, nationaler Identitäten arbeiten, sich also gegen die kulturelle wie die ökonomische Globalisierung wenden. Plädoyers für sozialistische Staatsgebilde in einem starken Nationalstaat formulieren rechte Parteien wie z.B. in Frankreich die Front National oder in Deutschland die NPD. Thomas Lemke beschreibt diese Form des rechtsnationalen Widerstands gegen die kulturelle und ökonomische Globalisierung als das »Wiederaufleben alter Fundamentalismen. Die ökonomische Globalisierung und die politische Beseitigung historischer Grenzen zwischen Nationalstaaten und Völkern sowie die biotechnologische Auflösung der scheinbar natürlichen Grenzen zwischen Mann und Frau oder Natur und Gesellschaft lassen nationalistische, rassistische und sexistische Differenzen erstarken.« (Lemke 2004: 87) Ein prominentes Beispiel für diese These ist Samuel P. Huntington, der 1996 erklärt, dass sich das 21. Jahrhundert durch The Clash of Civilizations auszeichnen werde (vgl. Huntington 1996). Das Aufkommen des islamistischen Terrorismus gegen die westliche Welt in den vergangenen Jahren wird immer wieder als Beleg für die These genutzt, dass die globale Auseinandersetzung um das beste ökonomische System (›westlicher Kapitalismus‹ versus ›östlicher Sozialismus‹) nun durch einen Kampf religiös-ethnisch verfasster Machtblöcke (›christlicher Westen‹ versus ›islamischer Naher Osten‹) abgelöst worden sei, der wiederum eine Etappe auf dem Weg zur globalen Durchsetzung des westlichen Kapitalismus sei (die folgenreichsten islamistisch motivierten Terroranschläge gegen westliche Metropolen nutzten ausgerechnet Mobilitätsvehikel der westlich-kapitalistischen Welt für ihre Taten).19 Eine Untersuchung subversiver Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa muss sich somit der Frage stellen, wie literarische Texte Geschichte konstruieren – bewegen sie sich in einem Raum des Posthistoire oder wird Geschichte als eine veränderbare gezeichnet? Auf welche Weise werden Pro19 | Am 11. September 2001 sterben in New York City, Washington D.C. und Pennsylvania etwa 3 000 Menschen durch vier Flugzeuge; am 11. März 2004 werden in Madrid 191 Menschen in einem Zug ermordet und am 7. Juli 2005 sind es 56 Menschen, die in London Anschlägen in drei U-Bahnen und einem Doppeldeckerbus zum Opfer fallen. Auffällig ist dabei, dass die Anschläge an oder mit modernen Vehikeln der Bewegung verübt wurden – sie zielen somit zugleich auf die Mobilität und Flexibilität der westlichen Alltagswelt, die die Terroristen wieder zum Stillstand bringen möchten.
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zesse der kulturellen, medialen, politischen und ökonomischen Globalisierung in den Texten thematisiert? Oder vollziehen sie die Rückzugsbewegung auf starke Subjekte und nationalstaatliche Ebenen nach? Und schließlich: Wie konstruieren die Texte noch Gegnerschaften in einer Welt, in der »the institutional structure has become more convoluted, not simpler« (Sennett 1999: 57) ist? An welche Adresse richtet sich die Kritik der Texte und ihrer Autorinnen und Autoren, wenn sich die Macht dezentralisiert hat oder von den ›Subjekten‹ internalisiert worden ist? Wie versuchen die Texte, die »Windungen einer Schlange« (Deleuze 1993: 262) nachzuvollziehen und zu verdrehen?
1.2.3. Das Ende der Gutenberg-Galaxis. Über Neue Medien und die Transformation der Literatur Eine der entscheidenden Bedingungen für die Legitimation der literarischen Intellektuellen und der engagierten Literatur ist die herausragende Stellung des Mediums Buch in der Gesellschaft. Es herrscht inzwischen jedoch Konsens darüber, dass die Literatur ihre Rolle als zentrales Leitmedium verloren habe. Marshall McLuhan rief schon 1962 das Ende der Gutenberg-Galaxis aus, das durch die Erfindung der Elektrizität und die Durchsetzung der audiovisuellen Massenmedien, vor allem des Fernsehens, eingeläutet worden sei. Nach der oralen Stammeskultur, der Manuskriptkultur des handgeschriebenen Buches und der Epoche des Buchdrucks befänden wir uns nun im Zeitalter der Elektrizität (vgl. McLuhan 1968). Die aufkommende Medientheorie, die verknüpft ist mit den Namen Jean Baudrillards, Friedrich Kittlers und Paul Virilios, stellt das Medium Buch neben bzw. unter die anderen – älteren wie neuen – Medien und nimmt ihm seine Sonderstellung. Es wird sogar die Frage aufgeworfen, ob die Durchsetzung der neuen Medien wie dem Fernsehen oder der neuesten Medien wie Computer und Internet die Literatur »nicht nur technisch alt aussehen läßt, sondern überflüssig macht.« (Winkels 1997: 13) Davon ist die Literatur jedoch weit entfernt: Die Verbreitung neuer Medien führt nur in den seltensten Fällen zum Verschwinden der alten, sondern – in unterschiedlichen Maßen – zu deren Modifikation und zur Verschiebung ihrer Einflusssphären. Für die Literatur heißt das einerseits, dass sie sich immer stärker als intermedial begreift, denn »seit der Jahrtausendwende und mit den Lektüregewohnheiten der jüngeren Leserzielgruppen vollzieht sich die Entwicklung spürbar in Richtung multimedialer Elemente im Roman und seiner Adaption im Medienwechsel (Film, TV, Hörbuch).« (Wehdeking 2007: 15f.) Andererseits sind die Folgen dieser veränderten Medienkonkurrenz für die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur innerhalb der Wissensgesellschaft auf einer grundsätzlichen Ebene sehr groß (vgl. u.a. Beilein/Stockinger/Winko 2012: 1f.), wobei insbesondere die Digitalisierung des Wissens für die Literatur
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und ihren Betrieb einschneidend ist. Im digitalen Zeitalter relativiert sich die Rolle von Verlagen und Literaturexperten, die Verhältnisse des geistigen Eigentums, wie wir sie noch aus der Gutenberg-Galaxis kennen, stehen fundamental in Frage, durch die Möglichkeit der Verlinkung, der Kollaboration und der intermedialen Kombination entwickeln sich neue Formen eines prozesshaften und vernetzten Schreibens, die die literaturwissenschaftlichen Kategorien des ›abgeschlossenen Werks‹ und des ›Originalgenies‹ schon auf einer basalen medialen Ebene in Frage stellen (vgl. u.a. Ernst 2011a u. Gendolla/Schäfer 2001). Das veränderte Ensemble der Medien und die daraus resultierenden anderen Formen der Mediensozialisation unterstützen daher noch eine weitere Tendenz: Klaus-Michael Bogdal konstatiert einen marginalisierten Stellenwert der deutschen Gegenwartsliteratur, den er aus Veränderungen im gesellschaftlichen Sozialgefüge von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart ableitet. Während in der Bundesrepublik von der Nachkriegszeit bis in die frühen 1970er Jahre hinein »ein relativ homogenes soziales Feld auszumachen« gewesen sei, »in dessen Grenzen Literatur geschrieben, distribuiert und rezipiert wurde« und das Bogdal als Dreieck zwischen FAZ, Zeit und Frankfurter Rundschau beschreibt, lasse sich ein »vergleichbares hegemoniales Zentrum […] in der gegenwärtigen Sozialstruktur nicht mehr finden.« (Bogdal 1998: 11) Für die Literatur hätten diese gesellschaftlichen Veränderungen vier entscheidende Effekte: 1. Die bildungsbürgerliche ›Mitte‹ und mit ihr die traditionelle Bildungselite verlieren schrittweise ihre kulturelle Hegemonie. 2. Die von ihr vertretenen kulturellen Werte und ästhetischen Standards gelten immer weniger als universalisierbar und damit auch als gesamtgesellschaftlich repräsentativ. 3. Die Differenzierung der traditionellen Klassen und Schichten führt zur Herausbildung neuer ›Milieus‹, die […] vor allem durch ihren ›Lebensstil‹ geprägt sind. 4. Ob das Lesen zum Lebensstil gehört, darüber entscheiden heute nicht mehr der Bildungsgrad, finanzielle Ressourcen oder ein kultureller Kanon. Maßgebend sind die Interessen, Bedürfnisse, Werte und Gewohnheiten des jeweiligen Milieus. (Bogdal 2004a: 86)
Für die Literatur heißt dies allerdings nicht, dass sie nicht mehr gelesen oder distribuiert wird – die Rezeptionsweisen und Distributionswege haben sich verändert. Bogdal spricht von einer »Pluralisierung der literarischen Praxis, die nicht mehr gesamtgesellschaftlich repräsentativ ist.« (Bogdal 1998: 19) Er schlägt vor, die deutsche Literatur als eine Klimaanlage zu begreifen, die aus fünf Hauptkanälen bestehe, von denen einige Milieus jedoch komplett abgeschnitten seien. Einerseits habe eine »staats-, gesellschafts- und selbstkritische literarische Öffentlichkeit, wie sie sich in den Fünfzigern und Sechzigern institutionalisiert hatte, […] den medialen Veränderungen der Siebziger und Achtziger nicht standgehalten« (Bogdal 2004a: 86), andererseits habe sich jedoch
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»eine erfolgreiche Szene-Literatur« etablieren können, die fernab der Strukturen des etablierten Literaturbetriebs und seiner Regularien große Erfolge feiere (vgl. Bogdal 1998: 13). Bogdals Thesen stehen repräsentativ für einen breiten literaturwissenschaftlichen Diskurs, der die Delegitimation einer gesellschaftlich relevanten kritisch-literarischen Öffentlichkeit aufgrund sozialer und politischer Veränderungen konstatiert. Helmut Peitsch führt ganz in diesem Sinne die vier stärksten Argumente auf, die in den 1990er Jahren zur Delegitimation des literarischen Engagements genutzt worden seien. Erstens sei der 1978 als Gegenbegriff zum ›verantwortungsästhetischen Engagement‹ eingeführte Begriff der ›Gesinnungsästhetik‹ 1990 negativ umgewertet worden, »weil die Nation an die Stelle der Gesellschaft als Instanz der […] Verantwortung treten sollte« (Peitsch 2001a: 41). Zweitens sei die engagierte Literatur durch die oppositionelle Gegenüberstellung von populären Unterhaltungsbedürfnissen und elitärem Anspruch, die die Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur der 1990er Jahre bestimmt habe, aus derselben ausgeschlossen worden. Drittens sei ganz einfach die Literaturgeschichte gefälscht worden: »Man dreht nur den positiven Mythos der Gruppe 47 als ›der‹ Nachkriegsliteratur um; dabei muß […] eine falsche Selbstverständlichkeit des Engagements in der Vergangenheit behauptet werden«, die nun verloren gegangen sei, in Wirklichkeit aber nie so bestanden habe. Viertens werde das »Engagement als publizistisches dauerverhandelt, damit es nicht literarisch wird« (Peitsch 2001a: 42) – die Wertung von Texten engagierter Autorinnen und Autoren als Publizistik halte künstlich die »Illusion literarischer Autonomie« (ebd.: 43) aufrecht (vgl. auch Peitsch 2001b). Lothar Bluhm beschreibt in diesem Zusammenhang zutreffend, dass genau diese Autonomie der literarischen Sphäre und die Legitimität ihrer spezifischen Sprache im Kontext öffentlicher Debatten verloren gegangen sei: »Selbst dort, wo der Ausgangspunkt ein literarischer Text im engeren Sinne ist […], verschiebt sich die öffentliche Rede sehr schnell vom literarischen auf das gesellschaftlich-politische Feld« (Bluhm 2004: 66), auf dem die spezifische literarische Sprache jedoch nicht mehr adäquat erscheint.20 In einer paradoxen Figur wird nun gerade dadurch, dass in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit 20 | In ganz ähnlicher Weise konstatiert Achim Geisenhanslüke für die Funktion der Avantgarde auf dem Feld der Gegenwartsliteratur eine signifikante Veränderung, denn diese sei »heute nur noch […] integraler Bestandteil eines sozialen Feldes, das (sie) aus eigener Kraft nicht mehr zu transformieren vermag.« (Geisenhanslüke 2012: 94) Geisenhanslüke stellt zwar resignativ fest, dass aktuell in Deutschland eher geschichtsunkritische Autoren wie Durs Grünbein oder Uwe Tellkamp nobilitiert würden. Zugleich verweist er jedoch – vor dem Hintergrund seiner Analyse der Texte von Marcel Beyer – auf »das Fortbestehen einer kritischen Tradition unter veränderten medialen Bedingungen, einer Kritik, deren politische Reichweite begrenzt ist, deren ästhetische Möglichkeiten aber weiter unbegrenzt sind.« (Geisenhanslüke 2012: 95)
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der autonome Raum der Literatur delegitimiert wird, die Präsenz literarischer Sprache im öffentlichen Raum zum effektreichen Ärgernis: Immer dann, wenn eine literarische Sprache, gekennzeichnet etwa durch Evokation und Vielstimmigkeit, Vorbehaltlichkeit und Unbestimmtheit, die innerhalb des literarischen Feldes völlig adäquat wäre, in den Informationsraum oder in ein anderes Sprachsystem wechselt, wird sie zwangsläufig an deren Regeln bzw. deren Realismusanschein gemessen. Das ergibt sich gerade dann, wenn die Autoren selbst mit entsprechenden Texten auf ein solches Feld wechseln, ob Strauß oder Handke mit Essays und Reiseberichten in die Printmedien oder Walser mit seiner Selbsterkundung in den Raum der öffentlichen Rede. (Bluhm 2004: 66)
Für die Literatur ergibt sich somit gerade durch ihre Marginalisierung in einer widersprüchlichen Wendung eine neue Möglichkeit, störende Wirkungen in öffentliche Diskurse hinein zu erzielen. Indem die öffentliche Rolle der Literatur und das gesellschaftliche Wissen um die Spezifik der literarischen Sprache ihren Leitanspruch verloren haben, bewirkt Literatur um so größere Irritationen in den öffentlichen Debatten, wenn z.B. in Zeiten einer durchgängigen publizistischen Stigmatisierung der Serben als aggressive Kriegstreiber der Autor Peter Handke einen literarischen Essay in der Süddeutschen Zeitung über die serbische Winterlandschaft veröffentlicht und bereits mit der bloßen ›Anmaßung‹, über Serbien ließe sich in seinem Sinne literarisch schreiben, einen Medienskandal auslöst (vgl. Handke 1996 u. Deichmann 1999). Dies sind allerdings Pyrrhussiege der Literatur, bleibt doch letztlich der Verlust der Intellektuellenfigur und der eingreifenden Literatur in der Mediengesellschaft festzuhalten. Der Buchwissenschaftler Georg Jäger fundiert diesen Prozess medientheoretisch und kulturkritisch: Der kritische Intellektuelle habe seine Rede »durch argumentative Konsistenz und ›intellektuelle Integrität‹ oder rhetorische Brillanz« (Jäger 2000: 8) authentifizieren müssen, um überhaupt als solcher gelten zu können. Dies sei in den massenmedialen Apparaten, in denen er nur noch »zum Entertainer des Publikums« (ebd.: 24) verkomme, jedoch nicht mehr möglich. Im neuen Medium Internet sei eine solche gesamtgesellschaftliche Sprecherrolle überhaupt nicht mehr einnehmbar, der Begriff des Netz-Intellektuellen nur als Paradox zu denken (vgl. Ernst/Gehlen 2009: 241– 244). Es lässt sich also – so das Resümee – nicht mehr von einer Wirkung der Literatur auf die Gesellschaft ausgehen. Sehr wohl kann allerdings noch immer der Versuch unternommen werden, die Bedeutung einzelner literarischer Texte für spezifische Diskurse oder Milieus zu beschreiben, in denen literarische Bücher auch heute noch Gegenstand z.B. von Verboten, Klagen und Prozessen werden. Die Literaturanalysen dieser Studie müssen also auch untersuchen, ob sich die Texte zur Relativierung ihrer gesellschaftlichen Position autoreflexiv verhalten und welche Strategien sie anwenden, um Geltung zu
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erlangen. Eine weitere Fragestellung ist, inwiefern andere Medien wie Film, Musik, Fotografie oder das Internet zum Gegenstand der Texte werden sowie ob und, wenn ja, wie diese intermediale Bezugnahme mit literarischen Mitteln ausgetragen wird. Schließlich wird es wichtig sein, die literarischen Texte, ihre ästhetischen Verfahren und die Selbstinszenierung ihrer Autorinnen und Autoren auch vor dem Hintergrund der aktuellen umstürzenden medialen Entwicklungen im digitalen Zeitalter zu reflektieren, die für eine Transformation der Literatur und für eine starke Relativierung der Gutenberg-Galaxis, ihrer Institutionen und ihrer gesellschaftlichen Relevanz sorgen.
1.2.4. Die Berliner Republik. Über die Konstruktion neuer Generationen und die Normalisierung der deutschen Nation Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Entwicklungen in Deutschland von der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 an als einen Prozess der Wiederherstellung von nationaler Normalität in der Berliner Republik21, seine Effekte auf die politischen Diskurse und die Konstruktion neuer, unverkrampfter Generationen zu beschreiben. Dabei beziehe ich mich vor allem auf Jürgen Links Versuch über den Normalismus, in dem Link plausibel darlegt, dass Normalität (in Abgrenzung von der Norm) eine diskursive Konstruktion ist, die sich auf Mittelwerte hin definiert, der ein Prozess der Homogenisierung vorausgeht und die »gerade in Deutschland nach 1989« zur Diskurs tragenden Kategorie geworden ist: Zöge man etwa, so Link, den Komplex ›normal‹, ›Normalität‹, ›normalisieren‹, ›Normalisierung‹ »aus dem Diskurs der deutschen mediopolitischen Klasse seit 1989 heraus, so könnte dieser Diskurs keinen Augenblick länger ›tragen‹.« (Link 1997: 15) Diesen Prozess der Normalisierung des vereinten Deutschlands beschreiben Margret und Siegfried Jäger – u.a. auf der Basis von Zeitungsartikeln und Politikerreden – bereits Mitte der 1990er Jahre als einen, der an »Konzepte eines Völkischen Nationalismus« anschließe: Es ist zu beobachten, daß die Bemühungen um eine Normalisierung deutscher Geschichte und Gegenwart kontinuierlich an Boden gewinnen. […] Schlagworte und Konzepte wie Abbau des Sozialstaats, Militarisierung, Wiederbesinnung aufs Nationale, Reinigung des Volkskörpers, Zurückdrängen der Emanzipationsbestrebungen von Frauen, Austrocknung des Bildungswesens, Schwächung der Gewerkschaften, Angriffe auf die Tarifautonomie, die allzumal an Konzepte eines Völkischen Nationalismus erinnern, […] umschreiben diese Tendenzen recht gut. (Jäger/Jäger 1996: 5)
21 | Vgl. zum Begriff der Berliner Republik und zu den diskursiven Verschiebungen, die mit diesem verknüpft sind: Caborn 2006 u. Initiative not a love song 2003.
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Reden wie jene des Bundespräsidenten Roman Herzog von 1994, in denen dieser eine neue Unverkrampftheit und einen ›Ruck, der durch Deutschland gehen‹ müsse, einfordert, deuten an, welche Rhetoriken diese Normalisierung wieder ermöglicht haben (vgl. Link 1996); zu diesem Zeitpunkt sind zudem bereits die ausländerfeindlichen Attentate von Rostock, Hoyerswerda (1991), Solingen (1992) und Mölln (1993) verübt worden, 1993 wird – als ein Effekt der stark angestiegenen ausländerfeindlichen Übergriffe und der korrespondierenden medialen Diskurse (der ›Asylant‹ als ›Wirtschaftsflüchtling‹) – das Asylgesetz faktisch abgeschafft. Nach zahlreichen Debatten wird 1999 das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht modifiziert – die ›Blutabstammung‹ als entscheidendes Kriterium wird zwar relativiert, es ist jedoch noch immer kaum möglich, als erwachsener Mensch eine doppelte Staatsangehörigkeit zu erhalten. Seit 1990 sind in Deutschland – einer Statistik der Amadeu-Antonio-Stiftung zufolge – 182 Menschen durch rechtsextremistische oder rassistische Gewalt ums Leben gekommen.22 In den Jahren 2000 bis 2007 erschütterte zudem die bundesweite Bomben- und Mordserie des rechtsextremen NSU die Bundesrepublik, bei deren Aufklärung die Sicherheitsbehörden versagten.23 Daneben ändert sich auch die militärische und außenpolitische Rolle Deutschlands.24 Verteidigungsminister Peter Struck fasst die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VRR) im Februar 2003 wie folgt zusammen: »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.« (http://www.heise.de/tp/artikel/13/13778/1.html) Seit diesem Jahr sterben immer wieder deutsche Soldaten bei Feuergefechten oder Selbstmordattentaten in ihrem Einsatz in Afghanistan. Es lässt sich also in den 1990er und 2000er Jahren von einer Normalisierung des vereinten Deutschland im Einklang mit einer Bewältigung seiner Vergangenheit sprechen, die einher geht mit einer nationalen Homogenisierung nach innen, einer Erweiterung der militärischen und außenpolitischen Präsenz nach außen und der Einschränkung von Grundrechten bei gleichzeitiger Realisierung neoliberaler Reformen. Die Normalisierungsprozesse haben zudem zur Ausrufung neuer, ›unverkrampfter‹ Generationen geführt, in denen sich die verschiedenen diskursiven Neubestimmungen der deutschen Kultur abbilden. Dabei ist die »Rede von Generationenabfolgen im Hinblick auf gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen […] pure Metaphorik, Erfindung, Konstrukt« (Anz 2009: 16), es ist im Kontext unserer Fragestellung jedoch relevant, warum im 22 | Vgl. http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopferrechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit–1990. 23 | Weitere markante Veränderungen im politischen Diskurs der Bundesrepublik sind die Einführung des Großen Lauschangriffs (1998) und zahlreiche neoliberale Reformen wie die Hartz-Gesetze (2002). 24 | Dies zeigt sich im Somaliaeinsatz (1993), in der Beteiligung am Kosovo-Krieg (1999) und schließlich in der Bundeswehr-Mission in Afghanistan (seit 2001).
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Zeitraum von 1995 bis etwa 2004 der Generationen-Begriff einen Boom erlebt und welche Eigenschaften welcher Generation zugeschrieben werden. Im Gegensatz zu Douglas Coupland, dessen Bestseller Generation X (1991) (vgl. Coupland 1991) zwar als Vorbild für das Genre der 1990er Jahre-Generationen-Literatur gilt, jedoch eher als eine Problematisierung der schwindenden ökonomischen Sicherheit und einer daraus resultierenden Skepsis gegenüber der Konsumideologie zu verstehen ist, sind die deutschen Generationen-Entwürfe mit der Hoffnung auf eine neue, historisch unbelastete und mitunter depolitisierte oder neokonservative Generation aufgeladen. Der Soziologe Claus Leggewie eröffnet den Reigen mit seinem Buch Die 89er (1995), in dem er – im Anschluss an die klassische Bestimmung einer Generation durch Karl Mannheim (vgl. Mannheim 1928/29) – feststellt: Trotz der gewichtigen, mit dem Grundzug zur Individualisierung begründeten Einwände behaupte ich, daß sich heute in Deutschland […] eine neue (politische) Generation zusammenfinden kann […]. Die um 1975 geborenen Jahrgänge (Lagerung) sind mit Schlüsselereignissen konfrontiert, die zu gemeinsamen Ausdeutungen und Leitideen Anlaß geben (Zusammenhang), die wiederum zu in sich kontroversen, aber verbundenen Anschauungen und Handlungen dieser Altersgruppe führen werden. (Leggewie 1995: 73; Hervorh. herausgenommen)
Leggewie hält diese Generation für »illusionslos«, »reflexiv«, »stärker auf sich selbst […] bezogen« und »weitgehend ›mediatisiert‹«. Daraus ergebe »sich eine ›konstruierte‹, aus historischen Versatzstücken und synchronen Lebensprogrammen collagierte Existenz« (Leggewie 2002: 20). Während er diesen Generationenzusammenhang jedoch noch politisch differenziert und in Anlehnung an postmoderne Theorien reflektiert, muss er schnell erkennen, dass das Label 89er von der Neuen Rechten absorbiert und nationalistisch zur Beschreibung einer ›unbelasteten Generation‹ genutzt wird (vgl. Bubik 1995). Diese Konstruktionen, dass die Jahre 1989/90 einen Generationenwechsel markieren, werden daher von Thomas Anz auch bewertet als »zu weiten Teilen erfolgreiche Versuche, einen antiintellektuellen bzw. rechtsintellektuellen Diskurs zu etablieren, der den Auf bruch einer Neuen Linken um 1968 mit umgekehrten politischen Vorzeichen simulierte, als Auf bruch einer Neuen Rechten um 1990.« (Anz 2001: 37) Wie weit dieser nationale Normalisierungsdiskurs auch in die linken und liberalen Milieus eingedrungen ist, zeigt Heinz Budes optimistische Ausrufung der Generation Berlin (2001), die dieser nicht nur in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sondern auch in den alternativen und linksliberalen Zeitungen taz und Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Bude konstruiert die Generation Berlin als pragmatische, unternehmerische und patriotische Generation, in Abgrenzung vom engagierten Intellektuellen der 68er-Generation: »Die Welt der Generation Berlin ist überhaupt nicht die des ästhetischen Möglichkeits-,
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sondern ganz entschieden die des unternehmerischen Wirklichkeitsmenschen.« (Bude 2001: 8) Auch Bude geht somit vom Ende der Geschichte aus und postuliert die Abwendung von »einer Haltung der Kritik, die sich dem Ganzen gegenüberstellt, um sich selbst ins Ortlose zu retten« (ebd.: 27), hin zur Figur des Unternehmers »in einer Welt ohne große Alternative« (ebd.: 40). Den jungen Deutschen komme dabei die spezielle Aufgabe zu, »eine Berliner Republik jenseits vergangenheitspolitischer Alarmreflexe zu begründen«, nachdem die »Bonner Republik« eine »zivilisatorische Distanz zur nationalsozialistischen Vergangenheit« geschaffen habe (ebd.: 29). Während die Generation Berlin als liberal und historisch unbelastet konstruiert wird, jedoch noch immer als pragmatisch-engagiert, positioniert sich Florian Illies’ Konstrukt der Generation Golf (2000) deutlich konservativer. Illies greift Bude direkt an: Dieser beschreibe nur »eine unrepräsentative Minderheit, die tatsächlich politisch und gesellschaftspolitisch interessiert und engagiert ist« (Illies 2000: 191). Er schreibt jedoch nach eigener Auskunft für den »Starnberger-See-Düsseldorf-Bonn-Berliner-Teil[ ]« (ebd.: 159) seiner Generation, was wohl das eher reiche und konservative Milieu meint, das sich – seinem Text zufolge – vor allem um die Rekonstitution jener großväterlichen Werte bemühe, die die ›68er‹ noch in Abgrenzung von ihren (im Nationalsozialismus aktiven oder geprägten) Eltern problematisiert hatten. In Illies’ Generationenporträt kommt es jedoch »zu merkwürdigen Verbrüderungen zwischen den Großvätern und den Enkeln, wenn beide Zigarren rauchen und am Kamin bei einem Glas Whiskey über die Vorzüge der Großwildjagd debattieren.« (Ebd.: 141) Vor und nach Illies’ Bestseller lässt sich ein regelrechter Boom der Generationen-Literatur verzeichnen: Jana Hensel liefert mit Zonenkinder (2002) den ergänzenden ostbiografischen Bestseller, zahlreiche weitere Label wie Generation XTC (1996), Generation @ (2000), Internet-Generation (2001), generationkick.de (2001) oder Generation Ally (2002) werden begründet, so dass sich auch ältere, bislang unbenannte Generationen in einer nachholenden Geste auf dem Jahrmarkt der Generationenlabels zu Wort melden, z.B. die 79er-Generation (1998) und die 83er-Generation (2004).25 Sogar der Spiegel reagiert auf diesen Trend und macht 1999/2000 die junge Generation innerhalb von zehn Monaten gleich dreimal zum Titelthema: als »pragmatische Generation« bzw. »Die jungen Milden« (Beyer u.a. 1999), als »Generation Ich« (Waworka 2000) und als »Die neuen Deutschen« (Heimburger u.a. 2000). Dieser »Pluralismus von Generationskennzeichnungen« (Langer 2002: 73) verdeutlicht, dass die Zweifel Leggewies, ob sich in einer individualisierten und in Milieus zerfallenen Gesellschaft überhaupt noch sinnvoll von Generationen sprechen lasse, sehr berechtigt sind. Man könnte z.B. die popliterarischen Texte 25 | Vgl. Hensel 2002; Böpple/Knüfer 1996; Opaschowski 2000; Feibel 2001; Farin 2001; Kullmann 2002; Politycki 1998: 19–44 u. 51–60; Heim 2004.
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auf ihre selektive Präsentation »alltagskultureller und vor allem medialer Lebenspraxis« hin untersuchen und fragen, ob die Texte »relativ unabhängig von Milieus sind oder doch zumindest mehrere Milieus übergreifende ›Generationen‹Effekte hervorbringen« (Parr 2004: 189). Andererseits kann man gerade die Generationen konstruierenden popliterarischen Texte als in spezifischen Milieus oder Szenen verankerte Texte lesen und ihre »Abgrenzungsstrategien benennen«, denn »das Selbstbewusstsein der Rockband The Who, für eine ganze Generation zu sprechen, dürfte wohl kaum einer der heutigen Pop-Künstler besitzen« (Frank 2000: 70). Warum der Begriff der Generation in den Jahren nach der Vereinigung Deutschlands zum »Kult« wurde, wenngleich er nicht mehr als »eine inhaltslose Hülle« geblieben sei, begründet Richard Herzinger: Der Gegensatz zwischen jung und alt scheint das letzte sinnstiftende Paradigma für eine Gesellschaft zu sein, der die Kriterien abhanden kommen, nach denen sie ihre inneren Interessenskämpfe lange Zeit gedeutet hat. […] Im Begriff der »Generation« drückt sich zudem eine tiefsitzende Sehnsucht nach Rückbindung der zersplitterten Individualität an eine unhinterfragbare Gemeinschaft aus (Herzinger 2000: 154).
Die Differenzierung von ›Generationen‹ ist dabei allerdings als wenig tauglicher Versuch zur Rekonstruktion einer homogenen Gemeinschaft im Sinne eines ›Wir‹ zu begreifen. Auch Terézia Mora – die als ›junge Autorin‹ zu einer Positionierung aufgefordert wird – sieht, dass dieser Versuch ein vergeblicher ist oder, wenn überhaupt, nur eine temporäre Geltung beanspruchen kann, und rät angesichts der verschiedenen Versuche, einen Generationenzusammenhang zu konstruieren: »Bleibe immer überzählig« (Mora 2000: 173). Daneben lassen sich noch zahlreiche weitere Strategien gegen die Verfahren der Homogenisierung differenter Milieus beschreiben, die vom nationalen Normalisierungsprozess absorbiert werden: Die Verweigerung gegenüber den hegemonialen Zuschreibungen, die Reflexion über »die Konsequenzen […] völkischen Denkens«, die kritische Reaktion auf die »Übernahme rechtsextremer Ideologeme in der Mitte der Gesellschaft«, die Verweigerung von »Pauschalisierungen und Homogenisierungen«, die Normalisierung der Existenz differenter Milieus, wie z.B. der »Einwanderer und Flüchtlinge« als »normale Bestandteile« der Gesellschaft, sowie der »Widerspruch«, allerdings ohne »moralisierende Ansprachen« (Jäger/Jäger 1999: 187– 192) – so gestaltet sich ein Katalog der Gegenstrategien, den Margret und Siegfried Jäger für den medialen Raum, insbesondere den Journalismus, aufstellen. In den letzten Jahren stellt sich dieses Problem allerdings in neuer Form, geht es doch weniger um die Verweigerung einer Subsumtion unter das Dach einer scheinbar homogenen Generation als vielmehr um die Begründung neuer politischer Alternativbewegungen. Insbesondere für neuartige Gruppen, die in den letzten Jahren aktiv geworden sind und sich für einen neuen Politikstil einsetzen, wie z.B. die Piratenpartei (in Deutschland seit 2006) oder die Occu-
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py-Bewegung (seit 2011), stellt sich dieses Problem. Sie verbindet die Konzentration auf eine konstitutive Heterogenität der politischen Ansätze, eine generelle Skepsis gegenüber einer hierarchischen Ordnung sowie gegenüber einem klaren gemeinsamen Programm (vgl. Bieber/Leggewie 2012; Chomsky 2012). In dieser Untersuchung muss also die Frage gestellt werden, ob und, wenn ja, welche Teile und Themen des nationalen Normalisierungsprozesses zum Gegenstand einer subversiven Gegenwartsprosa werden: Die Rekonstitution des Nationalismus, die Implementierung neoliberaler Reformen, die Vergrößerung der militärischen und außenpolitischen Rolle Deutschlands etc.? Welche Identitäten des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹, des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹, der ›Reichen‹ und ›Armen‹ werden in den Texten (de-)konstruiert? Die Textanalysen müssen fragen, welche sozialen, ökonomischen, politischen, geschlechtlichen, sexuellen, (anti-) religiösen, medialen, generationellen etc. Ordnungen, Identitäten und Gruppen in den Texten (de-)konstruiert werden, mit welchen literarischen Mitteln diese Konstruktionen aufgebaut werden und welche Abgrenzungsstrategien sie benutzen. Zudem muss untersucht werden, inwiefern die Erinnerung an die nationalsozialistische Geschichte Deutschlands, die – wie gezeigt – politisch zunehmend relativiert worden ist, in den literarischen Texten zum Thema wird. Schließlich wird eine entscheidende Frage sein, ob sich literarische Gegenstrategien gegen die deutschen Normalisierungsprozesse seit 1989/90 benennen lassen oder ob die literarische Subversion dieser Diskurse komplexer und nicht bloß als ein Gegen funktioniert – und schließlich, ob auch neue subversive Gruppen und ihre Strategien zum Gegenstand der Texte werden.
1.2.5. Eine neue deutsche Literatur. Über Debatten und Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 Es konnte gezeigt werden, dass die politisch-sozialen Diskurse im vereinigten Deutschland seit 1989/90 einen nationalen Normalisierungsprozess etabliert und im Rahmen dieses Prozesses vermehrt historisch unbelastete, junge Generationen konstruiert haben, wobei sich letztlich ein homogenisierter ›Wir‹Zusammenhang der jungen Generation nicht belegen lässt. Vor diesem Hintergrund muss nun gefragt werden, wie sich die literarischen Diskurse in Deutschland nach 1989/90 entwickelt haben und inwiefern zwischen ihnen und den politisch-sozialen Diskursen Ähnlichkeiten oder Differenzen bestehen. Dieses Kapitel dient zugleich als Forschungsüberblick zur Gegenwartsliteratur: Welche Veränderungen, Probleme, Spezifitäten, Themen und Schreibstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 beschreiben Literaturwissenschaft und -kritik? Diese Analyse ist wichtig, um die später untersuchten Texte auf dem Feld der Gegenwartsliteratur situieren und erkennen zu können, inwiefern sie sich auf diesem Feld zur Mehrzahl der
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etablierten Texte subversiv verhalten. Der Begriff ›Gegenwartsliteratur‹ steht hier – wie in den meisten der zitierten Aussagen – synonym für Gegenwartsprosa; für das Theater und die Lyrik der Gegenwart ließen sich andere Tendenzen und Ungleichzeitigkeiten aufzeigen.26 Bevor über die ›Gegenwartsliteratur‹ geschrieben werden kann, muss diese Begrifflichkeit untersucht, literaturhistorisch verortet und differenziert weden.27 Insbesondere durch den postmodernen Impuls, der von den politisch-kulturellen Revolten um ›1968‹ ausging, hat sich das literarische Feld Westdeutschlands immer weiter ausdifferenziert; diese zunehmende Unübersichtlichkeit hat dazu geführt, dass die Literaturwissenschaft die Werke dekadenweise analysierte und auf größere Epochenbezeichnungen verzichtete.28 Zu diesem numerischen Schema würde es passen, die historische Zäsur von 1989/90 mit ihren globalen politischen Veränderungen auch als literaturhistorische Zäsur zu setzen. Ganz in diesem Sinne schlägt Meike Herrmann – ausgehend von einer Lektüre germanistischer Arbeiten zur Gegenwartsliteratur nach 1989/90 – vor, in enger Anlehnung an den historischen Umsturz »die Nachkriegsliteratur bis 1990 (zu fassen) und den Begriff der Gegenwartsliteratur auf die eineinhalb Jahrzehnte 26 | Während beispielsweise in der Prosa von 1995 bis 2000 tendenziell eine Entpolitisierung einsetzt, indem junge, unterhaltsame Texte als ein zentrales Segment der sog. ernsten Literatur auf dem Literaturmarkt etabliert werden, vollzieht sich zur selben Zeit auf den Bühnen eine Repolitisierung, wie Franziska Schößler beschreibt. In den Theatern würden bevorzugt »Geschichten im Sinne eines ›sozialen Realismus‹ erzählt«, die »desaströse Familienbeziehungen und Arbeitslosigkeit« zum Thema machten und an Gattungen »wie das soziale Drama und das Volksstück« (Schößler 2004a: 12) anknüpfen. Emmanuel Béhague kommt zu einer ähnlichen Feststellung und analysiert eine Repolitisierung des Theaters und der Dramenstoffe nach 1989: »le théâtre doit retrouver un lien avec la réalité sociale vécue par le public.« (Béhague 2006: 49; frz. ›Das Theater muss eine Verbindung mit der sozialen Realität wiederfinden, wie sie vom Publikum erfahren wird.‹) Er führt diese Entwicklung auf die spezifische Situation der deutschen Theater zurück, die nach der Wende und den danach deutlich reduzierten Subventionen zu einer Aktualisierung ihrer gesellschaftlichen Funktion durch eine Zuwendung zu gesellschaftspolitischen Stoffen gezwungen gewesen seien, um ihre Legitimation zu erneuern. 27 | Annina Klappert hat gezeigt, dass die Bestimmung einer ›Gegenwartsliteratur‹ als Epochenkonstruktion auf fünf fundamentale Probleme trifft: die Probleme der verschiedenen Ansätze, der Datierung von Anfang und Ende, der Überlappungen, der notwendigen Reduktion und der Perspektivengebundenheit, vgl. Klappert 2010: 48f. 28 | Vgl. Delabar/Schütz 1997a; Erb 1998. – Seit 2002 hat sich das von Paul Michael Lützeler u.a. herausgegebene germanistische Jahrbuch Gegenwartsliteratur diesem Gegenstand angenommen und analysiert vor allem Texte aus den 1990er und 2000er Jahren, greift teilweise jedoch auch in die Zeit vor 1989/90 zurück, vgl. Lützeler u.a. 2002ff.
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seitdem anzuwenden.« (Herrmann 2006: 111) Ausgehend von den Arbeiten Elena Agazzis, Joachim Garbes und Helmut Schmitz’ erkennt sie gerade in der »literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus – oder allgemeiner gesagt: der politisch-historischen Dimension der aktuellen Gegenwartsliteratur« – ein entscheidendes Merkmal, »um 1989/90 als Zäsur in der jüngsten Literaturgeschichtsschreibung zu begründen.« (Ebd.: 117) Ernst-Ullrich Pinkert sieht in der »Vielzahl der Werke, in denen die Wende von 1989/90 als Zeitenwende behandelt wird und problematisiert wird (…,) ein weiteres Argument dafür, den Begriff Gegenwartsliteratur endgültig von dem Jahr 1945 abzukoppeln und an den Wendejahren 1989/90 festzumachen.« (Pinkert 2002: 24) Auch wenn Clemens Kammler skeptisch gegenüber einer solchen Zäsur ist, sieht er es doch als »unstrittig« an, »dass die literarische Reflexion über deutsche Geschichte aus einer veränderten historischen Perspektive eine, wenn nicht die zentrale Tendenz dieser Jahre markiert.« (Kammler 2004: 27) Gegen die Behauptung, 1989/90 lasse sich als literaturhistorische Zäsur festschreiben, wenden sich vehement Klaus-Michael Bogdal und Hans-Christoph Graf von Nayhauss, wobei beide allerdings eine Einschränkung bezüglich der DDR-Literatur bzw. -Aufarbeitung machen. Bogdal stellt kategorisch fest, dass »ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte geschrieben worden wären, die wir jetzt zu lesen bekommen«, allerdings sei das Verschwinden der »kontrollierte[n] Öffentlichkeit« (Bogdal 1998: 10) der DDR-Literatur festzuhalten. Auch Nayhauss erklärt nach einer vor allem thematisch ausgerichteten Analyse, die die um 1968 präsenten Themen literarischen Schreibens mit jenen nach 1989 vergleicht: »Von einer Zäsur oder einer neuen Epoche der deutschen Literatur kann also nicht gesprochen werden« (Nayhauss 2002: 71); wobei er eine kleine Ausnahme macht: Der Themenbereich ›Im Netz der Stasi‹ sei neu hinzugetreten. Das Problem all dieser Festschreibungen des Wendepunktes von 1989/90 als historische Zäsur oder der apodiktischen Negation dieser These ist, dass sich Periodisierungen der Gegenwartsliteratur nicht mehr in toto vornehmen lassen, wenn man von der Pluralisierung und Ausdifferenzierung der literarischen Öffentlichkeit in literarische Szenen und Milieus ausgeht. Wenn Bogdal z.B. einerseits den Verlust des Bildungsbürgertums proklamiert und feststellt, dass sich literarische Texte heute höchst unterschiedlichen Szenen zuwendeten, lässt sich nicht mehr behaupten, dass der Umsturz von 1989/90 auf alle diese Szenen den gleichen, nämlich keinen Effekt gehabt habe. Auch ein Literaturwissenschaftler der älteren Generation wie Helmut Koopmann konstatiert, dass die Bundesrepublik »etwa seit 1985 […] endgültig eine sehr pluralistisch gewordene Gesellschaft« sei, der »gesellschaftspolitische Wertsetzungen in erschreckendem Ausmaß« fehlten; dies habe jedoch auch in der Literatur zu einer »literarischen Vielfältigkeit« (Koopmann 1997: 21) geführt (Koopmann unterscheidet verschiedene Prototypen, zu denen u.a. der ›Zeitroman‹ und die ›Vätergeschichten‹ gehören). Entgegen der Annahme, es lasse sich heute die Gegenwartsliteratur als ein
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gleichsam epochaler Block konstruieren, geht diese Untersuchung vielmehr davon aus, dass für die zu untersuchende deutschsprachige Prosa seit 1989/90 eine »Heterogenität konstitutiv geworden ist, die die althergebrachten Einordnungsschemata in Frage« (Harder 2001: 7) stellt und »eine halbwegs überzeugende Systematik kaum« (Kammler 2004: 27) mehr möglich macht. In einer postmodernen Gesellschaft mit ihren pluralisierten literarischen Formen und in Zeiten einer kulturellen und medialen Globalisierung29 haben alle Periodisierungsvorschläge »bestenfalls Indiziencharakter«; die Phänomene, die sie beschreiben, könnten »jederzeit durch andere, gleichermaßen legitimierbare ersetzt werden.« (Delabar/Schütz 1997b: 7) Das entbindet die Literaturwissenschaft jedoch nicht von der Aufgabe, ihre Versuche zur Systematisierung und zur Beschreibung der unterschiedlichen Entwicklungen und Milieus der Gegenwartsliteratur vorzulegen. Dabei muss sie sich jedoch, wie Werner Jung postuliert, allen Spektren des Literaturmarktes gegenüber öffnen, vom Pop bis zur Postmoderne und den Dekonstruktivisten, von den Sprachspielern und -akrobaten bis zur x-ten Auflage des Realismus. […] Also müssen wir uns mit Nischen und Segmenten, mit verschiedenen Sub- und anderen Kulturen beschäftigen. (Jung 2001: 9)
Es ist auffällig, dass in jenen Argumentationen, die 1989/90 nicht als literaturhistorische Zäsur sehen, die junge deutschsprachige Literatur und ihre Entwicklungen sowie neuere intermediale Entwicklungen wie die Netzliteratur keine Rolle spielen. Problematische Homogenisierungen und Ausschlussverfahren sind und bleiben somit notwendige Voraussetzungen zur Periodisierung und Kanonisierung von Literatur. Wenn sich auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nicht mehr auf ein zentrales Feld reduzieren lässt, so können allerdings Diskurse und Literaturdebatten beschrieben werden, die sich seit 1989/90 entwickelt haben und wichtige Hintergründe für die subversive Literatur nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und in einer Zeit der Relativierung des Mediums Buch darstellen. Wenn diese – im Rahmen der vorliegenden Studie – ausgerechnet bei den politischen Umbrüchen der Wende einsetzen, so soll dies zunächst keine literaturhistorische Zäsur behaupten, dieses Verfahren entspricht vielmehr den Untersuchungsnotwendigkeiten dieser Arbeit, die sich fragt, wie nach dem Umbruch von 1989/90 noch politische Literatur verfasst worden ist. Inwiefern diese sich tatsächlich verändert hat oder spezifische Eigenschaften
29 | Es ist davon auszugehen, dass »das Spektrum der Gegenwartsliteratur gerade auch unter der Perspektive der Globalisierung vielschichtig und bisweilen widersprüchlich ist.« (Amann/Mein/Parr 2010: 14) Corinna Schlicht nennt ihren Sammelband »Stimmen der Gegenwart« (Schlicht 2011).
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besitzt, müsste überhaupt erst gezeigt werden. Wie aber gestalten sich die Diskurse über die Gegenwartsliteratur nach 1989/90? Während sich in den Poetologien älterer Autorinnen und Autoren wie Friederike Mayröcker (* 1924), Günter Grass (* 1927) und Christa Wolf (1929–2011) oder auch Peter Handke (* 1942) und Monika Maron (* 1941) keine oder nur geringe Brüche beschreiben lassen, können drei Phasen der Debatten über die gegenwartsliterarischen Texte vor allem jüngerer Autorinnen und Autoren und deren öffentliche Rezeption unterschieden werden: Erstens finden von 1989 bis 1995 verschiedene Debatten über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur statt, die vor allem die marginalisierte Rolle der deutschsprachigen Literatur problematisieren und Alternativprogramme zu ihrer Aufwertung entwerfen, die von Stuart Taberner in den Diskurs der »›normalization‹ of the post-unification Federal Republic« eingeordnet werden und zu einer »erasure of hard-won values of self-criticism and historical awareness by the primary of materialism« (Taberner 2005: 81) führen. Mit der Überwindung der ›Bonner Büßerjahre‹ könne auch endlich, so dieser feuilletonistische Diskurs, der avanciert-(selbst) kritische Gestus der deutschsprachigen Literatur Formen anspruchsvoller literarischer Unterhaltung weichen. Ab 1995 finden diese Debatten und diskursiven Verschiebungen – nach einer zeitlichen Verzögerung – ihren Ausdruck in verschiedenen Neuveröffentlichungen, die eine zweite Phase von 1995 bis 2000 einläuten, die als Boom der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnet werden kann,30 in dessen Verlauf »ein regelrechter Hype um die – vor allem junge – deutschsprachige Literatur (entstand). Autoren zierten Titelblätter, immense Vorschüsse wurden auf Manuskriptentwürfe gezahlt« (Kraft 2005: 7). 1999 erhält dann, passenderweise, auch noch Günter Grass aus der älteren Autorengeneration den LiteraturNobelpreis. Diese Hausse der neuen deutschen Literatur überschreitet jedoch 2000/2001 ihren Höhepunkt, Meike Herrmann nennt als Hintergründe dafür das »Ende des Börsenbooms, (den) Einschnitt des 11. September 2001 und die erneut heraufziehende (ökonomische) Krise der deutschen Literatur« (Herrmann 2006: 115). Ein weiterer zentraler Faktor ist die Ankunft des Mediums Internet im Massenbewusstsein der jüngeren Generation und die dadurch modifizierten Formen der Mediennutzung (schon 1998 wird beispielsweise die Stiftung Lesen begründet, die die Lesekompetenz in verschiedenen Medien fördern soll). Zugleich setzen sich jedoch in dieser Phase einige wichtige neue Strömungen der Gegenwartsliteratur durch, die bis heute wirksam bleiben. 30 | Die These, dass sich für die jüngere deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine Epochenmarke nicht 1989/90, sondern Mitte der 1990er Jahre setzen lasse, wurde bereits in der ersten Version dieser Studie formuliert, sie wird jedoch im Folgenden ausführlicher anhand jüngerer Forschungsliteratur belegt, die erst in den letzten Jahren erschienen ist. Dasselbe gilt für die späteren Ausführungen zu den vorherrschenden Themen der Gegenwartsliteratur.
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Die These, dass signifikante neue literarische Entwicklungen Mitte der 1990er Jahre – und somit erst im Anschluss an die Feuilletondebatten nach der politisch-historischen Wende von 1989/90 – auftreten, ist noch kein Forschungskonsens, jedoch eine der zentralen Thesen dieser Arbeit. Zwei jüngere Sammelbände zur Gegenwartsliteratur lassen diese Frage beispielsweise bewusst unbeantwortet und beziehen sich eher auf die Jahrtausendwende: Johanna Bohley und Julia Schöll sehen »eine Vielzahl von Antworten auf die Frage, wie sich die Jahrtausendwende als Zäsur für die Literatur der Gegenwart auswirkt« (Bohley/Schöll 2011: 16), Evi Zemanek und Susanne Krones nutzen die neutrale Formulierung ›Literatur um 2000‹ in Abgrenzung zur ›Gegenwartsliteratur‹ und möglichen klaren Zäsuren (vgl. Zemanek/Krones 2008) (wobei ihre Analysen 1995 einsetzen). Michael Braun definiert als entscheidende Zäsuren der deutschen Nachkriegsliteratur die Jahre »1945/1949, 1968 und – am plausibelsten – 1989/90« (Braun 2010: 34), denn 1989 sei das Literatursystem der DDR zusammengebrochen und »im westlichen Teil Deutschlands musste man sich mit einem verschärften Konkurrenzdruck abfinden.« (Ebd.: 26)31 Immer mehr literaturwissenschaftliche Arbeiten bewerten jedoch das Jahr 1995 bzw. die Mitte der 1990er Jahre als Startpunkt für neue literarische Entwicklungen: Stuart Taberner stellt fest, dass »from the middle of the decade onwards« deutschsprachige Texte »do engage with […] integration, normalisation and globalisation« (Taberner 2007: 3), Carsten Gansel und Pawel Zimniak sehen »ab Mitte der 1990er Jahre unübersehbar Veränderungen«, seither könne »in der Tat vom Auftreten einer neuen Autorengeneration gesprochen werden« (Gansel/Zimniak 2010b: 11), die sie am sog. literarischen Fräuleinwunder, an der Rückkehr des Erzählens und an der Verbreitung der Popliteratur festmachen. Wieland Freund nennt explizit als Grenzmarker die 1995 veröffentlichten Texte von Thomas Brussig (Helden wie wir), Christian Kracht (Faserland) und Marcel Beyer (Flughunde), die einen »Generationswechsel« (Freund 2001a: 11) eingeläutet hätten. Heribert Tommek, Matteo Galli und Achim Geisenhanslüke organisieren 2013 in Rom eine Konferenz, die unter dem programmatischen Titel steht: Wendejahr 1995! Transformationen der deutschsprachigen Literatur.32 Im Anschluss an die Erfolgsphase ab 1995 lässt sich eine dritte Phase seit 31 | Braun nennt dann allerdings als Beispiele für besonders relevante Texte der Gegenwartsliteratur für die Jahre 1991 bis 1994 insgesamt sieben Texte und für die Jahre 1995 bis 2009 gleich 38 Texte, als habe zwischen diesen Zeiten ein Qualitätsoder Relevanzsprung stattgefunden. Für das Jahr 1995 analysiert er exemplarisch Marcel Beyers Flughunde, Feridun Zaimoølus Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft und Christian Krachts Faserland. 32 | In der Ankündigung der Konferenz heißt es: »1995 […] erscheinen auffällig viele Romane, die retrospektiv für wichtige Tendenzen in der Gegenwartsliteratur stehen, so zum Beispiel Christian Krachts Faserland, Feridun Zaimoglus Kanak Sprak, Thomas
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2001 beschreiben, die als Normalisierung (und Repolitisierung) der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu bezeichnen ist: Der Literaturboom endet zwar, aber einige der zahlreichen neuen Entwicklungen bleiben und erweisen sich als besonders tragfähig. Es wird sich jedoch die These belegen lassen, dass die Debatten über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu einer Normalisierung der vereinigten deutschen Kultur auf dem literarischen Feld beigetragen haben, seither jedoch auch immer wieder Versuche zur Neubestimmung einer ›politischen Literatur‹ gemacht wurden, vermehrt seit der Weltwirtschaftskrise 2008. In den Literaturdebatten von 1990 bis 1995 (und später) zeigt sich, dass das literarische Feld – bei aller Marginalisierung im Verhältnis zu den neuen Massenmedien – noch immer eines ist, auf dem um »politische Besetzungen, um Deutungshoheiten in Fragen kulturell-künstlerischer Bedeutungen, rundum: um Herrschaftsansprüche, um das Monopol und die Hegemonie« (Jung 2001: 7) gerungen wird. In dem Maße, in dem sich diskursive Verschiebungen auf diesem Feld vollziehen und neue Hegemonien entstehen, lassen sich auch Gegendiskurse und Subversionen dieser Machtansprüche und diskursiv konstruierten ›Wahrheiten‹ beschreiben. Die wichtigsten Debatten der 1990er Jahre, vor deren Hintergrund die später analysierten Texte zu lesen sind, sollen nun in zwei Schritten nachgezeichnet werden: Zunächst die Debatten, die sich um Werke oder Essays von vor oder im Zweiten Weltkrieg geborenen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren ranken; anschließend jene, die von den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Autorinnen und Autoren begonnen und geführt wurden. Dabei sollen allerdings keine starren ›Autorengenerationen‹ konstruiert werden, denn die jeweiligen Autorinnen und Autoren einer Alterskohorte, ihre ästhetischen und politischen Positionen unterscheiden sich jeweils stark, es kann jedoch gezeigt werden, dass die jeweiligen Auseinandersetzungen vor verschiedenen begrifflichen Hintergründen geführt werden und sich für die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Autorinnen und Autoren die Frage nach der politischen Bedeutung und gesellschaftlichen Geltung eben anders stellt – dies impliziert die für unsere Argumentation zentrale Opposition von ›engagierter Autorschaft‹ einerseits und ›subversiver Literatur‹ andererseits. Gerade die vor oder im Zweiten Weltkrieg geborenen Autorinnen und Autoren thematisieren in den 1990er Jahren die deutsche Geschichte intensiv und fragen, welche Form der Erinnerung für die gegenwärtige, vereinte deutsche GeBrussigs Helden wie wir, Thomas Hettches Nox, Marcel Beyers Flughunde, Reinhard Jirgls Ab schied von den Feinden, Bernhard Schlinks Der Vorleser, Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara, Elfriede Jelineks Kinder der Toten oder Günter Grass’ Roman Ein weites Feld.« (https://www.alumniportal-deutschland.org/nc/en/webinars-events/eventcalendar/single-view.html?t x_ppwcalendar_pi1[eventID]=33958&t x_ppwcalendar_ pi1[backPage]=1)
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sellschaft, ein halbes Jahrhundert nach der Shoa und nach dem Untergang der DDR, eine ›angemessene‹ wäre. Es ist im Kontext dieser Arbeit kaum möglich, diese Debatten in der gebotenen Ausführlichkeit darzustellen; am Beispiel einzelner Positionen und Tendenzen soll vor allem gezeigt werden, in welche Richtung sich die Literaturdebatten entwickelt haben und in welchem Verhältnis sie zu den nationalen Normalisierungsprozessen stehen. Im Anschluss an die verspätete Veröffentlichung von Christa Wolfs (* 1929) Erzählung Was bleibt? (1989) wird – insbesondere von westlichen Literaturkritikern, ausgehend von Frank Schirrmachers Positionierung in der FAZ – die Legitimation des sozialistischen Engagements der DDR-Autorinnen und -Autoren in Frage gestellt. Hans Peter Herrmann fasst das dadurch erzeugte Klima in einem anderen Kontext wie folgt zusammen: »Seit 1989 dominiert eine bedenkliche Allianz von kulturellem Nationalismus, Schweigen über die Systemmängel ›unserer‹ Gesellschaftsordnung und ritualisierter Sozialismuskritik den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik.« (Herrmann 1998: 36)33 Dieser ›kulturelle Nationalismus‹ erreicht mit der Veröffentlichung von Botho Strauß’ (* 1944) Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Strauß’ Rekonstruktion eines nationalen ›Wir‹ gegen die pluralistische, moderne Welt wird von den Kommentatoren als »Tirade über die Linke« und »undenkbar in der ›alten‹ Bundesrepublik« (Assheuer 1993) bewertet, es liegt die Frage nahe: »Wird eine neue Rechte salonfähig?« (Glotz 1993) Das Essay wird schließlich auch in einem Sammelband veröffentlicht, der Deutschland wieder als selbstbewusste Nation beschreibt.34 Am 11. Oktober 1998 erhält Martin Walser (* 1927) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und wird von seinen Zuhörern für seine Dankesrede fast ausnahmslos mit Ovationen gefeiert. In seiner Rede bezeichnet er den Holocaust als ›Moralkeule‹ und redet von der ›Dauerrepräsentation unserer Schande‹, womit er sich in das »›Wir können es nicht mehr hören!‹ breiter Bevölkerungskreise begeben hat, die das Thema Auschwitz aus dem öffentlichen Diskurs verbannen möchten.« (Kammler 2004: 30) An die Rede schließt sich eine große öffentliche Debatte über die Privatisierung der Holocaust-Erinnerung an, die insbesondere zwischen Walser und Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Deutschland, geführt und als Walser-Bubis-Streit bezeichnet wird.35 Schließlich veröffentlicht W.G. Sebald (1944–2001) seine Züricher 33 | Vgl. hierzu auch Anz 1991; Görtz u.a. 1991: 238–314; Knobloch 2001. Zur Entwicklung der ostdeutschen Literatur nach 1989/90, vgl. auch Kormann 1999; Kammler 2004: 29. Zu den Begriffen ›DDR-Literatur‹ und ›ostdeutsche Literatur‹, vgl. Nagelschmidt 2002b. 34 | Vgl. Strauß 1993; Görtz u.a.1994: 254–314; 1995: 283–339. 35 | Vgl. für einen Überblick über die Walser-Bubis-Debatte: Schirrmacher 1999; einen kritischen Kommentar liefert: Rohloff 1999; mit antisemitischen Momenten und Kontinuitäten in Walsers Werk befasst sich: Lorenz 2005.
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Vorträge zum Thema Luftkrieg und Literatur (1999), in denen er seine Verwunderung darüber äußert, dass sich die deutsche Literatur kaum den Zerstörungen Deutschlands durch die Luftangriffe der Alliierten angenommen habe; dies führt zu einer Debatte über die Frage, ob diese Beobachtung richtig und inwiefern es problematisch sei, nun den Diskurs über die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs zu beginnen.36 Es lässt sich – bei aller Verschiedenheit der kursorisch dargestellten diskursiven Ereignisse – festhalten, dass sich auch auf dem Feld der Literatur die Normalisierungsprozesse des vereinten Deutschland vollziehen: Der Abgesang auf die sozialistischen Intellektuellen, der Wunsch nach der Rekonstruktion einer nationalen Gemeinschaft, die Problematisierung der kollektiven Holocaust-Erinnerung wie auch die Thematisierung des deutschen Leidens im Zweiten Weltkrieg werden zu umstrittenen Themen, die in dieser Form und Ballung vor 1989/90 keinen ähnlichen öffentlichen Widerhall gefunden haben. Es lässt sich zugleich festhalten, dass diese Diskurse »nach wie vor zu einer Abstraktion oder Abseits-Stellung […] der Opfer« (Herrmann 2006: 116), der jüdischen, muss man inzwischen hinzufügen, führen.37 Helmut Schmitz weist in seiner Untersuchung über The Legacy of National Socialism in Post– 1990 German Fiction nach, dass sich die aktuellen Entwicklungen«in the desire for and the return of a perpetrator-centred memory that essentially ›appeases‹ or even sidelines the Holocaust« (Schmitz 2004: 323) treffen. Diese Verschiebungen in den Erinnerungsdiskursen sind eine notwendige Basis für die diskursive Normalisierung der deutschen Identität. In diese Tendenz zur Normalisierung und zum Größer-Werden lässt sich auch die von Frank Schirrmacher 1989 angestoßene Debatte über den Metropolen-Roman mit Weltgeltung einordnen. Im deutschen Fall zielt dies auf einen großen »Berlin-Roman« (Schirrmacher 1989: 24):38 Schirrmacher ging es »um die Aufrichtung einer neuen Spielart von Nationalliteratur« (Cramer 1995: 27), die manchmal in die Forderung nach dem großen Wenderoman mutierte. Diese Postulate erwiesen sich jedoch nur bedingt als realisierbar, wenngleich in der Folge tatsächlich zahlreiche Berlin-Romane erscheinen.39 Roswi36 | Vgl. Hage u.a. 1999: 249–290; 2003; Huyssen 2001; Sebald 1999; Wilczek 2004. 37 | Zugleich gibt es auch weiterhin Literatur über die Shoa und ihre Opfer sowie das jüdische Leben in der Bundesrepublik Deutschland, vgl. u.a. Graf 2001; Kraft 2005: 99–108; Lorenz 2002; Steinecke 2002. 38 | In den folgenden Quellenangaben zu den Feuilletondebatten beziehen sich die Jahresangaben jeweils auf die Erstveröffentlichung des Textes und die Seitenangaben auf den Band von Köhler/Moritz 1998; vgl. Altenburg 1992; Biller 1991; Hielscher 1995; Schirrmacher 1989; Unseld 1993; Willemsen 1992; Wittstock 1993. 39 | Phil C. Langer zeigt, dass ab 1995 – parallel zur Etablierung der Berliner Republik – eine Vielfalt von Berlin-Romanen veröffentlicht wurde, die allerdings eher die kleine Form und die kleinen Entwürfe bevorzugten und »alternative Formen politischen Handelns
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tha Skare zeigt, dass solche Texte einerseits auf höchst fragwürdige nationale Identitäten rekurrieren müssten, die – wenn man Bhabhas Begriff der Hybridität von Kultur und Identität ernst nimmt – kaum mehr zu dem geforderten epochalen Werk führen würden. Zudem ließen sich, so Skare, diese Entwürfe einer neuen deutschen Literatur mit Weltgeltung – Bourdieu folgend – als bloße Positionierungskämpfe auf dem neu entstandenen, vereinten literarischen Feld verstehen (vgl. Skare 2002). Nachdem diese Arbeit sich bislang kursorisch mit den Debatten der älteren Autorinnen und Autoren der Kriegsgeneration beschäftigt hat, kommt sie nun zur Frage: Welche Debatten und diskursiven Verschiebungen vollziehen sich bei den Autoren, Lektoren und Literaturkritiker, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden? Einige von ihnen, wie u.a. Matthias Altenburg (* 1958), Maxim Biller (* 1960), Martin Hielscher (* 1957) und Uwe Wittstock (* 1955), greifen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die ihrer Auffassung nach zu avancierte Literatur an, die – angesichts der neuen und neuesten Medien – nicht mehr genug Leser finde, und postulieren eine junge, poppige, intermediale, realistische, an internationalen Vorbildern ausgerichtete Literatur, die Vergnügen bereiten und auf diese Weise wieder ein größeres Publikum erreichen solle. Als Feindbilder dienen Biller die »Akademikerprosa« bzw. »selbstgefällige Sturheit der Altavantgardisten« (Biller 1991, zit. n. 1998: 70f.) und Altenburg »das immergleiche Geknorze der immergleichen deutschen Flaneure« (Altenburg 1992, zit. n. 1998: 76), die avancierten Texte seien, so Martin Hielscher, für ihre Leser eine »Strafarbeit« (Hielscher 1995, zit. n. 1998: 153), weshalb die »jüngere deutsche Literatur […] das Publikum verloren« (Wittstock 1991, zit. n. 1998: 86) habe. Gegen diesen Publikumsverlust, der durch die weltfernen ästhetischen Strategien der älteren Autorengeneration verursacht worden sei, fordern die selbsternannten Sprecher der jüngeren Generation eine ›neue deutsche Literatur‹. Mit diesem Label werden zumindest mit einiger Verzögerung jene Texte versehen, die dem neu ausgerufenen ästhetischen Programm entsprechen. Der Fischer-Lektor Uwe Wittstock argumentiert unverhohlen mit Verkaufszahlen, Literatur müsse sich heute der Medienkonkurrenz offen stellen und daher primär »Vergnügen machen« (Wittstock 1991, zit. n. 1998: 95). In ganz ähnlicher Weise argumentiert Altenburg, dass er »ein pfiffiges Videospiel« oder »eine[ ] einzige[ ] Folge Alf« (Altenburg 1992, zit. n. 1998: 74) empfehlenswerter und gehaltreicher finde als Walter Kempowskis collagierte Chroniken; auch er plädiert für eine neue Literatur als »[g]ehobene Unterhaltung« (Altenburg 1992, zit. n. 1998: 78). Besonders rigoros spricht sich Maxim Biller für eine intermediale Hinwendung der Literatur zum Journalismus und zum Film aus. Eine solche Öffnung der Literatur werde wieder für Romane sorgen, hervorbringen könnte« (Langer 2002: 241). Vgl. zu den Berlin-Romanen auch: Erb 1998; Schütz/Döring 1999; Steinert 1995; sowie zur Wende-Literatur: Pinkert 2002.
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»die man in einem Ruck durchliest.« (Biller 1991, zit. n. 1998: 71) Es ist offensichtlich, dass die Kritik an der avancierten Literatur zugleich eine Kritik an den engagierten Literaturkonzepten der älteren Generation darstellt, da die Plädoyers für Vergnügen, gehobene Unterhaltung und Verkauf barkeit ein den neoliberalen politischen Tendenzen entsprechendes ästhetisches Programm auf dem Literaturmarkt zu etablieren versuchen. Die Thesen der ›jungen Wilden‹ stießen auf vielfachen Widerspruch, insbesondere von bereits etablierten Autoren und Kritikern. Siegfried Unseld (1924–2002), Heinrich Vormweg (1928–2004) und Rainer Moritz (* 1958) z.B. plädieren »für die Langeweile« (Moritz 1998), verweisen darauf, dass »junge Autoren […] nie« (Unseld 1993, zit. n. 1998: 105) ein großes Publikum gehabt hätten (als Beispiele nennt Unseld Kafka, Rilke, Musil, Brecht und Frisch, deren erste Bücher weniger als tausend verkaufte Exemplare erreicht hätten), und sehen in der Debatte den Versuch, »alle etwa noch verbliebenen Reste sozialistischer und kommunistischer Ideen gründlich« (Vormweg 1998: 122) aus der Gegenwartsliteratur zu tilgen. Roger Willemsen (* 1955) bezeichnet die Debatte als »Stildebatte«. Sie zeige die Literatur »in der verkrampften Anstrengung, sich gegen die Geschwindigkeit der Schnittechniken des amerikanischen Kinos zu verteidigen, aber nicht indem sie sagt, wir wollen etwas anderes und können etwas Einzigartiges, sondern indem sie sagt, wir schneiden auch schnell.« (Willemsen 1992: 82) Das habe, so Willemsen, für den Fortbestand der Literatur als Medium einen fatalen Effekt, denn in diesem Vorgang werde letztlich »die Unverzichtbarkeit der Literatur mit Argumenten behauptet […], die ihre Abschaffung legitimieren können.« (Willemsen 1992, zit. n. 1998: 84) Die Verdikte der ›jungen Wilden‹ veranlassen den – nach ihrem Verständnis wohl ›akademikerprosaischen‹ – Suhrkamp Verlag 1995 zur Veröffentlichung eines Lobliedes auf die avancierte Gegenwartsliteratur (vgl. Döring 1995). Die Literatur der älteren Generation setzte auch nach dem Literaturstreit ihre Kontinuitäten fort, als habe es diesen nicht gegeben. Auch nach 1995 plädieren einzelne Literaturkritiker wie Helmut Böttiger (* 1956) für eine Literatur, die »nicht in erster Linie der Verfilmbarkeit« diene und auf ihrem »Eigensinn« (Böttiger 2004: 7) beharre (Böttiger untersucht u.a. Texte von Elfriede Jelinek, Herta Müller, Brigitte Kronauer, Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Marcel Beyer, Thomas Kling und Thomas Meinecke). Neben dieser anspruchsvollen Literatur etabliert sich ab 1995 zunehmend und mit großem Erfolg eine junge deutsche Literatur, die sehr wohl eine Form der Unterhaltungsliteratur darstellt, sich ästhetisch wenig bis nicht avanciert gibt und tatsächlich den anvisierten Verkaufsboom auslöst. Der Effekt des Literaturstreits ist somit nicht die Ablösung der alten, avancierten und engagierten Literatur (die es in dieser monolithischen Form ohnehin nie gab) durch eine junge, unterhaltsame, unpolitische Literatur; vielmehr hat sich das Feld der Gegenwartsliteratur weiter zersplittert und ist um ein Segment ›reicher‹ geworden. Frank Finlay und Stu art Taberner stellen richtigerweise fest: »What is most immediately striking
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about the German literary market since unification, and in particular since the mid–1990s, is its sheer diversity. The range of what publishers have recently put forward as ›serious‹ literature has certainly expanded dramatically.« (Finlay/Taberner 2002: 131) Diesen Formen der nun auch zur ernsten Literatur zählenden jungen deutschen Literatur der 1990er Jahre wird sich die Untersuchung im Folgenden zuwenden, um vor allem die Verschiebungen auf diesem Segment des deutschen Literaturmarktes darstellen und reflektieren zu können. Dabei fokussiert sie auf die Zeit zwischen 1995 und 2001, denn in dieser Phase vollziehen sich auf dem Feld der deutschsprachigen Literatur verschiedene Paradigmenwechsel, die von den jüngeren Autorengenerationen maßgeblich vorangebracht werden, und zu denen nicht nur jener von einer engagierten zu einer subversiven Literatur zu rechnen ist. Immer wieder werden Mitte der 1990er Jahre von Verlagen, Kritikern und Autoren neue Etiketten auf den Markt geworfen, die nebeneinander flottieren und ähnlichen Phänomenen zugeschrieben werden. Im Wesentlichen beziehen sich diese auf eine Literatur, die als »packend, flott, lebendig, unterhaltsam, realistisch, weltbezogen oder sinnlich offen oder implizit […] traditionell erzählt, fernsehkompatibel, massenwirksam oder reflexionslos kurzgeschlossen und für einzig ›lesbar‹ ausgegeben« (Ullmaier 2001: 42) wird. Der Erfolg einer Literatur mit diesen Eigenschaften wird vom Autor Matthias Politycki als »Durchbruch der ›Neuen Deutschen Lesbarkeit‹« gefeiert, mit dem sich deutsche Gegenwartsliteratur wieder »zurück unter die europäischen Literaturen« (Politycki 1998: 5) gemeldet habe. Der Lektor Martin Hielscher schließt sich dieser Begrifflichkeit an und benennt als Vertreter der ›neuen Lesbarkeit‹ u.a. Stefan Beuse (* 1967), Karen Duve (* 1961), Julia Franck (* 1970), Christian Kracht (* 1966), Christoph Peters (* 1966), Matthias Politycki (* 1955) und Jens Sparschuh (* 1955).40 Wenn Hielscher an anderer Stelle darauf verweist, dass sich diese Autorinnen und Autoren durch einen »intelligenten und reflektierten, aber unideologischen und unverkrampften Umgang mit der Literatur« (Hielscher 1996: 317) auszeichneten, so kann man die Rede über die neue deutsche Lesbarkeit in eine Nähe zum parallel verlaufenden Diskurs, in dem eine unverkrampfte Nation und eine neue, unbelastete Generation konstruiert werden, setzen. Innerhalb der neuen deutschen Lesbarkeit werden immer wieder zwei literarische Tendenzen genannt, die sich allerdings keineswegs widersprechen, sondern vielmehr Hand in Hand gehen, und in den meisten der Texte vereint werden: Erstens ist die Rede von einer neuen »Lust am Erzählen«, einer »Rück40 | Vgl. Hielscher 2001. Daneben nennt Hielscher noch, allerdings ohne ihre Texte näher zu analysieren: Thomas Brussig (* 1965), Judith Hermann (* 1970), Roland Koch (* 1959), Michael Kumpfmüller (* 1961), Alexa Hennig von Lange (* 1973), Benjamin Lebert (* 1982), Terézia Mora (* 1971), Elke Naters (* 1963), Kathrin Schmidt (* 1958), Ingo Schulze (* 1962), Benjamin von Stuckrad-Barre (* 1975) und Maike Wetzel (* 1974).
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kehr des Epischen« (Hielscher 2000: 175), einer »Wiederkehr des Erzählens« (Krauss 2004) bzw. einer »Renaissance des Erzählens« (Herholz 1998). Die Argumentationen suggerieren häufig, dass sich nach der Vereinigung Deutschlands und dem Abdanken der avancierten Nachkriegs-Ästhetik eine sozusagen ›natürliche, unterdrückte, eigentliche deutsche Erzählliteratur‹ endlich wieder zeigen dürfe. Hielscher formuliert stellvertretend, dass diese nun überwundene Phase »in besonderem Maße mit der deutschen Geschichtskatastrophe im 20. Jahrhundert verknüpft« gewesen sei; nun habe sich jedoch »eine immer wiederkehrende literarische Urwüchsigkeit den Weg gebahnt […] durch eine von Tabus und Verboten besetzte Landschaft.« (Hielscher 2000: 176) Wenn man weniger historisch und eher medien- und kulturtheoretisch argumentiert, lässt sich konstatieren, dass sich die angesichts einer immer komplexeren Gegenwart und unter der Medienkonkurrenz in Bedrängnis geratene Literatur auf simplere und altbekannte ästhetische Verfahrensweisen zurückzieht. Dieser ästhetisch und politisch konservative Schritt kann jedoch kaum als »Neue Objektivität« (Freund 2001b) gefasst werden, wie es Wieland Freund mit existenzphilosophischem Vokabular versucht. Vielmehr werden hier – in einer ideologischen Setzung – die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und die Zersplitterung der Gesellschaft aus dem Diskurs über ästhetische Programme ausgeblendet, William Collins Donahue sieht in dieser Zeit die Tendenz »to free postunification literature from the politico-cultural agendas of the Cold War era«, er spricht folglich von einem »›apolitical‹ turn in contemporary German literature as one significant constituent of the new cultural normalcy.« (Donahue 2006: 193)41 Neben dieser ›Rückkehr des Erzählens‹ wird die Popliteratur42, gleichsam die progressive Seite der ästhetisch konservativen neuen deutschen Lesbarkeit, zur zweiten wichtigen Säule des Literaturbooms zwischen 1995 und 2000. Der Popliteratur-Boom beginnt mit Christian Krachts Roman Faserland (1995), der u.a. von den Trendmagazinen Tempo und Vogue zu einem literarischen Großereignis ausgerufen wird (vgl. Kopf 1995 u. Ruddert 1995). Es dauert weitere vier Jahre, bis auch der Spiegel in seiner Titelgeschichte am 11. Oktober 1999 die junge Autorengeneration als legitime ›Enkel von Grass & Co.‹ feiert, eine »Auf bruchstimmung« konstatiert und Autorinnen und Autoren wie Thomas Brussig (* 1965), Karen Duve (* 1961), Thomas Lehr (* 1957), Elke Naters (* 1963), Jenny Erpenbeck (* 1967) und Benjamin Lebert (* 1982) dafür verantwortlich macht, dass selbst »das Ausland, der deutschen Literatur 41 | Donahue belegt seine These durch die Analyse von Texten aus sehr verschiedenen Diskursen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Rot von Uwe Timm (2001), Leben bis Männer von Thomas Brussig (2001), Die Cellospielerin von Michael Krüger (2000), Der Vorleser von Bernhard Schlink (1995) und Eduards Heimkehr von Peter Schneider (1999), vgl. Donahue 2006: 182f. 42 | Zum Begriff der Popliteratur vgl. Kap. 3.1.
Literatur und Politik
lange Zeit überdrüssig, […] sich seit einiger Zeit wieder für Romane und Novellen aus Deutschland zu interessieren« (Hage 1999) beginne.43 Allerorten wird konstatiert, wie groß, bedeutungsvoll und erfolgreich die neue deutsche Literatur geworden sei, denn »Mitte der 90er Jahre, plusminus 1995«, so Matthias Politycki, sei »für die deutsche Literatur eine neue Epoche angebrochen« (Politycki 1998: 5). Selbst der Vergleich mit dem Fußballdiskurs, der in Deutschland immer wieder zur Stärkung der nationalen Identität und ihrer internationalen Bedeutung herangezogen wird, dränge sich auf: »Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft« (Baßler 2002: 9), schreibt Moritz Baßler 2002 zu Beginn seiner Studie über die Popliteratur. Der Höhepunkt des Booms der neuen deutschen Lesbarkeit wird mit dem überaus erfolgreichen Debüt Crazy des 17-jährigen »Wunderkind[s] der deutschen Literaturszene« (Burdi 1999) bzw. »bestaunenswerten LiteraturMozart[s]« (Biller 1999) Benjamin Lebert erreicht, das in einer Vorab-Rezension von Elke Heidenreich im Spiegel als »ein ganz und gar erstaunliches und wunderbares Buch von einem hochtalentierten, sehr jungen Autor« (Heidenreich 1999) angepriesen wird. Drei Jahre später bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin Anette Storeide den Text simpel als »leichte Kost« (Storeide 2002: 135). Aus der Distanz betrachtet ist es unvorstellbar, dass Leberts Text auch nur einen mittelgroßen Erfolg gehabt hätte, wenn sein Autor nicht so jung gewesen und sein Debüt nicht auf dem Gipfel des deutschen Literaturbooms als mediales Großereignis inszeniert worden wäre. Der Erfolg der neuen deutschen Lesbarkeit und der Popliteratur zwischen 1995 und 2000 verdeutlicht nicht nur, dass die Zeit günstig war, das Spektrum der im Feuilleton diskutierten Literatur in Deutschland zu erweitern und auf diese Weise die behauptete Vorherrschaft der engagierten und avancierten Literatur zu relativieren; der Erfolg verweist auch darauf, dass sich die »Gesamterscheinung des literarischen Marktes […] zum Teil radikal« (Jung 2001: 10) geändert hat und Autorinnen und Autoren wie Christian Kracht, Zoë Jenny und Benjamin von Stuckrad-Barre heute »ein Gesamtkunstwerk (darstellen), in dem der Text selbst eine untergeordnete Rolle spielt« (Moritz 2001: 194), 43 | Auch Volker Hages Literatur-Essay kann als Teil des nationalen Normalisierungsdiskurses gesehen werden. Hage stellt fest: »Erstmals seit nahezu einem halben Jahrhundert scheint die Erinnerung an die deutschen Verbrechen nicht mehr die Zungen zu lähmen – denn weder die Autoren selbst noch ihre Väter haben Anlass zu Anklage und Selbstanklage. Die Auseinandersetzung mit den Nazi-Eltern scheint kein Thema mehr zu sein. […] Tatsächlich wirken gerade die jungen Wilden der Erzählkunst wie von jeglichem Ballast befreit: Die Mehrzahl von ihnen schert sich nicht um Erzähl-Traditionen, scheint kaum noch etwas von den Skrupeln zu ahnen, die die deutsche Literatur ein halbes Jahrhundert lang begleitet haben. Die demonstrative Unbekümmertheit überdeckt auch manche Unsicherheit und Unkenntnis.« (Hage 1999)
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denn der »literarische Markt folgt der Popindustrie und versucht, in immer kürzeren Abständen neue Sensationen und Moden zu kreieren. […] Eine nachrückende Autorengeneration […] rückt von hehren Dichteridealen ab und versteht ihr Tun zunehmend als Teil kurzlebiger Medieninszenierungen.« (Moritz 2001: 195) Während sich die Literaturwissenschaft teilweise pikiert von diesen medialen Selbstinszenierungen abwendet,44 verstärken die Zeitungen diese Inszenierungen noch, indem sie z.B. Stuckrad-Barre zu einem »Natural born Medienarbeiter« (Bartels 1999) erklären.45 Diese Veränderungen führen zu ökonomischen Erfolgen und begründen zugleich neue Diskriminierungen. Für Autorinnen bedeuten diese Entwicklungen z.B. eine Verstärkung der sexistischen Wahrnehmung ihrer Person und eine Relativierung der Bedeutung ihrer Werke.46 Ulrike Tanzer hat exemplarisch die Kritiken der Debüts von Bettina Galvagni (* 1976), Judith Hermann (* 1970) und Zoë Jenny (* 1974) in den Jahren 1996 bis 1998 untersucht und eine »Boulevardisierung« beobachtet, denn der »Kleidung Judith Hermanns und dem Lebensstil Zoë Jennys wird hier bisweilen ebenso viel oder mehr Platz eingeräumt wie deren Texten« (Tanzer 2002: 170f.); die Spezifität der literarischen Texte verschwinde hinter der visuellen Präsentation der Frauen, die als solche nur das stereotype Bild einer jungen, melancholischen Autorin nachzeichne.47 Die Texte zu vernachlässigen und die Autorinnen mit einer altväterlichen und patriarchalen Geste zum literarischen ›Fräuleinwunder‹ zu adeln, wie dies ebenfalls 1999 in Der Spiegel geschieht, erscheint somit ebenso medial konsequent wie politisch unangemessen (vgl. Moritz 2001: 196). 44 | Kammler verweigert sich z.B. kritisch gegenüber jener »Art literarischem Fast Food […], dessen ästhetische Halbwertzeit sich umgekehrt proportional zum Werbeaufwand verhält, mit dessen Hilfe sie zu Bestsellern gepusht wurden.« (Kammler 2004b: 24) Grimm und Schärf sehen in der Gegenwart »das Ende einer ikonographischen Entwicklung, die – im Zeichen eines desillusionierten Verständnisses von Kommerz und Kunst – den Autor als ›Künstler aus Berufung‹ definitiv verabschiedet.« (Grimm/Schärf 2008: 11) 45 | Vgl. zu ›Autoren als Medienstars‹ bzw. ›Autorinszenierungen im Kontext der Medien‹ auch: Kaulen 2002; Künzel/Schönert 2007. 46 | Dabei handelt es sich allerdings um keine neue Tendenz, denn die sog. Frauenliteratur und Autorinnen sind schon seit dem frühen 19. Jahrhundert in ganz anderer Weise sexualisiert worden als die Texte männlicher Autoren und ihre Urheber. Unter den veränderten medialen und ökonomischen Bedingungen in der Gegenwart wird die sexistische Produktion von Autorinnenbildern jedoch in einer neuen Qualität betrieben. 47 | Tanzer stellt fest: »Die Bilder der Autorinnen […] scheinen beinahe austauschbar: Junge Frauen, schmal, blaß, Haare zurückgekämmt, mit großen, traurigen Augen, Inkarnationen dessen, was man landläufig als melancholisch bezeichnet.« (Tanzer 2002: 169)
Literatur und Politik
Der Erfolg der neuen deutschen Lesbarkeit hat auf dem umstrittenen Feld der Gegenwartsliteratur zu intensiven Auseinandersetzungen geführt. Eine Strategie ihrer Gegner war es, den Stil und die Themen der neuen deutschen Literatur zu parodieren48 oder ihre Neokonservativität zu skandalisieren, wie Iris Radisch an prominenter Stelle in der Zeit.49 Neben ganz klaren Gegnern wie z.B. Feridun Zaimoğlu 50 klagen selbst Gewährsleute der neuen deutschen Lesbarkeit oder der Popliteratur wie Matthias Politycki oder Ulf Poschardt die »entfesselt Neokonservative[n] wie Stuckrad-Barre« (Politycki 2000) an und problematisieren deren »antisoziale Polemiken« (Poschardt 2000), die nur »eine Fortsetzung der offiziellen Berlin-Werbung« (Kuhlbrodt 2000) seien. Während sich die ›jungen Wilden‹ in der Literaturdebatte von 1990 bis 1995 noch mit einem rebellischen Gestus versahen und gegen die Hegemonie der engagierten und avancierten Literatur antraten, mussten sie nun erkennen, dass sie ihren Kampf gewonnen und ein neues Segment auf dem Literaturmarkt erfolgreich etabliert hatten, obwohl es den meisten ihrer Texte an jeglichem rebellischen Gestus mangelte. Einerseits war das Erstaunen noch immer groß, wie schnell und erfolgreich das Konzept der neuen deutschen Lesbarkeit aufgegangen war,51 andererseits erkannten die Autorinnen und Autoren, dass ihre Texte zugleich als Teil des »process of German ›normalization‹« (Taberner 2005: 83) und seiner Ambiguitäten wahrgenommen wurden. Die ersten Erkenntnisse der Verlage, dass sich der ökonomische Gewinn der vergangenen Jahre nicht halten lassen würde (ab März 2000 beginnt parallel der Niedergang der ab Mitte 1999 boomenden Dot48 | Vgl. Fischer 1995; Schwennicke 1995; Schiffner 1999. Fischer und Schwennicke parodieren Krachts Faserland, Schiffner imaginiert Autoren, die schon im Kindergarten ihre ersten Romane veröffentlichen. 49 | Radischs Abrechnung mit der Popliteratur erscheint auf der Titelseite des Zeit-Feuilletons im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 1999. Darin heißt es: »Der Nichtangriffspakt, den die junge Nichteinmischungs- und Entspannungsliteratur mit der Welt geschlossen hat, ist eine Provokation. Ein ästhetischer, erkenntnistheoretischer und moralischer Skandal« (Radisch 1999). 50 | Zaimoølu rechnet, ebenfalls in der Zeit, mit den jungen Popliteraten unter dem Titel »Knabenwindelprosa« ab und bezeichnet die »Jungyuppies dieser Republik« als »pappsatt konservativ« (Zaimoølu 1999b). Eine Analyse dieser Auseinandersetzung zwischen den minoritären Literaten Kaminer und Zaimoølu einerseits und den Popliteraten wie Kracht und Stuckrad-Barre andererseits findet sich in: Ernst 2006. 51 | Dirk Knipphals schreibt noch im Mai 2000 über »die Wendung von der ›viel gescholtenen deutschen Literatur‹. Man kann es nicht genug betonen: Das ist gerade mal zwei Jahre her! Man mag es ja kaum noch wahrhaben, aber bis vor ganz kurzer Zeit galt es als geradezu geschäftsschädigend, als neuer deutscher Schriftsteller bezeichnet zu werden. […] Und heute? Heute – eene, meene, miste – rappelt’s in der Kiste.« (Knipphals 2000)
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com-Aktien), sorgten für zusätzliche Problematisierungen der neuen deutschen Lesbarkeit, für die stellvertretend die Popliteratur zur Rechenschaft gezogen wurde. Maxim Biller hatte im April 2000 etwa 100 Autorinnen und Autoren, deren Texte für den Boom der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verantwortlich waren, in die Evangelische Akademie nach Tutzing eingeladen, und las ihnen dort die Leviten. Insbesondere »die klugen Anhänger des so genannten Pop« bezeichnete er als die »schlimmsten, verschwiegensten aller Systemopportunisten«: Ich nenne so was Schlappschwanz-Literatur. Es ist eine Literatur, an der man merkt, dass ihre Verfasser sich längst aufgegeben haben, so wie sie überhaupt den Kampf gegen das Schlechte und für das Gute in unserer verschwiegenen Wohlstandsmeinungsdiktatur aufgegeben haben (Biller 2000).
Trat Biller noch acht Jahre zuvor gegen jene an, die den literarischen ›Kampf gegen das Schlechte‹ dekadenlang geführt hatten, so forderte er nun genau diesen in seiner Invektive gegen die ›Schlappschwanzliteratur‹ (ohne jede Selbstreflexion darüber, wie problematisch seine sexistische Wortschöpfung ist). Besonnener gab sich Matthias Altenburg, der seine eigene Position, die er noch im Literaturstreit vertreten hatte, auch in einem Zeitungsbeitrag angriff: »›[G]ehobene Unterhaltung‹ (breitet) sich seit fünf Jahren auf dem deutschen Buchmarkt aus […] wie ein Karzinom.« (Altenburg 2000) In Tutzing stellt er ernüchtert fest, dass sich die einst favorisierte neue Literatur zwar durchgesetzt habe, »aber dann ist alles in eine andere Richtung gelaufen, als wir alle hofften. Die neue Literatur ist nur wie Gervais-Frischkäse – die leichte Alternative« (Altenburg, zit. n. Siemes 2000). Wenn der Erfolg von Benjamin Lebert, dessen Crazy im Frühling 1999 erschien, den Höhepunkt der neuen deutschen Lesbarkeit markiert, verliert diese spätestens mit der Tagung in Tutzing im April 2000 ihre Unverkrampftheit. Schon einen Monat zuvor deutet Volker Weidermann an, »dass der Trend zur jüngsten deutschen Literatur, die Begeisterung, mit der die meisten Neulinge von Buchhandel und Lesern aufgenommen werden, bald zu Ende gehen könnte« (Weidermann 2000). Während die Literaturen-Übersicht über die Debüts im Mai 2001 bereits konstatiert, dass »der Neue Markt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (wieder) auf den Teppich« (Hauser 2001: 99) zurückgeholt worden sei, wird zwei Jahre später in demselben Literaturmagazin davon ausgegangen, »dass der Hype vorbei ist« (MeyerGosau 2003: 81). Schon 2001 setzen Norbert Niemann und Georg M. Oswald Akzente, indem sie – entgegen dem vorherigen Trend – eine Nummer der gleichnamigen Zeitschrift mit Texten von u.a. Marcel Beyer (* 1965), Michael Lentz (* 1964), Dagmar Leupold (* 1955), Kathrin Röggla (* 1971), Thomas Meinecke (* 1955) und
Literatur und Politik
Birgit Vanderbeke (* 1956) zum Thema ›Politik‹ gestalten und damit einen Schritt in Richtung einer Repolitisierung der deutschsprachigen Literatur in den 2000er Jahren setzen (vgl. Niemann/Oswald 2001a). Im Vorwort heißt es, dass es zwar keine gemeinsamen Paradigmen für die Beschreibung der politischen Verhältnisse unter Literaten mehr gebe, der Band aber den Versuch machen wolle, »Perspektiven auf die politischen Problem- und Konfliktzonen in der gegenwärtigen Gesellschaft mosaikartig zusammenzustellen und nach dem heute noch möglichen Verhältnis von Politik und Literatur zu fragen.« (Niemann/Oswald 2001b: 193) Als Folge der terroristischen Anschläge in den USA vom 11. September 2001 wird das ›Ende der Spaßgesellschaft‹ ausgerufen. Der Literatur wird wieder – zumindest teilweise – die Notwendigkeit eines »Bruch[s] mit allem Gewesenem« (Hartwig 2001: 164) zugeschrieben. Plötzlich erscheint Koopmanns These über die Prosa der 1990er Jahre, diese sei »gesellschaftsfern: politische oder soziale Themen fehlen« (Koopmann 1997: 29), als nicht mehr zutreffend; Tanja Dückers (* 1968), Robert Menasse (* 1954) und Juli Zeh (* 1974) streiten im Frühjahr 2004 öffentlich über das Verhältnis von Literatur und Politik (vgl. Kraft 2005: 76). 2009 erscheint dann mit Widerstand des Textes ein Sammelband, der ›politisch-ästhetische Ortbestimmungen‹ von u.a. Ulrike Draesner, Sherko Fatah, Alban Nicolai Herbst, Thomas Meinecke, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow vereint (vgl. Schoeller/Wiesner 2009). Die Literaturwissenschaft hat die Gegenwartsliteratur bislang insbesondere über die (neuen) Themen ihrer Texte zu differenzieren versucht. Dabei sieht sie einerseits eine unübersehbare Vielfalt an Themen,52 beschreibt jedoch andererseits verschiedene neue thematische Paradigmen.53 Als zentrales Thema der 52 | Clemens Kammler, Jost Keller und Reinhard Wilczek ordnen gegenwartsliterarische Texte den folgenden Kernthemen zu: »Wende«, »Shoah/Judentum«, »Neue Medien/Literatur in der Medienkonkurrenz«, »Antike/Mythos«, »Großstadt«, »Kindheit/ Adoleszenz«; daneben führen sie noch weitere Themen auf wie Sprachverlust, Religiosität, Apokalypse, Satire/Humor, Körperlichkeit, Zeiterfahrung, Fremderfahrung, Terrorismus, Pornografie, Universität, Reisen, Wüste, Krieg, Ekel, Tod, Heimat, Pazifismus, Autobiografie, vgl. Kammler/Keller/Wilczek 2003: 43–62. 53 | Michael Braun nennt als thematische »Wandlungen und Neuentwicklungen« (Braun 2010: 28) der Gegenwartsliteratur: Erinnerungsromane zu Krieg, Exil und Holocaust; Ereignisse von Mauerfall und deutscher Einheit; Korrekturen der Reflexion der Studentenbewegung durch jüngere Generation; interkulturelle Perspektive auf ein »Europa der Kulturen, der Multiethnie und der Vielsprachigkeit« (Braun 2010: 29); Thematisierung der Region; »Interaktion der Literatur mit den neuen Medien« (Braun 2010: 30); Beschleunigung der Erfahrung; Popliteratur. Corinna Caduff und Ulrike Vedder sehen »als neue Paradigmen« der Gegenwartsliteratur um 2000 »die neuen Entwicklungen der Biowissenschaften«, »die weiterhin zunehmende Literarisierung von Neuen Medien und Popkultur sowie das Phänomen verbreiteter Mythisierungen bzw. Remythisierungen.« (Caduff/Vedder 2005: 7) In ihrer Chronik der deutschen
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deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 wird insbesondere »die literarische Reflexion über deutsche Geschichte aus einer veränderten historischen Perspektive« (Kammler 2003: 27) bewertet (vgl. Cambi 2008; Gansel/ Zimniak 2010a). Im Vordergrund steht dabei die Auseinandersetzung mit der politisch-historischen Wende von 1989/90 und die Frage nach der neuen deutschen Kollektividentität, die am Beispiel der Texte von u.a. Thomas Brussig, Kerstin Hensel, Thomas Hettche, Andreas Neumeister, Thorsten Becker oder Ingo Schulze untersucht wird.54 Die Erinnerung an die Shoah und den Nationalsozialismus wird zum Gegenstand kontroverser Debatten, die »nachgeborenen Autoren experimentieren mit literarischen Irritationsstrategien« und »testen jenseits einer politischen Korrektheit neue Darstellungsmöglichkeiten« (Beßlich/Grätz/Hildebrand 2006: 8) – kritischer beschreiben Andrea Geier und Jan Süselbeck »eine zunehmende Tendenz […], den Topos des alliierten Bombenkriegs und der Vertreibung deutscher Bewohner aus dem Osten Europas zu einer neuen Opfererzählung auszubauen.« (Geier/Süselbeck 2009: 11) Hier werden das einschlägige Essay von W. G. Sebald über Luftkrieg und Literatur sowie verschiedene Romane von Marcel Beyer, Tanja Dückers, Günter Grass, Reinhard Jirgl, W.G. Sebald und Bernhard Schlink zu den bevorzugten Untersuchungsgegenständen.55 Daneben tritt zudem die Auseinandersetzung mit der »Vielzahl neuer ›unübersichtlicher‹ Konfliktlagen« nach den Dichotomien des Kalten Kriegs wie jenen »von Täter und Opfer, Beobachter und Kombattant, Militär und Zivilbevölkerung, realem und virtuellem Krieg« (Gansel/Kaulen 2011b: 10), wobei insbesondere die ›Jugoslawienkriege‹ der 1990er Jahre und ihre literarische Reflexion durch Autoren wie Norbert Gstrein und Juli Zeh sowie speziell Peter Handke zum Gegenstand werden.56 Auch der Bereich des Terrorismus wird zu einem bevorzugten Gegenstand der Gegenwartsliteratur, insbesondere in einer distanzierten AuseinandersetLiteratur heben Hartmut und Peter Stein für die Zeit nach 1991 in Kästen die Themen »Digitale Literatur«, »Pop-Literatur«, »Deutschsprachige jüdische Literatur der zweiten Generation«, »Deutschsprachige Literatur und Migration« sowie »Jüngere deutschsprachige Gegenwartsliteratur« (vgl. Stein/Stein 2008: 920f., 930f., 938f., 947–949 u. 963–965) hervor, dabei werden die Gegenstände dieser Studie, namentlich Feridun Zaimoølus Kanak Sprak (Stein/Stein 2008: 931 u. 949) sowie Thomas Meineckes Roman Tomboy (Stein/Stein 2008: 931 u. 965) gleich doppelt als wichtige Texte der Gegenwartsliteratur bewertet, auch eine Anthologie von Enno Stahl zum Kontext des Social Beat wird aufgeführt (Stein/Stein 2008: 931 u. 965). 54 | Vgl. Bremer 2002; Brüns 2006; Lüdeker/Orth 2010; Reimann 2008; Stephan/ Tacke 2008c. 55 | Vgl. Braese 2005; Gilman/Steinecke 2002; Schmitz 2001; Sebald 1999; Stephan/ Tacke 2007; Vedder 2005. 56 | Vgl. Gansel/Kaulen 2011a; Lützeler 2010; Oppen 2006; Previšiý 2008; Sexl 2011. Zu den Debatten um Peter Handke, vgl. Deichmann 1999; Handke 1996.
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zung mit der Rote Armee Fraktion, die »medien- und eventtauglich (d.h. auch profitabel) zu werden« (Stephan/Tacke 2008b: 8f.) scheint. Hier stehen sowohl die literarischen Texte von Michael Wildenhain, Wolfgang Brenner, Leander Scholz und Ulrike Edschmid aus den Jahren 1997 bis 2001 sowie Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart von 2008 als auch die ab 1994 in einer bemerkenswerten Zahl erscheinenden autobiografischen Erinnerungstexte von Peter-Jürgen Boock, Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, Irmgard Möller, Till Meyer, Inge Viett, Margrit Schiller und Karl-Heinz Dellwo im Zentrum.57 Verschiedene Sammelbände gehen zudem unter der Chiffre ›9/11‹ der literarischen Reflexion der Anschläge vom 11. September 2001 auf verschiedene Ziele in den USA nach.58 Neben diese Perspektive auf die Konflikte zwischen Kulturen tritt allerdings auch das Interesse an produktiven oder ambivalenten interkulturellen Austauschprozessen und Entdeckungsreisen, wie sie sich beispielsweise in den Abenteuertexten oder Reiseberichten von Autoren wie Hans Christoph Buch, Alex Capus, Christof Hamann, Felicitas Hoppe, Ilija Trojanow und Michael Roes finden.59 Eine weitere wichtige Tendenz der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der letzten beiden Dekaden ist ihre Auseinandersetzung mit der ›New Economy‹ und den flexibilisierten Arbeitswelten, die in einer ganzen Fülle von Arbeiten analysiert werden, die sich u.a. mit den Texten von John von Düffel, Ernst-Wilhelm Händler, Georg M. Oswald, Annette Pehnt, Rainer Merkel und Anne Weber beschäftigen, wobei diese – mitunter kritischen – Texte einen Raum »[n]ach dem Klassenkampf« (Wiefarn 2011) eröffnen.60 Die Forschungsliteratur, die Literaturkritik und verschiedene Selbstbeschreibungen der Autorinnen und Autoren konstatieren also zahlreiche Verschiebungen auf dem Feld der Gegenwartsliteratur nach 1989/90, wobei es noch immer umstritten ist, ob dieses Datum eine historische Zäsur darstellt, die eine Nachkriegsliteratur von einer Gegenwartsliteratur unterscheidet. Naheliegender erscheint es, nicht mehr von der Gegenwartsliteratur als einem monolithischen Block zu sprechen, sondern die Entwicklungen verschiedener Segmente des Literaturmarktes separat zu betrachten. Das literarische Feld erweist sich nach 1989/90 noch immer als eines, auf dem kontrovers um Deutungshoheiten gekämpft wird, wobei allerdings die Einschränkung gemacht werden muss, dass die politischen Debatten, die sich an literarischen Texten entzünden, immer stärker von der Literarizität der Texte selbst loslösen. Auf dem Feld der älteren, vor oder während des Zweiten Weltkriegs geborenen Au57 | Vgl. Beck 2008; Berendse 2005; Colin 2012; Stephan/Tacke 2008a; Pewny 2008. 58 | Vgl. Irsigler/Jürgensen 2008; Lorenz 2004; Poppe/Schüller/Seiler 2009; sowie das frühe Essay von Ina Hartwig 2002. 59 | Vgl. Gutjahr/Hermes 2011; Gutjahr/Göktürk/Honold 2012; Hamann/Honold 2009. 60 | Vgl. Ablass 2008; Bertschik 2007; Biendarra 2011; Chilese 2008; Deupmann 2008; Dirke 2008; Ernst 2011c; Heimburger 2010; Paoli 2002; Ullmaier 2007; Warner 2006; Wiefarn 2011.
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torengeneration lassen sich vor allem Verschiebungen in nationalen Erinnerungs- und Identitätsdiskursen beschreiben, die in den Kontext der politischen Normalisierungsdiskurse zu stellen sind; dazu zählen die Debatten um Christa Wolf (1989), den Berlin- bzw. Metropolenroman (1989), Botho Strauß (1993), Martin Walser (1998) und W.G. Sebald (1999). Die Poetologien dieser älteren Autorengeneration lassen keine einschneidenden Veränderungen nach 1989/90 erkennen, wenn man vom Übergang der staatlich kontrollierten DDR-Literatur zu einer ostdeutschen Literatur unter demokratischen und kapitalistischen Bedingungen absieht. Eine Studie, die sich die Untersuchung politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa zur Aufgabe macht, muss folglich analysieren, wie sich literarische Texte und ihre Autorinnen und Autoren auf dem Feld der Gegenwartsliteratur positionieren und in welche Debatten sich ihre Texte einschreiben. Dabei ist davon auszugehen, dass literarische Texte heute keinesfalls mehr eine gesamtgesellschaftlich wirkende moralische Kraft entwickeln können; allerdings positionieren sie sich mindestens innerhalb der Kämpfe um Hegemonie auf dem literarischen Feld. Auch die Themen der Gegenwartsliteratur rücken in den Fokus: Wie gehen die Texte inhaltlich mit der deutschen Vergangenheit (insbesondere der NS-Zeit, aber auch den Kämpfen um ›1968‹, der DDR oder der Wende von 1989/90), den aktuellen nationalen Erinnerungs- und Identitätsdiskursen und der Ausrufung junger, unverkrampfter Generationen um? Welchen Milieus entstammt ihr Figurenarsenal und wie werden die Identitäten der Figuren literarisch konstruiert? Welche ästhetischen Verfahren wenden die Texte an – erneuern sie die Strategien engagierter und avancierter Texte oder lassen sie sich als Beispiele für eine neue deutsche Lesbarkeit, als eine Rückkehr zum Erzählen oder als Popliteratur rubrizieren? Wie inszenieren sich die Autorinnen und Autoren in Verbindung mit ihren Texten als Gesamtkunstwerk auf dem Literaturmarkt? Und schließlich: In welcher Weise lassen sich in den Texten Ansätze einer Repolitisierung der Literatur erkennen? Welche neuen ästhetischen Verfahren entwickeln sie?
1.3. L ITER ATUR ALS S UBVERSION . Z UR U NTERSUCHUNG DES POLITISCHEN S CHREIBENS IN DER DEUTSCHSPR ACHIGEN G EGENWARTSPROSA Micha Brumlik fasst die Situation engagierter Literatur und Autorinnen und Autoren in der Gegenwart treffend zusammen, wenn er feststellt: »Der engagierte Intellektuelle ist von der Bühne abgetreten.« (Brumlik 1997) Wer sich heute, so Heinz Bude apodiktisch, »trotzdem in der Pose des großen Moralisten gefällt, macht sich schnell lächerlich.« (Bude 2001: 33) Für die jüngere Au-
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torengeneration sei ein Intellektueller wie Günter Grass »ein Fossil aus einer abgelebten, desavouierten Ära« (Emmerich 2001: 44),61 sie selbst verfolgen andere Formen des politischen Schreibens, die aber nicht auf einen Begriff zu bringen sind. Norbert Niemann und Georg M. Oswald konstatieren 2001 für ihr Akzente-Heft ›Politik‹, dass zwar die »politische und gesellschaftskritische Kultur bürgerlicher Prägung […] weggebrochen« sei, jedoch »das Politische nicht aus der Literatur.« Allerdings seien »gemeinsame Paradigmen für eine literarische Diskussion der politischen Zustände […] bisher nicht erkennbar.« (Niemann/Oswald 2001: 193) In ähnlicher Weise konstatiert Wilfried F. Schoeller 2009 im Nachwort zur Anthologie Widerstand des Textes, dass sich »[f]ast alle der hier sich äußernden Schriftstellerinnen und Schriftsteller« (Schoeller 2009: 266) vom Typus des engagierten Schriftstellers absetzen, zwar seien die Texte politisch, aber es fehle »bezeichnenderweise an Manifesten und programmatischen Entwürfen.« (Ebd.: 261) Der Literaturwissenschaft ist es bislang noch nicht gelungen, diese Entwicklung eines politischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur nach oder jenseits der engagierten Literatur konzeptionell zu erfassen. Willi Huntemann hat dies noch am ehesten versucht, indem er die verschiedenen Texte von u.a. Marcel Beyer, Friedrich Christian Delius, Ruth Klüger, Hanns-Josef Ortheil und W.G. Sebald als Formen eines ›unengagierten Engagements‹ bezeichnet hat: »Unengagiertes Engagement« als paradoxer Verlegenheitsbegriff mag sich hier anbieten, denn die hier genannten Autorinnen und Autoren würde man nicht als engagierte Literaten bezeichnen […]. Es macht den Strukturwandel politisch-engagierter Literatur in den 90er Jahren aus, daß Engagement […] sich von der Rolle literarischer Leitintellektueller wie auch von irgendwie gearteter Gruppenbildung gelöst hat; es ist auch nicht mehr intentional an die Schreibhaltung des Autors gebunden. (Huntemann 2003: 46)
Auch andere literaturwissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre beschreiben neue Formen des politischen Schreibens nach der engagierten Literatur, ohne jedoch neue Begriffe in die Debatte einzubringen. Anke S. Biendarra analy-
61 | Gerade ältere Autoren wie Günter Grass inszenieren sich noch immer als engagierte Intellektuelle, scheitern allerdings mit diesen Inszenierungen zunehmend, wie beispielsweise 2012 die Auseinandersetzung um sein israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss gezeigt hat. Günther Rüther hat sich 2013 in seiner Studie Literatur und Politik vor allem mit den klassischen Intellektuellen wie Wolf Biermann, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Heiner Müller, Martin Walser und Christa Wolf beschäftigt, leitet aus seinen Analysen jedoch die Vermutung ab, dass »die Frontlinien der geistig-politischen Auseinandersetzung in Zukunft völlig anders verlaufen als im 20. Jahrhundert, nicht weniger kontrovers, nicht in den alte Antinomien wiederholenden Strukturen, sondern vielgestaltiger, d. h. auch unideologischer.« (Rüther 2013: 289f.)
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siert 2008 am Beispiel der Popliteratur und insbesondere der Texte von Kathrin Röggla eine neuere Form politischen Schreibens in der Gegenwart, während sie zugleich konstatiert: »Die Personalunion von engagiertem Schriftsteller und öffentlichem Intellektuellen hat ausgedient und wird […] von jüngeren Schriftstellern nicht selten bewusst abgelehnt.« (Biendarra 2008: 132) Christoph Hägele beschreibt am Beispiel von Rainald Goetz und Thomas Meinecke eine ›Rebellion‹ der jüngeren Autorengeneration »gegen die politischen Übereinkünfte der engagierten Schriftstellerkohorte um Günter Grass und Heinrich Böll.« (Hägele 2010: 264) Deren »Beteiligung am staatsbürgerlichen Diskurs« sei »nur um den Preis der (Selbst-)Zensur, der pflichtschuldigen Unterwerfung unter die diskursiven Gebote und konventionalisierten Schreibweisen zu haben« (Hägele 2010: 260). Wie aber ließen sich neue Formen literarischen Schreibens, die sich von dichotomischen Gegenüberstellungen gelöst haben, wie sie die engagierte Literatur und deren Utopien auszeichneten, in einer postmodernen, globalisierten Zeit, unter Bedingungen einer Transformation der Gutenberg-Galaxis, sinnvoll beschreiben? Die vorliegende Untersuchung wird versuchen, das Verhältnis von Politik und Literatur in der Gegenwart ausgehend vom Begriff der Subversion zu denken. Im Bereich des politischen Schreibens hat sich, so die Ausgangsthese, spätestens in den 1990er Jahren mit seiner veränderten sozialen, politischen und medialen Situation ein Paradigmenwechsel vollzogen, als dessen Folge die Konzepte des Intellektuellen und der engagierten Literatur nicht mehr zu legitimieren sind. Das politische Schreiben endet nicht, vielmehr haben sich bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts vielfältige ästhetische und politische Konzepte der historischen Avantgarde, der avancierten Moderne, des Situationismus, der Pop- und Untergrundliteratur, des spezifischen Intellektuellen und der Mikropolitiken – um nur einige zu nennen – neben bzw. an die Stelle der engagierten Literatur gesetzt. Diese Arbeit wird die soeben aufgezählten Strategien als subversive Konzepte beschreiben und sich den polyvalenten Begriff der Subversion zu diesem Zweck zu Eigen zu machen. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich mit dem Begriff der Subversion die wichtigsten Konzepte politischen Schreibens in der Gegenwart differenziert analysieren. Im Folgenden wird begründet, warum sich angesichts der relativierten gesellschaftlichen Position der Literatur der Begriff der Subversion besonders gut eignet, um das Verhältnis von Literatur und Politik in der Gegenwart zu beschreiben. Zum Beleg dieser These werden einige aktuelle Diskurse und Untersuchungen dargestellt, die unter den veränderten gesellschaftlichen und medialen Bedingungen den Begriff der Subversion fruchtbar machen (1.3.1.). Dann wird die aktuelle Forschungslage zum Verhältnis von Literatur und Subversion zum Gegenstand, damit diese Arbeit ihre Position innerhalb des aktuellen literaturwissenschaftlichen Fachdiskurses bestimmen und zugleich einen Überblick bieten kann, mit welchen Begriffen der Subversion und an welchen Texten literaturwissenschaftliche Arbeiten bislang das Verhältnis von Literatur und Sub-
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version untersucht haben (1.3.2.). Schließlich wird dargestellt, mit welchen Feldern der literarischen Subversion sich eine Untersuchung von subversiven Konzepten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur befassen könnte – und aus welchen Gründen sich die Studie für einen Kanon, der aus den Feldern avancierte Popliteratur (Thomas Meinecke), minoritäre Literatur (Feridun Zaimoğlu) und Untergrundliteratur (Social Beat) besteht, entscheidet (1.3.3.).
1.3.1. Der Begriff der Subversion. Zu seiner Aktualität Das politische Schreiben in der Gegenwart, das sich kritisch zu den komplexen, globalisierten und flexibilisierten Verhältnissen stellt und zugleich seine eigene mediale und gesellschaftliche Position thematisiert und problematisiert, muss sich hybrid gestalten und unterschiedliche ästhetische und politische Strategien nutzen. Der Begriff der Subversion soll helfen, die unterschiedlichen Strategien und Taktiken eines Mediums zu beschreiben, dem diskursiv die Möglichkeit eines realen Eingreifens abgesprochen wird, das sich an den unterschiedlichsten Arsenalen politischen Widerstands bedient und teilweise gegensätzliche Widerstandsstrategien archiviert, reflektiert und gegeneinander verhandelt.62 Zugleich kann davon ausgegangen werden, dass es eine spezifische Fähigkeit des Mediums Literatur sein könnte, die Tauglichkeit der verschiedensten subversiven Strategien und ihre Implikationen kritisch zu prüfen. Wenn diese Untersuchung den Begriff der Subversion prominent nutzt, so sieht sie sich als Teil einer aktuellen Tendenz: Subversion wurde in den 1980er Jahren inflationär gebraucht, um die – optimistisch behauptete – Möglichkeit politischen und ästhetischen Widerstands zu beschreiben; nach 1989/90 ist dieser Optimismus verloren gegangen, denn die Möglichkeit eines großen 62 | Die Arbeiten von Uwe Schütte und Enno Stahl widmen sich einer ähnlichen Fragestellung, nutzen jedoch andere Leitbegriffe. Schütte untersucht Formen einer »extremistische[n] Literatur«, die er als »Steigerungsform radikale[r] Textpraktiken und Poetiken« (Schütte 2006: 14) versteht. Mit Theorien von u.a. Benjamin, Foucault, Girard und Deleuze/Guattari analysiert er Texte von u.a. Kleist, Hölderlin, Büchner, Benn, Jünger, Herbeck und Goetz, die bis 1993 reichen. Seine Arbeit könnte aus Perspektive dieser Studie als eine Analyse ihrer literaturhistorischen Voraussetzungen verstanden werden. Enno Stahl widmet sich in seiner Studie Diskurspogo. Literatur und Gesellschaft sehr ähnlichen Gegenständen wie diese Untersuchung, u.a. werden ebenfalls Autoren wie Thomas Meinecke, Feridun Zaimoølu, Jörg André Dahlmeyer oder Philipp Schiemann oder Phänomene wie die Popliteratur und der Social Beat thematisiert. Als Leitbegriff nutzt Stahl den ›sozial-realistischen Roman‹, ihm geht es um eine »materialistische[ ], das heißt immer auch ideologiekritisch motivierte[ ], Analyse der gesellschaftlichen Funktion und Wirksamkeit von Literatur« (Stahl 2013: 12), die in ihrer kultur- und literaturkritischen Anlage ergänzend zu dieser Studie gelesen werden kann.
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Umsturzes scheint nicht mehr realistisch. Gerade deshalb ist der Begriff der Subversion, zunächst einmal ganz intuitiv gedacht als spielerische Interventionsmöglichkeit auf einer Mikro-Ebene, wieder ins Zentrum der politischen und ästhetischen Theoriebildung gerückt. Es ist kein Zufall, dass nach dem behaupteten Ende der Geschichte von 1989/90 mit ein paar Jahren Verzögerung zahlreiche Sammel- und Überblicksbände erschienen sind, die linksalternative Interventionsformen einer kritischen Prüfung unterzogen oder einfach als Material wieder bereitstellten und mit dem Begriff der Subversion operierten (parallel dazu eigneten sich rechtsradikale Jugend- und Subkulturen einige subversive Konzepte an; davon wird an anderer Stelle die Rede sein). 1993 führt Diedrich Diederichsen den Begriff der Subversion in einem programmatischen Aufsatz wieder in die Debatte über das Verhältnis von Kunst und Politik als zentralen Begriff ein. Die »strategische und taktische Implikation« des Subversionsbegriffs bestimme »immer noch Perspektive und Selbstverständnis derjenigen Künstler […], die den Bezug auf die Welt, das Reale oder die Geschichte noch nicht aufgegeben haben.« (Diederichsen 1993a: 33) Ein Jahr später vereint das Handbuch der Kommunikationsguerilla zahlreiche subversive Künstler, Gruppen (u.a. Dada, Maodada, Radio Alice, Kommune 1, Yippies, Gruppe Spur, William S. Burroughs) und Strategien (u.a. das Verfremdungsprinzip, die subversive Affirmation, Collage und Montage, Cross-dressing) in einem Reader. In dessen Einleitung heißt es: Das Konzept Kommunikationsguerilla ist Teil eines Prozesses, in dem gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse kritisiert und angegriffen werden – neuer und alter Nationalismus, Sexismus/Patriarchat, Rassismus und die mit ihnen verknüpfte kapitalistische Produktionsweise. Es betrachtet die Normalisierung solcher Herrschaftsverhältnisse auf der Ebene der gesellschaftlichen Diskurse und der Formen der Kulturellen Grammatik und formuliert Ansatzpunkte dafür, wie sie in Frage gestellt werden können. Kommunikationsguerilla will die Selbstverständlichkeit und vermeintliche Natürlichkeit der herrschenden Ordnung untergraben. Ihre mögliche Subversivität besteht zunächst darin, die Legitimität der Macht in Frage zu stellen und damit den Raum für Utopien überhaupt wieder zu öffnen. (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 1994: 6f.)
Auch hier wird eine ›mögliche Subversivität‹ zum entscheidenden Ziel politischer Aktionen bestimmt, die allerdings a priori nur eine eingeschränkte Reichweite hätten: Appellierten Intellektuelle noch an universelle Werte, verkündeten sie Utopien einer besseren Welt und stellten sie die Mächtigen radikal in Frage, so gehe es nun – wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der deutschen Vereinigung – vor allem darum, den Raum für solche Fragestellungen ›überhaupt erst wieder zu öffnen‹. Im gleichen Jahr, 1994, druckt die AG Spass muß sein – zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen – den Reader Spaßguerilla neu, um »der allgegenwärtigen Frustration, Trägheit und Phantasielosigkeit etwas entgegenzusetzen« und zugleich »als
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Anstoß sich kritisch mit verschütteter Geschichte auseinanderzusetzen« (AG Spass muß sein 1994: 5f.). Auch in diesem Reader werden zahlreiche Beispiele subversiver Strategien präsentiert, u.a. Strategien wie Montage und Collage, Verfremdung (im Rückgriff auf Brecht) und das unsichtbare Theater als Untergrundaktion; der Text schließt seine Selbstkritik ein und endet mit einem Stück unter dem Titel Zum Teufel mit der Spaßguerilla (vgl. AG Spass muß sein 1994: 69–89 u. 220–223); abschließend werden noch aktuelle Beispiele gelungener Spaßguerilla-Aktionen präsentiert. Steht in der ersten Hälfte der 1990er Jahre also die Archivierung und Revision subversiver Strategien auf der Agenda, so entwickeln sich ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre – parallel zur Formation der internationalen Bewegungen für eine andere Globalisierung – umfassende theoretische Auseinandersetzungen mit dem Subversionsbegriff und seiner zukünftigen Nutzbarkeit. Johannes Agnolis Vorlesungen unter dem Titel Subversive Theorie. ›Die Sache selbst‹ und ihre Geschichte, die den Diskurs subversiver politischer Theorie von der Antike bis zu Karl Marx reflektieren, erscheinen 1996 (vgl. Agnoli 1996). Martin Hoffmann versammelt 1998 in seinem SubversionsReader aktuelle Reflexionen aus dem Bereich der Bewegungslehren (Agentur Bilwet, Anti-Olympia-Komitee, Chaostage Hannover, Hamburger Antifa), der militanten Konzepte (Rote Armee Fraktion, Revolutionäre Zellen, Rote Zora, Fritz Teufel u.a.) sowie der Kultur- und Medienstrategien (Isabelle Graw, Diedrich Diederichsen, Critical Art Ensemble). Hoffmann nutzt den Begriff der Subversion, obwohl dieser »heutzutage, in den Zeiten kaum sichtbarer radikaler gesellschaftlicher Opposition, […] ziemlich überstrapaziert« werde: »Partysanen feiern ihre illegalen Events, der privatisierte Kiffer inhaliert noch einen Hauch von Revolte, und wie subversiv Werbestrategen vorgehen, wissen wir nach der vollständigen Vereinnahmung des Revolutionsbegriffs.« (Hoffmann 1998: 6) Im selben Jahr thematisiert die erste Nummer der neuen Folge der Zeitschrift Die Beute unter dem Titel Subversion des Kulturmanagements »das unglückliche Verhältnis zwischen politischer Linken und künstlerischer Opposition« (Fanizadeh/Ohrt 1998: 7), mit Beiträgen von und über u.a. Diedrich Diederichsen, Paul Gilroy, Jost Müller, Sascha Anderson, Bert Papenfuß und Christoph Schlingensief. In den 2000er Jahren ist der Begriff der Subversion dann noch intensiver reflektiert und genutzt worden, u.a. in Kunstausstellungen,63 Sammelbänden,64 Rea63 | Am 13. Juni 2003 eröffnete das Kunstmuseum Wolfsburg die Ausstellung Baustellen der Subversion: Update #7, die sich insbesondere der dekonstruktivistischen Subversion widmete. 2005 zeigte das Lentos Kunstmuseum in Linz die Ausstellung Just do it! Die Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof, vgl. Lentos Kunstmuseum Linz 2005. Vom 14.-17. Mai 2009 fand im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz die Subversivmesse statt, vgl. Bandi/Kraft/Lasinger 2012. 64 | Vgl. Chlada/Dembowksi/Ünlü 2003; Büsser u.a. 2004. Chlada, Dembowski und Ünlü versammeln u.a. Texte über und Gespräche mit Jürgen Ploog, Rolf Dieter
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dern (vgl. Buero für angewandten Realismus 2000), in zahlreichen film- und medienwissenschaftlichen65 sowie in literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten.
1.3.2. Literatur und Subversion. Zur Forschungslage Tatsächlich ist die Nutzung der Analysekategorie ›Subversion‹ in der Literaturwissenschaft in den 1990er Jahren sprunghaft angestiegen, zahlreiche Monografien, Sammelbände und Aufsätze nutzen den Begriff. Dabei wird er nicht nur in den Titeln von programmatischen Arbeiten wie Die Subversion der Literatur (Kramer 1996b), Das Subversive in der Literatur, die Literatur als das Subversive (Sauerland 1998a) oder Literatur als Subversion (Bordaux 1999) prominent genannt, sondern auch in den Analysen selbst fruchtbar gemacht. Neben der rein quantitativen Beobachtung einer größeren Virulenz dieser Kategorie lässt sich jedoch qualitativ eine breite Heterogenität der als ›subversiv‹ beschriebenen Phänomene sowie der zur Beschreibung einer ›subversiven Literatur‹ genutzten Methoden und Theorien konstatieren. Zudem ist es auffällig, dass sich bislang keine Studie die Mühe gemacht hat, die Kategorie der Subversion aus einer diskursanalytischen und literaturtheoretischen Perspektive zu analysieren und differenziert für Literaturanalysen operationalisierbar zu machen. Eines der zentralen Ziele dieser Studie ist es, diese Lücke in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung zu füllen: Im zweiten Hauptkapitel dieser Untersuchung wird ein literaturwissenschaftliches Modell zur Analyse des politischen Schreibens in der Gegenwart entwickelt und darin unter dem Titel Literaturtheorien der Subversion ein differenzierter Begriff der Subversion zentral gesetzt. Zuvor muss jedoch an dieser Stelle ein Überblick über die bisherigen sehr diversifizierten literaturwissenschaftlichen Bezüge auf den Begriff der Subversion den Forschungsstand abbilden, denn selbstverständlich schreibt sich auch die vorliegende Studie in einen bestehenden literaturwissenBrinkmann, Social Beat/Slam Poetry, Rainald Goetz, Popliteratur, Tocotronic, Die Goldenen Zitronen und Kodwo Eshun. 65 | Im Jahr 2000 wird Amos Vogels Buch Film als subversive Kunst (1974) von einem großen Verlagshaus neu herausgegeben. Als Subversion bezeichnet Vogel die »Zerstörung oder Veränderung der bestehenden Werte, Institutionen, Sitten und Tabus in Ost und West, bei Linken und Rechten«, der subversive Film nehme eine Frontstellung ein gegen die »ewigen Wahrheiten, Kunstregeln, Naturgesetz und Ordnungsprinzip, gegenüber allem, was heilig ist« (Vogel 2000: 16). Zwei Jahre später geben Michael Gruteser u.a. den Sammelband Subversion zur Prime-Time. Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft heraus, der die US-amerikanische Fernsehserie mit den Methoden der Cultural Studies analysiert, vgl. Gruteser u.a. 2002. Unter Nutzung literaturwissenschaftlicher Ansätze analysieren andere Sammelbände die Subversion von Genres und Gender im Mainstream-Film, vgl. Liebrand 2003; Liebrand/Steiner 2004.
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schaftlichen Diskurs über ›Literatur als Subversion‹ ein, den sie jedoch überhaupt erstmals grundlegend ordnen will. Im Folgenden werden zunächst die Bestimmungen des Begriffs ›Subversion‹ in literaturwissenschaftlichen Arbeiten der 1990er und 2000er Jahre rubriziert, anschließend die von diesen Arbeiten genutzten Methoden und Theorien. Zur Bestimmung des Begriffs der Subversion werden in einzelnen Arbeiten lexikalische Verfahren genutzt, die letztlich jedoch unpräzise bleiben und selbst darauf verweisen, dass eine Kontextualisierung und weitere Untersuchungen des Subversionsbegriffs notwendig seien.66 Daneben wird Subversion in seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung einerseits historisch als eine direkte umstürzlerische, politisch-revolutionäre Aktivität gesehen, die sich gegen die herrschende Ordnung wendet, deren Grundlagen untergräbt, den Aufruhr schürt und das gesellschaftliche Ordnungsgefüge auflöst. Anderseits wird sie in den letzten Dekaden (in freien bzw. liberal-demokratischen Gesellschaften) eher bestimmt als eine Form der indirekten, subtilen Kritik mit einem beweglichen bzw. beschränkten Geltungsanspruch – im Gegensatz zu direkten politischen Strategien, Ereignissen oder Entwicklungen wie der Aufklärung, einer Revolution, Rebellion, Kulturrevolution oder dem konkreten politischen Widerstand.67 Aus einer kultur- und medientheoretischen Perspektive wird avanciertes literarisches Schreiben (mit Foucault) innerhalb der Moderne generell als Gegendiskurs bzw. Subversion bestimmt (vgl. Geisenhanslüke 1997: 216 u. 2008) bzw. Literatur wird (in Anlehnung an Jacques Derrida und andere Theoretiker) als mehrschichtiges, vieldeutiges, polyvalentes, selbstreflexives bzw. selbstauflösendes Medium mit unabschließbaren Bedeutungsprozessen beschrieben, was seine subversive Kraft ausmache.68 In literatursoziologischen bzw. diskursanalytischen Untersuchungen werden unterdrückte oder verbotene Texte, die sich mit ihren von der Norm abweichenden Schreibweisen in autoritären Gesellschaften – wie insbesondere der DDR – für künstlerische Freiheit und Autonomie einsetzen, als subversiv bezeichnet.69 In der demokratischen Bundesrepublik gelten hingegen eher subkulturelle und minorisierte Formen der Literatur als subversiv, die ggf. auch mit Geheimcodes bzw. Geheimdienstmetaphoriken operieren.70 Hier rücken vor allem die spezifischen literarästhetischen Formen, die Gattungen und auch die Inhalte ins Zentrum einer Bestimmung von Literatur als Subversion: Literarische Textsorten wie Groteske, Ironie, Parodie, Satire und Sujets des Hässlichen, des Schreckens und des Horrors sowie in Avantgarde-Tradition stehende 66 | Vgl. Ehrenberger 1998: 7; Lubbers 2004: 7; Sauerland 1998b: 5. 67 | Vgl. Bauer 1998: 109; Fliege 1997: 23f.; Sich 2003: 128; Sobkiewicz 1998: 107; Wuthenow 1998: 28. 68 | Vgl. Heimböckel 2005: 53; Kramer 1996b: 25; Masanek 2005: 290; Patri 1998. 69 | Vgl. Giovanopoulos 2000: 381; Leiteritz 1998: 161; Wüst 1989. 70 | Vgl. Fliege 1997: 120; Geer 1995: 69; Sobkiewicz 1998: 106.
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collagierte Texte werden mit dem Signum Subversion versehen.71 Auch die spezifische literarästhetische Nutzung traditionsreicher Gattungen (z.B. von Sonetten) oder ästhetischer Prinzipien (z.B. dem Realismus) wird als subversiv bezeichnet (vgl. Karir 2008 u. Meier 2002). Schließlich wird die subversive Literatur in eine direkte Nähe zum Begriff der Transgression und zur Tradition der Avantgarde gerückt: Hierunter werden literarische Strategien wie die Scheinaffirmation, sprachlich inszenierte Ambivalenzen, die Umkehrung binärer Matrizen bzw. die Pluralisierung oder Entgrenzung von Dualismen sowie die Überschreitung von Schamgrenzen und Tabubrüche gefasst.72 Eine ähnliche Heterogenität wie beim Versuch, den Begriff der Subversion zu bestimmen, findet sich in literaturwissenschaftlichen Arbeiten der 1990er und 2000er Jahren auch, wenn man sich die von ihnen genutzten Literaturtheorien und Methoden sowie ihre Gegenstände ansieht. An erster Stelle wären hier in klassicher Weise textimmanent-hermeneutische Ansätze zu nennen, die sich für eine konkrete, temporäre Kommunikationssituation,73 die Verwendung ironischer, parodistischer oder satirischer Schreibweisen,74 Motive bzw. Topoi der Subversion (vgl. Huntemann 1998) oder Autorselbstinszenierungen (vgl. Scholl 2004) interessieren. Zweitens finden sich (neo-)marxistische, anarchistische und literatursoziologische Ansätze, die ihre Analysen auf Karl Marx (vgl. Günter 1996), Michail Bakunin (vgl. Renner 2005: 124–130) oder die kritischen Denker der Frankfurter Schule und ihres Umfeldes wie Walter Benjamin (vgl. Günter 1996 u. Sobkiewicz 1998) oder Herbert Marcuse (vgl. Baader 1998) stützen. Drittens werden mit Sigmund Freud und Jacques Lacan Vertreter der Psychoanalyse zur Bestimmung des Subversiven herangezogen (vgl. Günter 1996). Es gibt viertens medien- und zeichentheoretische Arbeiten, die sich auf Baudrillard beziehen (vgl. Bordaux 1999). Besonders prominent ist fünftens Michail Bachtins Theorie des Karnevalesken und Grotesken sowie – im Anschluss an seine Ausführungen zur Polyphonie von Texten75 – die Texttheorie Julia Kristevas (vgl. Caduff 1991) und die Theorie der Intertextualität.76 Sechstens werden die Cultural Studies und die deutsche Poptheorie, insbesondere ausgehend von Texten Diedrich Diederichsens, angewandt (vgl. Fliege 1997 u. Geer 1995). Siebtens werden Konzepte des Poststrukturalismus genutzt (vgl. Sich 2003: 74–83), vor allem die Macht- und
71 | Vgl. Bauer 2008; Hohendahl 1993: 13; Huntermann 1998: 136; Leiteritz 1998: 145; Leiteritz 2001: 39 u. 54; Sich 2003: 13; Szczepaniak 1998: 38f. 72 | Vgl. Fliege 1997: 120; Geier 2002: 230 u. 246; Jahraus 2001; Okun 2005: 265f.; Pełka 2005: 180. 73 | Vgl. Bauer 1998; Kapp 2004; Sauerland 1998b; Wuthenow 1998. 74 | Vgl. Hohendahl 1993; Leiteritz 1998; Sich 2003. 75 | Vgl. Bilger 1998; Glaser 1998; Herzmann 1997; Leiteritz 2001: 55–61; Okun 2005,von Essen 1998. 76 | Vgl. Bordaux 1998; Peiter 2007; Plummer 2004; Sich 2003: 38–42.
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Sprachanalyse Michel Foucaults,77 aber auch die Theoreme Roland Barthes’ (vgl. Meyer 2004) und die Theorie der littérature mineure von Gilles Deleuze und Félix Guattari (vgl. Bordaux 1999). Der Dekonstruktivismus ist achtens ebenfalls sehr beliebt zur Analyse der subversiven Potenziale von Literatur; Untersuchungen beziehen sich sowohl auf Jacques Derrida (vgl. Manasek 2005 u. Szczepaniak 1998) als auch auf Paul de Man (vgl. Meyer 2004). Neuntens lässt sich zeigen, dass sich die Gender Studies und die feministische Theorie des Begriffs der Subversion in ihren Literaturanalysen bedienen (vgl. Kennedy 2007 u. McAllister 2005), dabei wird Hélène Cixous’ Theorie eines ›weiblichen Schreibens‹ (vgl. Manasek 2005) ebenso genutzt wie vor allem Judith Butlers Performanztheorie.78 Schließlich operieren zehntens Arbeiten mit dem Begriff der Subversion, die postkoloniale Theorien produktiv machen, wie sie von Homi K. Bhabha, Edward W. Said und Gavatri Chakravorty Spivak entwickelt wurden.79 Zusätzlich zu den meisten hier genannten Theorien werden in dieser Studie noch die Feldtheorie Michel Bourdieus, die Normalismustheorie von Jürgen Link und ihre Adaption für die Literaturwissenschaft in Form einer Positionsfeldtheorie von Rolf Parr sowie der Begriff der Avantgarde genutzt. Die in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten vollzogenen Bestimmungen des Subversionsbegriffs weisen eine große Heterogenität und Widersprüchlichkeit auf, auch die von Arbeiten über subversive Literatur angewandten Theorien weisen in verschiedene Richtungen. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben dieser Untersuchung sein, diese heterogenen Perspektiven zu systematisieren und das Verhältnis von Literatur und Subversion davon ausgehend zu operationalisieren. Dieser Schritt wird im zweiten Kapitel vollzogen. Zuvor wird noch ein Überblick über die Felder subversiver Literatur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gegeben, aus denen die Untersuchungsgegenstände ausgewählt worden sind.
1.3.3. Felder der subversiven Gegenwartsprosa. Der Kanon der Untersuchung Diese Studie analysiert subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Untersucht wird deutschsprachige und nicht die deutsche Literatur, da davon ausgegangen wird, dass man in einer stark internationalisierten Welt, in der zunehmend Autorinnen und Autoren mit migrantischen Biografien
77 | Vgl. Bordaux 1999; Geisenhanslüke 1997; Heimböckel 2005; Meyer 2004. 78 | Vgl. Chołuj 1998; Geier 2002; Gerlach 1998: 142–146; Jahn 1999; Okun 2005; Rutka 2008. 79 | Vgl. Rodena-Krasan 2008; Ruffing 2011; dieser Punkt wurde in der ersten Version dieser Studie noch nicht aufgeführt, weil diese Arbeiten noch nicht erschienen waren.
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oder internationalisierten Lebens- und Wohnsituationen veröffentlichen, nicht mehr an der traditionellen Idee einer homogenen und geschlossenen Nationalliteratur, die als deutsche Literatur zu bezeichnen wäre, festhalten kann. Die Bezeichnung ›deutsche Literatur‹ schließt die österreichische und schweizerische Literatur aus, zudem entsteht deutschsprachige Literatur heute in einigen nicht-deutschsprachigen Ländern (wie z.B. die rumäniendeutsche Literatur, die deutschsprachige Literatur Luxemburgs, die Literatur der deutschsprachigen Minderheit in Belgien oder beispielsweise die Texte W.G. Sebalds, der bis zu seinem Tode in England lebte). Viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren besitzen keinen deutschen Pass oder mehrere Staatsbürgerschaften (wie z.B. einzelne Autorinnen und Autoren aus der Kanak-Bewegung, die zum Gegenstand dieser Arbeit wird); viele Texte problematisieren die Annahme, dass eine einheitliche und geschlossene deutsche Nationalkultur existiere. Von daher ist es sinnvoll, von der deutschsprachigen Erstveröffentlichung eines Buches auszugehen und dieses als deutschsprachig zu klassifizieren. Die Kategorie ›deutschsprachige Literatur‹ meint also Texte, die ganz oder zu großen Teilen80 in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Damit wird zwar noch immer von der Vorstellung ausgegangen, dass sich Texte einer Sprache aufeinander beziehen lassen, aber es wird zumindest die Grundannahme, dass eine deutsche Literatur zugleich auch ein homogenes deutsches Kollektiv konstruiert, in Frage gestellt. Ferner werden damit Felder der deutschsprachigen Literatur in den Fokus gerückt, die in der Vergangenheit eher selten untersucht oder als ästhetisch minderwertig beschrieben wurden, wie z.B. die sog. Migrantenliteratur, deren Bezeichnung überhaupt nur in Abgrenzung von einer deutschen Literatur, deren Autorinnen und Autoren ›echte Deutsche‹ seien, kreiert werden konnte. Der Begriff der Gegenwartsliteratur in der Literaturwissenschaft ist umstritten und muss binnendifferenziert genutzt werden. Ohne davon auszugehen, dass sich um 1989/90 eine literaturhistorische Zäsur vollzogen hätte, untersucht diese Arbeit gegenwartsliterarische Prosa nach 1989/90 – und insbesondere solche Texte, die ab etwa 1995 veröffentlicht wurden –, weil es eine ihrer Arbeitshypothesen ist, dass sich im Anschluss an die zahlreichen Debatten über die deutsche Gegenwartspolitik, -kultur und -literatur nach 1989/90 mit einigen zeitlichen Verzögerungen auch neue ästhetische Ansätze in 80 | Es gibt auch multilinguale literarische Texte mit einem größeren oder kleineren deutschsprachigen Anteil, die seit 2011 beispielsweise im Forschungsprojekt Identitätskonstruktion in mehrsprachiger Literatur: Ein Vergleich zwischen Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden (Multiling) an der Université du Luxembourg untersucht werden. Im Kontext dieser Studie lassen sich sowohl die deutsch- und englischsprachigen Romane Thomas Meineckes als auch die hybride Kanak Sprak von Feridun Zaimoølu als multilinguale Literaturen klassifizieren, die allerdings zu größten Teilen die deutsche Hochsprache nutzen.
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spezifischen Segmenten des literarischen Feldes der Bundesrepublik Deutschland entwickelt bzw. mit einer größeren Relevanz etabliert hätten. Abb. 1: Felder der (subversiven) deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Die Texte von Wolfgang Hilbig (* 1941) und Elfriede Jelinek (* 1946) wurden bereits zu einem bevorzugten Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, die sich mit dem Verhältnis von Subversion und Literatur beschäftigt haben.81 Neben Hilbig und Jelinek gibt es zahlreiche weitere Autorinnen und Autoren, Zeitschriften, Magazine und Verlage, die sich für eine Untersuchung anbieten würden. Hierzu zählen die Bereiche der avancierten Popliteratur, der minoritären, interkulturellen bzw. Migrantenliteratur und der unabhängigen bzw. Untergrund-Literatur, die im weiteren Verlauf dieser Studie analysiert werden, sowie die Bereiche der neoavantgardistischen Literatur 82 und der satiri81 | Vgl. zu Hilbig: Bauer 1998; Bordaux 1999; zu Jelinek: Caduff 1991; Ernst 2008a; Geier 2002; Heimböckel 2005; Masanek 2005; Pełka 2005; Szczepaniak 1998. 82 | In den folgenden Fußnoten wird jeweils eine Reihe von Autorinnen und Autoren aufgelistet, die dem jeweiligen Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zugehörig sind, also nach 1989/90 Texte veröffentlicht haben, denen von der Literaturkritik,
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schen Literatur.83 Aber auch andere Bereiche wie die Science-Fiction, inter-wissenschaft, ihrem Verlag oder in Autoräußerungen ein Verhältnis zur Subversion zugeschrieben worden ist bzw. die dem jeweiligen literarischen Feld zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen können sich im Einzelfall bei einer näheren Untersuchung auch als problematisch oder unzutreffend erweisen, diese Listen sind jedoch ein Pool, aus dem künftige Untersuchungen, die Formen politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur untersuchen wollen, schöpfen können. Sie zeigen erstens, aus wie vielen unterschiedlichen literarischen, geografischen und generationellen Zusammenhängen sich subversive Literaturen speisen, und zweitens, dass noch viel Untersuchungsarbeit geleistet werden muss (wobei zu einzelnen Autorinnen und Autoren bereits literaturwissenschaftliche Arbeiten vorliegen). Die Listungen zu den Feldern ›avancierte Popliteratur‹, ›Migrantenliteratur‹ und ›Untergrundliteratur‹, die zum Gegenstand der Literaturanalysen in den Kap. 3 bis 5 werden, finden sich zu Beginn der jeweiligen Analysekapitel. Zum Bereich der neoavantgardistischen Literatur zählen Texte von Marcel Beyer (* 1965), Wolfgang Hilbig (1941–2007), Johannes Jansen (* 1966), Reinhard Jirgl (* 1953), Jürgen Link (* 1940), Jürgen Ploog (* 1935), Carl Weissner (1940–2012), Ror Wolf (* 1932) und Paul Wühr (* 1927), die Lyrik von Dieter M. Gräf (* 1960), Thomas Kling (1957–2005), Barbara Köhler (* 1959), Michael Lentz (* 1964) und Oskar Pastior (1927–2006) sowie die Texte aus dem Umfeld der literarischen Avantgarde-Zeitschriften Perspektive (Berlin/Graz/Köln) und Idiome. Hefte für neue Prosa (Wien/Berlin), u.a. von Ralf B. Korte (* 1963), Florian Neuner (* 1972), Lisa Spalt (* 1970) oder Ulf Stolterfoht (* 1963). Diese Traditionslinie ist vor allem bei österreichischen Autoren stark, die sich in der formalen Tradition der Avantgarde-Literatur bewegen oder diese in herausragender Weise reflektieren, hier wären zu nennen Ilse Aichinger (* 1921), Franz Josef Czernin (* 1952), Elfriede Czurda (* 1946), Elfriede Gerstl (1932–2009), Ernst Jandl (1925– 2000), Friederike Mayröcker (* 1924), Kathrin Röggla (* 1971), Gerhard Rühm (* 1930), Ferdinand Schmatz (* 1953), Franz Schuh (* 1947), Waltraud Seidlhofer (* 1939), Marlene Streeruwitz (* 1950), Peter Waterhouse (* 1956) und Oswald Wiener (* 1935). 83 | Das Feld der satirischen Literatur suggeriert durch die gegen seine Texte und Autoren angestrengten Prozesse und Verbote eine direkte subversive Wirksamkeit. Die Satirezeitungen Titanic und Eulenspiegel sowie die Wahrheitsseite der taz veröffentlichen regelmäßig entsprechende Texte. Unter dem Label Neue Frankfurter Schule mit den ›Urvätern‹ Eckhard Henscheid (* 1941) und Robert Gernhardt (1937–2006) und anderen Autoren der ersten NFS-Generation wie F.W. Bernstein (* 1938), Bernd Eilert (* 1949), etablierte sich eine literaturwissenschaftlich noch verhältnismäßig wenig erforschte Richtung sprachkritischer und spielerischer subversiver Literatur, die in den ehemaligen Titanic-(Chef-)Redakteuren Stefan Gärtner (* 1973), Thomas Gsella (* 1958), Oliver Maria Schmitt (* 1966), Martin Sonneborn (* 1965) und MarkStefan Tietze (* 1966) sowie in verschiedenen Texten von Klaus Bittermann (* 1952), Funny Van Dannen (* 1958), Wiglaf Droste (* 1961), Eugen Egner (* 1951), Max Goldt (* 1958), Gerhard Henschel (* 1962), Wolfgang Herrndorf (1965–2013), Thomas
Literatur und Politik
mediale Erzählformate wie Comics und Cartoons oder die Netzliteratur,84 das postdramatische Theater, 85 wie es von Hans-Thies Lehmann beschrieben wird (vgl. Lehmann 1999), oder Formen des Happenings 86 oder neue Formen des kritischen und dialektal geprägten ›Volkstheaters‹ 87 wären geeignete Gegenstände einer Arbeit über subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die vorliegende Studie hat nun – angesichts der vielfältigen Möglichkeiten bei einem zugleich begrenzten Untersuchungsraum – eine Auswahl getroffen, die auf einigen naheliegenden Vorentscheidungen beruht. Die Entscheidung für die populärste und damit gesellschaftlich relevanteste Gattung Prosa schließt die Untersuchung von Happenings, postdramatischen Theatertexten und der avancierten Lyrik aus und erhöht die Vergleichbarkeit der untersuchten Gegenstände. Damit die Arbeit analysieren kann, inwiefern Traditionslinien politischen Schreibens nach 1989/90 fortgesetzt oder modifiziert werden, ist es zudem notwendig, vor und nach 1989/90 präsente Felder der Gegenwartsliteratur zu untersuchen, weshalb sie sich dem alten Medium Buch zuwenden wird und nicht Beispielen der Netzliteratur. Für das Feld der avancierten Literatur liegen bereits einige Forschungsergebnisse vor (s.o.), die die Texte in ein Verhältnis zum Subversionsbegriff setzen. Für die satirische Literatur bietet Kapielski (* 1951), Peter Köhler (* 1957), Brigitte Kronauer (* 1940), Fanny Müller (* 1941), Jürgen Roth (* 1968), Harry Rowohlt (* 1945), Michael Rudolf (1961–2007), Christian Y. Schmidt (* 1956) und Fritz Tietz (* 1958) viele Apologeten, Erneuerer oder verwandte Autorinnen und Autoren gefunden hat. Auch die absurden Texte von Helge Schneider (* 1955), Barbara Kalenders (* 1958) und Jörg Schröders (* 1938) den Literaturbetrieb entlarvende Reihe Schröder erzählt oder die kabarettistischen Texte von z.B. Matthias Beltz (1945–2002), Josef Hader (* 1962), Maren Kroymann (* 1949), Volker Pispers (* 1958) oder Georg Schramm (* 1949) könnten untersucht werden. 84 | Hier könnten z.B. die Science-Fiction-Vision RunRabbitRun von Nadja Sennewald (* 1971), die Comics und Cartoons von Ralf König (* 1960), Walter Moers (* 1957), Tex Rubinowitz (* 1961) oder F.K. Waechter (1937–2005) oder Formen der Netzliteratur von Florian Cramers (* 1969), Peter Glaser (* 1957) oder Alban Nikolai Herbst (* 1955) zum Gegenstand werden. 85 | Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek (* 1946), René Pollesch (* 1962), Falk Richter (* 1969), Kathrin Röggla (* 1971) sowie die Gruppe Rimini-Protokoll mit Helgard Haug (* 1969), Stefan Kaegi (* 1972) und Daniel Wetzel (* 1969) realisieren Theatertexte, die in diesem Zusammenhang zu untersuchen wären. 86 | Im Bereich des Happenings wären u.a. Christoph Schlingensiefs (1960–2010) Projekte Chance 2000 und Ausländer raus. Bitte liebt Österreich eine Untersuchung zum Verhältnis von Literatur und Subversion wert. 87 | Hier wäre zu fragen, inwiefern Künstler wie u.a. Herbert Achternbusch (* 1938), Franz Xaver Kroetz (* 1946) und Gerhard Polt (* 1942) in den 1990er und 2000er Jahren andere Filme bzw. Theater- oder Kabaretttexte vorlegen.
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Literatur und Subversion
sich eine Untersuchung an, die die Texte der Neuen Frankfurter Schule und der Satirezeitung Titanic aus der Perspektive der gegen sie angestrengten Klagen und Prozesse betrachtet; dies erfordert jedoch einen interdisziplinären, literaturwissenschaftlich-juridischen Ansatz. Die vorliegende Arbeit wird die Texte primär als Teil eines literarischen Diskurses untersuchen, nicht als Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen.88 Somit bieten sich auf Basis der einleitenden Liste und der zuletzt geleisteten Ausschlüsse noch drei Felder der Gegenwartsliteratur an, deren Untersuchung anhand exemplarischer Texte im Rahmen dieser Arbeit geleistet werden soll: Die avancierte und experimentelle Popliteratur, die minoritäre, interkulturelle bzw. Migrantenliteratur und die unabhängige bzw. Untergrund-Literatur. Die Bezeichnung und Abgrenzung dieser Felder ist in hohem Maße problematisch, zumal sich im Laufe der Untersuchung zeigen wird, dass einige der analysierten Texte mit diesen ihnen zugeschriebenen Etikettierungen spielen. Als Ausgangspunkt für die Textauswahl mögen diese Zuschreibungen jedoch vorerst sinnvoll erscheinen. Auf den drei zu untersuchenden Feldern mussten nun Texte und Autorinnen und Autoren ausgewählt werden, die exemplarisch für neue ästhetische Entwicklungen des politischen Schreibens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 stehen könnten und idealerweise im Zeitraum zwischen 1995 und 2000 veröffentlicht wurden, in dem sich die literarästhetischen Paradigmen durch eine jüngere Autorengeneration deutlich verschoben haben. Das Feld der avancierten Popliteratur soll anhand zweier Romane von Thomas Meinecke untersucht werden, der als Autor, DJ und Musiker eine gebrochene Autorfigur darstellt, die dem traditionellen Intellektuellen entgegensteht. Anhand seiner Texte wird sich zeigen lassen, wie sich gegenwartsliterarische Texte durch die Bezugnahme auf popkulturelle Arsenale ebenso wie auf Theoreme der Gender Studies und der postkolonialen Theorie Diskurse der Subversion archivieren, reflektieren und teilweise auch ironisieren (Kap. 3). Danach wird die minoritäre bzw. Migrantenliteratur am Beispiel Feridun Zaimoğlus analysiert, der ab 1995 mit seinem Kanak Sprak-Konzept die Kanak-Bewegung ins öffentliche Bewusstsein brachte und den Übergang von einer sog. Migrantenliteratur zu einer Kanak-Bewegung literarisch markiert. In Zaimoğlus Texten zeigen sich die subversive Aufladung minoritärer Identitäten und Sprachen, die jedoch zugleich dekonstruiert werden, sowie eine ironische Bezugnahme auf die Kategorie und die Merkmale der Migrantenliteratur. Zugleich finden sich in den Texten zahlreiche Konstruktionen von Orten der Subversion wie dem Untergrund oder dem Ghetto. Während im vereinten Deutschland zunehmend Diskurse der nationalen Normalisierung wirksam wurden, subvertiert das Konzept der Kanak Sprak diese homogeni88 | Eine solche Analyse habe ich an anderer Stelle auf der Basis des hier entwickelten Konzepts für das Satiremagazin Titanic vorgelegt, vgl. Ernst 2011b.
Literatur und Politik
sierten und rekonstruierten Identitäten und wirkt sogar in den Mainstream hinein (Kap. 4). Schließlich wird die unabhängige bzw. Untergrundliteratur anhand einer Anthologie und von Selbstbeschreibungen der Social-Beat-Bewegung, die sich von 1993 bis etwa 1999 formierte, untersucht. Diese literarische Bewegung, die den Diskurs über die subversive Kraft des Untergrunds, der Verweigerungshaltung und der ökonomischen Unabhängigkeit wiederzubeleben versucht, steht in direktem Kontrast zu einer zunehmenden Kritik am Konzept einer unabhängigen Literatur, die in der These vom ›Mainstream der Minderheiten‹ kulminiert. Daher muss gefragt werden, inwiefern sich ein literarischer Rekurs auf Untergrund-Konzepte in einer liberalen Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland und unter den Bedingungen der Neuen Medien gegenwärtig noch trägt (Kap. 5). Diese Arbeit untersucht Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und nimmt dabei eine germano- und eurozentrische Perspektive ein, sie reflektiert vor allem die sozialen, ökonomischen, politischen und medialen Entwicklungen in Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland. Ein Problem ihrer Gegenstandauswahl ist, dass sie Autorinnen (mit kleinem ›i‹) nur auf dem Feld der Untergrundliteratur repräsentiert, allerdings wurden die Texte beispielsweise von Elfriede Jelinek bereits an anderer Stelle unter derselben Fragestellung untersucht (vgl. Ernst 2008a). Vor der eingehenden Analyse der drei genannten Felder der Gegenwartsliteratur steht im folgenden Kapitel die literatur- und kulturtheoretische Differenzierung des Begriffs der Subversion, in deren Verlauf zugleich ein operationalisierbares Modell zur Analyse der subversiven Gegenwartsliteratur entwickelt wird.
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2. Der Begriff der Subversion und Literatur als Subversion D ISKURSANALYSEN, L ITERATUR - UND K ULTURTHEORIEN, A NALYSEMODELLE
Wie das Netz der Machtbeziehungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein, so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten. Und wie der Staat auf der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen. Michel Foucault (1995: 118)
Dem Begriff der Subversion werden sehr verschiedene Bedeutungen zugeschrieben. Während im Alltagsverständnis mit dem Begriff der Subversion ›umstürzlerische Umtriebe‹ verbunden werden und ihn der Duden aus dem Lateinischen herleitet und als »Umsturz« (Dudenredaktion 1996: 721) übersetzt, wird der Begriff inzwischen sogar als Markenname genutzt: Ein Versionsverwaltungssystems für Dateien und Verzeichnisse heißt Subversion.89 Ästhetische Konzeptionen so unterschiedlicher Denker wie Jean Genet, Theodor W. Adorno, Botho Strauß oder Karlheinz Bohrer, die Kunst in einer als elitär kritisierten Weise dem Alltagsleben der Massengesellschaft entgegenstellen, begreifen sich selbst als ›pro89 | Das OpenSource-Projekt Subversion wird auch als SVN abgekürzt und hilft, »verschiedene ›Versionen‹ einer Datei (d.h. Änderungsschritte) festzuhalten und diese bei Bedarf wieder zu rekonstruieren. Außerdem ermöglicht das System das gleichzeitige Arbeiten mehrerer Entwickler an dem selben [sic!] Datenbestand. Subversion wird seit 2000 als Nachfolger des sehr verbreiteten Concurrent Versions Systems (CVS) entwickelt« (http://chipdesign.uni-hannover.de/chipdesign/dokumentation/software/svn. shtml). Dieses Programm der Subversion hilft also beispielsweise einem Team von 20 Produktentwicklern, Modifikationen an derselben Datei durchzuführen und die Ord nung gerade nicht umzustürzen, sondern zu bewahren und ggf. wiederherzustellen (vgl. Collins-Sussman u.a. 2005). Aktuell ist Apache Subversion als freie Software zur Dokumentation verschiedener Unter-Versionen erhältlich.
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Literatur und Subversion
gressiv‹, werden jedoch als ›konservativ‹ beschrieben, da sie einem L’art pour l’art das Wort redeten, das politische Subversion oder Emanzipation eher verhindert statt fördert. Spätestens seit den 1990er Jahren werden auch verschiedene neonazistische Strategien als ›kulturelle Subversion‹ oder als ›popkulturelle Positionierung‹ beschrieben, nachdem der Begriff zuvor vor allem mit ›linken‹ politischen Projekten verbunden war (vgl. Schröder 2000 u. Wagner 1998a). Wenn ein Begriff, der ›Umsturz‹ bedeuten soll, nun jedoch bereits von Verwaltungssystemen okkupiert worden ist, wenn er zur Beschreibung sowohl ›politisch linker‹ als auch ›politisch rechter‹ Aktionen genutzt wird, welche differenzierende Qualität hat er dann überhaupt noch? Für die wichtigsten deutschen Wörterbücher oder Lexika wie Kluges Etymologisches Wörterbuch, Wahrigs Deutsches Wörterbuch, das Duden-Wörterbuch, die Brockhaus-Enzyklopädie oder Meyers Taschenlexikon, die den Begriff der Subversion lexikalisch und synchron zu bestimmen versuchen, ist Subversion eine auf den Umsturz (bzw. die Zerstörung) der bestehenden staatlichen Ordnung zielende (verschwörerische und meist im Verborgenen betriebene) Tätigkeit.90 Exemplarisch stellt das Wörterbuch der Philosophie fest, der Begriff finde sich im deutschen Sprachraum »erstmals 1813 im Campeschen Wörterbuch, ohne daß vorherige Belege bekannt wären«. Subversion wird – unter Verweisen auf die Französische Revolution und die marxistische Theorie – als »›Umstürzung‹ oder ›Umsturz‹« definiert (Ritter/Gründer 1998: 568). Diese Wörterbuch-Definition gestaltet sich in anderen Sprachen ähnlich, Subversion ziele auf einer politischen Ebene auf den Umsturz der herrschenden Staatsordnung.91 90 | Meyers Großes Taschenlexikon definiert Subversion als eine »auf Umsturz der bestehenden Ordnung zielende Tätigkeit im Verborgenen« (Meyers Lexikonredaktion 2003: 7286) und orientiert sich dabei an der Brockhaus-Enzyklopädie, denn in dieser steht Subversion »bildungssprachlich für: auf den Umsturz der bestehenden staatlichen Ordnung zielende, meist im Verborgen betriebene Tätigkeit« (Brockhaus-Redaktion 2006: 561); ganz ähnlich lautet es auch im Duden-Wörterbuch, Subversion sei eine »meist im verborgenen betriebene, auf die Untergrabung, den Umsturz der bestehenden staatlichen Ordnung zielende Tätigkeit.« (Wissenschaftlicher Rat 1999: 3811) Wahrigs Deutsches Wörterbuch bezeichnet Subversion als »Staatsumsturz« (Wahrig 2008: 1441), Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache bestimmt nur das Verb subversiv als »›umstürzlerisch‹ (19. Jh.)« (Kluge 2011: 897). Auch das Etymologische Wörterbuch des Deutschen in der DDR definiert ganz ähnlich: »›Umsturz, Zerstörung‹ (Ende 18. Jh.), danach (Mitte 19. Jh., unter Einfluß von engl. subversion) ›versteckt betriebene, verschwörerische Tätigkeit zur Untergrabung der Grundlagen eines Staates‹, entlehnt aus spätlat. subversio […] ›Umkehrung, Umsturz, Zerstörung‹« (Autorenkollektiv 1989: 1758). 91 | Vgl. etwa im Französischen (Godefroy 1969: 586; Rey 1998: 3670), Englischen (Simpson/Weiner 1989: 88f.) oder Spanischen (Moliner 1998: 1139). Das Oxford
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
Andere Lexika oder Wörterbücher von Spezialdisziplinen erweitern diese Bestimmung. Im Lexikon zur Soziologie schreibt beispielsweise Michael Schetsche, hinter dem Begriff der Subversion verbergen sich Aktivitäten von Personen(gruppen), die auf die Destabilisierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und besonders der staatlichen Herrschaft abzielen. Im erweiterten Sinne auch Bezeichnung für symbolische Aktionen, die den Staat lächerlich machen sollen (Spaß-Guerilla). (Schetsche 1994: 658)
Auf diese Weise wäre der Begriff nicht nur auf dem politischen Feld, sondern auch auf dem künstlerisch-medialen Feld mit einer jeweils anderen Bedeutung aufgeladen. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie zeigt Hans-Dieter Gondek, wie der Begriff seinen Weg aus dem Spätlateinischen92 und der Bibel93 während der Französischen Revolution als politische Kampfvokabel in verschiedene europäische Nationalsprachen gefunden hat.94 Im 20. Jahrhundert habe der Begriff der Subversion eine anti-kapitalistische und anti-hegemoniale Ausrichtung erhalten und sei auch auf künstlerische Praktiken ausgeweitet worden, »die die herrschenden Diskurse verlassen« (Gondek 1998: 571). In ähnlicher Weise schreibt der Anglist Klaus Lubbers in seiner etymologischen Einführung95 für den Band Subversive Romantik (2004), dass sich der English Dictionary nennt allerdings eine zusätzliche Bedeutung und definiert das Verb subvert auf sieben Weisen: »To overthrow, raze to the ground […]. To upset, overturn (an object) […]. To evert (the eyelid). […] To upset (the stomach, appetite). […] To undermine the character, loyalty, or faith of, corrupt, pervert (a person). […] To disturb (the mind, soul); to overturn, overthrow (a condition or order of things, a principle, law, etc.). […] To bring about the overthrow or ruin of (a person, people or country, a dynasty, etc.).« (Simpson/Weiner 1989: 88). Die letzten beiden genannten Bedeutungen verweisen hier auf den Staatsumsturz. 92 | Im Spätlateinischen etablierte sich das Verb subvertere mit der Bedeutung ›umkehren, umstürzen, vernichten‹ als Kompositum aus sub (lat. ›unter‹) und vertere (lat. ›(um)wenden, -kehren, -drehen). Als ›subversor legum‹ wurde der Verderber der Gesetze, als ›humani generis subversio‹ der reinigende Effekt von Katastrophen bezeichnet, vgl. Gondek 1998: 567f. 93 | Die Zerstörung von Sodom und Gomorrha wird als ›subversio‹ bezeichnet, vgl. Gen 19,29; die Verderber der guten Sitten als ›subversores‹, vgl. Hezekiel 2,6. 94 | Das französische Wörterbuch Le grand Robert verzeichnet »den ersten Beleg des Wortes für 1780, also noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts« (Ehrenberger 1997: 8). 95 | Lubbers schreibt zur Etymologie des Begriffs: »Das klassische Latein kennt lediglich das Verb: subvertere begegnet sowohl im eigentlichen Sinn (›von unterst zu oberst kehren‹, ›umstürzen‹, etwa in subvertere mensam bei Sueton) wie in übertragener Bedeutung (›stürzen‹, ›vernichten‹, etwa bei Tacitus in subvertere iura oder bei Justin in subvertere imperium). Das Englische entlehnt das Verb im frühen 16. Jahrhundert
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Begriff seit Ende des 18. Jahrhunderts auf immer mehr Bedeutungsfelder ausgeweitet habe. Bis dahin habe er nur eine politisch-militärische Bedeutung besessen, seither habe das Wort ›subversiv‹ die politisch-gesellschaftliche Dimension aus(gebaut), indem es sich auf das Stören, Schwächen, Durcheinanderbringen, Zerrütten eines Regierungssystems, eines Landes, eines Prinzips erstreckt. Zugleich weicht der im übertragenen Sinn vorhandene Gedanke der offenen, frontalen Attacke […] zunehmend dem Gedanken des verborgenen, heimlichen Angriffs. Das Adjektiv bezieht sich im Englischen wie im Deutschen auf politisch-gesellschaftliches Denken und Handeln. Es gibt subversive Texte, Lehren, Pläne, Elemente. Subversives Denken und Handeln zielt nicht auf den eigenen Machtzuwachs, sondern auf die Machtminderung des Angegriffenen. Es äußert sich sowohl offen als auch und vor allem verdeckt. (Lubbers 2004: 16)
Eine ausführliche Differenzierung des Begriffs Subversion, die leider auch Lubbers nicht leistet, soll nun in der vorliegenden Arbeit auf drei Ebenen geleistet werden.96 Der erste Zugriff ist ein allgemeiner und alle gesellschaftlichen Felder einbeziehender Versuch der Begriffsbeschreibung: In einer diachronen Diskursanalyse werden die vier wichtigsten Bedeutungsfelder des Subversionsbegriffs, die sich in den vergangenen zweihundert Jahren in den medialen, politischen, alltäglichen, wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen des deutschsprachigen Raumes formiert haben und die heute nebeneinander existieren, untersucht und anhand von historischen Beispielen, die die jeweils zentralen Bedeutungen der Diskurse repräsentieren, vorgestellt. Direkt anschließend werden zweitens diese vier Diskurse der Subversion jeweils mit Literaturtheorien der Subversion verbunden. Schließlich geht diese Untersuchung drittens davon aus, dass in Texten der Gegenwartsliteratur spezifische Topoi, Topografien, Personen und Strategien der Subversion verhandelt werden, die ebenfalls einen wichtigen Hintergrund für die Literaturanalysen darstellen und kursorisch präsentiert werden. Die folgende diachrone Diskursanalyse setzt mit der Verbreitung des Begriffs während der Französischen Revolution in Europa ein und reicht bis in
und leitet von to subvert im frühen 17. Jahrhundert das Abjektiv subversive ab. Dieses wiederum wandert im 19. Jahrhundert als ›subversiv‹ ins Deutsche. Das englische Verb to subvert meint im eigentlichen Sinn ›schleifen‹, ›niederreißen‹, ›dem Erdboden gleichmachen‹. Es tradiert und konkretisiert also die im Lateinischen übertragen vorhandene politisch-militärische Bedeutung.« (Lubbers 2004: 16) 96 | Die folgenden Ausführungen zum Begriff der Subversion sind in Teilen bereits veröffentlicht worden, vgl. vor allem Ernst u.a. 2008 u. 2008c sowie u.a. Ernst 2008b, 2010a u. 2013.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
die Gegenwart, wobei sie zwangsläufig selektiv vorgehen muss.97 Die entscheidende Fragestellung ist dabei, wie sich in den vergangenen mehr als 200 Jahren im deutschsprachigen Raum verschiedene Bedeutungen und Konzepte des Begriffs der Subversion entwickelt haben.98 Die Methode der diachronen Diskursanalyse fragt danach, zu welcher Zeit und in welchem gesellschaftlichen Diskurs welche Regeln und Formen des Sprechens über den Begriff der Subversion bestanden und wie sich der jeweilige Diskurs bis heute weiterentwickelt hat (vgl. u.a. Parr 2008b). Schwierig ist dabei, dass viele Debatten um den Begriff der Subversion kontrovers, widersprüchlich, ironisch und uneindeutig geführt wurden, ähnlich wie die Debatten um den Begriff des Intellektuellen oder der Avantgarde (vgl. Schlich 2000: 8f.). Die Analyse orientiert sich weitestgehend an kanonischen Texten oder solchen, die dem Begriff der Subversion eine wichtige Rolle einräumen oder aber als Standardwerke des jeweiligen Diskurses der Subversion gelten können. Die Analyse der vier verschiedenen Diskurse der Subversion muss dabei jeweils ähnliche Fragen beantworten: Es soll geklärt werden, wann der jeweilige Diskurs entsteht, wer ihn begründet, auf welchen gesellschaftlichen Feldern er wirksam wird und wer an ihm vorrangig partizipiert. Zudem muss untersucht werden, welche Gegnerschaften, institutionellen Frontstellungen oder binären Herrschaftsstrukturen in den entsprechenden Diskursen konstruiert werden, worauf ihre Reproduzenten zielen, welche Wirkungen behauptet werden. Schließlich wird analysiert, ab wann der jeweilige Diskurs den Begriff der Subversion nutzt, in welchen (Spezial-)Diskursen er sich bewegt (politisch-institutioneller Diskurs, subkultureller Alltagsdiskurs, Kunstdiskurs, wissenschaftlicher Diskurs), wie sich die jeweilige Form der Subversion versteht und was ihre Strategien sind. Nach Klärung dieser Punkte sollte bestimmbar sein, ob eine spezifische Tätigkeit als ›subversiv‹ zu bezeichnen ist und, wenn ja, in welcher Weise, in welchen Diskursen und mit welcher behaupteten Wirkung und gesellschaftlichen wie zeitlichen Nachhaltigkeit. Die vorliegende Studie wird zeigen, dass sich im deutschsprachigen Raum heute vier verschiedene Diskurse von Subversion voneinander unterscheiden lassen, die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern entwickelt und 97 | Eine umfassende Geschichte des Begriffs Subversion von seinen Anfängen bis in die Gegenwart kann im Kontext dieser Arbeit nicht geschrieben werden, als Verweise auf die Bedeutungsgeschichte des Begriffs, bevor er sich Ende des 18. Jahrhunderts in Europa verbreitete, mögen die bisherigen Ausführungen dienen. 98 | Begriffsgeschichtliche Ausführungen zur Bedeutung des Begriffs Subversion vor dem 19. Jahrhundert finden sich in Ritter/Gründer 1998: 567f. Bis zur Französischen Revolution beschreibt Röttgers z.B. für Frankreich drei Bedeutungen des Begriffs: Erstens die »Zerstörung, z.B. eines Hauses, einer Stadt, eines Staates«, zweitens die »Bedeutung des Untergrabens und Verderbens der herrschenden Sitten« sowie drittens die »Bedeutungskomponente des Aufruhrs« (Ritter/Gründer 1998: 568).
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Literatur und Subversion
historisch nebeneinander gestellt haben. Dabei handelt es sich um den politisch-institutionellen Diskurs der Subversion (2.1.), den künstlerisch-avantgardistischen Diskurs der Subversion (2.2.1.), den subkulturellen Diskurs der Subversion (2.3.1.) sowie den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion (2.4.1.), diese Diskurse der Subversion stehen in einem komplexen und widersprüchlichen Verhältnis zueinander (2.5.1.). An die vier Diskurse der Subversion lassen sich jeweils literarische Diskurse der Subversion anschließen, in denen Literatur als revolutionäres Manifest (2.1.), als (Neo-)Avantgarde (2.2.2.), als minoritäre Distinktion (2.3.2.) oder als Dekonstruktion (2.4.2.) beschrieben werden kann. Schließlich wird als Resultat dieser Ausführungen die Konzeption eines literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysemodells von Literatur und Subversion präsentiert (2.5.2.), das schließlich am Beispiel der literarischen Texte von Thomas Meinecke, Feridun Zaimoğlu und des Social Beat erprobt werden soll.
2.1. D ER POLITISCH - INSTITUTIONELLE D ISKURS DER S UBVERSION : S UBVERSION ALS RE VOLUTIONÄRER S TA ATSUMSTURZ UND DIE M ANIFESTE DER R E VOLUTION Der Begriff Subversion ist seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart von staatlichen Stellen, aber auch von ›den Subversiven‹ selbst, genutzt worden, um politisch-revolutionäre Massenbewegungen oder aber terroristische Aktivitäten, die auf den Umsturz des Staats und seiner Institutionen zielen, zu beschreiben.99 Während dieses Verständnis der Subversion im 19. Jahrhundert im Vordergrund steht, büßt der politisch-institutionelle Diskurs der Subversion im Verlauf des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung ein. Viel eher werden solche Aktivitäten inzwischen als Terrorismus, Extremismus, Revolution oder Rebellion bezeichnet. Im politisch-institutionellen Diskurs der Subversion zielt ›die subversive Tat‹ auf eine konkrete politische Wirkung und auf die Auflösung oder Beschädigung der staatlichen Institutionen und ihrer Repräsentanten. Die Legitimation dieser häufig militanten Aktionen erfolgt, indem der akute politisch-revolutionäre Kampf als eine Einzeletappe geschichtsphilosophisch beschriebener oder ontologisch begründeter politischer, sozialer,
99 | Auf einen umfassenden Überblick über die Nutzung des Begriffs für politisch oppositionelle Strategien, die sich gegen politisch hegemoniale Institutionen richten, beispielsweise im Nationalsozialismus (vgl. Mauch 1993: 60f., 77) oder in der DDR, muss hier verzichtet werden. Elisabeth Ehrenberger spricht hier von einer »subversiven Kriegsführung«, dahinter verberge sich »eine Taktik ohne Fairneß, die auf der Vortäuschung beruht, auf dem Verrat, übler Propaganda, Attentaten und Sabotage« (Ehrenberger 1997: 11).
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
ökonomischer, religiöser, geschlechtlicher, generationeller etc. Auseinandersetzungen interpretiert wird. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich zwischen den 1960er und den 90er Jahren eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs vollzogen. Während der Studierendenbewegung um 1968 und in deren Nachfolge nutzen politisch linksradikale oder terroristische Gruppen den Begriff noch nicht affirmativ, sondern nur als einen, der ihnen von den staatlichen Organen zugewiesen wird. Rudi Dutschke bezeichnet das eigene Programm als eine ›Kulturrevolution‹ bzw. einen »internationalen Befreiungskampf« (Dutschke 1968: 85), innerhalb dessen man allerdings von einer »temporäre[n] Subversiv-Stellung« ausgehen müsse. Damit meint er, dass die »antiautoritären Studenten« noch keine materiell gesicherte Stellung in der Gesellschaft einnehmen und folglich »von Machtinteresse und Machtpositionen noch relativ weit entfernt sind« (Dutschke 1968: 86). Im Gegensatz zu den Politaktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes wie Rudi Dutschke bemüht sich ab 1970 die terroristische Gruppe Rote Armee Fraktion um eine militante Form des politischen Widerstands, die sich als Teil einer internationalen Revolutionsbewegung versteht. Das Konzept Stadtguerilla, erklärt die Rote Armee Fraktion in einem Strategiepapier im April 1971, orientiere sich an Guerilla-Kampfstrategien aus Lateinamerika und sei eine »revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften.« (Rote Armee Fraktion 1998: 93) Als Vorbilder ruft die Rote Armee Fraktion (RAF) die uruguayischen Tupamaros, Mao Tse-tungs Volkskriegskonzeption und Che Guevaras Guerillakonzeption auf. Als ›Stadtguerilla‹ zielt sie darauf, »den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören.« (Rote Armee Fraktion 1998: 94)100
100 | Die Gruppe besteht aus drei Generationen, ihr ›harter Kern‹ wird in dieser Zeit von weniger als hundert Personen gebildet. Ihr werden 34 Morde, zahlreiche Sprengstoffattentate und verschiedene Entführungen zugerechnet, mindestens 15 ihrer Mitglieder sterben in dieser Zeit bei Schusswechseln mit der Polizei, durch (Fehl-) Zündungen von Bomben, an den Folgen von Hungerstreiks oder Suizid. Mit ihrer Fixierung auf Gewalt und Militanz wendet sich die Gruppe radikal von Formen intellektuellen oder literarischen Widerstands ab, wenngleich sie immer wieder Strategiepapiere und Bekennerschreiben veröffentlicht. Bereits in ihren Anfängen 1971 proklamiert die Rote Armee Fraktion, dass schriftstellerische Aktivitäten wie z.B. »sozialdemokratische Wählerinitiativen von einigen honorablen Schriftstellern« keinen Einfluss auf die politische Wirklichkeit hätten: »Die Bereiche verschärfter Repression sind nicht die, mit denen ein Schriftsteller es zuerst zu tun hat: Gefängnisse, Klassenjustiz, Akkordhetze, Arbeitsunfälle, Konsum auf Raten, Schule, Bild und BZ, die Wohnkasernen der Vorstädte,
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Mitglieder der Rote Armee Fraktion verwenden den Begriff der Subversion nur als einen, den staatliche Organe zur Beschreibung ihrer Feinde nutzen. So begründen sie ihren Antrag im Stammheim-Prozess, die ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt als Zeugen zu laden, damit, dass nur mit deren Hilfe bewiesen werden könne, dass die RAF seit 1972 nach einer verfassungswidrigen und verfassungsfeindlichen Konzeption der antisubversiven Kriegsführung verfolgt wird, die technisch, methodisch und organisatorisch dem internationalen Standard der amerikanischen Counterinsurgency entspricht (Rote Armee Fraktion 1977: 455).
Auch Mitglieder der terroristischen Gruppe Bewegung 2. Juni, die von 1972 bis 1980 existiert und zwei Morde verübt, berichten, dass sie von ihren Sympathisanten »eine subversive Kraft« genannt worden seien, die aus der »kapitalistischen Ausbeutungs- und Entfremdungshölle« auf militante Weise eine »sozialistische[ ] Gesellschaft freier Menschen« (Teufel u.a. 1998: 148) hätte machen wollen. Die praktisch-revolutionäre oder auf die Zerstörung oder Modifikation politischer Institutionen oder von Staatsapparaten und -ordnungen abzielende Subversion wird häufig durch (geschichts)philosophische, metaphysische, religiöse oder politische Theorien legitimiert, die sich selbst als subversiv beschreiben und auf die radikale Veränderung der politisch-institutionellen Apparate und Machtverhältnisse abzielen.101 Eine zentrale politologische Schrift der 1990er Ausländerghettos – das alles kriegen Schriftsteller höchstens ästhetisch mit, politisch nicht.« (Rote Armee Fraktion 1998: 101) 101 | Im geisteswissenschaftlichen Diskurs ist die Rede von spezifischen Geistesströmungen innerhalb der Antike oder der Aufklärung, die sich als ›subversives Denken‹ formiert hätten, vgl. Onfray 1991; Timm 1992. Auch der (christlichen) Religion werden ›subversive Kräfte‹ zugeschrieben: Johann Magonet nennt seine Predigtensammlung Die subversive Kraft der Bibel. Die Bibel besitze, so Magonet, eine Kraft der »Subversivität«, die ihr allerdings »nur zu oft von ihren Interpreten« (Magonet 1998: 8) genommen worden sei. Magonet möchte diese Subversivität rekonstruieren und verweist auf die Propheten, »deren Wirken sich oft gegen die Machthaber und den Status quo richtete – manchmal auf Kosten des eigenen Lebens –« (Magonet 1998: 13), sowie auf die revolutionären Bewegungen, die sich an der Bibel orientiert hätten, und auf den ›intrinsischen Gehalt‹ der Hebräischen Bibel, der »die Machtstrukturen, Geschlechterrollendefinitionen oder religiösen Vorannahmen ihrer Zeit« (Magonet 1998: 16) untergraben habe. In differenzierterer Weise findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gott und Ewigkeit, Träumen und Schweigen, dem Schreiben und dem Bilderverbot auch in Edmond Jabès’ Aphorismensammlung Das kleine unverdächtige Buch der Subversion (1985) und Slavoj Žižeks Buch über das Christentum zwischen Perversion und Subversion (2003), vgl. Jabès 1985; Žižek 2003.
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Jahre nutzt den Begriff der Subversion, um Gesellschaftstheorien und politische Bewegungen zu kennzeichnen, die auf einen radikalen Gesellschaftsumsturz abzielen: Johannes Agnoli, Professor für Politische Theorie, gibt eine Vorlesungsreihe über Subversive Theorie (1996) heraus und präsentiert darin die Geschichte subversiver Theorien von der Antike bis in das 20. Jahrhundert, u.a. setzt er sich mit dem Denken Thomas Müntzers, Baruch de Spinozas und Giambattista Vicos auseinander. In seiner Analyse beschreibt er die Subversion als eine theoretische und praktische Arbeit, die die Vorstufe zu einer Revolution darstelle: »Die Subversion ist eine Arbeit […] auf die Revolution hin; sie ist eine Umwälzung, vielleicht auch eine des Bewußtseins, in Richtung auf eine radikale, revolutionäre Umwälzung.« Am Anfang der theoretischen Tätigkeit vieler Revolutionäre liege die Subversion, was in diesem Fall »die Renitenz gegen das Vorfindliche« (Agnoli 1996: 221) sei. Die Subversion sei in der Gegenwart mit ihren zerstörten Illusionen und ihrer widersprüchlichen Weltlage »notwendig, um der Revolution behilflich zu sein in der schwierigen Zeit des Überwinterns«. Bei dieser »sehr harte[n], mühselige[n] Maulwurfsarbeit« (Agnoli 1996: 226) seien die Aktivitäten der Literaten kontraproduktiv,102 es gehe vielmehr um die radikale und praktische Fortsetzung der im Verborgenen überdauernden subversiven Theorie. Bei Agnoli meint Subversion somit »nicht die Aktion, sondern das, was ihr vorausgeht, was durch die Zeiten hindurch verfemt, verfolgt, vernichtet wurde – doch immer nur fast. Denn die Subversion ›überwintert‹ in den Nischen der Gesellschaft, sie gerät in Vergessenheit, um nach Jahrhunderten erneut auf den Plan zu treten.« (Hühne 1996: 7f.) In der Einleitung zu seinem SubversionsReader (1998) greift Martin Hoffmann Agnolis Bestimmung auf und definiert ›subversive Theorie‹ als »die Idee, Herrschaft durch radikale Veränderung abzuschaffen« (Hoffmann 1998: 7). Dieses Verständnis der Subversion ist zunächst im polizeilich-juridischen und später auch im medialen und wissenschaftlichen Diskurs präsent und etabliert sich ab dem frühen 19. Jahrhundert auch in Deutschland. Während ›die Subversiven‹ ihre Aktionen gegen den Staat aus dem Untergrund planen und durchführen, formieren sich parallel dazu staatliche Geheimdienste, die sich gegen diese ›subversiven Kräfte‹ zur Wehr setzen, dabei selbst aus dem Geheimen operieren und ›subversive (Kriegs-)Strategien‹ nutzen. Die ›subversiven Staatsumstürzler‹ zielen – innerhalb des politisch-institutionellen Diskurses der Subversion – auf die völlige Abschaffung der herrschenden staatlichen Ordnung, die aus ihrer Sicht illegitim ist. Oft wird dabei auch die subversive Tätigkeit als eine Vorstufe zur ›eigentlichen Revolution‹ beschrieben. Zwar war dieser Diskurs der Subversion im 18. und 19. Jahrhundert vorherrschend 102 | Agnoli stellt apodiktisch fest: »Zur Beförderung der Subversion muß also etwas anderes unternommen werden als es die deutschen Intellektuellen im Vormärz taten, das heißt, man darf seine subversiven Gedanken nicht für sich behalten oder sie literarisch verpacken wollen.« (Agnoli 1996: 226)
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und bestimmt bis heute die Definitionen der Wörterbucher und Lexika, allerdings ist er im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch andere Diskurse der Subversion relativiert und zurückgedrängt worden, so dass für den Staatsumsturz heute eher der Begriff der Revolution und für seine Vorbereitung die Begriffe des Terrorismus oder des Radikalismus benutzt werden. Literarische Texte und das Engagement der Intellektuellen werden im politisch-institutionellen Diskurs der Subversion als eher kontraproduktiv oder gar konterrevolutionär beschrieben, jedoch kann dieser Diskurs der Subversion selbst in literarischen Texten archiviert, reflektiert oder problematisiert werden, indem zum Beispiel literarische Texte von Terroristen, terroristischen Gruppen, ihren Anliegen, ihren (Atten-)Taten oder – allgemein gesprochen – von ihren Strategien oder gar ›Ästhetiken‹ der (Selbst-)Zerstörung berichten.103 Wenn man von einem sehr weiten Literaturbegriff ausgeht, ließen sich auch die Erklärungen oder politischen Manifeste terroristischer oder revolutionärer Gruppen als ›Literatur im politisch-institutionellen Diskurs der Subversion‹ verstehen. Das erscheint allerdings zugleich problematisch, denn weder lässt sich solchen Texten eine besondere ästhetische oder sprachliche Qualität noch eine reale revolutionäre Wirkung zuschreiben. Auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsprosa gäbe es schlicht in der (nicht-revolutionären) Zeit nach 1989/90 keine Manifeste und Erklärungen, denen überhaupt ein solcher Status zuzuschreiben wäre.104 Am ehesten wären im Bereich der deutschsprachigen Literatur Manifeste wie Angriff auf die Freiheit (2009) von Ilija Trojanow und Juli Zeh oder das Manifest der Vielen (2011), herausgegeben von Hilal Sezgin, zu nennen, allerdings zeichnen sich beide Manifeste weder durch eine besondere literarische Qualität noch durch einen revolutionären Anspruch aus – eher wären sie als Dokumente in der Traditionslinie des engagierten Intellektuellen zu verstehen (vgl. Sezgin 2011 u. Trojanow/Zeh 2009).
2.2. D ER KÜNSTLERISCH - AVANTGARDISTISCHE D ISKURS DER S UBVERSION : L ITER ATUR ALS (N EO -)A VANTGARDE 2.2.1. Der künstlerisch-avantgardistische Diskurs der Subversion: Subversion als künstlerisch-prozessuale Bewegung Einzelne bereits aufgerufene Lexikondefinitionen verweisen darauf, dass der Begriff der Subversion im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend auch auf
103 | Vgl. Berendse 2003; Gansel 2011c; Kaulen 2011; Schneider 2010. 104 | Dies stellte sich auf anderen Kontinenten und in anderen Ländern verschieden dar, z.B. während des Arabischen Frühlings 2010/11.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
künstlerisch-avantgardistische Aktionen und Werke übertragen wird (vgl. Gondek 1998: 571; Schetsche 1994: 658). Die historischen Avantgarden etablieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Konzepte, die eine radikale Gesellschaftsveränderung nicht mehr durch militante Aktionen gegen die politischen Institutionen erreichen wollen, sondern den Anspruch erheben, durch künstlerische Aktionen das gesellschaftliche Bewusstsein und daraus resultierend die politische Ordnung radikal zu ändern. Im Folgenden soll daher der künstlerischavantgardistische Diskurs des 20. Jahrhunderts anhand von Manifesten und programmatischen Äußerungen der Avantgarde-Bewegungen in seiner historischen Entstehung dargestellt werden, wobei unterschieden werden muss zwischen den Selbstbeschreibungen und -stilisierungen der Avantgardegruppen und den Effekten ihrer künstlerischen Praxis. Der Diskurs über die avantgardistische Kunst wird im deutschsprachigen Raum allerdings erst in den 1960er Jahren durch die Gruppe Subversive Aktion mit dem Begriff der Subversion verknüpft. Die folgende Analyse setzt jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und beschäftigt sich mit dem Begriff der Avantgarde als einem politischen-ästhetischen Konzept, da die Implikationen dieses Diskurses für den Begriff der Subversion auf diese Weise deutlicher werden. Dabei streift sie auch die Felder Bildende Kunst, Theater und Musik. Der Begriff der Avantgarde entstand während des Frühsozialismus im »argumentativen Kontext des Saint-Simonismus zur Bezeichnung einer art social im Dienste umfassender Gesellschaftsutopien und hatte vorrangig die Funktion rhetorischer Massenkonditionierung.« (Plumpe 2001: 9) Das militärische Bild der einer Masse vorweg laufenden bewaffneten Gruppe in einem Kriegsgeschehen (avant, frz. ›vor‹; garde, frz. ›Wehrgruppe‹) wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf das Feld der Kunst übertragen. Uwe Lindemann bezeichnet den »Kampf der künstlerischen Avantgarde« – trotz ihres teilweise pazifistischen Programms – »als eine Form des Kriegs, in dem die Kunst mit anderen Mitteln fortgesetzt wird.« (Lindemann 2001: 17) Diese Selbstbeschreibungen der literarischen Gruppen und Männerbünde sowie die militärischen Begrifflichkeiten entstammen »einem männlichen Diskurs […], da sie auch einer bis dato Männern vorbehaltenen gesellschaftlichen Praxis von der aktiven Politik bis zum Krieg entspringen. Von Marinetti bis André Breton bedienen sich die Leitfiguren der verschiedenen Avantgarden unseres Jahrhunderts eines maskulinen Codes.« (Febel 1989: 81) Noch im Situationismus der 1960er Jahre wird der Avantgarde-Diskurs als ein männlich geprägter beschrieben,105 die Metaphorik von Kunst als Krieg ist bis heute präsent geblieben und wird auch in
105 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Jacqueline de Jong unter dem Titel Eine Frau in der Situationistischen Internationale und das rückblickende Statement von Birgit Daiber über ihre Rolle in der Gruppe Subversive Aktion, vgl. Jong/Schrage 1998; Böckelmann/Nagel 2002: 462–465.
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literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur (historischen) Avantgarde weiterhin reproduziert.106 Am Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Begriff der militärischen Avantgarde durch die künstlerische und politische Avantgarde abgelöst (vgl. Fähnders 2001: 60f.). Nun kann man – in einem weiten Verständnis, das (Kunst-) Geschichte als linear-evolutionäre Entwicklung begreift – unter Avantgarde »jede forciert traditionskritische, erwartungsirritierende oder normbrechende Programmierung von Kunst und Literatur« (Plumpe 2001: 7) verstehen. Der programmatische Charakter der ›Ismen‹ – wie Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Futurismus – führt dazu, dass das »Avantgarde-Manifest […] im komparatistischen Blick unzweifelhaft als Hauptgattung der historischen Avantgarde« (Asholt/Fähnders 1989: 14) erscheint, wobei allerdings diese Manifeste oftmals die Form des politischen Manifests aushöhlen und parodieren, wie Hubert van den Berg in einem Beitrag unter dem Titel Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifests zeigt: Da die »künstlerische Avantgarde sich als Verfasserin von Manifesten quasi auf den Stuhl der Herrschenden (bzw. von deren politischen Kontrahenten)« zu setzen droht, »erscheint es nur konsequent, daß die Autorität dieser Herrschenden (in spe) auch stilistisch und sprachlich unterwandert wird.« (Berg 1989: 70) Dieser Gestus, politische Herrschaft nicht ernst zu nehmen und die aktuell herrschende Macht nicht durch eine neue ersetzen zu wollen, ist einer der Punkte, in dem sich der künstlerisch-avantgardistische Diskurs der Subversion vom politisch-institutionellen absetzt. Ganz in diesem Sinne unterscheidet Diedrich Diederichsen zwischen künstlerisch-avantgardistischer Subversion und politisch-institutionellem Protest: Ein »›J’accuse‹« sei für die Subversion »nicht möglich, weil sie sich nicht auf dieselben moralischen und kommunikativen Grundlagen festlegen kann, die der Macht zugrunde liegen«. Die Subversion stellt sich dem politischen Protest entgegen, der der Herrschaft ihre Fehler vorhält, »dabei sei doch eine gelungene Herrschaft noch schlimmer als die armselige, misslingende, vertrottelte.« (Diederichsen 1993a: 38) Auf diese Weise verwirklicht die künstlerisch-avantgardistische Subversion eine doppelte Form der Subversion, indem sie die herrschende Ordnung und ihre ›Wahrheiten‹ delegitimiert, jedoch zugleich auch ihre eigenen Strategien und möglichen oppositionellen Herrschaftsansprüche a priori unterminiert. Dieses Changieren zwischen großen politischen Forderungen und Angriffen auf die künstlerische Tradition einerseits sowie selbstironischen und nonsenshaften Äußerungen andererseits zeigt sich in den Manifesten der Avant106 | Vgl. z.B. die Arbeiten über Die lyrische Guerilla (1993), Die Sturmtruppen, Partisanen und Terroristen der künstlerischen Avantgarde (2001), Avantgarde und Terrorismus (2006) und Anarchismus, Terrorismus, Avantgarde (2006), vgl. Hintze 1993; Lindemann 2001; Hecken 2006; Meifert 2006.
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garde. Richard Huelsenbeck trägt im Frühjahr 1916 im Züricher Cabaret Voltaire eine Erklärung der Dadaisten vor: Wir haben beschlossen, unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada zusammenzufassen. […] Dada […] bedeutet nichts. […] Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen (Huelsenbeck 1994: 33).
Das Erste Manifest der Surrealisten von André Breton (1924) proklamiert einen »absoluten Non-Konformismus« und erklärt, dass die Surrealisten auf einen »vollkommenen Zustand der Distraktion, der Zerstreutheit« (Breton 1993: 43), abzielen. Im zweiten Manifest (1930) greifen sie die zentralen Werte der Gesellschaft an: »Alles muß getan werden, alle Mittel sind recht, um die Ideale Familie, Vaterland, Religion zu zerschlagen« (Breton 1993: 58), und sie erklären unkontrollierte und ungerichtete Gewalt (allerdings als künstlerische Fiktion) zu einem notwendigen Mittel.107 Der Futurist Marinetti orientiert sich an der populären Form des Varietés, diese zerstöre »das Feierliche, das Heilige, das Ernste und das Erhabene in der Kunst« und spiele somit eine entscheidende Rolle »bei der futuristischen Vernichtung der unsterblichen Meisterwerke« (Marinetti 2001: 89). Die jeweiligen Avantgarde-Bewegungen bedienen sich spezifischer künstlerischer Techniken und neuer Konzepte. Für das Theater sieht Erika Fischer-Lichte in der »Entdeckung des Zuschauers« (Fischer-Lichte 1997) den entscheidenden Paradigmenwechsel, sie beschreibt zudem die Grenzgänge zwischen den Künsten (wie Musik, Malerei, Film, Tanz und Dichtung) sowie die Hinwendung zu einer performativen Kultur als Merkmale der künstlerischen Avantgarde (vgl. Fischer-Lichte 1998). Zu diesen neuen Konzepten gehört vor allem die Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Alltagsleben als voneinander geschiedenen Sphären der modernen Gesellschaft: An die Stelle »künstlerischer Privatfehden und des sportlichen Künstlerwettstreits« innerhalb des
107 | Einer der berühmtesten Sätze Bretons lautet: »Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.« (Breton 1993: 56) Im Anschluss an die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York City entwickelte sich in Frankreich eine Debatte über die Frage, inwiefern die Surrealisten als historische Avantgarde solche ›inszenierten Gewaltakte‹ erst denkbar gemacht hätten. Der Kunstkritiker Jean Clair behauptet, dass »die französische Intelligentsia auf diese Weise in der Vorwegnahme dessen, was am 11. September 2001 geschehen ist, schon sehr früh sehr weit gegangen« (Clair 2002: 12) sei, und dass »Aufrufe zu Mord und Totschlag Gemeinplätze aller Avantgardebewegungen« (Clair 2002: 13) gewesen und diese somit rückwirkend diskreditiert seien. Zu Clairs Text und den zahlreichen Erwiderungen, vgl. Schulenburg 2002.
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Kunstfeldes tritt zu Beginn des 20. Jahrhunderts »auf operativer Ebene der Krieg in der und insbesondere gegen die Öffentlichkeit« (Lindemann 2001: 21). Die ästhetische Avantgarde will »ein einheitliches, gleichsam ›globales‹ System errichten«, »ursprünglich fremde Felder selbst besetzen und kategorial getrennte Felder in sich vereinigen«, »das Ganze der Politik und der Gesellschaft vertreten«. Dieser »universalistische[ ], auf Totalität zielende[ ] Avantgardeanspruch« (Fähnders 2001: 63) führt jedoch unmittelbar zur Notwendigkeit, sich auch gegenüber den politischen Bewegungen positionieren und teilweise mit ihnen Bündnisse eingehen zu müssen. Diese Nähe zu politischen Bewegungen führt zu einer direkten Affinität von Futurismus und Faschismus, von Surrealismus und Kommunismus (vgl. Fähnders 2001: 64–72), wobei die künstlerischen Avantgarden jedoch »auf Dauer mit Konzeption, Realität und Realitätsprinzip der politischen Avantgarde kollidieren und ihr unterliegen« (Fähnders 2001: 72). Doch nicht nur auf dem politischen, auch auf dem juristischen Feld unterliegt die Avantgarde, wie Ingo Stöckmann feststellt: Die Geschichte der Avantgarden ist »mit jener tendenziell unendlichen Serie von Skandalen und Prozessen identisch, die die Avantgarde vor allem als Erfüllung zumeist strafrechtlicher Tatbestände Kontur gewinnen lässt.« (Stöckmann 2001: 37) Die juristische Verfolgung der avantgardistischen Kunstaktionen, die sich u.a. am Beispiel des Berliner Dadaismus zeigen lässt (vgl. Hausmann 1973 u. Stöckmann 2001: 40f.), ist jedoch ambivalent: Einerseits hat sie zwar mit ihren Strafen, Verboten und Zensurmaßnahmen problematische Folgen für die Künstler und ihre Werke, andererseits verhilft sie diesen zur Inszenierung einer »große[n], transgressive[n], eben normverletzende[n] und justitiable[n] ›Attacke‹« (Stöckmann 2001: 38), die auch außerhalb des künstlerischen Feldes ihre Wirkung zeigt und somit den künstlerischen Akt gesellschaftlich nobilitiert. Schließlich zeigt sich schon bei den historischen Avantgarden das fundamentale Problem der institutionellen Absorption der neuen ästhetischen Konzepte, die nur temporär und in spezifischen Kontexten ihre avantgardistisch-subversive Kraft entfalten können, bevor sie absorbiert, institutionalisiert und somit neutralisiert werden. Das Feld der Kunst lässt sich nicht radikal verändern oder umwandeln, aber seine Grenzen lassen sich verschieben: »Zweifellos hat die ästhetische Avantgarde ganz neues Terrain, neue Felder erkundet, erobert, erschlossen – sie hat aber bestehende Grenzen letztlich nur verschieben und erweitern, diese nicht global oder universal auflösen können. Ihre Musealisierung ist dafür ein Beispiel.« (Fähnders 2001: 74) Der ›Tod der Avantgarde‹ habe, so Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, auch ihre eigene Voraussetzung, das evolutionäre und lineare Innovationsmodell künstlerischer Entwicklung, »implodieren lassen«, weshalb »von einem höchst subversiven ›Erfolg‹ der Avantgarden zu sprechen« (Asholt/Fähnders 1989: 12f.) sei. Während des Nationalsozialismus werden in Deutschland und Österreich die für diese Studie relevanten künstlerisch-avantgardistischen Diskurse aus-
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gelöscht, die Künstler vertrieben, ihre Werke verboten. Erst ab Ende der 1950er Jahre erneuern verschiedene künstlerisch-avantgardistische Aktionen und Gruppen, angeregt durch internationale Entwicklungen, in diesem Raum diesen ästhetischen Diskurs im Wissen um die eben beschriebenen ›Aporien der historischen Avantgarde‹, wie sie auch von Peter Bürger und Hans Magnus Enzensberger reflektiert werden (vgl. Bürger 1981 u. Enzensberger 1964). Die Situationistische Internationale gründet sich 1957 als ›Avantgarde der Avantgarde‹ mit Guy Debord als führendem Kopf in Paris. Unter ihrem Dach bemühen sich dissidente Künstler und Kunstgruppen aus europäischen Ländern und den USA innerhalb der Gesellschaft des Spektakels auf eine ›Aufklärung durch Aktion‹ (vgl. Debord 1996). Während in Österreich der Wiener Aktionismus von Otto Mühl und Hermann Nitsch auf eine Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins (vgl. Jahraus 2001) durch die radikale Darstellung von u.a. Ritualen, Opferkulten und Orgien abzielt (vgl. Fischer-Lichte 1998), orientieren sich die deutschen Gruppen wie Spur an Theoretikern wie Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno, wobei vor allem Letzterer ein ablehnendes Verhältnis zu diesen praktischen Kunstaktionen hat und teilweise den Polizeiapparat zu deren Unterbindung hinzuzieht.108 Die seit 1957 existierende Gruppe Spur besteht aus den Malern Heimrad Prem, Helmut Sturm, Hans Peter Zimmer, dem Glaskünstler Erwin Eisch, dem Bildhauer Lothar Fischer und teilweise auch Dieter Kunzelmann, und bildet ab 1959 die deutsche Sektion der Situationistischen Internationale (sie wird allerdings 1962 aus dieser ausgeschlossen). Ihr Programm ist es, »eine Welle von Mikrorebellionen [zu] starten« (Kunzelmann, zit. n. Bentz u.a. 1998: 188), und es gelingt ihr tatsächlich, für den »ersten Künstlerskandal[ ] in der Bundesrepublik« (Bentz u.a. 1998: 184) zu sorgen: Im November 1961 wird ihre Zeitschrift Spur wegen Obszönität und Blasphemie beschlagnahmt. In den Folgejahren entwickelt sich, so Klaus Briegleb, der Situationismus in Westdeutschland »über die Gruppen und Phasen ›Spur‹, ›Anschlag‹, ›Viva Maria‹, ›Studiengruppe für Sozialtheorie‹ zur ›Kommune I‹ im Berlin des Jahres 1967« (Briegleb 1993: 37), wobei deren Aktivisten »in aller Offenheit ›subversiv‹ […] auf die ›Verbreitung bestimmer Wahrheiten‹ (hinarbeiten), die dazu beitragen sollen, eine Bewegung zu beschleunigen, die die Jugend ›zur Bewußtwerdung einer nahen, umfassenden Krise der Gesellschaft führt‹« (Briegleb 1993: 108 | Insbesondere Marcuses Ausführungen über den affirmativen Charakter der Kultur werden von den Situationisten genutzt, Carol Becker untersucht 1994 Marcuses Kunsttheorie unter dem Titel Herbert Marcuse and the Subversive Potential of Art, vgl. Becker 1994c u. Marcuse 1971. Während die Situationisten Adornos Schriften als theoretische Grundlage ihrer Aktivitäten nutzen, hält dieser ihre Aktionen für überflüssigen Aktionismus, vgl. Briegleb 42f. u. Bentz u.a. 1998: 192f. Zum Verhältnis von Surrealismus und Kritischer Theorie geben Dietrich Hoß und Heinz Steinert 1997 ein Buch unter dem Titel Vernunft und Subversion heraus, vgl. Hoß/Steinert 1997.
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36), zitiert Klaus Briegleb die Verlautbarungen der Situationistischen Internationale von 1967. Der Begriff der Subversion wird von der Gruppe Subversive Aktion in den künstlerisch-avantgardistischen Diskurs eingeführt und schließlich von seinen Vertreter okkupiert. Dieter Kunzelmann gründet die Subversive Aktion im Dezember 1963 gemeinsam mit Christofer Baldeney und dem Luxemburger Soziologiestudenten Rodolphe Gasché (vgl. Baldeney u.a. 1963). In ihren Unverbindlichen Richtlinien definieren sie den Typus des ›Homo subversivus‹: Das geistige Niveau des HOMO SUBVERSIVUS resultiert aus der Zusammenschau der Intensionen [sic!] von Marx, der komplexen Psychologie und der Psychoanalytischen Bewegung (Abraham, Ferenczi, Freud, Pfister, Reich, Rank, Reik, Sadger, Stekel etc.), des Eranos-Kreises (Eliade, Jung, Buonaiuti, Kerenyi, Neumann, Portmann, Walter F. Otto, Hugo Rahner SJ, Scholem, Zimmer etc.), der Frankfurter Schule (Adorno, Benjamin, Horkheimer, Krakauer [sic!], H. Marcuse), sowie den Anliegen der subversiven Literatur und einiger künstlerischer Bewegungen (Dadaismus, Futurismus, Surrealismus und Beat) und aller jener, die in den KODEX SUBVERSIVUS aufgenommen sind. (Subversive Aktion, zit. n. Böckelmann/Nagel 2002: 119)
Der Begriff der Subversion wird somit für eine künstlerisch-avantgardistische Entwicklungslinie (Dadaismus, Surrealismus etc.) mit ihren theoretischen Hintergründen (Psychoanalyse, Kritische Theorie etc.) reklamiert. Der »homo subversivus« lebe »aus dem Vertrauen auf eine bessere Welt«, die er »durch den Umsturz der gültigen Werteordnung« erreichen will. Die situationistische Avantgarde stellt sich die Aufgabe, diese Möglichkeiten »im lebendigen Vollzug« eines »subversiv-experimentellen Lebens« zu realisieren. Sie »konzentriert sich auf die Verwandlung des Subjekts und seiner Umwelt, um in ihr sich als subversive aktion zu inkarnieren« (Subversive Aktion, zit. n. Böckelmann/ Nagel 2002: 120f.). Auch hier soll die gesellschaftliche Veränderung also nicht durch einen direkten Angriff auf politische Institutionen, sondern durch eine Bewusstseinsänderung und Ästhetisierung des Lebens jenseits davon erreicht werden. Dass die Subversive Aktion in einer nachholenden Bewegung die Aktionsformen und künstlerischen Strategien der historischen Avantgarden aufgreift, beschreiben neben ihr selbst auch einige Wissenschaftler ausführlich. Klaus Briegleb stellt fest, dass die »situationistischen Formen und ›neuen Medien‹ […] in der Tradition von Dadaismus, Surrealismus, Lettrismus, Beat« (Briegleb 1993: 40) stehen.109 Auch Helmuth Kiesel sieht in den Flugblättern und Aktio-
109 | Als Beispiele für diese Formen und Medien nennt Briegleb: »Manifest, Richtlinie, Flugblatt, Comic (›direkt hergestellte Comix‹), Plakat und andere Anschläge (demonstrativ, initiativ), interne Gruppen-Ausschlussbegründungen, philosophische Großanalyse, Wörterbuch, Presseschelte, Ausstellung, Ausstellungsstörung, Film, neu dialogisierte
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
nen der situationistischen Gruppen eine große »Ähnlichkeit mit Texten und Auftritten von Futuristen, Dadaisten und Surrealisten.« (Kiesel 1998: 611f.)110 Wie die historische Avantgarde überschreiten sie die Grenze von Kunst und Leben, indem sie ihre (spontanen) künstlerischen Aktionen im öffentlichen Raum durchführen und somit sowohl das Feld der Kunst verlassen als auch die studentischen Protestformen verändern: Die Situationisten greifen »in die Studentenbewegung mit Störaktionen und Happening-Formen ein. Scheingespräche mit Professoren […] werden gesprengt, marxistisch-dogmatische Überzeugungen […] werden abgelehnt. […] Es gelingt(,) die Grenzen bisheriger studentischer Oppositionspolitik aufzubrechen.« (Briegleb 1993: 51) In direkterer Weise als die historischen Avantgarden bewegt sich die Situationistische Internationale am »Schnittpunkt von Kunst und Politik« (vgl. Wiegmink 2005) und macht einerseits aus dem öffentlichen Raum ein Theater, kennzeichnet andererseits die bestehenden Theaterhäuser als traditionelle Orte des Bildungsbürgertums, wie auch der damals junge Autor Peter Handke: Das engagierte Theater findet heute nicht in Theaterräumen statt […], sondern zum Beispiel in Hörsälen, wenn einem Professor das Mikrofon weggenommen wird, […] wenn die Kommune die Wirklichkeit, indem sie sie »terrorisiert«, theatralisiert und sicherlich zu Recht lächerlich macht […]. Auf diese Weise wird Theater unmittelbar wirksam. (Handke 1975: 53f.)
Handke unterscheidet »das Straßentheater, das Hörsaaltheater, das Kirchentheater (wirksamer als 1000 Messen), das Kaufhaustheater« vom »Theatertheater« (ebd.), dessen bürgerliche Regelsysteme und Vereinbarungen er in seinem Theaterstück Publikumsbeschimpfung (1965) zum Thema macht (vgl. Handke 1966). Die situationistischen Aktionen gehen in existenzieller Weise ›auf das Ganze‹, verstehen sich als ›Ereignis‹ und ›Tat‹, speisen sich aus »einer Ästhetik der Zukunft, die man in ›beweglichen Ordnungen‹ vorwegnimmt«, »dem Willen zur ›Konstruktion von Situationen‹« (z.B. den Inszenierungen im Gericht)111 soPornos und Werbebilder, Palimpseste aller Art, Piratensender, Experiment mit Formeln, Kleinzeitschrift, Skandal, Parodie« (Briegleb 1993: 40). 110 | Kiesel verweist konkret auf die folgenden Merkmale: »Parodistische Verspottung der Selbstgefälligkeit der Gesellschaft, satirische Überbietung ihrer Selbstgerechtigkeit, aggressive Wendung gegen ihre Saturiertheit und Indolenz, schockierende Äußerung von Destruktionsgelüsten, radikale Verwerfung des Bestehenden und furioses Rufen nach einem ganz anderen, nicht bürgerlich entfremdeten und gehemmten Leben.« (Kiesel 1998: 612) 111 | Ein gutes Beispiel für diese Konstruktion von situationistischen Situationen ist das Buch Klau mich! von Fritz Teufel und Rainer Langhans (Langhans/Teufel 1968), das durch seinen Titel zu seiner illegalen Aneignung auffordert. Form und Inhalt stim-
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wie »aus der existentialistischen Waghalsigkeit« (Briegleb 1993: 37), die nach dem Zusammenbruch der situationistischen und studentischen Utopien auch in den terroristischen Splittergruppen als militant-revolutionärer Kampf und Teil des politisch-institutionellen Diskurses der Subversion ihre mörderische Umsetzung findet. Die künstlerisch-avantgardistischen Gruppen der 1960er Jahre sind zwar erfolgreich in ihrem Bestreben, die durch den Nationalsozialismus in Deutschland weitestgehend ausgelöschten Avantgarde-Diskurse wieder zu beleben, allerdings gelingt der Umsturz der bestehenden Werteordnung nur temporär und auf beschränkten Feldern. Ähnlich wie bei den historischen Avantgarden lässt sich also von einer Absorption ihrer Strategien und Techniken sprechen. Nach der historischen politischen Wende von 1989/90 werden in Deutschland zunächst Diskurse hegemonial, die das ›Ende der Geschichte‹ behaupten. Im Verlauf der 1990er Jahre werden jedoch zahlreiche Aufsätze, Bücher und Sammelbände veröffentlicht, die künstlerisch-politische Konzepte und Strategien einer Revision unterziehen und für diese nicht revolutionären, sondern auf Mikrobereiche und einzelne Aktionen abzielenden Formen künstlerischpolitischer Aktivität den Begriff der Subversion reklamieren. Angesichts eines als ›final‹ verstandenen Sieges der westlich-kapitalistischen Demokratien im Systemkampf mit der kommunistischen Staaten des ›Warschauer Paktes‹ nimmt der künstlerisch-avantgardistische Diskurs der Subversion in den 1990er Jahren Teile des politisch-revolutionären Diskurses der Subversion in abgeschwächter Form auf und löst letzteren als in deutschsprachigen Medienund Wissenschaftsdiskursen meistgenutzten Begriff der Subversion ab (der allerdings bis heute von Wörterbüchern an erster Stelle genannt wird). Diedrich Diederichsen bestimmt in Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz (1993) Subversion als einen Unterbegriff von Dissidenz, unter dieser versteht er »alle symbolischen und praktischen nichteinverstandenen Handlungsformen, deren Opposition nicht allein als defensive Reaktion auf primäre rassistische, soziale, sexuelle oder politische Benachteiligungen erklärt werden kann« (Diederichsen 1993a: 34). Die künstlerisch-avantgardistische Subversion wird von ihm also als ein Element der politisch-bewussten Dissidenz verstanden, die auch als politisch-institutioneller Diskurs der Subversion beschrieben werden kann. Bei Diederichsen sind es »Künstler aller Disziplinen«, men überein, stellt die Edition Voltaire über ihr Buch fest: »In diesem Buch zeigen die Kommunarden ihren Weg durch die Berliner Gerichte […] und geben Anleitungen zum erfolgreichen Verhalten vor diesen staatlichen Organen. Die Mitglieder der Kommune 1 unterlaufen in ihren provozierten Strafprozessen aus mehr oder minder nichtigen Anlässen das engmaschige Netz der deutschen Justiz. Ihr alle Konventionen sprengendes Verhalten führt die Gesetzmaschinerie und deren anachronistische Repräsentanten ad absurdum… […] Die Satire will hier nicht Justizkritik üben, sie ersetzt in ihrer Totalität die antiquierten Rechtsnormen bereits!« (Edition Voltaire, zit. n. Bentz u.a. 1998: 199f.)
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
die sich in »den achtziger Jahren […] endgültig auf einen Begriff geeinigt haben«, um ihre künstlerischen Aktivitäten zu bezeichnen, die sich um einen »Bezug auf die Welt, das Reale oder die Geschichte« bemühen (Diederichsen 1993a: 33). Der Begriff der Subversion wird von Diederichsen also ausschließlich für die Beschreibung des künstlerischen Diskurses genutzt, wenngleich in jenen sieben Motiven, die nach Diederichsen in »Subversion reklamierender (künstlerischer) Praxis durchgängig« vorhanden seien, auch Anleihen bei anderen Diskursen der Subversion auftauchen:112 1.) der Begriff der Auflösung oder Zersetzung; 2.) die Abweisung der stets dialogischen Struktur der Kritik oder des Protestes zugunsten von Scheinaffirmation oder Affirmation als Versuch von Überlagerung; oder zugunsten von 3.) Kommunikationsverweigerung; 4.) das Zerreißen von vorgegebenen Formen, wobei diese erkennbar bleiben/bleiben sollen (Collage, De-Collage, Eklektizismus, Sample, Zitat); 5.) eine Geheimdienstmetaphorik und 6.) eine Metaphorik der B-Ebene, also das freiwillige Beziehen eines Unten in einer hierarchischen Macht-Topik (auch wenn dafür meist keine hinreichenden soziologischen Gründe beizubringen sind); 7.) schließlich die Komplizierung als nicht nur im strengen Sinne strategisches Element wie Kommunikationsverweigerung oder affirmative Übercodierung, sondern auch als Versöhnung der Subversion mit sich selbst, als Aufhebung der ihr innewohnenden Differenz von Absicht und Weg. (Diederichsen 1993a: 35)
Anthologien und Reader wie Spaßguerilla (1994), Kommunikationsguerilla (1994) und MaoDada (2000) präsentieren einen Überblick über künstlerische Strategien mit politischen Effekten und versammeln Elemente für »eine künftige Theorie der Subversion« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 1994: 3). Dazu zählen die verschiedenen Bücher Verfahren, Strategien und Praxen wie u.a. Montage und Collage, Verfremdung, subversive Affirmation, Überidentifizierung, Cross-dressing, Untergrundaktionen, produktive Missverständnisse oder Fälschungen.113 Tatsächlich arbeiten kommunikations- und kunstwissenschaftliche Studien und Sammelbände der letzten beiden Dekaden – im Anschluss an Umberto Eco einerseits und Kalle Lasn andererseits – mit Konzep112 | So können die Merkmale ›Auflösung‹, ›Kommunikationsverweigerung‹ und ›Geheimdienstmetaphorik‹ auch mit dem politisch-institutionellen Diskurs der Subversion verbunden werden, die ›Metaphorik der B-Ebene‹ mit dem minoritären Diskurs der Subversion und die ›Komplizierung‹ mit dem dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion. 113 | Vgl. AG Spass muß sein 1994; autonome a.f.r.i.k.a. gruppe 1994; Buero für angewandten Realismus 2000. Diese Reihe setzt sich fort mit Mark Terkessidis’ grundlegendem Text über die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute, in dem er als Taktiken der Subversion die Sinnzersetzung, Verkleidung/Maskierung, Übertreibung und Parodie, Umkehrungen, Stellvertreteraktionen und Hybridität untersucht, vgl. Terkessidis 2008: 32–37.
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ten der ›Guerillakommunikation‹ oder des ›Culture Jammings‹, die der Perspektive dieser literatur- und kulturwissenschaftlichen Studie verwandt sind.114 Die Reflexion des künstlerisch-avantgardistischen Diskurses der Subversion findet folglich inzwischen auch in Museen statt. 2005 veranstaltet das Lentos Kunstmuseum in Linz eine Ausstellung mit dem Titel Just do it! Die Subversion der Zeichen von Marcel Duchamp bis Prada Meinhof. Im Ausstellungskatalog, der die Form eines Totenkopfes hat, werden in fragmentarischer Form zahlreiche Theorien, Beispiele und Künstler dieses Diskurses beschrieben. Als Gegenwartsliteraten werden Elfriede Jelinek und Thomas Meinecke genannt, die historische Avantgarde wird ebenso thematisiert wie Guy Debord, der Situationismus und die Gruppe Subversive Aktion; historische Stoffe wie Don Quijote werden als Beispiele künstlerischer Subversion dargestellt, sehr unterschiedliche Gruppen und Bewegungen wie die Zapatistas, die Yes Men oder auch Formen politisch rechtsgerichteter Subversion werden reflektiert. Als Theoretiker geraten u.a. Theodor W. Adorno, Gilles Deleuze, Antonio Gramsci, Thomas Frank, Gérard Genette, Michael Hardt und Antonio Negri, Victor Klemperer, Julia Kristeva und Karl Marx in den Fokus. Subversion wird im Katalog mit Hilfe zahlreicher nicht-markierter Zitate bestimmt, u.a. als eine Taktik, die – im Gegensatz zu einer Strategie, die ein berechnendes und mit Macht ausgestattetes Subjekt anwendet – als »Handlungsmodus des Schwachen gegen den nach Totalität strebenden Zugriff der Expansionsstrategien des Starken« (Lentos Kunstmuseum Linz 2005: 108) ohne eigenen Rückzugsort operiert. Vergleichbar sei die künstlerische Subversion mit dem Kampf des Vietkong gegen die Allgewalt der B-52-Raketen. Im Gegensatz zum militärisch-revolutionären Kampf des Vietkong seien jedoch »[s]ubversive […] Praktiken« oft »rein symbolpolitisch[ ]« und »schließen sich nicht zu einer revolutionären Haltung und entwerfen kein geschlossenes, alternatives Gegenmodell.« (Lentos Kunstmuseum Linz 2005: 109) Bemerkenswert an der Linzer Ausstellung ist, dass sie den Fokus bereits stark auf künstlerisch-avantgardistische und politische Praktiken im neuen Medium Internet verschiebt, da die Etablierung eines neuen Mediums generell die Möglichkeit bietet, sich auf dem jeweils noch unstrukturierten und wenig traditionsreichen Feld auf avantgardistische Weise zu positionieren (vgl. Lentos Kunstmuseum Linz 2005: 119–166).
114 | Den Begriff der ›semiologischen Guerilla‹ nutzte erstmals Umberto Eco 1967 in einem Vortrag, vgl. Eco 1987; Kalle Lasn prägte 1999 den Begriff des ›Culture Jamming‹; vgl. zur ›Diskurs-‹ bzw. ›Kommunikationsguerilla‹ auch: Huffschmid 2004; Schölzel 2012.
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2.2.2. Literatur als Avantgarde: Historische Avantgarde, Neo-Avantgarde und die Verschiebung von Diskursgrenzen Im Folgenden sollen zwei verschiedene Möglichkeiten dargestellt werden, einen literarischen Text als Teil des künstlerisch-avantgardistischen Diskurses der Subversion zu bestimmen. Zunächst werden literatur- und kunsttheoretische Reflexionen des Avantgardebegriffs und seiner Aporien von Theodor W. Adorno und Peter Bürger ebenso vorgestellt wie aktuelle Versuche, nach dem ›Ende der Avantgarde‹ eine Neo-Avantgarde zu bestimmen, z.B. über die spezifischen Techniken der literarischen Avantgarde wie Collage, Montage und Cut-up-Verfahren. Zweitens wird die literarische Verschiebung von Diskursgrenzen, die zu Konflikten und zu Prozessen gegen die Literatur führen kann, in Anlehnung an Stephen Greenblatt und anhand einzelner Beispiele diskutiert. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie literarischen Werken aufgrund spezifischer ästhetischer (und teilweise auch inhaltlicher) Qualitäten eine subversive Wirkung zuschreiben, die sich als Negation der Traditionen oder Verletzung der herrschenden Normen innerhalb des literarischen Feldes (und teilweise auch auf anderen gesellschaftlichen Feldern) als eine Provokation beschreiben lassen, die allerdings nur temporär und in spezifischen Diskursen wirksam wird und zur Erweiterung der künstlerischen Normen führen kann. Die historische Avantgarde, die Neo-Avantgarde und ihre Techniken (Bürger und Adorno) Theodor W. Adorno hat als Vertreter der Kritischen Theorie der modernen kapitalistischen Massengesellschaft, die die Individuen in eine konformistische Kollektividentität hineinzwinge, eine avancierte Literatur entgegengestellt, die dem ›Nichtidentischen‹ Raum gibt. Adorno geht – gemeinsam mit Max Horkheimer – von der Frage aus, wie es zur »Selbstzerstörung der Aufklärung« in den »Barbareien des Holocaust« (Horkheimer/Adorno 2000: 3) kommen konnte. Beide analysieren eine Dialektik der Auf klärung, die mit ihrer eigenen Durchsetzung auch ihr Gegenteil hervorbringt. Eine Grundvoraussetzung des Rückfalls in die Barbarei, das mit sich selbst identische Massenbewusstsein in der modernen Gesellschaft, wird zu einem Zielpunkt der Kritik. Auch nach dem Holocaust lebe dieser Konformismus in den Unterhaltungsmedien und der zugehörigen Kulturindustrie fort: »Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch« (ebd.: 128) und produziere jene »ästhetische Barbarei« (ebd.: 139), die die Massen mit dem »Stein der Stereotypie« (ebd.: 157) speise und als eine Grundbedingung für ihre andauernde Konformität und Unmündigkeit sorge. Unter der Vorherrschaft der Kulturindustrie in der modernen Massengesellschaft erhalten die »Konsumenten« in keinem »Augenblick die Ahnung von der Möglichkeit des Widerstands« (ebd.: 150), demokratisches Denken und Individualität werden auf diese Weise unmöglich.
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In Abgrenzung von den Produkten der Kulturindustrie, die nichts als Werbung für die gesellschaftliche Macht und die konformistische Unterwerfung seien, sucht Adorno nach Möglichkeiten, das opportunistische gesellschaftliche Denken zu negieren und zu einem individuellen, nicht-identischen Handeln zu gelangen. Als eine entscheidende Antithesis zur Gesellschaft sieht er die Kunst, und darin auch die Literatur, von der er den »Blick, der aufs Grauen geht«, und ein Bewusstsein, das in »der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält« (Adorno 1994a: 21), erwartet. Dieses Bewusstsein erkennt er in der modernen Literatur beispielsweise bei Franz Kaf ka oder Samuel Beckett. Eine solche moderne Literatur der Negation sei jedoch keine bloße Umkehrung der gesellschaftlichen Realität, vielmehr verhalte sie sich zur Gesellschaft »wie ein Magnet zu einem Feld von Eisenspänen.« (Adorno 1995: 18) Sie präsentiere somit auch keine Utopien, keine positiven Konzepte und keine politischen Botschaften, weil sie sich durch dieses Engagement nur wieder an die gesellschaftlichen Verhältnisse angleichen würde. Daher lehnt Adorno auch das Konzept der engagierten Literatur ab, das nur ein »Geblök« sei und »im Gestus des Anredens heimliches Einverständnis mit den Angeredeten« (Adorno 1994c: 429) formuliere. Neue oder experimentelle Literatur dürfe »nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen« (ebd.: 413). Für die Prosa und die Gattung des Romans heißt dies, dass sich nach dem Holocaust und dem Ende des bürgerlichen Zeitalters »nicht mehr erzählen« (Adorno 1994b: 41) lasse.115 In den 1950er und 60er Jahren etablieren sich in Deutschland und Österreich avancierte Autorengruppen sowie Autoren wie die Wiener Gruppe (Friedrich Achleitner, Hans Carl Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener), der Stuttgarter Kreis der Konkreten Poesie und sein Umfeld (Max Bense, Reinhard Döhl, Eugen Gomringer, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel), österreichische Autorinnen und Autoren wie Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder bundesrepublikanische Autoren wie Franz Mon, Oskar Pastior, Arno Schmidt, Ror Wolf sowie der deutsch-schweizerische Autor Di(e)ter Rot(h). Deren Texte erschließen – auf unterschiedliche Weise – die während des Nationalsozialismus aus Deutschland und Österreich bekämpften Techniken der literarischen Avantgarden wieder neu und verweigern sich in ihren Texten – in Adornos Sinne – durch deren formale Gestalt gegenüber den üblichen Schreibund Textproduktionsweisen. Allerdings werden schnell jene Stimmen laut, die die optimistisch behauptete gesellschaftsverändernde Wirkung der neuen Avantgarden in Frage stellen und dazu auf die historischen Avantgarden zurückverweisen. Bereits 1962 stellt Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Aporien der Avantgarde die 115 | Zur Gestalt der neuen, experimentellen Kunst, wie Adorno sie bestimmt, vgl. auch Adorno 1995: 36–58.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
strukturelle temporale Widersprüchlichkeit der historischen Avantgarden heraus: Diese seien a priori mit der Behauptung angetreten, ein fundamental neues künstlerisches Konzept zu vertreten, dessen Wert jedoch nur a posteriori zu bestimmen sei: »Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden« (Enzensberger 1963: 63). Um diese rückwirkende Definition vornehmen zu können, seien die Avantgarden gezwungen gewesen, eine Position der Definitionsgewalt zu erobern und ihre Begriffe für die Kulturindustrie kompatibel zu machen. Vor diesem Hintergrund sei »[j]ede heutige Avantgarde […] Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug. […] Eine Avantgarde, die sich staatlich fördern läßt, hat ihre Rechte verwirkt.« (Ebd.: 79f.) Das ›Ende der Avantgarde‹ sei erreicht, sie »ist zu ihrem Gegenteil, ist zum Anachronismus geworden.« (Ebd.: 80) Während Enzensberger das Ende der Avantgarde aus der temporalen Aporie der historischen Avantgarden und ihrer letztlichen Konzentration auf die Akzeptanz durch die Kulturindustrie ableitet, liegt der Akzent in Peter Bürgers Theorie der Avantgarde von 1974 anders, wenngleich auch er ein Scheitern der Avantgarde konstatiert. Bürger setzt das als Teil der bürgerlichen Ideologie in seine Autonomie entlassene gesellschaftliche Teilsystem Kunst in ein Verhältnis zu den gesellschaftlich-historischen Bedingungen. Die Autonomie der Kunst und ihre Abspaltung von der Lebenspraxis habe auch ihre politische Folgenlosigkeit verursacht. Das Hauptziel der historischen Avantgardebewegungen sei es, »Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen« (Bürger 1981: 29), und auf diese Weise zu enthüllen, dass das Wesen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft »die gesellschaftliche Funktionslosigkeit« (ebd.: 35) sei. Gegen diese Wirkungslosigkeit von Kunst wende die Avantgarde in einer paradoxen Figur die – der Lebenspraxis entgegen gestellte – ästhetische Erfahrung in die Lebenspraxis: »Das, was der zweckrationalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft am meisten widerstreitet, soll zum Organisationsprinzip des Daseins gemacht werden« (ebd.: 44). Mit diesem historischen Versuch, Kunst in die Lebenspraxis zu überführen, trete »das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik« (ebd.: 28) ein. Bürger untersucht verschiedene Kategorien, mit deren Hilfe sich ein Kunstwerk als avantgardistisch bezeichnen lässt (das Werk, das Neue, der Zufall und der Allegoriebegriff Walter Benjamins), und kommt zu dem Ergebnis, dass eine »Theorie der Avantgarde […] von dem Begriff der Montage auszugehen« (ebd.: 104) habe. Bürger unterscheidet den ›Klassiker‹ und dessen ›organisches Kunstwerk‹ vom ›Avantgardisten‹ und dessen ›montiertem Werk‹: Der Klassiker richte sich auf die Totalität seines Werkes aus und mache dessen Produziertsein unkenntlich, während der Avantgardist sein Werk aus Fragmenten montiere und die Einzelmomente des Werks einen höheren Grad an Selbstständigkeit erhielten (vgl. ebd.: 95–98 u. 105–111): »Nicht mehr die Harmonie der Einzelteile konstituiert das Werkganze, sondern die widerspruchsvolle Beziehung heterogener Teile« (ebd.: 110).
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In dieser kunsthistorischen Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelt sich durch die avantgardistischen Montagen und die Rückführung von Kunst in die Lebenspraxis »die Stellung des politischen Engagements in der Kunst grundlegend« (ebd.: 124): War im 19. Jahrhundert noch die Dichotomie von ›reiner Kunst‹ (L’art pour l’art), deren Form im Vordergrund stand, und ›politisch-gesellschaftlicher Kunst‹, mit ihrem Fokus auf Inhalten, vorherrschend, so erzeugt die avantgardistische Montage gerade durch ihre Form eine politisch-gesellschaftliche Wirkung (worauf auch Adorno hinweist). Allerdings haben sich die Kunstinstitutionen schließlich auch der montierten Kunstwerke bemächtigt und diese in die Stätten des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst überführt, so dass dem ursprünglichen Auf begehren der avantgardistischen Kunst gegen die Trennung von Kunst und Leben eine Grenze gesetzt worden ist. Ihre Absorption durch den Kunstbetrieb kann avantgardistische Werke sogar kontraproduktiv machen: »Nachdem einmal der signierte Flaschentrockner als museumswürdiger Gegenstand akzeptiert ist, fällt die Provokation ins Leere; sie verkehrt sich ins Gegenteil.« (Ebd.: 71) Angesichts dieser Absorption der avantgardistischen Kunst durch den Kunstbetrieb unterscheidet Bürger zwischen einer ›historischen Avantgarde‹ und einer ›Neo-Avantgarde‹. Zu den historischen Avantgarden zählt er den Dadaismus, den frühen Surrealismus und die russische Avantgarde nach der Oktoberrevolution, deren Gemeinsames es – bei allen Unterschieden – sei, dass sie die vorangegangene Kunst »in ihrer Gesamtheit« ablehnen und »einen radikalen Traditionsbruch« vollziehen, sich »in ihren extremsten Ausprägungen […] vor allem gegen die Institution Kunst wenden, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat.« (Ebd.: 44) Die Neo-Avantgarden der 1950er und 60er Jahre in Westeuropa seien jene Bewegungen, die »zum Teil die gleichen Ziele proklamieren wie die Vertreter der historischen Avantgardebewegungen«. Allerdings könne, so Bürger apodiktisch, nach dem Scheitern der historischen Avantgarden und ihrer Rückholung in den Kunstbetrieb der Anspruch auf die Verschmelzung von Kunst und Lebenspraxis »nicht mehr ernsthaft gestellt werden«, da es sich bei der avantgardistischen Kunst der 1960er Jahre nur noch um ein Epigonentum unter veränderten Bedingungen handele. Die epigonalen Werke könnten »keineswegs mehr die Intensität des Protests« der historischen Avantgarden erreichen und wollten letztlich nur »Eingang ins Museum finden« (ebd.: 45), das sich der avantgardistischen Kunst, die einst aus ihm ausbrechen wollte, wieder bemächtigt habe.116 116 | Gerhard Plumpe stellt dazu in seinem grundlegenden Aufsatz zum Begriff der Avantgarde fest: »Spätestens 1934/35 – nach Stalins und Hitlers Absagen an alle Avantgardismen in der Kunst […] musste das heroische Experiment der künstlerischen und literarischen Avantgarde auch dem gutwilligsten Beobachter als gescheitert und durch die Institutionen moderner Kunst absorbiert gelten, in denen es fortan als mehr oder weniger interessante Alternative zum Gewohnten akzeptiert werden konnte. Dieses
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
Der Begriff der ›Neo-Avantgarde‹ hat sich zunächst in literatur-, kunst- und theaterwissenschaftlichen Arbeiten der 1970er Jahre etabliert,117 ist dann jedoch zunehmend vom Begriff der ›Post-Avantgarde‹ abgelöst worden, der – in Anlehnung an die Begriffe ›Postmoderne‹ und ›Posthistoire‹ – die lineare Entwicklung der Kunstgeschichte bzw. »das Konzept des Fortschrittszwangs« in Frage stellt. Im Gegensatz dazu nehme sich die Post-Avantgarde die Freiheit, »bewußt anti-historisch über das gesamte historische Material zu verfügen« (Schulz-Buschhaus 1992: 58) und »die Verfügbarkeit vergangener Formen in der Postmoderne, ihre Ahistorizität, die zeitliche Dimension des kreativen Aktes sowie andere […] Kontextmerkmale als Stimulus der Reflexion nutzen« (Gelz 1996: 29).118 Lyotard verweist auf die Nähe seiner Beschreibung der Postmoderne zu den dekonstruktiven und selbstreflexiven Konzepten der historischen Avantgarde.119 Sprachreflexive Formen in der Literatur, die Montagetechniken nutzen, werden demgemäß als post-avantgardistische (oder auch, etwas optimistischer, als neoavantgardistische) Ansätze gekennzeichnet,120 die zwar nicht mehr die politischen Ansprüche der historischen Avantgarden formulieren können, jedoch deren künstlerische Konzepte bis in die Gegenwart weiterreflektieren und -entwickeln. Sie gehen davon aus, dass Literatur hinter diesen historischen Stand der ästhetischen Entwicklung nicht mehr zurückfallen dürfe. Gerhard Plumpe findet die »Einsicht unausweichlich, dass Avantgarde in der Gegenwart – ob als Post-, Neo-, Trans-, Ultra- oder wie immer Avantgarde – nur noch reflexiv und ironisch sein kann als Inszenierung vergangener Geschichtlichwerden der Avantgarde […] hat alle Reprisen, die sich im Zuge der ›kulturrevolutionären‹ Atmosphäre des Mai 1968 haben in Gang setzen lassen, von vornherein in eine Aura des Epigonalen gerückt.« (Plumpe 2001: 13) 117 | Vgl. z.B. Kopfermann 1981; Kosler 1976; in den 1990er Jahren wird er noch von Fischer-Lichte u.a. 1998 genutzt. 118 | Vgl. Böhringer 1978: 108; Gelz 1996: 3f.; Tschilschke 2000. 119 | Wolfgang Welsch beschreibt verschiedene Merkmale des postmodernen Denkens, die Lyotard auch in den Kunstwerken der Avantgarde umgesetzt sieht: »Anerkennung des Differenten, Verbot von Übergriffen, Aufdeckung impliziter Überherrschung, Widerstand gegen strukturelle Vereinheitlichung, Befähigung zu Übergängen« (Welsch 1998: 165). Allerdings wird das postmoderne Denken von einigen Vertreter der Neo-Avantgarde abgelehnt, da dieses die Bedeutung radikaler ästhetischer Ansätze relativiere und die experimentelle Literatur eine ›Perspektive in der postmodernen Wüste‹ darstelle, vgl. Neuner 1999. 120 | Der Begriff der Neo-Avantgarde geht – im Gegensatz zum Begriff der PostAvantgarde – davon aus, dass die Möglichkeit zur Erneuerung oder zumindest Aktualisierung der avantgardistischen Konzepte besteht, weshalb im Kontext dieser Studie, die neuen Entwicklungen und Brüchen mit bestehenden Traditionen nachspürt, dieser Begriff genutzt wird.
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Gesten im Rahmen moderner Kunst und ihrer spezifischen Kommunikationskonventionen.« (Plumpe 2001: 14) Zudem wird der Avantgarde-Begriff, der umwälzende Veränderungen im Kunstdiskurs bezeichnet, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen adaptiert. So ist der Begriff inzwischen in den populären Sprachschatz eingegangen und bezeichnet dort allgemein die Bemühungen sozialer Gruppen, einen nicht-hegemonialen Lebensstil durchzuhalten, sowie die Veränderung der gesellschaftlichen Lebenspraxis durch massenkulturelle Kunst- und Lebensformen, wie sie sich in der Hip-Hop-Bewegung zeigen (vgl. Engler 2002 u. Preckwitz 2003: 70). Die historische Avantgarde im Bereich der Künste verfügt einerseits über eher allgemeine Merkmale wie ihre Frontstellung gegen die Kunsttradition oder ihre Lust zur Grenzüberschreitung von der Welt der Kunst in den Alltagsdiskurs. Bezogen auf ihre literarischen Techniken lassen sich konkreter das Verfahren der Montage und ein hohes Maß an Sprachreflexion – in Abgrenzung vom traditionellen, realistischen Erzähltext – als wichtigste Merkmale nennen. Clemens K. Stepina nennt diese Punkte die »zentrale Thematik« der Wiener Gruppe: »Entgegen der traditionellen Literatur, die mit ihrem Paradigma der Repräsentation an die Widerspiegelungsfunktion von Sprache in bezug [sic!] auf Subjektivität und Wirklichkeit glaubt, stellen die Sprachbearbeitungen der Wiener Gruppe dies gerade in Frage« (Stepina 1999: 130), sie nutzen »eine Sprache, die die Sprache reflektiert« (Stepina 1999: 126), und unternehmen damit »eine Hinterfragung der Bedingung ihrer Möglichkeiten als Präsentation – anhand von Montage und Inventionismustechnik.« (Stepina 1999: 122) Auch für Bürger gilt, wie gezeigt, »die Montage als Grundprinzip avantgardistischer Kunst«. Sie macht überhaupt erst die Fiktion des traditionellen, organischen Kunstwerks, das »die Tatsache seines Produziertseins unkenntlich zu machen« (Bürger 1981: 97) versucht, als solche kenntlich und zeigt, dass das Werk »aus Realitätsfragmenten zusammengesetzt ist; es durchbricht den Schein von Totalität.« (Ebd.: 98)121 121 | Bettina Clausen und Karsten Singelmann haben 1992 unter dem Titel Avantgarde heute? den Begriff noch einmal breiter zu revitalisieren versucht und vier mögliche Neubestimmungen der Avantgarde definiert: Eine Avantgarde-Literatur hätte erstens das »reduzierte bis unterdrückte Potential nichtkonformer (Überschuß-)Wahrnehmungen zu befreien«, zweitens »Erkenntnis-Überschüsse hervorzubringen, und dies, indem sie ihre ästhetischen Aktionen sowohl auf das gesellschaftliche Reale als auch auf den aktuellen Stand der kunstinternen Ausdrucksmittel verpflichtet«, drittens alle »vorgefertigten Etikettierungen« zu überschreiten sowie viertens eine »neu erschlossene Wirklichkeit im Kopf des Rezipienten« (Clausen/Singelmann 1992: 463f.) zu erzeugen. Clausen und Singelmann sehen solche Ansätze in verschiedenen Strömungen der deutschsprachigen Literatur um 1990, die auch in dieser Arbeit zum Thema werden: in der sprachexperimentellen bzw. neoavantgardistischen Literatur (Ernst Jandl, Alexander Kluge, Brigitte Kronauer, Friederike Mayröcker, Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Paul
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
Wie aber lässt sich die literarische Montage im Text bestimmen und auf welche Weise kann sie gegen die häufig ähnlich genutzten Begriffe der ›Collage‹ und des ›Cut-up‹ abgegrenzt werden? Hanno Möbius zeigt, dass der Begriff der Montage nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Technikdiskurs in den Kunstdiskurs übertragen worden ist, wobei seine Nutzung bis heute in der englischen und französischen Sprache differiert (vgl. Möbius 2000: 17). Montage und Collage bestimmt er als Unterbegriffe des Zitierens, wobei die Montage allgemeiner für den Vorgang genutzt wird, auf verschiedene Weise »Unzusammengehöriges zusammenzuführen«, während Collage nur den Fall bezeichnet, in dem »Materialien zusammengeklebt« (ebd.: 195f.) werden. Im Bereich der Literatur, wo inzwischen Texte hauptsächlich mit dem Computer hergestellt werden und die Nutzung von »bescheidenen technischen Mitteln von Büroklammer oder Knipser« nicht mehr notwendig ist, sei der Begriff der Collage obsolet, weshalb Möbius es für angemessen hält, »in der Literatur den allgemeineren und grundlegenderen Begriff der Montage zu verwenden« (ebd.: 197), der sich ohnehin in der Literaturwissenschaft durchgesetzt habe. Jede Montage erfolgt dabei durch spezifische Schnitte. Möbius stellt allerdings die gesellschaftliche Wirkung der Montage als politische Technik in Frage (vgl. ebd.: 459 u. 462). Während Möbius somit für die Literatur den Begriff der Montage präferiert, differenziert Enno Stahl die beiden Begriffe in unterschiedlicher Weise: Die Montage verbindet für ihn »Fertigteile […] zu einer neuen Einheit, wodurch ihr Herkunftsbereich unkenntlich wird« und die »Bruchkanten verschwinden.« (Stahl 1997: 43f.) Im Gegensatz dazu überblendet die Collage »nicht die Bruchstellen, sondern stellt das Material bewußt fragmentiert nebeneinander« (ebd.: 45), verweist also auf das ›Geklebtsein‹ der Collage. Auf diese Weise ist die Herkunft des Zitierten bei Collagen deutlicher zu erkennen als bei Montagen; nur im Ausnahmefall lässt sich von einer Text-Collage sprechen (vgl. ebd.: 47). Stahls Definition lautet: »Montage als neue Einheit des ursprünglich Heterogenen, Collage als unvermitteltes Nebeneinander des Nichtzusammengehörigen.« (Ebd.: 45). In Stahls Arbeit wird die Montage als die »wichtigste Technik der Anti-Kunst […] zur Destruktion der vier Hauptprinzipien der traditionellen Kunst« (ebd.: 415) bestimmt, als die er Mimesis, Autonomie, organische Komposition und die individuelle schöpferische Potenz benennt. Beim Cut-up handelt es sich um ein von William S. Burroughs erstmals genutztes und von Carl Weissner und Jürgen Ploog Ende der 1960er Jahre auch in Deutschland bekannt gemachtes Verfahren ›harter Schnitte‹, also einer besonders starken Form der Collage (vgl. Kramer 2006 u. Weissner 1969). Burroughs experimentierte mit dem Zerschneiden (Cut-up) bzw. Falten (Fold-in) Wühr), der ›Neuen Frankfurter Schule‹ (Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Friedrich Karl Waechter, Ror Wolf) sowie der avancierten Popliteratur (Rainald Goetz, Joachim Lottmann, Thomas Meinecke), vgl. Clausen/Singelmann 1992: 466–487.
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und damit Neuarrangieren von Textseiten, er beschrieb also »die Neukonstellation von bereits medialisiertem Material (Text, Tonband, Fotos usw.) unter Mitwirkung des Zufalls« (Ullmaier 2003: 137), ein Verfahren, das als »praktische Sprachkritik« (Kramer 2003: 34) wirken sollte. In Burroughs´ Theorie kann das Cut-up-Verfahren nicht nur von der Gegenöffentlichkeit des Untergrunds zur »Subversion der in den Bildern und Worten der öffentlichen Sprache herrschenden und verbreiteten Ideologie« (Kramer 2003: 33f.) genutzt werden, sondern selbst subversive Wirkungen in der Gesellschaft entwickeln, zumindest »die Abschaffung des massenkulturellen Gleichstroms zugunsten vieler autonomer Wechselströme.« (Ullmaier 2003: 145) Heute, im digitalen Zeitalter, werden Texte nicht mehr in Papierform geklebt (Collage) oder zerschnitten bzw. gefaltet (Cut-up/Fold-in), weshalb Johannes Ullmaier eine Begriffsverschiebung vornimmt, indem er drei Arten von literarischen Schnitten unterscheidet, die er mit der Bearbeitung von Einzelteilen am Fließband vergleicht: Erstens kann man zwar am Fließband arbeiten, aber den Prozess des Schneidens kaschieren und somit einen ›unsichtbaren Schnitt‹ erzeugen wie im Hollywood-Erzählkino oder im Kiosk-Roman (das entspricht der Montage); zweitens ist es möglich, die Einzelteile »so zu verschrauben/verkleben, dass die Schrauben/Klebestellen sicht-/hör-/spürbar bleiben/werden, um einen belebenden Effekt zu erzielen« (ebd.: 135) (dies entspricht der Collage). Die dritte Art, das Cut-up, »zielt – durch und unter die vorbeiziehenden Produkte – auf das Fließband selbst« (ebd.: 136) und reflektiert somit die Schnitttechnik selbst. Eine entscheidende Frage bleibt jedoch, inwiefern die literarische Montage, die Collage oder das Cut-up-Verfahren überhaupt noch ›avantgardistische‹, ›neue‹ oder ›verstörende‹ Techniken darstellen. Ullmaier hält »die Sichtbarmachung und mediale Durchsetzung des Cuts« für den eindrucksvollsten unter »allen Pyrrhussiegen« der Avantgarde. Hart geschnittene Musikclips, Werbespots, Computerspiele oder Actionfilme seien heute massenkompatibel geworden: »[ J]e neuer und populärer ein Format, eine Kulturtechnik, desto höher ist, so scheint es, die Systemanforderung an Perzeption und Akzeptanz von Schnitten.« (Ebd.: 133) Auch Richard Faber kommt in seinen Ausführungen über Das Prinzip der Montage zu dem Schluss, dass dieses heute »in Reklame und Schulunterricht auf unübertreffliche Weise seine Veralltäglichung bis Trivialisierung und damit den Verlust seiner prinzipiellen Avanciertheit« (Faber 1997: 571f.) bewiesen habe. Schließlich fragt Diedrich Diederichsen rhetorisch unter Bezugnahme auf das Medium Fernsehen: »Was ist eine Collage im Zeitalter des Zapping noch wert? In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der Menschen, die glauben, was sie im Fernsehen sehen, von 54 % auf 27 % halbiert: Auch hier hat Subversion also schon erfolgreich gearbeitet.« (Diederichsen 1993a: 41) Einerseits scheint es in der Tat so, als seien Montagen, Collagen und Cutup-Verfahren in den neuen und neuesten Medien wie Fernsehen, Computer
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und Internet ästhetische Strategien, die genutzt werden müssen, um ein populäres Werk für ›konformistische Konsumentenmassen‹ zu produzieren. Ihre Wirkung wäre dann das genaue Gegenteil von Avantgarde, nämlich gewöhnlich. Andererseits bleibt zu untersuchen, ob und inwiefern das Medium Literatur in diesem Kontext auf andere Weise funktioniert, da es – im Gegensatz zu den neuen Medien – über eine bis weit vor das 20. Jahrhundert zurückgehende Tradition verfügt, gegen die sich diese Verfahren noch immer kritisch verhalten. Zwar werden neoavantgardistische Texte inzwischen auch vom Literaturbetrieb akzeptiert und mit Preisen versehen, aber zugleich bewegen sich diese Texte noch immer in einer literaturbetrieblichen Außenseiterposition, die kontinuierlich bestätigt wird. Ullmaier weist darauf hin, dass »der FeuilletonKreuzzug gegen die Schrecken avantgardistischer Verhärmtheit unter tatkräftiger Mithilfe von Kulturindustrie und Kulturkonservatismus mindestens schon dreimal triumphal gewonnen wurde.« (Ullmaier 2001: 42) Vor diesem Hintergrund werden Kämpfe auch innerhalb des Diskurses der neoavantgardistischen Kunst ausgetragen, in denen um das Jahr 2000 herum z.B. die Redakteure der deutsch-österreichischen Literaturzeitschrift perspektive wie Ralf B. Korte, Helmut Schranz und Robert Steinle ein produktives Verhältnis zum Begriff der Avantgarde zu gewinnen versuchen. In Stammtischgesprächen über Avantgarde etc., die Florian Neuner eingerichtet hat, diskutiert dieser mit verschiedenen Autorinnen und Autoren über Literatur und Avantgarde bzw. Avantgarde und Musik sowie Bildende Kunst in der Gegenwart. Dabei beziehen sie sich positiv auf Theodor W. Adorno, H.C. Artmann, Franz Josef Czernin, Elfriede Gerstl, Bert Papenfuß, Oskar Pastior, Reinhard Priessnitz, Dieter Roth und Ferdinand Schmatz, grenzen sich von Gegenwartsautoren wie Ulla Hahn, Judith Hermann, Bodo Kirchhoff und der Popliteratur von Rainald Goetz, Tim Staffel oder Benjamin von Stuckrad-Barre ab; Autorinnen und Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Elfriede Jelinek und Thomas Kling werden von ihnen ambivalent betrachtet (vgl. Hatting u.a. 2002 u. Neuner/ Neuner 2005). Die Verschiebung von Diskursgrenzen (Greenblatt) Der New Historicism interessiert sich für die Frage, wie sich die »Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft in kapitalistischen Kulturen« (Greenblatt 1991: 112) gestaltet und insbesondere dafür, welche Austauschverhältnisse zwischen diesen beiden Feldern bestehen. Stephen Greenblatt hat in Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern (1991) die Austauschprozesse zwischen literarischen Texten und Texten aus anderen Diskursen analysiert. Er geht davon aus, dass der Kapitalismus seit dem 16. Jahrhundert zwei gegenläufige Entwicklungen forciert habe: Einerseits habe er die Gesellschaft in verschiedene Wissensbereiche mit unterschiedlichen Regeln differenziert und diese voneinander abgegrenzt, andererseits treibe er den ständigen Austausch
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zwischen diesen verschiedenen Bereichen voran. Im Kapitalismus sei somit »die Tendenz der Differenzierung und die der monologischen Organisation gleichzeitig wirksam« (Greenblatt 1991: 113), so dass ein zentrales Merkmal eines kapitalistischen Systems »das starke und nachhaltige Oszillieren zwischen der Etablierung abgegrenzter diskursiver Bereiche und der Vermengung solcher Bereiche miteinander« (ebd.: 115) sei, aus der der Kapitalismus seine Kraft gewinne. Greenblatt wendet sich dementsprechend gegen die Auffassung vom Autor als Originalgenie, der autonom und unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen seine Werke produziere. Im Gegensatz dazu zeigt er, dass das Kunstwerk immer das »Produkt eines Geschäfts« sei und die Künstler »eine Währung prägen, die für einen sinnvollen, gegenseitig gewinnbringenden Austausch tauglich sein muß« (Ebd.: 120). Dieser Austausch funktioniert jedoch wechselseitig: Der ästhetische Diskurs nutzt und transformiert Material aus dem sozialen und dem ökonomischen Diskurs, andererseits ist der soziale Diskurs schon immer mit ästhetischer Kraft geladen – Greenblatt spricht von der »Poetik des Alltagsverhaltens« (ebd.: 116). Auf diese Weise entwickelt Greenblatt ein komplexes System des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft, das die monokausale Prägung der Kunst durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie in marxistischen und literatursoziologischen Ansätzen häufig Ausgangspunkt ist, differenziert: Nicht nur reflektieren die ästhetische Werke die Gesellschaft, auch das Soziale ist ästhetisch durchdrungen. Der New Historicism kann folglich die »Kosten und Nutzen solcher Transfers von Diskursen, ihre Materialität und Medialität sowie die Bedingungen ihrer Manifestationen (›representations‹) in den unterschiedlichen Kontexten« (Baßler 1996: 16) untersuchen. Für literarische Texte heißt dies, dass sie sich nicht einem spezifischen Teilsystem der Gesellschaft zuordnen lassen, sondern dass sich in ihnen vielmehr verschiedene Wissensfelder und Diskurse niederschlagen: »Literatur […] situiert sich in den herrschenden Diskursen und unterläuft sie« (Schößler 2006: 96). Anders gesprochen: Literatur vollzieht als Teilgebiet des kapitalistischen Systems seine charakteristische Bewegung nach, indem sie sich in die Wissensbereiche anderer Felder hineinbewegt und an ihnen partizipiert, reflektiert sie auf eine spezifisch ästhetische Weise ihr eigenes Regelsystem. Zugleich wirkt dieser Austauschprozess in andere Bereiche zurück – und hier liegt die Verbindung zum Diskurs der künstlerischen Avantgarde: Eines der Merkmale avantgardistischer Kunstwerke ist es, dass sie die Begrenzungen des Kunstdiskurses überspringen bzw. in andere Felder verschieben. Wenn avancierte Texte oder jene, die auf ästhetische Weise die Schreib- und Sprechweisen oder die Regularien der jeweiligen Spezialdiskurse anderer gesellschaftlicher Wissensfelder reflektieren oder gar kritisch wenden, nun in diesen Diskursen rezipiert werden, kann dies zu einer Modifikation der Spezialdiskurse oder aber zum diskursiven Ausschluss des literarischen Tex-
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tes führen. Solche Texte schreiben sich, wenn sie inhaltlich Diskursgrenzen überschreiten, in die avantgardistische Tradition ein (wobei sie nicht unbedingt auch sprachlich avanciert oder montiert sein müssen). Ein Beispiel für das sanktionierte Überschreiten von Diskursgrenzen sind jene Fälle, in denen literarische Texte schließlich dem juridischen Diskurs untergeordnet werden, der ein spezifisches und vom ästhetischen Diskurs differentes Regel- und Bewertungssystem entwickelt hat. Im deutschsprachigen Raum hat insbesondere Titanic. Das endgültige Satiremagazin mit regelmäßigen Klagen zu kämpfen, die stellvertretend die Grenzen des literarisch Zulässigen bestimmen, allerdings vor dem Hintergrund der juridischen Regelsysteme. Gegen die These, dass Literatur heute keinerlei Wirkung außerhalb des literarischen Diskurses entwickeln kann, könnten die zahlreichen Prozesse gegen Titanic-Texte oder -Text-Bild-Montagen angeführt werden, von denen einige sogar gegen die Titanic entschieden wurden, wobei es zumeist um Beleidigungen, Blasphemie, Verunglimpfungen und falsche Behauptungen geht.122 Wenn Bernd Ewers in seiner literaturwissenschaftlichen Studie über die rechtliche Bewertung von Satire in der Bundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschrift ›Titanic‹ (1995) feststellt, dass »[e]benso unzeitgemäß wie der Ausgang einiger Religionsbeschimpfungs-Prozesse […] manche Urteile zur Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole« (Ewers 1995: 102) wirken, so verweist diese Bewertung auf differente Maßstäbe und Ungleichzeitigkeiten: Was im literarischen Diskurs ›normal‹ und ›zeitgemäß‹ ist, kann in religiösen, politischen oder medialen Diskursen als ›anormal‹ oder ›unzeitgemäß‹ bewertet werden und dadurch eine Störung des jeweiligen diskursiven Regelsystems erzeugen, die dann im juridischen Diskurs verhandelt und ggf. aufgelöst wird. Greenblatt operiert zwar nicht mit dem Begriff der Avantgarde, seine Beschreibung einer Austauschbewegung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen im Kapitalismus ermöglicht jedoch eine Beschreibung der Wirkungen literarischer Texte, die Themen und Diskursregeln anderer gesellschaftlicher Felder reflektieren und schließlich an diese zurückgeben. Ein literarischer Text kann im literarischen, im ökonomischen und im juridischen Diskurs jeweils völlig unterschiedlich bewertet und verstanden werden, weil seine ästhetischen Strukturen vor dem Hintergrund jeweils völlig verschiedener Regel- und Sinnproduktionssysteme betrachtet werden. Dabei kann es vorkommen, dass ein literarischer Text in einem anderen Diskurs gerade als eine ›subversive Störung‹ verstanden wird, weil seine spezifisch (formalen) ästhetischen Qualitäten (wie Ironie, Parodie, Polyvalenz etc.) ausgeblendet werden und er auf seine vordergründigen Inhalte reduziert wird. 122 | Der Titanic-Redakteur Stefan Gärtner hat 1999 unter dem Titel Das kostet der Spaß! 20 Jahre Titanic-Beleidigtensolidarität die (zumindest teilweise) verlorenen rechtlichen Auseinandersetzungen aufgelistet, vgl. Gärtner 1999 u. Ernst 2011b.
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2.3. D ER SUBKULTURELLE D ISKURS DER S UBVERSION : L ITER ATUR ALS MINORITÄRE D ISTINK TION 2.3.1. Der subkulturelle Diskurs der Subversion: Subversion als minoritär-distinktive Bewegung Neben den politisch-institutionellen und den künstlerisch-avantgardistischen Diskurs der Subversion stellt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der subkulturelle Diskurs der Subversion. Subversion wird hier nicht primär durch künstlerische Aktionen oder Aktionen gegen den Staat und ihre konkreten Wirkungen auf die Gesellschaft bestimmt, sondern durch die Identität und den kollektiven Lebensstil eines spezifischen Teils der Gesellschaft, der sich als Sub- oder Gegenkultur oder als minoritäre Gruppe von einer gesellschaftlichen Normalität oder hegemonialen Gruppen in einer distinktiven Bewegung absetzt. Diese sub- oder gegenkulturellen Minoritäten zielen nur selten auf die Auflösung der staatlichen Ordnung oder deren revolutionäre Veränderung, sondern vielmehr auf ihre Emanzipation oder die Aufwertung ihrer Position innerhalb der Gesellschaft. Dabei können sie auch künstlerisch-avantgardistische Aktionen nutzen, im Gegensatz zu Gruppen wie dem Dadaismus oder Künstlern wie den Yes Men repräsentieren die Sub- und Gegenkulturen jedoch quantitativ größere Teile der Gesellschaft, für die die künstlerische Äußerung nur ein Element innerhalb ihres jeweiligen Lebensstils ist. Während die ›Subkultur‹ eher materiell-ökonomisch als eine proletarische oder prekäre Kultur gedacht wird, wird als ›Gegenkultur‹ eine nonkonformistische Kultur auch höherer gesellschaftlicher Klassen beschrieben (vgl. Wuggenig 2003: 67f.). Der Begriff der Subkultur ist ein soziologischer, der von der Differenzierung einer Gesellschaft in verschiedene Klassen bzw. Schichten ausgeht und damit eine spezifische Vorstellung verbindet: »Menschen in ähnlichen Klassen- und Soziallagen leben unter ähnlichen Bedingungen und machen daher ähnliche Erfahrungen. Die Klassen- bzw. Soziallage beeinflußt deshalb ihr Denken, ihre Vorstellungswelt, ihre Mentalitäten, Werte, Interessen, Ideologien und Verhaltensweisen.« (Geißler 1992: 61; Hervorh. herausgenommen) Von dieser Grundannahme ausgehend, lassen sich z.B. in der Bundesrepublik Deutschland verschiedene soziale Milieus beschreiben, die von der ›Oberschicht‹ bis zu den ›sozial Verachteten‹ reichen. Neben diesen schichtspezifischen Subkulturen, deren Bestimmung sich an ihrem sozialen Status ausrichtet, lassen sich auch jugendliche Subkulturen oder politische Gegenkulturen beschreiben, deren Lebens- und Denkweise sich »von der dominanten Kultur einerseits und von den anderen Subkulturen andererseits unterscheidet.« (Vaskovics 1995: 14) Als Beispiele nennt Laszlo A. Vaskovics die »Subkultur älterer Menschen, Subkultur von Obdachlosen, Nichtseßhaften-Subkulturen, ›sexuelle Subkulturen‹ (von der Subkultur der Homosexualität, Prostitution bis hin
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zur Peepshow-Subkultur). Weiter ist auf Untersuchungen hinzuweisen, die sich mit Themen wie ›Subkultur der Arbeitslosen‹, ›Subkultur der Behinderten‹ und ›religiöse Subkulturen‹ beschäftigen.« (Vaskovics 1995: 20) Sogar die intellektuelle Boheme kann als Gegenkultur bezeichnet werden, wenn man ihren Lebensstil als abweichend von jenen der gesellschaftlich dominanten Gruppen und zugleich als mit geringem gesellschaftlichem Einfluss ausgestattet bewertet (dies sähe allerdings bei der ›Oberkultur‹ des deutschen Adels anders aus).123 Rolf Schwendter bestimmt Subkulturen als Gruppen, die sich »in ihren Werten, Normen, Bedürfnissen, Wünschen, Objektivationen, Institutionen usw. in einem wesentlichen Ausmaße von jenen der Gesamtgesellschaft unterscheiden.« Er beschäftigt sich vor allem mit der Frage, in welcher Weise die Subkulturen ihr »produktiv abweichende[s] Veränderungspotential in ›Stilen‹ zum Ausdruck« bringen, »bevor es von der vorschnellen Anpassung an die Normen der herrschenden Kultur ereilt wird.« (Schwendter 1990: 416) In seiner Theorie der Subkultur (1981) stellt er die Subkulturen »den herrschenden Institutionen« gegenüber, und fasst seine Bestimmung der gesellschaftlichen »Randgruppen« sehr weit (wobei er hier die teilweise problematische Terminologie der frühen 1980er Jahre verwendet): »Schüler, Deserteure, Arbeitslose, Philosophen, Hippies, Studenten, Neger, Automationsrentner, Altkommunisten, Gastarbeiter, unzufriedene Frauen, Bergarbeiter, Ostermarschierer – eine Liste die sich verlängern und je nach den lokalen Umständen variieren ließe.« (Schwendter 1981: 11f.) Tatsächlich treten neben die Kategorien ›Klasse‹ bzw. ›Milieu‹, unter denen sich die materiell benachteiligten von den ökonomisch besser gestellten Personen unterscheiden lassen, andere Kategorien der Diskriminierung und gesellschaftlichen Benachteiligung, die über die Konstruktion einer kollektiven Identität produziert werden, wie vor allem die Kategorien ›Ethnizität‹ und ›Geschlecht‹. Man könnte auch noch weitere Kategorien wie ›Sexualität‹, ›Religion‹, ›Behinderung‹, ›Alter‹, ›Aussehen‹ etc. nennen, die zur sozialen Differenzierung genutzt werden und als solche auch Diskriminierungen produzieren können. Sowohl der hegemoniale Diskurs als auch die von ihm konstruierten Machtverhältnisse und Normalitätsvorstellungen sind zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kultur sehr divergent (vgl. Terkessidis 2000: 7f.), dennoch geschieht es häufig, dass Minoritäten als diskriminierte Gruppen politisch aktiv werden, um für ihre gesellschaftliche Emanzipation zu kämpfen. Innerhalb der oben genannten Kategorien haben sich zahlreiche Organisationen und Interessenvertretungen gegründet, die sich – ausgehend von einem affirmativen Bezug auf die jeweilige Kategorie der Unterdrückung wie ›Frau‹, 123 | In diesem Sinne lässt sich Helmut Kreuzers Beschreibung der Boheme als Analyse einer Gegenkultur verstehen, vgl. Kreuzer 1968.
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›Ausländerin‹, ›Homosexuelle‹ – als Frauen-, Lesben- oder Schwulenbewegung formiert haben oder als Ausländerbeirat oder in Parteien die lokale Politik mitbestimmen. Während diese Formen des politischen Engagements jedoch eher den Charakter von institutionellen Kämpfen und Aktionen annehmen, die sich innerhalb der staatlich vorgesehenen Strukturen des demokratischen Systems bewegen, gibt es auch Jugend-, Sub- und Gegenkulturen, die sich außerhalb dieser Strukturen durch ihren Lebensstil von den hegemonialen Milieus und Normen abgrenzen und deren Aktivitäten seit den 1980er Jahren als ›subversiv‹ bezeichnet werden. Subkulturen, so Sue Widdicombe und Robin Wooffitt, offer a culture and a collective identity which differs from identities ascribed through school, work and class. […] The style of the subcultures symbolizes resistance to subordination, challenges the dominant social order, and covers the gap between an individual’s low status position in the labour force […] and the position to which they aspire (Widdicombe/Wooffitt 1995: 24).124
In Deutschland formieren sich in den 1960er Jahren – im Anschluss an die Entwicklungen in den USA und in Frankreich – Hippie-Jugendkulturen und eine Studierendenbewegung als Außerparlamentarische Opposition. In Gruppen wie den Umherschweifenden Haschrebellen und der Kommune 1 werden neue, alternative Formen des Lebens ausprobiert, die sich in Opposition zu den herrschenden Normvorstellungen setzen (die Bildung einer Wohngemeinschaft ist zu einer Zeit, da der sog. Kuppelei-§-180 noch gilt, ein illegaler Akt). Insbesondere das Experiment einer ›freien Sexualität‹ und der ›Bewusstseinserweiterung‹ durch die Einnahme von Drogen, aber auch die je eigene Musik, Kleidung und Sprechweise, grenzen diese Gegenkulturen von der dominanten Gesellschaft ab, wobei allerdings der Staat mit neuerlichen Sanktionierungen auf die alternativen Lebensweisen der Gegenkulturen reagiert, u.a. wird 1972 das Betäubungsmittelgesetz erlassen. Zugleich ändert sich jedoch – auch durch die Aktivitäten der Gegenkulturen und deren öffentliche Präsenz – die staatlich-juristische Positionierung zur Sexualität: Am 23. November 1973 werden die Paragrafen zu den Straftatbeständen ›Kuppelei‹ und ›Homosexualität‹ liberalisiert (vgl. Bentz 1998: 586–590).
124 | Hans-Peter Rodenberg bezeichnet in seinen Untersuchungen zur Lyrik der amerikanischen Gegenkultur 1960 – 1975 unter dem Titel Subversive Phantasie die Beat Generation als »erste große Protestbewegung« (Rodenberg 1983: 33) der USA, aus der sich Mitte der 1960er Jahre die Hippies und daran anschließend die Yippies formiert hätten, wobei er – ähnlich wie es sich am Beispiel der Avantgarde-Bewegungen zeigen lässt – einen Prozess der Absorption und des Zerfalls erfolgreicher ›progressiver Subkulturen‹ beschreibt.
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Diese Form der sexuellen Befreiung sowie die politischen Ziele und Verfahrensweisen der Studierendenbewegung werden jedoch von den politisch engagierten Frauen kritisiert, die feststellen, dass sie innerhalb der Bewegung nicht angemessen vertreten sowie in der ›sexuellen Befreiung‹ ausgebeutet werden. In starker Abgrenzung von den ›männlichen Protestformen‹ entwickelt sich daraufhin in den 1970er Jahren eine breite differenzfeministische Frauenbewegung, die auf ihre gesellschaftliche Emanzipation abzielt: »Die Kritik an der männlich zentrierten Moderne und die Absage an Analysen, die Frauen als defizitär gemessen an männlichen Normen ansahen, führte zur Suche nach positiven Bestimmungen des Weiblichen, zur Frage nach dem ›anders sein‹ von Frauen.« (Faulstich-Wieland 2003: 100) Viele Frauen kritisieren patriarchal geprägte Ideologeme, gründen Frauen-(Lesben-)Wohngemeinschaften, arbeiten historisch die nicht angemessen gewürdigten und repräsentierten Arbeiten von Theoretikerinnen und Autorinnen auf, gehen auf die Suche nach dem ›spezifisch Weiblichen‹ in Körper, Sprache, Leben; Mütterlichkeit gewinnt eine große Bedeutung. 1975 führt Gayle Rubin die Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und Gender, dem kulturellen Geschlecht, in die US-amerikanische Debatte ein: Every society also has a sex/gender system – a set of arrangements by which the biological raw material of human sex and procreation is shaped by human, social intervention and satisfied in a conventional manner, no matter how bizarre some of the conventions may be. (Rubin 1975: 165)
Im selben Jahr veröffentlicht Verena Stefan mit Häutungen einen Text, der den Ausbruch einer Frau aus ihrer heterosexuellen Beziehung in eine erfüllte lesbische Liebe beschreibt und auf diese Weise mit den kulturellen Geschlechterkonventionen bricht. Zur weiblichen Emanzipation, so Erika Runge in Frauen. Versuche zur Emanzipation (1970), gehöre es, einen »Beruf zu ergreifen, der bisher Männern vorbehalten war«, »[s]exuelle Freiheiten in Anspruch zu nehmen«, »sich von einem Mann [zu] trennen, um überlieferten Unterdrückungsmechanismen zu entkommen.« (Runge 1996: 272) In ihrem Sammelband dokumentiert Runge Gespräche mit 17 Frauen, die über den Stand ihrer Emanzipation berichten – Runge habe versucht, »das Wesentliche des gesprochenen Stils zu bewahren« (Runge 1996: 271) und somit ›authentische Protokolle‹ angefertigt. Das Buch wird von der Auffassung getragen, ›die Frauen‹ als diskriminierte Gruppe könnten für die Veränderung ihres gesellschaftlichen Status’ sorgen: »Es liegt zunächst an den Frauen selbst, wenn die Unterdrückung bestehen bleibt. Und mit an den Frauen liegt es, wenn sie endlich zerbrochen wird. Die Frau muß […] sich behaupten, sich organisieren und durchsetzen lernen.« (Runge 1996: 273) Die starke Überzeugung, dass »[w]ir Frauen« die Befreiung der Frauen »selbst in die Hand nehmen müssen« (Schwarzer 1972: 156), wirkt beispielsweise erfolgreich im gemeinsamen
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Kampf gegen den § 218, der Schwangerschaftsabbrüche verbietet: In der Nachfolge der Selbstbezichtigungskampagne Aktion 218 der Publizistin Alice Schwarzer von 1971 und vielen politischen Auseinandersetzungen tritt am 18. Mai 1976 eine Neufassung des § 218 StGB in Kraft, die im Falle einer medizinischen, kriminogenen, eugenischen oder Notfallindikation Straffreiheit für Schwangerschaftsabbrüche vorsieht. Der Deutsche Herbst von 1977 setzt ein Fanal und den politischen Hoffnungen der Außerparlamentarischen Opposition, die bereits in zahlreiche Splittergruppen zerfallen war, ein endgültiges Ende. Teile der progressiven Gegenkulturen wie die Hippies und die Frauenbewegung sowie weitere Neue Soziale Bewegungen gehen in den Parteibildungsprozess der Grünen ein, die sich am 13. Januar 1980 als Bundespartei gründen. Parallel dazu formiert sich – gerade auch in Abgrenzung von den Hippies und den politisierten Neuen Sozialen Bewegungen – mit den Punks eine Jugend- und Gegenkultur, die mit ihrer Verknüpfung von künstlerischer Aktion, Lebensstil und Abgrenzungsverhalten den Begriff der Subversion mit dem subkulturellen Diskurs verbindet, der sich auf die Formation gegenkultureller und minoritärer Gruppen und Identitäten bezieht. Als ein Vorläufer dieser Entwicklung kann Helmut Salzingers Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? (1972) betrachtet werden, in dem Salzinger private Identität, politische Revolution und die jugendkulturelle (Rock-)Musik zusammendenkt: »Der Rücksitz brachte die sexuelle Revolution hervor, und das Autoradio war das Medium der Subversion. […] Der Rock ’n’ Roll bezeichnete den Beginn der Revolution.« (Salzinger 1972: 9) Die Punk-Bewegung entsteht 1977 in Großbritannien und verbreitet sich ab 1978 – also direkt im Anschluss an die Ernüchterung des ›Deutschen Herbst‹ – auch in Deutschland. Sie verweigert sich politischen Botschaften oder großen Begriffen wie ›Revolution‹ und versteht sich, so Ulf Wuggenig, eher »als subversive Symbolpolitik und hochcodierter Widerstand gegen die herrschende Ordnung«. Gegen Ende der 1970er Jahre habe dann die die Subkulturforschung »zu einer massiven Übung in Entzifferung, zu einer Jagd nach versteckten Codes und verborgenen, subversiven Bedeutungen« (Wuggenig 2003: 72) aufgerufen. In einer Distinktionsbewegung setzen sich Punk und New Wave von den etablierten Gegen- und Alternativkulturen ab, wie Diedrich Diederichsen rückblickend beschreibt: Nicht der Verblendungszusammenhang der Pop- und Massenkultur ist zu kritisieren, vielmehr ist ihr Angebot an Künstlichkeiten und Fiktionen der Ideologie des Natürlichen, bei der sich Hippies und Grüne mit Nazis und älteren Mitbürgern treffen, vorzuziehen (Diederichsen 2002: II).
Zur Abgrenzung von den ›68ern‹ und den Hippies einerseits sowie von den Konservativen und Bürgerlichen andererseits verwenden die Punks verschiedene Symbole als Vehikel ihrer Distinktion, wie Thomas Schwebel rückbli-
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ckend darstellt: »Entweder Hakenkreuz oder RAF-Maschinenpistole. Beides bot sich an. Draußen auf der Straße hat beides genau die gleiche Reaktion ausgelöst. Völlige Verstörung.« (Schwebel, zit. n. Teipel 2001: 51) Aber auch der Pop-Glamour konnte in ähnlicher Weise verstörend wirken, wie es die Band Palais Schaumburg zeigte: »Man fand es subversiv, schick frisiert zu sein und Anzüge zu tragen. Das waren Strategien. Der Feind war dieses ganze sozialdemokratische Klima. Die Atomkraftliberalen und Althippies – […] [f]ür die waren kurzhaarige, in Anzügen steckende junge Leute ein rotes Tuch« (Diederichsen, zit. n. Teipel 2001: 332). Parolen wie ›Zurück zum Beton‹ und ›No future‹, ein affirmativer Bezug zu Hässlichkeit, Urbanität und Technik, die Nutzung von Strategien aus der künstlerisch-avantgardistischen Tradition in Verbindung mit einer anarchistischen, dilettantischen und anti-intellektuellen Haltung sowie spätere Experimente mit freier Sexualität und Drogen sind weitere Merkmale der Punk-Bewegung (vgl. Teipel 2001). Die Punk-Bewegung ermöglichte ihren Mitgliedern (und verpflichtete sie gleichzeitig dazu), sich durch diffizile und wechselhafte Distinktionsspiele eine neue Identität als Punk zuzulegen, die teilweise allerdings häufig nur darin bestand, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was andere Gegenkulturen vertreten.125 Kleidungsstile, Frisuren und musikalische Vorlieben werden immer weiter mit Bedeutung aufgeladen und ausdifferenziert, 1983 erscheint in der Rowohlt-Reihe Medien subversiv der Band Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Darin reflektiert Dick Hebdige über »die verborgenen subversiven Bedeutungen von Stil«, die als »Ausdrucksformen und Rituale[ ] jener untergeordneten Gruppen« wie Skinheads und Punks »ständig umstritten« (Hebdige 1983: 9) seien. Auch eine geringfügige Abweichung im Stil könne zu einem »Verbrechen gegen die Ordnung« werden: »das kunstvolle Pflegen einer Schmalzlocke, die Anschaffung eines Motorrollers, einer Schallplatte oder einer bestimmten Anzugsorte«. Hebdige geht davon aus, dass diese Form stilistischer Verweigerung »gute Gründe hat, daß diese Haltungen bedeutsam sind und daß Grinsen und höhnisches Lächeln gewissen subversiven Wert haben.« (Hebdige 1983: 10) Mit New Wave und der Punk-Bewegung etabliert sich in Deutschland eine ›Pop-Linke‹, die eine Politik der Lebensstile vertritt und danach fragt, welche Kunst und Musik jemand rezipiert, wie er/sie sich kleidet, in welche Cafés und Clubs er/sie geht usw. In diesem Sinne bestimmt Diederichsen sub-, gegenoder alternativkulturelle Gruppen als Formen »des existentiellen Besserwissens« (Diederichsen 1999: 37), die mit »der öffentlichen Vorführung dieser 125 | Jürgen Engler erzählt davon, wie er die kontinuierlichen Distinktionskämpfe erlebt hat. Als gerade die Grünen gegründet worden waren, gab es den Vorschlag: »[W]ir gründen jetzt die Grauen. Nur noch Betonsilos. Total auf extrem. Aber gerade das war die Idiotie an der Sache: Wenn etwa die Grünen diese oder jene Position hatten, musste man die gegenteilige Position einnehmen.« (Engler, zit. n. Teipel 2001: 107)
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Lebensweise« (Diederichsen 1999: 38) gegen die »vorgefundenen, spießigen, konventionellen, traditionellen, institutionalisierten, patriarchalischen, langweiligen, bürgerlichen oder alltäglichen Leben« (ebd.: 36) eine bessere Lebensweise etablieren wollen. Die Hoffnung der Gegenkulturen, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, erfüllt sich jedoch nur bedingt. Einerseits haben sie erfolgreich die Kleidernormen und Medieninhalte verschoben, so dass ihre provokanten Gesten inzwischen ins Leere zielen und ihrer distinktiven Funktion beraubt sind,126 andererseits werden in den 1990er Jahren die Lebensstile der ›Pop-Linken‹ nicht nur vom gesellschaftlichen Mainstream, sondern auch von rechten Jugendgruppen übernommen. Studien wie Rechtsextremismus und kulturelle Subversion (1998), Nazis sind Pop (2000) und Moderne Nazis (2005)127 beschreiben Formen einer Übernahme »der internationalen populären Jugendkultur« (Bergmann/Erb 1994: 11) in rechtsextremen Subkulturen, die auch Werner Bergmann und Rainer Erb konstatieren: Zeichnete sich der Rechtsextremismus bis Ende der siebziger Jahre durch das Festhalten an einer antimodernen Ideologie, völkischen Stilelementen und durch seine Vorliebe für straffe Organisation und Disziplin aus, so bildet er heute im Anschluß an die Pluralisierung der Lebensstile Jugendlicher in den westlichen Industriegesellschaften einen Teil dieses modernen Spektrums. (Ebd.: 7)
Die Integration ihrer Mitglieder in die jeweilige Szene erfolgt über einen spezifischen kulturellen Zeichenvorrat, die »etablierte kulturelle Form (Musik, Tanzstil) erhält von rechten Rockbands einen neuen Inhalt«, der dafür sorgt, dass sich auch die rechte Szene »primär über alltagsästhetische Zeichen integriert« (ebd.: 14). Bernd Wagner kommt in ähnlicher Weise zu der Erkenntnis, dass innerhalb des »rechtsextrem-orientierten Jugendspektrums […] ästhetische Aspekte eine bedeutende, identitätsstiftende Rolle (spielen). Die ästhetische Aneignung von Werten geht der ideologischen voraus und ergänzt sie permanent.« Dabei beziehen sich die rechten Jugendgruppen auf »Oi-Musik, Heavy Metal und zunehmend Tekkno« sowie auf die »Bilderwelt der Comics und Videoclips, des Fernsehens und der Programmwelt« (Wagner 1994: 83).
126 | Xao Seffcheque (früher Sounds) und Gode (früher Gitarrist) stellen im Rückblick fest, dass viele provokante Aktionen der Punk-Bewegung, die den Lebensstil betreffen, heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien: »Punk hat bewirkt, dass die Hausfrau jetzt auch schon grüne Strähnen haben kann. Ohne sich dabei was zu denken. Und dass in der Talkshow über Sex gesprochen wird. Was zuerst ja nur von Punkbands gemacht wurde. […] Nur, damals konntest du die Leute so richtig schocken. Aber wenn es jeder macht, hat es irgendwann keine Bedeutung mehr« (Seffcheque, zit. n. Teipel 2001: 353). 127 | Vgl. Wagner 1998a; Schröder 2000; Staud 2005.
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Der ›Pop-Linke‹ Diederichsen wendet sich erschüttert von den Fernsehbildern der ausländerfeindlichen Angriffe auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen (1991) ab, da er in den Angreifern »einen repräsentativen Querschnitt der bekannten jugendkulturellen Typen« erkennt, »für und über die ich seit Jahren schreibe, in der […] Vorstellung, sie seien entweder so etwas wie Subjekte korrekter politischer Kämpfe oder Symptome des jeweils neusten Stand der Dinge.« (Diederichsen 1993b: 254) Resigniert stellt er fest, dass »die alten Kriterien für Befreiung wie der Tabubruch, das spontane Ereignis, der Rausch umstandslos von Nazis übernommen werden können« und es somit angezeigt sei, »von diesen Kategorien Abstand zu nehmen« (ebd.: 259). In den Jahren 2008 und 2009 wird eine Gruppe Konversativ-Subversive Aktion (KSA) aktiv und überführt einzelne Strategien sowie den Gruppennamen Subversive Aktion vom politisch linken in den rechten Diskurs. Das Konzept der Gegen- bzw. Subkulturen ist – gerade aufgrund seiner politischen Anschlussfähigkeit – auch weiterhin präsent, wie so unterschiedliche Beispiele wie Techno, Gothic, die Riot Grrrls128 oder Femen in den späteren 1990er Jahren und in der Gegenwart gezeigt haben und zeigen. Das Bewusstsein, dass sich auch hinter Kleidungsstilen und dem Konsumverhalten politische Haltungen und Subversionsmöglichkeiten verbergen, ist eine Basis für Naomi Kleins Bestseller No logo (2000), in dem sie »eine gewaltige Welle des Widerstands […] gegen die multinationalen Konzerne« (Klein 2000: 17) beschreibt, die sich vor allem durch eine Verweigerung gegen die Marken globalisierter Großunternehmen wie Nike und Shell auszeichnet. Zu den Abgrenzungsstrategien der Subkulturen von der hegemonialen Gesellschaft gehört auch ihr Kampf um autonome Räume, unabhängige Medien und Informationsmöglichkeiten, wobei hier vor allem danach zu fragen wäre, inwiefern das Medium Literatur eine minoritär-distinktive Funktion für Suboder Gegenkulturen erfüllen kann. Als zentrale Theoretiker dieses Kampfes um eine politische und autonome Nutzung von Medien werden immer wieder Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger aufgerufen. Während Benjamin 1936 das – zu dieser Zeit – neue Medium Film als eine revolutionäre Möglichkeit für die politischen Massenbewegungen sah, die er mit den Wirkungen des Dadaismus im Bereich der Malerei und der Literatur verglich (vgl. Benjamin 1963: 37), plädiert Brecht 1932 in Der Rundfunk als Kommunikationsapparat dafür, das bislang nur »im Interesse der wenigen« (Brecht 1971: 24) als Distributionsapparat genutzte Medium Radio »in einen Kommunikationsap128 | Katja Kailer und Anja Bierbaum beschreiben in ihrer Studie Girlism. Feminismus zwischen Subversion und Ausverkauf die Riot-Grrrl-Bewegung als eine »feministische Jugendsubkultur mit subversivem Gehalt«, deren »widerständige (jugendsubkulturelle) Elemente nicht mehr notwendigerweise als Bedrohung empfunden und unterdrückt, sondern vielmehr als innovative Neuerungen von einer Kulturindustrie bejaht und integriert werden können.« (Kailer/Biermann 2002: 240)
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parat zu verwandeln« und auf diese Weise »ein ungeheures Kanalsystem« (Brecht 1971: 20) zu entwickeln. 1970 schließt Hans Magnus Enzensberger an diesen medialen Enthusiasmus an und untersucht »die objektiv subversiven Möglichkeiten der elektronischen Medien«, die erstens in ihrer Informationswirkung und zweitens in ihren »unmittelbar mobilisierenden Möglichkeiten« bestehe, die sich dort zeigten, »wo sie bewußt subversiv gebraucht werden« (Enzensberger 1970: 173f.). In diesem Sinne unterscheidet Enzensberger zwischen einem ›repressiven‹ und einem ›emanzipatorischen Mediengebrauch‹: Während ein zentral gesteuertes Programm, eine passive Konsumentenhaltung und die Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten zu einem Entpolitisierungsprozess führen und somit Merkmale des repressiven Mediengebrauchs sind, sorgen dezentralisierte Programme, die durch Selbstorganisation und kollektive Produktion gesteuert werden und die Interaktion der Teilnehmer ermöglichen, für einen politischen Lernprozess und sind somit Merkmale eines emanzipatorischen Mediengebrauchs (vgl. ebd.: 173). Neben Untergrundzeitungen und -literatur, die sich minoritär und als Organ der Gegen- bzw. Subkultur verstehen, hat sich der Gedanke der Unabhängigkeit in den 1980er und 90er Jahren vor allem im Bereich der Musikverlage (Labels) und -vertriebe niedergeschlagen. Der Musikhandel unterscheidet die Kategorien ›Mainstream‹, ›Overground‹ und ›Underground‹: »-Mainstream: im allgemeinen Musikfachhandel erhältliches Produkt; -Overground: im spezialisierten Fachhandel erhältlich; -Underground: nur durch direkten Künstler- bzw. Szenekontakt erhältlich« (Scholz 2003: 154).
2.3.2. Literatur als minoritäre Distinktion: (Inter-)Diskurstheorie, die kleine Literatur, Feldtheorie, Cultural Studies und Poptheorie Im subkulturellen Diskurs der Subversion wird davon ausgegangen, dass gerade die distinktiven Abgrenzungsbewegungen minoritärer, subkultureller oder gegenkultureller Gruppen subversive Effekte haben können. Die Gruppen formieren sich entweder als Reaktion auf ihre Diskriminierung durch Kategorien wie Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Sexualität, Religion, Behinderung, Alter oder Aussehen oder als distinktive Jugend- oder Gegenkulturen. Ihre Kollektividentität findet Ausdruck in einer gemeinsamen politischen Praxis und/oder in einem gemeinsamen Lebensstil, dabei werden auch autonome Räume und/ oder unabhängige Medien genutzt. Literatur kann als Medium von diesen Auseinandersetzungen zwischen ›Majorität‹ versus ›Minorität‹, ›Mehrheitsgesellschaft‹ versus ›Sub- oder Gegenkultur‹ oder auch ›diskriminierende Normalität‹ und ›zu emanzipierende Abweichung‹ berichten und von den Kämpfen minorisierter Gruppen um eine ›emanzipiertere‹ Form der Repräsentation. Zudem können literarische Texte-
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sich selbst durch ihre Sprache, die präsentierten literarischen Figuren oder aufgerufenen Wissensarchive als minoritär oder als Teil einer minoritären Gruppe oder Sub-/Gegenkultur in den gesellschaftlichen Diskursen positionieren. Diese Positionierungen können auf verschiedene Weisen beschrieben bzw. problematisiert werden, wie im Folgenden gezeigt wird. Der hegemoniale Diskurs und der Gegendiskurs (Foucault) Michel Foucaults Denken arbeitet mit dem Begriff des Diskurses und untersucht die Frage: [W]ie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden? (Foucault 1995: 8)
Diskurse sind bei Foucault die Summe aller sprachlichen Fragmente, die vor dem Hintergrund eines bestimmten Aussagesystems entstehen, wobei die Aussagemöglichkeiten begrenzt und geregelt werden: In jeder Gesellschaft, so Foucault, wird »die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert« (Foucault 2003: 11). Dies ist die Aufgabe verschiedener Prozeduren wie Ausschließung, Verbot, Grenzziehung, die die diskursiven Aussagemöglichkeiten verknappen und bestimmen, was sagbar ist bzw. gesagt werden kann. Die Regelsysteme und ›Wahrheiten‹ der Diskurse unterscheiden und verändern sich auf vielfältige Weisen. In historischen Analysen zeigt Foucault u.a. an den Beispielen Vernunft/Wahnsinn, Erziehung und Sexualität, wie spezifische Diskurse entstehen, die den Subjekten mögliche Diskurspositionen anbieten und das ›Innerste‹ von Subjekten bzw. ihre ›Seele‹ durch Einschreibungen auf den Körper erst von außen produzieren. Diskurse produzieren somit das gesellschaftliche Wissen und die Wahrheitsbedingungen, aus denen die gesellschaftlichen Institutionen als Vernetzungen zwischen den Diskursen, von Foucault ›Dispositive‹ genannt, hervorgehen. Auch die Kritik erscheint nur als eine Haltung, deren ›Wahrheitsanspruch‹ sich nicht beweisen lässt, sondern sich vielmehr versteht als »die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.« (Foucault 1992: 12) In seinen frühen Schriften interessiert sich Foucault auch für die Literatur und ihren »so merkwürdigen Status« (Foucault 2003: 18), den er – in Abgrenzung von den Regelsystemen diskursiver Ordnungen – in der Ordnung der Dinge (1966) »zum Leitbild einer Subversion des Wissens« (Geisenhanslüke 1997: 213) erhebt. In diesem Text interessiert sich Foucault für die Weise, in der Diskurse historisch das Subjekt und seine Position in den Diskursen produziert haben, und zugleich für die Frage, wie diese »Dispositionen ins Wanken« geraten könnten und somit der ›abendländische‹ »Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1999: 462). Eine Möglichkeit sieht Foucault im literarischen Diskurs, den er von Hölderlin über Mallarmé zu Ar-
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taud betrachtet und als »eine Art ›Gegendiskurs‹« (ebd.: 76) bezeichnet. Im Gegensatz zu allen anderen Diskursen sei dieser in der Lage, eine »Sprache ohne Anfang, ohne Endpunkt und ohne Verheißung wachsen« (Foucault 1999: 77) zu lassen und ein »Sprechen über das Außen alles Sprechens« (Foucault 1974: 63), also das den Regeln des Diskurses sich Entziehende, zu finden. In Foucaults Ordnung der Dinge kommt der Literatur somit die subversive Funktion zu, »den hermeneutischen Vorrang der Bedeutung zu bestreiten«, sie bildet »zugleich das Vorbild für eine subversive Theorie der Literaturwissenschaft.« (Geisenhanslüke 1997: 14) Allerdings lässt sich Foucaults Interesse für die Literatur von heute aus betrachtet als »eine Randfigur in seinem Denken« (Geisenhanslüke 2001: 65) bewerten, von der er sich später distanziert (vgl. ebd.: 68). In seinen späteren Schriften untersucht Foucault vorrangig das Verhältnis von Diskurs, Macht und Gegenmacht, wobei sich Macht und Widerstand als zwei Seiten desselben Diskurses zeigen: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht« (Foucault 1995: 116). Ein literarischer Diskurs, der anderen Regeln als alle anderen Diskurse gehorcht, wird von ihm nun nicht mehr gedacht, ebenso wenig lässt sich ein gesellschaftlicher Bereich denken, der nur eigene ästhetische Formationen produziert, die nicht nach diskursiven Regeln funktionieren. Im Gegensatz dazu interessiert sich Foucault für die Frage, wie innerhalb der Diskurse Widerstand produziert wird: Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. (Ebd.: 122)
Ähnlich vielfältig wie die Erscheinungsweisen der Macht sind auch die Widerstandspunkte.129 Für diese diskursiven Formationen, die vom gemeinsamen Spiel von Macht und Widerstand bestimmt sind, hat sich die Unterscheidung ›hegemonialer Diskurs‹ versus ›Gegendiskurs‹ etabliert, die allerdings nicht mehr die Differenzierung zwischen literarischen und anderen Diskursen meint. Andrea Mai-
129 | Foucault schreibt: »Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.« (Foucault 1995: 117)
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
hofer definiert, dass ein Diskurs130 dann hegemonial genannt werden kann, »wenn er innerhalb einer Gruppe, Klasse, Gesellschaft oder gar gesellschaftsübergreifend dominiert, indem er z.B. die herrschenden Normen, Werte und Verhaltensstandards einer Gesellschaft konstituiert. Das muß allerdings historisch und gesellschaftlich spezifiziert werden« (Maihofer 1995: 81). Sie verweist darauf, dass ein hegemonialer Diskurs zwar normierend, zensierend und disziplinierend wirkt, jedoch neben dieser repressiven Funktion auch eine produktive besitzt: Nicht schon immer waren die Menschen Individuen, Subjekte, Frauen und Männer im heutigen Sinne; daß und wie sie es sind, ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, in dem sie als solche »hergestellt« worden sind. […] Normierung konstituiert (Norm)alität. (Ebd.: 82)
Martin Nonhoff bestimmt »Hegemonie als diskursives Phänomen der Vorherrschaft« (Nonhoff 2006: 11), Stuart Hall sieht in ihr eine Form der Macht, deren »Vormachtstellung über breite Zustimmung verfügt und als natürlich und unvermeidbar erscheint.« (Hall 2004: 145) Im Gegensatz zum hegemonialen Diskurs und zugleich als ein Teil von ihm formiert sich der Gegendiskurs, wie es Foucault am Beispiel des Diskurses über Homosexualität zeigt: Als dann in der Psychiatrie, in der Jurisprudenz, auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Diskursen über die Arten und Unterarten der Homosexualität, der Widernatürlichkeit, der Päderastie, des ›psychischen Hermaphrodismus‹ aus dem Boden schossen, hat das gewiß zu einem starken Vormarsch der sozialen Kontrollen auf jenem Gebiet der ›Perversitäten‹ geführt; es hat aber auch die Konstitution eines Gegen-Diskurses ermöglicht: die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Rechtmäßigkeit oder auf ihre ›Natürlichkeit‹ zu pochen – und dies häufig in dem Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde. Es gibt nicht auf der einen Seite den Diskurs der Macht und auf der andern Seite den Diskurs, der sich ihr entgegensetzt. Die Diskurse sind taktische Elemente oder Blöcke im Feld der Kräfteverhältnisse (Foucault 1995: 123).
Es wäre also im literarischen Diskurs zu untersuchen, in welcher Weise sich die Auseinandersetzungen zwischen hegemonialen und Gegendiskursen vollziehen, wobei nicht übersehen werden darf, dass jeder Gegendiskurs weiteren Normierungen durch den hegemonialen Diskurs unterworfen ist und somit 130 | Maihofers erweiterte Definition des Diskurses zeigt, wie vielfältig diskursive Erscheinungsweisen sind: »Im Anschluß an Foucault verstehe ich unter Diskurs Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, Körperpraxen, Wissens(chafts)formen, Institutionen, gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Naturverhältnisse, Kunst, Architektur, innere Struktur von Räumen etc. Meist sind Diskurse eine Kombination von alldem.« (Maihofer 1995: 80)
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seine Strategien ständig ändern muss.131 Von den diskursiven Kämpfen, die in einer Gesellschaft ausgetragen werden, kann auch die Literatur berichten und hegemoniale oder auch Gegendiskurse präsentieren, archivieren oder parodieren. Auf diese Weise kann ein literarischer Text selbst Teil eines hegemonialen oder eines Gegendiskurses werden, indem er sich seinen Aussagesystemen fügt oder diese benennt und problematisiert. Die Interdiskurstheorie und die Theorie des Normalismus (Link) Jürgen Link hat – im Anschluss an Foucault – das Konzept einer Literaturanalyse als Interdiskursanalyse entwickelt. Die gesellschaftlichen Diskurse sind in eine Vielzahl von Spezialdiskursen aufgeteilt, »die zu einem Maximum an immanenter Konsistenz und zu entsprechender Abschließung gegen arbeitsteilig externes Diskursmaterial tendieren.« (Link 2002: 544) Diese Spezialdiskurse sind jedoch nicht völlig voneinander geschieden, vielmehr gibt es zwischen ihnen einen interdiskursiven Austausch. Unter einem Interdiskurs versteht Link diejenigen diskursiven Elemente, die nicht an einen Spezialdiskurs gebunden sind, die vielmehr mit variabler und flexibler Bedeutung in einer Mehrzahl von Spezialdiskursen sowie gegebenenfalls ebenfalls in übergreifenden, allgemeinen Diskursen, z.B. sog. Alltagsdiskursen, zirkulieren (ebd.: 544).
Als Beispiel nennt Link die Formulierung ›Fairneß zwischen den Geschlechtern‹; also eine interdiskursive Kombination aus den Sport-Diskursen und dem sozialpolitischen Diskurs (vgl. Link 2004: 72). Bei Interdiskursen handelt es sich allerdings nicht um Totalisierungen von Spezialwissen (das in der Postmoderne so zersplittert ist, dass es nicht mehr totalisiert werden kann), sondern um die Reintegration von Teilen eines Wissensbereichs in einen anderen (vgl. Parr 2011). Die wesentliche Funktion von Interdiskursen liegt für die Subjekte »in selektiv-symbolischen, exemplarischsymbolischen, also immer ganz fragmentarischen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgrenzen hinweg« (Link 2004: 73). Während der gesellschaftlich dominante Diskurs »der ›mediopolitische‹ (ist), in dem Sport, Entertainment und politische ›Simulation‹ eine Einheit eingehen« (Link 1994: 131 | Der Linguist Siegfried Jäger spricht »von einem ständigen ›Kampf der Diskurse‹ […], von Ausbrechversuchen aus dem ›normalen‹ oder dem hegemonialen Diskurs« (Jäger 1999a: 129f.). Anhand von Äußerungen innerhalb eines Diskurses, die er ›Diskursfragmente‹ nennt, und die häufig als Effekt eines ›diskursiven Ereignisses‹ entstehen, analysiert Jäger mit seiner Methode der Kritischen Diskursanalyse die Verläufe der politischen Diskurse in Deutschland. Ein ›diskursives Ereignis‹ ist ein Ereignis, das zur Modifikation der Diskursregeln oder zu einer enorm vergrößerten Quantität von Äußerungen führt, wie z.B. die Tschernobyl-Katastrophe im Umwelt-Diskurs.
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125f.), handelt es sich nach Link beim literarischen Diskurs um einen »auf spezifische Weise elaborierte[n] Interdiskurs« (Link 1988: 286), der zwar eigenen Regeln folgt, sich jedoch der Wissenselemente anderer Diskurse bedient und diese in einer spezifischen Weise zusammenführt und reflektiert. Literatur formiert sich also als Interdiskurs »hauptsächlich durch Verarbeitung interdiskursiven Materials« (Link 2002: 544). Eine Funktion der Interdiskurse ist es, durch den Austausch zwischen Spezialdiskursen Kollektivsymbole zu produzieren und zu transportieren, die überhaupt erst eine soziale Gemeinschaft konstituieren. Unter Kollektivsymbolik versteht Link »die Gesamtheit der sogenannten ›Bildlichkeit‹ einer Kultur, die Gesamtheit ihrer am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Metaphern, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und orientierenden Topiken, Vergleiche und Analogien.« (Link 1997: 25) Für die Bundesrepublik Deutschland hat Link bereits 1984 ein Schema präsentiert, das eine Systemgrenze, eine horizontale Achse mit linkem und rechtem Flügel sowie einer Mitte, eine vertikale Achse mit Oben, Unten und Mitte sowie eine diagonale (dritte Dimension) mit der Achse Fortschritt (vorne), Mitte (Zentrum) und Rückschritt (zurück) besitzt. Während das Außen des Systems mit den Kollektivsymbolen ›Chaos‹, ›Flut‹, ›Virus‹ oder ›Krankheit‹ bezeichnet wird, stehen für das Innen Kollektivsymbole wie ›Schiff‹, ›Haus‹, ›Körper‹ oder ›unsere Fußballmannschaft‹. Die Metapher ›Das Boot ist voll‹ kann angesichts der ›Asylantenflut‹ eine politische Bedeutung im Kontext des Migrationsdiskurses erhalten, die im medialen, politischen, akademischen und im Alltagsdiskurs von sehr verschiedenen sozialen Gruppen verstanden wird. Im Kontext dieser Studie ist besonders interessant, dass die von Link beschriebene Kollektivsymbolik der Bundesrepublik Deutschland neben dem Systeminneren auch ein ›Gegensystem‹ (mit einem Gegner mit Subjektstatus) vorsieht, ein gesellschaftliches ›Unten‹ (das auch als Untergrund gedacht werden kann) sowie einen »subversiven stollen, der von außen in unser system hineingegraben werden kann […]. so kann die flut einsickern, […] im äußersten fall könnte der innere korridor, der spalt, durch das gesamte system reichen und es spalten« (Link, zit. n. Jäger 1999: 136).132 Ausführlich untersucht Link in seiner Theorie des Normalismus (1997) die Normalisierungsleistungen der hegemonialen Interdiskurse vor dem Hintergrund, dass »das diskursive Ereignis ›Normalität‹ gerade in Deutschland extrem überdeterminiert« (Link 1997: 18) wird und die Bundesrepublik als »eines der bisher wohl ›reinsten‹ und erfolgreichsten historischen Beispiele für funktionierenden Normalismus« (ebd.: 40) gelten kann, vor allem seit der Normalisierung des deutschen Nationalismus seit 1989/90. Link unterscheidet zwischen einem Bereich der ›Normativität‹, in dem sich (quasi-juristische) Normen ausbilden, sowie dem Bereich der ›Normalität‹, der definiert, was 132 | Vgl. zu Links Begriff des Kollektivsymbols auch: Link 1997: 346–367.
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›normal‹ ist. Die ›Normalität‹ hat sich in der Moderne als ein Regulativ der Gesamtgesellschaft entwickelt und findet ihr Leitmotiv in der Gaußschen Normalverteilung, die durch die Verteilung einer statistischen Masse mathematisch definiert, wer ›normal‹ und wer ›nicht-normal‹ ist (was nichts darüber aussagt, wer im ›Bereich der sozialen Normen‹, also der Normativität, ist und wer nicht). Normalismus baut somit auf den hegemonialen Effekten des mediopolitischen Interdiskurses auf und produziert Homogenisierungen, stützt sich allerdings auf »ein intermittierendes und disparates, historisch extrem bewegliches diskursiv-operatives Feld« (Link 1997: 26). Link zeigt beispielsweise, wie sich der Begriff des ›Asylanten‹ – als Gegenbegriff zum ›Flüchtling‹ – entwickelte: »Es handelt sich […] um eine spontane Neu- und Analogiebildung, die zuerst im juristischen Spezialdiskurs aufkam, dann aber seit 1977 in unglaublichem Tempo im mediopolitischen Diskurs proliferierte« (Link 1994: 127). Die Etablierung des Begriffs ›Asylant‹ neben dem Begriff ›(politischer) Flüchtling‹ zeigt eine Verschiebung im Migrationsdiskurs: Migranten wurden fortan differenziert in ›normale Flüchtlinge‹ – »weiß, kulturell ›nah‹ und von Osten« – sowie ›nicht-normale Flüchtlinge‹ gleich ›Asylanten‹ – »farbig, kulturell ›fremd‹ und von Süden« (ebd.: 128). Link unterscheidet zudem zwischen zwei Idealtypen diskursiver Strategien des Normalismus: Während sich der (harte) ›Protonormalismus‹ eng an die Normativität anlehnt und starre Grenzziehungen etabliert, beschreibt der (weiche) ›Flexibilitätsnormalismus‹ möglichst breite Übergangszonen zwischen ›normal‹ und ›nicht-normal‹. Tendenziell lässt sich dem flexiblen Normalismus dabei eine emanzipatorische Qualität zuschreiben, da er die möglichen Diskurspositionen, die ein Diskurssubjekt einnehmen kann, erheblich erweitert. Zugleich jedoch bleibt das Diskurssubjekt noch immer auf einen normalistischen Diskurs verwiesen und seine größere ›Wahlfreiheit‹ nur eine scheinbare Freiheit. Im Kontext der Normalisierungsprozesse kann die Literatur, so Link, eine wichtige Rolle spielen: Da sich die Literatur (einschließlich des Films) als elaborierter Interdiskurs auffassen läßt, spielt sie bei der Konstituierung, Produktion und Reproduktion kulturell übergreifender, genereller diskursiver Komplexe und Dispositive häufig eine wichtige Rolle. Das gilt auch für den Normalismus (Link 2002: 543).
So habe das Engagement vieler Schriftsteller gegen protonormalistische Normalitäten zu einer Stärkung des Flexibilitätsnormalismus beigetragen; der Surrealismus habe dem Normalismus den Krieg erklärt; in literarischen Texten würden ›nicht-normale Fahrten‹ dargestellt (vgl. ebd.: 547 u. 556; Link 1997: 359f.). Die Auseinandersetzungen zwischen Normalität und Gegendiskursen bleiben somit ein dauernder taktischer Kampf, in dem politisch korrek-
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te Sprachregelungen nicht weiterhelfen, so Link, »da es ja nicht um ›böse Wörter‹, sondern um komplexe normalistische Diskursnetze geht, denen nicht mit Verboten und Zensur, sondern allenfalls mit ebenso komplexen und darüber hinaus sehr intelligenten Diskurstaktiken begegnet werden kann« (Link 1994: 129). Link selbst hat in seinem experimentellen Roman Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung (2008) gezeigt, wie er sich eine solche komplexe und intelligente Diskurstaktik im Bereich der Literatur vorstellt, u.a. wird der Roman nicht-linear erzählt, anstelle von ›Charakteren‹ agieren im Roman diskursive Lagen bzw. Diskurspositionen (vgl. Link 2008). Für eine kleine Literaturtheorie (Deleuze und Guattari) Während die Diskursanalytiker komplexe Diskurstaktiken gegen die hegemonialen Diskurse untersuchen, haben Gilles Deleuze und Félix Guattari den Begriff des Rhizoms genutzt, um nicht-hierarchische Formen des politischen Widerstands zu beschreiben. In ihrer Schrift Kaf ka. Pour une littérature mineure (1975) übertragen sie den Begriff des Rhizoms auf literarische Texte und beschreiben Kafkas Werk als Beispiel einer ›kleinen Literatur‹, das selbst »ein Rhizom, ein Bau« sei, mit zahlreichen Eingängen, und »kein Einstieg ist besser als ein anderer«. Dieses »Prinzip der vielen Eingänge […] verwirrt jene, die ein Werk zu ›deuten‹ versuchen« (Deleuze/Guattari 1976: 7) – Kafkas Werk sperre sich also gegen hermeneutische Methoden, die sich auf die Suche machen nach dem Sinn eines Werks. Deleuze und Guattari interessieren sich für die spezifische Weise, in der Minderheiten sich der Sprache bedienen. Deleuze bestimmt die ›Mehrheit‹ in Abgrenzung von der ›Minderheit‹ als »eine ideale Konstante, ein Standardmaß« sowie »ein Rechts- und Herrschaftsverhältnis«, sie lasse sich denken als »Mensch-weiß-westlich-männlich-erwachsen-vernünftig-heterosexuell-Stadtbewohner-Sprecher einer Standardsprache« (Deleuze 1980: 27). Während diese Mehrheit ein homogenes und konstantes System darstellt, stellen die Minderheiten wandelbare Subsysteme dar, denn das »Werden ist immer minderheitlich.« (Ebd.: 28) Als Beispiele für solche Minderheiten nennt Deleuze – in der Terminologie der 1970er Jahre – Frauen, Schwarze und Juden, die sich auf unterschiedliche Weisen der ›Minderheitssprachen‹ bedienten. Diese seien nicht einfach Subsprachen, sondern zudem »potentielle Mittel, die Mehrheitssprache in ein Minderheitlich-Werden all ihrer Dimensionen und Elemente zu überführen (vgl. das Black English).« (Ebd.: 29) Deleuze unterscheidet somit Mehrheitssprache, Minderheitssprache und das Minder-Werden der Mehrheitssprache, wobei er nur das Letztere als ein Verfahren der kleinen Literatur begreift. Deleuze und Guattari führen aus, eine »kleine oder mindere Literatur« sei »nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die
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sich einer großen Sprache bedient.« (Deleuze/Guattari 1976: 24) Die kleine Literatur verfüge zudem über drei charakteristische Merkmale: »Deterritorialisierung der Sprache, Kopplung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung« (ebd.: 27). Das erste Merkmal bezieht sich auf die Deterritorialisierung133 der Minderheitensprachen: Der tschechische Jude Kafka war gezwungen, sich der deutschen Sprache zu bedienen, wobei allerdings das sog. Pragerdeutsch eine modifizierte, entgrenzte, eben deterritorialisierte Version der deutschen Sprache darstellt (wie das Black English eine deterritorialisierte Version der englischen Sprache). Dieser Deterritorialisierungsprozess entsteht also, wenn sich eine Minderheit bemüht, »der Reduktion auf den Minderheitenstatus zu entkommen, sich darin nicht einzurichten und die Heteronomie zu bestätigen« (Jäger 1997: 136). Das zweite Merkmal bezieht sich auf die Inhalte der kleinen Literatur: Die Erfahrungen der minoritär Schreibenden in ihrem verknappten Lebensraum am Rande oder außerhalb der Gesellschaft schlagen sich unmittelbar in ihren Texten nieder. Während in den ›großen Literaturen‹ das gesellschaftliche Milieu nur als Umrahmung einer individuellen Geschichte diene, sei dieses Verhältnis in den kleinen Literaturen genau umgekehrt: »Ihr enger Raum bewirkt, daß sich jede individuelle Angelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft.« (Deleuze/Guattari 1976: 25) Die Texte der kleinen Literatur verweisen somit immer auf ihren Entstehungskontext und die entsprechenden sozialen Machtgefälle. Das dritte Merkmal ist der kollektive Aussagewert dieser Form von Literatur: Der/die minoritär Schreibende will keine Literatur der ›großen Meister‹ produzieren, sondern schreibt für die jeweilige minoritäre Gemeinschaft und konstituiert somit ein gemeinsames politisches Handeln (auch wenn die anderen ihm/ihr nicht zustimmen). In der kleinen Literatur gebe es somit »kein Subjekt, es gibt nur kollektive Aussageverkettungen«. Die Aufgabe der kleinen Literatur sei es, diese kollektiven Aussageverkettungen zu präsentieren und auf diese Weise eine »aktive Solidarität« zu produzieren. Gerade die vom Rande der Gesellschaft her Schreibenden seien in der Lage, »eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität zu schaffen« (Ebd.: 26). Wichtig ist zudem der spezifische literarische Stil. Während ›große oder etablierte Literaturen‹ ihre Inhalte in die tradtionellen Ausdrucksformen einschrieben, zerbreche der Ausdruck in der kleinen Literatur die Formen und
133 | Bei der Deterritorialisierung handelt es sich um die Auflösung starrer Strukturen und die Erweiterung eines Möglichkeitsraumes, die Normen und Gesetze werden ›weich‹ gemacht; im Gegensatz dazu steht die Reterritorialisierung für die Erstarrung von Normen und Gesetzen sowie die Einschränkung von Möglichkeitsräumen, vgl. Deleuze/ Guattari 2002: 286–338.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
suche neue Verzweigungen, wie Deleuze und Guattari anhand der Literatur Franz Kafkas zeigen. Zur Produktion einer kleinen Literatur müsse man Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung sich schließt. (Ebd.: 39)
Zwar wird dieser Entwurf einer kleinen Literatur zunehmend genutzt, um Formen einer sog. Migrantenliteratur oder einer ›minoritären Literatur‹ zu beschreiben, allerdings gehen diese Arbeiten zumeist weniger von formalen literarischen Aspekten als vielmehr von einer biografisch begründeten minoritären Position des/r jeweiligen Autors/in in der Gesellschaft aus. Das minoritäre Schreiben kann bei Deleuze und Guattari jedoch »auch Resultat einer theoretischen Arbeit sein«. Sogar für Vertreter der Mehrheit besteht die Möglichkeit, die Hochsprache deterritorialisierend zu nutzen, ihre individuelle Geschichte politisch aufzuladen und sich mit einem Kollektiv zu verketten, d.h. »eine andere Perspektive zu suchen und einzunehmen« (Jäger 2005: 17). Bei den kleinen Literaturen handele es sich nicht nur um »bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ›großen‹ oder etablierten Literatur befindet.« Auch als Angehöriger der Mehrheit könne man »in seiner Sprache schreiben wie ein tschechischer Jude im Deutschen oder ein Usbeke im Russischen« (Deleuze/Guattari 1976: 27). Deleuze und Guattari haben selbst das Konzept einer kleinen Literatur mit dem Begriff der ›Pop-Literatur‹ in Verbindung gebracht;134 es ist zudem als ›Untergrund-Rhizom‹ oder ›prozessuale Ästhetik‹ untersucht worden.135 Im Kontext des Werkes von Deleuze und Guattari kann die kleine Literatur als Ausdruck einer »aktive[n] Mikropolitik« (Deleuze/Guattari 2002: 397) verstanden werden, wenn literarische Texte die minoritären Wünsche, »Sackgassen und Auswege, Unterwerfungen und Berichtigungen« (Deleuze/Guattari 1976: 16) formulieren. Als solche stellt sie eine »Methode aktiver Zersetzung« dar, die »sich nicht durch eine noch immer codierte und territoriale Gesellschaftskritik« vollzieht, »sondern durch Decodierung, Deterritorialisierung und deren Beschleunigung im Roman« (ebd.: 67). Dieses Verfahren des Klein-Werdens halten Deleuze und Guattari für wesentlich wirkungsvoller als eine ›kritische‹ oder ›engagierte Literatur‹.
134 | Deleuze und Guattari sehen in der kleinen Literatur einen »Ausweg für die Sprache, für die Musik, für das Schreiben. Was man gemeinhin Pop nennt – Popmusik, Popphilosophie, Popliteratur: Wörterflucht.« (Deleuze/Guattari 1976: 38) 135 | Vgl. Monte 2003, der (in einer minoritären Sprache) über Das UndergroundRhizom schreibt, sowie zur prozessualen Ästhetik: Hesper 1994.
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Die Feldtheorie der Literatur (Bourdieu) Während Adorno, Bürger und zahlreiche andere Theoretiker den Begriff der künstlerischen (Neo-)Avantgarde durch die zentralen ästhetischen Merkmale von Texten – wie in diesem Fall durch Verfahren der Montage, der Collage oder des Cut-up – zu bestimmen versuchen, sind in den letzten Dekaden Theorien prominent geworden, die die gesellschaftliche Wirkung von Literatur weniger über ihre ›immanente‹ ästhetische Struktur, sondern eher über eine Analyse der sie umgebenden sozialen Verhältnisse und gesellschaftlichen Diskurse zu konkretisieren versuchen. Diese Ansätze tragen den Versuchen (neo-)avantgardistischer Literatur Rechung, mit ihren Aktionen und Werken die Grenzen des Kunstdiskurses zu verlassen und dadurch zu erweitern bzw. Positionierungsund Distinktionskämpfe auf dem Feld der Literatur auszutragen, die sich nicht auf die formale Gestalt literarischer Texte beschränken lassen. Pierre Bourdieu definiert Kultur als einen Distinktionsraum, in dem sich Individuen und soziale Gruppen auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern durch ihre Verhaltsweisen, die sich in Gesten, Bewegungen und Lebensstilen niederschlagen, voneinander unterscheiden und abgrenzen. Dieser ›Habitus‹ bestimmt die jeweiligen gesellschaftlichen Positionen, die sich relational zueinander durch Nähe oder Ferne definieren und auf Skalen angeordnet sind. Auf diese Weise lassen sich »Gruppen von statistisch und soziologisch auf verschiedenen Ebenen untereinander verbundenen Merkmalen«, die »Systeme von Unterschieden« (Bourdieu 1987: 404) bilden, beschreiben. Bourdieu verfeinert den marxistischen Ansatz, die Gesellschaft – ausgehend von den Eigentumsverhältnissen – in unterschiedliche Klassen zu differenzieren, indem er die Gesellschaft in zahlreiche Milieus differenziert, die sich nicht nur durch ihr ökonomisches, sondern auch durch ihr kulturelles Kapital voneinander unterscheiden. Auf diese Weise rücken auch die Lebensstile und die unterschiedliche Nutzung symbolischen Kapitals als Bereiche, in denen Distinktionskämpfe ausgetragen werden, in den Blick. Dabei interessiert aber nicht mehr die ästhetische Form eines literarischen Textes, sondern seine Bedeutung als symbolisches Kapital: »Der symbolische Gewinn, den die materielle oder symbolische Aneignung eines Kunstwerks verschafft, bemißt sich nach dem Distinktionswert, den dieses Werk der Seltenheit der zu seiner Aneignung erforderlichen Anlage und Kompetenz verdankt und der seine klassenspezifische Verteilung regelt.« Die »Kulturgegenstände« mit ihrer »subtilen Hierarchisierung« (ebd.: 360) eignen sich besonders gut, um die verschiedenen Grade der gesellschaftlichen Positionierung zu bestimmen. Jede gesellschaftliche Schicht hat andere Erwartungen an die Kunst – Bourgeoisie und Unterschicht unterscheiden sich darin diametral: »Die Bourgeoisie erwartet von der Kunst (ganz zu schweigen von dem, was sie Literatur oder Philosophie nennt) eine Bestätigung ihrer Selbstgewißheit und vermag – ebenso selbstgefällig wie arrogant – die Kühnheiten der Avantgarde nicht einmal in so
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neutralen Bereichen wie der Musik wirklich anzuerkennen.« (Bourdieu 1987: 459) Voraussetzung für diese »gelöste und gleichgültige Einstellung« der Bourgeoisie sind jedoch ihre Lebensbedingungen, »die von den elementarsten Sorgen weitgehend befrei[t]« sind. Anders verhält es sich bei den Unterschichten: »Daß sie allem möglichen Zwang ausgesetzt sind, führt die unteren Klassen […] zu einer pragmatischen und funktionalistischen ›Ästhetik‹, die jedes l’art pour l’art und formale Experimente als sinnlos und läppisch zurückweist« (ebd.: 591). Auf diese Weise zeigt Bourdieu, dass sich ›die gesellschaftliche Wirkung‹ bestimmter literarischer Werke ohnehin nur auf bestimmte Klassen richtet – und beispielsweise (neo-)avantgardistische Literatur als distinktive Abgrenzung gegen den Geschmack der jeweiligen Klasse funktioniert. Literarische Texte stehen allerdings nicht nur in einem positiven oder distinktiven Verhältnis zu verschiedenen Klassen, sie befinden sich auch auf dem Feld der Literatur, das – wie alle gesellschaftlichen Felder – durch spezifische und umkämpfte Gesetze (›Nomos‹) geregelt wird, mit anderen Werken in Auseinandersetzungen um soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital. Auf dem »literarischen Feld« formieren sich »seine Herrschenden und seine Beherrschten, seine Konservatoren und seine Avantgarden, seine subversiven Kämpfe und seine Reproduktionsmechanismen.« (Bourdieu 1992: 155) Der Kampf um die Kräfteverhältnisse auf dem literarischen Feld erfolgt üblicherweise durch die Konstruktion binärer Distinktionen, die, »oft Erbe vergangener Polemiken, als unüberwindliche Antinomien, als absolute, keine Zwischenlösung zulassende Alternativen das Denken strukturieren, aber auch in eine Reihe falscher Dilemmata einschließen.« (Bourdieu 1999: 309f.) Mit Hilfe solcher Gegenüberstellungen wird der Kampf um die Definitionsmacht und die Grenzen des literarischen Feldes geführt, wobei es um die Bestimmung legitimer Praktiken und symbolische Ausschlüsse geht (vgl. Bourdieu 1992: 159). Diese Kämpfe zwischen den kulturellen Produzenten – die allerdings gesellschaftlich gesehen immer ›Beherrschte‹ der politischen und ökonomischen Mächte bleiben, auch wenn sie auf dem literarischen Feld eine herrschende Position besitzen (vgl. ebd.: 160f.) – werden nicht nur auf der Ebene der literarischen Werke, sondern auch auf institutioneller und sozialer Ebene geführt. Daher müssen sich Analysen des literarischen Feldes im Anschluss an Bourdieu, wie Franziska Schößler zeigt, auch für andere Faktoren interessieren, die für die distinktiven Positionierungskämpfe auf dem literarischen Feld relevant sind. Dazu gehören »das Alter der Künstler, die Generation und bestimmte Rituale« sowie die »Distributionsbedingungen« (von Verlagen über Kritiker bis zu Literaturpreisen) sowie die »Zeitschriftenlandschaft« und der »Habitus der Künstler« (Schößler 2006: 58).136 136 | Schößler zeigt in einer exemplarischen Analyse, wie sich auf dem literarischen Feld in Österreich nach 1945 der österreichische PEN -Club und die Grazer Autorenversammlung (GAV) rivalisierende Kämpfe geliefert haben, in denen sie jeweils
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Mit Bourdieus Theorie des literarischen Feldes lässt sich also auch eine Literatur der Subversion beschreiben, die ihren Status nicht über die Nutzung spezifischer literar-ästhetischer Verfahren erlangt, sondern durch die Opposition gegenüber jenen literarischen Institutionen und Autoren, die die Deutungsgewalt auf dem literarischen Feld besitzen. Zur Abgrenzung können – neben literarischen Texten und ästhetischen Strategien – zahlreiche Distinktionsmerkmale genutzt werden, wie z.B. öffentliche Auftritte, die mediale Inszenierung der Autorinnen und Autoren, die Werbung rund um die Texte oder auch die Form ihrer Distribution. Zwangsläufig können sich vor diesem Hintergrund die Selbststilisierungen und -inszenierungen von Autorinnen und Autoren auf der einen Seite sowie ihre literarischen Texte und deren öffentliche Rezeption auf der anderen Seite auch widersprechen. Zudem muss differenziert werden, ob sich Autorinnen und Autoren auf dem literarischen, dem medialen, dem akademischen oder dem sozialen Feld bewegen, da diese unterschiedlichen Felder über verschiedene Gesetze verfügen und die traditionelle Positionierung auf dem einen Feld eine avantgardistische Positionierung auf einem anderen Feld bedeuten kann – so macht es beispielsweise einen Unterschied, ob und wie Autorinnen und Autoren bei einer Fernseh-Comedy-Talkshow oder bei einem poetologischen Vortrag in einer Universität eine private Anekdote erzählen. Cultural Studies und Poptheorie (Hall und Fiske) In den letzten Jahren werden zunehmend literarische Texte mit Hilfe verschiedener Kulturtheorien an soziale Prozesse zurückgebunden und die germanistische Literaturwissenschaft somit als eine Kulturwissenschaft konstruiert. Diese kulturwissenschaftliche Perspektive, so Franziska Schößler in Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (2006), »reflektiert die Verknüpfungen von kulturellen Repräsentationen mit Machtinteressen wie sie auch in literarischen Texten zum Ausdruck kommen.« (Schößler 2006: IX)137 Auf diese Weise erweitert das Fach seine Arbeitsfelder und gibt seinen Gegenständen eine neue Legitimation (vgl. Herrmann 2004: 45f.). Die Rede von der ›Kulturwissenschaft‹ ist von jener der ›Cultural Studies‹ zu unterscheiden: Handelt es sich bei den Kulturwissendie andere Gruppe negiert, sich von ihr abgesetzt und sich in Traditionalisten (PEN Club) und Avantgarde (GAV) aufgespalten haben. Dabei prägten die beiden Gruppen auch verschiedene Distinktionsmerkmale aus, u.a. verschiedene Aufnahmerituale, Lesungsformen und Topografien, wobei sich der PEN -Club jeweils als zentral und traditionell, die GAV als peripher und avantgardistisch inszeniert, vgl. Schößler 2006a: 60–64. Vgl. zu den Auseinandersetzungen in der österreichen Literatur-Avantgarde auch Eder/Kastberger 2000. 137 | Zum Stand des Verhältnisses von Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft bzw. einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, vgl. Schößler 2006: VII-XIII u. Nünning/Sommer 2004b.
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schaften um ein Konglomerat aus Kulturtheorien wie der Diskursanalyse, dem New Historicism, den Gender Studies oder den Postcolonial Studies, so wären die anglo-amerikanischen Cultural Studies nur eine jener Kulturtheorien, auf die sich die Kulturwissenschaften beziehen (vgl. ebd.: 43). Im Kontext der vorliegenden Untersuchung sind die Cultural Studies relevant, weil sie die massenhafte Aneignung popkultureller Produkte beschreiben, deren kulturindustriell encodierte Bedeutungen von den (massen-/sub-) kulturellen Nutzer subversiv in neue Zusammenhänge gestellt werden. Da Literatur in den letzten Dekaden nur noch bedingt als ein Massenmedium zu analysieren ist und die Literaturwissenschaft sich ohnehin primär dem hochkulturellen Kanon zuwendet, werden die Grundannahmen der Cultural Studies hier kursorisch am Beispiel ihrer Analysen kultureller Phänomene aus dem Bereich Musik präsentiert. Ansätze zu literaturwissenschaftlichen Theorien der ›populären Literatur‹ werden ausführlicher im Kontext der Analyse von Thomas Meinecke und der heutigen Popliteratur thematisiert. Die Cultural Studies nehmen ihren Ausgang von den ersten Arbeiten Richard Hoggarts (The Uces of Literacy, 1957) und Raymond Williams’ (Culture and Society 1780–1850, 1958), die eine erweiterte Form der Literaturwissenschaft entwickeln und in der Tradition von Marxismus und Ideologiekritik stehen. Hoggart gründet 1964 das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham, das sich unter seiner Leitung auf literatur- und kultursoziologische Probleme konzentriert. Unter Stuart Hall, der das CCCS von 1968 bis 1979 leitet, entstehen Arbeiten zur Popkultur und Medientheorie sowie zu jugendlichen Subkulturen und feministischen Fragestellungen. Das Verhältnis von Kulturprodukt und gesellschaftlichem Konsum wird keineswegs – wie im Kulturindustrie-Konzept der Kritischen Theorie – als ein hierarchisches gedacht, in dem die Kulturindustrie die Rezeption ihrer Produkte bestimmt. Vielmehr gehen die Cultural Studies davon aus, dass die Konsumenten kreativ mit den populären Kulturgütern umgehen. So »stellt man auf der Grundlage ethnographischer Studien die relative Autonomie der Mediennutzer immer stärker in den Vordergrund.« (Dörner 2000: 144) Zwischen der Alltagskultur, massenkulturellen Produkten und der politischen Ideologie besteht ein komplexes und widersprüchliches Verhältnis, dem die Vertreter der Cultural Studies insbesondere in den alltäglich gelebten Praxen gesellschaftlicher Gruppen (und hier insbesondere der proletarischen Schichten) nachgehen. Viel wichtiger als die ästhetische Gestalt eines Kunstwerks ist ihnen die Frage, wie sich jugend- und subkulturelle Gruppen dieses Kunstwerk aneignen. Viele Analysen der Cultural Studies sind politisch ambitioniert, indem sie auf das »immer wieder beschworene Moment des Widerstands, der Verweigerung oder gar der Revolte im Zuge der Aneignung und des Umgangs mit symbolischen Materialien und Praktiken wie Kleidung, Musik, Tanz, Drogen, Gewalt« (Hinz 1998: 91) abzielen. Subversion ist in den Cultural Studies jeweils an eine spezifische gesellschaftliche Gruppe gebunden, die sich entweder der Hegemonie verweigert
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oder aber eine eigene »semiotische[ ] Macht« entfaltet, indem sie »die Texte ›gegen den Strich‹ liest, eigene Bedeutungen und Wertungen lanciert und letztlich ganz anders kommuniziert und denkt, als dies im hegemonialen Block vorgesehen ist.« (Dörner 2000: 115) John Fiske beschreibt in Lesarten des Populären (1989) die populäre Kultur als ein Feld andauernder Konflikte, auf dem soziale Bedeutungen erzeugt und von unterdrückten Gruppen genutzt werden, denn »Popularkultur ist die Kultur der Unterdrückten, die sich gegen ihre Unterdrückung wehren.« (Fiske 2000: 20) Eine der zahlreichen Möglichkeiten, aus einer spezifischen Aneignung der Popularkultur widerständige Aktivitäten zu entwickeln, zeigt sich darin, dass die Popularkultur voll ist »von Wortspielen, deren Bedeutungen die Normen der sozialen Ordnung vervielfältigen, ihnen entkommen und ihre Disziplin durchbrechen; ihr Exzeß bietet Möglichkeiten für Parodie, Subversion oder Inversion« (ebd.: 19). Fiske zeigt diese subversive Kraft der Popularkultur beispielsweise an der befreienden Wirkung, die in den 1980er Jahren die appellativen Hits von Madonna auf junge Mädchen haben (vgl. ebd.: 24). Die wissenschaftliche Perspektive wird somit durch die Cultural Studies auf zwei Weisen erweitert: Erstens geraten auch die populären Kulturgüter in den Blick (während viele geisteswissenschaftliche Fächer ihre Erkenntnisse aus der Analyse hochkultureller Werke ableiten), zweitens rücken die Cultural Studies zunehmend von ihrer eigenen marxistisch-ideologiekritischen Tradition ab, da »neben der Klassenzugehörigkeit auch andere Variablen wie Rasse/Ethnizität, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Lebensstil und familiärer Status systematisch berücksichtigt« (Dörner 2000: 103) werden. Zwar wird im deutschsprachigen Raum die Debatte um die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft prominent diskutiert und sind zudem die anglo-amerikanischen Cultural Studies seit den 1980er Jahren auch hier rezipiert worden, allerdings kann im Bereich der Literaturwissenschaft bislang nur von einer »schwachen Resonanz« (Hinz 1998: 70) der Cultural Studies als einem Element einer germanistischen Kulturwissenschaft gesprochen werden.138 Noch 2002 plädiert Elke Frederiksen dafür, Germanistik zukünftig als Cultural Studies zu betreiben und wie folgt auszurichten: keine Einzeldisziplin (interdisziplinär), Kultur als Untersuchungsprojekt, erweitertes Textverständnis (nicht nur gedruckter Text, sondern auch Film und andere Medien), Betonung von Kontexten, Cultural Studies anglo-amerikanischer Prägung als politisches
138 | In der deutschen Germanistik finden eher wenige Sammelbände und Lehrbücher, die eine Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft bzw. eine Literaturwissenschaft als Medientheorie fundieren wollen, vgl. u.a. Benthin/Velten 2002; Kremer 2004; Nünning/Sommer 2004; Schößler 2006.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion Unterfangen, Fokus auf ›popular culture‹, Infragestellen des traditionellen ›Elite‹Kanons, in den USA – Nachdruck auf Multikulturalität. (Frederiksen 2002: 191f.)139
Tatsächlich wird Frederiksens Forderung in der germanistischen Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland erst langsam umgesetzt, so gibt es u.a. eine zunehmende Beschäftigung mit dem Bereich der Popliteratur. Wenn es allerdings so ist, dass »Popkultur in all ihren verschiedenen Ausprägungen – als Musik, Werbung, Fernsehserie, […] Literaturveranstaltung, […] Feuilletonphänomen etc. – […] zur Leitkultur avanciert« (Karnik 2003: 103) ist, benötigt die Literaturwissenschaft eine Theorie populärer Literatur bzw. der Popliteratur, die sich zudem zu der Frage verhalten muss, inwiefern popliterarische Texte von den verschiedenen Konsumentengruppen für ihre eigenen Zwecke genutzt werden können. Dabei ist es gerade für die Germanistik, die sich im Laufe ihrer Geschichte hauptsächlich an einem hochkulturellen Kanon ausgerichtet hat, wichtig, sich auch mit der ›Geheimgeschichte der Popkultur‹ und ›populären Substreams‹ zu beschäftigen.140 Die Absorption der Distinktionsversuche und der Mainstream der Minderheiten (Holert und Terkessidis) Während in den 1970er und 80er Jahren zunehmend dichotomische Frontstellungen im kulturellen Bereich konstruiert und mit subversivem Potenzial aufgeladen wurden, werden in den 90er Jahren zahlreiche Stimmen laut, die die Abgrenzungsbemühungen von Minoritäten, Gegendiskursen oder Subkulturen von Majoritäten, Hegemonie und Mehrheitsgesellschaft durch eine spezifische Produktion oder Nutzung kultureller und künstlerischer Produkte in Frage stellen. Bei diesen Kritikern handelt es sich vielfach um Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, die selbst viele Jahre als Diskursanalytiker, Vertreter der Cultural Studies oder gegenkulturelle Aktivisten diese Konzepte vertreten haben. Besondere Prominenz erlangt der Sammelband Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (1996), den Tom Holert und Mark Terkessidis herausgeben. In ihrer Einführung konstatieren die Herausgeber, dass sich seit dem (populären) Welterfolg der (subkulturellen) Grunge-Band Nirvana und des Brit-Pop der Bands Blur, Oasis und Pulp in den 1990er Jahren die globalen Pop-Verhältnisse radikal gewandelt hätten: »Wo sich Dissidenz einmal des 139 | Hinrich C. Seeba weist – als in den USA lehrender Germanist – in diesem Kontext auch auf den möglichen »Beitrag der German Studies zur Kritik nationaler Identitätsbildung« hin und fordert einen »selbstkritische[n] Blick der potentiell europäisierten Germanistik auf die eigenen Homogenisierungsstrategien« (Seeba 2005: 69). 140 | Vgl. auch Diederichsen 1993b: 43 und Rupert Weinzierls Arbeit über die Geheimgeschichte der Popkultur und die Formierung neuer Substreams, in der er allerdings die Subkultur-Theorien der CCCS auch problematisiert, vgl. Weinzierl 2000: 248f.
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Konsums bediente, so bediente sich nun der Konsum der Dissidenz.« (Holert/ Terkessidis 1996: 6) Der Prozess einer subversiven Aneignung massenkultureller Produkte durch minoritäre Gruppen, wie er von den Cultural Studies konstatiert wird, »tritt zugunsten des ›kreativen‹ Gebrauchs der Pop-, Jugend-, Subkulturen durch die Massenkultur selbst zurück.« (Ebd.: 10) Indem insbesondere die Jugendkulturen seit den 1960er Jahren relativ erfolgreich gegen die Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft protestierten und starre Unterscheidungen flexibilisierten, seien sie zur Avantgarde ihrer eigenen Abschaffung geworden: Freizeit wurde zu Arbeit, Arbeit zu Freizeit, unabhängige Labels imitierten die Strukturen der Majorlabels und die »global operierende Tonträger-Industrie kopiert […] nun die kleinteiligen Unternehmensstrukturen der Independent-Label.« (Ebd.: 9) Auf diese Weise habe der »Weg von Pop als Widerstandsmedium gegen die Disziplinargesellschaft mitten ins Zentrum der Kontrollgesellschaft« (ebd.: 19) geführt. Neben Holert und Terkessidis stellen auch andere Pop-Theoretiker wie Roger Behrens, Martin Büsser, Diedrich Diederichsen, Christoph Gurk und Johannes Ullmaier auf unterschiedliche Weisen die subversive Kraft der Popkultur und die Effekte kultureller Distinktionsbewegungen in Frage. Die These von Holert und Terkessidis, dass inzwischen von einem ›Mainstream der Minderheiten‹ gesprochen werden müsse, weil die subversiven Produkte der Subkulturen inzwischen durchgängig von der Kulturindustrie wie auch vom Mainstream absorbiert würden, wird von den Genannten – als ein erstes Argument – in sehr unterschiedlicher Form aufgenommen und teilweise reproduziert. Zweitens reduziere die Kontrollgesellschaft – durch ihre an subkulturellen Mustern orientierte Flexibilisierung der Lebensverhältnisse und Identitäten – das subversive Potenzial gesellschaftlicher Distinktionsbewegungen. Thomas Frank zeigt in seiner einflussreichen Studie The Conquest of Cool (1997), dass sich die Protestkulturen der 1960er Jahre (die weniger auf die Änderung politischer Strukturen als auf die Flexibilisierung individueller Lebensstile gezielt hätten) parallel zu verschiedenen Transformationen der Unternehmenskulturen und Produktwerbung entwickelt hätten, so dass schließlich in den 1990er Jahren der individuelle Konsum mit den Attributen ›jugendlich und rebellisch‹ aufgeladen werden konnte. ›Counterculture‹ und ›Business Culture‹ seien somit zusammengewachsen, jene Differenz zwischen ihnen, die Garant der subversiven Wirkung hätte sein können, verschwunden. In ähnlicher Weise haben Luc Boltanski und Eve Chiapello einen ›neuen Geist des Kapitalismus‹ beschrieben, den sie aus der Analyse von Managementliteratur extrahiert haben: Sie zeigen, dass die ›Künstlerkritik‹ am Kapitalismus mit ihren Werten wie Autonomie und Kreativität inzwischen von diesem produktiv gemacht worden sei, weshalb es für die ›Künstlerkritik‹ unabdingbar sei, »die Frage nach Emanzipation und Authentizität neu zu stellen. Dazu sollte sie von den neuen Formen der Unterdrückung und der Ökonomisierung ausgehen, die sie ungewollt erst ermöglicht hat.« (Boltanski/Chiapello 2006: 507)
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Schließlich wird drittens das bekannte Argument wiederholt, dass die subversive Kraft popkultureller Distinktionsbewegungen nur ein Mythos sei, der seit den Anfängen popkultureller Mikropolitiken und bis heute von zahlreichen Theoretikern vertreten wird.141 Joseph Heath und Andrew Potter beschreiben z.B. in Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur (2004), wie sich durch konsumistische Distinktionsprozesse eine Gegenkultur etablieren konnte, deren Rebellentum jedoch nur ein »Mythos« sei: »Die überwältigende Mehrheit derer, die sich radikal, revolutionär, subversiv oder transgressiv nennen, sind von alledem überhaupt nichts.« Jene Elemente der Massenkultur, die als subversiv ›verkauft‹ werden, landeten schließlich doch nur beim kommerziellen Fernsehsender MTV und somit im ökonomischen Kreislauf: »Diese Art von Rebellion bedroht das System überhaupt nicht. Letztlich kämpft man nur für sein Recht, die eigene Party zu feiern.« (Heath/Potter 2005: 389) Hinzu tritt viertens die Einsicht, dass seit den 1990er Jahren vermehrt popkulturelle und distinktive Strategien auch von ›rechten Subkulturen‹ genutzt werden und somit die subversive Aufladung popkultureller Produkte gegen die konservativen und rechten gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen nicht mehr funktioniert, wie in den 1980er Jahren noch erhofft. Martin Büsser untersucht in seinem Buch Wie klingt die Neue Mitte? Rechte und reaktionäre Tendenzen in der Popmusik (2001) die Frage, wie sich die als subkulturell und emanzipatorisch beschriebene Popkultur »in die Mitte der Gesellschaft hat bewegen können oder sogar zu deren rechtem Rand hin; wie also Pop zur Leitkultur des als jung und hip verkauften, neoliberalen Kapitalismus hat werden können.« (Büsser 2001: 7) Auch Diederichsen fordert angesichts der rechtsradikalen Subkulturen, die sich mit Insignien des ›poplinken Diskurses‹ schmücken, »vom Konzept Jugendkultur mit allen angegliederten Unter-Ideen wie Pop, Underground, Dissidenz durch symbolische Dissidenz, Tribalismus, Revolte, Abgrenzung etc. zunächst mal Abstand zu nehmen.« (Diederichsen 1993b: 259) Erstaunlich ist allerdings, dass die Pop-Theoretiker trotz aller Selbstreflexion und -kritik letztlich auf dem (nun allerdings eingeschränkten) subversiven Potenzial von Popkultur und Distinktionsbewegungen beharren – ganz ähnlich, wie die Vertreter künstlerisch-avantgardistischer Konzepte der Subversion.142 Die minoritären Künste und somit auch die subkulturelle Literatur üben 141 | Roger Behrens unterwirft in Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur (2003) die »Konstruktion von Subversion« innerhalb des »Mythos Pop« (Behrens 2003: 101) einer radikalen Kritik, die in der Tradition der adornitischen Kritik an der Kulturindustrie steht, vgl. Behrens 2003: 101–132. 142 | Holert und Terkessidis schreiben am Ende ihres Textes, obwohl die Popkultur nun im Zentrum der Kontrollgesellschaft angekommen sei, »sind Kämpfe auf dem Feld der Kultur wichtiger denn je, und es lohnt sich definitiv, auch weiter ästhetisch um Repräsentation zu streiten« (Holert/Terkessidis 1996b: 19). Auch Martin Büsser for-
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folglich das paradoxe Münchhausen-Kunststück ein, sich am eigenen kreativen Schopfe aus dem Morast der absorbierten subversiven Ansprüche zu ziehen und zu halten.
2.4. D ER POSTSTRUK TUR ALISTISCHE D ISKURS DER S UBVERSION : L ITER ATUR ALS D EKONSTRUK TION 2.4.1. Der poststrukturalistische Diskurs der Subversion: Subversion als Dekonstruktion Der politisch-institutionelle Diskurs der Subversion zielt mit Hilfe revolutionärer Aktivitäten auf einen Staatsumsturz, der zumeist durch eine ›überhistorische Wahrheit‹ legitimiert wird; der subkulturelle Diskurs der Subversion leitet seine subversive und emanzipatorische Kraft aus einer Kollektividentität ab, der sich die Gruppenmitglieder unterzuordnen haben und die in ein distinktives Verhältnis zu den hegemonialen Gruppen gesetzt wird. Gegen diese beiden Diskurse und ihre affirmativen Bezüge auf ›Wahrheit‹ und ›Geschiche‹ einerseits bzw. die Konstruktion einer starken Gruppeneinheit aus einer oppositionellen Haltung heraus andererseits wendet sich der poststrukturalistische Diskurs der Subversion, indem er zentrale Kategorien der abendländischen Geistesgeschichte wie ›Wahrheit‹, ›Geschichte‹ und ›Identität‹ radikal in Frage stellt. Der poststrukturalistische Diskurs der Subversion wird in den 1960er Jahren in Frankreich von Geisteswissenschaftlern und Philosophen formiert und kann sich ab den 1980er Jahren auch im deutschsprachigen akademischen Raum verbreiten. Er soll im Folgenden zunächst in seiner grundsätzlichen Perspektive und seiner ersten Rezeption in der Bundesrepublik kurz vorgestellt und anschließend in seiner Anwendung bezogen auf die Kategorien ›Geschlecht‹ (Gender Studies und Queer Studies) sowie ›Ethnizität‹ (postkoloniale Theorie) dargestellt werden. Die Denker des Poststrukturalismus entwickeln ihre Theorien in Anlehnung, zugleich aber auch Abgrenzung vom Strukturalismus in der Tradition Ferdinand de Saussures. Poststrukturalistische Denker wie Deleuze, Derrida,
muliert zum Schluss seines Buches das Programm einer Popmusik »besserer Zeiten«, für die »Schwäche, Zweifel, Ambivalenz und ein gebrochenes, auf Uneindeutigkeit hin ausgerichtetes musikalisches Material unabdingbar« (Büsser 2001: 12f.) sei. Rupert Weinzierl hebt abschließend bei aller Kritik ebenfalls die Relevanz der »Pop-Kultur« hervor als Medium einer »Re-Formierung progressiver Kräfte«, also der früheren Jugendproteste, da sie das Potenzial besitze, »die Kulturindustrie tatsächlich wirkungsvoll von innen her subvertieren zu können […]. Pop wird ein Schlüsselmedium unter vielen in diesem Kampf sein.« (Weinzierl 2000: 259f.)
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Foucault, Guattari und Lyotard halten zwar fest an der Fixierung auf die prinzipiell unhintergehbare Sprache als dem grundlegenden Erklärungsmodell, allerdings stellen sie die strukturelle Festlegung des sprachlichen Systems wie auch den geistesgeschichtlichen Logozentrismus als Fixpunkte der Erkenntnis radikal in Frage. Ihnen geht es um das Fehlen eines Zentrums, die Problematisierung des modernen Subjektbegriffs, das Unkontrollierbare in der Sprache und die Unendlichkeit der Interpretation (vgl. Münker/Roesler 2000: X-XIII u. 28–33). In den 1970er Jahren ist der Poststrukturalismus in Deutschland »weniger rezipiert denn verworfen worden« (Bossinade 2000: 11), erst »[v]on den 80er Jahren an« ist er in Westdeutschland »aktiver rezipiert worden.« (Ebd.: 20) Johanna Bossinade bezieht sich in ihrer Einschätzung allerdings vor allem auf die westdeutsche Literaturwissenschaft; in nicht-wissenschaftlichen Milieus und unabhängigen Verlagsnetzwerken verlief die Rezeption anders. Repräsentativ für diese unterschiedlichen Entwicklungen stehen der im alternativen Berliner Verlag Merve herausgegebene Sammelband Das Schillern der Revolte (1978) einerseits und Manfred Franks im arrivierten Suhrkamp Verlag erschienene Einführung Was ist Neostrukturalismus? (1983) andererseits. In ihrem Eröffnungsbeitrag Das Schillern der Revolte im gleichnamigen Band positionieren sich Michael Makropoulos und Robert Müller sowohl gegen die marxistische Geschichtsmetaphysik, die als theoretischer Hintergrund der Studentenrevolte eine ›totalitäre Form der Revolution‹ anvisiere, wie auch gegen die Kollektividentitäten emanzipatorischer Gegenkulturen. Orientiert an den poststrukturalistischen Werken von Deleuze und Guattari kritisieren sie den politisch-revolutionären Diskurs, der sich durch »Gewalt, Militanz und ›Kriminalität‹« ausgezeichnet habe und nur den Kapitalismus verdoppele, da er sich auf dessen Terrain bewege. Zugleich wenden sie sich gegen das »nach Vereinigung der Widersprüche strebende Identitätsdenken«, das sie als »totalitäres Denken« (Makropoulos/Müller 1978: 7) bezeichnen, da es auf die Unterdrückung des Fremden und Abweichenden ausgerichtet sei. Makropoulos und Müller argumentieren – ganz dem poststrukturalistischen Denken verhaftet –, dass es um eine Aktivierung des Widerstreitenden gehen müsse, jede Form von »Gruppensubjektivität darf […] gerade nicht homogen sein […], sondern sie muß auf eine transversale Weise heterogen sein.« (Makropoulos/Müller 1978: 33) Die subversive Bewegung lasse sich nicht auf eine ›revolutionäre Identität‹ zurückführen oder aus einer ›überhistorischen Wahrheit‹ heraus begründen und legitimieren, es müsse für eine ›Theorie der Subversion‹ darum gehen, von der anderen Seite aus, vom relativen Außen der Fluchtbewegungen her dem Kapitalismus von jenen Stellen her zu qualifizieren, an denen er verliert […]. Es handelt sich um eine Methode der Zersetzung, die vor nichts halt macht, und schon gar nicht vor dem Mythos der jeweiligen Identität der revolutionären Individuen oder Gruppen. (Ebd.: 16 u. 19)
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Während der Band Das Schillern der Revolte also schon in den späten 1970er Jahren für poststrukturalistische Ansätze plädiert, verhält sich der akademische Betrieb noch in den 1980er Jahren ablehnend. In Was ist der Neostrukturalismus? setzt sich der Manfred Frank ausführlich mit Deleuze, Derrida, Foucault, Guattari und Lacan auseinander und beschreibt deren radikalen Bruch mit »allen Spielarten eines totalitären (das meint hier: die Welt als ein Ganzes deuten wollendes) Denkens« und der »Vorstellung eines in sich abgeschlossenen Systems« (Frank 1983: 109), aus dem auch eine radikale Kritik des modernen Subjektbegriffs resultiert. Genau diese kritisiert Frank jedoch als »[z]ynisch« und »un-moralisch, denn sie erhebt das, was ist, zum Maßstab dessen, was sein soll.« (Ebd.: 17) Trotz dieser Invektiven haben sich poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theoretiker seit den 1990er Jahren in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften etablieren können, insbesondere auch in den Anwendungsbereichen der Gender Studies, der Queer Studies und der postkolonialen Theorie, die sich seit den 1990er Jahren in zunehmendem Maße in der Wissenschaftslandschaft verankerten (wobei sie teilweise noch immer an die Ränder gedrängt werden). Gender Studies und Queer Studies als dekonstruktivistische Theorien Als ein Beispiel für den minoritären Diskurs der Subversion wurde die Frauenbewegung der 1970er Jahre genannt, die sich positiv auf die Kollektividentität ›Frau‹ bezog, gegen ›die Männer‹ abgrenzte und somit die binäre Geschlechterstruktur aufrecht erhielt. Diese differenzfeministische Perspektive operiert mit der binären Opposition ›Frau/Mann‹ und leitet aus der Kollektividentität ›wir Frauen‹ sowohl minoritär-subversives Potenzial ab als auch das Recht, für ›alle Frauen der Welt‹ zu sprechen. Diese Konstruktion wurde jedoch von den Women of olour als einer Gruppe auch ethnisch diskriminierter Frauen kritisiert, die feststellten, dass sie Minorisierungen, die sie als Frauen von Männern erfahren, auch als ›farbige Frauen‹ von ›weißen Frauen‹ erfahren. Die Kategorie Gender ist von weiteren »Differenzkategorien wie Ethnizität/Rasse, Klasse, Sexualität usw. durchzogen« und kann nicht isoliert oder als Hauptachse der Herrschaft gesetzt werden. Die Verabsolutierung dieser Kategorie führe letztlich nur dazu, »die zahlreichen, ›unmarkierten‹ Privilegien weißer, heterosexueller MittelschichtFeministinnen zu legitimieren.« (Röttger/Paul 1999: 12) Im kritischen Anschluss an den Differenzfeminismus haben sich die Gender Studies entwickelt, die essenzialistische Bezüge auf die binären Geschlechterkategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ problematisieren, denn nicht nur Gender, sondern auch das vermeintlich ›natürliche‹ Sex sei eine kulturelle Konstruktion. Der biologische Körper sei nicht Voraussetzung für den sozialen Körper, sondern Gender produziere erst Sex – nicht nur die Macht der ›Männer‹, sondern vielmehr die binäre Struktur der Geschlechtermatrix selbst gerät auf diese Weise in den Fokus der Untersuchungen, die somit ihre Perspektive erwei-
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tern und den Übergang von ›Frauen-‹ zu ›Geschlechter-Studien‹143 erreichen: Noch 1982 schreibt Brigitte Wachmann über Die Grammatik des Patriarchats, 1995 untersucht Renate Hof Die Grammatik der Geschlechter (vgl. Bossinade 2000: 19, 208 u. 216). Die Gender Studies basieren wesentlich auf sozialkonstruktivistischen sowie auf poststrukturalistischen Theorien wie dem Dekonstruktivismus und der Diskursanalyse. In Deutschland etablieren sie sich in den 1990er Jahren vor allem durch die Rezeption von Judith Butlers Studie Das Unbehagen der Geschlechter (1990), in der sie eine Theorie der Performativität von Geschlechtsidentitäten entwickelt.144 Die Grundfrage von Butlers Untersuchung lautet: »Ist ›weiblich sein‹ eine ›natürliche Tatsache‹ oder eine kulturelle Performanz?« (Butler 1991: 9) Im Verlauf ihrer Untersuchung belegt sie die zweite Alternative und bemüht sich um den Nachweis, dass auch die biologische Kategorie sex durch kulturelle Annahmen bestimmt wird, also nicht als prädiskursive Geschlechtlichkeit zu beschreiben ist. Es sei unübersehbar, dass »die Untersuchung der Bestimmung des anatomischen Geschlechts (sex) durch bestimmte kulturelle Annahmen über den jeweiligen Status von Männern und Frauen und durch die binären Geschlechterbeziehungen (gender-relations) selbst eingerahmt und zentriert wird.« (Butler 1991: 163) Im Gegensatz also zu Ansätzen, die zwischen einer biologisch determinierten, ontologischen Geschlechtlichkeit einerseits und einem mentalen, inneren, flexiblen Geist (in dessen ›Seele‹ sich das biologische Geschlecht verinnerliche) anderseits unterscheiden, erweisen sich bei Butler beide Determinanten als diskursiv produziert. Der zentrale Begriff bei Butler ist die Performanz der Geschlechtlichkeit: die Akte, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren Substanz; doch erzeugen sie ihn auf der Oberfläche des Körpers, und zwar durch das Spiel der bezeichnenden Abwesenheiten, die zwar auf das organisierende Identitätsprinzip hinweisen, aber es niemals enthüllen. Diese im allgemeinen konstruierten Akte, Gesten und Inszenierungen erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/ Erfindungen sind. (Butler 1991: 200)
Diese performative Fabrikation der Geschlechteridentität auf der Oberfläche des Körpers führt dazu, dass die binäre und heterosexuelle Geschlechtermatrix westlicher Gesellschaften in der Gegenwart funktioniert, denn diese »Kon-
143 | Für eine schematische Gegenüberstellung dieser beiden Ansätze, vgl. auch Faulstich-Wieland 2003: 130. 144 | Siehe hierzu auch Hedwig Wagners Studie Judith Butlers feministische Subversion der Theorie, vgl. Wagner 2008b.
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struktion der Kohärenz verschleiert jene Diskontinuitäten der Geschlechtsidentität, wie sie umgekehrt in den hetero-, bisexuellen, schwulen und lesbischen Zusammenhängen wuchern.« (Ebd.: 199) Im Gegensatz zum Differenzfeminismus, der durch eine Stärkung der ›weiblichen Identität‹ Emanzipation zu erreichen versuchte, muss nach Butler die Konstruktion einer ›weiblichen Identität‹ selbst in Frage gestellt werden: »Das feministische Subjekt erweist sich als genau durch dasjenige politische System diskursiv konstituiert, das seine Emanzipation ermöglichen soll.« (Ebd.: 17) Butler geht es demgegenüber um eine »Strategie der subversiven Wiederholung« (ebd.: 216), in der die Illusion der Geschlechtsidentität sowie der dazugehörige vermeintliche ›personelle Kern‹ bzw. die ›innere Substanz‹ in ihrer Konstruiertheit entlarvt werden. Denn es sei unmöglich, aus den identifikatorischen Diskursen herauszutreten, es lasse sich nur mit deren Verfahren spielen: »Die Frage ist nicht, ob, sondern wie wir wiederholen – nämlich genau jene Geschlechter-Normen, die die Wiederholung selbst ermöglichen, wiederholen und durch eine radikale Vervielfältigung der Geschlechtsidentität verschieben.« (Ebd.: 217) Diese Herangehensweise zielt also auf jenen Gender Trouble, der den Titel der englischsprachigen Originalausgabe bildet, also eine Politik, die »die Geschlechter-Binarität in Verwirrung bringt und ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt.« (Ebd.: 218) Während im politisch-institutionellen wie auch im künstlerisch-avantgardistischen Diskurs der subversive Akt als ein Ereignis, das schlagartig zur Revolution bzw. zum Umsturz der Kunsttradition führen kann, gedacht wird, werden die »performative[n] Subversionen« (ebd.: 190) bei Butler als ein kontinuierlicher Prozess von verschiebenden bzw. resignifizierenden Wiederholungen konzipiert, der Strategien wie Cross-dressing, Travestie, Parodie und Ironie nutzt. Eckhard Schumacher betont diesen Aspekt der resignifizierenden Wiederholung in Butlers Performanztheorie, der beispielsweise einer terroristisch-revolutionären Feier der Einzeltat oder des Ereignisses entgegensteht: »Singuläre, expressive Akte, die sich der Ordnung des Diskurses entziehen, sind […] gar nicht denkbar. Weder mit Butler noch mit Derrida läßt sich eine Politik oder eine Ästhetik formulieren, die nur auf den Augenblick setzt.« (Schumacher 2002: 393) Nicht nur die Performanz von Körper und Identität bietet die Möglichkeit zur subversiven Verschiebung und Entnaturalisierung der binären Geschlechtermatrix, auch das »subversive Potenzial der Rede« kann »in konkreten Praxen (künstlerischen, musikalischen, politischen et cetera)« strategisch genutzt werden. In Hass spricht (1997) beschreibt Butler, wie das Subjekt und seine Identität durch eine ›Anrufung‹, einen sie konstituierenden Sprechakt, erst konstruiert und ggf. verletzt wird. Indem diese Anrufung vom verletzten Adressaten wiederholt, dabei »fehlangeeignet« und »aus ihren früheren Kontexten herauslöst« wird, kann sich das ›postsouveräne Subjekt‹ gegen diese Angriffe wehren. In diesem Sinne geht es Butler »um einen gesellschaftlichen
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
und kulturellen Sprachkampf, in dem sich die Handlungsmacht von der Verletzung herleitet und ihr gerade dadurch entgegentritt« (Butler 1998: 64) – wie die positive Aneignung des Schimpfwortes ›Nigger‹ durch die Black-Power-Bewegung. Das postsouveräne Subjekt bleibt zwar dem hegemonialen Diskurs verhaftet, es kann diesen jedoch umschreiben. Butler geht somit nicht davon aus, dass man vorhandene Identitäten zum Verschwinden bringen könnte, ihre Bedeutungen können jedoch verschoben werden: »Nur indem ich diese verletzende Bedingung übernehme […], kann ich ihr die Stirn bieten und aus der mich konstituierenden Macht die Macht machen, gegen die ich mich wende.« (Butler 2001: 99f.) Während Butler auf theoretischer Ebene die Dekonstruktion der binären Geschlechtermatrix und der Zwangsheterosexualität leistet, zeigen historische Arbeiten, dass auch das biologische Geschlecht und seine ›Natürlichkeit‹ eine diskursive Konstruktion ist. Thomas Laqueur belegt in Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud (1992) anhand zahlreicher historischer Zeugnisse, dass die heute hegemoniale biologische Unterscheidung zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹, die von der Definierbarkeit primärer Geschlechtsorgane ausgeht, erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden ist (vgl. Laqueur 1992: 172–187; Hausen 1976). Doch nicht nur historisch lässt sich die heute vorherrschende Auffassung einer ›Natürlichkeit‹ des biologischen Geschlechts und der binären Geschlechtermatrix als Konstruktion beschreiben, sondern auch im interkulturellen Vergleich. Die Ethnologin Susanne Schröter untersucht in FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern (2002) die Geschlechtermatrizen in verschiedenen Kulturen und analysiert die Lebensweisen der Xanith in Oman, weiblicher Ehemänner in Afrika, der Travestis in Brasilien, der Hijras in Indien und ambivalenter Geschlechter in Nordamerika. Auf unterschiedliche Weisen zeigen diese Beispiele, »wie ungeheuer vielfältig sich die historischen und kulturellen Ausformulierungen von Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und die damit verbundenen Geschlechtersymboliken gestalten.« (Schröter 2002: 14) Der Transvestitismus und die Transsexualität als Lebensweisen, die kontinuierlich die Grenzen der binären Geschlechtermatrix überschreiten und teilweise schon seit längerer Zeit untersucht werden,145 pop- und subkulturelle Entwicklungen in den Bereichen Musik, Kleidung, Aussehen, wie bei den Riot Grrrls, sowie Einzelbeispiele wie die ›Mannfrau‹ Maria Patino146 oder ›abwei145 | Vgl. Barbin/Foucault 1998; Garber 1993; Garfinkel 1967. 146 | Die spanische Athletin Maria Patino, die äußerlich eine »vollständig weiblich[e]« Erscheinung hatte, wurde bei einer Routineuntersuchung zur Zulassung zur Olympiade 1988 aufgrund ihrer XY-Chromosomenstruktur als Mann identifiziert: Sie »litt am so genannten Androgen-Intensitivitäts-Syndrom, bei dem der Körper das produzierte Testosteron aufgrund fehlender Rezeptoren nicht identifizieren kann.« (Schröter 2002: 225f.) Bei der Olympiade 2008, deren Wettbewerbsstruktur auf der Eindeutigkeit des
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chende‹ Formen der Sexualität wie der Sado-Masochismus147 werden von Studien der Gender Studies als Beispiele analysiert, die die hegemoniale zwangsheterosexuelle und binäre Geschlechtermatrix dekonstruieren. Im Cyberfeminismus wird – ausgehend von Donna Haraways bereits 1985 formuliertem Interesse für den Cyborg – die Entnaturalisierung der Geschlechter konsequent auf die Bereiche der Naturwissenschaften und der Technik übertragen. Haraway definiert Cyborgs als »kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus« (Haraway 1995: 33), die bereits in den 1980er Jahren keine reine Fiktion mehr gewesen seien, sondern als technologische Realität die Grenzen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Organismus und Maschine auflösen: »Die Maschinen des späten 20. Jahrhunderts haben die Differenz von natürlich und künstlich, Körper und Geist, selbstgelenkter und außengesteuerter Entwicklung sowie viele andere Unterscheidungen […] höchst zweideutig werden lassen.« (Ebd.: 37) Die Ursprungserzählungen der westlichen Zivilisation werden auf diese Weise fundamental angegriffen, die Grenzen scheinbar feststehender Identitäten überschritten. Im Anschluss an die Gender Studies haben sich die Queer Studies entwickelt, die einen anderen Forschungsschwerpunkt setzen. Der Begriff ›queer‹ stand in den USA im Alltagsgebrauch für ›seltsam‹ oder ›absonderlich‹ und wurde als homophobe Beschimpfung genutzt, bevor er von der schwul-lesbischen Bewegung der 1970er und 80er Jahre zur Selbstbeschreibung benutzt wurde. Inzwischen dient Queer sowohl als ein Begriffsschirm, unter dem sich eine bunte Koalition marginalisierter sexueller Subkulturen versammelt, als auch als Bezeichnung für einen wissenschaftlichen Forschungsansatz, der eine Weiterentwicklung der Lesbian und Gay Studies darstellt (vgl. Jagose 1996: 1). Die Queer Studies radikalisieren »die Kritik an der lesbisch-feministischen Konzentration auf das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen« insofern, als sie »das analytische Privileg der Kategorien ›männlich‹ und ›weiblich‹ in ›Geschlechterfragen‹« (Breger 1999: 74) aufheben. Auch wenn die Queer Studies »ohne die Analyse von Bildern homogener Geschlechtlichkeit und Konzepten stabiler Ethnizität nicht« (Breger 1999: 82) auskommen, so interessieren sie sich doch hauptsächlich für »die auf Dauer gesetzte Uneindeutigkeit« (Villa 2003: 110) jeder Form von Identität. Annemarie Jagose schreibt dazu:
Geschlechts basiert, wurde das ›uneindeutige‹ Geschlecht von Caster Semenya aus Südafrika zu einem medialen Thema. 147 | Torben Lohmüller untersucht z.B. die ästhetische Subversion im Masochismus. Er beschreibt den Sado-Masochismus in Zeiten der liberalen, bürgerlichen Gesellschaft als eine Form der Subversion, die allerdings mit dem Ausschluss der Frau erkauft werden muss, vgl. Lohmüller 2006: 24f.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion Acknowledging the inevitable violence of identity politics and having no stake in its own hegemony, queer is less an identity than a critique of identity. But it is in no position to imagine itself outside that circuit of problems energised by identity politics. […] The mobilisation of queer – no less than the critique of it – foregrounds the conditions of political representation: its intentions and effects, its resistance to and recovery by the existing networks of power. (Jagose 1996: 131)
In den Arbeiten der Queer Studies werden die Kreuzungen von geschlechtlichen und ethnischen Identitätskategorien und die auf diese Weise konstruierten Subjekte thematisiert. Indem die hegemonialen geschlechtlichen und die hegemonialen ethnischen Kategorien in die Analysen einbezogen werden, findet auch die Kritik der Women of Colour am ›weißen Feminismus‹ der Mittelstandsfrauen, der in seinen Bemühungen um eine Emanzipation der Frauen an ethnischen Diskriminierungen mitarbeitet, eine Berücksichtigung. Die Queer Studies greifen dazu auf Ansätze der postkolonialen Theorie zurück, deren Vordenker Edward W. Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak die dekonstruktivistischen und diskursanalytischen Methoden auf ethnische Kategorien appliziert haben. Die postkoloniale Theorie als dekonstruktivistische Theorie Der Begriff Postkolonialismus markiert zunächst eine historische Zäsur, indem er die »history of European expansion and the occupation of most of the global land-mass between 1492 and 1945« (Young 2001: 5) als eine spezifische, problematische und (fast) abgeschlossene Periode der Geschichte beschreibt – wobei dieses Ende formaler kolonialer Verhältnisse ersetzt wird »von der fortgesetzten politisch-ökonomischen Dominanz der ›Ersten Welt‹.« (Breger 1999: 68)148 In dieser Perspektive erscheinen die Schritte »Kolonialismus, Dekolonisierung und Globalisierung« als Schritte zu »einer Weltgesellschaft«. Während der Kolonialismus noch direkt mit der Landnahme verknüpft war, zeichnet sich die kulturelle Globalisierung »durch die Deterritorialisierung der Zeichenpraxis und der Identitätspolitik« aus. Identitäten werden heute in einem globalen Rahmen vor dem Hintergrund symbolischer Abgrenzungen bestimmt und beziehen sich auf »Standards wie eigene Sprachen, Lebensstile, Weltbilder, Rituale, Menschenrechte, Demokratie, Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Genetik.« (Uerlings 2006: 8) Auch in Deutschland wurde 148 | In ihrer Einführung in den Band Hybride Kulturen (1997) bestimmen Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius den Postkolonialismus als eine Veränderung des gesamten kolonialen Feldes: »Postkolonialismus bedeutet zunehmende Unabhängigkeit von direkter postkolonialer Herrschaft, Bildung neuer Nationalstaaten, von heimischem Kapital gespeiste ökonomische Entwicklung, neokoloniale Abhängigkeiten, Heranwachsen einer mächtigen lokalen Elite, die die widersprüchlichen Effente der Unterentwicklung managt.« (Bronfen/Marius 1997: 9)
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inzwischen die Vorstellung einer ethnisch homogenen Nation überwunden und durch die Selbstbeschreibung als ›Einwanderungsland‹ ersetzt, als welches sich Länder wie Australien, Frankreich, Großbritannien, Kanada oder die USA schon viel länger verstehen (vgl. Strecker 2002: 89 u. Unterkap. 4.1.1.). Als postkoloniale Theorie haben sich verschiedene Denkansätze formiert, die sich aus einer dekonstruktivistischen Perspektive mit der Kategorie der Ethnizität beschäftigen und davon ausgehen, dass jede Differenzierung zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ eine diskursive Konstruktion ist, denn alle Subjekte und Kulturen seien »theoretically and historically fundamentally hybrid.« (Young 2001: 10) Dieses postkoloniale »Plädoyer für die Instabilität und Pluralität von Identitäten« kann auch als eine »politische Intervention, die Herrschaftsstrukturen nicht nur aufdecken, sondern verändern will« (Hamann/Sieber 2002: 7), verstanden werden. Der Ort der ›Wahrheitsproduktion‹ über Ethnizitäten ist der koloniale Diskurs, den Herbert Uerlings bestimmt als »die Gesamtheit der Regeln […], nach denen auf dem kolonialen Feld Bedeutungen und mit ihnen verbundene Machteffekte performativ erzeugt werden«. Der koloniale Diskurs existierte bereits vor dem neuzeitlichen Kolonialismus und endet nicht mit ihm, allerdings muss »besser differenzierend und pluralisierend von ›kolonialen Diskursen‹« (Uerlings 2006: 6) gesprochen werden, da zwar ›der koloniale Diskurs‹ kontinuierlich an der Konstruktion der binären Opposition von ›Kolonisatoren‹ und ›Kolonisierten‹ arbeitet, in diesem Prozess jedoch ständig Undeutlichkeiten auftauchen, die die Identitäten und ihre Diskurse vervielfältigen. Analysieren und dekonstruieren die Gender Studies die hegemoniale binäre Geschlechtermatrix anhand der Kategorien ›Mann versus Frau‹, so befasst sich die postkoloniale Theorie mit der hegemonialen binären Unterscheidung von ›Eigenem versus Fremdem‹, wobei ›das Eigene‹ sich ›das Fremde‹ nach den eigenen Bedürfnissen konstruiert. Im Anschluss an Michel Foucaults Diskurstheorie trennt Edward W. Said in seinem Buch Orientalismus (1978) den Orient als geografischen Ort vom kolonialen akademischen Diskurs des Westens über den Orient ab, den er Orientalismus nennt: [D]er Orientalismus ist ein westlicher Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient. […] Es ist für mich entscheidend, daß man, ohne den Orientalismus als einen Diskurs zu überprüfen, unmöglich verstehen kann, durch welche enorme systematische Disziplin die europäische Kultur fähig war, den Orient politisch, soziologisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ während der Zeit nach der Aufklärung zu leiten – und selbst zu produzieren. […] Kurz gesagt, der Orient war kein (und ist kein) freies Objekt des Denkens und Handelns; dies wurde durch den Orientalismus verhindert. (Said 1981: 10)
Said untersucht, wie sich ab dem späten 18. Jahrhundert der Orientalismus als akademischer Diskurs ausbildete und welche Folgen das in ihm produ-
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
zierte Wissen für die Gegenwart hat. Er geht davon aus, dass sich die Bilder der ›eigenen‹ und der ›fremden Kultur‹ in einer binären Opposition gegenüber stehen, und dass der Stabilisierung der ›eigenen Kultur‹ die Institutionalisierung des Wissens über die ›fremde Kultur‹ vorausgeht, unabhängig davon, ob der exotisierende Diskurs über ›die Fremde‹ auch eine Entsprechung in der Realität findet. Said zeigt, dass »der Orientalismus weniger mit dem Orient zu tun (hat) als mit ›unserer‹ Welt.« (Ebd.: 21) Der Kolonialismus und die kolonialen Diskurse produzieren somit auch ›das Eigene‹, das sich selbst durch die Produktion ›des Fremden‹ und in Abgrenzung von ihm stabilisiert. Innerhalb der postkolonialen Theorie verweist der Begriff der Alterität auf die diskursive Praxis, Fremd- und Selbstbilder in ein dichotomisches Verhältnis zu setzen und direkt aufeinander zu beziehen, wobei das ›kulturell Andere‹ zumeist mit negativen oder minderwertigen Eigenschaften versehen wird. Einzelne Studien konnten zeigen, inwiefern dieses Muster auch in der deutschen Kolonialgeschichte (und teilweise in medialen Diskursen bis heute) wirksam wurde.149 Während bei Said die Konstruktion von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ jedoch von der Seite der ›Kolonisatoren‹ ausgeht, die souverän über die Kultur des Anderen verfügen, beschäftigen sich Stuart Hall und Homi K. Bhabha mit der Frage, in welcher Weise die ›Kolonisierten‹ subversiv-dekonstruktive Strategien gegen die rassistischen Stereotype, die ihnen der koloniale Diskurs zuschreibt, anwenden können. Hall bestimmt drei Merkmale der Stereotypisierung – Essentialisierung, Ausschluss und Macht: Stereotypisierung reduziert, essentialisiert, naturalisiert und fixiert ›Differenz‹. […] Ein weiteres Kennzeichen von Stereotypisierung ist […] ihre Praxis der ›Schließung‹ und des Ausschlusses. Sie schreibt symbolisch Grenzen fest, und schließt alles aus, was nicht dazugehört. […] Drittens tritt Stereotypisierung vor allem dort in Erscheinung, wo es große Ungleichheiten in der Machtverteilung gibt. Macht ist gewöhnlich gegen die untergeordnete oder ausgeschlossene Gruppe gerichtet. (Hall 2004: 144; Hervorh. herausgenommen)
Allerdings ist es den Stereotypisierten möglich, sich gegen ihre Essentialisierung, ihren Ausschluss und somit auch gegen die Macht zu stellen. Dies gestaltet sich jedoch schwierig, denn es ist nicht ausreichend, das Stereotyp einfach umzudrehen oder zu übertreiben, da diese Strategien zu neuen Formen
149 | Vgl. Honold/Scherpe 2004. Birgit Schmitz zeigt am Beispiel einer Fernsehdoku mentation der ARD über die ›Spuren‹ des deutschen Kolonialismus in Togo die Exotisierung des afrikanischen Lebens einerseits und andererseits die Konstruktion von »›Spuren‹ […] deutsche[r] Identität in einer Einheitlichkeit und Unvermischtheit, die sich ›zu Hause‹ wahrscheinlich nur noch schwer finden läßt: Ordnungsliebe, Disziplin und Wertarbeit.« (Schmitz 1998: 215)
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der Stereotypisierung und Machtausübung führen können, auch innerhalb der eigenen Minorität (vgl. ebd.: 161). Hall schlägt demgegenüber vor, die »Komplexitäten und Ambivalenzen der Repräsentation […] von innen heraus anzufechten« (ebd.: 163) und nicht die Inhalte rassistischer Repräsentation anzugreifen, sondern ihre Formen. Da diese Formen jedoch komplex und ambivalent sind, kann ein rassistisches Repräsentationsregime nicht durch eine Aktion für immer »untergraben« werden – vielmehr geht es darum, den Raum zu eröffnen »für ›Politiken der Repräsentation‹, für einen Kampf um Bedeutung, der andauert und nicht beendet ist.« (Ebd.: 165) Auch Homi K. Bhabha beschreibt in Die Verortung der Kultur (1994) den westlich-kolonialen Diskurs über die Kolonien als ein Narrativ des Westens über sich selbst: Die westlichen Metropolen müssten ihrer eigenen postkolonialen Geschichte, die »von den in sie hineinströmenden Nachkriegsmigranten und Flüchtlingen erzählt wird, als einer einheimischen Narrative begegnen, die ihrer nationalen Identität inhärent ist.« (Bhabha 2000: 9) Bhabha denkt das Subjekt als einen Kreuzungspunkt divergierender ethnischer, klassenund geschlechtsspezifiser Zuschreibungen, im Gegensatz zu Said geht es ihm um die Möglichkeit, die »vom hybriden Subjekt ausgehende[ ] rastlose[ ]« Energie in »eine auf Refigurierung ausgerichtete gesellschaftliche Energie« (Bronfen 2000: XI) umzuwandeln. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Codes sei ein unabschließbarer Prozess, »der nicht etwa am Rand, sondern inmitten der dominanten (Leit-)Kulturen Amerikas und Europas stattfindet und […] stets erneut Vermittlungs- und Sinnstiftungsleistungen erfordert.« (Kley 2002: 57) Parallel zu Butlers Konzept einer Subversion durch ›resignifizierende Wiederholungen‹ im Bereich der geschlechtlichen Identitäten, skizziert Bhabha das Verfahren der Mimikry im Bereich der ethnischen Identitäten. Auch bei Bhabha stellt sich die ›originale Identität‹ nur durch Wiederholungen von Stereotypen her, die allerdings in sich schon immer die »(selbst schon hybriden) Momente des Inkommensurablen« (Breger 1999: 70) tragen. Das Stereotyp provoziert zugleich Hass und Begehren, ist somit immer ambivalent und von widersprüchlichen Zuschreibungen durchzogen. Die Mimikry ist für Bhabha eine ähnlich ambivalente Struktur, nämlich die »Repräsentation einer Differenz, die ihrerseits ein Prozeß der Verleugnung ist« (Bhabha 2000: 126), sie eignet sich ›den Anderen‹ an. In diesem Prozess wird jedoch auch offenbar, was ›Un(an)geeignet‹ ist, um die koloniale Imitation zu realisieren. Die Mimikry wird also gekennzeichnet von einer besonderen Form der Differenz, »fast dasselbe, aber nicht ganz« (ebd.: 132) zu sein, als ein Beispiel für die Mimikry nennt Bhabha die ›Mischlinge‹, die zwar »[f]ast dasselbe, aber nicht weiß« (ebd.: 132) sind. Auf diese Weise bricht die Mimikry »durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität auf[ ]« (ebd.: 130). Im Gegensatz zu Said, der den kolonialen akademischen Diskurs untersucht und fragt, wie sich der ›koloniale Westen‹ den ›kolonisierten Orient‹
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
nach seinem Bilde schafft, geht Bhabha auf die Suche nach den »›Zwischen‹Räume[n]«, in denen strategisch die je individuelle oder gemeinschaftliche Selbstheit ausgehandelt wird und die in einem »aktiven Prozeß« auch »zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovatien Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen« (ebd.: 2) können. In diesen diasporischen Zwischenräumen wird das Ich also nicht als selbstidentische, homogene Einheit konstruiert, die sich vom Anderen abgrenzt, sondern als ein recodifizierbarer Hybrid. Hybridität wird zu einer ebenso zentralen wie umstrittenen Kategorie der postkolonialen Theorie, die einerseits »die kulturelle Kreativität der Zwischenräume und Kontaktzonen erschließt und die Handlungsfähigkeit der kolonisierten Anderen würdigt« (Schmidt-Linsenhoff 2004: 12) sowie andererseits verdeutlicht, »dass die Vorstellung einer ›authentischen‹, ›autonomen‹ und ›kohärenten‹ Kultur nur eine Illusion ist und […] lediglich zur Verteidigung alter Nationalismen und konservativer Ideologien dient« (Toro 2002: 40). Nach Bhabha muss Identität immer als ambivalent und somit hybrid gedacht werden – und genau diese »Spaltung im Zentrum des kolonialen Diskurses«, so Claudia Breger, »ermöglicht […] Subversion.« (Breger 1999: 70) Während das Plädoyer für eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ – im Sinne des subkulturellminoritären Diskurses der Subversion – von in sich homogenen Kulturen ausgeht, die gleichberechtigt koexistieren sollten, ist die dekonstruktivistische Beschreibung einer immer schon hybriden Identität zugleich eine fundamentale Kritik an der Vorstellung homogener Kulturen und daraus abgeleiteter Emanzipationspolitiken. Die postkoloniale Theorie legt den Blick frei auf die blinden Flecken bisheriger multikultureller Theoriebildung, die ›die Anderen‹ nur als Projektion eines zu emanzipierenden Subjekts betrachten. Gayatri Chakravorty Spivak stellt vor diesem Hintergrund die Frage, ob ›die Subalterne‹ überhaupt selbst sprechen kann, da zumeist westliche Theoretiker für sie sprechen (vgl. Spivak 1988 u. Steyerl/Rodriguez 2003). Die kritische Weißseinsforschung wendet sich der Kategorie des ›Weißseins‹ zu, die als nicht-markierte Voraussetzung kolonialer Herrschaft bislang kaum zum Gegenstand der Forschung wurde (vgl. Eggers u.a. 2005). Im Wissen um diese selbstkritische Wendung der postkolonialen Theorie, die auch den weißen, westlichen, akademischen Blick und seine Funktionen und Machtpositionen innerhalb der (post-)kolonialen Diskurse problematisiert, hofft Viktoria Schmidt-Linsenhoff auf eine Zukunft, die sich »jenseits der Dichotomien Subjekt und Objekt, Herr und Knecht, Mann und Frau, Natur und Kultur, Zentrum und Peripherie, Blick und Bild, Tradition und Moderne, Schwarz und Weiß entwickelt«. Eine dekonstruktivistisch-subversive Theorie müsse dazu von Standpunkten aus forschen, »die deutlich markiert sind und die Blicke der forschenden Subjekte als ›partiale Perspektiven‹ relativieren und mit anderen vernetzen.« (Schmidt-Linsenhoff 2004: 10) Die Machtverhältnisse innerhalb der Wissenschaft und ihrer Forschungsprojekte müssen also transparent gemacht und reflektiert werden.
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Literatur und Subversion
2.4.2. Literatur als Dekonstruktion: Gender Studies, postkoloniale Theorie und Intertextualität Der postrukturalistische Diskurs der Subversion versteht Subversion als die Dekonstruktion überlieferter Kategorien wie Geschichte, Identität oder Wahrheit. Im wissenschaftlichen Spezialdiskurs plädiert er für die Unabschließbarkeit von Lektüreprozessen, die Abwesenheit von Sinnzentren, die es aufzuspüren gelte, er macht sich auf die Suche nach dem Ausgeschlossenen, Widersprüchlichen und Unentscheidbaren. In Anwendungsbereichen wie den Gender, Queer und Postcolonial Studies werden zentrale Kategorien der abendländischen Geistesgeschichte dekonstruiert. Literarische Texte können sich in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion einschreiben, wenn sie die Größen ›Mann‹/›Frau‹, ›Eigene‹/›Fremde‹ sowie die Figur des/r Autors/in in Frage stellen, in Widersprüche verstricken, parodieren und somit als bedeutungstragende Einheiten dekonstruieren. Im Folgenden sollen drei Bereiche skizziert werden, die das Widersprüchliche und Ausgegrenzte in literarischen Texten fokussieren. Dabei wird zunächst das Verhältnis von Gender Studies und Literatur, anschließend das Verhältnis von postkolonialer Theorie und Literatur und schließlich die Theorie der Intertextualität, die eine Dekonstruktion der Autorfigur leistet, dargestellt. Gender Studies und Literatur In der deutschsprachigen Germanistik hat inzwischen ein »Paradigmenwechel von feministischer Literaturwissenschaft zu Gender Studies« (Hahn 1997: 227) stattgefunden – die Gender Studies sind als Forschungsbereich interdisziplinär angelegt und untersuchen u.a. auch historische Quellen, Filme, Fotografien, Bildende Kunst und Mode. Die zentrale Fragestellung der Gender Studies, in welcher Weise die Geschlechterdifferenz repräsentiert wird, kann auch anhand der Analyse literarischer Texte beantwortet werden, denn wenn »die Geschlechter ›rhetorisch‹ verfaßt sind, ist der Ort, an dem diese rhetorische Verfassung lesbar wird, der literarische Text«, so Barbara Vinken in ihrer Einführung in die Textsammlung Dekonstruktiver Feminismus (1992). Darin bestimmt sie die dekonstruktive Lektüre als »ein tropenkritisches Unternehmen […], in dem Sexualität und Textualität als differentielle Relationen und nicht als essentielle Gegebenheiten auftreten.« (Vinken 1992b: 19) Somit befindet sich der dekonstruktive Feminismus »in einem latenten Konflikt mit frauenzentriertem Feminismus, für den literarische Texte dafür da sind, authentische Erfahrungen darzustellen und Meinungen zum Ausdruck zu bringen.« (Ebd.: 21) Die dekonstruktive Lektüre bemüht sich im Gegenzug gerade darum, diese Erscheinungsweisen von ›Authentizität‹, ›essentiellen Gegebenheiten‹, eines spezifisch ›weiblichen Sprechens‹ oder von ›diskursvorgängigen Erfahrungen‹
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
als Konstrukte zu enttarnen;150 auch die Arbeit an einem ›weiblichen Kanon‹ der Literatur erscheint ihr problematisch.151 Im Gegensatz dazu will sie das dekonstruktive Potenzial literarischer Texte aufzeigen, denn diese bieten die Möglichkeit, durch utopische Entwürfe, parodistische Verfremdung, Karnevalisierung und Maskerade, aber auch durch dramatische Zuspitzung, epische Entfaltung und lyrische Konzentration der Konfliktlinien zwischen den Geschlechtern die Sex-gender-Relation in ihrer Geltung spielerisch zu unterlaufen (Stephan 1999: 35).
Der wissenschaftliche Diskurs über Geschlechterkonfigurationen und Autorschaft ist in diesem Sinne in Bewegung geraten, Ilse Nagelschmidt konstatiert 2002: »Für immer vorbei sind nun die Zeiten, in denen Autorinnen als Dilettantinnen gescholten, in den scheinbaren Randgruppen der Literatur verortet wurden« (Nagelschmidt 2002a: 6), wie sich z.B. auch in Angela Krewanis Auseinandersetzung mit dem ›postfeministischen Schreiben‹ zeigt oder in neoavantgardistischen Texten, die die binäre Geschlechtermatrix aufzulösen versuchen.152 Trotz dieser optimistischen Perspektiven lassen sich noch immer spezifische Repräsentationen ›des Weiblichen‹ und ›des Männlichen‹ in literarischen Texten nachweisen, die auf eine lange Tradition zurückgehen. In ihrer Studie Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen (1979) zeigt Silvia Bovenschen an literarischen Texten des 18. Jahrhunderts, dass einem großen und weiten Panoptikum imaginierter Frauen […] nur wenige imaginierende Frauen gegenüber (stehen). Und während das variantenreiche Schreiben der einen,
150 | Dies bezieht sich u.a. auf die Konzeptionen einer écriture féminine von Hélène Cixous oder die Schamlippen-Theorie von Luce Irigaray, die am Übergang von feministischer Literaturwissenschaft zu dekonstruktiver Lektüre stehen. 151 | Die Frauenforschung und die feministische Literaturwissenschaft haben zahlreiche ›vergessene‹ und marginalisierte Autorinnen wiederentdeckt und an der Etablierung eines ›weiblichen Kanons‹ oder der Wiederentdeckung ›weiblicher Stimmen‹ gearbeitet, vgl. Gallas 1990. Auf diese Wissensvorräte können die Gender Studies nun zurückgreifen, allerdings in einer kritischen Weise: »Gender-Forschung ergänzt nicht den bestehenden Kanon, sondern sie stellt den Kanon prinzipiell zur Disposition« und fragt danach, »welche Rolle das sex-gender-System bei der Kanonbildung insgesamt spielt.« (Stephan 1999: 31) 152 | Vgl. Krewani 1995. In De Chamäleon. chamälidiomatisch magazin für de chamäliodiomatisch mehrheit und de chamäliomatisch nachdichtung mit de modestreck in dschärndadeutsch entwickelt Lisa Spalt eine ›geschlechtsneutrale‹ Sprache, vgl. Spalt 2005.
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Literatur und Subversion der Männer, als das gilt, was in seiner Summe Literaturgeschichte heißt, firmiert das andere, das der Frauen, lediglich als Sonderfall. (Bovenschen 1979: 12)
Bovenschen weist nach, dass die Frauenbilder als kulturelle Stereotypen zumeist binär organisiert sind, was sich z.B. im Gegensatz von gelehriger und empfindsamer Frau zeigt. In ähnlicher Weise werden auch die Imaginationen der Frau als ›dämonische Verführerin‹ versus ›Heilige‹ (vgl. Hilmes 2003) oder das Motiv der Frau als ›schöne Leiche‹ (vgl. Bronfen 1996) untersucht, ebenso wie die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ (vgl. Hausen 1976 u. Rang 1986), die in Klaus Theweleits Männerphantasien (1977) als Gegensatz von ›flutender, strömender, fließender Frau‹ und ›männlichem Fels und Panzer‹ erscheint (vgl. Theweleit 1980). Diese Beispiele der Frauen- bzw. Geschlechterbildforschung entstanden jedoch zumeist in der zweiten Hälfte der 1970er und in den 80er Jahren, beschreiben den in literarischen Texten konstruierten Geschlechtergegensatz und verweisen nur teilweise auf das »diskontinuierlich-disparitätische Denken, das sich den verschriebenen Ordnungs- und Zeitschemata widersetzt« und als »Waffe der ›Geschichtslosen‹« (Bovenschen 1979: 262) gelten könnte. Erst in den 1990er Jahren geraten bildliche Verfestigungen von Identitäten in den Blick, die nun vor dem Hintergrund veränderter theoretischer Prämissen als konstitutiv brüchige, aber gleichwohl mehr oder minder effektive Phantasmen – z.B. von Männlichkeit – analysiert werden,
mit dem Schwerpunkt auf der »Instabilität und Prozessualität von Identitäten« (Breger/Dornhof/von Hoff 1999: 100). Mit Butler wird Geschlechtlichkeit nun als eine Performanz und Maskerade gedacht. Im Kontext der Untersuchung des Verhältnisses von Maskerade und Geschlechterdifferenz gerät Joan Rivieres Aufsatz über Weiblichkeit als Maskerade (1929), der einem Sammelband von Liliane Weissberg den Titel gibt (vgl. Weissberg 1994), wieder in den Blick, in dem sie »die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ›Maskerade‹« auflöst, denn »eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe« (Riviere 1994: 39). Doch auch die Männlichkeit als Maskerade wird zunehmend thematisiert (vgl. Benthin/Stephan 2003). Inzwischen haben sich auch die Männlichkeitsstudien formiert, die die differenzfeministische Grundannahme, die ›männliche Identität‹ sei eine unveränderliche und unsichtbare Machtposition, einer kritischen Betrachtung unterwerfen.153 Die Betrachtung von Geschlecht als Maskerade geht von der imitatorischen Struktur der Geschlechtsidentität aus, die allerdings auch verkehrt werden kann, wie Butler am Beispiel des Cross-dressings von Transvestiten gezeigt hat: Deren
153 | Vgl. Erhart/Herrmann 1997; Erhart 2000; Erhart 2001; Krammer 2006.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion Performance lässt deutlich werden, dass sich Geschlecht aus Akten wie Gestik, Bewegung und Kleidung ergibt. […] Für die Literaturanalyse erweist sich dieser Ansatz als in hohem Maße fruchtbar, da eine Vielzahl an Texten die Phantasie des cross-dressings aufgreifen. (Schößler 2003: 188f.)
Wenn sich ein Mann als Frau oder eine Frau als Mann kleidet, so ist die Geschlechterbinarität strukturell noch nicht in Frage gestellt – bei der Figur des Transvestiten wird jedoch das Spiel mit den binären Kategorien konstitutiv, so dass die binäre Matrix ›Mann/Frau‹ nicht mehr funktioniert. Butler beschreibt eine parodistische Praxis der Travestie und des Kleidertauschs, die aufzeigt, dass das unvergängliche, geschlechtlich bestimmte Selbst durch wiederholte Akte strukturiert ist, die zwar versuchen, sich dem Ideal eines substanziellen Grundes der Identität anzunähern, aber in ihrer bedingten Diskontinuität, gerade die zeitliche und kontingente Grundlosigkeit dieses »Grundes« offenbaren. (Butler 1991: 207)
Diese Praxis erörtert Marjorie Garber in ihrer Untersuchung Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst (1993) am Beispiel des Transvestitismus. Es sei »eine der konsistentesten und wirkungsvollsten Funktionen des Transvestiten in der Kultur […], den Ort der […] ›Kategorienkrise‹ anzuzeigen« (Garber 1993: 30), und diese ›Kategorienkrise‹ ist nach Garber »die Grundlage von Kultur überhaupt« (Garber 1993: 31): Mit ›Kategorienkrise‹ meine ich ein Mißlingen von definitorischer Distinktion, eine Grenzlinie, die durchlässig wird und Grenzübertritte von einer (dem Anschein nach distinkten) Kategorie zu einer anderen erlaubt: schwarz/weiß, Jude/Christ, adlig/bürgerlich, Herr/Knecht, Herr/Sklave. Der Binarismus männlich/weiblich […] wird im Transvestismus selbst in Frage gestellt oder ausgelöscht, und eine transvestische Figur oder eine transvestische Mode wird immer als ein Zeichen von Überdetermination fungieren – als Mechanismus der Verschiebung von einer unscharfen Grenze zu einer anderen. […] Das scheinbar spontane oder unerwartete oder zusätzliche Auftreten einer transvestischen Figur in einem Text (gleich ob fiktiv oder geschichtlich, verbal oder visuell, sinnbildlich oder ›real‹), der vom Thema her den Eindruck erweckt, als ginge es ihm nicht primär um Geschlechterdifferenzen oder verschwommenes Geschlecht, zeigt in ähnlicher Weise […] irgendwo anders eine Kategorienkrise an, einen unlösbaren Konflikt oder eine epistemologisch harte Nuß, welche der komfortablen Binarität die Festigkeit nimmt und das sich daraus ergebende Unbehagen auf eine Figur verschiebt, die bereits den Rand bewohnt, ja, die Marginalität inkarniert. (Garber 1993: 31)
Garber versteht Kultur also als ein System von Binarismen, u.a. dem Binarismus ›männlich/weiblich‹, deren Entstehen jedoch erst durch das Offenlegen und Aufzeigen der notwendigen Begrenzungen gewährleistet wird. Auf dem paradigmatischen Feld der Geschlechter-Binarität leistet dies die Figur des/r Transvestiten/in, die durch ihr Auftreten auf einem kulturellen Feld (Garber
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geht von einem weiten Textbegriff aus) die Binaritäten einerseits erst anzeigt, andererseits ›verflüssigt‹. Für diese Verflüssigungen von Identität ist Sprache konstitutiv, wie Shoshana Felman verdeutlicht, denn Transvestitismus und Travestie zeigten, »daß Geschlechter substituiert werden können, daß maskulin und feminin ausgetauscht oder travestiert werden können, weil Wörter substituiert, travestiert werden können.« (Felman 1992: 43) Wenn man der Dekonstruktion von geschlechtlichen Identitäten in Prosatexten nachspürt, muss neben der Konstruktion von Geschlechterbildern sowie ihrer Dekonstruktion durch spezifische Performanzen und Maskeraden auch die Erzählperspektive untersucht werden. Inge Stephan weist darauf hin, dass in der gesamten Literaturgeschichte »Autorschaft im allgemeinen männlich konnotiert ist.« (Stephan 1999: 30)154 Dies kann in ähnlicher Weise für auktoriale Erzählperspektiven gelten, die von einem ›allgemeinen, fiktiven Erzähler‹ eingenommen werden, der im europäischen Raum – ähnlich wie in der Bildenden Kunst – als ›weiß und männlich‹ gedacht wird (vgl. Schmidt-Linsenhoff 2004b: 9). Kaja Silvermann hat in Dem Blickregime begegnen das Verhältnis von Kamerablick, der das Feld des Sichtbaren und Sozialen organisiert, und Subjekt, das auf diesem Feld eine spezifische Position einnehmen muss, untersucht. Das Subjekt als Objekt der Kamera antizipiert den Zugriff des Disziplinarapparates Kamera und »erstarrt zu einer ›vor-fotografischen Fotografie‹.« (Silverman 1997: 46) Die Kamera wirft dabei einen ›kollektiven Blick‹ auf das Subjekt: Betrachter von Fotografien haben »das Vor-gesehene derart internalisiert […], daß wir bestimmten Wahrnehmungen – wie zum Beispiel schwarze Haut, weibliche Körperformen oder die abgewetzten Lumpen von Obdachlosen – quasi automatisch normative Bedeutungen unterlegen.« (Ebd.: 58) In Silvermans Konzept können sich die Subjekte sowohl aktiv gegenüber dem Blickregime positionieren als auch die kollektiven Sehweisen problematisieren; erzählende Prosa müsste somit daraufhin untersucht werden, aus welcher Perspektive sie erzählt und inwiefern diese Perspektive problematisiert wird oder als ein männliches Blickregime das Erzähltableau anordnet und dirigiert. Postkoloniale Theorie und Literatur In der germanistischen Literaturwissenschaft nimmt die postkoloniale Theorie noch immer einen minoritären Status ein.155 Überhaupt hat sich die Ger-
154 | Stephan verweist darauf, dass Autorinnen an der Auslöschung ihres Autorennamens aktiv mitarbeiten mussten: »Nicht zuletzt aus Selbstschutz publizierten sie […] häufig anonym, unter dem Namen des Ehemannes oder unter männlichem Pseudonym, weil ein weiblicher Name und Autorschaft einen kaum auflösbaren Widerspruch in der öffentlichen Wahrnehmung bildeten.« (Stephan 1999: 30) 155 | Herbert Uerlings konstatiert noch 2011 als Fazit einer Analyse einschlägiger Lehrwerke: »Trotz gelungener Einzelbeispiele öffnet sich die Literatur geschichts-
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manistik, die sich historisch als Nationalphilologie zur Bestimmung der deutschen Kultur konstituiert hat, lange Zeit schwer getan mit Theorien und Texten, die die Homogenität nationaler Kulturen radikal in Frage stellen. Petra Günther verweist darauf, dass die sog. Migrantenliteratur anfänglich weniger aus einer literaturwissenschaftlichen als vielmehr aus einer sozialpädagogischen und kolonialen Perspektive betrachtet worden sei: »Bis spät in die neunziger Jahre« hätten sich in Deutschland diese Analysen nur auf dem »Niveau von soziologischem Impetus, wohlmeinender, in der Regel aber unreflektierter Kulturvermittlung sowie biographistischer Paraphrase« (Günther 2002c: 151) bewegt. Heute hat sich dies durch die zunehmend kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft geändert, aber auch diese neueren Analysen bleiben »vielfach einem homogenisierenden Kulturbegriff verhaftet und schreiben damit exotisierende Wahrnehmungen und Einordnungen fort.« (Ebd.: 157) Günther unterscheidet zwei Strömungen, die einander gegenüberstehen: Während sich die interkulturelle Germanistik auf Universalien berufe, die die Kommunikation zwischen relativ homogenen Kulturgruppen ermöglichen, gingen die an den Cultural und den Postcolonial Studies geschulten Germanistinnen und Germanisten von einer grundlegenden Inkommensurabilität kultureller Erfahrungen aus, weshalb sie sich den Mechanismen der kultureller Identität selbst zuwendeten. Mit Bhabha plädiert Günther für einen postkolonialen Zugriff auf ethnische Identitäten, der diese als immer schon hybrid beschreibt: Es ist diese Abkehr von einer essentialistischen Konstruktion von Identität und Kultur und die Betonung der performativen Verfasstheit eben dieser, die die Diskussion um die Migrantenliteratur aus der Falle ethnisierender Zuschreibungen herausführt. (Ebd.: 157)
In ähnlicher Weise plädiert Leslie A. Adelson in ihrem Manifest Against Between dafür, »die Versessenheit auf multikulturelle Identitäten ›zwischen den Welten‹« transnational zu überwinden und beispielsweise bei der Analyse der Migrantenliteratur auf eine »allzu strikte[ ] Trennung zwischen türkischen und deutschen Stoffen« (Adelson 2006: 45) zu verzichten. Herbert Uerlings untersucht 2006 in ›Ich bin von niedriger Rasse‹. (Post-) Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur die Verschränkung von ethnischen und geschlechtlichen Differenzen in literarischen Texten und entwirft dazu eine eigene postkoloniale Literaturtheorie: Literarische Texte können, so Uerlings, hegemoniale Kolonialdiskurse und Bilder des ›Frem-
schreibung nur zögernd für ›Migrantenliteratur‹ und so gut wie gar nicht für die Einbeziehung interkultureller/postkolonialer Literatur und entsprechender Perspektiven der Literaturgeschichtsschreibung.« (Uerlings 2011: 36)
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den‹ (re-)produzieren, aber auch subvertieren. Einerseits stellt er fest, dass die von ihm untersuchten literarischen Texte aus dem 18. bis 20. Jahrhundert die Inszenierung der herrschenden Kolonial- und Geschlechterdiskurse und eine hegemoniale Produktion von Alterität, die ›den Anderen‹ stereotypisiert, als einen »wie selbstverständlich wirkenden Bestandteil des westlichen Blicks auf die Welt etabliert haben.« (Uerlings 2006: 3) Auch die »geradezu inflationäre Verbreitung von Bildern des ›Fremden‹, von (intra- wie inter-)kultureller Alterität innerhalb westlicher Dominanzkulturen« in der globalisierten Welt ist »keineswegs subversiv«, sondern vielmehr eine »Fortsetzung kolonialer Verhältnisse und Mentalitäten.« (Ebd.: 9) Andererseits eröffnet die Literatur auch die Möglichkeit »zur spielerischen oder kritisch-subversiven Sichtbarmachung der Diskursmuster und Dichotomien, die die symbolische Ordnung der eigenen Kultur strukturieren.« (Ebd.: 3) Uerlings bezeichnet diese Eigenschaft von Literatur als ihr ›postkoloniales Potential‹: Literatur kann koloniale Binäroppositionen, die durch Abstraktion und Reduktion, Generalisierung und Bewertung, Hierarchisierung etc. entstanden sind, in ein multidifferentielles Spiel überführen. Sie kann z.B. durch Individualisierung eine Rücknahme der kolonialen Abstraktion vollziehen, die den einzelnen fürs Ganze einer Ethnie nimmt und so die Vielfalt der Differenzen und Zugehörigkeiten auslöscht oder doch durch Gewichtung subsumiert unter die eine Differenz der ethnischen Inferiorität. Literatur kann, durch Dialogizität, Stimmenvielfalt u.a.m. die Rede ›über‹ andere mit anderen Stimmen konfrontieren und so ein postkoloniales Potential realisieren. (Ebd.: 15f.)
Neben die Analyse, ob literarische Texte sich reproduktiv oder subversiv zu den herrschenden kolonialen Diskursen verhalten bzw. ob sie ihr postkoloniales Potenzial nutzen oder nicht, muss zudem die Frage treten, wie die Texte sich zu den herrschenden Geschlechterdiskursen positionieren156 und wie die deutschsprachigen Texte mit den deutschen Kolonialdiskursen verfahren, die sich in spezifischer Weise durch die ›Abwesenheit der Anderen‹ auszeichnen (vgl. ebd.: 22f.). Die von Uerlings gegenübergestellten Pole ›hegemonial-reproduktive Literatur‹ versus ›postkolonial-subversive Literatur‹ finden ihre Entsprechung in
156 | Uerlings stellt dazu fest: »Daß im kolonialen Diskurs Rasse, Klasse und Geschlecht einander überlagern, ist fast ein Gemeinplatz. Vor allem die Verbindung von kultureller und sexueller Alterität scheint eine fatale diskursive Erfolgsgeschichte zu sein. Sie verweist auf den strukturellen Zusammenhang von Frauen und Fremden, von Weiblichkeit und Fremde. Nicht zufällig verdichtet sich die Aktualität kolonialer Diskurse im Westen heute in geradezu emblematischer Weise im Kopftuch muslimischer Frauen.« (Uerlings 2006: 10) In germanistischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten werden diese beiden Aspekte allerdings noch zu selten miteinander verschränkt. Vgl. hierzu auch: Graduiertenkolleg Identität und Differenz 2005; Uerlings 2004; Daum u.a. 2005.
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den Polen ›homogene Kulturen‹ versus ›hybride Kulturen‹, ›hochsprachliche Einheiten‹ versus ›hybride Texte‹ und ›Essentialismus‹ versus ›Anti-Essentialismus‹. Zentral für die ›postkolonial-subversive Literatur‹ steht der Begriff der Hybridität. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius bezeichnen als hybrid alles, »was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustandegekommen ist.« (Bronfen/Marius 1997: 14) Diese sehr globale Definition bedeutet im Fall literarischer Texte, dass sie sich in der ihnen adäquaten ästhetischen Weise – und somit anders als wissenschaftliche oder politische Texte – der »infinite[n] Hyperkomplexität der realen Welt […] durch die gezielte semiotische Ambiguität« annehmen und die unerschöpfliche Vieldeutigkeit der Subjekte und Ereignisse »in die organisierte Mehrdeutigkeit des überdeterminierten Zeichens« (ebd.: 22) übersetzen. Dies können literarische Texte, so Bronfen und Marius, auf verschiedene Weisen realisieren: Durch »[h]ybride, plurale, heterotopische Räume; Bindestrich-Personen, Collage- und Pastiche-Identitäten; migrante Zeichensets und flottierende Semantiken« (ebd.: 24). Die beiden sehen in diesen Verfahren sogar eine politische Antizipation zukünftiger sozialer Realitäten (vgl. ebd.: 24). Tatsächlich beschreiben bereits einige Analysen in dieser Weise literarische Texte als postkolonial, subversiv oder hybrid.157 Die Hybridität von Identitäten und Kulturen kann sich nicht nur in der literarischen Sprache zeigen, sondern auch in Bezügen auf kulturelle Referenzsysteme wie Rap und Hip-Hop, die die vereinheitlichenden Kanonisierungsverfahren der Hochkultur in Frage stellen, oder aber auf Topografien der Diaspora und der Peripherie, die in die sozialen Zentren, die sich als ihr ›Anderes‹ konstruiert haben (vgl. Spivak 1990: 40), eindringen und sie auf diese Weise hybridisieren. George Lipsitz stellt die These auf, dass gerade die Bevölkerungen der diasporischen Communities der von der Maschinerie des Weltkapitalismus über Jahrhunderte vertriebenen und verschleppten Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner am besten in der Lage (sind), auf die kulturellen Konflikte und politischen Herausforderungen in einer globalisierten Weltwirtschaft zu reagieren (Lipsitz 1999: 74)
Insbesondere helfe den ›diasporischen Gemeinschaften‹, dass sie schon »lange an Code-Wechsel, Synkretismus und Hybridität gewöhnt sind« (ebd.), was sie zu einer Avantgarde der kulturellen Globalisierung und der post-nationalstaatlichen Epoche mache. Frantz Fanon hat in Schwarze Haut, weiße Masken gezeigt, welche Wirkung visuelle Sterotypen der Fremdheit haben können. Dass sich hinter der Dichoto-
157 | Vgl. exemplarisch: Gronemann 2006: 260; Günther 2002b; Schmitz-Emans 2004: 11.
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mie von ›weißer Haut‹ und ›schwarzer/gelber/roter Haut‹ eine diskursiv erzeugte Binarität verbirgt, die sich mit literarischen Mitteln subvertieren lässt, zeigt Franziska Schößler am Beispiel von John Fenimore Coopers Roman Conanchet oder Die Beweinte von Wish-ton-Wish. Während einerseits die Haut als Differenzkriterium (›Weiße‹ versus ›Rote‹) in den Vordergrund gestellt wird, zeigt Coopers Roman zugleich, »wie fragil die Grenze zwischen Indianern und Siedlern ist«, indem er vorführt, dass »Haut vielfarbig ist und ihre Identität von diskursiven Systemen abhängt« (Schößler 2006: 160f.). Die Schamesröte, die Bräunung der Haut oder die simple Tatsache, in welche soziale Gruppe man sich begibt, kann die Wahrnehmung der Hautfarbe und somit der Identität verändern. Zudem wandeln sich die sozialen Zuschreibungen an Hautfarben und -aufschreibungen, wie Ulrike Landfester am Beispiel der tätowierten Haut zeigt.158 Schließlich ist auf die spezifische Inszenierung der Autorfigur und ihre Wahrnehmung im medialen Diskurs zu achten. Hier können sowohl koloniale Bilder des ›fremden Autors‹ wie auch die Subversion dieses Stereotyps beschrieben werden, wobei zwischen der Selbstinszenierung des/r Autors/in im medialen Diskurs, seinen Texten sowie der öffentlichen Rezeption zu unterscheiden ist. Liesbeth Minnaard erkennt beispielsweise in der Selbstinszenierung des ›niederländisch-marokkanischen‹ Autors Hafid Bouazza in den Niederlanden eine »faszinierende Widersprüchlichkeit« (Minnaard 2005: 278). Bouazza hat viele Jahre versucht, nur als Autor ernst genommen zu werden und sich auf das literarische Schreiben zu beschränken, seine Texte sind allerdings mit zahllosen marginalisierenden ethnischen Zuschreibungen versehen und kaum aufgrund ihrer literarischen Qualität ernst genommen worden. Im Jahre 2002 jedoch änderte er seine Strategie und wurde zum öffentlichen »Repräsentanten des emanzipierten, islamkritischen und somit willkommenen ›Anderen‹« (ebd.: 267) – seither hat sich seine öffentliche Akzeptanz als ›niederländischer Autor‹ spürbar gesteigert: »Diese Positionierung wird sowohl von Bouazza vorangetrieben, indem er feuilletonistische Beiträge zur Multikulturalismus-Debatte liefert, als auch von der Rezeption aktiv gefördert.« (Ebd.: 264) Es wäre also zu untersuchen, inwiefern Autorinnen und Autoren, die im medialen Diskurs als ›migrantische‹ oder ›fremde Autorinnen und Autoren‹ wahrgenommen werden, zusätzlichen Ausschlussverfahren des Literatur- und Medienvertriebs unterworfen werden und wie sie sich diesen Stereotypen gegenüber in ihrer Selbstinszenierung positionieren. Intertextualität und die Dekonstruktion der Autorfigur In den späten 1960er Jahren haben Roland Barthes und Michel Foucault die Stellung des Autors im Verhältnis zum Text, die in der hermeneutischen Tra158 | Vgl. Landfester 2003. In dieser Textsammlung bestimmt Ulrike Zeuch die zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungen, die »die Haut als Bedeutungsträger von Identität« annehmen kann (Zeuch 2003b: 10).
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dition der Textinterpretation eine entscheidende Rolle spielt, einer radikalen Kritik unterworfen. Unter dem Titel Der Tod des Autors (1968) erklärt Barthes, dass ›der Autor‹ erst in der Moderne produziert worden ist und in der »heutige[n] Kultur« eine »tyrannisch[e]« Größe sei: »Die Erklärung eines Werkes wird stets bei seinem Urheber gesucht – als ob sich hinter der mehr oder weniger durchsichtigen Allegorie der Fiktion letztlich immer die Stimme ein und derselben Person verberge, die des Autors.« (Barthes 2000: 186) Am Beispiel von Mallarmé, Valéry, Proust und des Surrealismus zeigt Barthes, dass Texte ihre Verbindung zu ›dem Autor‹ verwischen oder zerstören und ›der Autor‹ im modernen Text verschwindet. Barthes versteht Texte somit nicht als den genialen Wurf eines schöpferischen Autors, sondern als die Summe verschiedener Schreibweisen, die allesamt keine originalen sind: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.« (Ebd.: 190) Anstelle eines hermeneutischen Rückbezugs auf den Autoren als entscheidender Instanz des Textverstehens müsse der Schwerpunkt zum Leser hin verschoben werden, denn die Einheit des Textes habe keinen Ursprung, sondern entstehe erst bei ihrem Zielpunkt, den Lesern: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« (Ebd.: 193) Barthes stärkt somit im Akt der Lektüre die Person des Lesers, die eine eigene Lust am Text (1973) entwickeln müsse, Michel de Certeau entwickelt in ähnlicher Weise eine Theorie der aktiven Lektüreakte (vgl. Barthes 1996 u. de Certeau 1988: 299, 301, 304 u. 306). In seinem berühmten Vortrag Was ist ein Autor? (1969) postuliert Foucault zwar nicht den Tod des Autors, er zeigt jedoch, inwiefern es sich bei diesem nur um die diskursive »Funktion Autor« (Foucault 1988: 18) handelt. Diese sei zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts konstruiert und von der Literaturkritik und der -geschichtsschreibung bis heute konstituiert worden, inzwischen stehe sie charakteristisch für die Funktionsweisen bestimmter gesellschaftlicher Diskurse. Bei der Funktion Autor handele es sich jedoch nicht um »ein reales Individuum«, vielmehr kann sie »gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen Raum geben« (ebd.: 23), sie wird also diskursiv genutzt, um spezifische Bedeutungen zu produzieren und zu legitimieren. Folglich relativiert auch Foucault die Bedeutung der Funktion Autor für die Textlektüre, er fordert eine Rückkehr zum Text und stellt schließlich die berühmte Frage: »Wen kümmert’s, wer spricht?« (Ebd.: 31) Foucault weist somit – ähnlich wie Barthes – die Bedeutung der Funktion Autor im Kontext der Textlektüre zurück, darüber hinaus ermöglicht seine diskursanalytische Beschreibung der Funktion Autor Untersuchungen, die nach der jeweiligen historischen Konstruktion und Bedeutung der Funktion Autor in verschiedenen Diskursen fragen.159
159 | In seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses (1970) entwirft Foucault ein entsprechendes Programm, vgl. Foucault 2003: 41.
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Ganz in Foucaults Sinne untersuchen Literaturwissenschaftler die öffentliche Bedeutung und die diskursiven Selbstinszenierungsstrategien von Autoren. Klaus-Michael Bogdal beschreibt, dass die Selbstbilder der meisten Autoren seit etwa 1800 auf ein Paradigma von Singularisierung, Marginalisierung und gleichzeitiger Nobilitierung ausgerichtet seien. Der öffentlichen und medialen Präsenz von Autoren komme heute, so Bogdal, eine erhöhte ökonomische Bedeutung zu: Wer nach 1945 in der Bundesrepublik »Autor« wird, weiß, daß er in der Regel seinen Lebensunterhalt nicht durch seine Werke, sondern durch Aktivitäten im »Literaturbetrieb« verdient, wo der Auftritt in einer Talk-Show mehr Honorar einbringt als ein Gedichtband. (Bogdal 1999: 144)
Dass die Bedeutung der Funktion Autor im medialen Diskurs nach wie vor groß ist und sich dieser mediale Diskurs eher an traditionellen Autorbildern ausrichtet, zeigt auch Christine Lubkoll, die eine zunehmende Masseneventkultur in Autorengedenkjahren, eine verstärkte Personalisierung in den Feuilletons und eine nach wie vor starke Selbststilisierung von Schriftstellern beschreibt: »Vom Tod des Autors im öffentlichen Diskurs kann keine Rede sein«. Trotz aller Attacken von Barthes und Foucault gegen die ›Größe Autor‹ seien auch heute noch die »gesellschaftlichen Funktionalisierungen von Autorschaft zentral.« (Lubkoll 2002: 456) Zwar kann die Person des/r Autors/in nicht mehr genutzt werden, um eine Lektüre eines Texte zu legitimieren, es kann jedoch – neben der Analyse des literarischen Textes – gefragt werden, wie die mit dem Text verbundene Autorfigur in den medialen Diskursen konstruiert, in welcher Form ihr Autorname als Label bzw. Marke inszeniert wird und welche unterschiedliche Bedeutung die ›Funktion Autor‹ in literarischen, juridischen, wissenschaftlichen oder politischen Diskursen erhält. Wie aber lassen sich Texte differenziert beschreiben, wenn man sie – mit Barthes – als ›Gewebe von Zitaten‹ versteht? Hierfür hat Julia Kristeva in den 1960er Jahren den Begriff der ›Intertextualität‹ geprägt, der von Michail Bachtins Begriff der ›Dialogizität‹ ausgeht und anschließend u.a. von Gérard Genette, Ulrich Broich und Manfred Pfister ausdifferenziert wurde. Heute ist die Intertextualität, so Johanna Bossinade, »mit Abstand das erfolgreichste Konzept der poststrukturalen Literaturtheorie« (Bossinade 2000: 94) und wird in zahlreichen Arbeiten genutzt. Michail Bachtin unterscheidet in seiner semiologischen Kulturtheorie die Prinzipien von Monologizität und Dialogizität: Die monologische Auseinandersetzung steht für eine Bekräftigung von Tradition und Autorität, während die dialogische divergierende Standpunkte präsentiert, »im Bereich von Politik und Gesellschaft den zentralisierten Macht- und Wahrheitsanspruch subversiv herausfordert und unterminiert« (Pfister 1985a: 2). In der Literatur zeigt sich diese Dialogizität im polyphonen, also vielstimmigen Roman. Bachtin unter-
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
scheidet zwischen erstens der direkten und gegenständlichen Rede des Erzählers, zweitens der dargestellten und damit zum Objekt des Erzählers gewordenen Rede der Figuren und drittens dem ›zweistimmigen Wort‹, in dem sich die ersten beiden Typen überlagern und unterschiedliche Bedeutungen evozieren. Das zweistimmige Wort, so Bachtin, ist fremde Rede in fremder Sprache […], dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus […]. In ihnen ist ein potenzieller, unentwickelter und konzentrierter Dialog zweier Stimmen, zweier Weltanschauungen, zweier Sprachen angelegt. (Bachtin 1979: 213)
Manfred Pfister bezeichnet Bachtins Theorie der Dialogizität als »dominant intratextuell« (Pfister 1985a: 4), weil es ihr um die Polyphonie innerhalb eines Textes geht. Der Bezugspunkt des zweistimmigen Wortes sind nicht primär andere literarische Texte, sondern alle sozio-ideologischen Stimmen der Epoche, die sich in den Sprechweisen der Erzählerfigur und der Figuren niederschlagen. Im Gegensatz zu Bachtin entwickelt Julia Kristeva ein intertextuelles Konzept, das die Polyphonie von Sprechweisen in der Literatur als Dialogizität verschiedener Stimmen der Epoche begreift, die außerhalb des jeweiligen Textes liegen und in diesen eingearbeitet sind. Kristeva übersteigt somit die Ebene Bachtins und erklärt radikal, dass jeder Text nur aus ihm vorausgehenden Texten bestehe: [J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen. (Kristeva 1972: 348)
Mit diesem weiten Begriff von Intertextualität, also der Auffassung, dass es einen unendlichen Verweisungszusammenhang zwischen allen Texten gibt, dekonstruiert Kristeva die Idee des schaffenden, genialen Autors radikal: Dieser steht nicht mehr am Ursprung des Textes, vielmehr sind die Texte selbst in einem totalen und spielerischen Verfahren produktiv, die Welt wird zu einem Universum von miteinander verwobenen Texten. Wenn allerdings alle Elemente aller Texte immer nur Zitate sind, lässt sich schwerlich noch eine Literaturwissenschaft betreiben, die verschiedene literarische Schreibweisen differenziert. Daher haben sich – in Anschluss an Kristeva und bei gleichzeitiger Abgrenzung von ihr – verschiedene Ansätze entwickelt, die mit einem engen Begriff von Intertextualität operieren, der verschiedene Typen und Grade von Intertextualität anhand einzelner Texte analysierbar macht. Gérard Genette hat in Palimpseste (1981) fünf Formen unterschieden, in denen Texte über sich hinausverweisen können: Erstens die Intertextualität als ein mehr oder weniger markiertes Zitieren; zweitens die
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Paratextualität als die Beziehung eines Textes zu seinen Begleittexten wie dem Titel oder dem Vorwort, drittens die Metatextualität als ein thematisierender Bezug auf einen anderen Text, z.B. im Kommentar, viertens die Architextualität als das Kennzeichen der Textsortenzugehörigkeit und fünftens die Hypertextualität als die Orientierung eines Hypertextes an einer Vorlage, die Hypotext genannt wird (vgl. Genette 1993). In ähnlicher Weise unterscheiden auch Ulrich Broich und Manfred Pfister in Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (1985) verschiedene Formen der Intertextualität. Sie zielen ab auf einen »enger gefasste[n] Begriff, der es ermöglicht, Intertextualität von Nicht-Intertextualität zu unterscheiden und historisch und typologisch unterschiedliche Formen der Intertextualität voneinander abzuheben.« (Broich/Pfister 1985: X) Dazu entwickelt Pfister ein eigenes Modell, das von sechs Merkmalen ausgeht und eine Skalierung der Intertextualität ermöglichen soll. Diese sechs Merkmale sind: Referentialität als die Aufnahme der Eigenart des anderen Textes, Kommunikativität als Grad des Bewusstseins über den Bezug auf einen anderen Text bei AutorIn und RezipientIn, Autoreflexivität als Thematisierung des Bezugs im Text, Strukturalität als die syntagmatische Integration der Prätexte, Selektivität als die Prägnanz des Verweises und Dialogizität als die Spannung der Verweise untereinander im Text. Eine zentrale Rolle spielt hier allerdings das Wissen von Autor und Rezipient um die Verwendung anderer Texte, das im Begriff der Kommunikativität von Intertextualität gefasst wird und sich daran entscheidet, ob die Verwendung anderer Texte als markiert oder unmarkiert zu bezeichnen ist. Auf diese Weise wird der Autor als originärer Schöpfer eines Textes wieder in das Intertextualitätskonzept implementiert.160 Dennoch hält Pfister an der devianten Wirkung intertextueller Verfahren fest, denn jede Code-Durchbrechung oder Normabweichung macht die Codes und Normen bewußt, perspektiviert den devianten Text vor dem Hintergrund von Texten oder, streng genommen, aller Texte, die sich dieser Codes einfach bedienen und diese Normen erfüllen. (Pfister 1985b: 54)
Die literarische Verwendung eines Zitates in einem neuen Kontext kann also, je nachdem wie sie erfolgt, eine subversive Kraft entwickeln. In der Literaturwissenschaft haben sich inzwischen zahlreiche alternative Konzepte entwickelt, die mit dem Begriff der Intertextualität operieren oder die Funktion Autor in den
160 | Ulrich Broich schreibt dazu: »Intertextualität (liegt) dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewusst ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, dass er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis des Textes erkennt.« (Broich 1985: 31)
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medialen Diskursen jenseits von Literaturanalysen untersuchen. Britta Herrmann nutzt die Pole ›starke Autorschaft‹ (mit dem Bezug auf ›Wahrheit‹) und ›schwache Autorschaft‹ (anonyme, kollektive oder zurückhaltende Formen der Autorschaft), um literarische Texte zu klassifizieren. Dabei zeigt sie, dass die ›schwache Autorschaft‹ keinesfalls an die Moderne oder die Postmoderne geknüpft ist, sondern dass schon seit dem 18. Jahrhundert »mehrere rivalisierende Autorschaftskonzepte parallel (existieren), die jeweils nach Maßgabe kulturhistorischer oder gesellschaftspolitischer Wandlungen unterschiedlich stark gewichtet werden.« (Herrmann 2002: 480) Auch in der Gegenwartsliteratur seien Kategorien wie ›Wahrheit‹, ›Moral‹ und ›Geschlecht‹ in vielen Diskursen präsent, selbst die Pop- und DJ-Kultur propagiere nur vordergründig einen ›schwachen Autor‹.161 ›Schwache Autorschaften‹ müssten, so Herrmann, viel eher »als Begleiterscheinung und Effekt historischer Modernisierungsschübe betrachtet werden« (ebd.: 499), wie z.B. jener um 1900 oder um 1968. Auch Anke-Marie Lohmeier kommt in ihrer Analyse des deutsch-deutschen Literaturstreits von 1990 zu der Erkenntnis, dass in dieser Debatte im medialen Diskurs ein »Übergewicht jener alt- und ausgedienten Autorbegriffe« (Lohmeier 2002: 569) geherrscht habe, die den Autor noch immer als souveränen Produzenten und Interpreten seiner eigenen Texte konstruieren. Anders sieht es jedoch bei den Texten aus, die als intertextuelle Kompositionen gelesen werden. Entgegen dem traditionellen Verständnis des Textes als eines abgeschlossenen Werks, das der inneren Eingebung eines/r Autors/in zu verdanken sei, verhalte sich, so Gerda Haßler, »der Intertextualitätsbegriff subversiv, insofern er den gesamten Prozeß der Textproduktion in Relation zu anderen Texten betrachtet.« (Haßler 1997: 22) Lea Müller-Dannhausen zeigt am Beispiel von Romanen Elfriede Jelineks, wie in den Texten Zitate aus der hohen Literatur, der Bibel und populären Texten sowie Pop- und Schlagermusik miteinander verbunden werden und somit die unangreif bare Stellung des hochkulturellen Kanons relativieren (vgl. Müller-Dannhausen 2002: 205). Franzis161 | In ihrer Argumentation bezieht sich Herrmann allerdings weniger auf literarische Texte als vielmehr auf den medialen und juridischen Diskurs: »Auch die Pop- und Techno-Kultur, die den Remix und das Sample gern als co-produktives, intertextuelles Schreibmodell feiert und dabei den (postmodernen) Autor zum DJ erhebt (und umgekehrt), propagiert mit dem ›Mixer‹ nur vorgeblich einen ›schwachen‹ Autor. Nicht allein die Inszenierung der DJs als neue Popstars spricht dagegen; auch die Bestrebungen, das Autorenrecht für ihre Zwecke zu erweitern und ihre musikalischen Rekombinationen dadurch abzusichern, richten sich doch viel eher auf konventionelle Aneigungsstrategien statt auf eine Erweiterung oder gar Subversion des Autorbegriffs.« (Herrmann 2002: 496f.) In ihrem Modell müsste Herrmann allerdings unterscheiden zwischen den ›starken Autorschaften‹ von Pop-Autorinnen und -Autoren in medialen und juristischen Diskursen, wie Herrmann sie darstellt, und den ›schwachen Autorschaften‹ von PopAutorinnen und -Autoren im literarischen Diskurs.
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ka Schößler untersucht die Verfahren intertextueller Bezugnahmen in der Prosa Franz Kafkas, die sich aus sehr unterschiedlichen Texten speisen, »und zwar Höhenkammliteratur wie Unterhaltungsliteratur, Lexikaeinträge wie autobiographische Details, Mythen wie Informationen aus nicht-literarischen Feldern (Jura, Soziologie, Psychologie)«, die durch Kafkas ästhetische Verfahren letztlich »eine Art spielerischer Traditionszertrümmerung« (Schößler 2004b: 506) darstellen (vgl. auch Liebrand/Schößler 2004).
2.5. D IE D ISKURSE DER S UBVERSION UND DIE L ITER ATUR . E IN LITER ATUR - UND KULTURWISSENSCHAF TLICHES A NALYSEMODELL 2.5.1. Rhizom und Multitude. Die Diskurse der Subversion als Patchwork und im Widerstreit Der Begriff der Subversion wird in den wichtigsten deutschsprachigen Wörterbücher definiert als eine auf den Umsturz (bzw. die Zerstörung) der bestehenden staatlichen Ordnung zielende (verschwörerische und meist im Verborgenen betriebene) Tätigkeit, an vielen anderen Stellen wird der Begriff sehr offen und vielfältig bestimmt. Eine diachrone Diskursanalyse hat nun präzisierend belegen können, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert vier Diskurse ausprägen, in denen der Begriff der Subversion genutzt wird: Der politisch-institutionelle Diskurs der Subversion versteht Subversion als einen revolutionären Staatsumsturz; im künstlerisch-avantgardistischen Diskurs der Subversion wird Subversion als künstlerisch-prozessuale Bewegung beschrieben; der subkulturelle Diskurs der Subversion geht von der Bedeutung von Subversion als einer minoritär-distinktiven Bewegung aus; im poststrukturalistischen Diskurs der Subversion lässt sich Subversion als Dekonstruktion bestimmen. Die kursorischen Darstellungen der vier Diskurse der Subversion haben an verschiedenen Beispielen gezeigt, dass zwischen ihnen Abgrenzungsbewegungen und Konkurrenzverhältnisse existieren: Die Rote Armee Fraktion als terroristisch-subversive Gruppe hat die politische Wirkung des künstlerischavantgardistischen Diskurses für irrelevant erklärt; die Manifeste der künstlerisch-avantgardistischen Gruppen imitieren und parodieren wiederum häufig den Wahrheits- und Machtanspruch (revolutionärer) politischer Gruppen; die Punks als subkulturelle Bewegung haben sich von den musealen Formen hochkultureller avantgardistischer Kunst wie auch von den radikalen politischen Bewegungen der 1970er Jahre distanziert; und die Gender und Queer Studies wie auch die postkoloniale Theorie haben die Kollektividentitäten, auf denen die Entwürfe der sub- und gegenkulturellen Neuen Sozialen Bewegungen beruhen, radikal problematisiert. Die Differenzierung dieser vier Diskurse
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
wird nun als heuristisches Modell dienen, das den Begriff der Subversion für die Literaturanalysen operationalisierbar machen soll. In den Analysen der literarischen Texte wird es eine entscheidende Frage sein, inwiefern die Texte diese vier Diskurse der Subversion (als getrennt voneinander) präsentieren und ggf. miteinander konfrontieren. Abb. 2: Diskurse der Subversion
An verschiedenen Beispielen kann jedoch ebenso gezeigt werden, dass die Unterscheidung der vier Diskurse der Subversion ihre problematischen Seiten hat und sich Übereinstimmungen und direkte Übergänge zwischen ihnen beschreiben lassen: Aus der außerparlamentarischen Opposition, die hier als subversive Gegenkultur eingeordnet wurde, sind verschiedene terroristisch-revolutionäre Gruppen hervorgegangen; aus dem Differenzfeminismus hat sich das Forschungsfeld der Gender Studies entwickelt; die Punk-Bewegung lässt sich zwar als Subkultur beschreiben, sie wird wäre auch als künstlerische Avantgarde beschreibbar; der poststrukturalistische Diskurs der Subversion zieht häufig künstlerisch-avantgardistische Werke, in denen er einen dekonstruktivistischen Umgang mit ›Wahrheit‹ oder ›Identität‹ erkennt, zur Analyse heran. Im Sinne des Poststrukturalismus müsste man somit die Differenzierung verschiedener Diskurse der Subversion problematisieren und die Frage stellen, inwiefern diese Diskurse in sich bereits selbstreflexiv, -kritisch und gebrochen funktionieren und wo ihre Hierarchie und die Abgrenzung zwischen ihnen brüchig wird. Die These läge dann nahe, dass nicht einer dieser Diskurse die politische Veränderung bringen wird, sondern dass gerade ihre Koexistenz, ihre unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Kämpfe auf verschiedenen Feldern gegen- und miteinander ein ›Patchwork von Diskursen der Subversion‹ ergeben. Bereits 1982 stellte Karl-Werner Brand in seiner Arbeit über die Neuen sozialen Bewegungen fest, dass »ihre dezentrale Verankerung, ihre heterogene Trägerschaft und ihre organisatorisch wenig institutionalisierte Form« (Brand 1982: 185) charakteristisch für sie seien. Diese Tendenz scheint sich – angesichts einer weiteren Dezentralisierung und Globalisierung von Macht und
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Kapital in den vergangenen beiden Dekaden – weiter fortgesetzt zu haben. Auch die Aktivistin Naomi Klein stellt 2000 fest, dass sich inzwischen eine »technisch hochmoderne und zugleich basisorientierte und doch dezentrale […] Widerstandsbewegung entwickelt (hat), die genauso global und zu koordinierten Aktionen fähig ist, wie die multinationalen Konzerne, die sie bekämpft«. Zu dieser dezentralen und vielfältigen Widerstandsbewegung zählt sie so unterschiedliche Gruppen wie [k]ritische Aktionäre, Culture-Jammer, Street-Reclaimer, Gewerkschafter bei McDonald’s, Hacker für die Menschenrechte, […] Kämpfer an Schulen und Universitäten und Rechercheure, die das Verhalten der Konzerne im Internet anprangern (Klein 2000: 460f.).
Mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne, mit der Ablösung der Dekolonialisierung durch die Globalisierung und durch die Ausbreitung neuer Kommunikationsmedien wie Computer und Internet haben sich die Formen der Macht und damit auch die Formen politischer Kämpfe geändert. Diese Behauptung korreliert mit der eben beschriebenen Entwicklung, dass seit den 1960er Jahren und final in den 1980er und 90er Jahren die Bedeutung von Subversion als einem militant-revolutionären Staatsumsturz ihre einstmals vorherrschende Position verliert und die Bedeutungen von Subversion als künstlerisch-avantgardistischem Prozess, als subkulturell-distinktive Bewegung oder als Dekonstruktion neben sie stellen und teilweise sogar noch wichtiger werden. In ihrem viel beachteten Buch Empire. Die neue Weltordnung (2000), das sich um eine Verbindung der marxistisch-kommunistischen Denktradition mit den Ansätzen des Poststrukturalismus bemüht, haben Michael Hardt und Antonio Negri diese Prozesse analysiert und den Prozess der Globalisierung als einen beschrieben, der zwar »über ungeheure Unterdrückungs- und Zerstörungspotenziale« verfügt, jedoch zugleich »neue Möglichkeiten der Befreiung« (Hardt/Negri 2003: 13) anbietet. Die Begriffe ›Empire‹ und ›Multitude‹ (Menge) stehen zentral in Hardts und Negris Argumentation. Unter Empire verstehen sie »das politische Subjekt, das (den) globalen Austausch tatsächlich reguliert, die souveräne Macht, welche die Welt regiert.« (Hardt/Negri 2003: 9) Empire ist jedoch etwas völlig anderes als ein imperialistisches Regime – während jenes ein Zentrum der Macht etabliert, das seine eigenen (nationalen) Grenzen auszudehnen versucht, ist das Empire ein dezentrierter Herrschaftsapparat: »Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch modulierende Netzwerke des Kommandos.« (Hardt/Negri 2003: 11) Im Empire gibt es »kein Zentrum der Macht, das man stürmen könnte. Sollen wir das Weiße Haus stürmen oder die Wall Street? Das wäre absurd.« (Hardt 2002) Auch dass Arbeit und somit Ausbeutungsverhältnisse inzwischen immateriell und zu-
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nehmend digitalisiert funktionieren, beziehen Hardt und Negri in ihre Analysen ein.162 Die dezentralen Formen der Macht im Empire führen dazu, dass es, so Anne Querrien, »mehr denn je an der Zeit (ist), ›Rhizom zu machen‹, unterirdische Gänge anzulegen« (Querrien 2003: 129f.), und auch Hardt und Negri schreiben, dass diese neuen Räume »mittels unterirdischer und nicht einzugrenzender Rhizome« (Hardt/Negri 2003: 404) einzunehmen seien. Hardt und Negri verweisen somit in ihrer ontologischen Beschreibung einer globalen politischen Bewegung auf eine radikal anti-totalitäre Beschreibung spezifischer Denk- und Politikformen. Der Begriff des Rhizoms ist schon Ende der 1970er Jahre von Gilles Deleuze und Félix Guattari genutzt worden, um eine neue Politik der nicht-hierarchisch strukturierten Vielheiten von den hierarchisch strukturierten und auf einen Ursprung oder festen Grund fixierten Widerstandsbewegungen abzugrenzen. Den Strukturbegriff des Rhizoms leiten Deleuze und Guattari aus der Biologie ab, wo er unterirdische Knollen im Gegensatz zu Wurzeln beschreibt: [I]m Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel (Deleuze/ Guattari 1977: 34).
Während in zentrierten Systemen hierarchische Formen der Kommunikation sowie festgelegte Verbindungen vorherrschen, ist das Rhizom »ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat.« (Ebd.: 35) Jedes Rhizom kann mit anderen »durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische Stengel verbunden werden« (ebd.: 35), auf diese Weise entsteht ein ›Plateau‹ – eine Konstruktion, die Deleuze und Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus (1980) umzusetzen versuchen. Der Begriff des Rhizoms weist eine Nähe zu Lyotards Beschreibung eines Patchworks der Minderheiten (1977) auf, wobei es Lyotard weniger um die Beschreibung nicht-hierarchischer Politikformen als vielmehr um die Potenziale vielfältiger widerständiger Gruppen geht.163 De162 | Hierzu zählen auch die Beiträge von Antonio Negri, Maurizio Lazzarato und Paolo Virno im Sammelband mit dem Titel Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion (1998), vgl. Negri u.a. 1998. 163 | In Abgrenzung von einer Ausrichtung auf ein Zentrum, auf das sich eine Revolution zu richten hätte, interessiert sich Lyotard für »eine (noch zu definierende) Gruppe von heterogenen Räumen, ein großes p a t c h w o r k aus lauter minoritären Singularitäten«, dazu zählt er »wichtige neue Gruppierungen […], die in den offiziellen Registern bisher nicht geführt wurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostituierte, Enteignete,
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leuze und Guattari plädieren vehement für eine rhizomatische Form des Widerstands: »[M]acht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! […] Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! […] Laßt keinen General in euch auf kommen!« (Ebd.: 41) Hardt und Negri beschreiben, wie sich aus dem Empire die Multitude, die Menge, erheben kann. Die Menge bewegt sich produktiv im Empire als ›Rohmaterial‹ seiner Transformation und arbeitet an den Herrschaftsverhältnissen des Empire mit. Es lassen sich jedoch auch Formen der Verweigerung oder des Widerstands gegen die Regime des Empire beobachten, die Hardt und Negri als Übergangsphänomene zur Formation der Multitude beschreiben. Die politische Subjektwerdung der Multitude bezeichnen sie mit dem Begriff der ›posse‹, also dem Schritt, ›sich seines Vermögens zu bedienen‹. Dahinter verbirgt sich die Entwicklung alternativer Lebensweisen, die in der Multitude auf vielfältige Weise Gestalt annehmen kann und auf die Rechte der Weltbürgerschaft, des sozialen Lohns und auf die Wiederaneignung der biopolitischen Produktionsmittel abzielt. Anne Querrien präzisiert, dass die Multitude »aus einer Unendlichkeit von Mikromultitudes« besteht, die darum kämpfen, »lokales Handeln Welt werden zu lassen« (Querrien 2003: 132). Das Konzept politischer Repräsentation und Hierarchie ist damit ad acta gelegt, die Multitude und das Rhizom als Vielheit und Singularität sind nicht zu repräsentieren, sie bieten im Gegensatz dazu »die Chance, für ein Verständnis von Subpolitik als ›molekulare[r] Revolution‹ zu streiten« (Adolphs/Hörbe/ Rau 2002). Die Medienbilder von den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 führten diese widersprüchlichen Bewegungen vor: die gewalttätigen Autonomen vom ›Schwarzen Block‹, die Protestclowns und Pink-Silver-Gruppen auf den Demonstrationen, die Diskutierenden und NGOs auf dem Alternativ-Gipfel in Rostock und die künstlerischen Musikgruppen und Intellektuellen bei den Protestkonzerten.164 Diese globalen politischen Bewegungen verbinden somit – in widersprüchlicher Weise – politisch-revolutionäre, künstlerisch-avantgardistische, subkulturelle und dekonstruktivistische Diskurse, die sich in unterschiedlichen Formen mit der gesellschaftlichen Macht und deren Repräsentationen Gastarbeiter…; je stärker sich die Kategorien vermehren, desto komplizierter und schwerfälliger wird deren zentralisierte Verwaltung« (Lyotard 1977: 37f.). 164 | Ganz ähnlich lesen sich 2010 auch die Empfehlungen des Unsichtbaren Komitees zum kommenden Aufstand: »Nichts von den Organisationen erwarten. […] [Z]uallererst verhinden, zu einem (Milieu) zu werden. […] Die Zonen der Undurchdringlichkeit vermehren. […] Unsere eigenen Kommunikationswege anlegen. […] Die Anonymität in eine offensive Position wenden. […] Jegliche Instanz der Repräsentation sabotieren. […] Die Vollversammlung abschaffen. […] Eine aufständische Erhebung ist vielleicht nichts anderes als eine Vervielfachung der Kommunen, ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels.« (Unsichtbares Komitee 2010: 36, 40, 42, 45 u. 43)
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entgegenstellen, sich aber auch in Auseinandersetzungen untereinander befinden und teilweise in Aporien der Subversion verfangen oder sogar eine ›Subversion der Subversion‹ durchspielen.165 Neben diese Diskurse der Subversion treten weitere Formen des Widerstands, Diskurse des Protests, der Kritik, der Gewalt, des Rechts. Für Negri und Hardt steht der Begriff der Militanz im Zentrum und ›der Militante‹ steht in paradigmatischer Weise für die konstituierenden Tätigkeiten der Multitude: »Militanz ist heute eine positive, konstruktive und innovative Tätigkeit. […] Militante leisten kreativen Widerstand gegen die imperiale Befehlsgewalt.« (Hardt/Negri 2003: 419; Hervorh. herausgenommen)166 Das kritische und selbstreflexive Bewusstsein ihrer eigenen Traditionen und Diskurse sei »die bedeutsamste Neuerung heutiger Militanz«, die die »Tugenden aufrührerischen Handelns aus zwei Jahrhunderten subversiver Erfahrung« aufgreife und gleichzeitig mit einer neuen Welt umgehe, »die kein Außen mehr kennt« (ebd.: 419f.; Hervorh.herausgenommen). In – oft als übertrieben kritisierter167 – optimistischer Weise sehen Hardt und Negri darin ei165 | Im Sammelband SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart stellt Mark Terkessidis fest, »dass angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse die Subversion fragwürdig geworden ist, weil die Formen der Herr schaft selbst zersetzend wirken.« (Terkessidis 2008: 43) Im Anschluss an diese These argumentiert Martin Doll mit Jacques Ranciere und fragt, »ob es nicht einer Subversion der Subversion bedarf, d.h., dass bei aktivistischen Formen politischer Dissens-Äußerungen allgemein anerkannte und damit selbst zum System geronnene coole und hippe Negationen zugunsten von Strategien aus heterogenen streitbaren Einmischungen, die sich permanent selbst in Frage stellen, sich selbst unterlaufen, verworfen werden sollten.« (Doll 2008: 66) Auch Mirko Tobias Schäfer und Hans Bernhard sehen die Gefahr der Inkorporation subversiver Konzepte durch die Industrie und schlafen vor: »Anstatt die Zeichen zu entstellen, wie Barthes es noch forderte, muss die Subversivität von Kommunikationsstrategien selbst entstellt werden, um sie so wirkungslos werden zu lassen.« (Schäfer/Bernhard 2008: 86) 166 | Als Traditionslinie der Militanz beziehen sich Hardt und Negri auf »die Kommunisten und die Befreiungskämpfer in den Revolutionen des 20. Jahrhunderts, auf die Intellektuellen, die im Zuge ihres Kampfs gegen den Faschismus verfolgt und außer Landes gejagt worden sind, auf die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und auf die europäischen Widerstandsbewegungen, auf die Freiheitskämpfer in allen antikolonialistischen und antiimperialistischen Kriegen.« (Hardt/Negri 2003: 418; Hervorh. herausgenommen) 167 | Hardts und Negris Beschreibung von Empire und Multitude ist überraschend weit und positiv rezipiert worden. Allerdings entwickelten sich auch zahlreiche kritische Diskurse, die diesem Konzept eine zu große Emphase für die subjektive und populäre Seite sozialer Kämpfe, eine Parallelisierung der Konzepte ›Volk‹ und ›Multitude‹ sowie in der Konstruktion der Multitude die Etablierung einer neuen Utopie bzw. eines ontologischen Mythos vorwarfen.
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nen großen Vorteil der neuen Gegenmacht, die sich als Multitude im Empire formiert: »Die Kämpfe gegen das Empire, Angriff und Subversion ebenso wie der Auf bau einer wirklichen Alternative werden sich auf dem imperialen Terrain selbst abspielen – tatsächlich haben diese neuen Kämpfe bereits begonnen.« (Ebd.: 13) Sprache und Literatur erhalten in diesem Prozess eine neue Funktion: Es geht nicht mehr primär darum, engagiert für ›die Menschenrechte‹ einzutreten oder die Stimmen von Minoritäten zu repräsentieren. Sprache, Begriffe und Kommunikation sind, so Hardt und Negri, in der Welt des Empire mit einer anderen, ebenfalls wichtigen Bedeutung aufgeladen worden: Wenn Kommunikation immer mehr zum Produktionsort geworden ist und wenn sprachliche Kooperation zunehmend die Struktur produktiver Körperlichkeit bestimmt, so wird die Kontrolle über Sprache, Bedeutung und die Kommunikationsnetzwerke im politischen Kampf zu einer immer zentraleren Frage. (Ebd.: 410)
Diese Kämpfe werden vor allem in den Öffentlichkeiten des Mediums Internet ausgetragen, die jedoch noch immer von literarischen Diskursen beeinflusst werden, in denen das Medium Buch und seine medialen, wissenschaftlichen und unternehmerischen Instanzen weiterhin zentrale Größen sind. Gerade für ein zunehmend minoritäres Medium wie die Literatur bietet Hardts und Negris Konzeption der Multitude die Möglichkeit, sich selbst als ein Element der Menge zu denken, dem eine wichtige Aufgabe zukommt – in Empire heißt es, dass uns heute »[a]lle Formen von Korruption und Ausbeutung […] durch die sprachlichen und kommunikativen Produktionsregime aufgezwungen [werden]: Man muss sie mit Worten ebenso zerstören wie mit Taten.« (Ebd.: 411) Zu fragen wäre, inwiefern literarische Texte und ihre Autorinnen und Autoren als öffentliche Figuren Mikromultitudes darstellen, die auf einer inhaltlichen Ebene die Diskurse der Subversion archivieren und reflektieren sowie sich auf einer ästhetischen Ebene in literarischen Diskursen avantgardistisch positionieren und die Begrenzungen des künstlerischen Diskurses verschieben. Auf welche Weise Literatur dies versucht bzw. wie sie sich an der »Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten« (Foucault 1995: 118) zu beteiligen versucht, dies wird die Untersuchung mit Hilfe von Literaturtheorien leisten, die auf unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Weise eine Literatur als ›subversiv‹ beschreibbar zu machen versuchen.
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
2.5.2. Literatur und Subversion. Konzeption eines literaturund kultur wissenschaftlichen Analysemodells In Bezug auf und innerhalb der vier Diskurse der Subversionen können literarische Texte verschiedene Funktionen erfüllen: Literarische Texte können den politisch-institutionellen Diskurs der Subversion archivieren und reflektieren, innerhalb des künstlerisch-avantgardistischen Diskurses der Subversion kann Literatur als Avantgarde subversiv wirken, den subkulturellen Diskurs der Subversion kann Literatur als eine Form minoritärer Distinktion unterstützen und ausgehend vom poststrukturalistischen Diskurs der Subversion lässt sich Literatur als Dekonstruktion verstehen. Mit Hilfe des bis hierhin aufgebauten begrifflichen und methodischen Fundaments können nun in konkreten Literaturanalysen die weiteren drei Fragestellungen dieser Arbeit untersucht werden: Welche Formen und Schreibweisen, welche Inhalte und literarischen Topoi und welche Autorenbilder lassen sich in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa, die sich in die Diskurse der Subversion einschreibt, herausarbeiten? Diese Fragen sollen in den folgenden drei Hauptkapiteln auf drei Feldern der Gegenwartsliteratur, deren Diskurse bis vor den politisch-historischen Umbruch von 1989/90 zurückreichen, exemplarisch analysiert werden: an der Popliteratur von Thomas Meinecke (3.), an der minoritären Literatur von Feridun Zaimoğlu (4.) und an der Untergrund-Literatur des Social Beat (5.). Im Zentrum der Textanalysen wird immer die Frage stehen, inwiefern sich die jeweiligen Texte als subversiv beschreiben lassen. Wie aber kann, vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen, ein Prosatext der Gegenwartsliteratur als ›subversiv‹ beschrieben werden? Welche Schritte muss eine solche Analyse durchlaufen? Welche Fragestellungen muss sie beantworten? Erstens ist es wichtig, die politisch-institutionellen Diskurse und insbesondere den jeweiligen literarischen Diskurs, in dem die Texte zu positionieren sind, historisch zu rekonstruieren, denn Subversion steht immer in einem spezifischen Verhältnis zu einer ›Macht‹, einer ›Normalität‹, einem ›Zentrum‹ usw., um bzw. gegen die sie sich bewegt. Vor den konkreten Textanalysen muss daher geklärt werden, wie sich die politisch-sozialen Machtverhältnisse in der jeweiligen Gesellschaft gestalten, wie die Kräfteverhältnisse im medialen, politischen und juridischen Diskurs (Foucault) bzw. auf dem literarischen Feld sind (Bourdieu). Zudem sind das Verhältnis des literarischen zum ökonomischen Diskurs wie überhaupt die Form der Grenzziehung zwischen den verschiedenen Wissensfeldern sowie ihre Austauschprozesse wichtig (Greenblatt). Schließlich ist es notwendig, die aktuellen gesellschaftlichen Transformationen zu beschreiben nebst der Rolle, die das kulturelle Feld dabei einnimmt. Nur vor dem Hintergrund einer solchen historischen Analyse der gesellschaftlichen Diskurse und des literarischen Feldes lassen sich die Texte und ihre Autorinnen und Autoren auf dem literarischen Feld – als neoavantgardistische, minoritär-distinktive oder dekonstruktive Texte – positionieren und die wo-
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möglich von ihnen ausgelösten medialen Skandale, juristischen Prozesse oder politischen Wirkungen adäquat beschreiben. Dabei muss zugleich ein Augenmerk auf die Möglichkeit gerichtet werden, dass künstlerische Avantgarden von den gesellschaftlichen Institutionen (Bürger) und Minoritäten oder Gegenkulturen von Majoritäten oder dem gesellschaftlichen Mainstream absorbiert werden (Holert/Terkessidis). Abb. 3: Analyseschritte einer subversiven Gegenwartsliteratur
Zweitens müssen die Formen und Schreibweisen der jeweiligen Texte untersucht werden. Dabei interessiert zunächst die Frage, ob der Text in einer Tradition der literarischen Avantgarde steht und Verfahren der Montage, der harten Schnitte nutzt, sich als hermetisch erweist, mit traditionellen Erzählweisen bricht oder intermediale Formen (z.B. Bezüge auf die Internetkommunikation) nutzt – und wie diese neoavantgardistischen Strategien ggf. bereits von anderen Texten, Medien oder Institutionen absorbiert werden (Bürger). Dies kann nur in einem relationalen Vergleich mit anderen Texten geklärt werden. Während im Kontext der Avantgarde eher die Schnitt-Techniken eines Textes interessieren, fragt die Theorie der Intertextualität nach den Textarchiven, die ein intertexutell verfahrender Prosatext erzeugt, und danach, in welchem Verhältnis das Zitat zu den anderen Textinhalten steht. Daher müssen diese Arsenale der Textbezüge untersucht werden (Hoch- versus Populärkultur, nationaler versus internationaler Kanon usw.) sowie die Grade der Intertextualität. Im Kontext dieser Arbeit wird von einem engen Intertextualitätsbegriff ausgegangen, der sich um den Nachweis textäußerlicher Quellen bemüht, allerdings zwischen Text und Autor scharf trennt (anders als Broich/Pfister). Schließlich muss untersucht werden, in welcher Weise sich die spezifisch literarische Textur zu anderen gesellschaftlichen Wissensfeldern, Diskursen und ihren Regelsystemen positioniert. Lässt sich der jeweilige Text aufgrund seiner ästhetischen Gestalt als ein ›Gegendiskurs‹ bezeichnen (wie es der frühe Foucault an
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einzelnen Beispielen versuchte)? Ist er als Beispiel einer ›kleinen Literatur‹ zu bewerten, die die Hochsprache deterritorialisiert (Deleuze/Guattari)? Nutzt sie literarisch subversive Formen der Ironie, Parodie, Travestie, des Karnevalesken oder entwickelt sie eine dialogische oder hybride Sprache (Bachtin)? Resignifiziert sie diskriminierende Wörter (Butler)? Drittens werden die Inhalte der Texte betrachtet, zunächst in einer ganz allgemeinen Weise: Welche Themen, Inhalte, Diskurse spielen im jeweiligen Prosatext eine Rolle? Welche Spezialdiskurse reflektiert ein literarischer Text interdiskursiv? Welche Kollektivsymbole werden genutzt und welches Bild der Gesellschaft auf diese Weise konstruiert? Welche gesellschaftliche Normalität wird geschaffen (Link)? Wie werden Macht und Hegemonie konstruiert? Welche hegemonialen und welche Gegendiskurse sind virulent (Foucault)? Wichtig sind in diesem Zusammenhang die sozialen Gruppen und das Personengeflecht, das sich im Text konstituiert. Welche Distinktionsbewegungen bestehen zwischen ihnen? Welche Dichotomien (wie Sub-/Gegenkultur versus Mehrheitsgesellschaft etc.) werden konstruiert (Cultural Studies)? Welche Kategorien der Diskriminierung wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Sexualität, Religion, Alter, Behinderung, Aussehen usw. werden aufgerufen? Richten sich die Figuren und Gruppen an kollektiven und homogenen Identitäten aus? Werden binäre Frauen- und Geschlechterbilder rekonstruiert oder werden diese – mit Hilfe von Maskeraden und Performanzen (Butler) oder transvestitischen Akten (Garber) – dekonstruiert? Wird der Text aus einer männlicher Perspektive erzählt oder wird diese von den Figuren subvertiert (Silverman)? Welche Konstruktionen von Alterität und Stereotypen des Fremden produziert der Text (Said)? Werden Hautfarbe und Weißsein als Identitätsmerkmale genutzt (Fanon)? Inwiefern werden Stereotype des Fremden dekonstruiert und hybridisiert (Bhabha)? Lassen sich die Texte als Berichte von Minoritäten, die den Status kollektiver Aussageverkettungen im Sinne einer ›kleinen Literatur‹ besitzen, verstehen (Deleuze/Guattari)? Schließlich ist eine entscheidende Frage, ob und, wenn ja, wie die Texte Strategien und Diskurse der Subversion archivieren und reflektieren. Präsentieren die Texte beispielswiese minoritäre Figuren, die sich subversiv an der Popkultur bedienen (Fiske)? Formulieren sie politische Utopien im Sinne eines ›Prinzip Hoffnung‹ (Bloch)? Viertens müssen der spezifisch literarische Diskurs im Umgang mit subversiven Konzepten thematisiert und also die literarischen Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversion untersucht werden. Als Topoi der Subversion können gegenwärtig Formen des Abseitigen wie Hässlichkeit, das Unheimliche, Strategien der Sabotage, Unterwanderung oder des Hackings, Zustände der Ektase wie Drogenrausch oder sexuelle Akte, aber auch einzelne Bilder wie der ›Sand im Getriebe‹ oder der ›streikende Motor‹ gefasst werden. Bei den Topografien der Subversion lassen sich vier verschiedene Formen unterschieden: Orte der Subversion können nach dem Schema ›unten versus oben‹ organisiert sein (der Ort der Subversion wäre unten, also im Untergrund, in
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der Kanalisation, der Höhle, dem Keller); nach dem Schema ›außen versus innen‹ (die Subversion wäre außen: in der Diaspora, der Peripherie, dem Ghetto, dem Stadtrand); die Subversion kann sich auch am liminalen Bereich der Grenze oder des Übergangs verorten (im Kampf um das Stadttor oder die Berliner Mauer) oder in einem zeitlichen oder örtlichen utopischen Raum (wie in der Science-Fiction, die der gegenwärtigen Normalität ›verkehrte‹ Zukunftsentwürfe entgegenstellt). Als Personen der Subversion lassen sich unterscheiden: politische Revolutionäre wie Terroristen und Anarchisten, Künstler und Avantgardegruppen wie Autoren, Clowns, Narren (sowie literarische Figuren wie Don Quichote, Schwejk oder Till Eulenspiegel); Minoritäten oder Subkulturen wie Migranten oder Homosexuelle; Jugend- und Gegenkulturen wie die Punks oder Rechtsradikale; dekonstruktive Figuren wie Transvestiten oder Cyborgs; Tiere wie der Maulwurf und sein Tunnel oder die Agenten der Gegensubversion wie der Spion, der Doppelagent und der Geheimdienst. Als Sprachen der Subversion sind jene Typen zu bezeichnen, die in markanter Weise von der Hochsprache und von hochkulturellen Fachsprachen abweichen: Dazu zählen die montierte und hermetische Sprache der literarischen (Neo-)Avantgarde; Dialekte, Szene-, Milieu- und Untergrundsprachen; Geheimsprachen und -codes; sowie die karnevalesken Sprachen der Satire, die Stilmittel wie Ironie, Parodie usw. nutzen. Sämtliche Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversion können gegeneinander ausgespielt, als politisch wirkungslos oder scheiternd dargestellt oder auch selbst subvertiert werden. Schließlich wird fünftens – getrennt von den Textanalysen – die Autorfigur als öffentliche Person untersucht. Zunächst wird die politische Selbstinszenierung fokussiert: Stellt der/die AutorIn eine Nähe zu politischen Bewegungen oder sozialen Gruppen her und tritt er/sie als deren Repräsentant auf? Wie positioniert er/sie sich zu politischen Fragen und gegenüber anderen sozialen Gruppen und Institutionen auf dem literarischen Feld (Bourdieu)? Überspringt die Autorfigur die Begrenzungen des Kunstdiskurses und agiert sie auch auf anderen gesellschaftlichen Feldern (Greenblatt)? Werden ihre Person und ihre Literatur auf diesen anderen Feldern ausgeschlossen oder verfolgt? Hat sie Skandale oder Prozesse ausgelöst oder in anderer Weise öffentlich Anstoß erregt? Oder nimmt sie inzwischen auf dem literarischen Feld und in der medialen Öffentlichkeit eine gesicherte Position ein, so dass sie z.B. Literaturpreise erhält? Wie geht die Autorfigur mit möglichen Formen diskriminierender Kategorisierungen wie ›Gastarbeiterautor‹ oder ›Fräuleinwunder-Literatin‹ um? Bemüht sie sich um eine strategische Mediennutzung, arbeitet sie als Teil einer ›Gegenöffentlichkeit‹, lassen sich Formen ihrer medialen Verweigerung beschreiben oder unterstützt sie rhizomatische Widerstandskulturen? Und letztlich: In welchem Verhältnis steht die Inszenierung und Rezeption der Autorfigur als öffentliche Person zu ihren Texten? Die hier idealtypisch beschriebene strikte Unterscheidung zwischen Form, Inhalt und Topoi literarischer Texte ist problematisch, dementsprechend wird
Der Begrif f der Subversion und Literatur als Subversion
sie in den konkreten Literaturanalysen auch nicht immer durchgehalten. Generell vollziehen sich die folgenden drei Kapitel allerdings in dieser Reihenfolge: Nach einer Einführung in den jeweiligen literarischen Diskurs werden die Formen und Schreibweisen, die Inhalte, Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversionen in den jeweiligen Texten sowie abschließend die Autorfigur als öffentliche Person analysiert.
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3. Pop, Literatur und Subversion THOMAS M EINECKES AVANCIERTE P OPROMANE TOMBOY (1998) UND H ELLBL AU (2001)
Allein der Name des zentralen Detroiter Techno-Vertriebs: Submerge. Abtauchen, Yolanda, so könnten wir unser Buch nennen. Thomas Meinecke (2001: 74)
Thomas Meinecke hat die Romane The Church of John F. Kennedy (1996), Tomboy (1998), Hellblau (2001), Musik (2004), Jungfrau (2008) und Lookalikes (2011) veröffentlicht. Die Literaturkritik beschreibt ihn als einen Autor, der an einer »Rückkehr zur Aufklärung« (Tuschick 1998c) arbeite, sich dabei jedoch auf der Höhe poststrukturalistischer und postmoderner Theoriebildung befinde. Meinecke formuliere »die Hoffnung auf die Umgestaltung des autonomen Subjekts als handelndes zu einem Subjekt, das sich durch Erkenntnis definiert: Dass gerade die Bedeutungsüberschüsse für immer mehr Wahlmöglichkeiten sorgen und Widerstand ermöglichen.« (Messmer 2001) Meinecke selbst sieht sein Werk als eine politische Arbeit, unter der er »das Suchen nach einer genauen und politisch korrekten Sprache, sowie deren Nachkorrigieren« versteht, eine »Bewegung« also, mit deren Hilfe »man durchaus das System unterlaufen«168 könne. Passenderweise wird sein Werk auch als ein »literarisches Unterseeboot« (Noltze 2004: 66) bezeichnet. Seine Romane seien zudem ein Beleg dafür, dass »Pop, das Rhythmus- und Selbstgefühl des Augenblicks, […] in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine immer größere
168 | Diese Aussage wurde von Thomas Meinecke in einem Gespräch mit dem Verfasser, das am 26. September 2003 in Dortmund geführt wurde, gemacht und nachträglich von ihm autorisiert. Das komplette Zitat lautet: »Unter politischem Arbeiten verstehe ich das Suchen nach einer genauen und politischen korrekten Sprache, sowie deren Nachkorrigieren. In dieser Bewegung kann man durchaus das System unterlaufen. So wie Leute früher zur Bundeswehr gingen, um dort marxistische Gruppen zu gründen. Das hat natürlich nicht geklappt.«
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Literatur und Subversion
Rolle« (Böttiger 1998) spiele. Meinecke wird in den ersten zentralen Studien über die Popliteratur der 1990er Jahre an vorderer Stelle genannt169 und als »der avancierteste Autor unter den ›Trash-Piloten‹ und ›Pop‹-Autoren »(Kraft 2005: 55) bzw. »prototypisch für den sogenannten […] ›Suhrkamp-Pop‹« (Degler/Paulokat 2008: 75) bezeichnet. Er schreibe »genuin auf klärerische Literatur«, allerdings »ohne autoritär vorgetragene Schlussfolgerung« (Picandet 2011a: 307), in seinen Romanen fragten die Figuren »nach Mechanismen sozial-kultureller Grenzziehungen sowie Spielräumen für deren Subversion.« (Geier 2008: 123) Somit scheint es sich bei Meinecke um einen Autor zu handeln, der sich um eine Verknüpfung von Literatur und Subversion auf dem Felde des ›Pop‹ bemüht. Da es sich bei der Popliteratur um jene literarische Entwicklungslinie handelt, die Mitte der 1990er Jahre und somit nach der historisch-politischen Wende von 1989/90 in herausragender Weise von den Verlagen, den Feuilletons und den Medien zu dem neuen literarischen Phänomen erklärt wurde, sollte sich eine Arbeit über subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auch einem Vertreter der Popliteratur zuwenden.170 Im Folgenden wird daher untersucht, inwiefern es sich bei den Texten und Selbstinszenierungen Thomas Meineckes tatsächlich um ›literarische Unterseeboote‹ bzw. eine spezifisch popliterarische Form handelt, die in einem produktiven Verhältnis zu den Diskursen der Subversion steht. Zunächst wird der Begriff der Popliteratur in historischer und theoretischer Hinsicht einer Betrachtung unterworfen, damit Meineckes Texte in ein Verhältnis zum Diskurs der Popliteratur gesetzt werden können (3.1.). Anschließend werden Thomas Meineckes Romane Tomboy und Hellblau daraufhin untersucht, inwiefern sich in ihnen ein Verhältnis von Pop, Literatur und Subversion beschreiben lässt (3.2.). Schließlich werden die Ergebnisse dieser Literaturanalysen in einer Zusammenfassung dargestellt (3.3.).
169 | Vgl. Baßler 2002: 135–154; Ernst 2001: 60f.; Goer 2003; Schumacher 2003: 192–205; Ullmaier 2001: 117–122. 170 | Ansgar Warner konstatiert zudem im Anschluss an die Problematisierung der ›critique artistique‹ durch Luc Boltanski und Ève Chiapello, dass gerade »die Marktförmigkeit der Pop-Literatur (zeigt), dass eine avancierte Form der Kritik an die Vertiefung der Integration in kapitalistische Verwertungszusammenhänge gebunden ist.« (Warner 2006: 105)
Pop, Literatur und Subversion
3.1. V ON G RENZÜBERSCHREITUNGEN UND P OSITIONSFELDERN . G ESCHICHTE UND THEORIEN DER DEUTSCHSPR ACHIGEN P OPLITER ATUR Ähnlich wie der Begriff ›Dada‹ handelt es sich beim ›Pop‹-Begriff um ein lautliches Passepartout, das unterschiedliche künstlerische Zuschreibungen erfahren hat, die historisch differenziert betrachtet werden müssen. Im Folgenden sollen daher der Begriff der Popliteratur und seine Bedeutungen im deutschsprachigen Raum aus historischer und theoretischer Perspektive betrachtet werden, um einen Hintergrund für die Analyse der Romane Thomas Meineckes als Popliteratur zu gewinnen. Dabei muss allerdings davon ausgegangen werden, dass der ›Pop‹-Begriff bereits 1971 als »Verlegenheitsausdruck« (Hartung 1971: 723) bezeichnet wurde und dieser in den letzten Jahren »längst bis zur Unverbindlichkeit hin von den verschiedensten Seiten und Interessengemeinschaften her aufgebläht« wurde, so dass »inzwischen alles unter Pop summiert werden kann.« (Büsser 2001: 11)171 Dasselbe lässt sich für den Begriff der ›Popliteratur‹ feststellen, den das Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart von 2000 als »nach wie vor mehrdeutig und missverständlich« (Schäfer 2000: 420) bezeichnet, auch die UTB-Einführung in die Neue Deutsche Popliteratur konstatiert: »Eine verbindliche Definition ist […] nach wie vor schwierig, […] ein Konsens kaum möglich« (Degler/Paulokat 2008: 8). Zur Geschichte der deutschsprachigen Popliteratur liegen inzwischen verschiedene Arbeiten vor,172 die allesamt einen relativ ähnlichen ›Kernkanon‹ benennen, diesen allerdings jeweils unterschiedlich bewerten und sich auf verschiedene Begrenzungen und verwandte Felder beziehen. Es lässt sich zeigen, dass sich die Popliteratur in den 1960er Jahren im deutschsprachigen Raum zu etablieren beginnt und bis in die 90er Jahre ausdifferenziert, so dass heute von verschiedenen Feldern der Popliteratur zu sprechen ist. Damit die spezifische Art und Weise, in der sich Thomas Meineckes Texte sowohl gegenüber der popliterarischen Tradition als auch auf den popliterarischen Feldern der Gegenwart positionieren, im Laufe der Literaturanalysen herausgearbeitet
171 | Thomas Hecken hat allerdings aus einschlägigen Pop-Beschreibungen der Jahre 1966–1973 verschiedene Merkmale des Pop extrahiert: Oberflächen-Ästhetik, Pop-Gegenkultur vs. Kommerz-Pop/Konsum-Freiheit, Große Manipulation, KunstWelt, Medien-Botschaft, Reiz-Angriff, Anti-Narration, V-Pop, Pop-Populismus, ImageZeichen, Meta-Pop, vgl. Hecken 2009: 265–303. Zudem nennt er als zentrale Bereiche des Pop-Diskurses u.a. »Pop-Subversion« (Hecken 2009: 429–431) und »Pop und Politik« (Hecken 2009: 466–468). 172 | Vgl. Bentz 1999; Büsser 1999; Frank 2003; Hecken 2003; Schäfer 1997; Schäfer 2000; Jung 2002b: 34–38.
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werden kann, sind die folgenden Ausführungen insbesondere auf die Popliteratur Thomas Meineckes und ihre historischen Hintergründe ausgerichtet.
3.1.1. Grenzüberschreitungen und Underground-Distinktion. Die Anfänge der deutschsprachigen Popliteratur Der erste deutschsprachige Autor, der den Begriff »Pop-literatur« (Artmann 1964: 43) nutzte, war 1964 Hans Carl Artmann in Das suchen nach dem gestrigen tag. Bei Artmann postuliert der Begriff eine Hinwendung der Literatur zu populären Formen wie dem Comic Writing und eine ironische Distanz zu Texten der hochkulturellen Moderne wie jenen von James Joyce und Robert Musil. Erst Ende der 1960er Jahre173 verbreitet sich in Deutschland jedoch der PopBegriff und somit auch jener der Popliteratur. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei der US-amerikanischen Beat Generation und den Texten von William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Jack Kerouac und Frank O’Hara zu, ebenso wie Theoretiker der Postmoderne wie Leslie A. Fiedler und Susan Sontag. Während die Beat Generation in den USA ab den 1950er Jahren aktiv ist und in Deutschland bereits zu Anfang der 1960er Jahre rezipiert wird, werden ihre Konzepte in kreativer und eigenständiger literarischer Form erst während der Studierendenbewegung von 1967/68 – allerdings in Abgrenzung von ihren Politikformen – im deutschsprachigen Raum genutzt. Jörgen Schäfer und Thomas Hecken stellen fest, dass »[a]lle Pop-Phänomene […] in Deutschland zunächst kulturelle Importe aus den USA und Großbritannien« (Schäfer 2003a: 17) waren, und dass es sich dabei um eine nachholende Bewegung handelt, die die während des Nationalsozialismus verfolgten Formen »radikal avantgardistischer Prinzipien und Verfahrensweisen des Naturalismus, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus […] unter den Titeln ›Pop‹ und ›Underground‹ nach Deutschland« (Hecken 2003: 48) zurückbringt. Eine zentrale Rolle spielen bei diesem Prozess Rolf Dieter Brinkmann und Leslie A. Fiedler. Fiedler hält 1968 in Freiburg einen Vortrag mit dem Titel Cross the Border, Close the Gap und plädiert darin für eine künstlerische Hinwendung zur Massenkultur und zu Trivialmythen sowie für die Aufhebung der – für ihn obsoleten – Abgrenzung von Hoch- und Populärkultur. Fiedlers Plädoyer für ein ›Zeitalter der Postmoderne‹ und die neue Form der ›Pop-Literatur‹ geht insbesondere von der Pop Art aus, die seines Erachtens »gegen jene anachronistischen Überbleibsel Krieg führt« und somit »subversiv« ist, »weil sie wider die Ordnung ist.« (Fiedler 1994: 33) In der Wochenzeitung Christ und Welt entspinnt sich daraufhin eine teilweise wütende Debatte, in deren Verlauf Fiedler von u.a. Martin Walser massiv angegriffen wird – wie überhaupt in dieser Phase ›Pop‹, ›Beat‹ und ›Under173 | Thomas Hecken markiert die Verbreitung des Pop-Begriffs für die Jahre 1967ff.: »Deutschen Pop außerhalb von Galerien und Theatern sucht man 1966 noch vergeblich.« (Hecken 2003: 43)
Pop, Literatur und Subversion
ground‹ als literarische Phänomene einen schweren Stand haben und zunächst noch aus dem Literaturbetrieb ausgeschlossen bleiben. Als einziger und junger deutscher Autor stellt sich Rolf Dieter Brinkmann auf die Seite Fiedlers, macht dessen Essays und die Texte der Beat Generation durch Anthologien wie Acid. Neue amerikanische Szene (1969; mit Ralf-Rainer Rygulla) im deutschsprachigen Raum bekannt und veröffentlicht auch eigene literarische Texte. Ganz im Sinne einer Neo-Avantgarde ist das literarische Konzept Brinkmanns in dieser Zeit durch eine Vielzahl von Grenzüberschreitungen gekennzeichnet (vgl. Ernst 2006b). Brinkmanns ›erweiterte Literatur‹ überschreitet die Grenze zwischen der Literatur und anderen Medien, zwischen Schrift und Bild, zwischen literarischen Gattungen, zwischen verschiedenen Sprachen und Nationalkulturen, zwischen Hoch- und Populärkultur. Die Begrenzung der Autorfigur auf ihre literarische Tätigkeit wird aufgelöst, weil fortan Künstler auf verschiedenen Feldern (wie Literatur, Musik, Film, Fotografie) oder an ›gemeinschaftlichen Kollaborationen‹ arbeiten sollen. Thematische Begrenzungen und Tabus werden überschritten; ein literarischer Untergrund wird außerhalb der Gesellschaft etabliert. Die Texte sollen eine neue Sensibilität erzeugen und – ganz im Sinne der Beat Generation – eine ›befreite Wahrnehmung‹ garantieren. Brinkmann, dessen Konzepte allerdings verschiedene aporetische und problematische Elemente aufweisen (vgl. ebd.: 132f.), etabliert – gegen alle Widerstände – den popliterarischen Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wenn es heute heißt, »Literatur muß sein wie Rockmusik!, dann ist das meist nichts anderes als der soundsovielte Aufguß dessen, was bei Brinkmann schon nachzulesen ist« (Bentz 1999: 179), so Ralf Bentz angesichts der inflationären Verbreitung des Begriffs der Popliteratur in den 1990er Jahren. Neben Brinkmann ist Hubert Fichte die herausragende Figur der frühen Popliteratur. Fichte hat bereits im Herbst 1966 gemeinsam mit der Beat-Band Ian and the Zodiacs unter dem Motto Beat und Prosa im Star Club auf der Hamburger Reeperbahn vor 1500 Besucher eine Pop-Lesung neuen Typs abgehalten (vgl. Büsser 1999: 188). Die Palette und seine späteren Arbeiten berichten in einer Weise aus subkulturellen Milieus, die Martin Büsser mit Lyotards Patchwork der Minderheiten in Verbindung bringt: Die Texte präsentieren eine »Solidarität unter Negern, Schwulen, Arbeitern, Frauen, Juden – Gruppen, in denen Fichte ähnlich wie sein diesbezügliches Vorbild Hans Henny Jahnn die einzig nichtfaschistischen gesellschaftlichen Kräfte sieht, Kräfte fort vom Zentrum.« (Ebd.: 191) Anthologien wie Supergarde. Prosa der Beat- und Pop-Generation (1969) von Vagelis Tsakiridis und Trivialmythen (1970) von Renate Matthaeis sowie die (frühen) Texte von Uwe Brandner, Jörg Fauser, Hadayatullah Hübsch, Elfriede Jelinek, Jürgen Ploog oder Wolf Wondratschek stellen sich in diese neue Tradition der Pop-, Beat- und Undergroundliteratur, die anfangs als ein gemeinsamer Angriff auf den Literaturbetrieb wahrgenommen wird und entsprechende Abwehrreflexe auslöst (vgl. Schäfer 1997: 10) – wobei es sich bei
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den drei Begriffen um verschiedene Richtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten handelt. Thomas Hecken zeigt, dass sich die Popliteratur der späten 1960er Jahre – im Gegensatz zu jener der 1990er Jahre – durch die Absenz »populäre[r] erzählerische[r] Muster« auszeichnet und dass die Literaturkritik daher generell Texte, die sich an Design und Musik ausrichten, als Popliteratur rubriziert: »Dort sind avantgardistischer Underground und Pop im historischen Moment der endsechziger Jahre fast eins.« (Hecken 2003: 46) Andreas Kramer verweist darauf, dass die Untergrund-Literatur eine radikalisierte Form der Beat-Literatur sei, der es primär »um die Subversion der in den Bildern und Worten der öffentlichen Sprache herrschenden und verbreiteten Ideologie« (Kramer 2003: 34) gehe. Jörgen Schäfer differenziert die drei Begriffe wie folgt: Wenn im folgenden von ›Beat‹-Literatur die Rede sein wird, so soll damit genaugenommen nur die Literatur der amerikanischen Beat Generation gemeint sein. Die Begriffe ›Underground-Literatur‹ oder ›literarischer Untergrund‹ hingegen bezeichnen weniger eine ästhetische Qualität der Texte, sondern benennen den soziologischen Ort im Literatursystem, an dem diese Texte produziert, distribuiert und rezipiert werden. Unter dem Begriff ›Pop-Literatur‹ schließlich sollen in einem präzisen Sinne nur solche Texte subsumiert werden, die sich ausdrücklich auf populärkulturelle Prätexte beziehen. Dabei wird sowohl die Thematisierung von Pop-Sujets als auch die (zumindest versuchte) Adaption von formalen Verfahren aus Film, Fernsehen, Rockmusik oder Werbung in den Blick genommen. (Schäfer 1997: 20)
Während die Dichotomie zwischen Hoch- und Populärkultur und zwischen Groß- und Untergrundverlagen zu Beginn tatsächlich eher verstärkt wird, ebnen sich diese Unterschiede zunehmend ein, wie Kathrin Ackermann und Stefan Greif zeigen. Die distinktive Kraft der Popliteratur gegen die Institutionen des Literaturbetriebs geht verloren, weil sich die Verlage, die Förderinstitutionen und die Literaturwissenschaft zunehmend dem Phänomen annähern, Autoren wie Brinkmann, Fichte und Wondratschek heute »zu den avancierten Gegenwartsautoren« (Ackermann/Greif 2003: 66) gezählt werden und Popliteratur »insofern längst akzeptiert« (ebd.: 67) ist. Thomas Hecken sieht das subkulturelle und subversive Potenzial der Popliteratur sogar »bereits im Laufe der Jahre 1968/69« verschwinden, als sich zeigte, dass »Pop-Avantgarde und sexuelle Darstellungen allzu rasch liberal akzeptiert und als erotisch aufgeladene kapitalistische Konsumanreize genutzt werden können.« (Hecken 2003: 47) Von heute aus betrachtet habe, so Ralf Bentz, der subkulturell-subversive Aufbruch der Popliteratur nur die Postmodernisierung und Flexibilisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft unterstützt (vgl. Bentz 1999: 182). In den 1970er und 80er Jahren wandelt und differenziert sich das Feld der Popliteratur. Im Kontext von Punk und New Wave entsteht eine ›Gegengegenkultur‹, die sich von den Hippies und den ›68ern‹ abgrenzt und ihren literari-
Pop, Literatur und Subversion
schen Niederschlag in Anthologien wie Amok/Koma (1980) von Kiev Stingl, Geniale Dilletanten (1982) von Wolfgang Müller und Rawums (1984) von Peter Glaser findet. In den jeweiligen Subkulturen (und vor allem in Berlin) entwickeln Autoren wie Frieder Butzmann, Wiglaf Droste, Max Goldt, Thomas Kapielski und Wolfgang Müller neue sprachreflexive und (selbst)ironische Formen popliterarischen Schreibens, die sich zugleich über populäre Lesungsveranstaltungen, eigene Konzerte oder experimentelle Hörspiele an ihr Publikum richten. In den 1980er Jahren veröffentlichen mit Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister jene Autoren ihre ersten Texte – mit Referenzen zu Pop, Punk, New Wave, Disco oder später auch Techno –, die in den 1990er Jahren den sog. Suhrkamp-Pop etablieren und somit dafür sorgen, dass die Popliteratur auch den hochkulturellen deutschen Verlag erobert.174
3.1.2. ›Avancierte Popliteratur‹ versus ›MainstreamPopliteratur‹. Felder der Popliteratur nach 1995 Die Verschiebungen in den Diskursen der Popliteratur, die einst gegen den Literaturbetrieb und seine Institutionen angetreten war, kulminieren in den 1990er Jahren, als nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland die Bestimmung der ›deutschen Kultur und Literatur‹ umkämpft ist: Erstens vollendet die Popliteratur mit der Etablierung der Autoren Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister im Suhrkamp Verlag ihr Projekt, die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur aufzulösen – diese Texte erscheinen nun jedoch als eine ›avancierte Popliteratur‹, die komplexe ästhetische Qualitäten mit Bezugnahmen auf die Popkultur vereint. Zweitens etabliert sich zwischen 1995 und 2001 – ausgehend von Christian Krachts Faserland (1995) – eine ›Mainstream-Popliteratur‹ als erfolgreiches Label auf einem Literaturmarkt, der sich angesichts der zunehmenden Medienkonkurrenz durch Fernsehen, Computer und Internet für neue literarische Formen für die jüngere Zielgruppe interessiert und die Traditionslinie der Popliteratur produktiv macht. Drittens wird dadurch der Diskurs der untergrundliterarischen bzw. sich außerhalb der Mehrheitsgesellschaft und/oder des Literaturbetriebs positionierenden Texte und Autorinnen und Autoren, der seit den 1960er Jahren integraler Bestandteil des Diskurses über Popliteratur war, aus diesem herausgedrängt.175 174 | Zur Popliteratur während der Punk und New-Wave-Bewegung, vgl. Büsser 2003; Frank 2003; Teipel 2001; Ullmaier 2001: 85–128. 175 | Vgl. zur Differenzierung von ›avancierter Popliteratur‹, ›Mainstream-Popliteratur‹ und ›Untergrund-Popliteratur‹ (bzw. in diesem Fall: ›new mainstream pop literature‹, ›advanced pop literature‹ und ›new underground pop literature‹) auch: Ernst 2004: 177–184; Ernst 2006c: 74–81. Diese Unterscheidung eignet sich allerdings eher für die Beschreibung des medialen Diskurses über verschiedene Felder der Popliteratur der 1990er Jahre als für die Differenzierung popliterarischer Texturen.
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Während somit Phänomene der 1990er Jahre wie die Social-Beat-Bewegung, die Slam Poetry oder auch die Texte von Feridun Zaimoğlu, die noch Gegenstand dieser Untersuchung werden und sich auf die Tradition untergrund- und popliterarischer Diskurse beziehen, gar nicht oder kaum unter dem Signum Popliteratur verhandelt werden,176 wird beispielsweise von Hubert Winkels zwischen einem avancierten (Suhrkamp-)Pop bzw. den ›Masters of Ceremony‹ (Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Georg M. Oswald) einerseits und dem popliterarischen Mainstream (Alexa Hennig von Lange, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre) unterschieden. Winkels’ Kriterium der Differenzierung ist dabei der »Grad an Reflexivität, über den ein Pop-Text gebietet, ohne aus dem Zusammenhang der zeitgenössischen populären Ikonographie auszuscheren und ohne den eigenen, an Pop angelehnten Sound zu vernachlässigen.« (Winkels 1999: 585) Während es sich bei der ›avancierten (Suhrkamp-)Popliteratur‹ von Goetz, Meinecke und Neumeister um Beispiele »einer hochreflektierten, formbewußten und durchaus experimentellen Gegenwartsliteratur« handele, würden gegenwärtig – wie bei Kracht, Lange und Stuckrad-Barre – als Popliteratur jene Texte bezeichnet, »die eine gewisse Unschuld gegenüber der lustvollen Neucodierung der Gegenwart pflegen« (ebd.: 603). Johannes Ullmaier unterscheidet in ähnlicher Weise die Texte von Alexa Hennig von Lange, Christian Kracht, Benjamin Lebert und Benjamin von Stuckrad-Barre (die in seiner Bibliografie unter ›90er-Popper-, Erzähl- und Lifestyle-Literatur‹ firmieren) von den Texten Goetz’ und Meineckes sowie den Texten des Social Beat, der Slam Poetry, der Literatur des Prenzlauer Bergs und von Helge Schneider, Kathrin Röggla und Feridun Zaimoğlu (die von ihm unter ›Social Beat, Slam Poetry, Gruppe 60/90, 90er-Off-Literatur‹, ›popverwandte ›Migranten-Literatur‹‹ bzw. ›90er-Peripherie‹ subsumiert werden; vgl. Ullmaier 2001: 21–35, 117–128, 130–167, 201 u. 208f.). Auffällig ist, dass der Begriff der Popliteratur im akademischen wie im alltagssprachlichen Diskurs der 1990er Jahre enthistorisiert, von seiner untergrundliterarischen und experimentellen Traditionslinie entkoppelt und nur noch für die ›Mainstream-Popliteratur‹ verwendet wird.177 Vor allem zwei Tendenzen dieser ab 1995 äußerst erfolgreichen Texte werden zum Anlass öffent176 | Social Beat, Slam Poetry und Feridun Zaimoølu tauchen beispielsweise gar nicht bzw. kaum auf bei: Baßler 2002; Jung 2002; Schumacher 2003; Frank 2003 (bei Frank 2003: 27 gibt es zumindest einen Absatz zu Zaimoølu; bei Schumacher 2003: 22–24 Reflexionen zu Poetry Slams). In Arnold 2003 gibt es zwar einen Artikel zu Social Beat und Slam Poetry, allerdings keine Ausführungen zu Zaimoølu, vgl. Stahl 2003a. Anders gestaltet sich dies in den literaturhistorisch ausgerichteten Einführungen von Ernst 2001: 80–85 und Ullmaier 2001: 130–160, die sich allerdings beide auch kritisch zur neuen ›Mainstream-Popliteratur‹ positionieren. 177 | Vgl. Kraft 2005: 50; Jung 2002a: 11; Liesegang 2004: 262; Frank 2003: 6.
Pop, Literatur und Subversion
licher Debatten: erstens ihre eingeschränkte ästhetische Komplexität – die ›neue Popliteratur‹ scheint eine Trivial- bzw. Jugendliteratur zur ernstzunehmenden Literatur zu adeln, die sich anderen medialen Einflüssen gegenüber öffnet, was zu Abwehrreflexionen in den Feuilletons führt; zweitens werden die neokonservativen, bourgeoisen und dandyhaften Selbstinszenierungen ihrer Autoren angegriffen, insbesondere jene des ›popkulturellen Manifests‹ Tristesse Royale (1999). In den Verdikten der Literaturwissenschaft und der Feuilletons gegen die – von ihnen als gering eingestufte – ästhetische Qualität der Texte, wiederholen sich interessanterweise viele Argumente, die bereits in den späten 1960er Jahren gegen die Texte der Beat- und Popliteratur ins Feld geführt wurden, was darauf hindeutet, dass innerhalb des Literaturbetriebs die Bewahrung hochkulturell fundierter Kategorien auch angesichts der großen Medienkonkurrenz noch immer eine große Relevanz hat (vgl. Schäfer 2003a: 11). Die folgenden Äußerungen entstammen dem literaturwissenschaftlichen Diskurs, der mediale wurde zwischen 1995 und 2001 noch aggressiver geführt: Thomas Kraft sieht diese »zum Teil erschreckend mutlosen Texte« der ›Mainstram-Popliteratur‹ als »großmäulige« (Kraft 2005: 50) Ergänzung zum »Jugendbuch« (Kraft 2005: 36). Ihre Sprache, so Thomas Jung, sei »einfach, zum Teil minimalistisch, und umgangssprachlich gehalten« (Jung 2002b: 42), weshalb sie auch, so Niels Werber, »nur fun ist, ›light entertainment‹« (Werber 2003: 65). Inhaltlich und politisch bewege sich diese Popliteratur »stets in bekannten, konventionellen und zum Teil konservativen Verhaltens- und Gesellschaftskonzepten« (Langer 2002: 181). Pars pro toto für diese Invektiven und die gesamte ›neue deutsche Popliteratur‹ stellt Johannes Ullmaier für deren Ausgangspunkt, Christian Krachts Debüt Faserland (1995), fest, dass dieses Buch »die maximale Entfernung von allem, wofür Pop einst stand und teils noch steht« (Ullmaier 2001: 34), markiere. Dies bezieht Ullmaier allerdings primär auf die ideologischen Versatzstücke, die in Faserland von Kracht, Relax (1997) von Alexa Hennig von Lange, Soloalbum (1998) von Benjamin von Stuckrad-Barre, Generation Golf von Florian Illies oder auch Tristesse Royale (1999) transportiert und ironisiert werden. Während die frühen Pop- und Untergrundliteraten sich innerhalb der linksalternativen und gegenkulturellen Diskurse der 1960er Jahre positionierten (allerdings in Abgrenzung von den politikbewegten Studierenden), wandten sich die Autorinnen und Autoren des Punk und der New Wave in den 1980er Jahren als ›Gegengegenkultur‹ gegen die Hippie-Kultur der 1960er Jahre, allerdings auch gegen die Lebensstile der ›Normalos‹ und der Bourgeoisie. Die Autoren der ›neuen deutschen Popliteratur‹ provozieren nun, indem sie gerade »die Attitüde des ›Poppers‹« einnehmen, und diese zwar »aus den genuin subversiven Pop-Strömungen der Achtziger« (Frank 2003: 231) herleiten, allerdings vor einem veränderten politisch-historischen Hintergrund, der die aufstrebende und popkulturell sozialisierte ›Neue Mitte‹ ins Zentrum der normalisierten deutschen Nation setzt. Ullmaier sieht in den genannten Texten
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Literatur und Subversion tempo-traditionalistische Gutmensch-Provokationen, idiosynkratische Style-Richtsprüche, längst erschöpfte Postmoderne-Debatten, konservative Kulturkritik oder die Ausgrabung noch weit älterer Fin-de-siècle-Erlebnis-, sprich: Mobilmachungssehnsüchte (ebd.: 32),
die sich mit dem herrschenden politischen Geist verbinden. Ganz in dessen Sinne positioniert sich das ›popkulturelle Quintett‹ von Tristesse Royale in Abgrenzung von den Traditionen und Insignien der ›Pop-Linken‹, gegen die es »Tritte« austeilt, »wenn auch, gentlemanlike, anstatt mit Springerstiefeln bloß mit rahmengenähten Schuhen und im Geiste.« (Ullmaier 2001: 34) Auch Thomas Meinecke, dessen literarische Anfänge in der ›Gegengegenkultur‹ der Punkzeit liegen, sieht diese politische Haltung »eindeutig abgeleitet […] von solchen Früh-80er-Jahre-hedonistisch-marxistischen Subversionsstrategien«, allerdings verweist auch er auf die veränderte politische Situation: »Es ist etwas anderes, sich jetzt ins Adlon zu setzen und das Affirmationsspiel zu spielen, als es 1980 getan zu haben.« (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 35)178 Thorsten Liesegang ordnet in seinen ideologiekritischen Reflexionen die ›MainstreamPopliteratur‹ in die »nationalkulturellen Erneuerungsversuche, die nach 1989 verstärkt auf allen Gebieten der Kulturproduktion zu beobachten sind« (Liesegang 2002: 155), ein. Die Texte zeichneten sich durch eine »emphatische[ ] Affirmation der ökonomischen Verhältnisse« sowie die Orientierung am »konservative Zeitgeist der Neuen Mitte« aus und konstruierten somit »eine neubürgerliche, atraditionale Mittelstandsideologie« (ebd.: 157 u. 159).179 Mit Maxim Billers Verdikt über die Popliteratur, die er mit einem problematischen und sexistischen Begriff als »Schlappschwanzliteratur« (Biller 2000) diffamiert, und den Abgesängen der Medien und der Popliteraten selbst endet die prominente Phase der Popliteratur zwischen 2000 und 2003. 180 Allerdings hinterlässt sie zahlreiche Verschiebungen auf dem Feld der Literatur, die die 178 | Wobei das Hotel Adlon, auch dies ein Beleg für die politisch-historischen Veränderungen, 1980 gar nicht existierte. Man kann diese neokonservative Form der Selbstinszenierung zwar auch als ironische Karikatur verstehen; es bliebe dann allerdings noch immer kein politischer Gehalt, der an deren Stelle gesetzt wird. Georg M. Oswald beschreibt z.B. Tristesse Royale als »die Karikatur eines wilhelminischen Burschenabends, wie sie uns im ›Simplicissimus‹ überliefert sind – schwulen- und ausländerfeindlich, kriegslüstern und dumpf.« (Oswald 2001: 38) 179 | Vgl. auch Liesegang 2004. 180 | Exemplarisch für die zahlreichen medialen Abgesänge auf die ›neue deutsche Popliteratur‹, die insbesondere im direkten Anschluss an die terroristischen Anschläge auf die USA vom 11. September 2001 als ›Ende der Spaßgesellschaft‹ apostrophiert wurden, vgl. Knipphals 2002. Der Autor Joachim Lottmann verkündet in der Nacht vom 19. auf den 20. Juli 2003 im Berliner Lokal Kurvenstar auf einer Veranstaltung zum Thema den Tod der Popliteratur, vgl. Hahn 2003.
Pop, Literatur und Subversion
mediale Inszenierung von Autoren, die thematische und formale Gestalt literarischer Text und – allgemein gesprochen – die Positionierung und Distribuierung des zunehmend minorisierten Mediums Literatur angesichts der Konkurrenz durch Medien wie Fernsehen, Computer und Internet betreffen. Zwar verschwindet der Begriff der Popliteratur aus den medialen und literaturinstitutionellen Diskursen weitgehend, die Literaturwissenschaft bemüht sich ab 2001 jedoch in verschiedenen Arbeiten darum, diese zahlreichen Veränderungen auf den Feldern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ausgehend vom Begriff der Popliteratur zu beschreiben.
3.1.3. Marketing, Schnitt-Techniken, Positionsfelder, Gegenwartsbezug. Theorien der Popliteratur Im Folgenden sollen diese literaturwissenschaftlichen Perspektiven auf die Popliteratur kurz dargestellt werden, da sie sich jedoch mit sehr unterschiedlichen Texten beschäftigen und teilweise nicht historisch arbeiten, wird jeweils markiert, auf welche Zeiten und welche Texte sich die entsprechenden Bestimmungen der Popliteratur beziehen. Zunächst wird die Nutzung des Begriffs Popliteratur als Marketing-Begriff zwischen 1995 und 2001 beschrieben. Vor dem Hintergrund ästhetischer Analysen ihrer Schnitt-Techniken wird Popliteratur auch als ›DJ-Literatur‹ bezeichnet bzw. von Gerald Fiebig als spezifische Form des Zitats bestimmt, von Moritz Baßler und Rolf Parr aus der Perspektive des New Historicism und der Diskursanalyse als ein spezifisches (pop-)kulturelles Archiv bzw. Positionsfeld. Eckhard Schumacher beschreibt sie als literarische Form des Gegenwartsbezugs, eine Zusammenfassung als historisches und widersprüchliches Phänomen. Popliteratur als Marketing-Begriff zwischen 1995 und 2001 Die oberflächlichste und zeitlich eingeschränkteste Bestimmung der Popliteratur bezieht sich auf die Nutzung des Begriffs Popliteratur durch Verlage und Medien zwischen 1995 und 2001, die mit seiner Hilfe literarische Texte als multimediales Spiel und die Autorinnen- und Autorenfigur als ›Multitalent‹ und ›Popstar‹ in der Mediengesellschaft inszeniert haben. Im Zentrum dieses Zugriffs auf das Phänomen Popliteratur steht die Unterstellung, dass es sich bei der ›Mainstream-Popliteratur‹ um eine marketingstrategische Erfolgsgeschichte handelt, die – als ›ästhetische Schwundstufe‹ innerhalb der popliterarischen Tradition – dem Medium Literatur angesichts der starken medialen Konkurrenz einige Bestsellererfolge bescheren konnte, ästhetisch aber nicht interessant und inhaltlich konservativ ausgerichtet sei. Auf diesen eingeschränkten Begriff der ›Mainstream-Popliteratur‹ verweist beispielsweise Enno Stahl, wenn er eingangs seiner Analyse Popliteratur als »ein erfolgreiches Marketing-Produkt« (Stahl 2003b: 94) bestimmt und schließlich
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darauf verweist, dass in vielen Auseinandersetzungen mit der Popliteratur »die Textlektüre […] von der öffentlichen Semiotik der Autorenrolle überdeckt« werde, dass also die öffentliche »Inszenierung der Autoren«, wie z.B. »Krachts und Stuckrad-Barres Werbekampagne für die Bekleidungsfirma Peek & Cloppenburg« (ebd.: 100), wichtiger für die Bestimmung eines Autors als Popliterat geworden sei als eine Analyse der Texte. Auch Jörgen Schäfer beschreibt, dass es sich auf »den ersten Blick« bei der Popliteratur »um eine kurzlebige ModeErscheinung« und eine »verkaufsfördernde Begriffsprägung« (Schäfer 2003a: 7f.) gehandelt habe, gegen deren souverän mit den Techniken und Inhalten anderer Medien spielenden Texte sich zahlreiche Institutionen des traditionellen Literaturbetriebs zur Wehr gesetzt hätten. Johannes Ullmaier schlägt vor, diesen Begriff der Popliteratur mit »Popperliteratur« zu übersetzen, da er die Vieldeutigkeit des Begriffs der Popliteratur in problematischer Weise vereindeutige und den »zielgruppengemäße[n]« Eindruck erwecke, »Literatur ist Hera Lind, Pop ist Oasis« (Ullmaier 2001: 41). Gerade diese Formen der unterhaltsamen und ästhetisch trivialen Popliteratur werden als Beispiel herangezogen, dass in »der neuen Popliteratur […] eine eindeutige politische Position nicht beobachtbar« (Niefanger 2004: 101) sei bzw. die Popliteraten »in ihren Statements ein geradezu demonstratives politisches Desinteresse und Nicht-Engagement zur Schau« stellen und gerade dadurch einen »Tabubruch« vollziehen (Kaulen 2009: 146).181 Claude D. Conter gerade in dieser Verweigerung gegenüber den Traditionen der engagierten Literatur einen politischen Akt und beschreibt Popliteratur als eine ›Rebellion gegen die Rebellion‹ (vgl. Conter 2004: 60–67). In den Feuilletons und teilweise auch in der Literaturwissenschaft ist diese Form der unpolitischen Popliteratur allerdings als Teil der ›Berliner Spaßgesellschaft‹ nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA für beendet erklärt worden (vgl. u.a. Degler/Paulokat 2008: 114f.; Schumacher 2011: 65). Im Rahmen dieser Untersuchung soll für jenen Diskurs, der den Begriff der Popliteratur zwischen 1995 und 2001 als ein Marketing-Etikett für die unterhaltsamen und erfolgreichen Prosatexte junger deutschsprachiger Autorinnen und Autoren nutzt, der Begriff der ›neuen deutschen Popliteratur‹ oder der ›Mainstream-Popliteratur‹ genutzt werden. Die Verkürzung der Popliteratur auf dieses spezifische Segment ihres Diskurses ist problematisch, da auf diese Weise zahlreiche historische Entwicklungen sowie ästhetische und inhaltliche 181 | Kaulen setzt diese unpolitische Form der Popliteratur, der »eine aufklärerischemanzipatorische Schreibintention« fehle, ab von jenen »Variante[n] von Popliteratur […], die als komplexe und teilweise für den Leser äußerst sperrige und widerständige Diskursmontagen ein fiktionales Spiel mit zeitgenössischen Theoriediskursen, Exkursen in die Mediengeschichte und jugendlichen Identitätskonstruktionen treiben.« (Kaulen 2009: 155) Als Beispiele nennt er Thomas Meineckes Tomboy und Andreas Neumeisters Gut laut.
Pop, Literatur und Subversion
Tendenzen aus dem Blick geraten. In ihren weiteren Ausführungen über die Popliteratur zeigen die zuvor genannten Jörgen Schäfer, Enno Stahl und Johannes Ullmaier ebenso wie u.a. Moritz Baßler, Rolf Parr und Eckhard Schumacher jedoch, dass sich popliterarische Texte auch durch eine ästhetische Analyse ihrer Formen und Schreibweisen sowie ihrer popkulturellen, thematischen und gegenwartsorientierten Inhalte bestimmen lassen. Popliteratur und die Schnitt-Techniken des ›DJ-Autors‹ (Fiebig) Oft wird eine Literatur als Popliteratur bezeichnet, die sich ästhetisch an den Sampling- und Mixing-Techniken der Diskjockeys an ihren Plattentellern bediene – eine Definition, die schon auf Texte Rolf Dieter Brinkmanns und Hubert Fichtes anzuwenden gewesen wäre, allerdings vermehrt in den letzten Jahren genutzt wird. Gerade Thomas Meinecke hat den Vergleich popliterarischen Schreibens mit dem Auflegen von Platten und somit die Metapher des »Schriftsteller[s] als DJ« (Meinecke, zit. n. Büsser 1998: 134) häufig benutzt. Als zentraler Bezugspunkt für diese Konstruktion wird zumeist Ulf Poschardts Abhandlung über die DJ-Culture (1995) herangezogen, in der wiederum die ›DJ-Culture‹ zu einer neuen Epoche nach dem ›Tod des Autors‹ im Sinne Barthes und Foucaults erklärt wird.182 Es ist jedoch problematisch, wenn literaturwissenschaftliche Arbeiten die Mimikry des musikalischen Diskurses durch Popliteraten und ihre Texte selbst zu deren Beschreibung verwenden. Dies verdeckt, dass das Medium Literatur über eine eigene Tradition literarischer Schnitt-Techniken verfügt, die bislang ohne Metaphern aus dem musikalischen und popkulturellen Diskurs beschrieben wurden, sondern mit Hilfe eines eigenen differenzierten Begriffsapparats zur Beschreibung literarischer Schnitt-Techniken. Gerald Fiebig hat beispielsweise schon deutlich früher gezeigt, dass sich hinter dem inzwischen auch vom literarischen Diskurs adaptierten Begriff des Sampling »in Wirklichkeit ein traditionelles, philologisch fundiertes Zitat« verbirgt, das »als Parallele zur gängigen Samplingpraxis in einem Großteil der Technomusik ungeeignet« sei. Überhaupt besitze die Literatur bezogen auf avancierte Schnitt-Techniken eine ältere Geschichte als die Musik: Während das Sampling als musikalisches Verfahren erst mit dem Techno entstanden sei, sei diese Technik »in der Literaturgeschichte erstaunlicherweise schon viel älter«. Fiebig sieht diese »Sinn-Spuren vermischende und Subversion von Tiefsinn herstellende Klitterung und Manipulation von Zitaten aus allen möglichen Textstellen« (Fiebig 1999: 236) schon bei Lichtenberg im 18. Jahrhundert verwirklicht. Die literarische Avantgarde hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Zitatverfahren und Schnitt-Techniken genutzt, die im literarischwissenschaftlichen Diskurs als Montage (unsichtbarer Schnitt ähnlichen Ausgangsmateri182 | Vgl. Poschardt 2001: 382–394. Der Begriff der DJ-Culture geht auf den gleichnamigen Song der Pet Shop Boys von 1991 zurück.
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als), Collage (sichtbarer Schnitt heterogenen Ausgangsmaterials) und Cut-up (harter Schnitt, der auffälliger wirkt als das verbundene Material) unterschieden werden. Ausgehend von der Theorie der Intertextualität haben Gérard Genette und Ulrich Broich/Manfred Pfister ganze Begriffsapparate und Skalen entwickelt, mit deren Hilfe sich Formen und Grade des Zitierens in literarischen Texten unterscheiden lassen. Britta Herrmann unterscheidet zwischen einer ›schwachen‹ und einer ›starken Autorschaft‹.183 Die Literaturwissenschaft sollte daher weniger in einer metaphorischen Weise Begriffe aus dem Diskurs der (popkulturellen) Musik nutzen als vielmehr mit ihren eigenen Kategorien und Methoden untersuchen, welche Formen des Schnitts bzw. welche Formen und Grade des intertextuellen Zitierens in popliterarischen Texten vorrangig genutzt werden. Ganz in diesem Sinne verfahren Günter A. Höfler und Johannes Ullmaier, die die spezifischen popliterarischen Zitatformen mit literaturwissenschaftlichen Begriffen bestimmen. Höfler zeigt, dass die Popliteratur zwar durchaus in der Tradition der Avantgarde zu beschreiben ist (dies bezieht er nicht nur auf ihre Schnittverfahren, sondern auch auf ihre Versuche, die Grenzen des literarischen Diskurses zu überschreiten), allerdings verstehe sie sich »nicht mehr als Avantgarde mit dem unsinnig gewordenen Elitarismus einer fortgeschrittensten Position, sondern versucht unprätentiös mit den Darstellungsmitteln des Pop präsentisch auf das popbewegte Leben zu zeigen«. Während sich die Avantgarde also auf Texte des hochkulturellen Kanons beziehe, zitiere die Popliteratur Texte und andere Quellen der Popkultur. Zudem unterscheide sich, so Höfler, die jeweilige Form der Montage: In der Popliteratur zeige sich – im Gegensatz zur Montage in der modernen Literatur – »eine Steigerung dieses Prinzips unter aktuellen Bedingungen, mit neuen Materialien und Ausrichtungen.« (Höfler 2002: 108) Anders als Höfler, der im Vergleich von moderner Avantgarde- und postmoderner Popliteratur eine Steigerung des Montageprinzips erkennt, stellt Ullmaier die Zitatverfahren des Pop in einen Gegensatz zum avancierten und somit gesteigerten Prinzip des Cut-up. Während es sich beim Pop um eine mit der Massenkultur kompatible Form des häufigen, aber weichen Schnittes handele, stünden ihm die harten Schnitte des Cut-up entgegen: Von Pop als massenkulturellem Hauptstrom ist Cut-Up dadurch geschieden, dass er in die andere Richtung will. Obwohl als Gegenrinnsal meist vom Mainstream überdeckt und an der Oberfläche allenfalls in Form gelegentlicher Strudel auftretend, zielt Cut-Up letztlich auf die Abschaffung des massenkulturellen Gleichstroms zugunsten vieler autonomer Wechselströme. (Ullmaier 2003: 145)
183 | Vgl. Kap. 2.2.2. u. 2.4.2.
Pop, Literatur und Subversion
Während das Cut-up-Verfahren fragt, wie die Ränder der Oberflächen aussehen, untersucht Pop nach Ullmaier, »was geschieht, wenn man von den umgebenden Abbild-Abbild-Oberflächen noch einmal ein Abbild herstellt (und so weiter ad infinitum), welche Überlagerungen, Spiegelungen, Rasterungen, Wölbungen und Ambiguitäten dabei auftreten.« (Ullmaier 2003: 146) Beide Verfahren sind – als intertextuelle – sowohl entnaturalisierend als auch reflexiv, das eine jedoch in fragmentarisierender (Cut-up), das andere in potenzierender Weise (Pop). Popliteratur als kulturelles Archiv (Baßler) und Positionsfeld (Parr) Als eine entscheidende Spezifik von Popliteratur wird häufig bezeichnet, dass sich ihre Intertextualität an (pop-)kulturellen Arsenalen bedient und sie sich gerade durch ihre Archivierung dieser Arsenale als Popliteratur konstituiert. Bereits vor den ersten Arbeiten, die sich mit der ›neuen deutschen Popliteratur‹ beschäftigen, hat Jörgen Schäfer Rolf Dieter Brinkmanns popliterarische Texte analysiert und daraus eine Definition der Popliteratur extrahiert. Popliteratur, so Schäfer, sei »das Resultat einer Transformation der Literatur im Zeichen von Pop, sie entsteht an der Schnittstelle, an der die Pop-Signifikanten im literarischen Text neu codiert werden.« (Schäfer 1997: 11; vgl. auch 2000: 420) Literatur als reflexiver Interdiskurs kann also eine Auseinandersetzung mit der populären Kultur »auf einer Meta-Ebene (darstellen). Für Pop-Autoren werden die Signifikanten aus Popmusik, Kino, Fernsehen und den vielschichtigen, um diese herum organisierten ästhetischen Ausdrucksformen zum Ausgangsmaterial eines strikt gegenwartsorientierten literarischen Schreibens.« (Schäfer 2003b: 78) An diese Bestimmung von Popliteratur als einer spezifisch literarischen Form der Reflexion von Pop-Signifikanten schließt Moritz Baßler an, der Popliteratur als eine weniger klassische Erzählmuster nutzende, sondern vielmehr Gegenwartskultur archivierende Form der Literatur bezeichnet, und ihre Autorinnen und Autoren folglich als Die neuen Archivisten (2002). Popliteraten der 1990er Jahre wie Thomas Brussig, Thomas Meinecke oder Benjamin von Stuckrad-Barre, so Baßler, »archivieren […] in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur, mit einer Intensität, einer Sammelwut, wie sie im Medium Literatur in den Jahrzehnten zuvor unbekannt war.« (Baßler 2002: 184) Insbesondere falle auf, dass sich ihre Schreibweisen und Archive »an der zeitgenössischen Medien- und Markenkultur und vor allem an der Popmusik orientieren« (ebd.: 185), weshalb sich in ihren Texten z.B. »vielfältige Verfahren der Katalogisierung und Listenbildung« (ebd.: 186) finden, die Baßler an zahlreichen Beispielen vorführt. Damit rücken die popkulturellen und mit Markennamen verbundenen Arsenale und Konnotationen in den Blick der Literaturwissenschaft, weshalb Baßler auch eine Kleine Geschichte des Markennamens in der deutschen Literatur verfasst. Moritz Baßler reduziert die Popliteratur somit
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auf ihren hohen Grad an archivierter Gegenwarts- sowie Popkultur und teilt die gegenwärtige deutsche Literatur in zwei Gruppen ein, »in Texte ohne Markennamen, ohne Popmusik-, Film- und Fernsehtitel auf der einen Seite und in Texte mit all diesen Dingen auf der anderen« (Baßler 2002: 155), letztere bilden dann die Popliteratur. Mit seiner Fokussierung auf Archive in Form von Katalogen oder Listen, so der ergänzende Einwand von Rolf Parr, hebe Baßler »nur auf die strukturelle Serialität solcher Literatur« ab, ihm entgehe jedoch der »für diese Art Literatur mitkonstitutive Aspekt des Anordnens der mit quasi ethnographischem Blick gewonnenen Serien zu Positionsfeldern völlig.« (Parr 2004: 194) Neben »der durchgehenden Mediatisierung« sei das »Aufzeigen von Spektren mit differierenden, aber stets aufeinander bezogenen Positionen« (ebd.: 189) eines der beiden Hauptmerkmale der aktuellen Popliteratur. Im Anschluss an Jürgen Links Normalismus-Theorie konstatiert Parr – ähnlich wie Baßler –, dass die junge Literatur »mit signifikanter Häufigkeit auf Listen, Aufzählungen« zurückgreift, aber eben auch auf »Rankings und quasi-statistische Darstellungsformen mit Bandbreiten von Positionen zwischen einer mittleren Normalzone und solchen ›oberer‹ bzw. ›unterer‹ Abweichung.« (ebd.: 184) Diese sind z.B. in den Charts zu finden, die die obere Abweichung des Positionsfeldes ›Verkaufszahlen veröffentlichter Musik‹ abbilden. In der Postmoderne würden Individuen literarisch nicht mehr aus dem ›Kern‹ des jeweiligen Subjekts heraus als ›Charakter‹ beschrieben, sondern vielmehr bestimmt über »innerhalb des Rahmens eines übergreifenden Generationskonstrukts erzählte Matrizen, Tabellen und Rankinglisten«, die »Spektren von möglichen Positionen für Subjekte« anbieten, wobei diese Spektren auch »die Formulierung von Gegensätzen, die bis zu einander ausschließenden Positionen gehen können«, ermöglichen. Parr gleicht somit ein Manko der Baßlerschen Archivismus-Theorie aus, die alle Partikel der Listen oder Aufzählungen per se als gleichwertig auffasst. Auf diese Weise wird auch verständlich, wie popliterarische Texte »mehrere Milieus übergreifende ›Generationen-Effekte‹ hervorbringen« (Parr 2004: 189) können, von denen auch Jörg Magenau berichtet, indem er die Popliteratur – in ähnlicher Weise wie Phil C. Langer und Thorsten Liesegang – als das Selbstverständigungsmedium einer Generation beschreibt.184 In Texten wie Generation Golf von Florian Illies werden Matrizen von Waren und popkulturellen Artikeln angelegt und bewertet, die sich auf einen ›kleinsten gemeinsamen Nenner‹ der um 1975 in die (klein)bürgerliche Mittelklasse Hineingeborenen beziehen. In diesem Beispiel zeigt sich eine Koinzidenz der Auswahl und Bewertung zwischen einem popliterarischen Text und einem spezifischen Milieu – allerdings werden in diesem Prozess immer auch Grenzen gesetzt und 184 | Vgl. Magenau 2001. Siehe ähnlich auch: Liesegang 2004: 275; Langer 2002: 175.
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Ausschlüsse vollzogen. Es lässt sich beispielsweise belegen, dass die (pop-)kulturellen Positionsfelder in Faserland von Christian Kracht und in Soloalbum von Benjamin von Stuckrad-Barre als Normalisierungen eines postmodernen deutschen Generationenkonstrukts gelesen werden können, während die Matrizen in Russendisko von Wladimir Kaminer und Kanak Sprak von Feridun Zaimoğlu gerade der Abgrenzung von diesem Generationenkonstrukt dienen (vgl. Ernst 2006: 157f.). In die Analyse des jeweiligen popliterarischen Textes und seiner Positionsfelder müssen allerdings auch Erkenntnisse über die Kollektivsymboliken, Interdiskurse und (pop-)kulturellen Arsenale einer Gesellschaft einfließen, damit die Texte und ihre Positionsfelder in den gesellschaftlichen Diskursen verortet und ihre ›Generationen-Effekte‹, Milieuanbindungen und Ausschlüsse adäquat beschrieben werden können. Popliterarische Texte können sich durch solche popkulturellen Distinktionsverfahren in den subkulturellen Diskurs der Subversion einschreiben, wobei die Bedeutungen der jeweiligen Positionsfelder und somit die Distinktion selbst sich im Sinne geheimer Codes vollziehen kann, die nur für eine eingeweihte Gruppe verständlich sind.185 Die populäre Kultur als Zitat kann somit einen anti-hierarchischen Effekt haben und noch immer die Institutionen der Hochkultur angreifen, aber auch umschlagen in eine neue Form popkulturellen Herrschaftswissens.186 Popliteratur als Gegenwartsbezug (Schumacher) Die starken intertextuellen Bezüge der Popliteratur auf (pop)kulturelle Archive der Gegenwartskultur dienen Eckhard Schumacher als Ausgangspunkt für seine Untersuchung Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (2003). Darin weist er einerseits darauf hin, dass es sich bei der Bestimmung eines Textes als Popliteratur nie um nur ein entscheidendes Merkmal drehen kann; er selbst allerdings widmet sich der Aufgabe, jene zwischen »Pop und Literatur« stehenden Texte zu untersuchen, in denen »die Konzentration auf die Gegenwart, die Frage nach der schriftlichen Darstellbarkeit des Jetzt und die Reflexion auf dessen Verhältnis zu einer möglichen Geschichte der Gegenwart entscheidende Momente« (Schumacher 2003a: 12) darstellen. Schumacher unterscheidet drei Verwendungen des Begriffs Gegenwart: Dieser bezeichne erstens die räumliche Präsenz oder Anwesenheit, zweitens das ›Präsens‹ als Zeitform und drittens die Zeit, in der man gerade lebt und die
185 | Vgl. zu popkulturellen Abgrenzungsverfahren auch Frank 2003: 219. 186 | Hans-Peter Schwander schreibt in seinem literaturdidaktischen Aufsatz über ›Popliteratur im Unterricht‹, dass sich die Lehrenden darauf einstellen müssen, ihre starke Position in der Unterrichtshierarchie zu verlieren: »Die bessere Kenntnis der Szenen, der Musik, der Filme, Zitate etc. können sogar für Schülerinnen und Schüler einen Wissensvorsprung gegenüber den Lehrenden bedeuten.« (Schwander 2002: 83)
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sich zwischen einer ›Vergangenheit‹ und einer ›Zukunft‹ befindet; die dritte Bedeutung der Gegenwart wird im Begriff der Gegenwartsliteratur gedacht, Schumacher zeigt jedoch, dass in der Literatur auch die anderen beiden Bedeutungen des Begriffs Gegenwart relevant werden können. Im Hintergrund der Ausrichtung literarischer Texte auf die Gegenwart steht die »Methode Pop« mit ihren Verfahren »Zitieren, Protokollieren, Kopieren, Inventarisieren« (ebd.: 13). Schumacher untersucht am Beispiel der Literatur von Rainald Goetz und Thomas Meinecke, wie diese ihr gegenwartsdiagnostisches Potenzial in einem spezifischen Akt des Schreibens entwickelt, »der auf Lektüreprozessen aufbaut, die das, was aktuell anfällt, aufnehmen und weiterprozessieren.« (Ebd.: 17) Zwar trägt die Fokussierung auf die Gegenwart und den jeweils aktuellen Moment durchaus Züge traditioneller literarischer Muster, insgesamt sei – so Schumacher – diese spezifische Form der Gegenwartsfixierung, wie sie in Texten von Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte und Rainald Goetz vorherrscht, jedoch neu und eher am Diskurs der Popmusik orientiert. Schumachers differenzierte Analyse des Verhältnisses von Pop und Literatur, die sich Schreibweisen der Gegenwart zuwendet, präzisiert somit ein mögliches Merkmal popliterarischer Texte, ohne dieses zum alleinigen Bestimmungsmerkmal zu verklären. Popliteratur – ein historisches und widersprüchliches Phänomen (Ullmaier). Eine Zusammenfassung Johannes Ullmaier schreibt mit Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur (2001) eine Geschichte der Popliteratur, die diesen Begriff weder auf das Medienphänomen der 1990er Jahre eingrenzt noch über ein einzelnes ästhetisches oder inhaltliches Merkmal zu bestimmen versucht. In der Auseinandersetzung mit Autorinnen und Autoren der 1960er Jahre bis in die Gegenwart zeigt er, dass es sich bei der Popliteratur nicht – wie im Begriff der ›Mainstream-Popliteratur‹ suggeriert – um ein als »einfach oder einheitlich« zu beschreibendes Phänomen handelt, sondern dass das Phänomen der Popliteratur vielmehr »zersplittert, in sich widersprüchlich und im ganzen eher diffizil« (Ullmaier 2001: 11) ist. Ullmaier belegt in seinem literaturhistorischen Streifzug, dass sich der Begriff der Popliteratur nur sinnvoll nutzen lässt, wenn man ihn in seinen unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Bedeutungen, die ihm historisch zugewiesen wurden, erfasst.187
187 | Einen ersten Versuch, das Phänomen ›Popliteratur‹ literaturhistorisch und begrifflich zu erfassen, habe ich selbst in einem allerdings recht kleinen und populärwissenschaftlichen Format unternommen, das erstaunlich breit rezipiert worden ist. Hier wird unter Popliteratur ganz allgemein eine »literarische Entwicklungslinie« verstanden, »die sich im 20. Jahrhundert darum bemühte, die Grenze zwischen Hoch- und
Pop, Literatur und Subversion
Um die Verschiebungen des popliterarischen Diskurses und die vielfältigen Bedeutungen, die dem Begriff der Popliteratur zugewiesen werden, adäquat erfassen zu können, definiert Ullmaier zunächst sehr global: »Popliteratur ist der Tendenz nach immer das [sic!] was Martin Walser nicht ist« (ebd.: 12) – also ein im weitesten Sinne gegen den Literaturbetrieb und seine Strukturen, Grundannahmen, Autorinnen und Autoren sowie Texte gerichtetes Phänomen. Anschließend präsentiert Ullmaier einen ausführlichen und in seiner Differenziertheit noch nicht übertroffenen Kriterienkatalog zur Bestimmung popliterarischer Texte. Zur Bestimmung eines Textes als Popliteratur müsse sich erstens ein »popspezifische[s] Verhältnis von Autor und Werk samt dessen öffentlicher Darbietung und Wirkung« (ebd.: 16) beschreiben lassen; dieses könne sich auszeichnen durch Popularität im Sinne von medialer Präsenz und Verkaufserfolgen; ein junges Publikum; popkulturelle Inszenierungs- und Marketingformen; poporientiertes Design und Labeling; kulturindustrielle Formatkonventionen und Synergieeffekte zwischen verschiedenen Medien; die Verknüpfung von AutorIn und Popwelt; Jugendlichkeit des/r Autors/in; antibürgerliche oder freche Attitüde; kollektivistische Tendenzen; gezielte Szenepositionierung (vgl. ebd.: 16f.). Zweitens lassen sich popliterarische Texte über spezifische »inhaltliche Schwerpunkte« (ebd.: 17) bestimmen – dazu zählen nach Ullmaier Schilderungen aus der Popwelt; das Thema der Adoleszenz; jugendliche Subkulturen; die Distanzierung von der bürgerlichen Norm; Themen wie Unterwegssein, Drogen, Glamour, libertäre Sexualität, Ekstase, Exzess, Unterwelt (vgl. ebd.). Drittens weisen popliterarische Texte »gestalterisch[e]« (ebd.) Merkmale auf wie das Abrücken von hochliterarischen Sprachstandards; die Nutzung von Slang, Alltags-, Szeneund Mediensprache; der Rückgriff auf Genre-Versatzstücke; stilistische Rasanz, Legerheit, Spontaneismus, Lautheit, Plakativität, Kürze; die formale OrientiePopulärkultur aufzulösen und damit auch Themen, Stile, Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen.« (Ernst 2001: 9) In ähnlicher Weise summiert die UTB-Einführung in die Neue Deutsche Popliteratur verschiedene »Kriterien mit deren Hilfe sich Popliteratur sinnvoll beobachten lässt« (Degler/Paulokat 2008: 9), dazu zählen u.a. die intermediale Inszenierung der PopAutorschaft; die spezifische Archivierung von Popmusik, Marken und Medien; die Thematisierung von Jugend und Generationskonflikten, Alltag und Zeitgeschichte, Krankheit und Tod; die Nutzung intertextueller Schreibweisen und einer popkulturellen Oberflächlichkeit; aber auch »Gesellschaftskritik, Political Correctness und der ästhetische Zustand der Politik« sowie »Gendertrouble«, vgl. Degler/Paulokat 2008: 9–14. Auch Heinrich Kaulen macht ein Jahr später einen Katalog von fünf Kriterien auf, um popliterarische Texte zu bestimmten, dazu zählt er: ihre »spezielle lebensweltliche Orientierung«; ihre Form als »institutionalisierte Grenzüberschreitung«; die ästhetische Reproduktion popkultureller Strukturprinzipien; ihr Zielpublikum der »Generation der ›young adults‹ zwischen fünfzehn Jahren und Mitte Dreißig«; und die Arbeit der Popautoren als populäre und intermediale Medienarbeiter (vgl. Kaulen 2009: 142–145).
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rung an Popmusikmustern; undogmatische Anschlüsse an Techniken der modernen Literatur wie Montage und Collage; die Erweiterung des Textbegriffs; die Erweiterung der Lesungsform um Performance-Elemente; Genreüberscheitungen und -mischungen, Gattungsuniversalismus, Multimedialität; eine Abkehr von traditionellen Werkbegriffen (vgl. ebd.: 17f.). Es liegt nahe, dass sich diese zahlreichen Kriterien in höchst verschiedener Weise bei den unter dem Begriff der Popliteratur rubrizierten Texten und ihren Autorinnen und Autoren zeigen, teilweise widersprechen die Texte und Autorinnen und Autoren sogar diesem Schema. Die Komplexität, Vieldeutigkeit und historische Wandlungsfähigkeit des Begriffs der Popliteratur plausibilisiert allerdings die Nutzung eines solchen breiten Kriterienkatalogs; ein Text sollte somit nicht einfach als ›Popliteratur‹ oder ›keine Popliteratur‹ klassifiziert werden, vielmehr muss untersucht werden, bezogen auf welche Merkmale er sich in den popliterarischen Diskurs einschreibt und welche Eigenschaften des Textes diese Zuordnung verweigern. Für die nun folgende Untersuchung der Pop-Romane Thomas Meineckes heißt dies, dass sie daraufhin untersucht werden müssen, wie sie sich zum Diskurs der ›neuen deutschen Popliteratur‹ bzw. der ›Mainstream-Popliteratur‹ positionieren; in welcher Weise sie intertextuell funktionieren und welche Schnitt-Techniken sie nutzen; welche (pop-)kulturellen Positionsfelder in den Texten eröffnet werden und in welcher Weise sich die Texte auf die Gegenwartskultur beziehen; über welche weiteren – von Ullmaier beschriebenen – inhaltlichen und gestalterischen Merkmale popliterarischer Texte die Romane (nicht) verfügen; und schließlich, inwiefern sich ein popspezifisches Verhältnis von Autor und Werk beschreiben lässt.
3.2. P OP, L ITER ATUR UND S UBVERSION . THOMAS M EINECKES R OMANE TOMBOY (1998) UND H ELLBLAU (2001) Indem Thomas Meinecke seine Literatur als den Versuch, sich »im Kulturpartisanenstellungskrieg strategisch zu positionieren«188 bezeichnet, macht er sich und seine Literatur zum Gegenstand einer Untersuchung subversiver
188 | Diese Aussage wurde von Thomas Meinecke in einem Gespräch mit dem Verfasser, das am 26. September 2003 in Dortmund geführt wurde, gemacht und nachträglich von ihm autorisiert. Das komplette Zitat lautet: »Ich war eigentlich schon immer im Kulturkampf aktiv, habe versucht, mich im Kulturpartisanenstellungskrieg strategisch zu positionieren.«
Pop, Literatur und Subversion
Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa.189 Zu diesem Zwecke sollen Meineckes Romane Tomboy (1998) und Hellblau (2001) analysiert werden, weil sich von Tomboy zu Hellblau relevante Veränderungen im ästhetischen Konzept Thomas Meineckes vollziehen.190 Tomboy spielt im Dreieck von Heidelberg, Ludwigshafen und Odenwald und berichtet vom Leben der Studentin Vivian Atkinson, die ihre Magisterarbeit über die misogynen Auslassungen Otto Weiningers in Form von Fragesätzen anfertigt. Neben ihrem feministischen Bekannten Hans Mühlenkamm, der sich von ihr stark angezogen fühlt, und einigen Treffen mit ihrem älteren Dozenten, der sie mit Material für ihre Arbeit versorgt, trifft Vivian vorrangig Frauke Stöver, die in einer Frauen-Lesben-Wohngemeinschaft in Handschuhsheim lebt und schließlich den/die Transsexuelle/n Angela/o heiratet, und die bisexuelle Tennisspielerin Korinna Kohn. Hans’ Schwester Grete, die ihren Bruder besucht, Fraukes anfängliche Mitbewohnerin Ilse Lehrerin, Pat Meier, die ebenfalls in der Handschuhsheimer Wohngemeinschaft lebt (wie auch Korinna Kohn), Vivians Nachbar Bodo Petersen – dies sind einige der weiteren Figuren, die im Roman auftauchen. Zwischen den Personen entwickeln sich in erster Linie nicht nur wechselhafte emotionale und mitunter auch sexuelle 189 | Im Bereich der avancierten Popliteratur sind für eine Studie, die nach Formen politischen Schreibens in der Gegenwart fragt, auch die Bücher von Jörg Albrecht (* 1981), Dietmar Dath (* 1970), Marc Degens (* 1971), Diedrich Diederichsen (* 1957), Franz Dobler (* 1959), Rainald Goetz (* 1954), Peter Licht (* unbekannt), Andreas Neumeister (* 1959), Peter Wawerzinek (* 1954) oder Wolfgang Welt (* 1952) relevant, ebenso wie literarische Texte aus dem Umfeld der sog. Hamburger Schule, deren Autorinnen und Autoren teilweise auch musikalisch aktiv sind, wie Bernadette La Hengst (* 1967), Schorsch Kamerun (* 1963), Rocko Schamoni (* 1966) und Heinz Strunk (* 1962). Auch Songtexte von Bands wie Blumfeld, Die Goldenen Zitronen oder Tocotronic bieten sich für weitere Analysen an. Die Reihe Popliteratur im unabhängigen und alternativen Ventil Verlag in Mainz führt ebenfalls Texte, die im Rahmen der Untersuchung interessant wären, wie jene von Kerstin Grether (* 1975), Lee Hollis (* 1963), Jan Off (* 1967) und Linus Volkmann (* 1973). 190 | Während Meineckes zweiter Roman Tomboy (1998) bereits als »radikaler als Meineckes USA-Roman The Church of John F. Kennedy von 1996« (Winkels 1999: 591) zu bezeichnen ist, lässt sich von Tomboy zu Hellblau (2001) ein weiterer Sprung beobachten. Deshalb wird diese Arbeit Tomboy und Hellblau in einem ergänzenden Vergleich untersuchen. Die frühen Prosawerke Meineckes wie die Kurzgeschichten-Sammlung Mit der Kirche ums Dorf (1986) und die Essaysammlung Mode & Verzweiflung (1998, enthält allerdings zwischen 1977 und 1987 geschriebene Texte) fallen heraus, da sie vor 1995 entstanden sind und damit außerhalb des Kanons dieser Arbeit liegen, ebenso die späteren Romane Musik (2004), Jungfrau (2008) und Lookalikes (2011). Ein Auszug aus Hellblau findet sich zudem auch im einschlägigen Akzente-Band zum Thema »Politik« von Norbert Niemann und Georg M. Oswald, vgl. Meinecke 2001b.
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Verhältnisse, sondern vor allem ein Austausch über popkulturelle Produkte, Theorien und Alltagserfahrungen, die sich mit der Konstruktion von Geschlechtskategorien und -zuweisungen befassen. Der auktoriale Erzähler verknüpft die Ereignisse im Leben der verschiedenen Figuren mit den jeweiligen Zitaten aus Büchern und Reflexionsstrecken. Der Roman bildet eine erzählte Zeit von Frühjahr 1997 bis Frühjahr 1998 ab, in die – neben aktuellen Ereignissen wie einem Vortrag Judith Butlers in München (Juni 1997) oder dem Tod Prinzessin Dianas (Ende August 1997) – zahlreiche reflektierende Stücke über verschiedene Probleme der Geschlechter(de-) konstruktion eingefügt werden. Diese intertextuelle Verknüpfung von Reflexions- und Zitatstücken; die Reduktion erzählerischer Elemente; die zahllosen Bezüge auf popkulturelle Produkte (vor allem aus der aktuellen Riot Girl-, Neopunk-, Alternative- und Independent-Szene wie z.B. auf den ersten Seiten auf die postfeministischen Bands Sleater Kinney und Bikini Kill); der starke Gegenwartsbezug; die Nutzung jüngerer poststrukturalistischer (Gender-)Theorien für die Inhalte und den Auf bau des Romans – diese Merkmale des Textes sind verantwortlich dafür, dass Tomboy immer wieder als ein hochrangiges Beispiel für gegenwärtige deutschsprachige Popliteratur benannt wird.191 In Hellblau wird dieses Schreibverfahren modifiziert, werden die Inhalte und die debattierten Fragestellungen vom Bereich geschlechtlicher auf den Bereich ethnischer Identitäten ausgeweitet, ebenso wie der Erzählraum, der ›globalisiert‹ wird: Der Stipendiat Tillmann aus Mannheim forscht auf der Atlantikinsel Ocracoke, vor der Küste South Carolinas, über den deutschen U-Boot-Krieg gegen die USA. Er lebt dort mit seiner US-amerikanischen Freundin Vermillion, die die Geschlechterkonstruktionen der chassidischen Juden von Williamsburg in New York untersucht. In der South Side von Chicago lebt Yolanda, vermutlich eine Afro-Amerikanerin (vgl. Breger 2003: 204), die in den Archiven der Regenstein Library an der University of Chicago arbeitet. In Berlin wohnt Tillmanns ExFreundin Cordula mit Heinrich, der aus Bitburg stammt und sich mit dem gemeinsamen Besuch der SS-Gräber auf dem Friedhof in seiner Heimatstadt durch Helmut Kohl und Ronald Reagan beschäftigt. Die drei Ich-Erzählinstanzen Tillmann, Yolanda und Cordula arbeiten gemeinsam an einem Buchprojekt, dem sie im Verlauf des Buches verschiedene vorläufige Titel wie »Abtauchen« (Hb 74), »Wasserflugzeug« (Hb 126), »Displaced Persons« (Hb 126) oder »Downtown Atlantis« (Hb 261) geben. Aus diesem Grunde tauschen sie sich – vor allem mit Briefen und Emails – über Fragen der Gender Studies und der postkolonialen Theorie aus, wieder unter starker Bezugnahme auf Musik und Bücher. Da die Figuren in großen geografischen Entfernungen voneinander leben, werden weniger Entwicklungen aus ihren jeweiligen Lebensumfeldern erzählt als noch in Tomboy, somit stehen die 191 | Vgl. Baßler 2002: 135–147; Ernst 2001: 61; Schumacher 2003: 11f.; Ullmaier 2001: 118–122.
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theoretischen Reflexionen – nun über geschlechtliche und ethnische Kategorien sowie deren Kreuzung – noch stärker im Vordergrund. Damit wird zugleich der Komplexitäts- und Schwierigkeitsgrad des Romans gegenüber Tomboy gesteigert. Abgebildet wird diesmal eine Ereignis- und ›Lesestrecke‹ von 1998 bis Anfang 2001 (es gibt einige dokumentarische Verweise auf Anschläge auf Synagogen, aktuell erschienene Zeitungsartikel etc.). Zunächst wird untersucht, wie sich Meineckes intertextuelle Schreibweise beschreiben lässt (3.2.1.). Danach folgt eine Auseinandersetzung mit den minoritär-distinktiven Positionierungen auf dem Feld der Popkultur, die seine Figuren vornehmen, womit zugleich auch die Frage nach den popkulturellen Archiven und dem Gegenwartsbezug der Romane geklärt wird (3.2.2.). Dass sich Meineckes Texte in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion einschreiben und diesen literarisch archivieren, reflektieren und teilweise auch ironisieren, wird im dritten Unterkapitel gezeigt, das sich unter dem Titel Theorie als Roman mit der Dekonstruktion geschlechtlicher und ethnischer Identitäten beschäftigt (3.2.3.). Schließlich werden verschiedene Topoi der Subversion – wie der Terrorismus als subversiver Diskurs, die Diaspora als Topografie der Subversion und die Geheimbotschaft als Sprache der Subversion – in Meineckes Prosa aufgerufen, die einer näheren Analyse unterzogen werden (3.2.4.). Zum Abschluss wird Meineckes Auftreten als öffentliche Autorfigur betrachtet und mit jenem intertextuellen Autorenbild kontrastiert, das seine Prosa produziert (3.2.5.).192
3.2.1. Der Roman als Rhizom und Theorie-Pop. Die intertextuelle Schreibweise Thomas Meineckes In zahlreichen Selbstzuschreibungen hat sich Meinecke als ›Autor-DJ‹ bezeichnet: Ich lese Bücher, höre Platten, höre Menschen was sagen – und das ist mein ganzer Input, und den möcht’ ich sozusagen so zusammenschmeißen – und da sind wir wieder bei dem modischen Bild des DJs: Wie einer auf zwei Plattenspielern mit 80 Schallplatten eine ganze Nacht lang wunderbar etwas erzählen kann. (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 118f.)
Ganz im Sinne Broichs und Pfisters inszeniert sich Meinecke als ein Autor, der bewusst verschiedene Zitate zu einem Textgewebe zusammenfügt: »Beim Schreiben habe ich immer mehrere Häufchen Quellen – sozusagen Platten – vor mir liegen, die ich nacheinander ›auflege‹. Ich halte nämlich nichts von ausgedachten Geschichten. Natürlich ist alles ausgedacht und konstruiert, 192 | Ernst 2008b, Ernst 2010a, Ernst 2011a u. Ernst 2013. Auszüge der folgenden Meinecke-Analysen finden sich u.a. bereits in Ernst 2008d.
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doch das Maß des Ausgedachten sollte der Autor möglichst low halten.« (Meinecke, zit. n. Büsser 1998: 134f.) Das Schreiben sei für Meinecke somit primär ein kreativer Lektüreprozess: »Z.B. ein neues Buch von Donna Haraway kaufe ich mir, lese es, und dann lasse ich die Figuren im Roman darüber reden.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Sein Schreibverfahren vergleicht er mit der Textur instrumentaler TechnoMusik und stellt diese der Rock-Musik gegenüber, die »vom großen phallologischen Subjekt« erzähle, dazu »[h]erkömmliche Erzählstrukturen« nutze und »auf marode Spannungsbögen, die Klimax, den Plot auf Seite 200« (Meinecke 2000: 185) setze, wie die Mehrheit aller Gegenwartsautoren. Im Gegensatz dazu, so Meinecke, dulde er »keine narrativen Ablenkungsmanöver wie Handlung, Spannungsbogen und Klimax, keinen Anfang und kein Ende, keine Aufoder gar Erlösung, sondern versuche, was ich in Techno wiederfinde, eine so differenziert wie möglich modulierte Strecke Text herzustellen.« (Meinecke 2000: 188) Der Literaturkritiker Helmut Böttiger pflichtet Meinecke bei und erklärt über Tomboy, dieser »Text kennt keine Handlung, keine Entwicklung, keine klar umrissenen Ichs oder Subjekte.« (Böttiger 2004: 254) Im Folgenden soll nun untersucht werden, ob sich nicht doch erzählerische Momente in Meineckes Romanen finden lassen, wie sich die von Meinecke genutzten Schnitt-Techniken beschreiben lassen, inwiefern seine Prosa als ein rhizomatisches Textgewebe bezeichnet werden kann und in welcher Weise sich in den Texten eine Verschmelzung von wissenschaftlicher und literarischer Sprache vollzieht und somit die Grenze zwischen diesen beiden Diskursen aufgelöst wird. Der Roman Tomboy. Eine Mischung aus Narrativen und Zitaten Die Behauptung, dass das narrative Moment in Meineckes Roman nicht vorhanden sei, ist nicht korrekt, denn beispielsweise wird in Tomboy durchgängig erzählt, was die Protagonistinnen machen, erleben und inwiefern sich ihre Lebensverhältnisse verändern. In chronologischer Abfolge werden auch die Beziehungen zwischen den Figuren beschrieben, die zudem starke Veränderungen erfahren: Die sich selbst als heterosexuell verstehende Hauptfigur Vivian Atkinson trifft sich regelmäßig mit ihrem guten Freund Hans Mühlenkamm und ihrem namenlosen Professor, hat aber schließlich eine homosexuelle Erfahrung mit ihrer bisexuellen Bekannten Korinna Kohn (vgl. Tb 215f.). Diese war lange Zeit sehr an Frauke Stöver interessiert, die aber Angela/o Guida, eine/n Transsexuelle/n, kennenlernt, die beiden verloben sich und heiraten schließlich (vgl. Tb 51f. u. 149). Die Ereignisse werden zwar nicht detailliert geschildert, sondern eher beiläufig vom auktorialen Erzähler berichtet; neben den zahlreichen Theoriezitaten präsentiert der Text allerdings sehr wohl Figuren, die im Verlauf des Romans Entwicklungen durchlaufen. Zwar handelt es sich nicht um ein klassisches psychologisches Erzählen, jedoch auch nicht um die völlige Abwesenheit narrativer Elemente.
Pop, Literatur und Subversion
Tomboy ist vielmehr eine spezifische »Mixtur von Zitat und Narration« (Baßler 2002: 147), ein »Textzwitter aus Erzählung und theoretischer Spekulation« (Winkels 1998). Zu widersprechen ist auch der These, dass es sich bei Tomboy um »eine einigermaßen einheitliche Tonspur ohne Spannungsbögen« (Baßler 2002: 147) handele: Als Frauke, Angela, Vivian und Hans am 12. Juni 1997 nach München zu einem Vortrag Judith Butlers fahren, führt dieses Ereignis im Kontext des Buches zu einer Klimax, in der die Handlungsstränge um die Protagonistinnen einerseits und die Hauptfigur der von ihnen aufgerufenen Theoriediskurse aufeinander prallen und miteinander kulminieren (vgl. Tb 86–92). Außerdem wäre der sexuelle Akt zwischen Vivian und Korinna zu nennen, der in einem Buch überrascht, das sich fast durchgängig theoretisch mit Sexualität befasst, ohne sexuelle Akte zu beschreiben (wobei die Beschreibung dieses Aktes wiederum von Reflexionen und Theorieverweisen durchdrungen ist) (vgl. Tb 215f.). Und auch der noch zu beschreibende Abschluss der Nebenerzählung über den politisch-revolutionären Diskurs der Subversion gibt dem Roman einen prägnanten Schlusspunkt (vgl. Tb 249–251). Meineckes Prosa weist somit zwar eine geringere Intensität an narrativen Strukturen einerseits und deutlich mehr Theoriezitate andererseits auf als die Prosa der ›neuen deutschen Popliteratur‹ von Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht. Im Vergleich mit avantgardistischer Literatur wie z.B. den Prosatexten von Florian Neuner lassen sich in Meineckes Texten – neben den zahlreichen Zitaten und Reflexionspassagen – auch Momente des ›Storytelling‹ finden. Spezifisch bei Meinecke ist sein »›Schreibprogramm‹« – ein »Samplen, Pegeln und Blenden auf der Ebene der Narration«, das dafür verantwortlich ist, dass sich auch die »Ebene der Histoire […] um das Problem der Texterzeugung, nämlich der akademischen, dreh[t].« (Wirth 2005: 177) Weiche Schnitte und intensive Intertextualität. Meineckes Schnitt-Techniken Tomboy und Hellblau bestehen zu großen Teilen aus direkten oder indirekten Zitaten.193 Während in Tomboy stärker die Aneignung und Weiterentwicklung von Theoremen der Gender Studies durch die Romanfiguren in Form von Referaten vorgeführt wird,194 zitiert Hellblau direkt aus Büchern oder von Platten oder Flugblättern etc., teilweise auch längere Passagen in englischer Sprache.195 In allen Fällen werden die Zitate von einer Romanfigur eingeleitet, die das jeweilige Zitat für ihre wissenschaftliche Arbeit benötigt oder interessant
193 | Beide Texte verweisen auch intertextuell auf den jeweils anderen Titel, also Hellblau auf Tomboy und umgekehrt, vgl. Tb 195; Hb 161 u. 307. 194 | Z.B. heißt es: »Mit einem Bleistift, senkrecht daneben gekritzelt:« – worauf ein längeres Zitat folgt (Tb 158). 195 | Vgl. u.a. das folgende Zitat: »Serge Klarsfeld: Beate, my wife, and myself decided to join a protest« – das Zitat geht noch 32 Zeilen weiter (Hb 321).
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findet, wobei in Hellblau die genaue Zuschreibung eines Zitats zu einem der drei Ich-Erzähler manchmal nicht möglich ist. Die Figuren zitieren allerdings nicht nur kürzere oder längere Passagen aus anderen Texten direkt, sondern referieren in ihren eigenen Reflexionen auch die Theoreme der Gender Studies oder der postkolonialen Theorie. Wenngleich die Sprache des Romans an manchen Stellen rhythmisch oder lakonisch ist,196 sind die zahllosen Reflexionsoder Dialogstücke der Figuren eher hypotaktisch gebaut und der Komplexität und dem Sprachduktus der Zitate aus akademischen Texten ähnlich. Die Figuren fallen in ihren eigenen Reflexionen also kaum hinter das sprachliche Niveau und die gedankliche Komplexität ihrer Lektüren zurück, entwickeln diese sogar weiter und wenden sie auf ihre eigene Situation an.197 Thomas Meinecke nutzt den Begriff des ›DJ-Autors‹ für diese intertextuellen Verfahren und stellt somit eine Verbindung zur ›DJ-Culture‹ her, wie sie von Ulf Poschardt beschrieben wurde. Am Beispiel von Rainald Goetz und William S. Burroughs stellt Poschardt literarische Schreibweisen vor, die parallel zur Arbeit von Platten zusammenmixenden und damit Tonspuren erzeugenden DJs verlaufen: »Der Text der Zukunft ist von der Last alter Identitäten befreit. Er sollte keine einzigartige, ›theologische‹ Bedeutung (die Botschaft des Autoren-Gottes) mehr offerieren, sondern als multidimensionaler Raum funktionieren, in dem mehrere Schriften verheiratet und zerstritten sind und keine ein Original ist.« (Poschardt 2001: 386) Im Anschluss an Roland Barthes und Michel Foucault, die den ›Tod des Autors‹ bzw. dessen Verschwinden proklamierten, zeigt Poschardt bei Goetz, dass »viele der Sprechakte (in Goetz’ Theatertexten) als Medien-, Pop- oder Werbezitate« (Poschardt 2001: 387) zu erkennen sind. Die Frage, wer im Text bzw. Lied eigentlich spricht und inwiefern noch ein genialischer Autor bzw. Songwriter dahintersteht, ist »in der DJ-Culture – außer in den Rechtsabteilungen der Plattenfirmen, wo Copyrights verhandelt werden – relativ unwichtig geworden.« (Poschardt 2001: 391) 196 | Rhythmisch ist beispielsweise der Satz: »Push-up. Stay-up. Pin-up.« (Hb 189); lakonisch der Satz: »Lee hört […] am liebsten auf Zimmerlautstärke. […] Bis die Polizei klingelt.« (Hb 255) 197 | Korinna und Vivian sprechen in Tomboy über Butlers Beschreibung des lesbischen Phallus, und Korinna Kohn stellt fest: »[U]nd sie schreibt weiter, daß das Einbringen des lesbischen Phallus einen diskursiven Ort eröffne, an dem die stillschweigenden politischen Beziehungen überprüft würden, welche die Aufteilung zwischen Körperzonen und Körperganzem [,…] zwischen der Anatomie und dem Imaginären, der Körperlichkeit und der Psyche konstituierten und in diesen Aufteilungen Bestand hätten.« (Tb 215) Während des auf der folgenden Romanseite dann stattfindenden Einbringens des lesbischen Phallus durch Korinna Kohn in Vivians Unterleib fragt diese sich u.a.: »[W]as steckt da nun eigentlich in mir drin: ein Penis oder der Phallus? […] Hat sich der Judenwald als diskursiver Ort geöffnet?« (Tb 216)
Pop, Literatur und Subversion
Das hermeneutische Konzept, das die Kategorien Genialität, Originalität und Authentizität sowie die Figur des Autorensubjektes stark macht, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend relativiert worden; die alte Konstruktion des Poeta vates, der auf eine ›göttliche Inspiration‹ vertraut, ist schon lange obsolet. In seinen Interviews setzt Meinecke sich von diesen Konzepten ab, und nennt seine Literatur ›entsubjektiviertes Schreiben‹: Ich möchte nicht originell sein. Ich jongliere lieber mit acht Schubladen, die von anderen gefüllt werden. Originalität, das wäre eine Beleidigung für mich. Ich bin in diesem Punkt 80er-sozialisiert: Entsubjektiviertes Schreiben bedeutet mir immer noch sehr viel. Ich halte das für eine Errungenschaft, die es zu festigen gilt, gegenüber den vielen Autoren, die immer noch sehr von sich aus schreiben und in sich herumdoktern. Mir geht es schon noch darum, die Struktur dessen, was ich sehe, zu ergründen und bloß zu legen, durch Collagen, durch das bewusste, nicht willkürliche Zusammenschneiden von Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören. Originalität ist ein Ablenkungsmanöver. (Meinecke, zit. n. Mensing 1997)
Bei diesem ›entsubjektivierten Schreiben‹ handelt es sich nicht um die Abschaffung der Autor-Funktion, sondern um deren Relativierung. Meinecke selbst spricht davon, dass seine Arbeit das ›bewusste, nicht willkürliche Zusammenschneiden‹ von Textpartikeln sei, was auf die Kreativität eines bewussten Subjekts verweist, das allerdings nicht mehr den Anspruch verfolgt, auch Originäres zu schaffen. Ganz ähnlich stellt Schumacher fest, dass diese Form des Schreibens gerade nicht entsubjektiviert sei, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit nicht nur auf das verarbeitete Material, sondern auch auf die Art der Verarbeitung, auf die gerade im Kontext des DJ-Diskurses damit verbundenen Vorstellungen von Autorschaft und Autorität und damit unweigerlich auch auf die eigene Person lenkt. (Schumacher 2003a: 200)
Es muss also gefragt werden: Wie gestalten sich die konkreten intertextuellen Bezugnahmen in Meineckes Romanen?198 Die Zitate entstammen den unterschiedlichsten Medien, wobei von Tomboy zu Hellblau eine deutliche Verbreiterung und Verschiebung der Auswahl zu erkennen ist: Stammen die Zitate in Tomboy noch vor allem aus Büchern, Filmen, dem Fernsehprogramm, Zeitungen und der Musik, so werden sie in Hellblau zusätzlich auch (historischen) Flugblättern, dem Radio, Videos, Schildern und vor allem dem Internet entnommen. Auch die zitierten Zeitungen und Magazine werden internationaler
198 | Es ließen sich Verbindungen zwischen Thomas Meineckes und Hubert Fichtes Zitierverfahren herstellen, die hier nicht näher ausgeführt werden können, vgl. Kreienbrock 2009; Schumacher 2003: 197–205.
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und hochkultureller.199 Beide Verschiebungen – die Erweiterung der genutzten Medien wie die Internationalisierung der Zeitungen – korrelieren zwar mit der Tatsache, dass die Handlung noch immer in einer mehrköpfigen Gruppe aus dem akademischen Milieu angesiedelt ist; während in Tomboy jedoch die Gruppe im Raum Heidelberg/Mannheim/Odenwald angesiedelt ist und der Austausch primär durch Gespräche und Telefonate stattfindet, sind die gemeinsam am Buchprojekt arbeitenden Tillmann, Cordula und Yolanda in Hellblau zwischen Deutschland, verschiedenen Städten der USA und Brasilien wechselhaft verteilt, so dass sie ihre Informationen, Fragen und Diskussionen per Fax, über Buchsendungen, Mails und Attachments austauschen müssen. Der Informationsfluss wird sozusagen globalisiert. Zudem sind deutlich weniger Figuren präsent, die nicht dem akademischen Milieu angehören, was eine weitere Zuspitzung auf die Theoriediskurse zur Folge hat. Auch die Art und Weise, wie die Zitate in die Bücher eingebracht werden, verändert sich von Tomboy zu Hellblau. Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie auf nahezu jeder Seite auf eine Zitatquelle verweisen oder ein Zitat in den Text aufnehmen. In Tomboy handelt es sich jedoch fast durchweg um indirekte Zitate oder Adaptionen von Gender-Studies-Theoremen, die weitergedacht und überspitzt werden: Exemplarisch hierfür steht Vivian, die »ihre sogenannte Scham« (Tb 68) betastet und dabei über die Historizität der dieser zugeschriebenen Begriffe nachdenkt und somit ein Grundtheorem der Gender Studies präsentiert; oder die gemeinsame Reflexion der Freunde im Auto über die Performativität der Geschlechtszugehörigkeit von Angela/o Guida (vgl. Tb 91). Die Theorien werden von den Figuren in Form längerer Referate indirekt zitiert. Ausführliche Zitatpassagen gibt es nur von Otto Weininger, dessen Texte von der Protagonistin Vivian Atkinson kritisch gelesen werden (vgl. Tb 183–185 u. 221–224). Weiningers Texte werden mit den Worten »Aus Vivian Atkinsons Weininger-Exzerpten« (Tb 183 u. 221) eingeleitet und somit aus einer distanzierten Perspektive vorgeführt. Dies hat eine kritische Funktion: Die langen Zitatpassagen dienen – doppelt gebrochen durch die Perspektive des auktorialen Erzählers wie auch die der Hauptfigur Vivian – zur distanzierten Betrachtung einer patriarchalen Position im Geschlechterdiskurs. Diese Technik übernimmt Meinecke verstärkt in Hellblau, allerdings invers: Er hat hier den auktorialen Erzähler subtrahiert, die Ich-Erzähler-Figuren arbeiten gemeinsam an einem Theorieprojekt, schicken sich zur Klärung
199 | Lesen die Figuren in Tomboy u.a. den Mannheimer Morgen (Tb 62), die Amica (Tb 168), den Stern (Tb 193) oder gar die Bild-Zeitung (Tb 249), so wenden sich die Figuren in Hellblau auch US-amerikanischen Zeitungen und Magazinen wie News & Observer (Hb 90f. u. 259), der New York Times (Hb 273 u. 319), aber auch deutschen Qualitätsblättern wie der Zeit (Hb 154) oder der Süddeutschen Zeitung zu (Hb 171, 229 u. 259), die zudem mitunter kritisch von den Lesenden betrachtet werden.
Pop, Literatur und Subversion
offener Fragen Auszüge aus Texten zu, die damit eine ganz andere Autorität gewinnen. Während in Tomboy der Erzähler über Vivian und Vivian über dem Text-Zitat zu stehen scheinen, wird diese Hierarchie in Hellblau umgedreht: Über den fragenden Häuptern der Romanfiguren hängt ein Universum von mit höherer Autorität versehenen Textfragmenten, an dem sich diese gleichsam bedienen, um Fragen beantworten oder neue Perspektiven einnehmen zu können.200 Neben diesen Zitaten mit deutlichen Quellangaben, die zudem wortwörtlich zitiert werden, gibt es jedoch auch die Formen des erzählenden Zitierens. Dabei setzt sich eine Person reflexiv mit einem Sachverhalt auseinander und erzählt von Theoremen und Anekdoten oder mehrere Personen unterhalten sich über die entsprechenden Zitate, die in erzählter und somit modifizierter, dennoch fast durchweg auch markierter Form benannt werden.201 Während sich in Tomboy die Figuren noch selbst wertend zu den Zitaten verhalten,202 werden die Zitate in Hellblau nicht näher bewertet. Dies zeigt sich beispielsweise in den beiden zentralen Motiven, die das Buch Hellblau parallel durchlaufen: die Verlagerung utopischer Räume in maritime Topografien durch Techno- und House-Musiker einerseits (vgl. Hb 20– 25, 42f., 91, 99f. u. 247–249) sowie die Überreste der deutschen U-Boot-Kriegsaktivitäten während des Zweiten Weltkriegs vor der US-amerikanischen Küste andererseits (vgl. Hb 16–20, 31f., 119–125, 149f., 184–187, 197–199, 249–253, 284–286 u. 331f.). Dass sich die Figuren für beide Motive interessieren, heißt 200 | Paul Gilroy z.B. leistet auf diesem Wege einiges zum besseren Verständnis der maritimen Utopie-Welten Drexciyas und der »sozialen Konstruktion von Identität« (Hb 13f., vgl. auch 262f.), Daniel Boyarin zum besseren Verständnis des chassidischen Judentums (Hb 193–195), Micha Brumlik zum Verständnis des Antisemitismus (Hb 297f.) usw. 201 | Die Nebenfigur Heinrich z.B. forscht über seine Heimatstadt Bitburg, in der 1985 Helmut Kohl und Ronald Reagan bei einem Staatsbesuch einen politischen Skandal verursachten, indem sie den Toten des Zweiten Weltkriegs auf einem Friedhof gedachten, der auch Gräber von SS-Leuten beherbergt. Heinrich versorgt Cordula mit Material, das aus zahlreichen direkten Zitaten besteht (vgl. Hb 54, 92f., 212 u. 228f.), besucht jedoch auch selbst mit ihr die Stadt und erzählt ihr zahlreiche Geschichten, deren Quellen nicht genau markiert werden (vgl. Hb 76–81). 202 | Vgl. Vivians Reaktion auf einen von Korinna Kohn ausgerissenen Artikel von Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung zum Tod des homosexuellen Modemachers Versace, der erschossen worden war: »Also vermeinte das Münchener Feuilleton, wer sich jüngere Männer für die Liebe kaufen müsse, begebe sich nun einmal in den Schwarzgeldkreislauf und sei, es tut mir leid, das ist Berufsrisiko, formulierte Willi Winkler, Journalist, ganz einfach selber schuld an seinem, auf welche brutale Art auch immer verursachten Tod. […] Nee, Willi Winkler, behalt mal deine beschissene Meinung für dich, nahm Vivian sauer Anstoß […], denn wie anders als antiaufklärerisch homosexuellenfeindlich ließ sich Winklers zynisches Resümee […] lesen?« (Tb 115)
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noch lange nicht, dass sie beide auch gutheißen: Geht es ihnen im Buchprojekt doch primär um die Dekonstruktion jener von den Nationalsozialisten vorgenommenen Konstruktionen des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹, die ihre barbarischen Vernichtungsapparate legitimieren sollten. Somit erscheinen die Drexciya-Unterwasserwelten als ein spannendes Musikprojekt, das von den Hauptfiguren in kritischer Begeisterung begleitet wird, während Relikte der NS-Zeit von den tauchenden Freunden Tillmann, Vermillion und Cordula gleichsam zurück an die Oberflächen der heutigen Zeit und damit des NichtVergessens gebracht werden sollen – ein Projekt, das dieses Buch generell verfolgt. Bemerkenswert ist jedoch, wie diese gegenläufigen Motive im Verlauf des Buchs immer wieder zusammengeschnitten werden und unmittelbar aufeinander prallen. Meinecke nutzt in Hellblau keine harten Schnitte: Der Tonfall des Erzählten bleibt fast durchweg ähnlich, das gesamte Buch dreht sich um das immer wieder neu variierte Thema der nationalen oder kulturellen Identität, die Quellen der Zitate werden (fast) immer klar benannt. Dennoch sind zwischen den einzelnen Zitaten zwei Besonderheiten erkennbar: Erstens wird in Hellblau teilweise in die Übergänge zwischen den Ich-Erzählern ein ganzer Zitatblock geschoben, weshalb manchmal undeutlich bleibt, von wem dieses Zitat genutzt wird; zweitens prallen immer wieder Stränge aufeinander, die in einem ›Konkurrenzverhältnis‹ stehen.203 Ähnliche Direktanschlüsse zweier Zitate gibt es noch an weiteren Stellen (vgl. auch Hb 104, 116, 270f. u. 253): Yolanda berichtet von der »schamlosen Raubkopie des aktuellen UR Hits Januar« (Hb 127), die das Underground-Label Underground Resistance durch das MajorLabel Sony erleiden musste – im unmittelbaren Anschluss wird auf die großen Konzerne, die dem Entschädigungsfond für Zwangsarbeiter (noch nicht) beigetreten sind, hingewiesen: Im Umfeld der Auslaufrille von Message to the Majors stand schon 1993: Fuck the Majors. Eindeutige Warnungen vor der Industrie auch auf der Plattenhülle von Knights of the Jaguar. Der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft mittlerweile beigetreten sind: Agfa, Allianz […], Viag und Volkswagen. Abzuwarten: […]. Renitent: Die Dynamit Actiengesellschaft, DAG, deren Firmensprecher impertinent darauf beharrt, Dynamit Nobel sei 1949 neu gegründet worden und damit rechtlich nicht der Nachfolger der DAG. (Hb 128f.)
Der – unterschiedliche Quellen nutzende – harte Schnitt wird dadurch abgefedert und zu einem weichen, dass sich der Übergang innerhalb desselben thematischen Feldes – Abgrenzung von kapitalistischen Großkonzernen –
203 | Beispielsweise geht die Einführung der U-Boot-Wrack-Welt vor der US-amerikanischen Küste unmittelbar in die Einführung der Drexciya-Unterwasserwelt über, vgl. Hb 20.
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bewegt. Ein anderes Beispiel für diese Schnitte innerhalb ähnlicher thematischer Komplexe ist der Hinweis auf die anhaltende »Serie antisemitischer Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Deutschland« (Hb 298), deren konkrete Folgen nicht, wie in weiten Teilen der deutschen Presselandschaft und Politik üblich, als Taten verschiedener Einzeltäter abgetan werden, sondern vielmehr umrahmt von einem Auszug aus Micha Brumliks neuem Buch Deutscher Geist und Judenhass sowie einer Nacherzählung der Gräueltaten der 4. SS-Panzergrenadier-Division in Verbindung mit einer Kurzdarstellung politisch rechter Kontinuitäten im Deutschen Marinebund nach dem Nationalsozialismus (vgl. Hb 297–302). Die antisemitischen Taten werden also nicht isoliert voneinander betrachtet, zudem nicht von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung und der kulturellen Geschichte Deutschlands abgekoppelt. Vielmehr wird durch das direkte Aneinanderschneiden der Textfragmente eine Verbindung zwischen diesen Entwicklungen angedeutet, die jedoch weder bewiesen noch direkt behauptet wird. Die Interdiskursivität des Redens über politische Ereignisse im Sinne Jürgen Links und Ursula LinkHeers wird thematisiert, indem die interdiskursive Verbindung von Zitaten aus verschiedenen Diskursen im Roman geradezu ›ausgestellt‹ wird (vgl. auch Link/Link 1990: 88–99). Vereinheitlichung der Stile. Meineckes Textgewebe als Rhizom Meineckes Romane bilden also ein Patchwork, ein Textgeflecht aus Zitaten, Motiven, Reflexionen und Gesprächen. Die Rede von textlichen Überblendungen oder einem Gleichzeitig- oder Parallel-Laufenlassen, die der Autor führt, ist allerdings nicht zutreffend.204 Dafür müsste Meinecke die einzelnen Textabschnitte parallel setzen oder ineinander verschrauben, so dass der Text auch gesetzt parallel ›liefe‹. In Tomboy und Hellblau lässt sich jedoch von motivischen Überblendungen sprechen, wenn z.B. Zitate und Gespräche über das chassidische Judentum nach und nach im Verlauf der Handlung abgelöst werden von Zitaten, Reflexionen und Gesprächen über verschiedene Konstruktionsmöglichkeiten von Frauenbildern, die exemplifiziert werden an Brigitte Bardot und Marlene Dietrich und die thematischen Schwerpunkte des Romans verschieben. Während der Sprachstil der zitierten Quellen heterogen ist, werden die – direkten und indirekten – Zitate jedoch in den kohärenten Stil Meineckes eingepasst. Ullmaier stellt richtig fest, dass das DJ-Bild trügt, »wo es – nach klassischer Collage-Manier – semantische Cut-up-Effekte oder Sprach-Scratching im Stil Konkreter Poesie vermuten lässt« – vielmehr handele es sich in Tomboy um einen »eher fließenden DJ-Set« (Ullmaier 118f.). Während andere Literatur-
204 | Im Kontrast dazu stehen Selbstäußerungen Meineckes, vgl. hierzu u.a. Ullmaier 2001: 120f.
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wissenschaftler das Bild des ›DJ-Autors‹ sehr intensiv nutzen,205 unterzieht Katharina Picandet diese Metapher in Bezug auf Meinecke einer grundsätzlichen Kritik. Zwar gebe es eine »produktionsästhetische[ ] Ähnlichkeit« im »künstlerische[n] Selbstverständnis von Autor und DJ«, diese treffe allerdings nicht auf die Beschreibung der Romane zu: »Unvereinbar sind vor allem die tendenziell signifikatfreie Musik und die immer semantisch bedeutungstragende Sprache; ferner ist elektronische und DJ-Musik auch charakterisiert von Wiederholungen und Variationen, Verfahren, die in Hellblau nicht nachzuweisen sind, obwohl sie durchaus auf Literatur übertragbar wären.« (Picandet 2011a: 306) Nun könnte man argumentieren, dass Meinecke einen spezifischen ›Sound‹ produziere – Florence Feiereisen bezeichnet beispielsweise »Meineckes Romane als Klangliteratur innerhalb der neuen deutschen Popliteratur« (Feiereisen 2011: 10). Auch hier wäre wieder mit Picandet zu argumentieren, die die Möglichkeit einer ›Klangliteratur‹ – wie man sie beispielsweise von den Lautgedichten der Dadaisten kennt – zugesteht, jedoch nicht von Meinecke realisiert sieht: Zwar »können Textteile wie Cuts in der Musik abgeschnitten und in Variationen wiederholt werden; auch rein phonetische Modulationen eines Textes wären möglich. All das fehlt jedoch bei Meinecke; seine Verbindung der einzelnen Zitate folgt einer inhaltlichen Logik und kaum phonetischen Merkmalen der Textoberfläche.« (Picandet 2011b: 138) Von Zitaten aus der Bild-Zeitung (vgl. z.B. Tb 249) bis zu Auszügen aus der RAF-Schrift Stadtguerilla und Klassenkampf von 1972 (vgl. z.B. Tb 97f.) – Meinecke fügt die unterschiedlichen Quellen und ihre Stile in seinen Roman ein, ohne dass sie große Irritationen hervorrufen. Der akademische Gestus der meisten Zitate entspricht den akademischen Sprechweisen der Erzähler und Figuren, sprachlich stark voneinander abweichende Texte werden – wie im obigen Beispiel – durch ein referierendes Aufzählen auf Stichworte reduziert, die wiederum problemlos in das Text-Patchwork eingeführt werden können. Es lässt sich also von einem montierten Text, nicht von einer Collage oder einem Cut-up-Verfahren sprechen. Man kann also konstatieren, dass Meineckes Texte ihren akademischen und hypotaktischen Stil durchhalten und Zitate in diesen integrieren. Für Hubert Winkels ist bei Meineckes Texten entscheidend, »ob es ihm gelingt, einen tragenden Sound zu erzeugen. Wenn textdramaturgische, handlungslogische oder figurenpsychologische Spannung nicht zählen, ist alles dem Sound übertragen.« (Winkels 1999: 590) Das ist gewiss eine Übertreibung, denn Poptexte allgemein und insbesondere die von Meinecke zeichnen sich auch durch einige weitere Attribute – wie ihre popkulturellen Positionsfelder – aus.
205 | Florence Feiereisen spricht beispielsweise kategorisch in ihrer MeineckeAnalyse vom »Autor als DJ«, »Text als Soundtrack«, »Leser als DJ« sowie »Gesamplete[n] Identitäten: Drei Romane im Mix«, vgl. Feiereisen 2011: 13–164.
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Welches Verhältnis besteht nun zwischen den Inhalten der Romane Tomboy und Hellblau und diesen Schnittverfahren? Der kleinste gemeinsame Nenner der beiden Texte ist gewiss, dass in ihnen in vielerlei Hinsicht Figuren, Texte, Reflexionen daran arbeiten, die diskursive Konstruktion von geschlechtlichen und ethnischen Identitäten in Frage zu stellen, die daraus folgenden Festlegungen zu unterwandern und anstelle dessen eine größtmögliche Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. In diesem Sinne könnte Meineckes Zitierweise, die auf Kursivsetzungen oder Anführungszeichen verzichtet, manchmal die genaue Zuschreibung zu einer Person undeutlich hält, als Unterstützung dieser Ansätze gelesen werden. Indem die Zitate ent-identifiziert sowie ent-hierarchisiert werden und somit ihren Ursprung verlieren, lassen sich Meineckes Romane mit Deleuze und Guattari auch als Text-Rhizome bezeichnen. Die Vielfalt der zahllosen zitierten Texte, Personen, Platten, Nachrichten könnte dabei für eine Welt von Menschen stehen, die unbefragt ihrer Herkunft und nicht kategorisiert eine vielfältige Welt ohne Hierarchie bilden.206 Dadurch entsteht jedoch zugleich die Aporie, dass dieses Text-Rhizom die Vielfalt und Disparatheit der Sprachstile und -inhalte geradezu unterdrückt. Wie bereits gezeigt wurde, werden ein Zitat aus der Bild-Zeitung wie auch eine kurze Inhaltsangabe eines Textes der RAF, daneben aber auch hochkomplexe Texte von Judith Butler oder Daniel Boyarin einem literarischen Stil angeglichen und somit vereinheitlicht. Die stilistische Heterogenität seiner Zitatquellen bleibt z.B. deutlich in einem Prosatext des in der Tradition der avancierten und sprachexperimentellen Literatur stehenden Autors Florian Neuner, der allerdings auch verschiedene Zitate aneinanderreiht: (Also doch: auf einer Sexparty in Köln wurden neulich Kondome verteilt, die extra reißfest sein sollen, ER² ist der hübsche Name, ›Extra Reissfest‹.) Er sei nämlich krank, das müsse herauskommen. Aber wie viele Schattierungen liegen im Halbdunkel und fordern den Spürsinn des Interpreten heraus [!] Auf die Gefahr hin, dass man mich der Konsonantenüberbetonung schilt! Also das erste Mal auf so einer Party, in so einem Lokal. Das Kondom habe ich dabei. Even if you aren’t planning to fuck in the immediate future, buy a packet of condoms and play around with them just for the sake of removing the feeling of strangeness. Dahin!
206 | Meinecke selbst konstatiert: »Es reizt mich das Rhizomatische.« (Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 117) Beat Mazenauer greift diesen Ansatz auf und stellt fest: »Alles ist Diskurs, unendlich verzweigt in einem virtuos unstrukturierten System von Theoremen, Konstrukten, Konzepten, Phänomenen und Gerüchten. Hellblau präsentiert sich als eine nach allen Seiten sich verzweigende rhizomatische (Hyper-) Textur.« (Mazenauer 2006: 389f.)
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Es handelt sich hier um einen Auszug aus dem ersten Besuch eines Homosexuellen in einer Schwulenbar. Dieser aus wenigen Zeilen bestehende Text wird aus heterogenen Stücken und Zitaten zusammengesetzt, deren Herkunft sich nicht klärt und die zueinander in stilistischer wie inhaltlicher Spannung stehen: Es gibt einen nicht-kursiven Erzähltext, der allerdings vom Erzähler in eckigen Klammern (auf einer höheren Ebene) kommentiert wird; es gibt kursiv gesetzte Zitate, die allerdings verschiedenen Bereichen und Sprech-/ Schreibweisen entstammen (eine Anweisung zur Textanalyse; eine Warnung eines Autors; ein Auszug aus einem Flyer zur Sexualaufklärung; ein Ausruf wie aus einem expressionistischen Gedicht; ein Zitat aus einem anderen Erzähltext; eine eingeklammerte Kommentierung einer Schwulenbar).207 Hier werden die Textpartikel, die zur Textur zusammengefügt werden, deutlich weniger auf ihren Ursprung und ihre originäre Herkunft zurückgeführt als in den Texten Meineckes. Es handelt sich zudem um harte Schnitte, da z.B. die anweisende Sprache der Aufklärungsbroschüre einerseits mit den poetischen Zitaten andererseits nicht in einem gemeinsamen, vereinigenden Stil aufgehoben wird. Dieser Vergleich verdeutlicht, dass Meineckes Text-Rhizom in einer doppelten Aporie verfangen ist: Die Vielfalt seiner Zitate, Musiktitel, Reflexionen, Figuren wird letztlich zu einem Stil vereinheitlicht – die Zitate werden nicht durch Kursivsetzungen oder Satzzeichen, sondern durch inhaltliche Verweise auf ihre Herkunft ausgezeichnet. Indem er seine Zitate identifizier- und auffindbar macht, weist er ihnen jene Identität zu, gegen die die meisten Zitate selbst inhaltlich ankämpfen; und indem er alle noch so heterogenen Sprachstile zu einem spezifischen ›Meinecke-Stil‹ vereinheitlicht, nimmt er ihnen jene Möglichkeit zur Differenz und zum Anderssein, deren Förderung doch das Ziel jener dekonstruktivistischen Diskurse der Subversion ist, die im Zentrum seiner Romane stehen. Der Roman als Theorie-Pop. Die Verschmelzung von wissenschaftlicher und literarischer Sprache In Tomboy und Hellblau wird die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache aufgelöst (vgl. auch Kyora 2004: 113). Die Romane beziehen 207 | Decodiert heißen die Buchstaben und Zeichen in der Klammer soviel wie: Ein Muss für den internationalen Tourismus; Bar; ausschließlich schwule Männer; gemischte Altersklassen; Shows/Veranstaltungen; Transvestiten im Publikum; junge Schwule/18–28 Jahre.
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sich primär auf wissenschaftliche Theorien, die sie referieren, zitieren oder imitieren, sie stehen der logozentristischen, nüchternen, traditionellen Wissenschaftssprache kritisch gegenüber und machen gerade in der Gestalt ihrer eigenen Sprache »ein allgemeines Plädoyer für die Differenz« (Münker/Roesler 2000: X) sichtbar. Die Suche nach ›dem Anderen‹, ›dem Verborgenen‹, ›dem Verschleierten‹ in den sprachlichen Identitätskonstruktionen wird konsequent verbunden mit der Suche nach einer anderen Sprache, die die traditionellen Kategorien und Regeln wissenschaftlichen Schreibens zu unterwandern versucht, wie z.B. in Gilles Deleuze’ Logik des Sinns. Aesthetica, in der Deleuze seine Logik als eine Serie der Paradoxa entwickelt, orientiert an der (Kinder-)Literatur Lewis Carrolls. Auch Jean-François Lyotard hat in seinen Untersuchungen Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (1979) und Der Widerstreit (1983) gezeigt, dass sich die wissenschaftliche Wissensproduktion in einer Geltungskrise befindet. Im ersten Buch geht er davon aus, dass der linguistic turn sowie die technischen und kommerziellen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg zum Verlust der Legitimation wissenschaftlichen Wissens geführt haben. Die Wissenschaft ist nur eine jener großen Erzählungen (wie z.B. auch die Aufklärung), die von Anfang an abhängig von jenem narrativen Wissen war, dessen Glaubwürdigkeit nun verschwunden ist: »Die Wissenschaft spielt ihr eigenes Spiel, sie kann die anderen Sprachspiele nicht legitimieren. […] Vor allem aber kann sie sich auch nicht selbst legitimieren, wie es die Spekulation angenommen hatte.« (Lyotard 1994: 119) Im zweiten Werk argumentiert Lyotard – im Anschluss an Wittgensteins Sprachspiel-Theorie – eher sprachanalytisch: Diskursarten lieferten Regeln zur Verkettung ungleichartiger Sätze – es gebe jedoch keinen übergeordneten Diskurs, der als höchste Instanz über die richtige Verkettung von Sätzen bestimmen könnte. Genauso wie ›die Wissenschaft‹ in verschiedene Fakultäten, die Fakultäten in verschiedene Fächer und die Fächer in verschiedene Schulen zersplittert sind, die untereinander in einem Widerstreit stehen, seien dies auch die einzelnen Sätze. Als eine mögliche Konsequenz dieses Verlustes der Geltung wissenschaftlicher Sätze ließe sich die Möglichkeit denken, ›wissenschaftliche‹ und ›literarische‹ Sätze in einem Text zu vereinen, der die Grenze zwischen den beiden Sprech- und Schreibweisen aufhebt. Helmut Böttiger versteht Tomboy als ein Beispiel für einen solchen Text: »Unmerklich ist in den letzten Jahren die Theorie zur Literatur geworden. Während das angestrengt Belletristische immer mehr an Boden verliert, hat das Wissenschaftliche immer fantastischere Züge angenommen. […] Theorie ist Pop.« (Böttiger 1998) Mit dem Roman Hellblau läge somit ein Text vor, der durch seine spezifische Adaption wissenschaftlicher Sprache und Theorien ebenso deren traditionelle, logozentristische Ansprüche imitiert wie auch untergräbt. Ganz im Sinne Lyotards und Böttigers verweist auch Meinecke darauf, dass sich die Unterschiede zwischen Literatur und Wissenschaft nivellierten: »Bei
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einigen Donna-Haraway-Sachen z.B. denke ich, das ist eher Science-Fiction im eigentlichen Sinne, also Wissenschaft als Fiktion. Andersherum handeln ja viele Theorien davon, dass selbst die Wissenschaften nichts anderes als eine narrative Erzählform sind.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Zugleich begrüßt er ausdrücklich, dass er sich den wissenschaftlichen Anforderungen an seine Texte gegenüber verweigern kann, sie eben doch nur eine spielerische Darstellung beinhalten: »Ich bin immer heilfroh, wenn ich keine wissenschaftliche Conclusio finden muss.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Meinecke unterminiert in seiner Literatur diese wissenschaftlichen Regelsysteme, indem er ihre Theorien und Sprechweisen eingliedert in einen Erzählfluss, der sie gleichberechtigt neben Popmusik und populärkulturelle Zitate stellt und die von Wissenschaft (und teilweise auch Literatur) beanspruchte Hierarchie von Sprechweisen und Erkenntnisansprüchen auflöst, wie bereits am Begriff des Text-Rhizoms gezeigt. Die Sprache des Romans unterminiert jedoch nicht nur die Geltungsansprüche der Wissenschaftssprache bzw. erweitert sie um neue Aussage- und Schreibweisen, vielmehr wird die (Alltags-)Sprache selbst zum Gegenstand des Romans, der sprachkritisch angelegt ist. Rezensent und Autor stellen fest, dass Tomboy in einer ›politisch korrekten Sprache‹ geschrieben sei: »›So unsexy Dinge wie politisch korrekte Wortwahl sind mir schon was wert.‹ Also hat Meinecke auch seinen Roman in freiwilliger Selbstkontrolle auf diskriminierende Passagen durchforstet und die weitverbreitete Usance, bei Frauen den Vornamen durch den bestimmten Artikel zu ersetzen (›die Irigaray‹), rückgängig gemacht.« (Nüchtern 1998) Der Autor selbst verweist zusätzlich darauf, dass er auf die politische Korrektheit seiner Wortwahl achte: Man kann heute in der Tat nicht mehr so schreiben wie Anfang der Achtziger, aber auch nicht wie Mitte der Achtziger oder von mir aus auch wie vor 1989. […] In Mode & Verzweiflung gibt es zum Beispiel »den Neger« – das geht nun mal als Wort heute nicht mehr. Es mag lästig sein, aber da muß man eben »Afroamerikaner« schreiben. (Meinecke, zit. n. Büsser 1998: 131)
In der Tat wird in Tomboy über die Schwierigkeit der Variation oder Dekonstruktion maskuliner und femininer Substantivendungen nachgedacht.208 In Hellblau
208 | Angela/o wird als »Kellnerin, beziehungsweise Kellner« (Tb 63) bezeichnet; das Binnen-I als Lösungsmöglichkeit wird thematisiert, aber nicht weiter reflektiert: »die drei FreundInnen, durch Hans mit großem Binnen-I« (Tb 231); Vivian verweist erstaunt darauf, dass »die Windows 95-Rechtschreibung doch tatsächlich vorschlug, den Terminus Frauenrechtler in Frauenrechtlerin zu verbessern« (Tb 149) – also einen Akt auszuführen, der über die Korrektur der Sprache eine geschlechtliche Re-Identifizierung nach sich zöge; zudem sind die »Eigennamen (Luce Irigaray und Jacques Lacan) und die Vokabel Phallogozentrismus […] der Rechtschreibung von Windows 95 unbekannt« (Tb 239).
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wird zudem exemplarisch über den weiblichen Namen Venus, der eine männliche Endung besitzt, reflektiert (vgl. Hb 86–88). Vermillion gibt ihrem Liebhaber Tillmann diesen Namen (vgl. Hb 183), dieser wiederum bekommt von Cordula den Text des Liedes Venus As a Boy von Björk gemailt (vgl. Hb 109) – der Name selbst wird als Transvestit dargestellt: ›Frau mit männlichen Teilen‹. Die weiteren Sprachreflexionen beziehen sich vor allem auf die unterschiedlichen Sprachen und ihre Begrifflichkeiten – der deutsche Tillmann und die US-amerikanische Jüdin Vermillion bewegen sich multilingual zwischen den Sprachen Deutsch, Englisch, Jiddisch und Hebräisch (vgl. Hb 36, 39, 243, 316 u. 317). Dass Bezeichnungen eine politische Dimension besitzen, macht ein Taxifahrer im Vorbei- bzw. Wegfahren deutlich: »Achtet mal darauf, rief uns der Taxifahrer noch hinterher, als wir bereits ausgestiegen waren, von der DDR werde immer nur als Ex-DDR geredet, doch kein Mensch würde je vom Ex-Dritten-Reich reden.« (Hb 192) Der Anspruch des Autors an seinen Roman Hellblau, durchgängig eine politisch korrekte oder zumindest selbstreflexive Sprache zu nutzen, wird jedoch nicht komplett durchgehalten, indem u.a. die euphemistischen bzw. problematischen NS-Begriffe »Reichskristallnacht« (Hb 132) und »Weltanschauung« (Hb 105) genutzt, aber nicht kritisch reflektiert werden. Neben diesen Adaptionen wissenschaftlicher Sprechweisen und Theorien und der kritischen Reflexion des alltäglichen Sprachgebrauchs wird auch der Wissenschaftsbetrieb als Institution an zahlreichen Stellen in Tomboy und Hellblau kritisch betrachtet. In Tomboy bewegt sich der Freundeskreis zwar im akademischen Milieu, jedoch zugleich distanziert vom eigentlichen Uni-Betrieb (niemand scheint in das akademische Alltagsgeschehen wirklich eingebunden zu sein). Als Bindeglied und Ausnahme von der Regel kann Vivians Professor gesehen werden, der Verständnis für ihr Thema und ihre Methode hat, schon einmal mit Judith Butler ein Bier trinken war, mit Vivian spazieren geht und ihr regelmäßig Bücher leiht (vgl. Tb 9–11, 45–47 u. 233) – wobei auch dieser eher als komischer Kauz skizziert wird: »Hoffentlich hatte er damals noch nicht die Angewohnheit besessen, dachte die Studentin heute, sein Oberhemd so absolut unübersehbar in der Unterhose zu tragen. Wahrscheinlich aber schon.« (Tb 11) Der Wissenschaftsbetrieb wird als männlich dominiert dargestellt – selbst die vermeintlich liberalen Stars wie Bourdieu verfallen in einen patriarchalen Gestus (vgl. Tb 94, 204, 236 u. 237). In Hellblau wird in einem längeren Stück die ausgebliebene Ent-Nazifizierung im WissenschaftsGanz ähnlich wird auch in Hellblau das hegemoniale Word-Rechtschreibprogramm als Agent hegemonialer Politik angegriffen: »Tillmann beschwerte sich darüber, dass das deutschsprachige Rechtschreibprogramm von Microsoft Word zwar den Terminus dunkelhäutig kennt, die Vokabel hellhäutig aber beanstandet. Fazit: Sprache sei eben immer die Sprache der Herrschaft.« (Hb 189) Der Text geht nicht weiter darauf ein, dass sich diese Tatsache mit dem Befund der Whiteness-Theorie deckt, dass die ›weiße Position‹ im Regelfall die unmarkierte darstellt.
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betrieb am Beispiel der Umbenennung des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in ein Institut der Max-PlanckGesellschaft und deren bis heute zweifelhafte Haltung zu diesem Prozess dargestellt (vgl. Hb 153–156). Im Gegensatz zu diesen akademischen Traditionslinien wird in Tomboy auf eine Denkrichtung verwiesen, die sich als Weiterentwicklung der Cultural Studies, jüngerer Medien-Theorien und des poststrukturalistischen Denkens begreift: Auf die Poptheorie bzw. die deutsche Pop-Linke, die seit den 1980er Jahren vor allen durch die Werke Diedrich Diederichsen bekannt wurden. Dieser beschreibt das popkulturell inspirierte ›Selberdenkertum‹ wie folgt: [e]in dem Selbstwiderspruch nicht abgeneigtes, anti-kanonisches, eklektizistisches, ›rhizomatisches‹ Reden und Denken […]. Das Selbstdenkertum ist die Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln, bzw. die Fortsetzung der Poesie im Zeitalter ihres Erfolges über Partei und Akademie. Der Begriff umfasst alles, was vom schreibenden Künstler, über Stadtzeitschriften- und Zeitgeistblätter-Kolumnisten, ›französisch‹ geprägten Theoretiker außerhalb und am Rande der Unis, Designphilosophen bis zum Autor dieser Zeilen in den 80er Jahren unter Bedingungen Gehör gefunden hat, die der wesentlich rigidere Kultur- und Wissenschaftsbetrieb der 70er ihnen verweigert hätte. (Diederichsen 1998: 186f.) 209
Neben der Unabhängigkeit vom wissenschaftlichen Betrieb wird hier eine eigenständige Form der Theoriebildung betrieben, die sich häufig auf unkommentierte Zitate aus der Popmusik stützt.210 Tomboy beschreibt somit auch, wie der akademische Welt neue, produktive Anregungen erhält: Nicht nur die Protagonisten betreiben ihre Forschungen und Theoriebildungen frei und vom Universitätsgeschehen relativ unabhängig, auch ihre Themen begreifen sich als Kritik an traditionellen Theorien, die zudem neue Schreibformen nutzen (z.B. Vivians Arbeit in Frageform über Otto Weiningers Schriften). Doch auch andere Figuren des Romans zeigen, dass es möglich ist oder sein sollte, an Universitäten über Themen zu forschen, die bislang eher die Poplinke in Essays beschäftigte.211 Wenngleich die Eroberung der Hochschulen durch die Cultural Studies bereits im Gange zu sein scheint oder von den Romanfiguren doch zumindest
209 | Diederichsen lehrt allerdings inzwischen selbst im akademischen Betrieb. 210 | Als Beispiele, in deren Tradition in weitestem Sinne auch Thomas Meinecke steht, wären Helmut Salzingers Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? (1972) und Diedrich Diederichsens Sexbeat (1985) zu nennen. 211 | So entsteht eine Dissertation zur These, »dass die Neue Rechte der USA ganz unmittelbar aus dem nur vermeintlich gegenkulturellen Liedgut Jefferson Airplanes abgeleitet werden konnte« (Tb 122), sowie eine »germanistische[ ] Arbeit über Laurence Rickels’ These von Goethes Werther als erstem Beach Boy der Geschichte« (Tb 224).
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erwünscht wird, so wird die Fixierung der Figuren auf (neuere) wissenschaftliche Theorien immer wieder Gegenstand einer gewissen Komik, indem die diffizilen theoretischen Ausführungen mit simplen Alltagsgeschehnissen kombiniert werden (vgl. Tb 90 u. 237). Der biedere, analytische Ernst der traditionellen Wissenschaft wird also konterkariert – ganz im Sinne der eher spielerischen dekonstruktivistischen Verfahren, die den Protagonistinnen selber viel Freude bereiten und die vom Erzähler in einen ironischen, komischen Kontrast zu Alltagstätigkeiten gesetzt werden, wenn sie zu ausschweifend entwickelt werden. Meinecke löst also in seinen Romanen die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache auf, imitiert und unterminiert gleichzeitig wissenschaftliche Sprechweisen und ihre Geltungsansprüche. Die Wissenschaftssprache steht neben anderen Sprechweisen wie Zeitungsartikeln, Fragmenten des Pop-Diskurses oder Alltagsgesprächen. Diese Enthierarchisierung lässt sich mit dem Rhizom-Begriff von Deleuze und Guattari beschreiben. Doch nicht nur die Wissenschaftssprache wird ihrer privilegierten Position entbunden – auch die Alltagssprache wird Gegenstand der Romane und an einem politisch korrekten Ideal gemessen, reflektiert und problematisiert. Zudem wird der Wissenschaftsbetrieb als bieder, traditionell und patriachal geprägt vorgeführt, sein analytischer Ernst wird lächerlich gemacht. Demgegenüber werden Ansätze der Cultural Studies und der dekonstruktivistischen Theorie und ihre Fragestellungen als mögliche Erneuerer des Wissenschaftsbetriebs exemplarisch vorgeführt.
3.2.2. Minoritär-distinktive Positionsfelder. Popkulturelle Archive, Erinnerungsdiskurse und verlangsamte Gegenwart Literarische Texte können als Popliteratur kategorisiert werden, wenn sie spezifische popkulturelle Archive (Baßler) bzw. Positionsfelder (Parr) nutzen oder einen spezifischen Bezug zur Gegenwart (Schumacher) herstellen. Tomboy und Hellblau rufen spezifische minoritär-distinktive Positionsfelder auf, die sich in einen Gegensatz zu den Positionsfeldern der ›Mainstream-Popliteratur‹ stellen lassen. Zudem können beide Romane als eine Archivierung der Gegenwart beschrieben werden, allerdings rufen sie – im Vergleich mit anderen avancierten popliterarischen Texten wie jenen von Rainald Goetz oder Andreas Neumeister – auch Diskurse der Erinnerung auf und können durch ihren hypotaktischen Sprachstil eher als Verlangsamungen des Gegenwartsbezugs verstanden werden. Underground Resistance versus Oasis. Minoritär-distinktive Positionsfelder Rolf Parrs Theorie der Positionsfelder beschreibt popliterarische Texte als solche, die ihre archivierten popkulturellen Gegenstände bewerte, indem sie sie auf Matrizen und Skalen anordnen. Die aufgerufenen popkulturellen Archive
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in literarischen Texten können auf diese Weise als ›normalisiert‹ oder ›abweichend‹ beschrieben werden, zudem geraten die affirmativen, ironischen oder ablehnenden Positionierungen der Figuren zu den Archiven wie auch die kulturellen Abgrenzungs- und Ausschlussverfahren in den Blick. Popliterarische Texte können sich somit beispielsweise durch die von ihren Figuren affirmativ aufgerufenen minoritären popkulturellen Positionsfelder in den subkulturellen Diskurs der Subversion einschreiben oder aber, indem die Romanfiguren beispielsweise die führende Position des hochkulturellen Kanons angreifen, wenn sie dessen Werke auf einem Positionsfeld die Position unterer Abweichung zuschreiben, in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion. Diese Verfahren sollen im Folgenden an Beispielen aus Thomas Meineckes Roman Hellblau, die mit Listenverfahren in Texten von Benjamin von StuckradBarre und Florian Illies kontrastiert werden, detaillierter gezeigt werden (die in Tomboy vorhandenen Listen dienen weniger einer minoritär-distinktiven Positionierung als vielmehr der Charakterisierung von Figuren212 oder Orten,213 der Parodie historischen Wissens214 oder der Verknüpfung des Erzählten mit der aktuellen kulturellen Gegenwart).215 Der Protagonist in Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998) trauert seiner verflossenen Beziehung mit Katharina nach und findet Trost bei der Musik der Britpop-Band Oasis, die zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung einige Millionen CDs ihres Albums (What’s The Story) Morning Glory? (1995) verkauft hatte und die auch hierzulande sehr bekannt war (und in einem inszenierten Streit mit anderen Britpop-Bands wie Blur stand, welche denn die beste unter ihnen sei).216 Am Ende des Buches kulminiert die Zuneigung des Protagonisten als Fan der Band in Bekenntnissen wie »Jede eigenkomponierte B-Seite von Oasis ist jeder A-Seite von 95 % aller anderen Britpop-Bands um ein Vielfaches überlegen« (Stuckrad-Barre 1998: 242) oder »Oasis sind ja die Größten, das sagen wir, das sagen die. Ist ja völlig egal, was die anderen behaupten.« (Stuckrad-Barre 1998: 243) Mit Parr gesprochen wird hier das Positionsfeld ›Rankingliste Britpop‹ eröffnet, Oasis in Form einer starken Abweichung nach oben auf den ersten Platz gesetzt, alle anderen Bands werden mit Abstand auf die 212 | Z.B. die verwüstete Einrichtung Bodo Petersens (Tb 250), eine Bestandsaufnahme von Korinna Kohns Kleidungsstücken (Tb 226). 213 | Z.B. die vom Kleinen Buckel aus sichtbaren Gebäude in Heidelberg (Tb 248). 214 | Z.B. das Verkaufsprogramm der BASF von 1966 (Tb 73), die Kunststoffe eines Wohnzimmers aus der Wirtschaftswunderzeit (Tb 192). Die durch das ausführliche Zitat des Verkaufsprogramms erzeugte Parodie wird von Baßler jedoch nicht beschrieben, vielmehr nennt er die 27zeilige Aufzählung der BASF-Verkaufsprodukte von 1966 »seinen schönsten Katalog« (Baßler 2002: 141). 215 | Z.B. die Themen des Sommers 1997 (Tb 107f.). 216 | Die Oasis-Verehrung bestimmt auch die Form des Buches: Es heißt Soloalbum, besteht – wie eine LP – aus A- und B-Seite, die jeweils die 14 Kapitel beinhalten, die allesamt einen Oasis-Song als Titel besitzen, von Roll With It bis Rock ’n’ Roll Star.
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folgenden Plätze verwiesen und stellen die normale und somit – in diesem Fall – nur unattraktive Alternative dar. Diese Rankingliste wird vom Protagonisten des Buches (und seinen Freunden, die ebenfalls Fans sind und mit zum Konzert nach Berlin reisen) erstellt und bestätigt, andere Figuren aus dem Buch äußern sich nicht zu diesem Positionsfeld. Das ›Positionsfeld Britpop‹ war zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung ein bei jüngeren deutschen Pop-Interessierten sehr virulentes Thema (die meisten Jugendlichen kannten wohl Songs wie Wonderwall, Don’t Look Back In Anger, Whatever oder Morning Glory). Diese eindeutige und unhinterfragte Präferenz des Protagonisten für Oasis schreibt ihn ein in einen naiven und als Mainstream zu verortenden Diskurs der popinteressierten Milieus. Zugleich setzt sich der Protagonist von anderen Beispielen des popmusikalischen Mainstreams vehement ab, z.B. von dem »ganz besonderen Schrott von Bryan Adams oder Melissa Etheridge, Pearl Jam oder den Stones (oder wie die alle heißen, die man so hasst).« (Stuckrad-Barre 1998: 20)217 Alle genannten Sänger und Bands geben ihre Konzerte in großen Hallen, ihre Videos laufen regelmäßig auf den Musiksendern und entstammen somit allesamt dem Pop- und Rock-Mainstream. Wie nah die Bands und ihre Musik im Kontext der Popmusik beieinander liegen, mag die Tatsache belegen, dass auf den berühmten deutschen Kuschelrock-Samplern sowohl von Oasis als auch von Bryan Adams und den Rolling Stones Lieder zu finden sind, die zur damaligen Zeit unter Pubertierenden große Verkaufserfolge erzielten.218 Die Hauptfigur im Soloalbum eröffnet also ein sehr beschränktes Musik-Positionsfeld, das zudem komplett dem Mainstream entspricht, und bemüht sich in einer großen Geste um fundamentale Unterscheidungen – während alternative Felder komplett ausgeblendet werden. Diese Positionsfelder des popkulturellen Mainstreams, die ähnlich in Florian Illies’ Generation Golf. Eine Inspektion und teilweise auch in Christian Krachts Faserland aufgerufen werden,219 sind Meinecke suspekt, wenn er (nicht direkt auf von Stuckrad-Barre oder Illies bezogen) feststellt: 217 | Diese Sänger und Bands stehen exemplarisch für jene Musikrichtungen, die auf dem ›Positionsfeld Rock- und Popmusik‹ unter Britpop zu verorten sind: der eher härtere ›Crossover‹-Stil (Pearl Jam), die ›Oldies‹ (Rolling Stones), der ›Kuschel-Pop‹ Bryan Adams’ und der ›Kuschel-Rock‹ Melissa Etheridges, wobei sich Etheridgeauch als lesbische Künstlerin politisch engagiert, mit ihrer ehemaligen Partnerin zwei Kinder hat und also – ohne dass dies im Buch thematisiert würde – als Repräsentantin einer minoritären Position im Sinne einer unteren Abweichung auf dem Positionsfeld der Popmusik angeordnet werden könnte. Alle diese Richtungen gehören jedoch zum allgemein bekannten und in den Charts vertretenen Mainstream. 218 | Auch Songs von Meliassa Etheridge würden durchaus auf die Sampler passen; die doch etwas ›härtere‹ Musik von Pearl Jam fällt ein wenig heraus. 219 | Illies scheint sich darum zu bemühen, den kleinsten gemeinsamen Nenner der zwischen 1970 und 1980 Geborenen und der von ihnen konsumierten Produkte von
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Literatur und Subversion Das Namedropping – auch gerade von Musik – dient in diesen Texten, wenn sie schwach sind, nur der Verständigung über gemeinsame Errungenschaften mit der Leserschaft. Das ist immer retro, das ist immer konservativ, heißt, sie spielen unser Lied. Namedropping kann auch einen ganz anderen Effekt haben. Nicht den des Vereinfachens, sondern des Verkomplizierens, analog zur Komplexheit der Dinge. Wenn ich die Platten der World Power Alliance (Underground Resistance Projekt) aufzähle, kennen das vielleicht 0,001 % der Leser. Man kann Namedropping progressiv einsetzen, im Sinne eines nie Ankommens des Drops. (Meinecke, zit. nach: Bunz/Joswig 2001)
Dies sei an zwei Beispielen aus Hellblau belegt. Zunächst taucht Mariah Carey mehrfach auf, die als weltweit bekannte Sängerin dem musikalischen PopMainstream zugehört, allerdings nicht als Sängerin oder Objekt eines emphatisches Fan-Daseins. Sie ist zwar vielen bekannt, aber wahrscheinlich haben nur ganz wenige sie bislang als Objekt der Frage betrachtet, die von Tillmann an Yolanda gestellt und an ihr als einer populären Figur exemplarisch durchexerziert wird: »Welche Farbe hat Mariah Carey?« (Hb 10) Tillmann und Yolanda interessieren sich in ihrem Bemühen um die Beantwortung der Frage für Careys Biografie und zitieren intensiv aus ihren Selbstbestimmungsversuchen,220 schauen aber dazu gerade auf die Rückseite dessen, was im medialen Pop-Diskurs bekannt ist.221 Erst auf Seite 125 folgt ein kurzer Hinweis auf das neue Album Careys, bevor der Text sich wieder der Frage widmet, welche Hautfarbe Mariah Carey habe (vgl. Hb 190f. u. 302). Somit spielt zwar eine MainstreamSängerin eine Rolle in einem Positionsfeld – dieses wird jedoch nicht von den populären Musikcharts und ihren nummerischen Verfahren bestimmt, vielmehr geht es um das Positionsfeld ›Hautfarbe‹ mit den Spektrengrenzen Nutella über Capri-Sonne bis zu BMX-Rädern etc. beschreiben zu wollen (vgl. Illies 2000). Johannes Ullmaier zeigt am Beispiel der – in klischeehafter Weise – mit den Insignien der kulturellen Alternativkultur (wie Spex- und Texte zur Kunst-Lektüre, Interesse an Hip-Hop und Independent-Bands, antirassistische Haltung, lange Koteletten, Bier aus der Flasche) versehenen Varna, die vom snobistischen Ich-Erzähler in Christian Krachts Faserland aggressiv beschimpft wird, wie die Abgrenzungen einer ›Neuen Mitte‹ oder eines ›dandyhaften Bürgertums‹ gegen den Diskurs der ›Poplinken‹ funktionieren, vgl. Ullmaier 2001: 33f.; Kracht 1997: 69. Meinecke bedient sich nach eigener Aussage an genau diesem ›linken Mediendiskurs‹, für den Krachts Figur Varna abgekanzelt wird: »Mich interessiert genau das, was gleichzeitig in De:Bug, Spex, Texte zur Kunst oder in Konkret verhandelt wird. Worüber die Leute in den Clubs, in den Bars oder Cafés reden.« (Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 113) 220 | Im Text heißt es: »Coming from a racially mixed background, I always felt like I didn’t really fit in anywhere.« (Hb 12) 221 | Vgl. das Zitat: »If you see me as just the princess then you misunderstand who I am and what I’ve been through.« (Hb 13)
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›Schwarz‹ und ›Weiß‹, für das die Musik keine Relevanz hat. Zudem lässt sich eine klare Position für Carey nicht finden: Während Oasis eindeutig und einfach ›die Größten‹ sind, muss über Carey schließlich resignativ festgestellt werden, dass sie ›doesn’t fit in anywhere‹. Alle Positionierungsversuche werden schließlich abgebrochen, so dass der Sinn des Positionsfeldes selbst in Frage steht.222 Ein weiteres Beispiel ist das bereits von Meinecke selbst genannte »Detroiter Techno Label Underground Resistance« (Hb 20), auf dem u.a. die Band Drexciya veröffentlicht. Cordula lobt deren »Doppel-CD The Quest«, findet »es absolut irre, wieviel die uns mit ihren abstrakten, wortlosen Kompositionen zu erzählen in der Lage sind« – und erläutert dementsprechend die verschiedenen Möglichkeiten, warum ihr »Techno, dessen tatsächlich unsichtbare Stadt praktisch gar keine Straßen hat […], dennoch als radikal dissidentes Medium erscheint.« (Hb 21) Auch Tillmann pflichtet bei und erinnert sich an das »Underground Resistance Nummer 42, The Turning Point, 1997«, ein »[g]randioses Doppelalbum«, das zugleich die Erklärung enthält: »Rhythms and music is our only surviving link to what we are and the only voice of our ancestors.« (Hb 49) Die Begeisterung der beiden schließt jedoch ein kritisches Nachdenken über Drexciya nicht aus: Einer der beiden schwarzen Musiker, der sich Dopplereffekt nennt, spiele in einer problematischen Weise mit Begriffen des Nationalsozialismus: »Tillmann berichtet von der Irritation weißer europäischer Mittelstandsintellektueller über Dopplereffekt-Titel wie Rassenhygiene. Über den Namen seines Musikverlags: Ahnenforschung. Sie fragen sich, ob die stilisierte Germanophilie des Dopplereffekt womöglich eine faschistoide sei.« (Hb 101) Diese kritische Reflexion der Sprachspiele, die der im Text archivierte Musiker Dopplereffekt betreibt, durch die Romanfiguren, ist ein weiterer Beleg für die auch von Claudia Breger vertretene These, dass »jene sympathisierende Perspektive gegenüber dem gesammelten Material, die Baßler dem neuen Pop-Roman insgesamt attestiert hat«, in Hellblau vorhanden ist. Auch Breger sieht die Archivierungsverfahren des Textes »durch ein kritisches Interesse motiviert, das sich angesichts der Abwesenheit einer übergeordneten Erzählstimme in der Konvergenz der archivierenden Protagonistenperspektive artikuliert.« (Breger 2003: 201) Auch das Verhältnis von kleineren Labels wie Underground Resistance zu Majorverlagen wie Sony und die damit verbundenen Kämpfe werden nicht glorifiziert, sondern in kritischer Weise thematisiert (vgl. Hb 127f.). Allerdings fokussieren die Figuren auf jene Ereignisse und Stätten der Musikwelt, die in einem Positionsfeld der ›Mainstream-Popliteratur‹ als untere Abweichung ein222 | Abgesehen von der Nachbarin, die lapidar feststellt: »Na, was denkst du, is she or isn’t she? […] Yes, she is, triumphierte Shanice mit einem Luftsprung. Und damit war Mariah Carey schwarz.« (Hb 11) Diese eindeutige Festlegung wird auf den folgenden beiden Seiten jedoch fundamental in Frage gestellt – und Shanice steht somit exemplarisch für eine Person, die emphatisch an der ›Farbidentifizierung‹ von Menschen mitwirkt.
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geordnet würden: »Unbedingt herausbekommen: Ob der historische Detroiter Club The Liedernacht, wie im Rough Guide to Techno, tatsächlich The Leidernacht buchstabiert wurde.« (Hb 315) Es werden also nicht nur minoritäre oder subkulturelle Musiklabels und Musiker ins Archiv des Textes eingeschrieben, sondern die Figuren reflektieren in ihrer Fan-Haltung zugleich kritisch und auch aus dem Bewusstsein heraus, dass sich Musik immer in ein gesellschaftliches Zeichen- und Machtsystem einschreibt und sich dabei dessen hegemonialen Diskursen gegenüber öffnen, verweigern oder auf verschiedene Arten mit ihnen spielen, gar sich selbst als subversiv inszenieren kann. Die popkulturellen Positionsfelder in Hellblau schreiben diesen Text also in den subkulturellen Diskurs der Subversion ein, zu dem sich die Figuren aber zugleich auch kritisch verhalten. Im Gegensatz dazu lässt sich die unkritische Begeisterung des Soloalbum-Protagonisten für die Mainstream-Band Oasis als ungebrochen und das zugehörige Positionsfeld somit als majoritär bezeichnen. Es existieren also drei Beispiele für die Nennung von Bands (Oasis), Musikrichtungen/-labels (Techno/Underground Resistance) oder Musikerinnen (Mariah Carey), die allesamt im Rahmen von Positionsfeldern in ein Verhältnis zu anderen Bands (Brit-Pop) oder Musikrichtungen/-labels (dissidente/subversive Musikrichtungen heute) gesetzt oder unter eine divergierende Fragestellung (welche Hautfarbe?) gestellt werden. Die jeweilige Funktion im Text, die die Nennung von Oasis, Mariah Carey oder Underground Resistance hat, lässt sich nur klären, wenn man die von Baßler und Parr vorgeschlagenen Analysen popkultureller Archive bzw. Positionsfelder in popliterarischen Texten ergänzt. Neben die Herausarbeitung des Archivs (Baßler) und des Positionsfeldes (Parr) muss zusätzlich noch eine Analyse des Verhältnisses von Erzähltem, Figuren und Erzählperspektive zum Positionsfeld und seinen Inhalten einerseits sowie andererseits eine Analyse der spezifischen Auswahl des popkulturellen Bezugs aus dem ›gesamtkulturellen Positionsfeld‹ treten. Meinecke empfindet sich »immer noch eher als subkulturell und auch hauptsächlich einer über Musik definierten Subkultur zugehörig« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998). Vor diesem Hintergrund lassen sich die Verweise auf unbekannte Labels und Musiken, die zudem aus kritischer, wenngleich bewundernder Perspektive von den Figuren konsumiert werden, als eine doppelte minoritär-distinktive Positionierung verstehen: Erstens gegen die von Meinecke als ›konservative Retro-Archive‹ bezeichneten Positionsfelder, die sich z.B. in den Büchern Soloalbum von Benjamin von Stuckrad-Barre und Florian Illies’ Generation Golf finden und nur darauf zielen, »von dem zu sprechen, was man schon kennt, ein Repertoire aus Vereinbarungen darüber zu etablieren, was man an Marken und Fernsehserien prägend hinter sich hat.« (Diederichsen, zit. n. Schumacher 2003a: 205) Zweitens wirken sie wie eine Stellungnahme gegen den traditionellen bürgerlichen Bildungsbegriff, denn das »Bildungsgut […] des historischen Wissens […] ist einfach immer noch politisch und rein klassenmäßig nicht für alle verfügbar. Das, was ich dagegen voraussetze, ist für alle ir-
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gendwie verfügbar. ›Pop‹ im weitesten Sinne ist doch Gott sei Dank nicht so ein Bildungs- oder Schulbildungsding.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Insofern sind die zahllosen Verweise auf popkulturelle Produkte im Sinne Fiedlers auch als ein Versuch zur Demokratisierung des Lesens und des Mediums Buch zu lesen – jenseits hochkultureller Traditionen und Wissensarsenale. Doch seit Fiedler 1968 antrat, die Grenzen zu überqueren und die Gräben zu schließen, hat sich vieles verändert – die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur verlaufen nicht mehr so klar wie damals: Pop an sich ist für mich immer erstrebenswert als eine Distanz zur Hochkultur, wenn auch Pop inzwischen ebenfalls Hochkultur geworden ist. Dennoch kann Pop immer noch sehr schnell reagieren, kann sich also partisanisch ganz bestimmten Dingen verweigern, einiges nur Eingeweihten lesbar machen. Was nun nicht im herkömmlichen Sinne als Elite zu verstehen ist, da die Pop-Eliten ja ganz anders verlaufen als die Eliten der Hochkultur. Pop-Eliten können sich aus den verschiedensten Schichten rekrutieren, denn Pop ist kein Bildungsgut, kein Schulabschluss-Problem. (Meinecke, zit. n. Büsser 1998: 134)
Meineckes ästhetische Position als avancierter Popliterat führt ihn jedoch in eine Aporie, denn seine Texte setzen sich in einer hypotaktischen Sprache mit theoretischen Problemen eines akademischen Milieus auseinander, zudem pflegt er »einen durchaus elitären Umgang mit der Populärkultur« (Mazenauer 2006: 391). Die Romane und ihre Positionsfelder zielen somit auf eine höher gebildete Schicht, die dann allerdings vor allem ausgefallene poststrukturalistische Theorien und unbekannte Musiken decodieren können muss, was durchaus auch ein ›Schulabschluss-Problem‹ sein kann. Dies ist eine Folge der weit reichenden Auflösung jener Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur, gegen die Leslie A. Fiedler in den 1960er Jahren noch wetterte; Meineckes Abgrenzungsstrategien als Suhrkamp-Autor gegen die ›Mainstream-Popliteratur‹ müssen auf ein neues Expertenwissen rekurrieren (das bei Meinecke zudem noch mit der Archivierung akademischer Diskurse verbunden wird). In einem Essay hat Meinecke selbst formuliert: »Pop interessiert sich zwar für das Populäre, doch Pop muß nicht selbst populär sein«. Seine Literatur richte sich gegen »[d]ie neue Mitte« und die zugehörigen »Verständigungstexte« (Meinecke 2000: 189) der Mainstream-Popliteratur‹, deren Positionsfelder Differenzierungen nur innerhalb des popkulturellen Mainstreams vornehmen. Als affirmativ wären somit Positionsfelder zu bezeichnen, die z.B. popkulturelle Gegenstände des gesellschaftlichen Mainstreams (wie die Top Ten aus den Charts) summieren, zu denen sich die Romanfiguren affirmativ verhalten. Im Gegensatz dazu stünde ein Positionsfeld, das unbekannte oder subkulturelle Gegenstände präsentiert und die Romanfiguren in ein affirmatives oder interessiert-kritisches Verhältnis zu diesen stellt. Ein solches Archiv könnte durchaus als subversiv gedacht werden, hat jedoch zugleich das Problem, dass
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es mit einem für das Prinzip ›Pop‹ eigentlich fundamental wichtigen Merkmal brechen muss: Lag eine entscheidende befreiende und subversive Wirkung von ›Pop‹ in den 1960er Jahren noch darin, dass er mit dem Expertentum und der Hochkultur brach, so ist inzwischen der Rekurs auf die befreiende und subversive Wirkung von ›Pop‹ nur mehr möglich, wo dieser verkompliziert wird und eine neue Form von Expertentum entsteht. Diskursarchive und der Nationalsozialismus. Die sprachliche Verlangsamung des Gegenwartsbezugs Eckhard Schumacher analysiert in Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart auch Meineckes Roman Hellblau und kommt zu dem Ergebnis, dieser sei primär das »Projekt einer ›Geschichte der Gegenwart‹.« (Schumacher 2003a: 204) Auch Meinecke erklärt ganz in diesem Sinne in einem Essay: »Bei allem Schreiben ist es mir immer um die Gegenwart gegangen.« (Meinecke 2000: 183) Er bildet, so könnte man seine Äußerungen über sein eigenes Schreiben zusammenfassen, die aktuelle kulturelle Gegenwart während des Schreibprozesses ab, denn dabei geht es ihm »um die Dinge, die mir durch den Kopf gehen, während ich den Text schreibe, oder um das, was in den Nachrichten vorkommt.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Dies mag in gewissem Sinne auf den Roman Tomboy zutreffen, über den Baßler feststellt, der »Text ist […] ein Diskursarchiv […]. Durch das Pastiche-Verfahren gelingt es ihm, einen begrenzten zeitgenössischen Diskurs im Text zu objektivieren« (Baßler 2002: 153f.), in diesem Fall den akademischen Gender-Diskurs der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Meinecke selbst bezeichnet Hellblau nicht als eine Geschichtsschreibung der Gegenwart, sondern als seinen Roman über den Antisemitismus und den Holocaust.223 Tatsächlich ist der Text voll von Verweisen auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands und Zitate historischer Quellen.224 Der Text wird von vier Komplexen durchzogen, die immer wiederkehren: Erstens die Relikte aus dem U-Boot-Krieg der Deutschen vor der US-amerikanischen Küste in North Carolina; zweitens die Beschäftigung Heinrichs mit Ronald Reagans Besuch des Friedhofs in Bitburg 1985, auf dem sich auch SS-Gräber be-
223 | »Hellblau ist mein Buch über den Holocaust. Es ist jedoch sehr interessant, dass es von der Kritik als solches nicht wahrgenommen worden ist.« (Thomas Meinecke; diese Aussage wurde von Thomas Meinecke in einem Gespräch mit dem Verfasser, das am 26. September 2003 in Dortmund geführt wurde, gemacht und nachträglich von ihm autorisiert.) 224 | Dies ist in Tomboy nur eingeschränkt der Fall, wie z.B. im Verweis auf die »ungeliebte Wanderausstellung über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg«, die – eine Topografie der Subversion aufrufend – »unten im Schiff (der Frankfurter Paulskirche) rumorte« (Tb 53).
Pop, Literatur und Subversion
finden (vgl. Hb 53–55, 78–82, 92f., 129, 212f. u. 321f.); drittens die Auseinandersetzung mit den Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus und Insassen von Konzentrationslagern, in Verbindung mit Verweisen auf deren Erfahrungen und das Wirken von Antisemiten wie Henry Ford zur damaligen Zeit (vgl. Hb 83f., 121f., 130–132, 172–174 u. 312f.); viertens gegenwärtige antisemitische Vorfälle und Gewalttaten und deren Kontextualisierung in einer historischen Linie mit ähnlichen Taten bzw. deren heutige Verfolgung (vgl. Hb 36, 104–109 u. 298f.). Neben die ›Geschichte der Gegenwart‹ tritt somit die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung. Allerdings werden die Vergangenheit und die Erinnerung nicht über die persönlichen Erinnerungen von Figuren und nur indirekt über ihre Lebensgeschichten vermittelt (Heinrich und Yolanda sind in Bitburg aufgewachsen, haben Fotos und Erinnerungen; den Reagan-Besuch rekonstruiert Heinrich jedoch mit Hilfe von fremden Texten), vorrangig befassen sich die Figuren mit Materialien, die über das Vergangene auch in der Gegenwart berichten. Diese Fortschreibung und Reflexion der Erinnerung an die Shoa stellt sich in einen Gegensatz zu anderen Autorinnen und Autoren aus dem popliterarischen Kontext (wie z.B. Florian Illies), deren Texte sich in den Diskurs der nationalen Normalisierung Deutschlands einschreiben – weder werden dort Dokumente oder Materialien aus der Vergangenheit zitiert noch werden rassistische oder antisemitische Ereignisse in der Gegenwart als solche benannt und in eine Linie mit Vergangenem gestellt, vielmehr wird sogar der gesamte Erinnerungskomplex als obsolet abgetan (vgl. Illies 2000: 175). Zwar sind Meineckes Texte geprägt von einem starken Gegenwartsbezug, von enthistorisierender Gegenwartsaffirmation kann bei ihm (vor allem in Hellblau) jedoch nicht gesprochen werden. Dadurch setzt er einen Kontrapunkt gegen die meisten anderen Texte der deutschsprachigen Popliteratur. Die bei Meinecke vorhandene Skepsis gegen einen rein affirmativen Bezug zu Gegenwart, Augenblick und Tempo schlägt sich jedoch nicht nur in seinen Inhalten nieder, sondern auch in seinen Erzählstrukturen und seiner Syntax. Seine Romane verfügen über deutlich geordnetere und chronologischere narrative Strukturen als z.B. die parallel vom Suhrkamp Verlag veröffentlichten Texte Rave von Rainald Goetz und Gut laut von Andreas Neumeister, seine Syntax ist wesentlich hypotaktischer und damit gleichsam verworrener, verlangsamend. Die drei Bücher sollen im Folgenden bezüglich ihrer narrativen und reflexiven Muster sowie ihres Stils miteinander verglichen werden,225 der Vergleich soll 225 | Die Texte von Meinecke, Goetz und Neumeister erschienen allesamt 1998. Der Suhrkamp Verlag bewarb die Texte, den damaligen Popliteratur-Boom nutzen wollend, mit einer Anzeige, auf der neben den drei Buchcovern lapidar das Wort ›Pop‹ abgebildet wurde. Von daher liegt ein Vergleich dieser drei Texte nahe, zumal sie in allen popliteraturtheoretischen Abhandlungen der letzten Jahre als popliterarische Texte klassifi-
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zeigen, dass der hypotaktische Stil Meineckes in einem Kontrast zu den schnellen, gebrochenen und lockeren Kommunikations- und Sprechweisen der popkulturellen Milieus in der Gegenwart steht. Rave von Rainald Goetz ist beispielsweise Teil einer fünfbändigen ›Geschichte der Gegenwart‹, eine enthistorisierte Suche nach dem Augenblick, der Gegenwart und dem Ereignis: »Und der große Bumbum sagte: eins eins eins –/ und eins und eins und –/ eins eins eins –/ und –/ geil geil geil geil geil …« (Goetz 1998: 19; vgl. auch Schumacher 2003: 111–154) Das Buch gibt einen literarischen Einblick in die Techno-Szene und setzt die von der Droge Ecstasy und den vielen beats per minute modifizierte Wahrnehmung innerhalb dieser Szene auch sprachlich um, indem es harte Schnitte verwendet, die Sätze zumeist abhakt und den Rhythmus des Techno zum Rhythmus der Erzählung macht: Gehalten vom Gehämmer. Dann sah ich, wie sie mir ihr – Und drehte mich – Und lauter neue Blicke. Ich lachte, weil – Ich weiß nicht so genau – Und drehte mich um. »Was ist denn?« Ach so, ja, ja. Gut. Okay. (Ebd.: 18)
Doch nicht nur die Sätze selbst werden abgehakt, auch die jeweiligen Reflexions- und Sprachblöcke folgen in einem viel schnelleren Wechsel aufeinander als bei Meinecke. Auch in Gut laut sind kürzere Erzähl- und Reflexionsblöcke als in Meineckes Texten die Regel. Abgesehen davon werden die Blöcke immer wieder von Abbildungen (die mit dem Kürzel »Abb.« eingeleitet werden), einzeiligen Sätzen, grafischen Elementen (der visuellen Poesie ähnlich) und seriellen semantischen Minimalverschiebungen unterbrochen – auf diese Weise bildet Neumeister sprachlich das Kassettenmitschneideverfahren ab, dessen Einführung und Weiterentwicklungen in den 1970er Jahren und danach Drehund Angelpunkt des Erzählten sind. Im Vergleich mit den Schreibtechniken aus Rave und Gut laut sind Tomboy und Hellblau eher hypotaktisch und verlangsamend erzählt, sind die jeweiligen Reflexionsstücke ausführlicher und ist das Erzählte somit komplexer. Während sich Meineckes Romane in einem akademischen Diskurs bewegen, befassen sich Neumeister und Goetz in ihren Texten mit musikalischen Jugendkulturen, die sprachlich in einer Mischung aus der (gesprochenen) Szenensprache und (bei Neumeister) von Songlyrik erfasst werden. Bei Neumeister findet sich nur selten mehr als ein Relativsatz pro Seite, die komplexeren
ziert wurden, vgl. Baßler 2002: 135–153; Ernst 2001: 60f.; Schumacher 2003: 11–18; Ullmaier 2001: 117–128.
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Sätze bei Goetz werden dadurch in ihrer Komplexität relativiert, dass sie die Unbestimmtheit gesprochener Jugendsprache imitieren: Das Flugzeug, das wir hätten nehmen sollen, irgendwann an diesem Nachmittag, haben wir sausen gelassen, und stattdessen die letzte halbe Pille halbiert, und sind runtergegangen an den Pool und dort dann doch irgendwie müde geworden. (Ebd.: 127)
Meineckes Syntax ist hingegen hypotaktisch und komplex, ein beliebiger typischer Satz lautet: Geradezu alttestamentarisch, denke ich, während Vermillion ihre Bluse über dem Davidstern zuknöpft, behalte diese Überlegung aber für mich, da die Vokabel alttestamentarisch im Deutschen, womöglich im gesamten christlichen Abendland, einen antisemitischen Unterton besitzt. (Hb 235)
Dies ist primär den starken Theoriebezügen der Texte geschuldet, die es erforderlich machen, die Semantik der Sätze während ihres Aufschreibens, Sprechens oder Lesens gleichzeitig einer Reflexion zu unterziehen, sie passend zu den Reflexionen der Figuren und der zitierten Theorien zu gestalten. Meineckes Text spielt in einem akademischen Milieu, nutzt dessen komplexe Sprechweisen und besitzt somit ein hohes Maß an komplexen Satzbauten. Darunter leidet allerdings das Tempo des sprachlichen Rhythmus’ seiner Romane, die sich inhaltlich zudem um die Bewahrung von Erinnerung (an den Holocaust) und den Verweis auf historische Kontinuitäten (des Antisemitismus) bemühen. Auch wenn Schumacher zu Beginn seines Buches ausgerechnet Meinecke als Gewährsmann für die These anführt, dass Pop »die totale Gegenwart« bzw. »ein Sich-Verlassen auf die Gegenwart« (Meinecke, zit. n. Schumacher 2003a: 10) sei, so spüren die Protagonisten der erzählten Gegenwart von Hellblau doch gerade auch der Vergangenheit nach. Es handelt sich allerdings nicht um ›Erinnerungs- als Verständigungsliteratur‹ (vgl. Meinecke, zit. n. Schumacher 2003: 9), wie sie Meinecke in weiten Teilen der gegenwärtigen Popliteratur, z.B. in Jana Hensels Zonenkinder oder Florian Illies’ Generation Golf, erkennt, die rückblickend nur den kleinsten gemeinsamen geschmacklichen Erfahrungsnenner einer vermeintlichen Generation oder Gruppe zu formulieren versucht – dafür sind die von ihm vorgeführten Erinnerungsstücke entweder zu wenig allgemein oder, wenn sie eine allgemeine Erfahrung wie den Holocaust symbolisieren, zu negativ konnotiert, um eine Identifikationsmöglichkeit anzubieten. Daneben muss zumindest Hellblau jedoch auch gegen einen avancierten popliterarischen Text wie Rainald Goetz’ Rave abgegrenzt werden, der sich stärker auf das Einfangen des Jetzt bezieht, also auf jene Merkmale, die Schumacher Popliteratur als eine Schreibweise der Gegenwart als des Gegenwärtigen verstehen lassen. Insofern erfüllt Meineckes Literatur einen Dop-
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pelschritt: Während sie sich einerseits als Darstellung und Archivierung einer erzählten Gegenwart beschreiben lässt, berichtet sie von den Rückgriffen ihrer Figuren auf historische Archive und führt somit Diskurse der Erinnerung fort, Zugleich unterminiert sie durch ihre – im Vergleich zu den Texten von Goetz und Neumeister – hypotaktische Syntax und komplexe Sprache die generelle popkulturelle Gegenwartsfixierung.
3.2.3. Theorie als Narrativ. Der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion im Roman Moritz Baßler beschreibt Meineckes Roman Tomboy als »die literarische Archivierung« des »Gender-Diskurs[es] der 1990er Jahre« (Baßler 2002: 135). Dieser Gender-Diskurs bemüht sich um die Subversion der binären Geschlechtermatrix und der hegemonialen Form der (Zwangs-)Heterosexualität. Dennoch kommt Baßler am Ende seiner Meinecke-Untersuchung zum Schluss: »Das ist alles liebenswert und völlig in Ordnung, aber subversiv? Nicht wirklich!« (Baßler 2002: 141) Daher soll in diesem Kapitel näher untersucht werden, in welcher Weise der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion am Beispiel der Gender Studies in Tomboy aufgerufen wird – und ob Baßlers These, die Thematisierung der Gender Studies in Tomboy sei nicht subversiv,226 zuzustimmen ist oder ob sie zu modifizieren wäre. Die Verkehrung der binären Geschlechtermatrix und die Vorführung sexistischer Gewalt in Tomboy Die Hauptfiguren in Tomboy bewegen sich in einem Milieu, das sich ausrichtet auf die Realisierung und Reflexion jener »Diskontinuitäten der Geschlechtsidentität, wie sie […] in den hetero-, bisexuellen, schwulen und lesbischen Zusammenhängen wuchern« (Butler 1991: 199), und also geeignet sind, die hegemoniale binäre und heterosexuelle Geschlechtermatrix der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1996 und 1997, der erzählten Zeit, zu subvertieren. Die Handlungen spielen sich weitestgehend um eine von Frauke Stöver gegründete Frauen-Lesben-Wohngemeinschaft in Handschuhsheim ab. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen der Lesbe Frauke Stöver und der/m Mann-Frau-Transvestitin/en Angela/o; die über den Gender-Diskurs wissenschaftlich forschende, ›eigentlich‹ heterosexuelle Vivian Atkinson, de226 | Auch Baßler nutzt den Begriff ›subversiv‹, ohne ihn näher zu bestimmen. Er begründet seine Behauptung, Tomboy sei nicht subversiv, mit der Feststellung, der Roman parodiere »nicht mehr die heterosexuelle Norm (die kommt im Roman kaum vor)«, sondern den »Gender-Diskurs zu Heidelberg im Jahre 1997 selbst«. Die Figuren des Romans versuchten vergeblich, die Vorgaben des Gender-Diskurses »intellektuell wie lebenspraktisch-performativ einzuholen« (Baßler 2002: 140f.), was durchgehend scheitere.
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ren Vorname als ›geschlechtsneutral‹ gilt 227 und die in ihrer Kindheit als ›Tomboy‹ bezeichnet wurde, hat eine lesbische Erfahrung mit der Bisexuellen Korinna Kohn; Vivan ist befreundet mit Hans228 ›Hänschen Pompadour‹ Mühlenkamm, der Handtaschen tragend seine eigene ›Männlichkeit‹ subvertiert.229 Diese Gruppe von Figuren, die im Sinne des dekonstruktivistischen Diskurses der Subversion durch ihre Denk- und/oder Lebensweisen die hegemonialen Geschlechterkategorien unterlaufen (mit Einschränkungen bei Angela/o Guida), steht im Zentrum des Romans.230 In zwei konzentrischen Kreisen sind weitere Figuren um diese Kerngruppe angeordnet, die allerdings in einem kritischen Verhältnis zum Gender-Diskurs stehen. Zunächst handelt es sich um Mitbewohnerinnen der Frauen-LesbenWohngemeinschaft, an deren Beispiel die terroristischen bzw. minoritär-distinktiven Diskurse der Subversion aufgerufen und problematisiert werden: Pat Meier, die sich materialistischen, terroristischen Konzepten in der Tradition der RAF verschrieben hat, damit jedoch scheitert; Ilse Lehrerin, die als Prototyp einer Differenzfeministin eingeführt und karikiert wird, und die zu alt ist, um die neuen Ansätze der Gender-Theorie zu verstehen und sich schließlich aus der Gruppe entfernt;231 und Genoveva Weckherlin, die kurz als ›hysterischer Frauen227 | Vgl. dazu Mecky: »Der Name ›Vivian‹ wird im International Book of Names als geschlechtsneutraler ›personal name‹ aufgeführt. Auch im Französischen ist ›Vivian‹ sowohl ein Frauen- als auch ein Männername.« (Mecky 2001: 211) 228 | In Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine und in Elfriede Jelineks Das Werk stehen Figuren mit dem Namen Hans Pars pro Toto für alle Männer dieser Welt. 229 | Hans Mühlenkamm, der der einzige ›Mann‹ (neben Angela/o) ist, wird dabei als jemand beschrieben, der Geschlechterkategorien überschreitet: Er ist körperlich zierlich, leidenschaftlicher Cross-dresser (sammelt Handtaschen, verkleidet sich als Frau), bemüht sich um sprachliche Korrektheit und eine autodidaktische Aneignung der Gender Studies, was ihn zu einem großen Judith Butler-Fan hat werden lassen, setzt sich mit der ›Kritischen Männerforschung‹ auseinander und reflektiert seinen eigenen ›männlichen Blick‹, vgl. Tb 17, 29–31, 89, 146f. u. 153. 230 | Zu dieser Gruppe noch zu rechnen wäre Hans Mühlenkamms Schwester Gretel Mühlenkamm, die als Stewardess nur sporadisch auftaucht und sich durchaus erfolgreich am Gender-Diskurs der Protagonistinnen beteiligt, jedoch selbst eine ›normale‹ heterosexuelle Beziehung lebt und als Stewardess beruflich gezwungen ist, stereotype Weiblichkeits- und Schönheitsideale darzustellen, weshalb ihr Bruder bezweifelt, ob sie z.B. »auch für Angela Stöver, geborene Guida, bereit ist? Innerlich?« (Tb 175; vgl. auch 168f. u. 180) 231 | Ilse Lehrerin hieß ursprünglich Schayszhaus, zog in die WG ein nach der Loslösung aus ihrer dreijährigen unglücklichen Ehe, aus der ein Sohn hervorging. Sie gilt als »Habermas-Schülerin« (Tb 46) und wagt es, Foucault, dessen Diskursanalyse eine zentrale Theorie der Gender Studies darstellt, anzugreifen und mit dem rechtskonservativen Staatstheoretiker Carl Schmitt zu vergleichen (eine intensivere kritische
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typus‹ eingeführt wird und als Reinkarnation eines traditionellen Frauenbildes aus der Wohngemeinschaft verschwindet.232 Neben diesen WG-Frauen, die sich nicht in den ›Gender Studies-Kreis‹ integrieren, wird noch ein zweiter Kreis entwickelt, der sich nicht in die Kerngruppe um Vivian Atkinson und Frauke Stöver einfügen lässt und aus Männern besteht. Am freundlichsten wird noch Vivians Professor gezeichnet, der zwar eine Machtposition innehat und – dem Typus ›vertrottelter Professor‹ entsprechend – sonderbare Verhaltensweisen an den Tag legt, sich jedoch nach einiger Überzeugungsarbeit durch Vivian ihrem Gender Studies-orientierten Ansatz gegenüber als offen erweist (vgl. Tb 9f. u. 45f.). Korinnas zwischenzeitliche Liebe Heiner wird als krimineller, weil mit Drogen handelnder, Sexist und Rassist beschrieben – als Prototyp jenes Patriarchen, gegen den die Frauenbewegung ihren Kampf aufnahm. Vivian wünscht sich exemplarisch: »Möge Korinna Kohn so bald wie möglich aus dieser unerklärlichen Gefangenschaft wieder freikommen.« (Tb 112; vgl. auch Tb 64, 110, 117f. u. 218) Auch Bodo Petersen, Vivian Atkinsons Nachbar, steht für den sexistischen und »alte PlayboyMagazine« (Tb 250) lesenden Typus ›Mann‹, der mit der an den Gender Studies uninteressierten Pat Meier eine undurchsichtige Liaison eingeht, über sich Vivian Atkinson – stellvertretend für die ›Gender-Gruppe‹ – verwundert.233 Eine weitere als peinlich, dumm und patriarchal dargestellte Figur ist der Akt-Fotografie-Lehrer Gisbert Gimmel, der sich einer Frauen diskriminierenden Sprache bedient und zum gemeinsamen Feindbild des Modells Korinna sowie der Kursteilnehmerin Frauke wird. Die Hierarchie der Geschlechter- und Sexualitätsmodelle wird also umgedreht: Nimmt in der deutschen Gesellschaft von 1996/97 (und auch noch heute) die binäre und heterosexuell codierte Geschlechtermatrix eine hegemoniale Position ein, während homo- oder bisexuelle Lebensweisen sowie die DenkweiDebatte zwischen ihr und ihren Mitbewohner findet jedoch nicht statt). Diese theoretische Distanzierung hat eine praktische zur Folge: Ihre Liebe zu Frauke Stöver bleibt unerwidert, ihr Sohn – inzwischen erwachsen – hat sich inzwischen in Richtung Berlin verabschiedet und in den beiden letzten Dritteln des Buches taucht sie fast nicht mehr auf, vgl. Tb 12, 21, 41, 46, 86 u. 226f. 232 | Sie wird zu Beginn des Buches bei einem Ladendiebstahl entdeckt, dreht dabei durch, wird verhaftet und landet in Untersuchungshaft. Nach ihrer Entlassung zieht sie – ›die Hysterische‹ – aus und wird durch Korinna – ›die Bisexuelle‹ – ersetzt: Ein Sinnbild für den Austausch eines traditionellen gegen ein (post)modernes Frauenbild, vgl. Tb 34, 40f. u. 130. 233 | Nach einer Nacht, die Petersen gemeinsam mit Pat Meier verbracht hat (die sich noch in der Nacht verabschiedet hat), trifft Vivian ihn mit einem »auffallend verfleckt[em]« Schlafanzug an und findet ihn »auffallend abstoßend. Allein die Haare, welche ihm aus Nase und Ohren wuchsen, konnten eine Frau für den Rest ihres Lebens zur Lesbierin machen.« (Tb 156)
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sen der Gender Studies minoritär bzw. randständig (in den akademischen ›Elfenbeinturm‹ verdrängt) sind, so wird in Tomboy eine Gender Studies-begeisterte Gruppe aus hetero-, homo- und bisexuellen Frauen, einer/m Transvestitin/ en sowie einem sich cross-dressenden Mann ins Zentrum gesetzt, während einerseits Frauen, die traditionelleren Politik- oder Feminismuskonzepten anhängen sowie andererseits Männer, die für jene hier als negativ und ablehnenswert gekennzeichneten patriarchalen Verhaltensweisen stehen, karikiert, an den Rand gedrängt werden oder gar verschwinden. Schon auf der Figurenebene wird somit das Verhältnis von Majorität bzw. hegemonialer Lebensweise einerseits und minoritärer Lebensweise andererseits bezogen auf die binäre und heterosexuelle Geschlechtermatrix umgedreht. Der Status der Figuren lässt sich als jener von ›Sprechfiguren‹ bezeichnen, wie Meinecke selbst vorschlägt: »Das sind keine wirklichen Charaktere, das sind eher Sprechfiguren. Alle zusammen sind dann ich. Die sagen nichts, was ich nicht auch jetzt sagen könnte.« (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 119) Es handelt sich nur in sehr eingeschränktem Maße um Figuren mit einem psychologischen Inneren, die zueinander in Konfliktverhältnissen stehen und die Handlung des Romans voranbringen. Alle Gefühle, Konflikte und persönlichen Probleme werden eher beiläufig, in Nebensätzen, erwähnt. Demgegenüber werden die ›Sprechfiguren‹ benutzt als Rezipienten von Theoremen der Gender Studies, als Projektionsflächen von Zuschreibungen der Gender-Diskurse und als Körper, auf und mit denen mittels unterschiedlicher (Ver-)Kleidungen und Verhaltensweisen verschiedene Geschlechter-Performanzen erzeugt werden.234 Der Roman bildet jedoch nicht nur den Theorie-Diskurs der Gender Studies ab, der Erzähler beschreibt das Leben der Figuren teilweise aus der Perspektive des Differenzfeminismus. Jene an die Gender Studies gemachten Vorwürfe, ihre Dekonstruktion der Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ führe einerseits dazu, dass ein Subjekt der Kritik und Veränderung verloren gehe, andererseits lasse sich die ›als Frau real erfahrene Gewalt‹ nicht mehr benennen, trifft auf Tomboy nicht zu. Im Buch gibt es einige Beispiele für konkrete Gewalt- und Unterdrückungsverhältnisse zwischen Männern und Frauen, die klar benannt werden, insbesondere heterosexuelle Verhältnisse werden als problematisch und durchdrungen von Gewalt präsentiert. Beispielsweise flieht Ilse Lehrerin aus einer heterosexuellen Partnerschaft in die Frauen-Lesben-Wohngemeinschaft Frauke Stövers: »Nach drei wahrhaft höllischen Ehejahren sowie der alptraumhaften Geburt ihres Sohnes Hartmut reichte die von vorn bis hinten betrogene Frau Schulze die Scheidung ein und nahm lieber ihren Mädchenna234 | Allerdings geht Meinecke nicht so weit, die Sprechfiguren zu reinen Diskursreproduktionsmaschinen zu reduzieren, wie dies z.B. René Pollesch in seinen HeidiHoh-Dramen macht, deren Sprechfiguren über keine stringente Biografie mehr verfügen, vgl. Pollesch 2003a.
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men wieder an« (Tb 21). Ilse Lehrerin wird nach ihrer Scheidung lesbisch und verliebt sich, allerdings unglücklich, in ihre neue ›Hausmutter‹ Frauke Stöver, den Werdegang der Ich-Erzählerin aus Verena Stefans differenzfeministischer Erzählung Häutungen (1975) teilend (vgl. Stefan 1994). Ähnlich unglücklich endet Korinna Kohns heterosexuelles Verhältnis mit dem Drogendealer Heiner, der – »ganz in Weiß, auf der Terrasse seines Anwesens« (Tb 110) – wie eine gottähnliche Vaterfigur eingeführt wird, sowie als Sexist,235 »gefährlicher Verbrecher« und »primitive[r] Typ« (Tb 111), der als Abbild seiner selbst eine »unmögliche Dogge« (Tb 110) besitzt, und sich gern männerbündischem Grölen hingibt (vgl. Tb 117), »zu einer metrisch absolut unpassendenden, unüberhörbar dem Horst-Wessel-Lied entlehnten Melodie.« (Tb 118) Die von Heiner schwangere Korinna ist konsterniert ob eines solch primitiven, aggressiven männlichen Verhaltens,236 dem sie sich jedoch nur kurze Zeit später nicht mehr ausgesetzt sieht, da Heiner von der Polizei verhaftet und damit zwangsweise die Beziehung beendet wird, was jedoch auch wieder einen »sehr bitteren Tränenfluss« (Tb 119) Korinna Kohns zur Folge hat. Das einzige funktionierende heterosexuelle Verhältnis lässt sich als solches nicht beschreiben, da es jenes zwischen der Lesbe Frauke Stöver und der/dem mit einem Penis versehenen Transvestitin/en Angela/o ist. Doch auch außerhalb von Beziehungsverhältnissen wird die patriarchale Gewalt gegenüber Frauen vorgeführt. Bereits erwähnt wurde der Akt-Fotografie-Lehrer Gisbert Gimmel, ein personifizierter männlicher Blick und somit für die Protagonistinnen ein »Riesenarschloch« (Tb 36), dessen Geschäft es ist, »seine brünstig erigierten Objektive, Tele-Objektive […] gegen die Frauenwelt« (Tb 37) zu richten. Diesen phallischen Blick auf das Modell Korinna teilt er mit der, »bis auf Frauke, schnauzbärtige[n] Kursteilnehmerschaft« (Tb 37) und reproduziert zahlreiche patriarchale Diskurse, die männliche Gewalt und sexuelle Nötigungen gegen Frauen zu legitimieren versuchen, er stellt u.a. fest: »[ J]ede Lady […] fühlt sich geschmeichelt, wenn ihr erst einmal nachgestiegen wird.« (Tb 38) Neben der deutlichen Ablehnung Gimmels durch Korinna und Frauke, die gegen seine Frauen diskriminierenden Äußerungen protestieren und den Kurs verlassen, wird er auf indirektem Wege karikiert. An die Geschichte vom Akt-Fotografie-Kurs schließt sich ein kurzer Bericht über Gimmels Familiengeschichte an: Seine Vorfahren wurden im 18. Jahrhundert nicht für gut genug befunden, in die Neue Welt einreisen zu dürfen. Zudem stamme
235 | Vgl. seinen Ausruf bei Vivians Erscheinen: »Tolle Figur, rief er schon von weitem und beschrieb mit seinen plumpen Händen die kurvenreichen Umrisse einer griechischen Amphore in die laue Abendluft.« (Tb 110) 236 | Der Erzähler sieht »Korinnas verängstigtes Gesicht […] im muffigen Halbdunkel des Boudoirs«, auch Vivian, die gerade zu Besuch weilt, klopft »das Herz in diesen auf unheimliche Weise turbulenten Minuten bis zum Kehlkopf« (Tb 117f.).
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seine Familie ausgerechnet »aus Eberbach« (Tb 38), er ist also auch von seiner Abstammung her schon ›ein männliches Schwein‹. Die Kritik patriarchaler Diskurse. Tomboy als literarische Einführung in die Gender Studies Der Roman Tomboy besteht zu großen Teilen aus Gesprächen über oder Reflexionen von Theoremen und Problemen der Gender Studies. Die Hauptfiguren diskutieren die Theorien nicht nur, viele Textpassagen lassen sich auch als Referate über Elemente der Gender Studies lesen. Claudia Breger stellt sogar fest, dass der Roman »streckenweise als Einführung in zentrale Themen und Thesen der Gender Studies geeignet ist« (Breger 2000: 103). Der Gender-Diskurs wird in seiner Gesamtheit insofern abgebildet, als dass die wichtigsten Theoretikerinnen der Gender Studies im Buch referiert werden. An vorderster Stelle handelt es sich um Judith Butler, deren Performanz-Theorie von Geschlecht den Gender Studies in Deutschland erst zum Durchbruch verhalf, daneben finden sich einige der wichtigsten philosophischen und naturwissenschaftlichen Gender-Theoretikerinnen,237 US-amerikanische Cultural Studies- und Postkolonialismus-Theoretikerinnen 238 sowie Kulturwissenschaftlerinnen 239 und zwei der prominentesten deutschen Literaturwissenschaftlerinnen aus dem Bereich der Gender Studies.240 Die Referenztexte werden bei den Referaten allerdings kaum direkt zitiert (das gestaltet sich in Hellblau anders). Die Referate dienen jeweils der Auseinandersetzung mit einem konkreten Problem der Gender Studies, erfüllen eine archivierende, zugleich aber auch aufklärerische Funktion, indem sie über das Medium Literatur Eingang in gesellschaftliche Diskurse finden können. Dies soll nun am Beispiel der Adaption der Performanz-Theorie Judith Butlers von den Figuren im Buch gezeigt werden, exemplarisch am Gespräch zwischen den im Sinne der Gender Studies ›aufgeklärten‹ Figuren Frauke, Vivian und Hans einerseits sowie der/m in einem ›katholischen Essenzialismus‹ gefangenen Angela/o andererseits, auf der Rückfahrt von einem gemeinsamen Besuch eines Butler-Vortrags in München. Ausgerechnet die/der theoretisch völlig unerfahrene Angela/o hat sowohl intellektuell als auch religiös Schwierigkeiten, Butlers Thesen zu akzeptieren und stellt daher komisch wirkende Fragen: »Mein schöner Schwanz, nichts
237 | Z.B. Donna Haraway (Tb 57, 58 u. 241), Monique Wittig (Tb 178 u. 239–241) und Luce Irigaray (Tb 178 u. 238f.). 238 | Z.B. Isabell Lorey (Tb 119) und bell hooks (Tb 173f.). 239 | Z.B. Marjorie Garber (Tb 8, 9, 87 u. 154) und Caroline Walker Bynum (Tb 191, 232 u. 233). 240 | Z.B. Silvia Bovenschen (Tb 103–105, 190 u. 211) und Barbara Vinken (Tb 147 u. 190).
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weiter als das Fleisch gewordene Ergebnis politischer Übereinkünfte?« (Tb 90) In Angela/o als Person kreuzen sich die einander widersprechenden Diskurse einer biologischen, essentialistischen Geschlechterdefinition einerseits (hier als ›Prinzip Katholizismus‹ eingeführt) sowie der lustvollen und spielerischen Überschreitung der Geschlechterkategorien andererseits (hier als ›Prinzip Transvestitismus‹ aufgerufen). Es stellt sich heraus, dass Angela/o klar zwischen Körper und Geist trennt, ihr ›körperliches Mannsein‹ als ›natürlich und gottgegeben‹ ansieht (weshalb er/sie auch keine biologische Geschlechtsumwandlung vollziehen will), sich geistig hingegen weiblich fühlt. Das Festhalten an den binären Geschlechtsidentitäten (wenn sie auch vereinigt werden in einer Person) entspricht Angela/os katholischem Glauben, der sich u.a. in ihrem/seinem Abonnement des katholischen Frauenmagazins Monika niederschlägt, das z.B. feststellt: »Ganz einfach Frau zu sein, ist das Lebensgefühl der neuen Weiblichkeit. Die Frau von heute steht selbstbewusst zu ihren typisch weiblichen Eigenschaften, denn emanzipiert ist sie schon längst.« (Tb 92) Diese Differenz zwischen Angela/os religiöser Auffassung und dem von ihr/ihm ›verkörperten‹ Widerspruch zwischen ›männlichem Körper‹ und ›weiblicher Inszenierung‹ wird von Vivian, Frauke und Hans im Sinne Butlers reflektiert – sie stellen fest, dass Angela/o ihre/seine eigene Geschlechterperformanz falsch lese, wenn sie/er nicht einsehen wolle, dass »ihre allseits als perfekt empfundene, feminine Gender Impersonation als parodistische Wiederholung diskursiver Bezeichnungspraxen des Geschlechtlichen zu bewerten sei, als subversiver Akt im höheren Auftrag einer revolutionären Multiplikation der Geschlechter, nämlich jenseits des […] absolut schrottreifen binären Systems.« (Tb 90)241 Dabei handelt es sich um ein Referat Butlerscher Theorie, das allerdings ohne echte Zitate auskommt. Ebenfalls im Referatstil klärt Vivian Angela/o über den Übergang vom Gleichheits- bzw. Differenzfeminismus zu den Gender Studies auf. Es sei festzuhalten, daß auch Simone de Beauvoirs ursprünglich emanzipativ gelesene Unterscheidung von Sex und Gender, also anatomischem und sozialem Geschlecht, diskursiv produziert wurde und in der hierarchisierenden Trennung beider Kategorien letztendlich ganz reaktionäre Biologismen phallozentrisch festgeschrieben wurden. Sex war nämlich, laut Judith Butler, immer schon Gender. Bereits Lacan hatte auf die Unmöglichkeit des Vordiskursiven hingewiesen. Absolutistische Chimären der Wissenschaft wie Körper, Identität, Subjekt zu denaturalisieren, hieße die heutige Losung, ereiferte sich die Magistrandin. (Tb 90f.)
241 | ›Gender Impersonation‹ heißt übersetzt soviel wie ›Imitation eines Geschlechts‹, in diesem Fall die transsexuelle Imitation des Aussehens der ›Frau‹ Angela durch den ›Mann‹ Angelo.
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Von ihrem sachlich-wissenschaftlichen Stil und dem informativen und akademischen Inhalt her, könnten die ersten drei Sätze dieser Passage auch in einem Einführungsbuch in die Gender Studies stehen. Während sich Angela/o, die/ der doch in ihrem/seinem Handeln die Binarität ständig überschreitet, an dieser Stelle einer poststrukturalistischen Perspektive auf ihre/seine Geschlechtsidentität noch verweigert,242 entwickeln die Freunde das Gespräch weiter zu einem Diskurs über verschiedene Spielarten der Gender Studies, die Angela/o auf unterschiedliche Weisen lesen: Hans referiert neben Butler noch Meret Oppenheimer und Luce Irigaray (vgl. Tb 93); Vivian bemüht Foucault, Freud und Lacan, um in Irigarayscher Frageweise mögliche Beschreibungen von Angela/os Penis und ihrer/seiner Geschlechtsidentität vorzunehmen: »War Angela denn nicht Angelo? […] Worauf hatte Freud eigentlich hinausgewollt, als er geschrieben hatte, dass für beide Geschlechter nur ein Genitale, nämlich das männliche, eine Rolle spielte? […] Verbarg sich hinter Angela Guida womöglich ein männlicher Hysteriker wie Baudelaire, Flaubert, Huysmans, Mallarmé, Peladan?« (Tb 94f.) Vivian versucht also, mit Hilfe der Gender Studies exemplarisch die Geschlechtsidentität und deren Performanz bei Angela/o zu beschreiben – sie zitiert nicht wortwörtlich, sondern macht sich ihre eigenen Notizen: »Die Frau als fixe Idee. Mae West sowie Madonna als genetisch weibliche Drag Queens. Genus und Genie. Stichworte, die sich Vivian mit einem Kugelschreiber aus Ilses Handschuhfach auf ihren rechten Oberschenkel schrieb.« (Tb 95) In ähnlicher Weise wird Angela/o auch an anderer Stelle als Exemplifikationsobjekt von Vivians Gedankengängen benutzt (vgl. Tb 190). Dabei bildet Vivian in ihren Fragestellungen den Konflikt zwischen essenzialistischen und dekonstruktiven Theorien ab, indem sie – ausgehend von Angela/os Verteidigung ihres/seines Penis‹ als ›biologischer Tatsache‹ – danach fragt, welche Folgen die Existenz von »Angelos Schwanz«, der »eine ganze enorme Falte in Angelas schicken Wickelrock« (Tb 94) wirft, für Angelas Inszenierung als Frau hat – ohne diese Frage wirklich zu beantworten. Die Kritik patriarchaler Theorien. Vivian Atkinson Magisterarbeit über Otto Weininger in Tomboy Einer der Wege, die Konstruiertheit der Geschlechterkategorien und damit auch der Kategorie ›Frau‹ zu thematisieren und zu dekonstruieren, ist die theoretisch-kritische Auseinandersetzung mit patriarchalen Theorie-Diskursen. Ein solcher wirkungsmächtiger Theoretiker ist Otto Weininger mit seinem Werk Geschlecht und Charakter (1903). In einem kurzen, einleitenden Teil präsentiert Weininger unter dem Titel Die sexuelle Mannigfaltigkeit zahlreiche sexualpsychologische Annahmen, die zu seiner (relativ modernen) These füh242 | Es heißt im Text: »Die arme Angela verstand überhaupt nichts mehr und setzte eine verdrossene Miene auf.« (Tb 91)
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ren, dass die geschlechtlichen Idealtypen M (= ›das Männliche‹) und W (= ›das Weibliche‹) nur in Ausnahmefällen als solche erscheinen, im Regelfall jedoch alle Menschen zwischen diesen Idealtypen stehen.243 Dies hindert ihn jedoch nicht, zu Beginn des zweiten Hauptteils, der Die sexuellen Typen heißt, kategorisch zu behaupten: »Trotz allen sexuellen Zwischenformen ist der Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib.« (Weininger 1907: 98) Seine damit legitimierte Typenlehre, die er im Folgenden entwickelt, fällt für ›die Frau‹ vernichtend aus: Sie sei ohne Persönlichkeit, d.h. ohne Moral, Logik, Bewusstsein: »W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber.« (Ebd.: 113) Weil die Frau im Sexualakt mit dem Mann durch ihr fehlendes Bewusstsein jedoch zu dessen Mittel herabgewürdigt werde, stellt Weininger (darin argumentativ der kantischen Ethik folgend) »die Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter« (ebd.: 468). Eine weitere Forderung Weiningers lautet, dass »die Erziehung der ganzen Menschheit der Mutter entzogen werden« (ebd.: 471) müsse. In anderen Kapiteln wird die frauenfeindliche Abwertung ›der Frau‹ kurzgeschlossen mit antisemitischen Diskursen des Juden Weininger: »Der Jude ist ewig wie das Weib, ewig nicht als Persönlichkeit, sondern als Gattung.« (Ebd.: 437) ›Frau‹ und ›Jude‹ unterschieden sich jedoch in einem Punkt: »[S]ie glaubt an den anderen, an den Mann, an das Kind, an ›die Liebe‹; sie hat einen Schwerpunkt, nur liegt er außerhalb ihrer. Der Jude aber glaubt nichts, weder in sich noch außer sich.« (Ebd.: 438) In Tomboy wird dieser patriarchale Geschlechterdiskurs exemplarisch vorgeführt, denn Weiningers Theoreme über Frauen und Juden sind die Gegenstände von Vivian Atkinsons Magisterarbeit. Weininger wird eingeführt als skurriler Theoretiker, der »1903 nahegelegt hatte, die Summe der Haarlängen zweier Verliebter müsse immer genau gleich groß sein.« (Tb 36) Dabei wird er von Vivian bereits deutlich negativ bewertet: Als psychotischer Selbstmörder, dessen Werk »misogyne Repliken« (Tb 10) enthalte und ein »geschlossene[s] System der Zwangsvorstellungen« gewesen sei. Der frauenfeindliche und antisemitische (sowie jüdische) Autor stehe, nach Vivian, jedoch nur pars pro toto für seine Zeit, denn er gehe »überwiegend mit dem westlichen Common sense der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konform« (Tb 79) – damit ließen sich also an Weiningers Beispiel stellvertretend die anti-emanzipatorischen und antisemitischen Geistesströmungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellen. Als Beleg für diese Tatsache archiviert Vivian die zahlreichen Verehrer und Freunde Weiningers: »Persönlichkeiten wie Stefan 243 | Diese Erkenntnis führt ihn zum ›Gesetz‹: »Zur sexuellen Vereinigung trachten immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes Weib (W) zusammenzukommen, wenn auch auf die zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen Fall in verschiedenem Verhältnis verteilt.« (Weininger 1907: 34) Es würde sich also ein Paar finden, dessen Verhältnis z.B. ›70 W und 30 M‹ sowie ›30 W und 70 M‹ ist.
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Zweig, Karl Kraus und […] Ludwig Wittgenstein« (Tb 80) sowie »Slavoj Žižek, […] Heimito von Doderer, Alban Berg, Walter Serner, Alfred Kubin.« (Tb 81)244 Erst nach dieser – aus Vivians Sicht klar negativ wertenden – Einleitung und den zahlreichen Referaten verschiedener Theoreme und Fragestellungen der Gender Studies, werden im letzten Drittel des Romans Auszüge aus »Vivian Atkinsons Weininger-Exzerpten« (Tb 166)245 vorgelegt, die nicht mehr näher kommentiert werden246 und durch die zuvor benannten Wertungen als kritikwürdiges Material präsentiert werden (vgl. Tb 167, 184 u. 222f.). Vivian selbst hat eine mögliche Verfahrensweise bereits vorgegeben. Das dekonstruktivistische Verfahren wäre auch als eine Art ›fundamentales Infragestellen‹ zu verstehen, das Luce Irigarays Methode entspricht, mit vielen Fragesätzen die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten ›in Frage stellen‹. Dieses Verfahren wendet Vivian in ihrer Magisterarbeit über Otto Weininger ebenfalls an, nachdem sie »ihren Professor davon überzeugt hatte, den zentralen Gedankengang ihrer Magisterarbeit ausschließlich interrogativ formulieren zu dürfen.« (Tb 9) Die Verwirklichung dieses Projekts, des Hinterfragens der weiningerschen Thesen, wird im Roman jedoch nicht weiter ausgeführt. Transvestitismus, Cross-dressing und Parodie. Die Figur der/des Angela/o Der Roman Tomboy archiviert und reflektiert somit wichtige Grundannahmen der Gender Studies, seine Figuren dekonstruieren exemplarische patriarchale Diskurse, eine zentrale Rolle spielt zudem der Diskurs über transvestitische Verfahren der Geschlechterverwirrung: Einerseits wird an der Figur der/des Transvestitin/en Angela/o gezeigt, andererseits in der Auseinandersetzung mit der Debatte um Jennie Livingstons Dokumentarfilm Paris Is Burning, der zwischen 1987 und 1989 entstand und verschiedene Drag Balls von Latinos
244 | Mit Baßler ließe sich feststellen, dass hier über das Listen-Verfahren ein Archiv von Weininger-Anhängern – das impliziert: von Antisemiten und Frauenfeinden – angelegt wird. Baßlers Erkenntnis, »vielfältige Verfahren der Katalogisierung und Listenbildung« würden in der Gegenwartsliteratur »als Werkzeuge zur ersten Archivierung« (Baßler 2002: 186) genutzt, trifft auf das obige Beispiel zu. 245 | Vgl. auch Tb 166f., 183–185 u. 221–224. Dabei handelt es sich wieder eher um Referate denn um Zitate, vergleichbar mit den Referaten der Gender Studies-Theoreme, wobei sich die Referate allerdings stark an den Originaltext annähern. So heißt es z.B. in Weiningers Originaltext »Die letzte Gegnerin der Frauen-Emanzipation ist die Frau« (Weininger 1907: 458), während es in ›Vivians Weininger-Exzerpten‹ heißt: »Der größte, der einzige Feind der Emanzipation der Frau ist die Frau.« (Tb 167) 246 | Diese Bemerkung trifft nicht auf die Seiten Tb 161f. zu, in denen Weiningers antisemitische Tendenzen unmittelbar mit Gedanken Daniel Boyarins konfrontiert werden, die sich auch auf den Seiten Tb 114, 120f. u. 124–129 finden und bereits auf Fragestellungen aus Hellblau verweisen.
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und Afro-Amerikanern in New York dokumentiert (vgl. Livingston 1990 u. Baur 2002), wie die binäre Geschlechtermatrix in der Praxis der Transvestiten subvertiert wird. Der Film Paris is Burning wird eingeführt als ein »Dokumentarfilm über geschlechtliches Haben, Sein und Scheinen«, der zudem »einen ganz zentralen Referenzpunkt der feministischen Gender Studies« (Tb 55f.) darstellt, was in der Tat seiner Rezeption durch wichtige Theoretikerinnen wie Judith Butler und bell hooks entspricht.247 Die zitierte Debatte über Paris is Burning bewegt sich allerdings durchweg im Rahmen der Gender Studies und der postkolonialen Theorie – es geht nicht um die Frage, ob sich die transvestitischen Figuren nicht doch wieder in ihrer Geschlechtlichkeit vereindeutlichen ließen, sondern um die Fragen, welche unterschwelligen Rassismen die künstlerische Gestalt des Films transportiere, inwiefern der Film aus der ›weißen Perspektive‹ der lesbischen Filmemacherin Livingston nicht gleichsam ›phallisch‹ auf das Geschehen sehe und ob sich diese nicht nur an ihren gesellschaftlich marginalisierten transvestitischen Figuren, wie z.B. der schließlich von einem Freier ermordeten Venus Xtravaganza, finanziell bereichert habe (vgl. Tb 55–57 u. 155f.). Die letzte Argumentationsfigur wird auf Angela/o in Tomboy übertragen: Das Alltagsleben der Transvestiten sei oft eines in Elend, daher sei es zynisch, gerade diese zu Helden des Widerstands zu stilisieren. Vivian reflektiert darüber, dass »jene Glücklicheren, die, wie Angela Stöver, konstruktiv entkanonisiert mit ihren Elementen des Hybriden umgehen konnten«, sowie auch jene, »welche solches an anderen zu schätzen wussten, kulturlinker Bastardophilie bezichtigt« (Tb 156) würden. Dieser Einwand wird nicht weiter ausgeführt – in der Tat jedoch werden an der Figur der/s Angela/o in Tomboy exemplarisch die ›Kategorienkrisen‹ des binären Musters ›männlich/weiblich‹ durchgespielt. Bereits das Auftauchen Angela/os im Roman wird mit der Geschichte verbunden, dass sie/er einmal eine Veroner Go-Go-Tänzerin vertreten habe, was Vivian zu folgenden Fragen veranlasst: »Was hatten die Genossen dabei nun vor Augen geführt bekommen? Was hatten sie gesehen? Angelo? Eine Frau? Das Weibliche? Ließe sich, mit oder gegen Donna Haraway, behaupten, das geschätzte Publikum sei durch Angelas famosen Auftritt getäuscht oder gar betrogen worden?« (Tb 58) Die Fragen werden nicht beantwortet, sondern öffnen nur einen Verständnisrahmen, innerhalb dessen die Frage, welche Geschlechtlichkeit Angela/o zuschreibbar wäre, vertieft werden kann (z.B. im Gespräch auf der Rückfahrt vom Butler-Vortrag aus München). Dass sich dafür im Sinne einer feststehenden Binarität der Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ keine klaren Lösungen finden lassen, zeigt gerade an, dass die Figur der/s Angela/o der Geschlechter-Binarität ihre Festigkeit raubt. 247 | Vgl. z.B. bell hooks 1994 (vor allem das Kap. Brennt Paris? [179–183]) u. Butler 1995 (vor allem das Kap. über Fragen der Aneignung und Subversion [165–188]).
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Vivian reflektiert die Kleidungswahl und Selbstzuschreibungen Angela/os immer wieder und bemüht sich, die jeweiligen Wechsel nachzuvollziehen:248 Wenngleich »völlig flachbrüstig« (Tb 150), trage sie/er einen ›weiblich‹ konnotierten Body, und folglich – in einer aporetischen Konstruktion – einen »Schwanz«, der »weiblichen Geschlechts war« (Tb 152). Später wandelt sich Angela/o vom Mann-Frau- zum Mann-Frau-Mann-Transvestiten, Frauke berichtet Vivian per Postkarte »von Angelas neuester Grille, der Male Impersonation […]. Sie nennt sich an diesen Tagen Angelo, […] sieht aus wie die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach«,249 wobei sich Vivian fragt, ob diese ›Männlichkeitsinszenierung‹ nicht auch schon wieder gebrochen wird, »ob Angela feminine Dessous unter Angelos maskulinem Outfit trägt.« (Tb 205) Einige Zeit später vollzieht Angela/o wieder eine Female Impersonation, schlägt »ihre makellos rasierten Beine übereinander« und klatscht »entzückt in ihre manikürten Hände.« (Tb 243) Somit wird die Kategorie Geschlecht in Angela/os Selbstinszenierung wie in einer Matrjoschka mehrfach übersprungen: »Angela/o bricht aus dem binären Schema aus […]: sie lebt eine hybride geschlechtliche Identität.« (Breger 2000: 105) Diese mehrfach die Natürlichkeit der Geschlechterkategorie subvertierende Bewegung entspricht jener Figur, in der der sog. natürliche weibliche Gang bei der Einführung des Films Paris is Burning in Tomboy gebrochen wird. Frauke Stöver berichtet: Dann ist da so ein Typ, […] der Willi Ninja heißt, eine bärtige Tunte, prominenter Voguing-Tänzer, […] dieser Typ unterrichtet junge Frauen, und zwar angehende Top-Modelle, wie Frauen zu gehen. […] Ein Mann bringt einer Frau bei, wie sie zu gehen hat, und sie wiederum reproduziert diesen Gang, damit ihn abermals ein Mann, in unserem Fall Venus Xtravaganza […], imitieren kann. Dieser verkörpert damit eines anderen Mannes Idee davon, wie eine Frau sich bewegt und […] letzten Endes, was eine Frau ist. Irgendwann erkennen wir eine Frau nur noch daran, dass sie hereingestöckelt kommt wie ein Transvestit (Tb 56).
Diese Erläuterung entspricht Garbers These, dass erst durch die vestimentären Akte von Transvestiten die Geschlechterbinarität und damit Kultur entsteht. In dieser Produktion der Geschlechterkategorie ›Frau‹, die hier pars pro toto am ›weiblichen Gang‹ festgemacht wird, ist der Nachweis ihrer eigenen Konstruiertheit allerdings schon wieder enthalten. Angela/o bleibt es zum Schluss des Romans vorbehalten, in einem Telefonat mit der Protagonistin Vivian über den gemeinsamen Besuch einer »Nacht der Engel« im »MS Connexion« nachzudenken. Der letzte Satz Vivians und
248 | Vgl. zur Bedeutung der Mode in Tomboy auch Kyora 2004; Stauffer 2008. 249 | Annemarie Schwarzenbach ist eine Schweizer Autorin aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich u.a. auf Fotos ›androgyn-burschikos‹ inszenierte.
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des Buches lautet: »Was werden wir tragen?« (Tb 251) Dieser Abschluss kann als eine finale Sympathiebekundung für die Figur der/s Angela/o verstanden werden, die im Text an vielen Stellen zeigt, wie Krisen der Kategorien ›männlich/weiblich‹ erzeugt werden und die Festigkeit der Geschlechterbinaritäten subvertiert werden kann. Tomboy lässt sich als ein Text lesen, der in diesem Sinne zahllose Kategorienkrisen und komische Situationen erzeugt. Doch nicht nur anhand der transvestitischen Figur Angela/os werden Kategorienkrisen vorgeführt. Auch andere Figuren nutzen Strategien des Crossdressings und der Maskerade für Grenzüberschreitungen. Der Titel des Romans, Tomboy, weist bereits in diese Richtung: Als ›Tomboy‹ werden Mädchen benannt, die ein besonderes jungenhaftes Verhalten und Erscheinungsbild zeigen. Dies widerfuhr auch der Hauptfigur Vivian Atkinson, die vom »Begriff Tomboy« spricht, »mit dem mich meine Eltern in jungen Jahren so oft belegt, ab und zu auch beschimpft haben« (Tb 59). Der Verweis auf das ›Tomboy-Sein‹ Vivians, deren Eigenname im Englischen geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen ist, zieht sich durch das Buch als ein Leitmotiv.250 Ihr bester Freund, Hans Mühlenkamm, sammelt zwar Handtaschen und damit weibliche Kleidungsstücke, trägt diese allerdings nicht in der Praxis (vgl. Tb 30). Dennoch verkleidet er sich als Frau: »Hans Mühlenkamm und Vivian Atkinson waren einmal als Frauen auf einem Bikini Kill-Konzert gewesen, in das Männer nicht eingelassen wurden. Vivian in ihrem maßgeschneiderten Anzug, Hans in einem schlecht sitzenden Stewardessen-Kostüm der AUA. Hatten sie damit nicht quasi, für einen Abend, einen Frauenbund gebildet?« (Tb 153) Auch in ihren Lektüren finden die Figuren Hinweise darauf, wie wichtig die Kleidung für die Festlegung von Geschlechtszuschreibungen ist. Vivian besucht Korinna Kohn und erhält von dieser Jean-Paul Sartres Kindheit eines Chefs zur Lektüre. Vivian liest darin »folgende Stelle: Was würde geschehen, wenn man Mutti das Kleid auszöge, und wenn sie Papas Hose anzöge? Vielleicht würde ihr auf der Stelle ein schwarzer Schnurrbart wachsen.« (Tb 206f.) Diese Stelle entlarvt den als ›natürlich‹ behaupteten Zusammenhang zwischen vestimentärer (Kleid/Hose) und biologischer (Schnurrbart) Geschlechtsidentität, leitet jedoch zugleich auch eine Stelle ein, die über die Verbindung von Kleidung und Geschlechtsidentität hinausgeht, eine Verbindung von Kleidung und sexueller Orientierung herstellt. Vivian Atkinson ist im Verlauf des Romans als eine Figur des hetero-, Korinna Kohn als eine des bisexuellen Begehrens präsentiert worden. Nun geht Vivian bei Korinna auf eine modische Entdeckungsreise und findet, dass Korinnas »sexy Tenniskleid […] gut an Vivian Atkinsons schlankem Körper« sitzt 250 | Vgl. Tb 29, 59, 164, 180, 188, 212 u. 247. Neben diesem ›Tomboy-Strang‹ wird Vivian jedoch auch durchgehend als eine bewusst ihre Kleidung und Äußerlichkeit semantisierende Person präsentiert (vgl. Tb 124, 128), die bewusst über ihr Äußeres und ihre Kleidung oder Nacktheit nachdenkt (vgl. Tb 116, 186 u. 189).
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(Tb 207). Sie wird zudem von Korinna Kohn geschminkt und mit einem »weichgespülten weißen Pullover über dem Tenniskleid« versehen (Tb 208). Dieser Dress, ergänzt um »Weiße Frotteesöckchen, weiße Sneakers, dasselbe Modell wie die damaligen Martina Navratilovas« (Tb 207), erfüllt die Funktion einer ›lesbischen Verkleidung‹, im Stile der weltberühmten und offen lesbisch lebenden Tennisspielerin. Diese Verkleidung – die zudem die Farbe der Unschuld, weiß, signalisiert – behält sie in der folgenden lesbischen und ihre eigenen sexuellen Begrenzungen überschreitenden Kopulationsszene zwischen ihr und Korinna Kohn an. Zu deren Gelingen »zog sie ihre Strumpfhose hinunter, auch ihren Slip, die einzigen ihr gehörenden Kleidungsstücke, die sie trug« (Tb 215), dann stößt Korinna Kohn »das permanent erigierte, lehmfarbene Kunststoffglied […] vorsichtig in den Unterleib ihres willfährigen Gegenübers«, Vivian reagiert darauf erregt mit »aufgerichteten Brustwarzen« (Tb 215f.). Nach dem Akt weicht die Erregung schnell und Vivian wird als beschmutzte, dreckige Sünderin inszeniert, da sie »sich besudelt vorkam in dem erdverschmierten Tenniskleid, der zerrissenen Strumpfhose, dem tränenverschmierten Make-up, Korinnas Kleid, Korinnas Schminke, Korinnas Tränen«, so dass sie »sich etwas anderes, etwas Eigenes anziehen wollte« (Tb 216) – um gleichsam auch wieder aus der lesbischen Verkleidung spielerisch in ihre ›eigentliche‹ heterosexuelle Identität zu schlüpfen. Indem die heterosexuelle Vivian die ›lesbische Ver-Kleidung‹ ihrer bisexuellen Freundin Korinna anzieht, schlüpft sie sozusagen in deren ›lesbische Identität‹ und ist – vorübergehend, für die Zeit der Verkleidung – in der Lage zum lesbischen Akt. Einige Zeit später trägt sie zu Hause wieder ihren »abenteuerlichen, rotsamtenen Hausanzug« (Tb 230), bevor sie zum Abschluss als »Tomboy aus dem San Jacinto Drive […] in einem bei weitem fraulicherem Kleid als Angela« (Tb 247) auf einem gemeinsamen Treffen der Freundinnen erscheint. Tomboy und die Subversion des männlichen Popliteratur-Diskurses Meinecke subvertiert mit Tomboy auch den bezüglich des Geschlechterdiskurses in weiten Teilen unreflektierten sowie vor allem patriarchale Figuren und Autorenbilder aufrufenden Popliteratur-Diskurs selbst (vgl. Kauer 2009). Popliterarische Erzähltexte nehmen schon in ihren Anfängen bei Rolf Dieter Brinkmann eine männliche Erzählperspektive ein, wie Briegleb exemplarisch an Keiner weiß mehr (1968) zeigt: »Der Vorgang ist männlich. Die ganze sexuelle Obsession der männlichen Subliteratur des Westens ist im Roman zentriert um das Rede-Er, das seine zur Last gewordene Ich-Schwäche-Vermutung auf sie wälzt, dabei starkes Ich und doch wieder nicht Ich wird und am weiblichen Körper (›Fleck‹, ›Loch‹, ›Rest‹, ›Haut‹ usw.) seine Identitätsparadoxien (Sein und Nichtsein) monologisch erörtert.« (Briegleb 1993: 187f.) Ähnliches lässt sich auch für weite Teile der aktuellen Popliteratur konstatieren, von den
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aggressiven männlichen Selbstinszenierungen der Protagonisten in der Prosa des Social Beat 251 über den Ich-Erzähler in Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998)252 bis hin zu den Idealisierungen des Mutterbildes und des ›Genommenwerden-Wollens‹ der weiblichen Hauptfigur in Alexa Hennig von Langes Relax (1997):253 Die große Mehrheit (selbst von Autorinnen verfasster) popliterarischer Texte nimmt einen männlichen Erzählstandpunkt ein und reproduziert Klischees, die Frauen diskriminierende Züge in sich tragen. Maren Halberstedt stellt fest: Bis weit in die 70er Jahre spiegelt Beat- und Popliteratur den prä-feministischen Bewußtseinsstand der Männer ebenso wie der Frauen. Letztere begegnen in den Texten meist als mehr oder weniger reale/halluzinierte Objekte männlich determinierter ›sexueller Befreiung‹, kaum dagegen je als Produzentinnen. Ausnahmen sind – mit Mary Beach bzw., im deutschsprachigen Raum, der frühen Renate Rasp, der frühen Elfriede Jelinek, Hilka Nordhausen und Pociao – an einer Hand abzuzählen. Erst im Gefolge des Punk tritt ein gewisser Wandel ein, obschon der alte Beat- und Pop-Sexismus auch dort, z. B. in Albert Oehlens ›Ewige Feile‹-Collagen (1983) oder – bis heute – bei Rainald Goetz, wo Frauen habituell als ›Maus‹ begegnen, noch nachwirkt. […] Seit Mitte der 90er Jahre sind Frauen breiter vertreten; schon numerisch, aber auch in Bezug auf die Spannbreite repräsentierter (allerdings mitnichten durchgängig emanzipatorischer) Rollenbilder: Man vergleiche die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Alexa Hennig von Lange, Sylvia Szymanski, Sibylle Berg, Sarah Khan oder Kathrin Röggla. Oder man betrachte die zweischneidige Stellung von im jungmännerbündischen Social-Beat-Bereich operierenden Autorinnen wie Isabel Rox und Michaela Seul. (Halberstedt 2000: IV u. VI.)
251 | Vgl. die Ausführungen über den Social Beat in Kap. 5.2.2. 252 | Der männliche Ich-Erzähler in Soloalbum bemüht sich, über die von eben dieser Freundin Katharina beendete gemeinsame Beziehung hinweg zu kommen. Dem IchErzähler ist dabei Sexismus nur eine Frage von ›Unlustigkeit‹ (vgl. Stuckrad-Barre 1998: 119), er sammelt und kommentiert »die nackten Girls aus der Bild-Zeitung« (StuckradBarre 1998: 41) und findet am Schluss des Buches seine Erlösung auf einem Konzert der rein männlichen Britpop-Band Oasis, die er mit Freunden, »natürlich nur Herren«, erlebt: »Männerbündelei, die gerade noch in Ordnung geht, das erleben wir hier.« (Stuckrad-Barre 1998: 243) 253 | Schon die Namensgebung der beiden Protagonisten markiert eine Differenz zwischen dem männlichen und dem ausgelöschten weiblichen Namen: Der männlichen Hauptfigur wird ein Name, Chris, gegeben, während die weibliche Hauptfigur, Chris’ Freundin, namenlos bleibt und nur ›die Kleine‹ genannt wird. ›Die Kleine‹ wird im Verlauf des Textes sowohl von ihr selbst als auch von Chris als sexwillig (Lange 1997: 17 u. 200f.), von Kindern (Lange 1997: 19) und einer kitschigen Heirat (Lange 1997: 136) träumend sowie sich widerstandslos in ihr Schicksal als unterdrückte, gequälte Frau fügend (Lange 1997: 151) beschrieben – die völlig abhängig ist von Chris’ Launen.
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Vor diesen Hintergründen ist die Weise, in der Meineckes Tomboy als popliterarischer Text die (De-)Konstruktion von Männlichkeit vorführt, als Subversion bisheriger männlicher Schreibmuster in der deutschsprachigen Popliteratur und als ein wichtiger Beitrag zur Selbstreflexion ihrer eigenen Sexismen zu lesen. In gewisser Weise ist Tomboy selbst jedoch nicht frei von Sexismen, lässt sich doch zeigen, dass zur Kennzeichnung der drei Personenkreise des Romans (des ›inneren‹ Gender-Kreises mit Frauke, Vivian, Korinna und Hans; des ›mittleren‹ Kreises mit Ilse, Genoveva, Pat und Grete; des ›äußeren‹ Männer-Kreises mit dem Professor, Heiner, Bodo und Gimmel) ein Positionsfeld ›Attraktivität‹ mit den Abweichungen ›sexy‹ versus ›unsexy‹ angelegt wird. Damit wird eine typische Pop-Kategorie reproduziert, die von der Grundannahme ausgeht, dass ›das Gute‹ schön und ›das Böse‹ hässlich sei – und die damit parallel liegt zu jenem sexistischen Diskurs, der behauptet, dass nur eine schöne Frau auch eine gute sein könne. In einer Replik, die auf die sog. Mainstream-Popliteratur von u.a. Stuckrad-Barre und Hennig von Lange sowie die Ästhetik des jetzt-Magazins der Süddeutschen Zeitung zielt, kritisiert Wiglaf Droste die binäre Kategorie ›sexy/unsexy‹ als eine depolitisierende: Wer alles nur in ›sexy‹ und ›unsexy‹ einteilt, läuft Gefahr, jede […] gesellschaftliche Kritik im Vorhinein zu denunzieren. […] Es bleiben Fuzzis, die erzählen, welche Klamotten cool sind und welche nicht. (Droste, zit. n. Ullmaier 2001: 36)
Dennoch werden die weiblichen Figuren in Tomboy und Hellblau254 häufig Objekte eines männlichen Blicks, der ihnen einen hohen Grad an physischer Attraktivität zuweist. Vivian Atkinson, die Hauptfigur aus Tomboy, wird ständig zum mit Schönheitsattributen versehenen Objekt des auktorialen Erzählers: Vivian ist »frisch gekämmt, blumig duftend« (Tb 11), eine »hübsche Kommilitonin« (Tb 12) »im hellblauen Minirock« (Tb 49) – sie wird also als eine schö254 | In Hellblau wird dies vor allem über den begehrenden Blick Tillmanns auf Vermillion installiert, der großteils von diesem nicht reflektiert wird: Vermillion »sieht super aus« (Hb 39), hat einen »hübschen Kopf« (Hb 161), »ist eine Nixe« (Hb 199). Während Tillmann also einen männlichen Blick auf Vermillion wirft, ist er dennoch in der Lage, denselben Blick bei anderen zu erkennen und die mit Vermillion erlebte Sexualität in nüchterner, analytischer Sprache zu beschreiben (vgl. Hb 89). Auch durch diesen Gegensatz werden die weiblichen Hauptfiguren des Textes mit dem Topos der Frau als erotischer Schönheit verbunden und die jeweiligen akademischen Milieus und ihr Personal als besonders attraktiv gezeichnet (nur Tillmann wird als dicker Typ mit kleinem Penis beschrieben; vgl. Hb 151). Damit nutzt Hellblau jedoch auch Zuschreibungen wie ›schön‹ und ›hässlich‹, die gerade im Sinne der Gender Studies höchst problematisch sind und nicht annähernd so kritisch reflektiert werden, wie z.B. die Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ oder ›schwarz‹ und ›weiß‹.
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ne, attraktive Frau präsentiert. Das hat zur Folge, dass sich männliche Blicke und Hände auf sie richten: Sie zeigt im Steinbruch ihre »ganz besonders von Herrn Petersen beäugten Beine« (Tb 72), der vorübergehende Mann Heiner ihrer Freundin Korinna wird gar handgreiflich, denn seine »behaarte Pranke (tätschelte) Vivians Knie« (Tb 113). Auch Korinna Kohn wird als »sexy« (Tb 37) bezeichnet, sie wird als Modell engagiert, ebenso wird Frauke Stöver als attraktiv beschrieben, sie arbeitet als »Hosteß« (Tb 242). Demgegenüber werden die Männer der ›dritten Gruppe‹ als ausgesprochen unattraktive Typen gezeichnet: Der Professor ist schlaksig und blass (vgl. Tb 45 u. 47), Bodo Petersen »auffallend abstoßend« (Tb 156), Korinnas Mann Heiner ein grölender, aggressiver Männertyp, der Vivian betatscht und dessen Äußeres sich in seiner unattraktiven Dogge spiegelt, Gisbert Gimmel ein ›schweinischer Sexist‹, der sich am ›Sack kratzt‹. Der Text ordnet seine Figuren also auch auf dem Positionsfeld ›Attraktivität‹ an, mit den Abweichungen ›schöne Frauen‹ und ›hässliche Männer‹. Diese simple Binarität reproduziert allerdings jene binären Geschlechterstrukturen und die männlich codierte, sexistische Kategorie der Schönheit und ihre Implikationen, die die Gender Studies eigentlich zu dekonstruieren versuchen. Die Reproduktion dieser Binärität wie auch der Kategorie ›Schönheit‹ ist dabei als ein Relikt aus dem popliterarischen Diskurs zu verstehen, der durchgängig Figuren, Äußerungen und popkulturelle Produkte den Kategorien ›sexy‹ bzw. ›unsexy‹ unterwirft. In Tomboy geschieht dies jedoch bezogen auf Theorie- und Praxismodelle des Gender-Diskurses, wodurch ein aporetisches Verhältnis entsteht zwischen einerseits einem Inhalt, der die Dekonstruktion männlich codierter Binaritäten vorführt, sowie einer Form andererseits, die eine binäre männliche Bewertungsmatrix reproduziert. Somit lässt sich vorläufig festhalten, dass Thomas Meineckes Roman Tomboy den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion am Beispiel der Gender Studies der 1990er Jahre archiviert und dadurch zahlreiche Subversionen der binären Geschlechterkategorien und des heterosexuellen Beziehungsideals repräsentiert. Der Roman dreht durch seine Figurenkonstellation das Verhältnis zwischen männlicher, heterosexueller, essenzialistischer Hegemonie und weiblich-transvestitischer, homo- und bisexueller, dekonstruktivistischer Minorität um. Innerhalb dieses – nun ins Zentrum gesetzten – minoritären Milieus erklären, reflektieren und diskutieren die Sprechfiguren wichtige Theorien der Gender Studies. Dabei stellen sie einerseits die wichtigsten Denkerinnen der Gender Studies und ihre Theoreme und Probleme dar, andererseits problematisieren sie exemplarisch auch einen kritikwürdigen Strang patriarchaler Theoriebildung. Zudem produzieren die Figuren des Roman als Transvestiten, Cross-dresser oder sich Verkleidende zahlreiche Kategorienkrisen, die die Binarität ›männlich/weiblich‹ in ihrer Festigkeit subvertieren. Neben diesen ›Verflüssigungen‹ der Geschlechterkategorien zeigt der Roman jedoch – im differenzfeministischen Sinne – an zahlreichen Beispielen die konkrete Ge-
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walt, der Frauen in heterosexuellen Verhältnissen und einer männlich dominierten Welt ausgesetzt sind und die ihnen angetan wird. Diese beiden Verfahrensweisen, die an den Gender Studies orientierten zahlreichen vorgeführten Kategorienkrisen einerseits wie auch die Vorführung männlich-aggressiver Gewalt gegen Frauen, unterminiert dabei die – im Rahmen dieses popliterarischen Romans – vorherrschenden männlich codierten Schreibgesten des Popliteratur-Diskurses. Allerdings gelingt es dem Roman nicht, sich von den im Popliteratur-Diskurs mächtigen Kategorien ›sexy/unsexy‹ konsequent zu befreien, die als popkulturelle Vermittlungsform von dekonstruktiven Inhalten, die dieser Kategorie entgegenstehen, benutzt wird. Moritz Baßler hat behauptet, dass Tomboy ›nicht wirklich‹ subversiv sei, ohne allerdings den Begriff der Subversion klar zu definieren. Nach Verlauf dieser Untersuchung lässt sich jedoch konstatieren, dass sich der Roman in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion einschreibt und die hegemoniale binäre und heterosexuelle Geschlechtermatrix anhand zahlreicher Referate von Theorien sowie durch zahlreiche Beispiele der Figuren dekonstruiert und somit subvertiert. Er wäre als Beispiel für jene Strategie zu nennen, die Butler am Ende von Das Unbehagen der Geschlechter empfiehlt: Die kulturellen Konfigurationen von Geschlecht und Geschlechtsidentität könnten sich vermehren, oder besser formuliert: ihre gegenwärtige Vervielfältigung könnte sich in den Diskursen, die das intelligible Kulturleben stiften, artikulieren, indem man die Geschlechter-Binarität in Verwirrung bringt und ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt. (Butler 1991: 218)
Ironie und männliches Erzählregime. Zur feministischen Kritik an Tomboy Trotz seiner Positionierung im dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion und als eine Art ›Einführung‹ in die Theorien der Gender Studies ist Tomboy zum Gegenstand radikaler feministischer Kritik und als antifeministische Parodie gelesen worden.255 Meinecke selbst stellt fest: Durch Tomboy habe ich viele falsche Freunde bekommen, die über die Lustigkeit an den Haken gerieten und nicht merkten, dass das Buch aus Hochachtung vor den Theorien entstanden ist. Das habe ich in Hellblau u.a. dadurch zu ändern versucht, dass ich von der dritten in die erste Person und dadurch von der besserwisserisch wirkenden Betrachtung der Romanfiguren weggegangen bin. 256
255 | Vgl. zu diesem Thema auch Baßler 2002: 138–141; Dunker 2006: 106–112; Hägele 2010: 242–246. 256 | Diese Aussage wurde von Thomas Meinecke in einem Gespräch mit dem Verfasser, das am 26. September 2003 in Dortmund geführt wurde, gemacht und nachträglich von Thomas Meinecke autorisiert.
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Diese ›Lustigkeit‹ wird auch in verschiedenen Rezensionen thematisiert, die Tomboy als Satire oder Parodie lesen. Die Süddeutsche Zeitung behauptet, dass »Meinecke das Wissenschafts-Kauderwelsch nicht ernst nimmt, aber auch nicht lächerlich macht, es nur munter und grell überdreht« und somit »aus Fach-Gesprächen Satire und aus diesem Campus-Roman ein […] lesbarer Text« werde (Kunisch 1998); der Falter liest den Text als Satire auf die Gender-Theoretiker der Gegenwart: »Wenn eine Studentin über die Vorhaut Jesu promoviert und ein Verhältnis mit Angela, der Kellnerin einer Lesben-Pizzeria, hat, die früher Angelo genannt wurde und nach wie vor über einen Penis verfügt, dann klingt das nach greller Satire« (Nüchtern 1998); die konservative Welt versteht Tomboy »als ›die Geschichte einer vollkommenen Verklemmung‹ […], in der feministische Wahnsysteme entlarvt und die traurige Existenz lebensfremder Diskurstrottel bloßgestellt werden« (Die Welt, zit. n. Nüchtern 1998) – und Johannes Ullmaier liest das Werk als Abgesang auf die ›übertriebenen Formen‹ der Gender Studies: Tomboy sei ohne weiteres als Parodie zu lesen. Denn dass er mit Vorliebe gerade die bizarrsten Fragen aktueller Gender-Theorie […] aufwirft, kann […] den Willen zur Brechung eingefahrener Geschlechterkonventionen spiegeln wie die Absicht, pseudo-emanzipative NeuScholastik vorzuführen. (Ullmaier 2001: 121) 257
Als Beispiele für die feministische Kritik des Textes können die Forschungsbeiträge von Christine Kanz und Gabrijela Mecky genannt werden. Kanz unterstellt Meinecke, er habe »die Nase voll von dem ganzen Gerede über Weiblichkeit, Männlichkeit, queer, sex, gender, kulturelle Konstruiertheit, Performativität und so fort« und – obwohl er die zitierten Texte offenbar nicht alle gelesen habe – den Antifeministen »neues Futter für ihre Verbalattacken gegen den wissenschaftlichen Feminismus serviert«. Zentral steht in Kanz’ Kritik der Vorwurf, dass die Gender Studies begeisterten Protagonistinnen parodiert würden: »Lächerlich wirken all die verkopften, blutleeren, heterophobischen Gender-Theorie-Adeptinnen, wenn sie sich selbst und die gerade zirkulierenden Theorien so wichtig nehmen.« (Kanz 1999) Aus einer differenzfeministischen Perspektive Perspektive kritisiert Mecky den Roman, den sie allerdings hauptsächlich zum Anlass nimmt, Verdikte gegen die dekonstruktivistischen Theorien der Geschlechteridentitäten auf die Romanfiguren zu projizieren (vgl. Mecky 2001: 257 | Im literaturwissenschaftlichen Diskurs fasst auch Sabine Kyora zusammen, dass in Tomboy »die Auflösung der gesellschaftlich festgelegten Geschlechterrollen ebenso wie die Reflexion dieses Prozesses […] zu komischen, absurden Situationen und Sätzen führen.« (Kyora 2004: 114) Remigius Bunia sieht in Tomboy »einen Roman, der die moderne gender theory persifliert«, aus dem sich jedoch »weder Distanz noch Zustimmung zur Diskurstheorie oder zu konstruktivistischen gender studies« (Bunia 2008: 163) herauslesen lasse.
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199ff.), denen es nicht gelinge, eine »menschliche ›Selbst-Gewißheit‹ auf eigene, individuelle Weise« (Mecky 2001: 209) zu finden, wenngleich der Roman dafür plädiere. Es handelt sich bei Tomboy jedoch weder um eine Satire noch um eine Parodie auf die Gender Studies. Als Satire wäre der Text zu lesen, wenn er auf die spottende Entlarvung jener Gruppe zielte, die sich heute ernsthaft mit den Gender Studies befasst, wie dies die Figuren des Textes machen. Als Parodie wäre der Text zu bezeichnen, wenn er eine übertreibende Darstellung der vorhandenen akademischen Gender-Studies-Szene lieferte. Diesen Interpretationsweisen widerspricht Moritz Baßler vehement. Zwar würden in Tomboy die Theoriesegmente zweifelsohne überdeterminiert und dies könne komisch wirken, allerdings »scheint mir freilich ein Humor am Werke, der den Diskurs, um den es geht, viel zu sehr voraussetzt, der viel zu sehr von ihm zehrt, als dass er ihn in seiner Geltung ernsthaft in Frage stellen könnte. Das ist keine Parodie, jedenfalls nicht von irgendeinem archimedischen Punkt außerhalb, also beispielsweise von einem antifeministischen Standpunkt aus.« (Baßler 2002: 139) Meineckes von ihm selbst benanntes Konstruktionsproblem ist es, den Roman von einem auktorialen Erzähler erzählen zu lassen, der als männliches Erzählregime auftritt, das einen männlichen Blick auf ein von diesem als ›feindlich/bedrohlich‹ wahrgenommenes Milieu wirft. Wenn der Erzähler z.B. feststellt: »Am folgenden Morgen erhielt Vivian einen aufgeregten Anruf von Korinna« (Tb 34), dann schreibt er der Figur Korinna aus einer männlich codierten Perspektive ein ›weiblich-hysterisches Verhalten‹ zu, das viel weniger abwertend wirkte, wenn Vivian als Ich-Erzählerin feststellte: ›Korinna wirkte sehr aufgeregt am Telefon‹. Eine Seite später stellt der auktoriale Erzähler fest: »Korinna […] war schon immer ein bisschen sonderbar gewesen« (Tb 35) – was sie aus dieser distanzierten Perspektive zum Objekt macht, abwertet und die Kennzeichnung der bisexuellen Korinna als skurrile Person noch verstärkt. Judith Butler hat beschrieben, wie die Kamera der lesbischen weißen Filmemacherin Jennie Livingston im Dokumentarfilm Paris Is Burning (1991), der von drag balls in New York erzählt, die vor allem von Afro-Amerikaner und Latina/os besucht werden, als weißer Phallus zu denken ist, der das Dokumentierte aus ›weißer, männlicher Sicht‹ betrachtet: bell hooks hat mit ihrer Behauptung Recht, daß in dieser Kultur die ethnographische Eingebildetheit eines neutralen Blicks stets ein weißer Blick sein wird, ein unmarkierter weißer Blick, der seine eigene Perspektive als das Allwissende ausgeben wird, der seine eigene Perspektive ausnützen und inszenieren wird, als sei sie überhaupt keine Perspektive. […] Ich hätte es gern gesehen, wenn die Frage nach Livingstons filmischer Wunschvorstellung in dem Film selbstreflexiv thematisiert worden wäre, wenn ihr Eindringen in das gesamte Gefüge als ›Einmischung‹ thematisiert worden wäre, wenn die Kamera als in die Verlaufsform des Wunsches, den sie anscheinend zwangsläufig an-
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Literatur und Subversion stachelt, einbezogene Kamera thematisch geworden wäre. In dem Grade wie die Kamera stillschweigend als das Instrument der Transsubstantiation figuriert, übernimmt sie den Stellenwert des Phallus, als das, was das Feld der Signifikation kontrolliert. Die Kamera macht sich deshalb das männliche Privileg des körperlosen Blicks zunutze, des Blicks, der die Macht hat, Körper hervorzubringen, selbst jedoch kein Körper ist. (Butler 1995: 182f.)
In Tomboy wirkt der auktoriale Erzähler nicht als Heilsversprecher, der jene Eigenschaften besitzt, denen die Figuren vergeblich nachstreben, er kann also als ›weiß, männlich, heterosexuell‹ gedacht werden. Allerdings wirkt er durchaus, wie die Kamera in Paris Is Burning, als körperloses männliches, das Geschehen kontrollierendes und gar zur Parodie machendes Erzählregime. Ganz im Sinne Butlers wäre es auch denkbar gewesen, dass der auktoriale Erzähler sich und seinen Blick auf das Geschehen selbst reflektiert hätte, vielleicht er selbst in die Handlung einbezogen worden wäre, als jemand, der nicht über den diskutierten Problemen steht, sondern selbst ein Teil von ihnen ist. Diese mögliche Veränderung der Erzählperspektive hat Meinecke in Hellblau umgesetzt: Der Text wird aus drei verschiedenen Ich-Perspektiven erzählt, die noch dazu unterschiedlichen Geschlechtern zugehörig sind, wodurch die Erzählperspektiven selbst ein Teil jenes Milieus sind, aus dem berichtet wird. Meinecke erklärt dazu: Ich wollte nicht mehr diesen starken Erzähler im Spiel haben. […] Es reden eben abwechselnd immer drei verschiedene Personen in diesem neuen Roman. Ich mache aber nicht durch Absätze, andere Typographie oder Überschriften klar, wer gerade spricht. Dabei entsteht bei mir der Effekt, daß ich beim Lesen selbst immer kurz überlegen muß, wer eigentlich redet. (Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 110)
In Hellblau schaut der Leser nicht mit einem auktorialen Erzähler distanziert auf das akademische Milieu, wie gleichsam im Zoo durch Gitterstäbe auf die Tiere und ihre kleine Welt, vielmehr berichten die an den Gender Studies, Cultural Studies und Postcolonial Studies interessierten Protagonisten über sich selbst. Zusätzlich hat Meinecke auch den Zeitmodus des Erzählens verändert, vom distanzierenden Imperfekt in Tomboy zum Präsens in Hellblau. Die Ich-Erzähler besprechen miteinander (vor allem im E-Mail-Austausch) Theorien und Lektüren, was zugleich die Notwendigkeit zurückdrängt, (Neben-)Geschichten zu erzählen. Zwar wird in beiläufigen Randbemerkungen die Liebesgeschichte zwischen Tillmann und Vermillion angedeutet, 258 es fin258 | Tillmann lernt die »Bedienung mit dem zierlichen Davidstern an der Halskette« (Hb 15) am Anfang des Buches kennen, macht mit ihr einen Ausflug, an dessen Ende sie »für einen kurzen, aber eindringlichen Moment, einander wie ein Liebespaar umschlingend, in der Brandung« liegen (Hb 39), schließlich beginnen die beiden ein sexuelles Verhältnis: »Danach ist sie besonders zärtlich zu mir, streichelt meine Brust, spielt mit
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den sich jedoch viel längere Theorie-Zitatpassagen (teilweise in englischer Sprache), daher wäre der Text auch als eine Mischung aus Ich-Roman und Brief- bzw. Email-Roman zu bezeichnen. Die reflexiven Passagen weisen in Hellblau einen größeren Ernst auf.259 Tillmann als Ich-Erzähler ist Teil des akademischen Milieus, ihn gehen die Reflexionen und Probleme, von denen das Buch handelt, direkt an, da sie Einfluss auf seine eigene Lebensweise haben. Auf diesem Wege ist es nicht mehr möglich, das Nachdenken über binäre Geschlechtermodelle als Parodie auf ein Milieu zu verstehen, das dieses praktiziert – wie es in Tomboy noch möglich war. Meineckes Romane können jedoch als ›Pastiche‹ gelesen werden, das ironische und witzige Momente beinhaltet. In dieser Lesart wäre Tomboy nicht mehr die Parodie auf ein akademisches Milieu, das den Gender Trouble durchexerziert, dem Spott jener freigegeben, die auf der Natürlichkeit der Geschlechter-Binaritäten beharren – vielmehr stünde gerade dieses Milieu exemplarisch für jene, »die den Begriff des Originals verspotte[n].« (Butler 1991: 203). Butler nutzt – in Anlehnung an Frederic Jameson – den Begriff des Pastiche, der ursprünglich ein ›Flickenbild‹ bezeichnete, in der Literatur die genaue Nachahmung eines Stils oder einer Gattung, unter Vermeidung eines individuellen Stils. Mit Frederic Jameson setzt sie das Pastiche von der Parodie ab: Während die Parodie nach Jameson noch eine Sympathie mit dem Original bewahrt, dessen Kopie es ist, bestreitet das Pastiche die Möglichkeit eines »Originals« bzw. offenbart, was die Geschlechtsidentität betrifft, das »Original« als einen verfehlten Versuch, ein phantasmatisches Ideal zu kopieren, das nicht ohne Verfehlung kopiert werden kann. (Ebd.: 226) 260
Dies entspricht den Figuren aus Tomboy insofern, als dass sie allesamt ›Typen‹ von Menschen und Geschlechtsidentitäten vertreten, aber nicht als Individuen mit inneren oder psychologischen Konfliktlinien gezeichnet und entwickelt werden. Während also die »Parodie an sich […] nicht subversiv« ist, da sie nur die überzeichnende Nachahmung eines – immerhin als problematisch erkannten – Originals ist, das nur in seiner noch immer vorhandenen Natur problematisiert wird, geht es Meinecke um »die stilisierte Wiederholung der Akte«, meiner Vorhaut, lässt meinen Penis in ihrer Hand verschwinden.« (Hb 68) Viel ausführlicher werden aber die intellektuellen Gespräche zwischen Tillmann und Vermillion, die »in einem Seafood Restaurant arbeitet und an der Duke University über die chassidischen Juden von Williamsburg, Crown Heigts und Borough Park promoviert« (Hb 44), beschrieben. 259 | Vgl. z.B. die Reflexion über Vermillions Gedankengänge, vgl. Hb 166. 260 | Frederic Jameson bringt seine Unterscheidung auf den Punkt: »Das Pastiche ist […] eine Parodie, die ihren Humor eingebüßt hat.« (Jameson, zit. n. Butler 1991: 204)
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durch die »der Effekt der Geschlechtsidentität durch die Stilisierung des Körpers erzeugt wird.« (Butler 1991: 204) Deshalb denken seine Figuren in Tomboy und Hellblau ständig über ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihre Wahrnehmung durch die (männlichen) Blicke anderer nach – und stellen z.B. zum Abschluss von Tomboy die entscheidende Frage »Was werden wir tragen?« (Tb 251), die gelesen werden kann als eine Aufforderung zur weiteren Vervielfältigung der Geschlechtsidentität, ganz im Sinne Butlers: Die kritische Aufgabe besteht […] darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen, die durch solche Konstruktionen ermöglicht werden, und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen. […] Es gibt keine mögliche Tätigkeit oder Realität außerhalb der diskursiven Verfahren, die diesen Termini ihre Intelligibilität verleiht. Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wiederholen – nämlich jene Geschlechter-Normen, die die Wiederholung selbst ermöglichen, wiederholen und durch eine radikale Vervielfältigung der Geschlechtsidentität verschieben. (Butler 1991: 216f.)
Wenn aber nun davon ausgegangen werden kann, dass die akademisch geschulten Protagonisten der Romane Tomboy und Hellblau keine Parodie auf die Anhänger der Gender Studies und postkolonialen Theorie sind, dann ließen sich ihre konservativ-spießigen und männlichen Gegenspieler als Gegenstand parodistischer Übertreibungen beschreiben. In Tomboy wird von Gisbert Gimmel (dessen Name eine phonetische Ähnlichkeit zu ›Griesgram Pimmel‹ hat) erzählt, einem VHS-Dozenten, der sich »zu immer größeren […] Unverschämtheiten gegen die Frauenwelt hinreißen ließ« (Tb 36f.), sich »tatsächlich am Sack« (Tb 38) kratzt und schließlich als Verlierer und Idiot dargestellt wird, da er von einer Gruppe abstammt, deren Immigrationsversuche in die USA abgelehnt worden seien. Solcherlei Karikaturen von jenen Figuren, die sich der Dekonstruktion von Geschlechtsidentitäten gegenüber verweigern, sind jedoch selten. Hinzu kommen noch amüsante Momente durch Sprachspiele: Die Geschichte der Namensumbenennung von Ilse Lehrerin, die zuvor Schayszhaus hieß (Tb 21); das Spiel mit der Redewendung ›einen im Tee haben‹: »Gretel Mühlenkamm […] wollte […] abermals den Zucker gereicht bekommen, denn mit vier Würfeln hatte sie anscheinend noch nicht genügend im Tee« (Tb 167); die Dekontextualisierung eines berühmten Namens: »John Lennon, Leiter des Chors der protestantischen Gemeinde am Flugplatz Bitburg, gleichzeitig lyrischer Tenor am Trierer Stadttheater.« (Hb 79)261 261 | Auch Tilo Renz sieht in Tomboy eine Verbindung von »komische[n] Effekte[n] […] mit einem grundsätzlich ernsthaften Umgang mit der Geschlechterforschung […]. Die Spezifik der Komik von Tomboy besteht also gerade darin, dass Geschlechterforschung zugleich ernst genommen wird und komische Effekte provoziert.« (Renz 2011: 86)
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Meinecke nutzt also komische, witzige und (selbst)ironische Momente, um die reflexiven und theoretischen Passagen der Romane heiterer zu gestalten und ihnen ihre anstrengende Wucht zu nehmen. Es kann jedoch nur bedingt davon gesprochen werden, dass er auf die satirische oder parodistische Entlarvung oder Bekämpfung jener akademischen Gruppen und Diskurse zielt, die er in seinen Romanen darstellt. Vielmehr liefern Tomboy und Hellblau ein Pastiche vervielfältigter Identitätsmöglichkeiten. In Absetzung von der feministischen Kritik an Meinecke konstatiert auch Andrea Geier, dass es in Meineckes Romanen nicht darum gehe, »das Denken der Postmoderne, des Poststrukturalismus oder der Dekonstruktion im ›Praxistest‹ lächerlich zu machen«, sondern vielmehr ohne einen »belehrend-dogmatischen Impuls […] die Rezipient/innen zum eigenständigen Nachdenken über die Gegenwart wie deren durch theoretische Ansätze inspirierten Lektüren anregen« (Geier 2008: 135). Nach Christoph Hägele habe das »postsouveräne Subjekt« der Gegenwart »den Glauben an eine autonome und essenzialistisch verfasste Subjektivität längst aufgegeben«, allerdings erwachse ihm auch aus den in Meineckes Romanen entwickelten »Reflexions- und Erkenntnisprozesse[n] […] eine neue politische Handlungsfähigkeit.« (Hägele 2010: 263) Tilo Renz beschreibt Tomboy als »Entwurf einer Pragmatik der Geschlechtertheorien«, indem der Roman »die Theorie als Praxis […] des Nach- und Weiterdenkens, des Beschreibens und Umbenennens« darstelle und somit »über eine spiegelnde Wiederholung der Geschlechterforschung hinaus(geht).« (Renz 2011: 87) Schließlich sieht auch Axel Dunker in Tomboy kein »Gelächter […] über Butler oder auf Kosten Butlers, sondern mit Butler und dieser Spielform der GenderTheorie.« Die Ironie, so seine These, sei sogar als »Selbst-Ironie« des Autors zu lesen, die »die selbstgewisse Identität aufhebt« (Dunker 2006: 107, 110 u. 112). Hautfarben und ›Rasseweiber‹. Hellblau und die postkoloniale Theorie In Hellblau wird eine andere zum dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion gehörende Theorie zum Hauptgegenstand des Romans: die postkoloniale Theorie. Hellblau lässt sich »als Entwurf einer ›postkolonialen Literatur‹ lesen, als ein ›Forschungsbericht‹, als literarische Form einer breit angelegten Diskursanalyse.« (Schumacher 2003a: 186f.) Im Gegensatz zu Tomboy, in dem Meinecke die wichtigsten Protagonisten der Gender Studies (indirekt) zu Wort kommen oder seine Figuren über deren Theoreme reflektieren und referieren lässt, tauchen die Protagonisten der postkolonialen Theorie (wie Bhabha, Said, Spivak) in Hellblau nicht auf. Vielmehr kreiert Meinecke eine spezifisch literarische postkoloniale Theorie, die gerade aus der Vielfalt der Differenzierungen, Vernetzungen und Uneindeutigkeiten politische Kraft und Erkenntnisse gewinnt, wie Susanne Messmer beschreibt: »Die irreduzible Komplexität der Welt, die Unmöglichkeit eindeutiger Sinnzuschreibungen wird hier so polyphon zum Ausdruck gebracht, wie es radikaler kaum denkbar ist« (Messmer
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2001); auch Claudia Breger sieht in Hellblau »eine Welt der unendlichen Bezüge, in der Hybridität zur unhintergehbaren Seinsweise alles Notierbaren geworden ist.« (Breger 2003: 200) Tatsächlich hat Meinecke im Übergang von Tomboy zu Hellblau seine Schreibverfahren noch einmal präzisiert und differenziert: Hellblau beschreibt nun mehr und globaler verteilte Orte, die Vielfalt und Internationalität der zitierten Medien nimmt zu, es tauchen mehr und unterschiedlichere Theoretiker und Künstler im Text auf, es gibt mehr englischsprachige Passagen, die Erzählperspektive dissoziiert, neben das große Thema ›Geschlecht‹ tritt das Thema ›Ethnizität‹, beide werden miteinander verknüpft, die Musik – und hierbei insbesondere Techno und House – ist viel größeres Thema, das Judentum und der Antisemitismus werden mit Theorien der Gender und Postcolonial Studies verknüpft. An einigen exemplarischen Punkten soll nun untersucht werden, wie das aus Tomboy bekannte Verfahren der Theorieadaption in Hellblau ausdifferenziert wird. Ganz ähnlich wie in Tomboy werden in Hellblau grundlegende Theoreme, diesmal der postkolonialen Theorie, von den Protagonisten referiert. Yolanda stellt die engen Bezüge und Ähnlichkeiten zwischen Gender Studies und postkolonialer Theorie vor, indem sie über den Begriff ›Rasseweib‹ nachdenkt: Wie der Terminus Geschlecht sowohl im biologischen als auch sozialen Gebrauch stets das Andere bedeutet, im phallologischen Sinn also das Weibliche markiert, verhält es sich auch mit dem Begriff der Rasse, der eher aus- als einschließt. So sieht eine als Rasseweib bezeichnete Frau mit Sicherheit gravierend anders aus als die Ehefrau des definitionsmächtigen Mannes, der dieses Etikett verwendet. Sie ist nicht von hier. (Hb 146)
Die Formen der Ein- und Ausschlüsse, die über die Produktion binärer Kategorien erreicht werden, sind also ähnlich, nur die Felder verschiedene. Eine Person, in der sich die Geschlechter- und Rassenzuschreibungen kreuzen, kann einem doppelten Ausschluss unterworfen werden. Meinecke interessieren nun – ganz im Sinne Bhabhas – jene Zwischenräume, die die binären Zuordnungen zu Begriffen wie ›Schwarz/Weiß‹ oder ›Eigenes/Fremdes‹ nicht mehr funktionieren lassen. Im Zentrum stehen dabei die Bedeutungszuschreibungen an (Haut-)Farben, auf die auch im Buchtitel verwiesen wird.262 Tillmann erklärt Vermillion an einer Kernstelle des Buches, »daß der Himmel allein durch den Wasser-
262 | Die Farbe ›Hellblau‹ ist ein entscheidendes Motiv des Romans: Das Wasser des Atlantik ist hellblau (und verweist auf den U-Boot-Krieg zwischen Deutschland und den USA), die Unterwasserwelt von Atlantis als Imaginationsort wird aufgerufen, die Farbe des stereotypen westlichen Auges, und die afroamerikanischen und jüdischen Einflüsse im (Blue) Jazz. Vgl. auch Zorach 2005: 8f.
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dampf in der Luft hellblau erstrahlt. Farbe ist ja keine physikalische Größe an sich. Wir können lediglich Farbeindrücke artikulieren. […] Farbe entsteht durch das, was wir nicht sehen.« (Hb 184) Folglich ist eine bestimmte, natürliche (und zudem in jedem Fall klar zu definierende) Farbe auch nicht in einen Körper ein-geschrieben – sie wird immer nur zu-geschrieben. Anders ausgedrückt: Wie Farbe physikalisch durch das Nicht-Sichtbare entsteht, entstehen auch sozial ›wahre‹ Kategorien wie ›Ethnizität‹ (bestimmt durch die Hautfarbe) oder ›Geschlecht‹ durch unsichtbar gemachte Konstruktionen. An anderer Stelle erklärt Yolanda die Bedeutung der Farb-Kategorien am Beispiel der Blinden Pamela Dubel und Gedulediah Sham Hasberry, die sich über ihre Farbvorstellungen unterhalten (beide hatten eine Zeit lang sehen können) und denen die klare binäre Einteilung aller Menschen in ›Schwarze‹ und ›Weiße‹ unverständlich erscheint: Pam: Erst mit der Zeit habe ich mitgekriegt, dass nicht alle Weißen genau die gleiche Hautfarbe haben. Sham: Hellbraun, Mittelbraun, Rosa, ein bräunliches Rot, Olivbraun. Pam: Das hat mich nie besonders irritiert; mir war immer klar, daß damit nur ein abstraktes Konzept gemeint war. (Hb 293)
Dies zeigt sich auch in der konkreten Zuschreibung: Ich zeigte auf eine Frau und sagte: Mom, diese Frau ist rosa. […] Sie erklärte mir dann, daß es verschiedene Abstufungen von Schwarz und Weiß gebe, aber das hat mich noch mehr durcheinandergebracht, denn warum gibt es dann die Begriffe Rosa oder Braun? (Ebd.)
Auf diese Weise wird die gewaltsame diskursive Reduktion einer Vielfalt von Farben auf die binäre Opposition ›Schwarz/Weiß‹ ebenso als konstruiert entlarvt wie in Tomboy die gesellschaftliche Reduktion vielfältiger Beziehungsund Geschlechtermodelle auf die heterosexuell codierte binäre Matrix ›Mann/ Frau‹. Auf diese Bereiche zwischen den binären Polen wird nicht nur verwiesen, die binären Oppositionen selbst werden im Roman in Verwirrung gebracht. Wie in Tomboy wird auch in Hellblau gezeigt, welche Zuschreibungen auf Kleidungsstücke wie Kleider (vgl. Hb 64) oder BHs (vgl. Hb 189) projiziert werden und wie einzelne Figuren die Zuschreibungen unterminieren. Die Auswahl der Kleidungsstücke transzendiert jedoch in Hellblau nicht mehr nur die Grenzen geschlechtlicher Zuschreibungen, sondern auch ethnischer: Der Mannheimer Tillmann trägt im US-amerikanischen North Carolina ein »leichte[s] westafrikanische[s] Kleid, das mir Yolanda vorige Woche (aus Chicago) geschickt hat.« Dieser Akt wird als durchweg positiv inszeniert – Vermillion kommentiert begeistert: »That dress suits you well, Tillmann. Und: You look very seductive in it.« (Hb 48) Auch später spielen Vermillion und Tillmann
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verschiedene Akte des Cross-dressings durch – Tillmann scheint Kleider tragend eine besondere Attraktivität auf sie auszuüben (vgl. Hb 118). Auch RuPaul wird von Yolanda als eine Person dargestellt, die durch ihre Kleidung und ihr Verhalten die binären Matrizen in Verwirrung bringt: »RuPaul sagt: I am black, I am gay, and I am a man, and I love being all these things. RuPaul als genetisch maskulines Ultrafeminum. […] RuPaul als schwarze Blondine.« (Hb 45f.) RuPaul besitze Attribute des Männlichen und Weiblichen, des Schwarzen und Weißen – und durchkreuze die klaren Zuordnungen damit doppelt. Neben der Kleidung wird auch die Frisur, wie hier bei RuPaul, zum Gegenstand von ethnischen und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen. Yolanda und Vermillion untersuchen am Beispiel der Frauen des chassidischen Judentums, die auf ihren meist kahlrasierten Schädeln Perücken tragen, welche Selbstzuschreibungen an Perücken und damit Frisuren möglich sind (vgl. Hb 45, 175, 215f. u. 238f.). Neben der Reflexion der Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ werden das Judentum und die Kontinuitäten des Antisemitismus zu zentralen Inhalten des Buches. Heinrich untersucht intensiv am Beispiel des gemeinsamen Besuchs von Helmut Kohl und Ronald Reagan 1985 auf dem mit SS-Gräbern versehenen Friedhof von Bitburg die Bagatellisierung der Erinnerung an den Holocaust (vgl. Hb 54, 76–81, 92f., 98, 129, 212 u. 228f.). Berichte über die Entwicklungen im Entschädigungsprozess der NS-Zwangsarbeiter ziehen sich ebenso durch das Buch wie anekdotische und theoretische Reflexionen über die Tatsache, dass das Verhältnis der Juden zu Deutschland wie auch die Erinnerung an den Holocaust noch lange nicht ›normalisiert‹ sei: Zwar arbeiten Deutschland und Israel heute auf militärischer Ebene zusammen, die erste Aufführung eines Orchesterwerks des deutschen Antisemiten Richard Wagner in Israel wird jedoch von einem Achtzigjährigen mit einer Kinderrassel gestört: »Er stammt, wie er sagte, aus Polen und hat als einziger seiner Familie den Massenmord der Nazis an den Juden überlebt.« (Hb 314) In Anlehnung an Daniel Boyarin wird die gegenwärtige Präsenz des Judentums reflektiert. Bei Boyarin handele es sich um einen »sowohl von ihr (Vermillion) als auch ihren Kommilitoninnen hochverehrten feministischen Judaisten«, dessen Texte von Vermillion bei ihrer Arbeit über den »Topos des jüdischen Mannes als eine Art Frau« (Hb 93) genutzt werden. Boyarin kritisiert den jüdischen Psychoanalytiker Sigmund Freud (und indirekt auch dessen Kollegen Wilhelm Fleiß) für seine identifikatorische Absetzung von Judentum und Frausein: »Jude und Frau: Für Freud Gebilde der Differenz, gegen die er sich selbst, in abgrenzender Weise, definieren wollte«. Im Gegensatz dazu steht »Boyarin, der für seine Person genau die gegenteilige Konsequenz zieht« (Hb 94), sich »in der so genannten westlichen Gesellschaft als eine Art männliche Frau empfindet. In Klammern: Als weiblichen Mann.« (Hb 194) Diese Boyarinsche Dekonstruktion der Geschlechterkategorien in seiner Reflexion über Formen des Judentums liefert den Ausgangspunkt für eine intensive Be-
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trachtung des chassidischen Judentums in den USA unter spezifischer Betrachtung der Geschlechterkonstruktionen und -zuweisungen (vgl. Hb 220– 223, 228–245 u. 271–274). Doch auch die theoretischen Folgen für die Entstehung des deutschen Antisemitismus, die aus Boyarins Konzepten abzuleiten wären, werden thematisiert: »Jüdischer Selbsthaß demnach als protestantischer Antisemitismus.« (Hb 196)263 Hellblau lässt sich also als eine spezifische literarische Archivierung der postkolonialen Theorie und somit des dekonstruktivistischen Diskurses der Subversion lesen. Ohne die bekanntesten Theoretiker der postkolonialen Theorie zu nennen, folgt der Text ihren Theorien: In Hellblau werden Diskurse über ›das Fremde‹ oder ›das Andere‹ und die ihnen zugewiesenen Kategorien offen gelegt und dekonstruiert. Die Figuren referieren – ähnlich wie dies in Tomboy mit den Gender Studies geschieht – Grundtheoreme der postkolonialen Theorie, belegen die Konstruiertheit von Farbwahrnehmungen, -bezeichnungen und -zuschreibungen und unterwandern exemplarisch die Kategorien ›Schwarz/Weiß‹. Sie spielen mit der Wahl ihrer Kleidungsstücke (ein Mann trägt ein Frauenkleid, ein Deutscher ein afrikanisches Gewand) und reflektieren Frisuren sowie die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen (der Schwarze mit blond gefärbten Haaren, die Perücken der chassidischen Jüdinnen) – und spielen auf diese Weise verschiedene Wege zur Unterminierung der Kategorien ›Ethnizität‹ und ›Geschlecht‹ durch.
3.2.4. Terrorismus, gefährliche Diaspora und Geheimbotschaften. Topoi der Subversion Sowohl Tomboy als auch Hellblau rufen zahlreiche Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversion auf, die teilweise schon untersucht worden sind. Die Frauen-WG in Tomboy als ein minoritärer Ort, die/der TransvestitIn Angela/o als eine Person der Subversion der binären Geschlechtermatrix, die rhizomatische intertextuelle Sprache der Romane, der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion, der in beiden Texten archiviert, reflektiert und teilweise auch parodiert wird – dies sind einige Beispiele für das reichhaltige Arsenal an Topoi der Subversion in Meineckes Romanen. Im Folgenden soll nun an drei weiteren Beispielen untersucht werden, auf welche Weise Diskurse, Topografien und Sprachen der Subversion in Tomboy und Hellblau genutzt werden, wobei insbesondere die Fragen im Vordergrund stehen sollen, wie Diskurse der Subversion mit- und gegeneinander verhandelt werden, in welcher Weise Topografien der Subversion als bedroht dargestellt werden und welche spezifische Form einer subversiven Geheimsprache genutzt wird. Diese Fragestellun263 | Das Judentum stellt auch ein großes Thema der Gender Studies dar, da der (antisemitische) Diskurs über ›den Juden‹ oft kurzgeschlossen wurde mit dem (abwertenden) Diskurs über ›die Frau‹, z.B. bei Sigmund Freud und Otto Weininger.
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gen gehen von der These aus, dass die Literatur als ein reflexives Medium Diskurse, Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversion nicht nur einfach aufrufen, sondern reflektieren, gegeneinander verhandeln oder auch delegitimieren kann. Der politisch-revolutionäre Diskurs der Subversion: Eine Nebenerzählung über den terroristischen Kampf gegen BASF Tomboy lässt sich, wie bereits gezeigt, als eine Archivierung, eine Reflexionen und teilweise auch als eine Parodie auf den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion, der in Tomboy vor allem als Diskurs der Gender Studies geführt wird, beschreiben. Während dieser in der Haupthandlung des Textes von seinen Protagonisten vorangetrieben wird und somit als zentraler Theoriediskurs des Romans bezeichnet werden kann, wird ihm ein politisch-revolutionärer Diskurs als ›Gegendiskurs‹ zur Seite gestellt, der in einer Nebenhandlung erzählt wird und in einem Spannungsverhältnis zum dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion steht. Bei dieser Nebenhandlung, in der der politischrevolutionäre Diskurs der Subversion affirmativ erzählt wird, handelt es sich um das Verhältnis von Pat Meier und Bodo Petersen, in deren Geschichte nach Baßler »reale Subversion in der Tradition der Revolutionären Zellen« stattfinde und die darum »einen dezenten, aber unüberhörbaren Kontrapunkt zur pastichehaften Archivierung des Gender-Diskurses« (Baßler 2002: 142) setze. Am Beispiel dieser Nebenhandlung kann auch nochmals gezeigt werden, wie Meinecke in zurückhaltender Weise die Entwicklungen seiner Figuren erzählt, und zudem verdeutlicht werden, dass er in seine Geschichten subversive Motive einarbeitet.264 Die Nebenerzählung über die terroristischen Aktivitäten Pat Meiers und Bodo Petersens, die sich somit in den politisch-revolutionären Diskurs der Subversion einschreiben, kontrastiert die alltägliche Beschäftigung der anderen Hauptfiguren mit den Theoremen der Gender Studies.265 Beide gehören einer älteren Generation als die anderen Figuren an, Pat Meier ist Jahrgang 1954 und hat sich den Gender Studies gegenüber noch nicht geöffnet, verfolgt eher die materialistischen, linksradikalen und terroristischen Konzepte der 1970er Jahre weiter. Sie »hatte oberhalb der Dossenheimer Steinbrüche einen so genannten festen Ausguck installiert, im schwer zugänglichen Gestrüpp, von wel-
264 | Die Geschichte von Pat Meier wird in Tb 35, 70–75, 96–102, 145, 155–157, 162f. u. 226 erzählt. 265 | Die Ausführungen dieses Unterkapitels wurden ab diesem Satz von Thomas Meinecke in seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen Ich als Text von 2012 eingebunden. Meinecke kompilierte in Frankfurt a.M. seine ›eigene Poetologie‹ aus Texten von u.a. Moritz Baßler, Silvia Bovenschen, Axel Dunker, Jochen Hörisch, Christine Kanz, Sabine Kyora, Eckhard Schumacher, Hubert Winkels über seine Romane, vgl. u.a. Ernst 2012.
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chem aus sie überwiegend nachts, mit Hilfe diverser optischer Analysegeräte, die am westlichen Horizont wahrhaft gigantisch vor sich hin stinkende Badische Anilin- & Soda-Fabrik, BASF, ausspionierte.« (Tb 35) Dieser kurze literarische Auszug beschreibt Topografien und Strategien der Subversion: Das schwer zugängliche Gestrüpp, überwiegend nachts aufgesucht – als Ort; optische Analysegeräte – als Hilfsmittel zur Grenzüberschreitung; die BASF – als ein einem Drachen ähnlicher Feind (›gigantisch‹ und ›stinkend‹). Pat Meier, die äußerst kritisch zum Chemieriesen IG Farben und deren Nachfolgern Bayer, Hoechst AG und BASF steht und eine »1972er Kampfschrift der RAF […] an ihrem Busen trug« (Tb 71), lernt Vivians Nachbarn Bodo Petersen kennen, als dieser mit Vivian in jenem Steinbruch herumklettert, in dem zufällig auch Pats Unterstand steht. Petersen arbeitet ausgerechnet bei BASF und lobpreist anfangs sein Unternehmen für »all die zivilisatorischen Errungenschaften der chemischen Industrie« (Tb 72). Doch schon bei diesem ersten Treffen kann Pat Meier Bodo Petersen für ›ihre Sache‹ interessieren, indem sie ihn durch ihr Fernrohr blicken lässt – Petersen selbst ist unglücklich, dass es bereits 1957 »aus betrieblichen Gründen, wie es hieß, werkpolizeilich untersagt worden« war, »Fotografien von seiner Arbeitsstätte anzufertigen.« (Tb 74) Danach tauchen Pat Meier und Bodo Petersen gleichsam in den Untergrund des Erzählten ab, denn weder für die anderen Personen noch für den auktorialen Erzähler ist deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden fortentwickelt: »War es eigentlich okay, dass er sich seinen geliebten Betrieb von einer politischen Extremistin madig machen ließ? Hatte er sich gar in Pat Meier verguckt? Beziehungsweise sie in ihn? Oder hielt sie, die Zielstrebige, ihn sich nur, um ihn, den Ahnungslosen, nach und nach zum Hochverräter umzuschulen? Waren denn seine heimlichen Fotos vom Steinbruch aus nicht bereits Werksspionage, ja Sabotage gewesen?« (Tb 101) Die Verbindung wird noch mysteriöser, als Vivian ihren Nachbarn Petersen und Pat Meier zusammen zu hören meint: Vivian vernahm, synchron mit einem Hustenanfall Bodo Petersens, ein helles Lachen aus dem Treppenhaus. Sollte das etwa Pat Meiers Stimme sein? Die niemand in Handschuhsheim je hatte richtig lachen hören? Vivian schloß ihre Tür zum Flur (Tb 145f.).
Pat Meier wird über ihr heimliches Lachen wie eine diabolische Gestalt, eine Art ›Rumpelstilzchen‹ inszeniert, während Petersen offenbar schon (von ihr bzw. der von ihr verkörperten Revolution) infiziert worden ist, sich gegen die neuen Viren (in seinem Kopf? In seinem Körper?) noch hustend zu wehren scheint. Einige Zeit später sieht Vivian »in der Morgendämmerung«, wie Pat Meier »auf der ausgestorbenen Edinger Hauptstraße« aus Petersens Wohnung verschwindet, denn sie sieht just »im selben Moment Herrn Petersens Licht verlö-
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schen. Komisch, wirklich komisch, amüsiert sich« Vivian (Tb 155). Am nächsten Morgen klingelt sie bei Petersen, dieser trägt noch seinen Schlafanzug, der »auffallend verfleckt« sei, was Vivian sich fragen lässt: »Hatten die beiden Chemie-Fans im Bett mit irgendwelchen Säften herumexperimentiert?« (Tb 156) – wobei sich ihre Vermutungen sowohl auf sexuelle Aktivitäten als auch auf das gemeinsame Anfertigen von Bombensätzen beziehen können. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass das terroristische bzw. subversive Projekt Pat Meiers inzwischen zu einem gemeinsamen – und allerdings innerhalb der zwangsheterosexuellen Ordnung verorteten – Projekt geworden ist, allerdings sind beide noch nicht völlig in den Untergrund abgetaucht: Petersen versorgt Vivian noch mit Archivmaterial (vgl. Tb 192). Plötzlich und überraschend kehrt Vivian Atkinson jedoch am Ende des Buches zu ihrem Wohnhaus, einem ehemaligen Speicher, zurück, sie sieht »Einsatzfahrzeuge der Polizei vor der Haustür« (Tb 249) sowie, »oben angekommen, […] Bodo Petersens aufgebrochene Wohnungstür; mehrere Kriminalbeamte durchsuchten seine Schränke, verwüsteten seine Einrichtung.« (Tb 249f.) Dabei finden die Beamten »einige alte Playboy-Magazine«, doch das ist ihnen »Nichts, meldete ein junger Polizist einem älteren und zuckte ratlos mit seinen Schultern, rein gar nichts« (Tb 250) – was sowohl Petersen als auch die Polizisten aus dem im Roman zentralen Gender-Diskurs ausschließt, dem dieser Fund nicht ›nichts‹ wäre. Überhaupt wird Bodo Petersen von Vivian als unangenehmer Typ gezeichnet, dem Gendes Studies, das gemütliche Sitzen auf dem Boden wie auch ein gepflegtes Äußeres ein Gräuel sind – ganz im Gegensatz zu Vivian, Frauke, Korinna und Hans, was das Konkurrenzverhältnis zwischen den unterschiedlichen politischen Konzepten der beiden Gruppen noch verstärkt.266 Das Buch endet mit einem neunzeiligen Absatz, der den politisch-revolutionären und den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion zusammenbringt, geradezu vergleichend: Einerseits sieht Vivian durch ihr Fenster, »wie die Polizeifahrzeuge in Edingens Hauptstraße einbogen«, zum Zwecke ihrer Vernehmung, denn telefonisch teilt Angela/o mit, dass die Polizei auch schon in Handschuhsheim gewesen sei. Andererseits verabreden sich Angela/o und Vivian, morgen ins MS Connexion zum Tanzen zu fahren – und schließen mit der entscheidenden Frage: »Was werden wir tragen?« (Tb 251) Während also der politisch-revolutionäre Diskurs der Subversion, der die militante Opposition gegen die Staatsorgane und Konzerne als subversive Strategie empfiehlt, die Inhaftierung und das Verschwinden der Aktivisten nicht in den Untergrund, sondern in die völlige staatliche Kontrolle zur Folge hat, können die im dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion anzusiedelnden politischen Aktivitäten fortgeführt werden. Diese Kreuzung der beiden Diskurse der Subversion steht an prominenter Stelle, am Ende des Buches, kann jedoch auf unterschied266 | Die Geschichte von Bodo Petersen wird in Tb 70–75, 96–102, 145f., 156f., 192 u. 250 erzählt.
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liche Weisen gelesen werden: Als Abgesang auf die terroristischen Konzepte, die symbolisch zum Verschwinden gebracht werden; als Kritik aber auch an der dekonstruktivistischen Subversion, die letztlich doch nur dem privaten Vergnügen zu dienen scheint.267 Vivian, Frauke, Korinna und Hans werden als Figuren im Roman deutlich sympathischer gezeichnet als Pat und Bodo und stehen durchgängig im Vordergrund der Handlung. Während Letztere gleichsam von der Bildfläche des beschriebenen akademischen Milieus und somit auch aus der erzählten Welt verschwinden, kündigen jene an, auch zukünftig die sich bietenden Möglichkeiten zur Resignifikanz ihrer selbst und ihrer Geschlechteridentitäten lustvoll zu leben. Die Verhandlung dieser beiden Diskurse der Subversion in Tomboy lässt sich somit als eine Ablösung des traditionellen und als politisch folgenlos vorgeführten politisch-revolutionären Diskurses der Subversion, der sich z.B. terroristischer Strategien bedient, durch den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion, der sich z.B. für Strategien des Cross-dressing interessiert, beschreiben. Topografien der Subversion: Atlantis und die Insel der Intellektuellen In Hellblau lebt einer der Ich-Erzähler, Tillmann, zurückgezogen auf der Atlantikinsel Ocracoke, die ihm als intellektueller Rückzugsort dient. Hier beschäftigt er sich mit seinen wissenschaftlichen Forschungen, insbesondere über den deutschen U-Boot-Krieg gegen die USA während des Zweiten Weltkriegs. Häufig ›taucht‹ Tillmann im wahrsten Sinne des Wortes in die mörderische Geschichte des Zweiten Weltkriegs ab, die als heute noch virulent dargestellt wird, da Deutschland und Israel – als späte Folge der Shoa – inzwischen gemeinsam ein U-Boot bauen. Auch die noch immer zahlreichen ungelösten und verdrängten Fragen zu Geschichte und Zweck des deutschen Angriffskrieges werden als weiterhin aktuell präsentiert (vgl. Hb S. 16–20, 56, 122–125, 149f., 197–199, 249–253, 265, 284–286, 313f. u. 330f.). Zugleich aber wird derselbe Atlantik, auf dessen Grund noch heute versenkte U-Boote von Aggression und Barbarei zeugen, auch zu einem utopischen Ort der Hoffnung stilisiert, und »Meeresschiffe […] als komplexe Vehikel des politischen Dissenses und einer auf ganz besondere Weise transatlantischen kulturellen Produktion« (Hb 14). Dieses utopische Moment des Untergründigen wird an mehreren Beispielen thematisiert, hierzu zählen: die drex267 | Helmut Böttiger erkennt in seiner Tomboy-Lektüre allerdings, dass »Vivians Reaktion auf den Polizeieinsatz […] nicht so eskapistisch (ist), wie es aussieht«, sondern dass der abschließende Verweis auf den »abweichende[n] Kleidungscode« als ein Hinweis auf jene »Abgrenzung« zu verstehen sei, durch die »sich alle Subkulturen konturieren konnten« (Böttiger 2004: 256) – dieser Satz wäre dann gerade keine Fluchtbewegung in das Private, sondern würde im Sinne einer minoritären Distinktion politisch aufgeladen.
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ciyanische Utopie des Labels Underground Resistance, aus den überlebenden Föten der auf dem Weg von Afrika nach Amerika verschleppten und über Bord geworfenen schwangeren schwarzen Sklavinnen hätten sich bis heute Underground- oder besser Underwater-Fluchtstätten bilden können (vgl. Hb 14 u. 20–25); die Forscherfantasie, es ließe sich unter Wasser Methanhydrat abbauen, und dies sei die Energiequelle der Zukunft (vgl. Hb 57f.); die Ausrufung eines matriarchalen und zugleich ›aquarischen‹ Zeitalters durch Saul Williams (vgl. Hb 166); die romantische Fantasie komischer aquatischer Lebensformen durch die englische Band Pram (vgl. Hb 267f.); die unbesorgten Strandvergüngungen von Tillmann, Vermillion und Cordula (vgl. Hb 282). Die Unterwasserwelt kann somit verschiedene Bedeutungen subversiver Topografien annehmen, die sich gegenseitig überlagern. Der Meeresraum als Ensemble von Insel, Strand und Unterwasserwelt wird jedoch zugleich als bedrohter Ort gezeigt, da die Outer Banks von Orkanen und Unwettern bedroht sind, die große Zerstörungen anrichten können. Schon der Einstieg des Romans rekapituliert die Empfehlungen der Küstenwache für den »Ernstfall« (Hb 7), der im Verlauf des Buches mehrfach eintritt und schließlich Präsident Clinton dazu veranlasst, »alle Inseln und die Küstenregion des Festlands zum Katastrophengebiet« zu erklären (Hb 90). Die dann überflutete Insel wird plötzlich zur realisierten Drexciya-Unterwasserwelt, die allerdings ironischerweise somit zugleich großen Zerstörungen und Gefahren ausgesetzt ist. Die Outer Banks von North Carolina, als intellektueller Fluchtort für Tillmann und Vermillion, später auch für Cordula, sind somit kein erdabgewandtes Paradies, sondern ein von den Naturgewalten bedrohter vorübergehender Aufenthaltsort. In der globalisierten Gegenwart gibt es keinen unbedrohten Rückzugsort für intellektuelle Fluchten mehr – auch wenn die Bedrohung hier nicht in kulturellen, ökonomischen oder sozialen Fakten besteht, sondern durch eine natürliche, kaum kontrollierbare Gefahr verkörpert wird, die gleichsam ein letztes Auf bäumen ›der Natur‹ gegen die Orte intellektueller ›Entnaturalisierung‹ konstituieren. Sprache der Subversion: Geheimsprachen in der Romanrille Ein bekannter Topos der Pop- und Rockmusik sind die Geheimsprachen in der Plattenrille, die vor allem in den 1970er Jahren und bei Bandes des Heavy Metal virulent waren: In den Abspielrillen der Langspielplatten würden, so der Topos, geheime Botschaften versteckt, die durch schnelleres, langsameres oder rückwärts laufendes Abspielen gehört werden könnten. Umgekehrt wurde in der Werbeindustrie einige Zeit lang das inzwischen verbotene Verfahren benutzt, Einzelbilder in laufende Werbespots hinein zu schneiden, die die Betrachter zwar nicht bewusst, aber unbewusst wahrnehmen – und die folglich nur für Medienprofis mit der passenden Technik leicht zu erkennen sind. In
Pop, Literatur und Subversion
diesen Verfahren wird die Existenz geheimer Botschaften in Kunstwerken (wie LPs, Videoclips, Werbespots) behauptet, die nur für Eingeweihte decodierbar seien. Diese geheime Sprache ist für Diederichsen ein entscheidendes Merkmal subversiver Verfahren: »Ein Problem der Subversion besteht immer darin, ihre Heerscharen zu benennen und zu kennzeichnen, ohne sie zu denunzieren oder soziologischer Analysierbarkeit zuzuführen. […] Selbstdefinition auf der operationalen Ebene kann die […] Geheimdienstmetaphorik leisten: Wir sind die, die die Parole kennen.« (Diederichsen 1993a: 43) Sind solche Geheimsprachen oder codierten Botschaften in Meineckes Texten zu finden? In Tomboy wird man auf der Suche nach geheimen Sprache nicht fündig: Die Zitate sind deutlich markiert, die Theoreme der Gender Studies werden ausführlich referiert, kritische Reflexionen finden sich im Buch in verschiedenen Fragepassagen (z.B. Tb 57f. u. 100f.) – die Hauptfigur Vivian schreibt ihre Magisterarbeit im Fragestil (vgl. Tb 10 u. 32) usw. Das (Hinter-)Fragen ist die Methode politischen und emanzipativen Voranschreitens in Tomboy. Hellblau funktioniert jedoch anders. Hier zitieren die Figuren teilweise wörtlich aus anderen Texten und positionieren sich nicht durch Fragen politisch, sondern teilweise auch durch deutliche Feststellungen und Behauptungen – diese könnten als politische Botschaften gelesen werden, die den Roman selbst in spezifischen politischen Diskursen positionieren. Eine Rezension stellt z.B. fest: »Ohne daß man wüßte, wer ihn spricht, steht irgendwo im Roman der Satz: ›Kein Mensch ist illegal.‹ Das ist eine Erkenntnis – und ein Bekenntnis. Und was für eins! An diesen Satz kann man sich halten.« (Hess 2001) Diese Behauptungen sind allerdings nur bedingt richtig: Einerseits wird dieser Satz von Tillmann – eine Internetseite und eine Email Heinrichs zitierend – auf seinem Computer gelesen, andererseits steht dieser Satz keineswegs isoliert, sondern eingefügt in einen Bericht über das Verfahren der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber per Flugzeug, über das an verschiedenen Stellen des Buches reflektiert wird: www.deportation-alliance.com: Kein Mensch ist illegal. Eine Kampagne gegen das niederträchtige Geschäft mit der gewaltsamen Abschiebung von Flüchtlingen. Zehntausende hilfloser Personen soll die Lufthansa, Deportation Class, bereits zum jeweiligen Ursprungsort ihres Unglücks zurückgeflogen haben. Immer häufiger beschweren sich Touristen an Bord der Maschinen, die sie in ihre Urlaubsländer transportieren, über die psychisch belastende Gegenwart weinender, gefesselter, von der prosperierenden Bundesrepublik Deutschland abgewiesener Asylbewerber. (Hb 288)
Erst der wertende Bericht (›gewaltsam‹, ›hilflos‹, ›psychisch belastend‹ etc.) sorgt dafür, dass der Satz ›Kein Mensch ist illegal‹ wie eine Conclusio verstanden werden kann und wie eine Art politischer Merksatz erscheint. Diese Stelle weist eine emblematische Struktur auf: Unter einem Titel (›www.deportationalliance.com: Kein Mensch ist illegal.‹) finden sich ein schriftliches Icon (das
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Bild der mit den ›Deportierten‹ fliegenden Fluggäste, die mit diesen leiden; die antirassistische Diffamierung der Lufthansa als ›Deportation Class‹)268 und eine politische Subscriptio (im weiteren Fortgang wird auf das Paradox verwiesen, dass den nicht als politischen Flüchtlingen Anerkannten durch ihre Rückführung doch noch ein politischer Status attestiert wird). Ähnliche Merksätze oder politische Botschaften und Stellungnahmen (wenn auch nicht in dieser emblematischen Form), die durch die sie umgebenden Sätze ›verifiziert‹ werden, gibt es in Hellblau auch an zahlreichen anderen Stellen: Cordula schließt ihre Reflexion über das neuerliche Voranschreiten des Antisemitismus in Deutschland ab mit der Feststellung: »Antirassismus erscheint […] als das momentan einzige verbindliche Reservoir der deutschen Restlinken« (Hb 75); Tillmann stellt, offenbar Heinrich zitierend, in der Reflexion über den Wiederauf bau nach dem Zweiten Weltkrieg apodiktisch fest: »Der Krieg hatte sich ausgezahlt; von einem deutschen Nachkriegs-Wirtschaftswunder konnte nur sehr bedingt die Rede sein« (Hb 107); und Yolanda zitiert – vielleicht den Ursprung des eigenen literarischen Verfahrens zitierend – von einer Underground Resistance-LP: »Im Umfeld der Auslaufrille von Message to the Majors stand schon 1993: Fuck the Majors.« (Hb 128) Immer wieder werden die Reflexionen in Hellblau also in einer Form apodiktischen Sprechens formuliert, deren Resultate als Merksprüche oder politische Positionierungen gelesen werden können. Die Fragen in Hellblau dienen hingegen – anders als noch in Tomboy – nicht mehr allein der Exemplifikation theoretischer Sachverhalte, sondern auch der Präzisierung popkulturellen Wissens,269 persönlicher Entscheidungen270 oder beruflicher Fragen.271 Während also die Figuren in Tomboy einen fragenden, sich einarbeitenden Umgang mit Theorien und Forschungsgegenständen haben, erweisen sich die Äußerungen der Forschenden in Hellblau als apodiktischer – es kann sogar behauptet werden, dass einzelne Sätze oder Feststellungen durchaus als politische Aussagen gelesen werden können, die in das Zitat-Patchwork eingefügt worden sind, dieses zusammenfassen und den Roman somit ungebrochen in die subkulturellen und dekonstruktivistischen Diskurse der Subversion einschreiben.
268 | Dabei handelt es sich um einen intertextuellen Verweis auf das Kunstprojekt Deportation Class der Frankfurter Künstlerin Silke Wagner, gegen das die Lufthansa einen Prozess anstrengte, den sie allerdings verlor, vgl. http://www.noborder.org/ archive/www.deportation-class.com/lh/presse/pm010202.html. 269 | Z.B. »Seit wann genau nennt sich Gerald Donald Rudolf Klorzeiger?« (Hb 126) 270 | Z.B. »Habe ich Dir schon berichtet, dass Wanda und ich uns, pünktlich zur Jahrtausendwende, das Rauchen abgewöhnten?« (Hb 156) 271 | Z.B. »Hat sich eigentlich […] einer der beiden Verlage aus Deutschland bei dir gemeldet?« (Hb 227)
Pop, Literatur und Subversion
Darin unterscheidet sich Hellblau von Tomboy. In Tomboy werden subversive Strategien und Diskurse außerhalb des dekonstruktivistischen Diskurses der Subversion kritisiert oder für obsolet erklärt: Frauke Stöver versucht vergeblich, ihre Freunde für den Heidelberger Uni-Streik zu begeistern, auch der terroristische Kampf von Pat Meier und Bodo Petersen gegen BASF scheitert kläglich (vgl. Tb 235f. u. 249–251). Und selbst der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion wird, wie gezeigt, parodiert, ironisiert und einem männlichen Erzählregime unterworfen. Während in Tomboy die Hauptfiguren selbst für den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion im Bereich der Geschlechtsidentitäten einstehen, geben sich die Figuren in Hellblau eher einem vordergründig unpolitischen Lebensalltag hin (Tauchen, Reisen, Essen, Musikhören) und entwickeln nebenher die theoretischen Debatten. Dabei führen sie jedoch Elemente einer besseren Lebenspraxis vor, indem z.B. der Satz ›Kein Mensch ist illegal‹ umgeben wird von einem Bericht über die Unmenschlichkeit von Abschiebungen, das Buch wiederum eingeleitet wird mit einem Bericht von einem Vorfall, bei dem ein solcher Abzuschiebender von Flugzeugpassagieren befreit und zurück nach Zürich mitgenommen wird (vgl. Hb 8). Die Kombination dieser Berichte, die im Buch fast dreihundert Seiten auseinander liegen, könnte wiederum als Appell verstanden werden, in einer ähnlichen Situation genauso zu handeln. In Hellblau stehen also einzelne Merksätze oder exemplarische Berichte für die Herstellung einer besseren politischen Praxis ein. Da der Roman aus zahllosen Zitaten, Anmerkungen und Reflexionen zusammengesetzt ist und diese Elemente gleichberechtigt nebeneinander stehen, könnten die apodiktischen Setzungen einerseits als politisch-solidarische Botschaften bzw. als eine simple didaktische Aufforderung gelesen und verstanden werden. Dem steht andererseits jedoch die Komposition des Romans entgegen: Es gibt drei verschiedene Ich-Erzähler, die ausgetauschtes Material und Reflexionen zitieren und selber produzieren, weshalb alle diese ›Geheimbotschaften‹ auch als bloße Verweise auf die Theoreme oder Glaubenssätze eines spezifischen akademischen Milieus gelesen werden können.
3.2.5. Der Autor als öffentliche Person. Thomas Meineckes Re- und Dekonstruktionen der starken Autorfigur Obwohl Thomas Meineckes Romane eindeutig sehr intertextuell angelegt sind und exemplarisch für eine Poetologie nach dem ›Tod des Autors‹ stehen können, inszeniert sich Meinecke als eine widersprüchliche Autorfigur in der Öffentlichkeit. Im Anschluss an die medialen Auseinandersetzungen um sein Buch Tomboy hat Gerald Fiebig ihn sogar als den »wohl meistinterviewte[n] Autor der letzten Saison« (Fiebig 1999: 234) bezeichnet. Die widersprüchliche Inszenierung Meineckes sowohl als starker wie auch als engagierter Autor, der
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jedoch auch zugleich als (schwacher) ›DJ‹-Autor auftritt, soll im Folgenden näher untersucht werden. Der starke Autor. Meinecke als Interpret seiner eigenen Texte Tomboy und Hellblau sind durchdrungen von einer intensiven Auseinandersetzung der Figuren mit poststrukturalistischen Theorien, die die Kategorie des Subjekts problematisieren und letztlich darauf hinauslaufen, dass sich der ›natürliche Kern‹ einer ›männlichen‹ oder ›weiblichen‹, ›deutschen‹ oder ›afrikanischen‹, ›weißen‹ oder ›schwarzen‹ Identität nicht prädiskursiv bestimmen lässt, sondern vielmehr diskursiv produziert und den Körpern aufgeschrieben wird. Parallel zu dieser anderen Perspektive auf das Subjekt und die Identität haben Barthes und Foucault die Kategorie ›Autor‹ relativiert: »Unsere heutige Kultur«, schreibt Barthes 1968, »beschränkt die Literatur tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften« (Barthes 2000: 186) – anstelle dessen solle der Text »von nun an so gelesen und gemacht (werden), dass der Autor in jeder Hinsicht verschwindet.« (Ebd.: 189) Foucault beschreibt die »Funktion Autor«, die eben nur »eine der möglichen Spezifikationen der Funktion Stoff« sei, man könne sich auch »eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder rezipiert würden, ohne dass die Funktion Autor jemals erschiene.« (Foucault 1988: 31) In ihren Schreibverfahren entsprechen Meineckes Romane einem solchen Verschwinden des genialen Autors, indem sie auf die Geste des Originären verzichten und sich primär um das Arrangement des bereits Vorhandenen, Zitierfähigen bemühen: »Das Buch sozusagen mich schreiben zu lassen. Es auch mal klüger als den Verfasser sein zu lassen. Den Autor, als das vermeintliche Subjekt, zum Objekt werden zu lassen. Ich als Text.« (Meinecke 2000: 187) Wenn nun, wie Poschardt feststellt, die »DJ-Culture […] die Funktion Autor dekonstruiert« hat (Poschardt 2001: 385), dann ist Meineckes intertextuelle Schreibweise als ein paradigmatisches Beispiel für eine solche Dekonstruktion der Autorschaft zu bewerten. Zugleich äußert sich Meinecke jedoch in zahlreichen Interviews als öffentliche und engagierte Autorfigur, als Agent und Deuter seiner eigenen Werke in nichtironischer Weise und »behindert« somit als öffentliche Autorfigur die »freie Zirkulation, die freie Handhabung, die freie Komposition, Dekomposition und Rekomposition von Fiktion.« (Foucault 2000: 228). Meinecke modifiziert als ›starke Autorfigur‹ bewusst bestimmte Lesarten seiner Texte, die er in zahlreichen Interviews erklärt. Er tritt somit als sein eigener Interpret auf, allerdings in einer Art, die seine Vorgängigkeit als Autor gegenüber anderen Lektüren des Text betont und folglich eine spezifische Deutungshoheit des Autors ›Meinecke‹ über den Text impliziert. Wenn er feststellt: »Ich selbst habe […] eine Fanhaltung zum dekonstruktivistischen Feminismus« (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 121) oder »das sind dann eher Sprechfiguren. […] Die sagen nichts, was ich nicht auch
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jetzt sagen könnte« (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 119), dann stärkt er die Funktion Autor im Lektüreverfahren in einer Weise, die seinen intertextuellen Romanen entgegensteht und mögliche andere Lesarten einzuschränken versucht. Dieser Widerspruch wäre dann ein geringer, wenn sich Meinecke – ähnlich wie der Musiker Bob Dylan in bestimmten Perioden – in Interviews oder als öffentliche Figur sehr ironisch und vielfältig interpretierbar äußern würde. Dafür können jedoch keinerlei Anzeichen gefunden werden, im Gegenteil: An manchen Stellen beschreibt er sogar, dass er sich in seinem Schreibprozess von bestimmten Einflüssen nicht stören lassen dürfe, um seinen ›eigenen Stil‹ zu bewahren – die konsequente öffentliche Inszenierung eines im Text verschwundenes Autorsubjekts sähe anders aus.272 Auf diesen Widerspruch zwischen Meineckes ästhetischer Dekonstruktion der Autorfigur und seiner medialen Rekonstruktion der Autorfigur weisen auch Gerald Fiebig und Eckhard Schumacher hin. Schumacher stellt fest, dass Meinecke seine Bücher grundsätzlich durch eine »Reihe von Interviews supplementiert«. Zwar inszeniere er sich als ein Autor, der im Schreiben nur seine Lektüren abbildet, aber durch Meineckes Autorinszenierungen lösten sich »autobiographische Verrechnungsoptionen letztlich ebenso wenig auf wie die Möglichkeiten, die Texte dennoch im Blick auf die Autorfunktion ›Thomas Meinecke‹ zu lesen.« (Schumacher 2003a: 199) Fiebig geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt, dass Thomas Meinecke »das beste Beispiel« eines ›DJ-Autors‹ sei, der sich nicht durch die Nutzung intertextueller Schreibweisen »von seiner als ›bürgerlich‹ verschrieenen Autorität freikaufen« kann: »jedes Interview, in dem er seine Abneigung gegen das Konzept des ›Autors‹ kundtut, etabliert ihn als solchen, weil der Diskurs der Literaturkritik eben nach den Regeln eines literarischen Starsystems funktioniert.« (Fiebig 1999: 239) Zugleich wird die ›Autorfigur Meinecke‹ außerhalb der Texte als eine inszeniert, die sich zu unterschiedlichen politischen Fragen öffentlich positioniert, ihre Literatur als Teil dieses politischen Engagements versteht und sich somit innerhalb des traditionellen Bildes des ›Autors als Intellektuellen‹ inszeniert. Der engagierte Intellektuelle. Thomas Meinecke als politischer Moralist Obwohl Meineckes Romane insbesondere den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion archivieren und präsentieren, während die anderen Diskurse 272 | Meinecke beharrt beispielsweise in einem Interview auf seiner ›originären Schreibweise‹, die er gegen andere, ähnliche Einflüsse beschützen müssen: »Wenn mir heute ein zeitgenössischer Autor, jemand wie Peter Kurzeck, sehr gut gefällt, lese ich ihn auf keinen Fall, während ich selber ein Buch schreibe. Ich will nicht, daß etwas abfärbt. Das würde sich unterschwellig einschleichen – so eine Emulation eines anderen Autors, der also seinerseits irgendwelche Issues perpetuiert, die gar nicht meine sind.« (Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 116)
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der Subversion nicht dargestellt oder aber problematisiert werden, schreibt sich Meinecke mit seinen öffentlichen politischen Äußerungen in die Traditionslinie des engagierten Intellektuellen und somit in den politisch-institutionellen Diskurs der Subversion ein, der vom dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion in Frage gestellt worden ist. Meinecke spricht bei solchen Gelegenheiten von »ich als Intellektueller« (Meinecke, zit. n. Bürger/Leitgeb 2001: 13), ganz im Gegensatz zum ›Ich als Text‹. In öffentlichen Debatten tritt er als links-anarchistische Figur auf, die an »›einer Rückkehr zur Aufklärung‹« und an »›der Instandsetzung der alten Ideale‹« arbeite (Tuschick 1998c). Sein aktueller »›Feind ist, sehr verkürzt gesagt, der klassische deutsche linke Tabubrecher, der es sich in dem neuen Großdeutschland gemütlich eingerichtet hat und die Bundeswehr schnell mal nach Jugoslawien schicken möchte. Das sind die Menschen, die vor zehn Jahren weichgespülte Friedensheinis und vor 20 Jahren klar denkende, Frankfurter-Schule-geschulte Leute waren.« (Meinecke, zit. n. Nüchtern 1998) Zudem wehrt er sich gegen die neoliberale Politik, in der uns »unsere Politiker […] ins Private und die so genannte Eigenverantwortung« entlassen (Meinecke, zit. n. Nüchtern 1998), weshalb er das Nachdenken über Ideologien noch immer begrüßt, weil »ich nach wie vor und generell ein totaler Anhänger von Ideologie bin, weil ich nichts schlimmer finde als diese so genannte Ent-Ideologisierung durch die späten 80er. […] Also ich glaube an Ideologien, aber ich glaube nicht an eine Ideologie – das ist das Dumme.« (Bonz 1998: 43) Eine konkrete Alternative politischen Handelns kann er jedoch – im Gegensatz zur Zeit um 1974/75 – heute nicht mehr erkennen, wenngleich noch immer mindestens ebenso fragwürdige Zustände herrschten wie damals.273 Auch zur Bewegung für eine andere Globalisierung habe er ein gespaltenes Verhältnis,274 seine politische Haltung lasse sich als eine ›Anti-Position‹ be-
273 | In einem Interview fragt sich Meinecke, »wie das geht: politisch handeln. Ich bin jetzt 42. 1974 oder 1975 war das eine ganz einfache Sache in Hamburg. Damals wurden Atomkraftwerke gebaut, und man ist nach Brokdorf gefahren, getrampt und hat sich vor der Baustelle mit der Polizei geprügelt. Wunderbares politisches Erleben! Man wusste, man ist im Recht und hat seine Blessuren davongetragen. Ich bin der Meinung, dass heutzutage täglich schlimmere Sachen politisch entschieden werden als die Notstandsgesetze damals. Und ich weiß nicht, was man machen könnte: PDS wählen vielleicht? Das ist auch nicht gerade besonders konstruktiv.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) 274 | Meinecke positioniert sich beispielsweise kritisch gegenüber den Protesten von Genua 2001: »Genua ist für mich eine ganz ambivalente Sache. Dort wurden so viele verschiedene Interessen und diffuse Vorstellungen von einer Verbesserung der Welt auf der Straße ausgeacted […]. Ich glaube einfach nicht, daß es damit getan ist. Ich kann zwar verstehen, daß man intuitiv Krach schlagen will. Aber das im Raum stehende
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schreiben: Sie sei antirassistisch, antinationalistisch und anti-antisemitisch.275 Daraus erklärt sich seine Hinwendung zu dekonstruktivistischen Theorien, denn man »muss die analytischen Schnitte ganz anders anlegen, und das lerne ich interessanterweise bei der Lektüre solcher Bücher, meistens bei diesen amerikanischen Feministinnen.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998)276 In diesem Zusammenhang erklärt Meinecke dann auch als Autor, dass seine Romane auf eine Rückwendung der Leser zur Politik abzielen: Das ist so ein ganz zentraler Komplex, wo ich glaube, dass Leute wie ich, die politisch im Moment relativ desillusioniert sind, zur Politik zurückkommen können, nämlich – und das ist vielleicht jetzt nur exemplarisch der Bereich ›Konstruktion der so genannten Frau‹ – mal zu untersuchen, wie praktisch politisch gearbeitet wird mit Sprache, Worte als Taten zu nehmen, und damit vielleicht auch erklären zu können, wie die Mißverhältnisse z.B. zwischen den Geschlechtern oder auch Nationen oder so genannten ethnischen Gruppierungen zustande gekommen sind und wie man sie dann vielleicht auch mal utopischerweise abbauen könnte oder gerechter machen – insofern bin ich natürlich auch ein Moralapostel. (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 121f.)
Dieser ›Moralapostel‹, der sich hier selbst die traditionelle Rolle des engagierten Autors zuschreibt, betont zusätzlich, dass es für ihn bestimmte moralische Grenzen gebe, die das Handeln eines Autors betreffen: »Ich bin vielleicht auch gar nicht so weit weg vom engagierten Autor nach Sartre, der sich für eine Sache einsetzt. Ich würde auch nie für eine Springer-Zeitung schreiben oder Geld von Bertelsmann annehmen«.277 Weder für Springer noch für Bertelsmann und auch nicht für die FAZ würde Meinecke schreiben: »Bei mir setzt das politische Denken eher ein, wenn ich sehe, dass die ganzen guten Leute
Problem, das mit dem Komplex Globalisierung zusammenhängt, ist so nicht zu lösen.« (Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 107) 275 | Wenn es um Deutschland geht, so Meinecke, nehme er »aus einem Reflex die antideutsche Haltung ein«. Dies sei generell »die beste Aufgabe: die totale Infragestellung dessen, was die eigene Regierung gerade von der Bevölkerung fordert oder durch Propaganda einschärft« (Meinecke, zit. n. Bürger/Leitgeb 2001: 13). Zudem weist er auf die Verbindung von »Antikapitalismus mit Antisemitismus« hin und nimmt Partei für den Staat Israel: »Bereits vor dem 11. September hatte ich das Gefühl, Israel befindet sich mit dem Rücken zur Wand. Und danach habe ich sogleich befürchtet, das wird Israel jetzt noch mehr unter Druck setzen. Die Isolation Israels ist eines der zentralen Probleme, die jetzt aufkommen. Da sollte man gerade als deutscher Intellektueller besonders hellhörig sein.« (Meinecke, zit. n. Bürger/Leitgeb 2001: 17f.) 276 | Vgl. hierzu auch Meinecke, zit. n. Rüdenauer/Meinecke 2002: 108. 277 | Diese Aussage wurde von Thomas Meinecke in einem Gespräch mit dem Verfasser, das am 26. September 2003 in Dortmund geführt wurde, gemacht und nachträglich von Thomas Meinecke autorisiert.
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jetzt im Zuge der Berliner Seiten angefangen haben, für die FAZ zu schreiben. Das geht doch nicht.« (Meinecke, zit. n. Bunz/Joswig 2001) Im Gegensatz zu diesen hegemonialen Medienhäusern wird sein Bezug zum Suhrkamp Verlag hier nun positiv gefasst und der Hochkultur-Verlag zum ›Independent-Label‹ umgewidmet: »Du erscheinst dann halt bei Suhrkamp. Suhrkamp ist ein großes Haus, das aber relativ wenig Profit macht. Die haben kaum Bestseller. Wenn mal ein bisschen Geld übrig ist, wird es in einen doppelbändigen Luhmann gesteckt, der wiederum nur von ein paar tausend Leuten gekauft wird. Das muss ich dem Verlag schon zugute halten, darum mag ich ihn auch gerne und empfinde ihn eigentlich wie einen großen Indie.« (Meinecke, zit. n. Brombach/Rüdenauer 1998) Meinecke widmet eine der wichtigsten und zentralen Institutionen des deutschsprachigen Literaturbetriebs, die somit auf dem Feld der Literatur eine hegemoniale Position einnimmt, zu einem ›unabhängigen Label‹ um – eine problematische Konstruktion. 1999 verabschiedet sich Meinecke nach einer Debatte über den KosovoKrieg aus dem Internet-Autorenforum Null, nachdem er in einem Statement eindeutig und moralisch Stellung bezogen hatte: »Zunächst: Nie wieder Grüne. Nie wieder SPD. Nie wieder Krieg.« (Meinecke, zit. n. Kunisch 2000) Es kann folglich nicht überraschen, dass Meinecke von den Medien dem »alten gesellschaftspolitischen und aufklärerischen Diskurs« zugeordnet wird – im Gegensatz zum »resignativen, schmerzlich-schönen Oberflächenkult der jüngeren Popliteratur«, wie Harald Jähnert dies in der Berliner Zeitung vom 4. April 2000 über die einschlägige Tagung zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Tutzing tat. In der Tat setzt sich Meinecke auch bewusst ab von den neuen Popliteraten wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Alexa Hennig von Lange (vgl. Ullmaier 2001: 35). Der engagierte Popliterat Meinecke erscheint somit als nahezu singuläre Figur. Die Vertreter der ›neuen (Mainstream-)Popliteratur‹ wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Alexa Hennig von Lange wenden sich sowohl textlich wie auch in ihren öffentlichen Äußerungen von jedem politischen Anspruch ab, aber auch Weggefährten wie Rainald Goetz oder Andreas Neumeister verkünden weder literarisch noch öffentlich irgendein politisches Programm. Am ehesten wären vielleicht noch Dietmar Dath, Kathrin Röggla oder der Dramatiker René Pollesch in eine Nähe zu Meinecke zu setzen, die in ihren Texten hegemoniale politische Diskurse aufgreifen und zu unterminieren suchen sowie in öffentlichen Äußerungen ihren subversiven Anspruch benennen.278 278 | Dietmar Dath inszeniert sich sowohl als popkultureller Autor wie auch als politischer Intellektueller, der entsprechende Essays veröffentlicht und Interviews gibt, vgl. Dath 2008. Kathrin Röggla stellt fest, dass sie aus der »Wut auf bestimmte Verhältnisse« in ihrer Literatur letztlich eine Form »klassische[r] Ideologiekritik« (Röggla, zit. n. Ullmaier 2001: 166) betreibe; René Pollesch versteht sich – vorsichtiger – als Globalisierungskritiker auf dem Theater, vgl. Pollesch 2003b: 341.
Pop, Literatur und Subversion
Meineckes mediale Selbstinszenierung als Interpret seiner eigenen Texte und als engagierter Autor stehen in einem Widerspruch zu seinen intertextuellen Schreibweisen und zum positiven Bezug seiner Texte auf den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion. Widersprüchlich wird Meineckes Auftreten als Autor im medialen Diskurs vor allem, wenn er sich als ›weiße, deutsche, männliche Autorfigur‹ öffentlich und unironisch präsentiert, was sich z.B. in der differenzfeministischen Widmung des Buchs Tomboy aus männlicher Position niederschlägt: »Meiner Mutter, meiner Frau, meiner Tochter.« (Tb 5) Denn wenn die subversive Qualität seiner Texte vor allem darin zu finden ist, dass er dekonstruktivistische Konzepte aus den Gender Studies und den Postcolonial Studies in seine Texte aufnimmt und damit hegemonialer Zuschreibungen problematisiert, so widerspricht er diesem Anspruch, wenn er eine starke Identifizierung mit seiner Autorposition vornimmt und aus dieser heraus das eigene Werk vor-interpretiert und politisch einordnet, obwohl er selbst ein hohes Bewusstsein der noch immer wirkungsmächtigen medialen Autorenbilder hat, zu denen er sich positionieren muss.279 Meinecke wiederholt somit eine bereits in den Anfängen der Popliteratur bestehende Konstellation: Bereits Leslie A. Fiedler forderte – bei aller Ablehnung rationaler oder politischer Elemente in der Literatur – den Typus des klassischen, engagierten Autors als Bürger. Dieser Widerspruch scheint Popliteraten, die sich mit ihrer Literatur für die Subversion einsetzen wollen, bis heute zu begleiten, was auch daran liegen kann, dass der mediale Diskurs über Literatur und ihre Autorinnen und Autoren anderen Regelsystemen unterliegt als der literarische Diskurs. Diese These wird in der Auseinandersetzung mit der Autorfigur Feridun Zaimoğlu noch zu vertiefen sein. Allerdings subvertiert Meinecke seine Selbstinszenierung als traditionelle starke und engagierte Autorfigur auch, indem er sich als Musiker und DJ stilisiert und das Medium Literatur und seine gesellschaftliche Funktion als Autor in einer paradoxen Figur abwertet. Der ›DJ-Autor‹. Thomas Meinecke als Literat, Musiker und DJ Meineckes öffentliche künstlerische Praxis besteht primär aus seinen zahlreichen Büchern, die er seit 1986 beim Frankfurter Suhrkamp Verlag publiziert. Während Popliteratur in ihren Anfängen um 1968 noch den »Anspruch oder Traum (verfolgte), die Literatur in möglichst intensives, autonomes Leben einmünden zu lassen, also völlig außerhalb des literarischen Systems zu operieren« (Ullmaier 2001: 50), hat sich Meinecke – obwohl er sich auf die popliterarische Tradition und die Subkulturen positiv bezieht – von Anfang an in den 279 | In einem Gespräch stellt Meinecke fest: »Ich bin nicht der Typ, der mit übereinandergeschlagenen Beinen losdoziert, und ich halte mich auch nicht für klug außerhalb meines Schreibens. […] Wieso die Medien in dem konkreten Fall die Schriftsteller überhaupt ansprechen, ist mir komplett rätselhaft.« (Meinecke, zit. n. Bürger/Leitgeb 2001: 15)
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Literatur und Subversion
Hallen literarischer Hochkultur befunden, was ihm das Etikett einbrachte, ein ›Suhrkamp-Popliterat‹ zu sein. Dieser scheinbare Widerspruch ist dadurch aufzulösen, dass die Grenzlinien zwischen populärer und hoher Literatur heute nicht mehr so glatt verlaufen wie noch 1968 – und dass inzwischen auch Formen von Popliteratur entstanden sind (Meinecke selbst ist ein gutes Beispiel dafür), die ein Mindestmaß an Bildung und Theoriekenntnis voraussetzen. Meinecke bricht seine Vereinnahmung durch die bürgerliche Hochkultur oder Institutionen des traditionellen Kulturbetriebs jedoch auf, indem er nicht nur als Autor, sondern auch als Musiker und DJ arbeitet – in Kontexten also, die der literarischen Hochkultur eher fern sind. Seit 1980 ist Meinecke Musiker der Band FSK (Freiwillige Selbstkontrolle), die bis heute nur sehr geringe Auflagen ihrer Platten bzw. CDs absetzt, weil sie die Publikumserwartungen immer wieder unterläuft. Dazu gehören dann Auftritte (in der Anfangszeit) »in einem Regen von Bier, Spucke und Zigarettenkippen« (Teipel 2001: 273) oder irritierte Reaktionen auf das musikalische Projekt »transatlantische Dialektik«, wobei heute »bei FSK nicht mehr gejodelt und keine Polka mehr gespielt« wird (Bonz 1998: 32). Zudem arbeitet Meinecke schon länger als Radio-DJ, u.a. beim Zündfunk, dem Jugendprogramm des Bayerischen Rundfunks. Seine Begeisterung für das Plattenauflegen nutzt er auch bei Lesungen, nach denen er häufig als DJ tätig wird, im zweiten Teil des Abends, der für manche vielleicht sogar zum Hauptteil der Veranstaltung wird: Dass ich nach meinen Lesungen noch Platten auflege, hat eigentlich nicht direkt was mit dem Text zu tun. Es dient eher der Unterhaltung des Publikums, im Sinne von: Jetzt seid ihr schon mal zu einer Lesung gekommen – eine Lesung halte ich prinzipiell eigentlich für eine nicht so super interessante Sache –, jetzt kriegt ihr noch was für euer Geld, bleibt doch noch ein bisschen da, wir hören noch ein paar schöne Schallplatten. (Meinecke, zit. n. Ullmaier 2001: 122)
Die Abwertung der Literatur zu einem schwächeren Medium im Vergleich zur Musik wird vom Autor Thomas Meinecke systematisch betrieben. In einem anderen Interview stellt er fest, dass Musik ohne Literatur schon, Literatur ohne Musik für ihn allerdings nicht funktioniere: Ich selbst bin auch immer noch mit Leuten zusammen, die mehr Musik hören als lesen. Mit Leuten, die dauernd lesen, aber keine Platten kennen, komme ich einfach nicht auf ein Koordinatensystem. Ich finde Musik einfach besser als Literatur. (Meinecke, zit. n. Büsser 1998: 134)
Damit entspricht Meinecke dem Bild jenes postmodernen Künstlers, den Leslie A. Fiedler und Rolf Dieter Brinkmann 1968 postulierten. Fiedler nannte als Beispiele dafür Ed Sanders (Autor und Fugs-Musiker), Leonard Cohen (Literat und Sänger), Frank Zappa (Autor und Leader der Mothers of Invention) und John Len-
Pop, Literatur und Subversion
non, der erst als Beatles-Mitglied bekannt wurde, sich dann jedoch »Stufe um Stufe als Prosaschreiber, Stückeschreiber, Filmemacher, Guru, Bildhauer usw. entpuppte« (Fiedler 1994: 33) – multiple Künstler, die »die Grenzlinie überschritten haben« (ebd.: 32). Auch Brinkmann stellte fest: Der Typus Schriftsteller selber veränderte sich: Vielseitigkeit wurde zu einem erstrebenswerteren Ideal als Einsichtigkeit, d. h. die Beschränkung der Begabung, auf einem Gebiet ausschließlich tätig zu sein […] – wodurch sollte sie begründet sein außer durch eine leichtere wirtschaftliche Verwertung? (Brinkmann 1969: 386)
Meinecke entspricht diesem Postulat, indem er als Autor, als (Radio-)DJ und als Musiker tätig ist, er bezeichnet sogar seine vermeintliche Haupteinnahmequelle, das literarische Schreiben, öffentlich als beschränkteste und unnötigste Kunst, die er selbst ausübt. Damit schafft er es zugleich, die Vereinnahmung durch den hochkulturellen Suhrkamp Verlag zu unterlaufen: Dessen Anspruch, die wichtigsten literarischen Werke der Gegenwart zu veröffentlichen, wird vom eigenen Autor konterkariert, indem dieser erklärt, er finde Musik besser als Literatur. Diese Geste würde erst dann wieder zurückgenommen, wenn der Suhrkamp Verlag sich dazu entschlösse, zukünftig auch Musik zu publizieren. Bis dahin gelingt es Meinecke als Autorfigur jedoch, seinen eigenen potenziellen hochkulturellen Anspruch als Suhrkamp-Literat durch die stärkere Fixierung auf seine musikalischen Tätigkeiten außerhalb des Suhrkamp Verlags zu unterminieren.
3.3. THOMAS M EINECKES AVANCIERTE P OPLITER ATUR , DIE D EKONSTRUK TION UND IHRE A PORIEN . E IN F A ZIT Thomas Meinecke setzt sich in seinen Romanen Tomboy (1998) und Hellblau (2001) ab von jenem ›traditionellen Erzählen‹, das von den Feuilletons und der ›Mainstream-Popliteratur‹ zu jener Zeit genutzt wurde, in der die beiden untersuchten Romane erschienen. Entgegen der Behauptung, dass Meinecke komplett auf das Erzählen verzichte, muss jedoch festgehalten werden, dass in die Texte sehr wohl chronologisch erzählen, allerdings handelt es sich bei den Texten vor allem um eine spezifische Mischung aus Zitaten und Narrativen. Bei Meinecke handelt es sich um eine deutlich geordnetere und chronologischere Erzählstruktur als in den popliterarischen Texten von Rainald Goetz und Andreas Neumeister, zudem nutzt er einen hypotaktischen Stil, wodurch seine Texte im Vergleich sprachlich komplexer und reflexiver gestaltet sind. Meinecke nutzt die Metapher des ›DJ-Autors‹ und bezeichnet seine Schreibweise als ›entsubjektiviertes Schreiben‹. Es handelt sich in seinen Texten allerdings nicht um ein radikales Verschwinden der Autorschaft, sondern vielmehr um deren Relativierung: Meinecke reiht – unter Verwendung eines durchgän-
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gigen und spezifischen literarischen Stils – Zitate, Motive, Reflexionen, Gespräche aneinander zu einem Text-Rhizom. Seine Schnittverfahren sind größtenteils weich, seine Texte können als Montage beschrieben werden. In Tomboy dienen lange Zitatpassagen der gebrochenen Reflexion eines patriarchalen Gender-Diskurses; in Hellblau ist das Verfahren invers: Hier dienen die Zitate aus Theorietexten den Figuren zum besseren Verständnis theoretischer Probleme. In Hellblau wird zusätzlich der Übergang zwischen den Zitaten der IchErzähler undeutlich gehalten. Einzelne Nachrichten oder berichtete Tatsachen werden auf diesem Wege kontextualisiert, ohne dass eine wissenschaftliche Argumentationskette vorläge. Indem die aus heterogenen Quellen stammenden Zitate jedoch einem homogenen Stil unterworfen werden, unterliegt das Text-Rhizom einer doppelten Aporie: Erstens werden die Zitate durchgängig identifizier- und auffindbar gemacht, womit ihnen jene ursprüngliche Identität zugewiesen wird, die sie selbst inhaltlich zu dekonstruieren versuchen. Zweitens wird die heterogene Vielfalt der Zitate, Musiktitel, Reflexionen, Figuren unter einem homogenen Stil vereinheitlicht, was ihr jene Möglichkeit zur Differenz nimmt, deren Förderung doch das Ziel dekonstruktivistischer Theorie ist. Die Romane archivieren und reflektieren in herausragender Weise den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion und schreiben sich zugleich in diesen ein. Während Tomboy dies anhand der Gender Studies vollzieht, archiviert und reflektiert Hellblau zusätzlich die postkoloniale Theorie. In beiden Texten stellen die Romanfiguren in indirekten Referaten die Grundtheoreme der jeweiligen Theorien vor. Die Figuren werden nicht psychologisiert, sondern als Projektionsflächen für jene Fragen und Theoreme genutzt, die in den reflexiven Zwischenstücken des Textes entwickelt werden. In Tomboy ist die Figuren-Konstellation zu beschreiben als ein Tableau von Personen, die – ganz im Sinne der Gender Studies – in ihrem eigenen Leben und Denken jene kulturellen Akte untersuchen und durchspielen, die die Grenzen der Geschlechteridentitäten markieren und überschreiten, und die selbst Objekte der Frage werden, wie gender und sex in kulturellen Repräsentationen (de-)konstruiert werden. Tomboy ist zu lesen als ein Text, der exemplarisch im Sinne der Gender Studies die Geschlechter-Binarität in Verwirrung bringt und an zahlreichen Beispielen deren grundlegende Unnatürlichkeit zu enthüllen versucht. Zudem thematisiert der Text das popliterarische Schreiben über Frauen – und weist damit avanciert in eine neue Richtung, denn der deutlich oder eher patriarchale Gestus der Popliteraten (z.B. Rolf Dieter Brinkmann oder Benjamin von Stuckrad-Barre) wurde nur selten und kaum in der Popliteratur der 1990er Jahre subvertiert. Allerdings werden die meisten ›weiblichen Figuren‹ noch immer als ›sexy‹ beschrieben und somit ein sexistischer Diskurs rekonstruiert, der innerhalb des popkulturellen Feldes eine große Bedeutung hat. Zudem etabliert der auktoriale Erzähler ein männliches Erzählregime, aus dessen Sicht die Frauen-Lesben-WG in einer ironischen und parodistischen Weise
Pop, Literatur und Subversion
beschrieben wird, weshalb der Text auch als Parodie auf die Theorien der Gender Studies gelesen wurde. In Hellblau wird die Erzählperspektive jedoch in drei Ich-Erzähler dissoziiert, was diese Lesart unmöglich macht. Der Text ist als Entwurf einer postkolonialen Literatur zu lesen, die den Anspruch verfolgt, binäre Matrizen des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ zu dekonstruieren. Im Gegensatz zu Tomboy, in dem wichtige Theoretikerinnen der Gender Studies referiert werden, hat Meinecke in Hellblau seine Schreibverfahren ausdifferenziert und entwickelt aus den Reflexionen und Materialsammlungen seiner Figuren aus Büchern, Internet, Musikbeispielen usw. ein Panoptikum postkolonialer Problemfelder und Handlungsmöglichkeiten. Zudem lösen beide Texte die Grenze zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sprache auf, sie reflektieren zahlreiche Begriffe und Formulierungen vor dem Hintergrund der von ihnen konstruierten Identitätskategorien in einer sprachkritischen Weise. Sowohl Tomboy als auch Hellblau nutzen zahlreiche Topoi, Topografien, Personen und Sprachen der Subversion. So wird in Tomboy anhand der Nebenerzählung über die terroristischen Umtriebe von Pat Meier und Bodo Petersen der politisch-revolutionäre Diskurs der Subversion aufgerufen und kontrastiv zum dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion im Haupterzählstrang reflektiert und problematisiert. Einzelne Ausführungen in Hellblau können zudem als Geheimsprachen und politische Botschaften gelesen werden. Anders als z.B. popliterarische Texte von Benjamin von Stuckrad-Barre oder Florian Illies, deren popkulturelle Archive und Positionsfelder einer Mehrheit des jüngeren Publikums geläufig sind, tauchen in Meineckes Texten weitestgehend unbekannte Musiker, Songtitel, Pop-Theoretiker etc. auf. Populärere Künstler werden unter Fragestellungen betrachtet, die nur indirekt mit deren Bekanntheitsgrad zu tun haben. Damit archivieren Meineckes Texte minoritäre Begriffe, Gruppen, Figuren, Songs, Probleme in literarischen Diskursen und werten diese zugleich auf. Meineckes Versuch, über den Bezug auf (unbekannte) Pop-Phänomene zugleich jedoch die Lektüre zu vereinfachen und aus hochkulturellen Kontexten zu lösen geht jedoch fehl, weil sowohl seine minoritären Positionsfelder, deren Decodierung ein neues Pop-Expertenwissen erfordert, als auch seine an akademische Diskurse angelehnten Schreibweisen eine relativ hohe Bildung voraussetzen. Meinecke wendet sich in Interviews gegen die Leitrolle hochkultureller Werke oder den Führungsanspruch des Bildungsbürgertums. Zugleich jedoch veröffentlicht er bei dem hochkulturellen und bildungsbürgerlichen Verlag in Deutschland, dem Suhrkamp Verlag. Diesen Widerspruch unterminiert er, indem er seine literarische Tätigkeit öffentlich als die beschränkteste und unnötigste aller künstlerischen Tätigkeiten bezeichnet und demgegenüber seine Beschäftigung als Musiker und (Radio-)DJ hervorhebt – in seiner öffentlichen Selbstinszenierung wäre Meinecke also sehr wohl als ›DJ-Autor‹ zu bezeichnen. Aporetisch ist jedoch, dass er zugleich in Interviews als nicht-ironischer
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Interpret seiner eigenen Texte auftritt und seine Autor-Funktion in einer Weise inszeniert, die ihm eine spezifische Deutungshoheit über den Text zugesteht. Im Gegensatz zu seinen hochgradig intertextuellen Romanen füllt Meinecke somit die traditionelle Rolle des engagierten Intellektuellen aus.
4. Minoritäten, Literatur und Subversion: F ERIDUN Z AIMO÷LUS K ANAK S PRAK (1995) UND KOPPSTOFF (1998)
Längst haben sie einen Untergrund-Codex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die ›Kanak-Sprak‹, eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen. Feridun Zaimoølu (1995: 13)
Einer der vier Subversionsbegriffe, die sich historisch herausgebildet haben, ist der Begriff einer minoritären Subversion: Eine gesellschaftlich minorisierte Gruppe zielt auf ihre Emanzipation ab. Dazu nutzt sie eine kollektive Organisationsform, politische und kulturelle Distinktionsverfahren und künstlerische Produktionen, denen als ›authentische Äußerung einer minorisierten Gruppe‹ ein subversives Potenzial zugeschrieben wird. Diese Ausdrucksweisen der ›minoritären Identität‹ zielen in politischen Kämpfen auf ihre Etablierung und Normalisierung und somit letztlich auf ihre gesellschaftliche Emanzipation; oft werden diese Kämpfe zum Anlass genommen, um die Identität der minorisierten Eigengruppe gegen die Identität der Mehrheitsgesellschaft zu rekonstruieren und zu verhärten. Zu den kulturellen Produktionen gesellschaftlicher Minderheiten gehört auch die sog. minoritäre bzw. Minderheitenliteratur, die Ritter definiert als »variantenreiche Literaturen kleinerer Sprachgemeinschaften, die sich als Teil der Kultur zumeist ethnisch wie regional und sozial definierter Minderheiten (Minoritäten) in sprachmehrheitlich anders bestimmten Gesellschaften und Nationalstaaten im interkulturellen Austausch entwickeln« (Ritter 2000: 339). Ritter geht in seinem Artikel vor allem auf sprachliche Minderheiten ein, verweist deshalb insbesondere auf ›Migranten‹ und unterstellt der ›Minderheitenliteratur‹ eine geringe literarische Qualität.280 Wenn man jedoch von einem erweiterten Begriff der ›minoritären Literatur‹ ausgeht und die literarischen Produkte sozialer Minoritäten wie z.B. von Homosexuellen oder Texte über 280 | Vgl. Ritter 2000: 340. Ritter verweist auf Arbeiten über die ›deutschsprachige Literatur im Elsaß‹ und die ›siebenbürgisch-deutsche Literatur‹.
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Minoritäten und ihre Themen als ›Minderheitenliteratur‹ begreift, erweitert sich der Fokus über Texte der sog. Migrantenliteratur hinaus, z.B. auch auf ›schwul-lesbische Literatur‹.281 In dieser Untersuchung soll exemplarisch für eine ›minoritäre Literatur‹ das ›Kanak Sprak‹-Konzept von Feridun Zaimoğlu untersucht werden, das dieser in seinem ersten Buch Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) und in seinem dritten Buch Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1998) entwickelt hat – wobei sich zeigen wird, dass die Texte zwar mit dem Bezug auf die ›minoritäre Identität‹ der ›Kanaken‹ operieren, diesen jedoch eher problematisieren als affirmieren.282 Für die Auswahl Zaimoğlus sprechen fünf Gründe: Erstens wird er als einer der prominentesten ›politischen‹ und ›radikalen‹ Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Die junge Welt behauptet 1998, er sei »der einzige politische Autor der neuen deutschen Literatur« (Tuschick 1998a), die Frankfurter Rundschau präzisiert 2003: »Nun, er ist vielleicht nicht der einzige, mit seinem Programm der Identitätszerschmetterung und Sprachlust aber einer der radikalsten.« (Rüdenauer 2003) Zweitens wird das Erscheinen von Zaimoğlus Kanak Sprak inzwischen als eine von vielen Markierungen eines Übergangs von einer ›Migrantenliteratur‹ zu einer ›Kanak-Bewegung‹ von der Literaturwissenschaft bewertet (vgl. u.a. Steltz 2006: 102, Yildiz 2009: 188–191); da diese Untersuchung sich für die Etablierung neuer subversiver literarischer Konzepte auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989/90 interessiert, erscheint eine Analyse dieses Bruchs sinnvoll. Drittens spielte die ›Kanak Sprak‹ schließlich auch eine prominente und massenwirksame Rolle in den Medien Film, Fernsehen und Audio; die Untersuchung der literarischen Texte im Vergleich zur späteren Rezeption der ›Kanak Sprak‹ auf anderen Feldern kann Aufschluss geben über die Position des Mediums Literatur. Viertens werden in den ›Protokollen‹ von Kanak Sprak und Koppstoff die nationalen Normalisierungsprozesse der Bundesrepublik Deutschland nach 1989/90 aus der Perspektive von Minoritäten, die sich in ausgeschlosse281 | Einige Buchhandlungen und Internetseiten besitzen eigene Abteilungen mit ›schwul-lesbischer Literatur‹, die zudem in Szenemagazinen wie Siegessäule (Berlin) besprochen wird. 282 | Annette Keck sieht ihrer Beschreibung von Zaimoølus Texten eine große ästhetische und thematische Nähe zu Meinecke: »Die Mischung aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis, die stilistische Aufnahme des Rap, das Zusammenspiel von Protokollarischem und Konstruktivem, die Simultation von Oralität, die Problematisierung von Autorschaft sind Verfahren, die auch mit der neueren deutschen Pop-Literatur in Verbindung stehen. Vergleichbar wäre beispielsweise Thomas Meineckes Roman Hellblau, der mit Theorie-Entwürfen der Cultural und Postcultural Studies arbeitet und diese unter anderem auf die HipHop-Kultur bezieht.« (Keck 2007: 106)
Minoritäten, Literatur und Subversion
nen Milieus bewegen, thematisiert. Es lässt sich davon ausgehen, dass sich aus den Analysen Antworten auf die Frage finden lassen, wie literarische Texte sich subversiv zu hegemonialen Diskursen der Gegenwart verhalten. Fünftens ist Zaimoğlus Medienpräsenz sehr auffällig, zumal er sich als öffentlicher Vertreter der ›zweiten und dritten Migrantengeneration‹ inszeniert hat und den ›Stimmlosen eine Stimme zu geben‹ versuche. Daher bietet sich die ›Autorfigur Zaimoğlu‹ an, um die Erscheinungsformen von Gegenwartsautoren in der Öffentlichkeit zu untersuchen. Dieses Kapitel wird das ›Kanak Sprak‹-Konzept Zaimoğlus in drei Schritten analysieren: Zunächst wird einleitend als Hintergrund für die Analyse seiner Texte ein kleiner historischer Abriss zur Entwicklung von der ›Migrantenliteratur‹ zur ›Kanak-Bewegung‹ gegeben, der die notwendigen literatursoziologischen und -historischen Fakten und Einordnungen zur Verortung der ›Kanak Sprak‹ auf dem literarischen Feld bereitstellt. Auf diese Weise wird Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹-Konzept als ein spielerischer Bezug auf die Tradition der ›Migrantenliteratur‹ beschreibbar (4.1.). In einem zweiten Schritt folgt die ausführliche Literaturanalyse von Zaimoğlus Büchern Kanak Sprak und Koppstoff, die den Hauptteil dieses Kapitels einnimmt und sich mit der Frage beschäftigt, auf welche Weisen die ›Kanak Sprak‹-Literatur als ein subversives Konzept zu beschreiben wäre (4.2.). Zum Schluss werden die Ergebnisse in einer Zusammenfassung präsentiert (4.3.). Eine Vorbemerkung sei noch gemacht: In diesem Kapitel werden zahlreiche Begriffe und Wendungen in einfachen Anführungszeichen stehen (z.B. ›Migrantenliteratur‹), was dem dialektischen Ansatz des Kapitels geschuldet ist. Bei Begriffen wie ›Gastarbeiter‹ oder ›Migrantenliteratur‹ handelt es sich um Konstrukte der Mehrheitsgesellschaft, die rassistische oder koloniale Bedeutungen transportieren und die in vielfältiger Weise in der besprochenen Primär- und Sekundärliteratur problematisiert oder dekonstruiert werden. Dadurch steht diese Untersuchung unter dem Zwang, sich auf diese Begriffskonstruktionen sowohl beziehen als auch zugleich sich von ihnen distanzieren zu müssen. Da diese Begriffe im Kontext dieses Kapitels inflationär auftauchen, sollen einfache Anführungszeichen hier – anders als in den anderen Kapiteln, wo diese Anführungszeichen mitgedacht werden sollten – diese distanzierende Geste signalisieren.
4.1. V OM ›G ASTARBEITER ‹ ZUM ›K ANAKEN ‹. M INORITÄRE L ITER ATUREN IN D EUTSCHL AND In den 1990er Jahren formieren sich unter dem Label Kanak Attak verschiedene minoritäre Gruppen, die ›deutsche‹ oder ›fremde Identitäten‹ nicht als feststehend begreifen, sondern vielmehr die Grundlagen rassistischer Matrizen
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mit postkolonial motivierten Kunstaktionen angreifen. Als ein Beispiel für die Aktivitäten der ›Kanak-Bewegung‹ kann Zaimoğlus Konzept der ›Kanak Sprak‹ gesehen werden.283 Damit der Einschnitt, den die künstlerischen und politischen Aktionen der ›Kanak-Bewegung‹ in der jüngeren Geschichte der Migration in Deutschland darstellen, adäquat beschrieben werden kann, soll dieses Unterkapitel zeigen, wie sich die in der Bundesrepublik seit 1955 einsetzende Arbeitsmigration entwickelt hat und wie sich in den letzten Jahren neue Diskurse über Migration und neue Formen ›migrantischer Kunst‹ entwickelt haben.
4.1.1. Vom ›Gastarbeiter‹ zur Globalisierung. Generationen der Migration in Deutschland Die Arbeitsmigration nach Deutschland reicht etwa 150 Jahre zurück. Für die Debatte um die ›Migranten-‹ bzw. ›Gastarbeiterliteratur‹ ist jedoch vor allem jene Migration relevant, die ab 1955 einsetzt.284 Noch 1954 arbeiten in der Bundesrepublik Deutschland nur 72 096 Ausländer (0,4 % der Gesamtbevölkerung). Die boomende Industrie der ›Wirtschaftswunderzeit‹ benötigt jedoch mehr Arbeitskräfte als auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und begründet daher eine erste Phase der Arbeitsmigration in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie öffnet ab 1955 die Grenzen für sog. Gastarbeiter und schließt Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien, Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) ab. Der Begriff ›Gastarbeiter‹ soll dabei den Begriff ›Fremdarbeiter‹ ersetzen, der während des Nationalsozialismus für die zur Arbeit gezwungenen Kriegsgefangenen in Deutschland benutzt wurde. Heute wird von ›Migranten‹ gesprochen, was »eine neutrale Bezeichnung für ›Wanderer‹ [ist] – für Menschen, die aus vielen verschiedenen Gründen ihr Geburtsland verlassen haben und in einem anderen Land leben.« (Terkessidis 2000: 6) Die Anwerbebemühungen Westdeutschlands sind erfolgreich: Am 10. September 1964 wird der ›einmillionste Gastarbeiter‹, Armando Sa Rodrigues aus 283 | Zwischen Zaimoølu und der Gruppe Kanak Attak gab es jedoch einige Auseinandersetzungen um das Label und den Bezug darauf. Zaimoølu hatte sich die Rechte an dem Label gesichert und wollte die Verfilmung seines Buches Abschaum 2000 unter diesen Titel stellen. Nach einem Streit zwischen Zaimoølu und dem Netzwerk einigte man sich auf einen Kompromiss: Bis heute besitzt die Gruppe den Titel und die Homepage http://www.kanak-attak.de, während der Film unter dem Titel Kanak Attack in die Kinos kam, vgl. Becker 2000. In Interviews nimmt Zaimoølu seither eine distanzierte Position ein, wenn er zum Netzwerk Kanak Attak befragt wird, und ist seither auch nicht mehr Teil seiner Aktionen. 284 | Vgl. hierzu auch die einleitenden Aufsätze in Carmine Chiellinos Handbuch über Interkulturelle Literatur in Deutschland: Yano 2000; D’Amato 2000; Sesselmeier 2000.
Minoritäten, Literatur und Subversion
Portugal, auf dem Bahnhof Köln-Deutz begrüßt und mit einem Motorrad belohnt. In dieser Phase ist der öffentliche Diskurs über das Thema ›Migration‹ noch eher freundlich (vgl. Wengeler 2003: 380). Trotz einer vervielfachten Anzahl der arbeitenden Ausländer in Deutschland bemüht sich die Politik jedoch weder um ein Integrationsgesetz noch um eine Ansiedlungspolitik, so dass sich erstmals seit dem Ende des Nationalsozialismus bei Wahlen in Deutschland der Rassismus offen zeigt: Zwischen 1964 und 1966 zieht die NPD mit Ergebnissen zwischen 5,8 und 9,8 % in sieben Landtage ein. Der Zuzug von Ausländern erleidet zudem einen ersten Einbruch: 1966/67 werden aufgrund der Rezession 250 000 Migranten in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Nach diesem ersten Einbruch gibt es von 1968 bis 1973 wieder eine Hochphase der Einwanderung: Die Zahl der Migranten steigt von einer Million auf 2,6 Millionen, bevor während der Ölkrise am 23. November 1973 der ›Anwerbestopp‹ erklärt wird. Die Ausländerzahl in Deutschland geht jedoch nur kurz zurück, durch Geburten, Familiennachzug und gesteigerte Asylbewerberzahlen ab Mitte der 1970er Jahre steigt sie wieder und erreicht 1981 eine Zahl von 4,63 Millionen. In dieser zweiten Phase der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik vergrößert sich die Zahl der Migranten durch die Entstehung einer ›zweiten Migrantengeneration‹, den zu großen Teilen bereits in Deutschland geborenen Kindern der ›ersten Migrantengeneration‹. Seit dem ›Anwerbestopp‹ von 1973 hat sich jedoch auch der mediale Diskurs über ›die Ausländerproblematik‹ massiv in eine ablehnende, konfrontative Richtung gedreht (vgl. Wengeler 2003: 439). 1980 kommt es zu ersten von Rechtsextremen organisierten Bürgerinitiativen unter dem Titel ›Ausländerstopp‹ sowie zu Brandanschlägen. In Hamburg werden am 23. August 1980 zwei Vietnamesen getötet, was eine erste öffentliche Debatte über ›Ausländerfeindlichkeit‹ hervorruft. Drei Jahre später leben bereits über 60 % der Migranten acht Jahre oder länger in Deutschland, was 15 Professoren veranlasst, im Heidelberger Manifest (1982) die »Integration großer Massen nicht-deutscher Ausländer« als einen Angriff auf die »Identität und Eigenart« des ›deutschen Volkes‹ abzulehnen.285 Durch aufgenommene Asylbewerber, zahlreiche ›Spätaussiedler‹ aus Russland (von 1988 bis 1994 kommen 1,9 Millionen nach Deutschland) sowie europäische Binnenmigrationen steigt die Zahl der Menschen, die ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland leben, bis heute auf etwa 7 Millionen Menschen (8,8 % der Gesamtbevölkerung). Diese Zahl ist jedoch durch gesetzliche Regelungen »in erster Linie selbst produziert. Die deutsche Staatsbürgerschaftspolitik hat dafür gesorgt, dass selbst hierzulande geborene Menschen mit Migrationshintergrund keinen deutschen Pass bekommen können.« (Terkessidis 2000: 6f.) Terkessidis und 285 | Vgl. die Öffentlichkeits-Fassung des Heidelberger Manifests, zit. n. PicardiMontesardo 1985: 111ff.
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Schiffauer zeigen, dass andere Länder wie England, Frankreich und die Niederlande ihr Staatsbürgerrecht offener und integrativer gestalten, was zugleich bedeutet, dass »Fremde (in Deutschland) von vornherein einen schwierigen Stand haben.« (Schiffauer, zit. n. Honolka/Götz 1999: 25).286 Das deutsche Beharren auf dieser »Fiktion der ethnischen Homogenität« ist nach Terkessidis auch der Hauptgrund dafür, dass noch immer »erstaunlich konkrete Vorstellungen darüber (bestehen), wie ein Deutscher aussieht und sich verhält.« (Terkessidis 2000: 74). Diese Vorstellungen über die ›deutsche Identität‹ sowie die ihr gegenüber gestellten Stereotypen darüber, welche Merkmale ›Nicht-Deutsche‹ besäßen, werden in den späteren Literaturanalysen eine entscheidende Rolle spielen. Seit der Vereinigung von West- und Ostdeutschland im Jahr 1990 hat sich der Diskurs um ›Migration‹, ›Nation‹ und ›Ausländer‹ in einer dritten Phase der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik stark gewandelt. Dieser gesteigerte und als ›befreit‹ beschriebene Umgang mit einem deutschen Nationalbewusstsein führt zugleich zu einer verstärkten Abgrenzung gegenüber ›den Migranten‹. Sind zwischen 1987 und 1990 durchschnittlich etwa 250 ausländerfeindliche Straftaten pro Jahr zu verzeichnen, so sind es 1991 schon 2 427, ein Jahr später sogar 6 336, in demselben Jahr werden insgesamt 17 Menschen bei ausländerfeindlichen Attentaten ermordet. Pogrome und Anschläge in Hoyerswerda (1991), Rostock, Solingen und Mölln (1992) führen zu einer öffentlichen Debatte über die Frage, wie sich die deutsche Gesellschaft gegen Rassismus abgrenzen könnte. Als eine Folge der verstärkten rassistischen Stimmung wird 1993 das Asylrecht in Deutschland mit der Drittstaatenregelung faktisch abgeschafft.287 Vor 1989/90 seien in beiden deutschen Staaten die »Nazi-Ideologie und konservativ-völkisches Denken« im demokratischen Raum nicht öffentlich sagbar gewesen, stellen die Linguisten Margret und Siegfried Jäger fest, 286 | Vgl. auch: Terkessidis 2000: 6–69, vor allem 7ff. Erst zum 1. Januar 2000 wurde in Deutschland das ius sanguinis, die Herleitung der Staatsbürgerschaft von der (Blut-) Abstammung, gesetzlich relativiert. Neben Deutschland hielt nur die Schweiz als europäisches Land an der Konstruktion des ius sanguinis fest, auf diese Besonderheit verweisen u.a. Begemann 1999: 210 und Frederking 1985: 135 in ihren Literaturanalysen. Petra Fachinger stellt in einer vergleichenden Untersuchung fest, dass das deutsche Ausländerrecht – im Gegensatz zu den USA und Kanada, wo der Begriff der ›Nation‹ territorial und nicht ethnisch bestimmt wird – »keine Gleichberechtigung vor dem Gesetz mit Personen deutscher Abstammung« (Fachinger 1997: 50) zulassen und diese rechtliche Situation direkt zu einem »Mangel an literarischer Würdigung der deutschsprachigen Migrantenliteratur innerhalb des deutschen Literaturbetriebs« (Fachinger 1997: 57) führe. Dies müsste jedoch gesondert untersucht werden. 287 | Die Fakten dieses Abschnitts entstammen: Thore 2004: 12–14; PicardiMontesardo 1985: 1–4; Frederking 1985: 8–26; Wengeler 2003: 443 u. 445; Terkessidis 2000: 6–37.
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dies sei jedoch »nach der nationalen Wende anders geworden«. Seither lasse sich »eine Restauration konservativ-revolutionärer Ideen« beobachten, die »[v]ölkisches und rassistisches Denken und Sprechen« (Jäger/Jäger 1996: 10f.) zunehmend auch in der ›Mitte der Gesellschaft‹ und im Alltagsleben verankert habe. Es lassen sich somit drei Phasen der Arbeitsmigration in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheiden: Eine erste Phase der sog. Gastarbeiteranwerbung von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 (die Zahl stieg von 79 697 ausländischen Arbeitskräften auf 2 595 000); eine zweite Phase der Etablierung von Migranten, ihren Familien und Kindern in Deutschland von 1973 bis zur deutschen Vereinigung 1990 sowie eine dritte Phase von 1990 bis heute, die als ReDefinition der deutschen Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur Migration – durch die Änderung des Asylrechts (1993), die Modifikation des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts (1999) und die Diskussion und Verabschiedung des ›Gesetz[es] zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung‹ (2004) – gefasst werden kann. Mit diesen drei Phasen korrespondieren die sog. drei Migrantengenerationen: Es wird von einer ersten Generation gesprochen, die die Jahrgänge bis 1955 darstellen, die einen großen Teil ihres Lebens im Ausland verbracht haben; eine zweite Generation entspricht dann deren Kindern, die von 1955 bis etwa 1990 meist schon in Deutschland geboren wurden oder in sehr jungen Jahren nach Deutschland kamen; die dritte und jüngste Generation stellen die Jahrgänge von 1990 bis heute dar, die somit die Kinder von Eltern sind, die bereits ihr gesamtes oder den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben und deren Muttersprache Deutsch ist. Die Angehörigen der zweiten und dritten Generation sind im Regelfall in Deutschland geboren worden (oder größtenteils in Deutschland aufgewachsen) und haben zum Leben im Herkunftsland der Eltern eine geringere Verbindung als zum Leben in Deutschland. In gewisser Weise entspricht dieser Dreischritt auch den theoretischen Konstruktionen ›Gastarbeiter versus Deutsche‹, ›multikulturelle Gesellschaft‹ sowie ›hybride Identität in Zeiten kultureller Globalisierung‹. Auch für die ›Migrantenliteratur‹ werden zwei ähnliche Zäsuren behauptet: Während für die erste Phase der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik noch keine ›Gastarbeiterliteratur‹ analysiert wird, hat sich eine solche mit Beginn der zweiten Phase Anfang der 1970er Jahre etabliert (Aras Örens Debüt erscheint 1973), mit dem Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises 1991 durch Emine Sevgi Özdamar etabliert sich die ›Migrantenliteratur‹, parallel zur 1989/90 beginnenden dritten Phase, auf dem deutschen Literaturmarkt und in den großen deutschen Verlagen. Diese Entwicklungen, Zäsuren und die Konstruktionen problematischer Kategorien wie ›Gastarbeiter-‹ oder ›Migrantenliteratur‹ sollen im folgenden Kapitel näher untersucht werden.
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4.1.2. Etiketten des ›Nicht-Deutschen‹. Zur Kategorisierung der ›Gastarbeiter-‹, ›Migranten-‹ oder ›minoritären Literatur‹ Literatur von Nicht-Muttersprachlern gab es in Deutschland auch schon vor den ersten Anwerbeabkommen und dem Zuzug von ›Gastarbeitern‹ – die prominentesten Beispiele sind Adelbert von Chamisso (geboren in Frankreich, 1781–1838) und Elias Canetti (geboren in Bulgarien, 1905–1994). Dennoch lassen sich bis in die 1970er und 1980er Jahre keine Bemühungen zur Begriffsbildung für eine deutschsprachige Literatur finden, deren Autorinnen und Autoren Nicht-Muttersprachler sind.288 Als erstes Buch einer Nicht-Muttersprachlerin während der ›Gastarbeiter‹Anwerbungsphase erscheint 1964 Gianni Bertagnolis Arrivederci Deutschland, das allerdings weitgehend unrezipiert bleibt. Begemann reduziert die ›Migrantenliteratur‹ auf das Merkmal, dass Migranten in Deutschland in deutscher Sprache zu schreiben beginnen, und datiert den Beginn der ›Migrantenliteratur‹ auf die ausgehenden 1970er Jahre: »Hatten schreibende Migranten sich in den ersten beiden Jahrzehnten der Migration bis auf wenige Ausnahmen ihrer Muttersprache bedient, so zeichnete sich jetzt eine tendentielle Verschiebung hin zur Verwendung des Deutschen ab« (Begemann 1999: 209). Aras Ören debütiert bereits 1973 in deutscher Sprache – zwar schreibt er diese Texte in türkischer Sprache und lässt sie ins Deutsche übersetzen, ihren Inhalten nach entsprechen sie jedoch jener Literatur, die in den 1980er Jahren als ›Migrantenliteratur‹ bezeichnet wird. Wenn man die ›Migrantenliteratur‹ als die literarische Nutzung der deutschen Sprache durch Nicht-Muttersprachler definiert, wäre ihr Beginn in der ersten Hälfte der 1970er Jahre anzusetzen. Örens Verfahren stehen paradigmatisch für eine Entwicklung, die sich auch später zeigt: Die meisten migrantischen Autorinnen und Autoren haben ein strategisches Verhältnis zur deutschen bzw. zur ›fremden‹ Sprache, es entstehen dabei verschiedene Mischformen (vgl. Frederking 1985: 38ff.). Die Anfänge der ›Gastarbeiterliteratur‹ lassen sich jedoch nicht auf das Merkmal des Sprachwechsels reduzieren, eher muss davon ausgegangen werden, dass sich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre viele Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen migrantischen Hintergründen zu Autorengruppen zusammenschließen und literarische Anthologien veröffentlichen, wodurch sie eine erste größere öffentliche Wahrnehmung erreichen. Zwischen 1980 und 1984 entstehen allein 17 Anthologien mit Texten von Autorinnen und Autoren mit migrantischem Hintergrund (davon 1983, ein Jahr nach dem Regierungswechsel und der Ausrufung der ›konservativen Wende‹, 288 | Zum damaligen Zeitpunkt findet literaturwissenschaftliche Forschung nur in die umgekehrte Richtung statt: Es gibt zahlreiche Auseinandersetzungen mit der ›Exilliteratur‹, also der Literatur (vor allem während des Nationalsozialismus) aus Deutschland ins Ausland emigrierter Autorinnen und Autoren.
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allein sieben); dazu zählt die Reihe Südwind gastarbeiterdeutsch (von 1980 bis 1983 erscheinen fünf Bände, von 1983–85 nennt sich die Reihe Südwest Literatur, um sich gegen das Label der ›Gastarbeiterliteratur‹ abzugrenzen) sowie die PoLiKunst-Bewegung (1980–83). Ein exemplarischer Titel dieser Zeit ist eine Anthologie zum Thema Täglich eine Reise von der Türkei nach Deutschland. Texte der 2. türkischen Generation in Deutschland von 1980 – die Anthologie wird herausgegeben vom ›Förderzentrum Jugend Schreibt e.V.‹ und veröffentlicht von dem kleinen Verlag Atelier im Brunnenhaus in Fischerhude (vgl. Förderzentrum Jugend Schreibt e.V. 1980). Die meisten Werke bewegen sich in Auflagenhöhen zwischen 3 000 und 6 000 Exemplaren und erscheinen bei Kleinverlagen wie EXpress Edition (Berlin), Con Verlag (Bremen), Neuer Malik Verlag (Kiel) oder dem Ararat-Verlag (Berlin). Die teilweise öffentlich subventionierten und in die Peripherie des Literaturbetriebs verwiesenen Publikationen veranlassen – neben den rassistischen und diskriminierenden Diskursen um ›den Gastarbeiter‹ – einige migrantische Autorinnen und Autoren, sich zu einer ironischen Gegenbewegung zu formieren. Die Begründung des Begriffs ›Gastarbeiterliteratur‹ findet durch ›Gastarbeiterautoren‹ selbst statt: 1981 veröffentlichen der Italiener Franco Biondi, der Libanese Yusuf Naoum sowie die Syrer Rafik Schami und Suleman Taufiq einen Aufsatz mit dem Titel Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur, in dem sie die Untauglichkeit des von ihnen benutzten Begriffs begründen: »Wir gebrauchen bewusst den […] Begriff vom ›Gastarbeiter‹, um die Ironie, die darin steckt, bloßzulegen. Die Ideologen haben es fertiggebracht, die Begriffe Gast und Arbeiter zusammenzuquetschen, obwohl es noch nie Gäste gab, die gearbeitet haben« (Biondi u.a. 1984: 134). Zudem sind diese ›migrantischen Autoren‹ keine ›Gastarbeiter‹, sondern Akademiker (Taufiq ist Komparatist, auch Schami hat studiert und ist promoviert worden, Biondi hat auf dem Zweiten Bildungsweg den Titel eines Diplom-Psychologen erworben). Diese ironischen Differenzierungen bzw. Zurückweisungen des Begriffs werden von der Literaturkritik und -wissenschaft jedoch ignoriert. Das Label ›Gastarbeiterliteratur‹ bleibt haften und sorgt dafür, dass die Literatur ›migrantischer Autorinnen und Autoren‹ »in ihrer frühen Phase […] in den Kontext der Arbeiterliteratur gerückt« (Kegelmann 2000: 219) wird. Erst langsam werden einzelne migrantische Autorinnen und Autoren in den 1980er Jahren auch für die literarische Qualität ihrer Texte anerkannt. Dafür sorgen vor allem der Münchener DaF-Professor Harald Weinrich sowie seine Mitarbeiterin Irmgard Ackermann:289 Am 7. Juli 1983 erhalten Franco Biondi und Aras Ören für ihr literarisches Werk Ehrengaben der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, seit 1985 zeichnet der Chamisso-Preis jährlich Deutsch schreibende Autorinnen und Autoren nicht-deutscher Herkunft und 289 | Vgl. Ackermann 1982: Ihr Sammelband trägt den Titel Als Fremder in Deutschland. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern; Weinrich verfasst das Vorwort.
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Muttersprache aus.290 Ab Ende der 1980er Jahre wird ›Migrantenliteratur‹ auch im Schulunterricht zum Thema (vgl. Luchtenberg 2004 u. Keiner 1999: 7). In den 1980er Jahren, in denen der germanistische Diskurs über die ›Gastarbeiter-‹ bzw. ›Migrantenliteratur‹ entsteht und sich ausweitet, werden zahlreiche parallele Begriffe entwickelt: In diesem Kontext kam es zur Verwendung und gegenseitigen Ablösung von Begrifflichkeiten wie »Literatur der Betroffenheit« oder »Gastarbeiterliteratur« (Biondi/Schami, 1981), »Gastliteratur« (Weinrich/Ackermann, 1982), »Emigrantenliteratur« (Biondi, 1984), »Ausländerliteratur« (Seibert, 1984, Ackermann, 1984, Kreuzer, 1984), »Migrantenliteratur« (Kreuzer, 1984, Schierloh, 1984, Rösch, 1992), »Migrationsliteratur« (Seibert, 1984, Ehnert, 1987, Rösch, 1992), »authentische Literatur« (Frederking, 1985, Hamm, 1988), »Bekenntnisliteratur« (Hamm, 1988) und »Minoritätenliteratur« (Suhr, 1989). (Keiner 1999: 4) 291
Eine gemeinsame Definition dieser ›Gastarbeiter-‹ oder ›Migrantenliteratur‹ etc. lässt sich nicht bestimmen, da die von Keiner aufgezählten zahlreichen Begriffe jeweils andere und teilweise gegensätzliche Merkmale stärken. Es lassen sich jedoch Merkmalskomplexe bündeln, die je nach Definitionsversuch wichtiger oder weniger wichtig sind (diese Merkmale stellen allerdings Zuschreibungen der Literaturkritik und -wissenschaft dar, die teilweise nur bedingt auf die Texte und Autorinnen und Autoren anwendbar sind):292
290 | Auch dieser Preis wird verliehen von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung. Den Preis erhielten bis heute u.a. Aras Ören (1985), Franco Biondi (1987), Rafik Schami (1993), Yoko Tawada (1996), Emine Sevgi Özdamar (1999), Ilija Trojanow (2000), Zehra Çirak (2001), SAID (2002), Feridun Zaimoølu (2005), Saša Stanišiÿ (2008) und Terézia Mora (2010). 291 | Von heute aus betrachtet müsste man zu Keiners informativer Übersicht noch den Begriff der »Immigrantenliteratur« (Kegelmann 2000: 219ff.) ergänzen, der sich darum bemüht, Deutschland als eine Einwanderungsgesellschaft zu beschreiben; außerdem fehlt der Begriff »interkulturelle Literatur« (vgl. Chiellino 2000). 292 | Exemplarisch für die Etappen der literaturwissenschaftlichen Perspektive auf die ›Migrantenliteratur‹ können drei Definitionsversuche stehen: Während Monika Frederking den Begriff 1985 noch stark angelehnt an die sozialen Entwicklungen bestimmt, versammelt Heidi Rösch 1992 bereits vier Merkmale, die sich auch mit den ästhetischen Ausdrucksformen befassen, vgl. Frederking 1985: 1; Rösch, zit. n. Keiner 1999: 7. Petra Thore vereint diese beiden Perspektiven 2004 und führt – im Rückgriff auf die literaturwissenschaftlichen Diskurse der 1980er Jahre – drei Merkmale der ›Migrantenliteratur‹ auf: »1) migrantische Herkunft der Autorin und des Autors unterschiedlicher Herkunftsnationalitäten und -sprachen 2) Gebrauch des Deutschen als Literatursprache und als eine von mehreren Sprachen des alltäglichen Gebrauchs
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Autorenfigur: Der/die AutorIn spricht bzw. schreibt Deutsch nicht als Muttersprache, ist nicht in Deutschland geboren bzw. nicht deutscher Staatsangehörigkeit, lässt sich der ›Migranten-Kultur‹ zuordnen, hat Migrationserfahrungen (nach Deutschland gerichtet) gemacht. Themen: Die Texte setzen sich mit Themen der Migration auseinander. Anfänglich werden die Texte – in Anlehnung an die sog. Frauenliteratur (vgl. dazu kritisch Thore 2004: 80) – auch als ›authentische Literatur‹ bzw. ›Literatur der Betroffenheit‹ bezeichnet (vgl. Frederking 1985: 44, 49 u. 132f.; Thore 2004: 40 u. 78), schließlich geraten mehr die ›Suche nach Identität‹ als Thema und die Fiktionalität der literarischen Werke ins Zentrum der Textanalysen.293 Sprachliche und formale Eigenschaften: Das »Kriterium des von den Autorinnen und Autoren vollzogenen Sprachwechsels – zur deutschen Sprache – galt für die germanistische Literaturwissenschaft als hervorragendstes Kennzeichen der deutschen Migrantenliteratur.« (Thore 2004: 45)294 Damit wird die Nutzung der deutschen Hochsprache zu einem primären Merkmal der ›Migrantenliteratur‹ stilisiert, das ihre Autorinnen und Autoren jedoch nur eingeschränkt erfüllten. Die Literaturwissenschaft und -kritik wertet dies oft als Mangel im Umgang mit der deutschen Sprache – sie übersieht jedoch, dass es sich in den Texten oft um eine ästhetisch inszenierte sprachliche Polyphonie und um intertextuelle Verweissysteme auf multikulturelle Traditionen handelt (vgl. Frederking 1985: 134). Luchtenberg sieht in den Texten eine »mittlere bis gehobene Variante der deutschen Sprache« (Luchtenberg 1997: 65), die spielerisch und ergänzend die Erstsprache, ›Gastarbeiterdeutsch‹,
3) durch Interaktion gestaltete thematische Zugehörigkeit des Textes zum Bereich ›Identitätsproblematik‹.« (Thore 2004: 21) 293 | Vgl. Thore 2004: 142–153. Nur selten wird die ›Migrantenliteratur‹ mit Strategien »des subversiven Zurückschreibens« (Amirsedghi/Bleicher 1997a: 110) in Verbindung gebracht oder – wie von Heidi Rösch – behauptet, diese sei ein »Mittel des Kampfes gegen Unterdrückung und Ausgrenzung« (Rösch, zit. n. Keiner 1999: 7). 294 | Dies verweist auf den fachgeschichtlichen Komplex, dass das Fach Germanistik – dessen Forschungsgegenstand die ›deutschsprachige Nationalliteratur‹ ist – insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren die ›Migrantenliteratur‹ als Forschungsgegenstand definitorisch tendenziell von sich wegschiebt: »Obwohl Harald Weinrich bereits 1983 postulierte, dass wir Deutschen allen Grund hätten, ›vom Konzept der Nationalliteratur im nationalstaatlichen Sinne ein für allemal Abstand zu nehmen‹, gelang es auch ihm nicht, ausgrenzende Differenzierungen bei der Begriffsfindung zu vermeiden und den Begriff der Nationalliteratur ernstlich in Frage zu stellen. Auch 20 Jahre später kann von einer allgemeinen Anerkennung des interkulturellen Charakters jeder deutschen Literatur […] nicht die Rede sein.« (Thore 2004: 36f.) Dies hat sich bis heute nur bedingt geändert, vgl. dazu Uerlings 2011.
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Dialekte und restringierte Sprachcodes – neben der Zweitsprache Hochdeutsch – benutze.295 Amodeo liest diese synkretistischen Verfahren mit Hilfe des Rhizom-Modells von Deleuze und Guattari (vgl. Amodeo 1996). Verhältnis zum Literaturbetrieb: Die ›Migrantenliteratur‹ befindet sich von Anfang an außerhalb des eigentlichen Literaturbetriebs, die Autorinnen und Autoren veröffentlichen bei kleinen Verlagen, die sie teilweise selbst gründen müssen.296 Dies hat den Effekt, dass »Migrantenliteratur bis Ende der 1980er Jahre nur einen kleinen Kreis von Lesern erreicht« (Thore 2004: 17), wobei es allerdings einzelne Ausnahmen gibt.297
Als wichtigste Autorinnen und Autoren der ersten Generation der ›Gastarbeiter-‹ bzw. ›Migrantenliteratur‹ wären noch zu nennen: Der Türke Aras Ören (* 1939) u.a. mit Bitte nix Polizei. Kriminalerzählung (1981), die Italiener Franco Biondi (* 1947) mit Nicht nur Gastarbeiterdeutsch. Gedichte (1979) und Gino Chiellino (* 1946) mit Mein fremder Alltag (1984); die Syrer Rafik Schami (* 1946), Suleman Taufiq (* 1953) sowie der in der DDR lebende Lyriker Adel
295 | Carmine Chiellino unterscheidet 2000 gleich ›neun Stimmen der interkulturellen Literatur‹, wobei sowohl die Bezeichnung ›Stimmen‹ als auch die Bezugnahme auf feststehende Kulturen, zwischen (=inter) denen Literatur entstehe, problematisch ist, da sie auf der Existenz ›homogener Kulturen‹ beharrt und sich somit gegenüber einer adäquaten Beschreibung der hybriden literarischen Phänomene versperrt (vgl. auch Adelson 2005: 23). Zu den ›neun Stimmen der interkulturellen Literatur‹ zählt Chiellino erstens Literatur »aus den nationalen Sprachen der kultur-ethnischen Minderheiten«, zweitens »die Stimme aller Autor/innen aus den Minderheiten, die sich für die deutsche Sprache als Mittel ihrer Kreativität entschieden haben«, drittens »die deutsche Stimme jener jüngeren Autor/innen, die aufgrund ihrer Sozialisation […] Deutsch als Muttersprache in der Schule und im sozialen Umfeld sprechen, jedoch nich in der familiären Umgebung« (Chiellino 2000: 53; vgl. zu den weiteren Stimmen auch Chiellino 2000: 53–57). 296 | Diese kleinen und Kleinstverlage, die hauptsächlich ›Migrantenliteratur‹ veröffentlichen, hatten teilweise mit massiven finanziellen und strukturellen Problemen zu kämpfen (vgl. Die Verleger 1997: 139–154): Djafar Mehrgani z.B. leitete seit 1979 den Mehr Verlag in Köln, der vor allem iranische Literatur veröffentlichte, finanziell aber vom integrierten Lebensmittelladen lebte: »Also, ich sitze hier als Verleger und lebe durch den Verkauf in der Lebensmittelabteilung. Ist das nicht witzig?« (Mehrgani, zit. n. Die Verleger 1997: 145) 297 | Der vermutlich erfolgreichste ›Migrantenautor‹, Aras Ören, veröffentlicht von seinem Debüt Was will Niyazi in der Naunynstraße (1973) etwa 12 000 Exemplare und kann schließlich sogar beim Fischer Verlag in Frankfurt a.M. veröffentlichen, vgl. Frederking 1985: 31f.
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Karasholi (* 1936) mit Daheim in der Fremde. Gedichte (1984) schaffen Texte, die im Kontext der ›Gastarbeiter-‹ oder ›Migrantenliteratur‹ rezipiert werden.298 In den späten 1980er und den frühen 1990er Jahren ist, so Réné Kegelmann und Özkan Ezli, der Versuch erkennbar, die ›Migrantenliteratur‹ aus der »Nischenexistenz der Ausländer-, Gastarbeiter- und Migrantenthematik herauszuführen« (Kegelmann 2000: 219f.) und »sich von der Repräsentation einer leidvollen Existenz« (Ezli 2006: 61) abzuwenden.299 Die nächste Generation von Autorinnen und Autoren mit migrantischem Hintergrund wird vermehrt in den deutschen Literaturbetrieb aufgenommen und veröffentlicht Bücher auch bei größeren und großen Verlagen, wie z.B. der Spanier José F.A. Oliver (* 1961; Suhrkamp), Renan Demirkan (* 1955; Kiepenheuer & Witsch) mit Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker (1991) oder Emine Sevgi Özdamar300 (* 1946; Kiepenheuer & Witsch) mit Mutterzunge (1990) und Das Leben ist eine Karawanserei (1992). Özdamar erhält 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der Iraner said wird 2000 zum ersten ausländischen Vorsitzenden des deutschen pen-Clubs gewählt. Durch die kulturellen Aktivitäten der zweiten Einwanderergeneration sowie die neuen Ansätze in der Literaturwissenschaft werden die bisherigen und schon immer fragwürdigen Kategorien der ›Gastarbeiter-‹, ›Migranten-‹ oder ›Ausländerliteratur‹ zunehmend unpassend. Es erfolgt eine Hinwendung zur inhaltlichen und ästhetischen Bestimmung der literarischen Texte, die Person des/r Autors/in tritt zurück: »Begegnet man bis Anfang der 90er Jahre vielfach den Begriffen ›Ausländerliteratur‹, ›Migranten- oder Migrationsliteratur‹, so ist ab den 90er Jahren ein grundlegender Umschwung in der Begriffsverwen298 | Die Klassifizierung als ›Gastarbeiter‹ übergeht allerdings die Eigenheiten aller und insbesondere die akademischen Qualifikationen einzelner Autoren: Schami promoviert bereits 1979, Chiellino hat sich habilitiert. 299 | Ezli unterscheidet drei Phasen der ›deutsch-türkischen Literatur‹, die er inhaltlich begründet und die in etwa auch mit den hier beschriebenen Entwicklungen korrelieren: »Die erste Phase von Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre macht das Leid und die Identitätskrise der Migranten zum Thema der literarischen Auseinandersetzung. Die zweite Phase zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er wendet sich von der Repräsentation einer leidvollen Existenz ab […], die Auseinandersetzung (wird) auf eine metasprachliche Ebene verlagert. Auch in der dritten, mit Beginn des 21. Jahrhunderts einsetzenden Phase geht es nicht mehr um das Fremdsein in einem fremden Land; sie unterscheidet sich jedoch von der vorhergehenden durch ihre Konzentration auf die (Migrations-)Geschichte der Elterngeneration, die sie mit ethnografischem Blick erzählt« (Ezli 2006: 61f.). Martin Hielscher sieht den ersten Paradigmenwechsel 1991, als »Emine Sevgi Özdamar […] den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann.« (Hielscher 2006: 196) 300 | Auch Özdamars Anerkennung beim Bachmann-Preis vollzieht sich sehr ambivalent, vgl. Jankowsky 1997. Vgl. auch: Özdamar 1990; Özdamar 1992.
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dung zu konstatieren, nun rücken Begriffe wie ›Literatur der Fremde‹ (Weigel, 1992) oder ›interkulturelle Literatur‹ (Wägenbaur, 1995) in den Vordergrund« (Keiner 1999: 4).301 Diese Veränderung führt zugleich zu einer Revision der bisherigen Begriffsgeschichte und Bewertung der ›Migrantenliteratur‹, zunehmend beeinflusst von der postkolonialen Theorie, die sich in den USA zwar seit den 1980er Jahren verbreitet hat, im deutschen Wissenschaftsbetrieb jedoch auch heute noch marginalisiert ist.302 Angeregt von der US-amerikanischen Auslandsgermanistik setzen sich auch in der Inlandsgermanistik zunehmend kritische Stimmen durch, die Begriffe wie ›Gastarbeiter-‹ oder ›Migrantenliteratur‹ in Frage stellen. An den Begriffen wird erstens die Fixierung auf Person und Biografie des/r Autors/in kritisiert, auf diese Weise lasse sich einerseits kein adäquater, höchstens ein verkürzter Zugang zur Literatur gewinnen, andererseits machten es sich Literaturkritik und -wissenschaft viel zu leicht, da sie teilweise auch Autorinnen und Autoren als ›Gastarbeiterliteraten‹ bezeichnet, die Akademiker sind oder bereits in ihren Ländern als Schriftsteller gearbeitet haben, allerdings ins Exil gehen mussten.303 Zweitens werden die nationalliterarischen Implikationen der Begriffe – gerade angesichts einer zunehmenden kulturellen Globalisierung – in Frage gestellt. Die Grundannahme sei falsch, dass »ein Text durch eine nationale Zugehörigkeit in seiner literaturästhetischen Gestaltung klassifiziert und inhaltlich bestimmt werden« (Keiner 1999: 8) könne. Diese beiden ersten Punkte hätten drittens den Effekt, die ›Gastarbeiter-‹ bzw. ›Migrantenliteratur‹ vom »Corpus der Nationalliteratur« und damit aus »dem Kanon der eigenen Literatur« (Amirsedghi/Bleicher 1997: 188) auszugrenzen. Der Begriff der 301 | Sigrid Weigel legt 1992 schon ein relativ differenziertes Modell einer »Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde« vor, in dem sie die Untersuchungsfelder »Multikultur«, »Deutsche Autoren über/in der Fremde«, »Migrantenliteratur« mit verschiedenen Binnendifferenzierungen unterscheidet, wobei darunter auch Kategorien wie »Texte kultureller Minoritäten« oder »Schreibweisen einzelner Autoren zwischen Kulturen« zu finden sind, vgl. Weigel 1992. 302 | Hiltrud Arens konstatiert, dass es »vor allem das Verdienst der germanistischen Forschung (›German Studies‹) in den Vereinigten Staaten« (Arens 2000: 226) sei, dass Methoden und Perspektiven der Postcolonial und der Cultural Studies in die zunehmend selbstkritische Reflexion der Germanistik über die ›Migrantenliteratur‹ aufgenommen worden sind. 303 | Begemann stellt fest: »Viele Angehörige der zweiten oder gar dritten Generation wird man schlecht als ›Migranten‹ bezeichnen können. Und noch prekärer ist die Frage, ob es sich bei ihnen, die zum Teil schon die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, um ›Ausländer‹ handelt. Wenn ein deutschsprachiger Autor mit deutschem Pass und türkischen Eltern ein ›Ausländer‹ ist, dann nähert man sich der fatalen Argumentation des ius sanguinis, das seit dem zweiten Kaiserreich das deutsche Staatsbürgerrecht bestimmt.« (Begemann 1999: 210) Vgl. auch Keiner 1999: 6.
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»Migrantenliteratur« sei daher »ein außerliterarischer Begriff« (ebd.: 187) mit diskriminierender Funktion. Leslie A. Adelson vergleicht 1990 sogar diese germanistische Kategorisierung mit den Ausgrenzungen, die deutsche Ausländerbehörden durchführen, denn es gehe darum, »to demarcate and regulate the boundaries between it and a body of literature considered by implication to be inherently German« (Adelson 1990: 382). Unter den Autorinnen und Autoren der ›Migrantenliteratur‹ wächst der Widerstand gegen diese Zuschreibungen, die ohnehin nur von einer Minderheit – die auf größere Aufmerksamkeit durch das Label abzielte – akzeptiert worden war.304 Auch die jüngeren Begriffe wie ›Literatur der Fremde‹ oder ›interkulturelle Literatur‹ werden von Sabine Keiner als untauglich zurückgewiesen: Beide Begriffe seien so unspezifisch, dass sie wenig brauchbar seien. Der Begriff ›Literatur in der Fremde‹ verschleiere, »daß Fremde eine relationale Kategorie ist und nicht etwa etwas Feststehendes« (Keiner 1999: 10). Der von ihr selbst vorgeschlagene Begriff »Literatur mit dem Motiv der Migration« (ebd.: 11) eignet sich weniger als Überbegriff einer literarischen Richtung, sondern verweist auf die Notwendigkeit einer konkreten Textanalyse, die zunehmend in den Fokus gerückt ist. Texte, die vor wenigen Jahren noch als ›Migrationsliteratur‹ klassifiziert worden wären, sollten als »Teil der sich nun endlich realisierenden Weltliteratur« (Amirsedghi/Bleicher 1997b: 189) gelesen werden, so lautet eine Forderung. Auch dieser Begriff wird jedoch aufgrund seiner humanistischen Traditionslinie von Anna K. Kuhn in Frage gestellt: »we are dealing not with Weltliteratur, that is, a literature that claims to transcend national borders to assert a humanistic, universal relevance, but rather with transnational literature«. Im Gegensatz zu den »outdated, limited and ultimately demeaning categories commonly used to discuss bicultural writing in Germany« (Kuhn 2001: 138) müsse die Germanistik akzeptieren, dass die humanistische Idee einer ›Weltethik‹ ebenso wie die Begriffe der Nationalliteratur und des Nationalstaates, zu deren Konstruktion sie einst als Wissenschaft etabliert wurde (vgl. Hermand 1994: 17), heute ausgedient hätten. Schon in ihrer Analyse der deutschen Minoritätenliteratur der achtziger Jahre kam Hiltrud Arens zu dem Ergebnis, dass die »deutsche Literatur […] schon lange nicht mehr homogen [ist], heute weniger denn je«, und dass sich deshalb die Literatur- und Kulturwissenschaft »der Aufgabe einer grundsätzlichen Be304 | Exemplarisch sei auf die Podiumsdiskussion der 1. Mainzer Migranten LiteraTour Ende 1996 hingewiesen. Alle Autorinnen und Autoren berichten, dass das Label ›Migrantenliteratur‹ die Auseinandersetzung mit einzelnen Autorinnen oder Autoren und Werken behindere. Die Wirkungsmacht des Begriffs ›Migrantenliteratur‹ wird von den Autorinnen und Autoren wie Diana Canetti, Adel Karasholi und Zafer úenocak als ebenso unaufhaltsam wie diskriminierend beschrieben, vgl. Die Autoren 1997: 133, 119 u. 127.
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fragung und Rekonzeptualisierung ihrer eigenen etablierten Beurteilungskriterien, ihres Kanons und ihres (eingrenzenden) Verständnisses von einer sogenannten deutschen Gegenwartsliteratur« (Arens 2000: 226) stellen müsse. In den letzten Jahren scheint es Konsens geworden zu sein, dass sich die »Literaturen der bundesdeutschen Gesellschaft […] nicht länger auf nationale Identität beziehen« (Günter 2002a: 237) lassen. Die Begrifflichkeiten, die die Germanistik konstruierte, um eine ›deutsche Nationalliteratur‹ von einer ›Gastarbeiter-‹, ›Migranten-‹ oder ›Interkulturellen Literatur‹ scheiden und gegen diese verteidigen zu können, fallen inzwischen auf sie selbst zurück. Immer mehr wird die Germanistik selbst als eine ›koloniale Institution‹, die sich noch immer gegen den hybriden Status der von ihr als homogen konstruierten ›deutschen Nationalkultur‹ wehrt, zum Gegenstand kritischer Diskurse. Teile der Germanistik glaubten, so Volker Dörr, durch ihre Öffnung gegenüber ›inter-‹ oder ›transkulturellen Konzepten‹ einen ausreichenden Schritt getan zu haben, doch diese Konzepte verwiesen nur auf eine »vermeintliche[ ] ›Kreuzung homogener Kulturen‹«, deren Annahme untauglich sei, »weil sich nie ›Repräsentanten‹ definierter Kulturen, sondern Menschen ›ganz unterschiedlicher Prägung‹« (Dörr 2005: 620) begegneten (vgl. auch dens. 2010). In der germanistischen Praxis werde immer wieder »die Homogenität des Eigenen« hergestellt, »indem sie von eigener Fremdheit ablenkt. Durch Prozeduren der Ausschließung etwa des kontrafaktisch homogenisierten Hybriden wird die Inhomogenität des Ausschließenden negiert: Das Eigene ist das durch homogenisierenden Ausschluss des Fremden, der aus den anderen das Andere macht, Homogenisierte« (ebd.: 621). Man müsse sich postkolonialen, kulturwissenschaftlichen und komparatistischen Ansätzen (vgl. Kesting 2004: 9) zuwenden und von der ›Inkohärenz der deutschen Literatur‹ ausgehen. Doch auch bei diesen Ansätzen laufe man Gefahr, so Dörr, z.B. bei der Verwendung des »Begriffs der Hybridität« in »(Re-)Essentialisierungen« (Dörr 2009: 63f.) zu verfallen. Andere Theoretiker beschreiben eine Entwicklung »[v]on der nationalen zur internationalen Literatur« (Schmitz 2009: 7–12), plädieren für eine »Kompetenz: Multi-Interdiskursivität« (Parr 2010: 98–100) oder für »Interkulturalität als Forschungsparadigma der Literaturwissenschaft« (Gutjahr 2010; vgl. auch Gutjahr 2006: 105–114). Zahlreiche Beispiele für die hybriden Formen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, die sich spielerisch und ironisch auf die Kategorien und ›Merkmale‹ der ›Migrantenliteratur‹ wie auch der ›deutschen Nationalliteratur‹ beziehen, lassen sich in der ›Kanak-Bewegung‹ finden, die seit etwa 1995 in Deutschland auftritt und im Folgenden dargestellt werden soll.
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4.1.3. »Keine Frage der Nationalität«. Der Paradigmenwechsel zur ›Kanak-Bewegung‹ In den 1990er Jahren werden globale Jugendkulturen wie der Hip-Hop und ihre Redeweisen und Stile sowie die zunehmende Hybridisierung und Medialisierung von Identitätsentwürfen in die Literatur von (nicht nur) ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ aufgenommen: Es formiert sich nun die ›Kanaksta-‹, ›Kanakster-‹, ›Kanak Attak-‹ bzw. ›Kanak Sprak-Bewegung‹, die im Folgenden im Sinne eines kleinsten gemeinsamen sprachlichen Nenners als ›Kanak-Bewegung‹ bezeichnet wird. Im Jahre 2003 stellt Maximilian Dorner fest, »dass die Phase der Gastarbeiter-Literatur abgeschlossen ist und eine neue begonnen hat. Die Autoren, die jetzt schreiben, bewegen sich zwar vor dem Hintergrund ihrer fremden Herkunft, aber das ist nicht mehr ihr Thema« (Dorner, zit. n. Ferchl 2003). Christian Steltz beobachtet 2006 einen »Paradigmenwechsel in der Migrationsforschung«, der in der »Emanzipation des Kanaksters« seinen Ausdruck finde und »den wichtigen Unterschied zwischen Assimilation und Integration« (Steltz 2006: 102). Der Blick auf (einst) migrantische (Sub-)Kulturen in Deutschland sowie deren internationale Pendants erweitert und differenziert den Blick auf die von Deutschen, Migranten und ihren Kindern verfasste Literatur.305 In der deutschsprachigen Literatur lassen sich fünf diskursive Ereignisse zwischen 1995 und 2000 als Markierungen dieser neuen Entwicklungen beschreiben. 1995 erscheint Feridun Zaimoğlus Buch Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, das als literarisches Manifest der zweiten und dritten Migrantengeneration – in Absetzung von ›der Migrantenliteratur‹ – rezipiert wird. In Zaimoğlus Nachfolge und als Reaktion auf die große mediale Resonanz veröffentlicht der Zeit-Journalist Jürgen Lottmann – unterstützt von Zaimoğlu – 1999 die Anthologie Kanaksta. Geschichten von deutschen und anderen Ausländern, die in ihrem Titel bereits die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremden einzuebnen versucht – ›Deutsche‹ könnten sich ›Ausländern‹ nicht mehr dichotomisch entgegenstellen. In seinem Vorwort erklärt Zaimoğlu, dass die Anthologie einen Bruch mit der bisherigen ›Migrantenliteratur‹ markiere: »Migrantenschreibe der Siebziger ist erledigt, das weiß mittlerweile jeder Rathauslinke.« (Zaimoğlu 1999a: 9) Folglich werden im Kanaksta-Band nicht nur die Texte von in Spanien, Frankreich oder der Türkei 305 | Thomas Frahm erklärt, dass »ausländische Autoren nicht mehr in die GastarbeiterSchublade gepackt (werden) und auch nicht mehr in die Rolle des ›Botschafters fremder Kulturen‹. Heute treten zwei andere Dimensionen in den Blick: Die eine ist – in Zeiten der Globalisierung – die Dimension des interkulturellen Dialogs. […] Die andere Dimension ist das, was uns diese Autoren über Deutschland zu sagen haben, vor allem über deren ›Subkulturen‹« (Frahm 2003: 178). Vgl. zur Abgrenzung der zweiten und dritten Migrantengeneration gegen die erste mit Hilfe der Kanak Sprak: Prinz 2009: 192.
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geborenen Migranten(-kindern) wie Zehra Çirak, Selim Özdoğan oder Feridun Zaimoğlu versammelt, sondern auch jene von in Deutschland geborenen deutschen Muttersprachler wie Joseph von Westphalen, Leander Scholz oder Tanja Dückers – ›Kanaksta‹ zu sein, sei keine Frage der Abstammung, sondern der Einstellung. Von den 24 Autorinnen und Autoren sind – bis auf drei – alle nach 1955 geboren, gehören also der zweiten oder dritten Migrantengeneration an. Die von der Ullstein-Gruppe veröffentlichte Anthologie kümmert sich jedoch nicht um die Klärung kategorialer Probleme – die Kurzprosa wird in Zaimoğlus dreiseitigem Vorwort und auf Innen- und Außencover kommentiert. Dort heißt es: Die zweite und dritte Einwanderergeneration bläst zum Angriff: Selbstbewußt, ausdrucksstark und im Denken in mehreren Kulturen eingeübt. […] Denn Kanaksta zu sein ist keine Frage der Nationalität, sondern eine des Kopfes. So auch Feridun Zaimoglu, der die Kanaksta-Bewegung ins Leben gerufen hat: ›Kanaksta bist du, wenn du Deutschland durchschaut hast!‹ […] Hier werden Geschichten und Texte von ausländischen Deutschen und deutschen Ausländern zu einem selbstbewußten Manifest der ›Kanaksta‹-Bewegung vereinigt. Eine neue Generation setzt sich in einem aufregenden Ton mit der multikulturellen Gesellschaft auseinander. […] Nicht der Gemüsehändler aus Anatolien meldet sich in gebrochenem Deutsch zu Wort. Nein, es sind seine Kinder, hier aufgewachsen, sprachmächtig, gewitzt und voller Energie. (Lottmann 1999: Außen- und Innencover)
Aus diesem kurzen Abschnitt lassen sich einzelne Merkmale der ›Kanaksta‹ ableiten, die den Merkmalen der ›Migrantenliteratur‹ entgegen gestellt werden: Die Autorinnen und Autoren gehörten nicht mehr der ›ersten Migrantengeneration‹ an, sondern der ›zweiten oder dritten‹; sie verfügten sie – im Gegensatz zu ihren Eltern – souverän über die deutsche Sprache und nutzten eine mehrfache kulturelle Auswahl. Die Gruppe der ›Kanaksta‹ werde nicht durch Herkunft, Abstammung oder Staatsbürgerschaft bestimmt, sondern durch eine kritische politische Einstellung und das Bewusstsein, dass ›Identität‹ keine feststehende Kategorie, sondern immer nur ein performativer Akt ist, der entsprechende Zuschreibungen produziert. Das Buch selbst wird als ›Manifest der ›Kanaksta‹-Bewegung‹ bezeichnet, Feridun Zaimoğlu als ihr Initiator. Neben der Veröffentlichung des Kanak Sprak-Buchs und der Kanaksta-Anthologie bilden sich auch Gruppen, die sich mit künstlerischen oder politischsituationistischen Aktionen und politischen Forderungen an die Öffentlichkeit wenden. Die Unmündigen. Mannheimer Migrantenverein der 2. und 3. Generation bilden zu Beginn der 1990er Jahre eine Initiativgruppe und lassen sich 1995 als Verein eintragen.306 Die Unmündigen gehen – wie viele andere Gruppen – im Dachverband Kanak Attak auf, der radikal mit der Annahme einer ›Gastarbei306 | Vgl. auch http://www.unmuendige.de; Beispiele für Aktionen der Unmündigen finden sich auch in Kallmeyer 2001: 415–420.
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ter-‹ oder ›Ausländeridentität‹ bricht, sich vielmehr um die Auflösung aller Identitätspolitiken bemüht: Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit all ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jede Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen. (http:// www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html)
Für dieses Anliegen nutzen die Kanak Attak-Aktivisten, so ihr Manifest Kanak Attak und basta! Manifest der Gruppe Kanak Attak, »einen Mix aus Theorie, Politik und künstlerischer Praxis […]. Wir äußern uns: mit Brain, fetten Beats, Kanak-Lit, audio-visuellen Arbeiten und vielem mehr« (http://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html).307 Die jüngste ›Kanak Sprak-‹ bzw. ›Kanaksta‹-Literatur mit ihrer Tendenz, Identitäten zu dekonstruieren und nicht zu rekonstruieren, wird auf diese Weise ein politisches Medium unter vielen in der ›Kanak-Bewegung‹.308 Im Jahr 2000 folgt eine weitere literarische Anthologie der neuen Bewegung: Jamal Tuschick, der selbst bereits den Roman Keine große Geschichte (2000) beim Suhrkamp Verlag veröffentlichte, gibt Morgenland. Neueste deutsche Literatur heraus (vgl. Tuschick 2000a). Schon im Titel ist die Differenz zwischen ›deutscher Literatur‹ und ›Migrantenliteratur‹ aufgehoben, der Begriff ›Morgenland‹ verweist allerdings auf eine mögliche inhaltliche Differenz zu literarischen Themen ›des Abendlandes‹. In einem programmatischen Nachwort erklärt Tuschick die Autorinnen und Autoren seiner Anthologie zu ›Trägern von Zukunftsinformationen‹ und weist ihnen die Eigenschaften einer kulturellen Avantgarde zu (er kehrt damit den Topos vom ›zurückgebliebenen Gastarbeiter bzw. Migranten‹ um): »Diese Anthologie dient dem Zweck, meine These zu unterstützen, dass die deutsche Literatur an den ethnischen Rändern der Gesellschaft intensiv befruchtet wird. Hier ist nun alles Überdruss und Chance, was einmal Zweifel und Verlust war« (Tuschick 2000b:
307 | Das Manifest vom November 1998 wird in gekürzter Form im Januar 1999 in der taz veröffentlicht, vgl. Kanak Attak 1999. Am 13. April 2001 veranstaltet die Gruppe ein großes Event in der Berliner Volksbühne, zu dem 1 500 Zuschauer erscheinen. Im literarischen Programm lesen Emine Sevgi Özdamar, Hasan Özdemir, Sylvia Szymanski und Raul Zelik, vgl. Cheesman 2002: 191f. 308 | Als weitere Gruppen wären zu nennen: Femigra, die Internetplattform für minorisierte Frauen, sowie die österreichische Gruppe Echoten, vgl. http://www.femigra.com u. Steinkellner 2000.
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284). Diese ›Befruchtung‹309 leite sich aus der privilegierten Position der ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ ab – in Zeiten der kulturellen Globalisierung lebten sie bereits seit Dekaden ›zwischen den Kulturen‹, während ›die Deutschen‹ diese Lebenskunst erst noch erlernen müssten, auch literarisch: »Die Nachgeborenen nutzen ihre Chance zur doppelten kulturellen Auswahl offensiv. Der Konkurrenz haben sie nicht nur eine Sprache voraus. […] Über eine flottierende Anschauung von Herkunft & Differenz verfügen sie wie über einen Trumpf, der immer sticht: dem Aleman lässt sich viel erzählen« (Tuschick 2000b: 284f.). Während sich die Elterngeneration noch auf ihre ›ursprüngliche Identität‹ zurückgezogen und eine bornierte Literatur produziert habe,310 geht Tuschick davon aus, dass die Homogenisierung ethnischer Identitäten höchst problematisch geworden sei und tendenziell aus substitutiven Gründen vollzogen werde: Ethnische Begründungen sind heikel. Zu Recht bestimmt Zafer úenocak aktuelle Koordinaten im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft so: ›Die so genannten Ghettos sind doch nichts anderes als zweite und dritte Ligen, in denen die Verlierer der Konsumgesellschaften landen, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.‹ Zaimoølu dekretiert: ›Auf die Ethnie beziehen sich die Ausgebremsten.‹ So sehen das auch alle anderen Autoren, die sich hier äußern. Keiner ideologisiert seine Herkunft. Indes verdächtigten mich einige, dass ich das vorhaben könnte. Sie reagierten gereizt darauf, dass eine ethnische Differenz zur Mehrheitsgesellschaft Voraussetzung zur Teilnahme an der Anthologie war. Begrüßt und mit Vorschlägen vorangetrieben wurde das Projekt von solchen Autoren, die gegen ihren Willen Gefahr laufen, dass ihre literarischen Produktionen zur Völkerverständigung in Volkshochschulen herangezogen werden. Das passiert Selim Özdogan, obwohl er […] alle Herkunftshinweise vermied: ›Ich wollte nicht in die Ausländerliteraturecke.‹ Seine Umsicht half nicht. Regelmäßig kriegt er Einladungen von Leuten, die einen kulturell agilen ›ausländischen Mitbürger‹ auf irgendein Podium setzen wollen. […] Wie kann man, fragt er, jemanden, der vom Kindergartenfraß bis zur Hochschulzugangsberechtigung sämtliche Hürden quasi vor dem Kölner Dom genommen hat, als Migranten ansprechen? (Tuschick 2000b: 287)
309 | Die Metapher der ›Befruchtung‹ verweist ironisch auf die Ausländern rassistisch zugeschriebene größere Virilität. 310 | Auch Tuschick grenzt seine Textsammlung, ebenso wie Zaimoølu in der LottmannAnthologie, von der ›Migrantenliteratur‹ der 1960er und 70er Jahre ab: »Eine Phalanx unbefangener Erzähler formiert sich seit den späten Sechzigern im Dunst ethnischer und politischer Verzweigungen. […] Das Drastische der Geschichten verbarg sich im Ungeschick, die Prosa holperte. Unter einem Zuckerguss aus Gefühlsworten wurde mit antiken Benennungsformen vorlieb genommen. […] Die deutschen Gegenstellen oszilierten zwischen Indifferenz, Abwehr und Folklorebegehren. In Zukunft wird das anders. Davon ist hier die Rede.« (Tuschick 2000b: 290f.)
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Die ethnische Differenz sei als literarisches Thema also obsolet, im Gegensatz dazu müsse über die unterschiedlichen sozialen Milieus sowie die ihnen zugrunde liegenden Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gesprochen werden. Dies lasse die ›deutsche Mehrheitsgesellschaft‹ jedoch nicht zu, da sie ihre strukturellen Ungerechtigkeiten noch immer hinter dem hegemonialen Abstammungsdiskurs verberge. In Tuschicks Anthologie finden sich Texte von Autorinnen und Autoren, die einerseits in Deutschland sozialisiert worden sind, andererseits aber sehr unterschiedliche ›migrantische Hintergründe‹ besitzen – die meisten von ihnen wurden als Kinder türkischer, polnischer, jugoslawischer, ungarischer, russischer, marokkanischer, pakistanischer, kroatischer usw. Mütter oder Väter in deren Herkunftsland oder in Deutschland geboren. Keiner der Autorinnen und Autoren ist älter als Jahrgang 1960, damit versammelt die Anthologie nur Texte von ›Autorinnen und Autoren der zweiten oder dritten Generation‹. Die Texte selbst weisen ein spielerisch-strategisches Verhältnis zu ethnischen Identitäten auf, die de- und rekonstruiert werden.311 In der Anthologie verweist Tuschick darauf, dass Zaimoğlu inzwischen von den »Kanakstern« (Tuschick 2000b: 293) spreche, ein Ausdruck, der von den ›Hipstern‹ abgeleitet ist, als die sich die Autoren der Beat Generation bezeichnet haben, die wiederum den ersten deutschen Popliteraten als Vorbilder dienten. Ebenfalls im Jahr 2000 veröffentlicht Ilija Trojanow die Anthologie Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur, in der er eine Art ›Best-of‹ aus »dem Zweistromland der deutschen Literatur« (Trojanow 2000a: Rückcover) veröffentlicht. Auch Trojanow hält es in seinem Vorwort für »skandalös«, dass in Deutschland die »Chance einer Bereicherung der Sprache« durch die Beiträge der Migranten »nicht ausreichend wahrgenommen worden« (Trojanow 2000b: 15) sei. Das Beharren ›der Deutschen‹ auf einem starken Nationalstaat sei ebenso unangemessen wie das »rigide Festhalten an einer Minderheitenidentität«, das »etwas Autistisches« (Trojanow 2000b: 11) habe. Gegen das Denken in binären Mustern versammelt Trojanow 20 literarische Texte, wobei die Autorinnen und Autoren der Anthologie – neben einem Bezug zu Deutschland – auch Bezüge zu zahlreichen anderen Ländern und Religionen haben.312 311 | Die Bücher der Beiträger wie Sarah Khan, Selim Özdoøan, Silvia Szymanski oder Feridun Zaimoølu werden von der Literaturkritik stilistisch in die Nähe der Popliteratur gerückt, da sie auf ähnliche Weise spielerisch-strategisch mit Identitätsaneignungen ihrer Figuren umgehen. Vgl. ausführlicher hierzu: Ernst 2006a: 148ff. 312 | In den ›Autoren- und Quellenverweisen‹ werden Verbindungen hergestellt zu Italien (Franco Biondi, *1947; Francesco Micieli, *1956), Bulgarien (Ilija Trojanow, * 1965; Rumjana Zacharieva, *1950), Ungarn (Zsuzsanna Gahse, *1946) Polen (Radek Knapp, *1964), Georgien (Giwi Margwelaschwili, *1927), Tschechien (Libuše Moníková, *1945), Syrien (Rafik Schami, *1946), Indien (Rajvinder Singh, *1956),
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Julia Abel sieht in ihrer Analyse der neuen Generation von Anthologien der ›Migrationsliteratur‹ zwischen diesen Bänden von Lottmann, Tuschick und Trojanow und jenen der 1980er Jahre einen deutlichen Unterschied: In den frühen Sammelbänden von ›Migrantenliteratur‹ sei es noch darum gegangen, »auf deren Vorhandensein überhaupt aufmerksam zu machen. Inzwischen ist die Literatur von Autoren mit Migrationshintergrund zu einer regelrechten Modeerscheinung geworden und hat längst den Sprung in die großen Verlage geschafft.« (Abel 2006: 233) Mit den jüngsten Anthologien sei Bewegung in die verhärteten Begriffsfronten gekommen: »Mit Witz, provokativen Umwertungen und durch spielerischen Umgang mit Klischees« versuchten diese, »gängige Vorstellungen aufzubrechen, gewohnte Grenzziehungen zu unterlaufen und so die Position der ›Migrationsliteratur‹ neu zu bestimmen« (Abel 2006: 235). Besonders die jüngste Anthologie Feuer, Lebenslust! Erzählungen deutscher Einwanderer (2003) sei in diesem Zusammenhang zu würdigen, da sie ohne Herausgebernamen und programmatisches Vorwort erscheine und »ganz einfach gute Texte in deutscher Sprache, die weder dem einen noch dem anderen Klischee entsprechen« (Abel 2006: 243), präsentiere, jenseits aller Differenzierungen zwischen einer ›deutschen Nationalliteratur‹ einerseits und einer ›Migrantenliteratur‹ andererseits (vgl. Anonym 2003). Diese diskursiven Ereignisse, d.h. die Veröffentlichung von Büchern und Anthologien (Kanak Sprak, Kanaksta, Morgenland und Döner in Walhalla) sowie die Formierung von politisch-künstlerischen Gruppen (Kanak Attak, Die Unmündigen), sorgen zwischen 1995 und 2000 dafür, dass sich der öffentliche Diskurs über die kulturellen Produktionen und Werke von Migranten und ihren Kindern in Deutschland massiv verändert. Eine vielfältige ›Kanak-Bewegung‹ tritt auf, die sich vom bisherigen Diskurs über ›Migrantenkunst und -politik‹ absetzt und sich im Gegensatz dazu um die Dekonstruktion ethnischer Identitäten bemüht: Auch ein ›echter Deutscher‹ kann ein ›Kanake‹ sein – weshalb es ›den Deutschen‹ nicht mehr gebe. Für das Feld der Literatur stellt Leslie A. Adelson fest, dass »[c]ollectively these stylistic turns signal the emergence of something new in German literary history« (Adelson 2005: 14), und nennt ihre viel besprochene Untersuchung paradigmatisch The Turkish Turn in Contemporay German Literature (2005). In ihrem programmatischen Sammelband Wider den Kulturenzwang (2009) proklamieren die Herausgeber, dass die »Schriftsteller der ersten Einwanderungsgeneration« heute obsolet seien: »Die Schreibweisen der Migration sind ›trans-kulturell‹ nicht nur in dem Sinne, dass sie nicht einer bestimmten Kultur zuzuordnen sind; hier wird ›Kultur‹ vielmehr ›transzendiert‹ in einem kritischen Sinne, der die Zwänge Japan (Yoko Tawada, *1960), Mongolei (ğalsan Tschinag, *1938), Kurdistan (Yusuf Yeûilňz, *1964), Brasilien (Zé do Rock, *1956), Russland und zur Ukraine (Natasha Woidin, *1945), zur Schweiz (Fabienne Pakleppa, *1950), zur Türkei (úinasi Dikmen, *1945; Emine Sevgi Özdamar, *1946) und zum Judentum (Elazar Benyogoëtz, *1937).
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jeglicher kultureller Repräsentation aufgreift, unterläuft und vor allem ironisiert.« (Ezli/Kimmich/Werberger 2009: 13) Diese Veränderungen finden ihre Entsprechung auch auf anderen Feldern: Mit Gegen die Wand gewinnt 2003 ein Film auf der Berlinale den Goldenen Bären, der sich vor allem mit Problemen der Migration befasst und von einem Regisseur der ›zweiten Migrantengeneration‹, Fatih Akin (* 1973), gedreht worden ist. ›Deutsch-türkische‹ Schauspieler und Kabarettisten wie Serdar Somuncu (* 1968) und Fatih Çevikkollu (* 1972) gewinnen den renommierten Kleinkunstpreis Prix Pantheon.313 Die Literaturkritik nimmt die Texte von ›Migranten(-kindern) der zweiten Generation‹ ernst und sortiert die Autorinnen und Autoren nicht mehr unmittelbar in die ›Migrantenschublade‹ ein. Die Hybridität von Identitäten wird zum Ausgangspunkt, von dem aus eine intertextuelle und poporientierte Literatur entsteht, die zunehmend als ›Avantgarde der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur‹ gepriesen wird. Thomas Kraft nimmt 2005 Tuschicks Selbstbeschreibung auf und stellt fest: »Von den Rändern kommt die Erneuerung«, die aus »formalen Innovationen« sowie einer »Vielzahl stofflicher und ästhetischer Einflüsse, die vor allem durch bilinguale Autoren in die deutschsprachige Literatur eingebracht werden« (Kraft 2005: 117), bestehe.314 Die »Literatur von Migranten« treibe somit »auf eine Selbstaufhebung zu«, stellt der Lektor Martin Hielscher fest, der die ›migrantischen Autorinnen und Autoren‹ nicht mehr als »Außenseiter des deutschen Literaturbetriebs«, sondern als eine »Definitionsmacht« (Hielscher 2006: 207) sieht. Zu den wichtigsten ›Kanak-Autoren‹ lassen sich zählen: Zafer úenocak (* 1961) mit Gefährliche Verwandtschaft (1998), Raul Zelik (* 1968) mit Grenzgängerbeatz (2001) und Bastard. Die Geschichte der Journalistin Lee (2004) sowie Selim Özdoğan (* 1971) mit Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist (1995). Nicht zum unmittelbaren sozialen Umfeld der ›Kanak‹-Gruppen und unter dieses Label, allerdings in ihre literarische Nähe gehören zudem der ›passlose Russe‹ Wladimir Kaminer (* 1967) mit Russendisko (2000) (vgl. Ernst 2006a: 152ff.) und die Japanerin Yoko Tawada (* 1960) mit Überseezungen (2003).315 Begrifflicher Begründer der ›Kanak-Bewegung‹ wird – zumindest auf dem literarischen Feld – 313 | Somuncu wurde in der Türkei geboren und 1996 bekannt mit einer szenischen Lesung aus Mein Kampf von Adolf Hitler, 2000 präsentierte er die Sportpalastrede Joseph Goebbels’ auf der Bühne, 2004 erhielt er dafür den Prix Pantheon. Fatih Çevikkollu wurde in Deutschland geboren und erhielt 2006 den Prix Pantheon für sein Kleinkunstprogramm Fatihland. 314 | Kraft nennt als Beispiele die ›Sprachinnovatoren‹ Feridun Zaimoølu und Zé do Rock, die Ungarinnen Zsuzsa Bánk und Terézia Mora sowie Herta Müller, Aglaja Veteranyi, Sherko Fatah, Vladimir Vertlib und Dimitré Dinev aus Mittel- und Osteuropa, vgl. Kraft 2005: 117ff. 315 | Vgl. zu Tawada u.a. Kersting 2006 u. Tawada 2002.
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jedoch Feridun Zaimoğlu bleiben, dessen Werk sich die folgende Textanalyse exemplarisch zuwendet.
4.2. M INORITÄTEN , L ITER ATUR UND S UBVERSION : F ERIDUN Z AIMO ÷ LUS K ANAK S PRAK (1995) UND K OPPSTOFF (1998) Ein zentraler Anfangspunkt der ›Kanak-Bewegung‹ ist Feridun Zaimoğlus Buch Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, das 1995 erschien. Zaimoğlu wurde 1964 im türkischen Bolu geboren, schon 1965 kam er nach Deutschland, er verbrachte also seine Primärsozialisation als Kind von Migranten in Deutschland, studierte später in Kiel Humanmedizin und Kunst. Aufgrund dieser Biografie wird ihm zugeschrieben, ein ›Angehöriger der zweiten Generation von Migranten in Deutschland‹ zu sein. Seit seinem Debüt Kanak Sprak hat Zaimoğlu zahlreiche weitere Romane, Erzählsammlungen und Theaterstücke geschrieben, seine Erzählung Abschaum wurde unter dem Titel Kanak Attack verfilmt, einige seiner Texte sind übersetzt worden, es entstanden weitere Bearbeitungen für das Theater und das Radio. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Zaimoğlu als ›Sprachrohr‹ der minoritären Gruppe der ›Migranten der zweiten Generation‹ rezipiert worden. Die Zeit hat ihn den »Malcolm X der deutschen Türken« (Lottmann 1997) genannt, Ulrich Rüdenauer bezeichnet ihn »mit seinem Programm der Identitätszerschmetterung und Sprachlust« als »eine[n] der radikalsten« (Rüdenauer, zit. n. http://www. literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=5584) politischen Gegenwartsautoren. Vor diesem Hintergrund soll Zaimoğlu als prominenter Vertreter der gegenwärtigen ›minoritären Literatur‹ untersucht werden.316 Die Analyse wird 316 | Mögliche Untersuchungsgegenstände im Bereich der minoritären (bzw. Migranten-)Literatur wären einerseits die Texte der sog. ersten Migrantengeneration von u.a. Franco Biondi (* 1947), Aras Ören (* 1939), Aysel Özakin (* 1942), Emine Sevgi Özdamar (* 1946), SAID (* 1947) und Rafik Schami (* 1946), andererseits die Texte der sog. zweiten bzw. dritten oder jüngeren Migrantengeneration von u.a. Melinda Nadj Abonji (* 1968), Zé do Rock (* 1956), Sherko Fatah (* 1964), Lena Gorelik (* 1981), Nino Haratischwili (* 1983), Wladimir Kaminer (* 1967), Yadé Kara (* 1965), Navid Kermani (* 1967), Abbas Khider (* 1973), Anna Kim (* 1977), Terézia Mora (* 1971), Herta Müller (* 1953), Zafer úenocak (* 1961), Serdar Somuncu (* 1968), Yoko Tawada (* 1960), Ilija Trojanow (* 1965), Jamal Tuschick (* 1961) oder Raul Zelik (* 1968). Im Kontext der nationalen Normalisierung der deutschen Erinnerungsdiskurse im Verlauf der 1990er Jahre und danach wäre es zudem sehr wichtig, noch intensiver die deutschbzw. österreichisch-jüdische Literatur am Beispiel so unterschiedlicher Autorinnen und
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sich auf sein Konzept der ›Kanak Sprak‹ beschränken, das er vor allem in seinem ersten und dritten Buch entwickelt hat und dessen mediale Rezeption bereits einige Jahre zurückliegt. In Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) hat Zaimoğlu 24 stilisierte Gespräche mit ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ versammelt (abgesehen von einer Transsexuellen handelt es sich bei den Gesprächspartnern um Männer)317. Die berichtenden Figuren sind zwischen 13 und 33 Jahren alt, bis auf einen Soziologen und einen Dichter gehören sie alle nicht nur wegen ihres migrantischen Hintergrunds, sondern auch aufgrund ihrer sozialen Situation Submilieus, minoritären Gruppen oder der Unterschicht an.318 Mit Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1998) folgt das ›weibliche Pendant‹: Diesmal werden 26 ›Frauen mit migrantischem Hintergrund‹ präsentiert, die in der Regel zwischen 21 und 38 Jahren alt sind319 und tendenziell besseren sozialen Milieus angehören als die Figuren aus Kanak Sprak.320 Diese beiden Texte und damit das Konzept der ›Kanak Sprak‹ sind inzwischen Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden.321 Insbesondere das subversive Verfahren der Dekonstruktion der Autoren wie Ulla Berkéwicz (* 1948), Maxim Biller (* 1960), Henryk M. Broder (* 1946), Esther Dischereit (* 1952), Barbara Honigmann (* 1949), Robert Menasse (* 1954), Oliver Polak (* 1976), Doron Rabinovici (* 1961), Robert Schindel (* 1944), Rafael Seligmann (* 1947), Vladimir Vertlib (* 1966) und Laura Waco (* 1947) zu untersuchen. Zudem wären auch Texte unter dieser Rubrik zu fassen, die als Reiseliteratur zu bezeichnen wären oder die sich mit migrantischen interkulturellen oder postkolonialen Themen beschäftigen wie jene von deutschen, luxemburgischen, österreichischen oder schweizerischen Autoren wie Hans Christoph Buch (* 1944), Alex Capus (* 1961), Guy Helminger (* 1963), Michael Roes (* 1960) oder Josef Winkler (* 1953). 317 | Azize wird als »Transsexuelle« bezeichnet und erzählt ihre Geschichte, die sie nach einer ›Mann-zu-Frau-Operation‹ zu einer Frau werden ließ, vgl. KS 34ff. 318 | Es handelt sich um drei Arbeitslose, zwei Rapper, zwei Arbeiter vom Flohmarkt, sowie je einen Breaker, Packer, Zuhälter, Psychiatrie-Patienten, Gelegenheitsstricher, Gigolo, Kfz-Gesellen, Kleinhehler, Streuner, Junkie, Müllkutscher, Asylbewerber und Islamisten. 319 | Zwei Frauen fallen aus der Reihe: Eine ist eine 17-jährige Schülerin, die andere eine 63-jährige Putzfrau. 320 | Es handelt sich um fünf Studentinnen, eine Deutschlehrerin, eine Schriftstellerin, eine Schauspielerin, eine Künstlerin, eine Edelboutique-Verkäuferin, eine Ver sicherungskauffrau, eine Frauenhausbetreuerin, eine Abiturientin und eine Schülerin. Daneben finden sich eine Rapperin, eine Anarchistin, eine Gemüseverkäuferin, eine Friseurin, eine Änderungsschneiderin, eine Putzfrau, eine Kellnerin, eine Barfrau, eine Prostituierte und eine Arbeitslose. 321 | Vgl. z.B. Adelson 2005; Begemann 1999; Bogdal 2004b; Cheesman 2002; Dörr 2005; Ernst 2006a; Mein 2004; Skiba 2004; Tuschick 2000c.
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Kategorien von Eigenem und Fremdem wurde zum Gegenstand der Analysen, exemplarisch sei hier auf die aufschlussreichen Ausführungen von Manuela Günter verwiesen.322 Es sind allerdings noch immer einzelne Elemente der ›Kanak Sprak‹ unerforscht, weshalb diese Untersuchung sich bemühen wird, einige neue Ergebnisse zu liefern und bereits vorliegende Erkenntnisse zu bündeln bzw., wenn notwendig, zu problematisieren und zu präzisieren.323 Ein Vergleich der ›Kanak Sprak‹ mit linguistischen Erkenntnissen über das ›reale Türkendeutsch‹ soll eine präzise Beschreibung ermöglichen, inwiefern die ›Kanak Sprak‹ mit dem Topos der Authentizität spielt. Zudem wird neben der Dekonstruktion ethnischer Kategorien durch die ›Kanak Sprak‹ untersucht, in welcher Weise die ›Kanak Sprak‹ mit Geschlechterkategorien umgeht – diese Frage ist in der bisherigen Forschung vernachlässigt worden. Die Dekonstruktion ethnischer und geschlechtlicher Kategorien wird in den Texten ergänzt durch eine Darstellung der zahlreichen Abgrenzungen, die die ›Interviewten‹ im Anschluss an Verfahren der Hip-Hop- und Popkultur vornehmen und die in der vorliegenden Sekundärliteratur nur oberflächlich reflektiert werden. Schließlich wird der Versuch unternommen, die ›Autorfigur Feridun Zaimoğlu‹ in ihrer Gebrochenheit zwischen der öffentlichen Wahrnehmung als ›Sprachrohr der Migranten‹ und der eigenen Inszenierung zu beschreiben. Die Untersuchung der ›Kanak Sprak‹ wird sich in vier Schritten vollziehen, die sich an der Struktur der anderen Literaturuntersuchungen orientieren. Die leitende Frage ist dabei, inwiefern das Konzept der ›Kanak Sprak‹ minoritäre Sprachen, Literaturen, Figuren, Gruppen, Erfahrungen als Bezugspunkte nutzt und für subversive Strategien nutzt. Die Untersuchung geht dabei von der Hypothese aus, dass der Bezug auf Minoritäten gerade dadurch subversiv aufgeladen wird, dass minoritäre Identitäten als hybride Konstruktionen präsentiert werden, die als produzierte und diskriminierte wie als resignifizierbare und dekonstruierbare vorgeführt werden, wobei geklärt werden soll, wie diese ästhetischen Verfahren in Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ umgesetzt werden.
4.2.1. Die ›Kanak Sprak‹. Eine subversive Kunstsprache Neben der deutschen Standardsprache, die als ›Hochsprache‹ die »überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht darstellt« (Bußmann 1990: 732) und somit als sprachliches Ideal der deutschen Mehrheitsgesellschaft gelten kann, existieren zahlreiche Sprachvarietäten, die sich von der Hochsprache abgrenzen lassen – wobei diese Fachsprachen, Jargons und Sondersprachen unterschiedliche Funktionen haben 322 | Vgl. Günter 1999; eine Zusammenfassung des Textes bietet dies. 2002b: 166–169. 323 | Teile dieser Analysen sind bereits in verschiedenen Aufsätzen veröffentlicht, vgl. Ernst 2006a, 2007 u. 2010b.
Minoritäten, Literatur und Subversion
können.324 Im Rahmen dieses Unterkapitels interessieren literarisch subversive Konzepte, die sich auf eine minoritäre Gruppe oder Position außerhalb der ›Mehrheitsgesellschaft‹ beziehen. Aus linguistischer Sicht definiert Veith diese Subkulturen als »Teilkulturen, deren Normen und Werte von denen der Gesamtkultur abweichen« (Veith 2002: 76), wobei sich diese Teilkulturen explizit als minorisierte verstehen. Diese Ab- oder Ausgrenzung von der Gesamtkultur kann zur Produktion einer sprachlichen Abweichung von der Hochsprache führen. Wie wird die ›Kanak Sprak‹ literarisch konstruiert? Auf welche Weise gelingt es ihr, subversive und resignifikative Kräfte zu entwickeln? Inwiefern wird sie von der Mehrheitsgesellschaft rezipiert und gar vom Mainstream absorbiert? Wie spielt sie mit dem Topos der Authentizität? Diese Fragen sollen in fünf Schritten beantwortet werden, dabei werden auch linguistische Arbeiten von Werner Kallmeyer und Inken Keim sowie die Sprach- und Performanztheorien von Judith Butler, insbesondere in der Lesart von Manuela Günter, hinzugezogen. ›Authentisches Ghetto-Deutsch‹? Zur Rezeption der ›Kanak Sprak‹ In den Einleitungstexten zu Kanak Sprak und Koppstoff wird nicht geklärt, ob die ›Kanak Sprak‹ eine ›authentische‹ Sprache oder eine Kunstsprache ist – es finden sich Hinweise für beide Möglichkeiten. In der Einleitung zu Kanak Sprak definiert Zaimoğlu diesen Begriff als eine Bezeichnung für die real gesprochene Sprache der ›Kanaken‹: »Längst haben sie einen Untergrund-Codex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die ›Kanak-Sprak‹« (KS 13). Im Folgenden beschreibt Zaimoğlu ausführlich, wie er sich das Vertrauen seiner Gesprächspartner erworben, sie an ihren ›authentischen Orten‹ besucht, die Gespräche mitgeschnitten und mitgeschrieben sowie über einen »Zeitraum von zwölf Monaten« (KS 16) recherchiert habe. Schließlich habe er die entscheidende sprachliche Leistung vollbringen müssen, die »deutsche[ ] Übersetzung der KanakSprak« (KS 17). Diese Übersetzung habe auf ›Authentizität‹ abgezielt und sei von den Gesprächspartnern autorisiert und damit ›authentifiziert‹ worden: Bei dieser »Nachdichtung« war es mir darum zu tun, ein in sich geschlossenes, sichtbares, mithin »authentisches« Sprachbild zu schaffen. Im Gegensatz zu der »Immigrantenliteratur« kommen hier Kanaken in ihrer eigenen Zunge zu Wort. Die fertige »Übersetzung« wurde dem Befragten zur Einsicht vorgelegt oder vorgelesen und von ihm freigegeben. Jeder ist mit der Publikation einverstanden. (KS 18) 324 | Nach Veith dienen Fachsprachen der »fachspezifischen Kommunikation unter Fachleuten«, ein Jargon ist »eine situationsabhängige Sprachform mit gemeinsprachlicher Grammatik, saloppem Stil, emotionalen Wörtern und Wendungen«, eine Sondersprache ist eine Sprachvarietät, die primär dazu dient, »Gruppenmitglieder als solche zu identifizieren (›Wir-Gefühl‹).« (Veith 2002: 27f.)
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Bereits die Formulierung ›in sich geschlossen‹ verweist auf ein künstlerisch komponiertes Werk, ebenso die Anführungszeichen um die Worte ›authentisch‹ und ›Übersetzung‹. Dieser Behauptung, die Protokolle seien authentifiziert und somit authentisch, entsprechen die ersten Rezensionen zahlreicher Zeitungen. In den Kieler Nachrichten heißt es, Zaimoğlu habe »Feldforschung« betrieben, »die Protokolle in ein lesbares Deutsch übertragen« und auf diesem Wege »authentische Aussagen, O-Töne gesammelt« (Lewerenz 1995). Auch in der Rezension des drei Jahre später erschienenen Bandes Koppstoff in der Frankfurter Rundschau wird behauptet, Zaimoğlu habe »Feldforschung betrieben« und »literarische Soziogramme« (Peters 1998) produziert. In der Süddeutschen Zeitung werden Zaimoğlus Texte noch 2000 unter dem Untertitel Wie Künstler eine Sprache von der Straße aufgesammelt haben, die von Einwandererkindern als eine Waffe gegen Diskriminierung verwendet wird präsentiert (Gertz 2000). Diese Lesarten werden unterstützt vom Verlagsprospekt, der sogar von »radikal authentischen Bekenntnisse[n]«325 spricht. Verlag und Rezensent rücken die Texte Zaimoğlus damit in die Traditionslinie der ›authentischen Migrantenliteratur‹: In ihren Anfängen wurde der ›Migrantenliteratur‹ eine spezifische ›Authentizität‹ oder ›Betroffenheit‹ zugesprochen, die allerdings eine doppelte Diskriminierung implizierte. Diese bestand einerseits darin, dass den ›nicht-muttersprachlichen Autorinnen und Autoren‹ nicht die Fähigkeit zugesprochen wurde, literarisch eigenständige und ästhetisch geformte Kunst, sondern nur abbildende, dokumentarische Texte zu produzieren; andererseits wurde den (Migranten-) Milieus, aus denen sie berichten, nur die Klage über das eigene alltägliche Schicksal zugetraut, nicht aber die Produktion von Geschichten, die auch außerhalb des migrantischen Milieus rezipiert werden könnten. In der Literaturwissenschaft empört sich Heidi Rösch noch 2006 darüber, dass viele ›antirassistisch ausgerichtete‹ deutschsprachige Jugendbücher »eine rassistische Sprache übernehmen und diese, da sie unkritisiert bleibt […], auch transportieren und ›literaturfähig‹ machen. Das gilt in gleichem Maße für den Ethnolekt (als das Deutsch, das Minderheitenangehörige in Ballungszentren sprechen), […] z.B. in ›Kanak Sprak‹ von Feridun Zaimoğlu« (Rösch 2006: 230). Reinhard Sauter reproduziert Zaimoğlus Behauptung, dass die ›Kanak Sprak‹ eine »Jugendsprache« sei, die »ihren Ursprung […] in Ethnolekten der Migrantenkinder hat« (Sauter 2008: 221). Auch Dirk Skiba versteht Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ als einen »quasi-dokumentarische[n] Ansatz«, den er in die »Tradition der Protokoll-Literatur« (Skiba 2004: 186f.) einordnet und mit der 325 | Im Rotbuch-Verlagsprospekt wird behauptet: »Zaimoglu ist [in Kanak Sprak] als Feldforscher eingetaucht in den Kiez der Kanaken, hat sich das Vertrauen der Interviewten erworben. Sie haben ihm Auskunft gegeben […]. Zaimoglu hat diese wilden und radikal authentischen Bekenntnisse aus der Kanak Sprak […] in ein lesbares oder besser, hörbares Deutsch übertragen.« (Rotbuch 1995)
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dokumentarischen Prosa von Erika Runge (Bottroper Protokolle, 1968), Sarah Kirsch (Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder, 1973) und Maxie Wander (Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband, 1977) in eine Linie stellt. Skiba benennt in seiner Argumentation zwar alle Hinweise auf die Konstruiertheit der ›Kanak Sprak‹ (Zaimoğlu stelle sich nicht in die dokumentarische Tradition; die biografischen Informationen zu den Interviewpartnern seien spärlich; die Tonbänder wurden ›gelöscht‹ etc.) (vgl. Skiba 2004: 188f.), stellt aber dennoch weit reichende Spekulationen über die Inhalte der ›gelöschten Tonbänder‹ an, gleichsam um den ›nicht-deutschen Autor‹ vor seiner möglichen Fähigkeit zur Entwicklung fiktiver Stoffe, ›Stimmen‹ und Sprachen zu schützen: »Wortgetreue Transkriptionen der mitgeschnittenen Interviews wären deutschen Lesern weitgehend unverständlich. Die aufgezeichneten Gespräche mußten allein deshalb bearbeitet werden«. Bereits im Folgesatz verweist Skiba wieder darauf, dass Zaimoğlus Selbstaussagen »nicht frei von Widerspruch« seien (Skiba 2004: 195). Diesem und den anderen offensichtlichen Widersprüchen geht Skiba jedoch nicht nach. Rösch, Sauter und Skiba nehmen also an, dass die ›Kanak Sprak‹ Zaimoğlus einen ›realen Ethnolekt‹ dokumentiere, den der Autor seinen Lesern vermittele. Andere Literaturwissenschaftler gehen differenzierter vor und beschreiben die ›Kanak Sprak‹ als den künstlichen Versuch ›realer Migrantengruppen‹, sich eine Identität über die Sprache zu rekonstruieren.326 Christian Begemann behauptet, unter Rekurs auf Zaimoğlus Vorwort, dass die »Selbstinszenierung (der ›Kanaken‹) in einer elaborierten ›Privatsprache‹ […] als Substitut an die Stelle einer kulturellen Identität tritt«, und dass der Autor »die jeweiligen Slangs« literarisch bearbeite und überhöhe, dass sich die ›Kanak Sprak‹ also auf eine ›authentische Sprache‹ beziehe. Schließlich verweist Begemann darauf, dass die ›Kanak Sprak‹ ein »kulturelles Weder-Noch in der Lücke zwischen den Kulturen sei« (Begemann 1999: 219), wobei er jedoch an der Annahme festhält, es ließen sich eine homogene ›türkische Migrantenkultur‹ und eine homogene ›deutsche Kultur‹ voneinander abgrenzen. Auch Georg Mein nimmt an, dass die ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ auf »der Suche nach einer ethnischen Identität« seien, die von den ›Kanaken‹ nur noch in der subkulturellen Abgrenzung von der ›Mehrheitsgesellschaft‹ gefunden werden könne. Diese Abgrenzung realisiere sich in der Teilhabe an der ›Kanak Sprak‹, deren sprachlicher »Habitus zum Ausgangspunkt von Identität hypostasiert« (Mein 2004: 207) werde und sich im performativen Akt vollziehe. Dieser Akt sei jedoch nicht dazu geeignet, die bereits zugrunde gelegte Differenzerfahrung zu überwinden und ende daher in einem infiniten Regress. Zaimoğlu begreife sich zudem »in erster Linie als Reporter und nicht als Autor« (Mein 2004: 209f.), stelle sich bewusst in den »Kontext der Dokumentar326 | Matteo Galli spricht von der ›fraglichen Authentizität‹ der ›Kanak Sprak‹ (Galli 2005: 317–319).
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literatur« (Mein 2004: 210). Weil Mein der ›Kanak Sprak‹ und den Migranten unterstellt, sie zielten noch immer auf eine ›authentische Identität‹ ab, fällt es ihm schließlich leicht, die ›Kanak Sprak‹ als untauglich für diesen Versuch zu bewerten: Sie biete »keine feste Struktur, mit der sich Identität wirklich begründen ließe« (Mein 2004: 213). Damit hat Mein jedoch – im Gegensatz zu Rösch, Skiba und Begemann – herausgearbeitet, was die ›Kanak Sprak‹ ihrer gesamten Form nach ist: Ein kunstvolles Spiel mit ethnischen Identitäten und ›Authentifizierungen‹, die sich als künstliche herausstellen. Die Verweise des Textes auf seine eigene Konstruktion sind vielfältig: Zaimoğlu bezeichnet seine Texte als »deutsche Übersetzung« (KS 17) bzw. »›Nachdichtung‹« (KS 18). Seine zahlreichen und ausführlichen Verweise auf die realen Gesprächspartner, die das Material authentifiziert hätten, und seine ›dokumentarische Tätigkeit‹ sind als falsche Fährten und Spiel mit dem Topos der ›authentischen (Migranten-)Literatur‹ zu werten, denn er schließt seine Ausführungen ab mit dem Satz: »Die Bänder musste ich auf ausdrücklichen Wunsch der Gesprächspartner in deren Beisein löschen.« (Ebd.) Diese Geste macht es unmöglich, auch nur eine der zuvor gemachten Behauptungen zu verifizieren – und mit einem Schlag ist das Material als fiktionales gekennzeichnet. Die Kanak Sprak steht somit gerade nicht in der Tradition der Dokumentarliteratur, sondern schreibt sich demgegenüber in die Popkultur ein, der Tonbänder schon immer Anlass für ein Spiel mit dem Topos der Authentizität waren (vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 1994: 179–183, 186–189 u. 192–195). Zaimoğlu nimmt also spielerisch und parodistisch die Pose des Reporters ein und bedient ironisch die Erwartungen jener, die noch immer an die rein ›authentische‹ Qualität der ›Migrantenliteratur‹ glauben. Viel besser lassen sich seine ›Protokolle‹ vor dem Hintergrund der globalen Hip-Hop-Kultur und ihrer bricolagierten Textkonstrukte lesen. Manuela Günter stellt fest, dass Zaimoğlu die Texte zum Schutz ihrer möglichen ›Urheber‹ fingieren und inszenieren müsse, denn »die Sprache der Befragten laufe in direkter Übersetzung Gefahr, als ›blumige Orientalsprache‹ mißverstanden zu werden, deshalb müsse der Übersetzer, um der ›FolkloreFalle‹ zu entgehen, weitreichende Eingriffe vornehmen« (Günter 1999: 17).327 Auf diese Weise konstruiert Zaimoğlu eine paradoxe Figur: Im Versuch, die ›Authentizität‹ seiner Protokollgeber zu bewahren, müsse er die Sprache der Protokolle modifizieren und daher ihrer ›Authentizität‹ berauben. Von den ›echten Kanaken‹ können daher nur noch Texte künden, die bearbeitet, d.h. 327 | Damit verweist Günter auf ein Zitat von Zaimoølu: »Weil sich die Kanak Kids in den Straßen bewegen, sprechen sie einen sich laufend weiterentwickelnden symbolischen Jargon, der häufig als blumige Orientalsprache mißverstanden wird. Dieser FolkloreFalle mußte meine Nachdichtung entgehen.« (KS 14; in seinen folgenden Ausführungen erläutert Zaimoølu die Folgen dieser Entscheidung für die sprachliche Form seiner ›Nachdichtung‹)
Minoritäten, Literatur und Subversion
unecht und künstlich sind: Zaimoğlu wisse, »dass er den Kanaken ›türken‹ muss, um ihn sichtbar zu machen« (Günter 1999: 17f.). Wenn aber nur noch als künstlich gekennzeichnete Berichte das angeblich ›Authentische‹ beschreiben können, so kann dieses angeblich ›Authentische‹ und Reale nur ein Konstruiertes sein. Ein weiteres Indiz liefert Tuschicks Annahme, dass die von Zaimoğlu ›Interviewten‹ vermutlich zu den beschriebenen Reflexionen gar nicht in der Lage gewesen wären: »Nicht abnehmen möchte man ihm die bloße Chronistenrolle, etwa gegenüber dem ›bezahlten ficker‹ Ercan, der den Holocaust mit Sexphantasien einer Kundin in Verbindung bringt« (Tuschick 2000c: 110f.).328 Als einen »klare[n] Verweis auf die Künstlichkeit der Interviews« wertet Mark Terkessidis zudem die Tatsache, »dass Zaimoğlu nach Koppstoff zwei der von ihm angeblich interviewten Frauen zu einem taz-Interview mitgebracht hat. Dass es sich bei ihnen allerdings um seine Freundin und um seine Schwester handelte, die das Spiel mitspielten, hat er dem Interviewer nicht gesagt.«329 Es soll hier jedoch nicht versucht werden, mit Anekdoten zu belegen, dass die Texte artifiziell sind. Vielmehr soll im Folgenden detailliert die Frage untersucht werden, inwiefern es sich bei Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ um eine authentische oder um eine künstliche und hybride Sprache handelt. Dabei wird die Differenz zwischen linguistischen Beschreibungen eines ›authentischen Ghetto-Deutsch‹330 (Inken Keim) einerseits und der ›künstlichen Kanak Sprak‹ andererseits herausgearbeitet, damit die ästhetische Gestaltung der ›Kanak 328 | Zaimoølu selbst hat sich auch später noch bewusst gegen eine linguistische Betrachtung seiner ›Kanak Sprak‹ gewehrt und demgegenüber auf die Intuition der Wahrnehmung verwiesen: »Ich will an dieser Stelle keinen sprachwissenschaftlichen Diskurs anstrengen, zumal sich Sprachpracht und Sprachkraft über die Ohrenzeugenschaft erschließen lassen.« (Zaimoølu 2001: 15) 329 | Diese Aussage entstammt einem Telefonat zwischen dem Verfasser und Mark Terkessidis, das am 2. Dezember 2005 geführt und nachträglich von Mark Terkessidis autorisiert wurde. Das komplette Zitat lautet: »Es lässt sich nicht klar sagen, ob oder wie viele der in Kanak Sprak und Koppstoff geführten Interviews wirklich geführt worden sind. Ein klarer Verweis auf die Künstlichkeit der Interviews ist die Tatsache, dass Zaimoølu nach Koppstoff zwei der von ihm angeblich interviewten Frauen zu einem tazInterview mitgebracht hat. Dass es sich bei ihnen allerdings um seine Freundin und um seine Schwester handelte, die das Spiel mitspielten, hat er dem Interviewer nicht gesagt.« 330 | Es ist allerdings fraglich, ob die Bezeichnung ›Ghetto-Deutsch‹ passend ist. Zwar verweisen viele Migranten auf das ›Ghetto‹ als ihren Lebensort, allerdings im Anschluss an die globale Hip-Hop-Kultur und die Konnotation des Begriffs im anglo-amerikanischen Raum. In Deutschland ist der Begriff ›Ghetto‹ als Bezeichnung für abgegrenzte und entrechtete jüdische Wohnbereiche während des Nationalsozialismus historisch konnotiert.
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Sprak‹ besser bewertet und in ein (subversives) Verhältnis zum realen ›GhettoDeutsch‹ wie auch zum Hochdeutschen gesetzt werden kann.331 ›Authentisches Ghetto-Deutsch‹ versus ›künstliche Kanak Sprak‹. Linguistische Analysen Die Mannheimer Sprachforschungsgruppe um Werner Kallmeyer und Inken Keim beschreibt am Beispiel türkischer Jugendlicher in Mannheim die Herausbildung eines »›Türkendeutsch‹« (Keim 2001: 376f.); dabei handelt es sich um eine problematische Bezeichnung, die schon ihre Schöpferin in Anführungszeichen setzt. Die ›zweite Generation der Migranten‹ hat das ›PidginDeutsch‹ hinter sich gelassen und nutzt die sprachliche Auswahl zwischen hochsprachlichem Deutsch, Türkisch (oder Italienisch etc.) und meist noch anderen Sprachen wie Englisch, die – je nach Gesprächssituation – miteinander kombiniert werden. Zwar können die meisten ›Angehörigen der zweiten Migrantengeneration‹ noch immer nicht ihre minoritäre Position innerhalb der Gesellschaft verlassen, allerdings haben sie – teilweise – eine größere sprachliche Auswahl als die Jugendlichen der ›deutschen Mehrheitsgesellschaft‹. Keim beschreibt zwei verschiedene Formen dieses ›Türkendeutsch‹: Sie unterscheidet Jugendliche, die sich ›auf das Ghetto hin‹ orientieren, von Jugendlichen, deren Perspektive ›aus dem Ghetto hinaus‹ weist, wobei »alle ›aus dem Ghetto hinaus‹ orientierten Jugendlichen […] das Standarddeutsche sowie meistens auch das Standardtürkische« (Keim 2001: 379) beherrschten. Jene aufstiegsorientieren Gruppen, die sich ›aus dem Ghetto hinaus‹ orientierten, hätten ein enormes sprachliches Spiel- und Kombinationsvermögen entwickelt (vgl. Keim 2001: 381). Die türkischen Jugendlichen beherrschen nach Keim ein breites Spektrum des »Sprach- und Kommunikationsverhaltens; es findet sich akademisch geprägtes Standarddeutsch neben Fachsprachen und -jargons, Mannheimer Dialekt, deutsch-türkischen Sprachmischungen, Standardtürkisch und türkischen Regionalvarietäten.« (Keim 2001: 376) Kallmeyer beschreibt darüber hinaus einen ›emanzipatorischen Stil‹ des ›Türkendeutsch‹, der sich bei diesen ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ entwickelt habe und von Aktionsgruppen wie den Unmündigen, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch der Jugendlichen benutzt werde. Als zentrale Elemente des ›emanzipatorischen Stils‹ nennt Kallmeyer das »Spiel mit kulturellen Symbolen« und »mit Zusammengehörigkeitskategorien wie ›Ausländer‹ bzw. ›Ausland‹« (Kallmeyer 2001: 416), die »Übernahme und Umwertung von negativen Fremdstereotypen bzw. -kategorien« (Kallmeyer 2001: 417), die »Umkehrung von Dominanzverhältnissen« (Kallmeyer 2001: 418) und die »Normalitätsdemonstration aus der Eigenperspektive, ggf. auch als Spiel mit 331 | Weitere theoretische Ausführungen zur subversiven Qualität von Sprachen und Varietäten finden sich in Kap. 5.1.4.
Minoritäten, Literatur und Subversion
der Normalitätsunterstellung« (Kallmeyer 2001: 419). Diese sprachlichen Verfahren dienten den ›Migranten der zweiten und dritten Generation‹ als Widerstandsstrategie gegen die (sprachlichen) Diskriminierungen, die ihnen in Deutschland widerfahren; in der ›zweiten Generation der Migranten‹ habe sich z.B. das Verfahren der Perspektivenumkehr verbreitet: »In den meisten der bisher beobachteten Fällen machen derartige rhetorisch gekonnte provokative Sprachspiele die deutschen Adressaten ratlos, jedenfalls erscheinen kaum unmittelbare Reaktionen. Die weitere Interaktionsgeschichte und die Anstrengungen der späteren Verarbeitung belegen aber die Wirksamkeit.« (Kallmeyer 2001: 419; vgl. auch ders. 2004: 56f.) Kallmeyer bezeichnet diese sprachlichen Verfahren explizit als ›subversive Mittel der Gegenwehr‹.332 Als wichtigstes Verfahren benennt Kallmeyer das ›Mixing‹, in dem sich eine »enge Verzahnung von Deutsch und Türkisch« manifestiere: »Mixing ist durch häufige, schnelle und unmarkierte Wechsel von einer Sprache in die Andere gekennzeichnet (bei den Powergirls im Durchschnitt bei jedem 5./6. Wort), häufig innerhalb eines Satzes und prosodisch eng verbunden, mit Verschleifungen zwischen den Wörtern aus beiden Sprachen.« (Kallmeyer 2004: 55) Das Mixing als formales sprachliches Verfahren diene den untersuchten Migrantinnen-Gruppen als »Identitätssymbol. Es steht für ihre eigene Welt und ihre soziale Positionierung als ›etwas Neues‹ zwischen den Kulturen.« (Ebd.: 56) Neben dieser komplexen und hybriden Sprachform habe sich jedoch auch eine restringierte Form des Deutschen herausgebildet, die eher von den ›auf das Ghetto hin‹ orientierten Jugendlichen genutzt und von Keim als ›GhettoDeutsch‹ bezeichnet wird. Dieses werde z.B. in multilingualen Schulklassen als Pidgin-Deutsch zur Verständigung genutzt und sei eine »vereinfachte Form der deutschen Umgangssprache« (Keim 2003: 97). Dieses ›GhettoDeutsch‹ beschreibt Keim wie folgt: Es ist eine vereinfachte Form der deutschen Umgangssprache mit Ausfall von Präpositionen und Artikel in Lokal- und Richtungsangaben, häufigem Ausfall des Artikels in Nominalphrasen, Generalisierung der Verben gehen, kommen und machen, der Verwen-
332 | Bei Kallmeyer heißt es: »Subversive Spiele wie jemanden auf den Arm nehmen, jemanden hinters Licht führen oder auch jemanden ›vorführen‹ kommen insbesondere vor, wenn im Kontakt mit Anderen deren Annäherung als störende Einmischung oder als unangemessene Neugier verstanden wird. Die Wahl von subversiven Spielen als Mittel der Gegenwehr ist typisch für Akteure, die sich in einer dominanten Rolle gegenüber ihren Interaktionspartnern sehen bzw. sich in der Kontrolle über ihren Kommunikationsraum beeinträchtigt fühlen. Subversive Interaktionen sind unter soziostilistischer Perspektive interessant, weil sie mit der Vertrautheit von Hintergrundwissen und von spezifischen Stilelementen spielen, um die Adressaten auf die Probe zu stellen, sie zu verunsichern oder sich abzugrenzen. Sie entsprechen Kommunikationsstrategien für erwartbare Konfliktfälle.« (Kallmeyer 2004: 52)
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Literatur und Subversion dung von tags wie »weiß=du« und »oder was« und von Formeln wie »isch schwör« zur Bestätigung und »isch hass des« zur negativen Bewertung; Verwendung türkischer und italienischer Formen zur Anrede, Begrüßung, Verabschiedung, Beschimpfung und als Interjektionen und Diskursmarker. (Ebd.: 97)
Mit Keim ließe sich also ein elaboriertes ›Türkendeutsch‹, das verschiedene Variäteten beinhaltet, einen ›emanzipatorischen Stil‹ nutzt und von ›aus dem Ghetto hinaus‹ orientierten Jugendlichen gesprochen wird, von einem restringierten ›Ghetto-Deutsch‹ unterscheiden. Keim und Kallmeyer haben zwar keinen Vergleich dieser Varietäten mit Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ formuliert, allerdings hat Keim – im Anschluss an ihre Untersuchungen über das ›Ghetto-Deutsch‹ – dieses vom »Konstrukt ›Kanaksprak‹«, das sie anhand eines CD-Auszugs des Comedy-Duos Mundstuhl beschreibt, abgegrenzt (ab 1997 entwickeln sich zahlreiche Formen dieser ›Comedy-Kanak Sprak‹). Zwar gebe es einzelne Gemeinsamkeiten, wie die Koronalisierung von /ch/ zu /sch/ oder den Ausfall von Präpositionen und Artikeln in Lokal- und Richtungsangaben, in weiten Teilen unterschieden sich diese Sprachformen jedoch voneinander, denn die besonderes auffallenden und ›fremd‹ wirkenden Merkmale der Kanaksprak wie gerolltes /r/, Trennung von Diphthongen, die falsche Verwendung von eher ›aufwändigeren‹ morphologischen Formen (wie Akk. und Dat. anstelle von Nom., Pluralformen anstelle von Singularformen) und die Verwendung der phonetisch markierten Adjektive ›krass‹, ›korrekt‹ und ›konkret‹ zur Intensivierung und Positivbewertung kommen bei den Jugendlichen nicht vor. D.h. die Kanaksprak ist ein Konstrukt der Comedyautoren […]. Dieses Konstrukt nimmt zwar einige typische Merkmale der Sprache der jugendlichen Migranten auf, unterscheidet sich aber gerade durch zusätzliche, besonders ›fremd‹ wirkende Merkmale von der Realität. (Ebd.: 99) 333
Die gesprochene und performte ›Kanaksprak‹ von Mundstuhl sei eine Kunstsprache, die nur indirekt auf das ›Ghetto-Deutsch‹ zu beziehen sei und dessen restringierte Merkmale durch Übertreibung für komische Effekte nutze. Rotwelsch und Rap, Celan und Heidegger. Die ›Kanak Sprak‹ als hybride Kunstsprache Zaimoğlu selbst vergleicht die ›Kanak Sprak‹ mit zwei Sprachtypen: Sie sei »eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen.« (KS 13) Ausgehend von den vorherigen Beobachtungen ist zu erwarten, dass es sich erneut um eine spielerische Bezugnahme handelt, die sich bei wissenschaftlicher Analyse als Konstrukt oder Spiel erweist. Das Rotwelsch ist »die Geheimsprache der deutschen ›Fahrenden‹, vorwiegend der Händler, Hausierer, Land333 | Vgl. auch den tabellarischen Überblick bei Keim 2003: 98.
Minoritäten, Literatur und Subversion
streicher und Bettler« (Veith 2002: 76), wobei die Grammatik der deutschen Hochsprache beibehalten, allerdings ein sehr umfangreicher Sonderwortschatz genutzt wird (und zudem in Form der sog. Zinken bis heute benutzte Logogramme existieren).334 Viele Wörter des Rotwelsch sind inzwischen in die Alltagssprache übernommen worden und die sprachtragenden Subkulturen haben sich aufgelöst, weshalb das Rotwelsch im 20. Jahrhundert zu einer ›historischen‹ Sprache geworden ist (vergleichbar mit dem Argot in Frankreich). Wenn heute eine (literarische) Sprache oder die Äußerungen eines Literaten als ›Rotwelsch‹ bezeichnet werden, so kennzeichnet dies den Versuch, eine Sprache als eine des Untergrunds oder minoritärer oder diskriminierter Gruppen zu inszenieren.335 Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ vereint zwar formal – wie das Rotwelsch – die Einflüsse unterschiedlicher Sprachcodes, nutzt jedoch nur in geringem Maße den Wortschatz des Rotwelsch. Wörter und Formulierungen wie »grips«, »die bräsigsten reste«, »popspezi«, »kloßbrühenklar« oder »schose« (KS 20), um exemplarisch aus dem ersten Kanak Sprak›Protokoll‹ zu zitieren, entstammen der aktuellen Jugend- und Szenesprache, nicht dem Rotwelsch (mit einer gewissen Ausnahme beim Wort ›schose‹336). Zutreffender erscheint Zaimoğlus Bezeichnung der ›Kanak Sprak‹ als Kreolsprache: Wenn unterschiedliche Sprachsysteme aufeinander prallen (vor allem in Zeiten des Kolonialismus), wird im Regelfall die minoritäre, unterworfene Sprachgruppe gezwungen, die Sprache der kolonialen Herrscher zu erlernen. Das Resultat dieses Prozesses sind Pidgin-Sprachen, die sich durch einen reduzierten Wortschatz sowie vereinfachte Strukturen auszeichnen und von den minorisierten Sprachgruppen mit den Kolonialisten gesprochen werden (bei Beibehaltung der indigenen Sprache). Eine Pidgin-Sprache kann sich im Laufe der Zeit zu einer voll leistungsfähigen und ausgebauten Sprache weiterentwickeln, die dann anstelle der indigenen Sprache gesprochen wird – damit wäre eine Kreolsprache entstanden. Als zwei Beispiele für Pidgin- und 334 | Vgl. auch: Girtler 1998. Diese Geheimsprache diskriminierter Minoritäten wurde allerdings zum Gegenstand hegemonialer Verschwörungstheorien. Insbesondere der Einfluss des Jiddisch auf den Wortschatz des Rotwelsch wurde zum Anlass für antisemitische Konstruktionen, vgl. u.a. Naschér 1910. Diese Verbindung wird in ähnlicher Form auch im Rotwelsch-Wort ›Jud‹ für ›Klitoris‹ deutlich (worauf auch Meinecke in Tomboy verweist): »nach Aussage eines Herrn vom Strich heiße die Klitoris angeblich darum ›Jud‹, weil sie sich ähnlich wie der Jude zu verstecken weiß.« (Girtler 1998: 180) 335 | In diesem Sinne wäre z.B. der Titel von Heiner Müllers Interview- und Essaysammlung Rotwelsch (1982) zu verstehen, in der Müller kaum auf den Wortschatz des Rotwelsch zurückgreift, seinen Texten jedoch die marginalisierte Position des Rotwelsch zuweist, vgl. Müller 1982a. 336 | Das Wort ›schose‹ gibt es im Rotwelsch nur als Pluralform ›schosen‹ und heißt »Lügen, Flausen« (vgl. Wolf 1956: 298). Allerdings wird bei Wolf auch auf seine mögliche Herleitung von ›chose‹ (frz. ›Sache‹) verwiesen, die hier die zutreffende ist.
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Kreolsprachen mit deutschem Hintergrund nennt Hancock »Yiddish« und »Gastarbeiter German« (Hancock, zit. n. Romaine 1988: 319f.), wobei es sich allerdings beim Jiddisch um eine Kreol-, beim ›Gastarbeiterdeutsch‹ um eine Pidginsprache handelt. Michael Clyne hat die sprachliche Ausdrucksweise der ersten ›Gastarbeiter‹-Generation in Deutschland den Begriff ›Pidgin-Deutsch‹ eingeführt (vgl. Clyne 1968). Als Merkmale dieses ›Pidgin-Deutsch‹ nennt Veith »fehlende Flexionssuffixe«, »stets Infinitivsuffix bei Verben«, »Negation durch nix«, »analytische Wortbildung« und das »Fehlen von Elementen, die in der Standardsprache obligatorisch sind« (Veith 2002: 211).337 Dieses gesprochene ›Pidgin-Deutsch‹ wird dafür mitverantwortlich gemacht, dass die Texte der sog. Gastarbeiterliteratur als ästhetisch und sprachlich minderwertig bewertet wurden und werden. Tatsächlich finden sich in Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ zahlreiche Beispiele des restringierten Codes, z.B. analytische Wortbildungen (»is doch eh nur’n gott da« [KS 47]), elliptische Rede (»sagn die Alten […] die Peilung isses«, [Ko 29]), Inversionen (»Wenn man sitzt auf dem Barhocker« [Ko 77]), GenitivDativ-Verwechslungen (»Dem seine hibbelige Rechte« [Ko 114]), die falsche Bildung adverbialer Pronomen (»was ich respekt hab vor« [KS 43]), die Ersetzung der Relativpronomen durch ›schwäbisches Wo‹ (»die kerls haben respekt, wo dich zur größe macht« [KS 117]) und die Nutzung (vor allem norddeutscher) dialektaler Rede und Begriffe (»knüppelmännekens«, »Mir is schulz« [KS 45]). Zudem ist Kanak Sprak weitgehend in Kleinschreibung gehalten, was eine weitere Simplifizierung der grammatischen Strukturen bedeutet (wobei radikale politische bzw. ästhetische Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion und die Wiener Gruppe die Kleinschreibung zur Markierung einer Differenz gegenüber der zum gesellschaftlichen Ideal bestimmten Hochsprache genutzt haben).338 Diese restringierten Merkmale der ›Kanak Sprak‹ werden nicht ausschließlich Sprechern zugewiesen, die aus einer sozial schwächeren oder hochsprachferneren Schicht kommen – die Zitate stammen von einer ›Schriftstellerin‹, einer ›Anarchistin‹, einem ›Packer‹, einem Mitarbeiter einer ›Flohmarktdisco‹ und einer ›Kellnerin‹. Der Grad an restringierter Sprache, wie Veith ihn am Beispiel des ›Pidgin-Deutsch‹ beschreibt, wird in den Texten jedoch nicht erreicht. Neben diesen Kennzeichen einer restringierten Pidgin-Sprache verfügt die ›Kanak Sprak‹ auch über Merkmale, die sie als hybride Kunstsprache beschreibbar machen. An erster Stelle ist zu nennen, dass die ›Protokolle‹ Begriffe und Sätze aus zahlreichen nationalen Hochsprachen enthalten, die in die ›Kanak Sprak‹ hineingemischt werden. Vor allem handelt es sich dabei um die türkische Sprache, die in Kanak Sprak noch sehr zurückhaltend benutzt wird (»talab« [KS 84]), in Koppstoff allerdings mehrfach und teilweise unübersetzt in 337 | Weitere Merkmale des ›Pidgin-Deutsch‹ finden sich bei Metin 1996. 338 | Koppstoff wendet wieder die Standardregeln der Groß- und Kleinschreibung an.
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ganzen Sätzen in den Text hineingefügt wird339 (wobei auch die manchmal geleisteten Übersetzungen türkischer Sätze eher spielerisch als wortgetreu sind)340. An zweiter Stelle greifen die Texte englische Begriffe auf, teilweise in eingedeutschter (u.a. »direktion« [KS 79]; »Relations« [Ko 30]), teilweise in originärer Version (»crazy« [KS 46]; »big cities« [Ko 24]). Schließlich finden sich zahlreiche Begriffe aus dem Jiddischen (»maloche« [KS 20];341 »meschugge«, [KS 62];342 »schlamassel« [KS 122343]), eingedeutschtes Französisch (»fassong« [Ko 87]), Spanisch (»fanatica« [Ko 119]) und lateinische Lehnwörter (»defäkation« [KS 102]). Die ›Kanak Sprak‹ wird nicht nur mit Begriffen aus fremden Sprachen angereichert, sondern enthält auch zahlreiche intertextuelle Verweise, die sich auf den Bereich der deutschsprachigen Hoch- und der globalen Populärkultur beziehen. Dazu zählen die Bezüge auf Schriftstellernamen,344 Filmregisseure,345 deutschsprachige Gedichte,346 Märchen, Sprichworte und Redeweisen,347 internationale Buch- und Redentitel,348 Theaterstücke (»die hölle der anderen« [KS 94]) (post-)moderne Theorien,349 Pop-Ikonen und Figuren der Antike
339 | Türkische Sätze und Floskeln tauchen in Koppstoff in drei Formen auf: unübersetzt (Ko 12, 111, 122 u. 124), übersetzt (Ko 47, 50, 55 u. 93) und formelhaft (Ko 68f. u. 71). 340 | Vgl. hierzu Skiba 2004: 201, der mehrere Beispiele für sehr freie Übersetzungen präsentiert. 341 | ›Maloche‹ nimmt hier die Bedeutung der ›Arbeit‹ an, vgl. Althaus 2003: 45–50 u. 150; 2004: 67. 342 | ›Meschugge‹ steht hier für ›verrückt‹, vgl. Althaus 2003: 21–31 u. 151; 2004: 114. 343 | ›Schlamassel‹ lässt sich hier als ›Unglück, Pech, Durcheinander‹ verstehen, vgl. Althaus 2003: 152; 2004: 72. 344 | Vgl.: »Ernst Jünger« (Ko 22); »Hemingway« (Ko 63); »Paul Celan und Rimbaud« (Ko 114). 345 | Vgl.: »Fassbinder« (Ko 109). 346 | Vgl.: »Ich habe glieder aus tonmehl« (KS 58); »weil nur am deutschen Wesen die rohe primitive Seele genesen kann« (Ko 107). 347 | Vgl.: »und wenn er nicht gestorben ist, rennt er heut noch rum« (Ko 39); »was nicht tötet, härtet angeblich ab« (Ko 61); »Alles zu seiner Zeit!« (Ko 116). 348 | Vgl.: »Meridiane« (Ko 24); »Onkel Tom« (Ko 84 u. 86); »Ich träume von …« (KS 132); »baal« (KS 137). 349 | Vgl.: »der blick frei von blinden flecken« (KS 47); »urvertrauen« (KS 139). – Unter ›blinden Flecken‹ versteht man in der Sozialpsychologie die Selbstverteidigung gegen Teile des Ich, die dieses nicht wahrnehmen kann oder will; der Begriff wurde u.a. von Jacques Derrida aufgenommen. Das ›Urvertrauen‹ ist ein von Erik H. Erikson eingeführter psychoanalytischer Terminus, der das Persönlichkeitsfundament eines Kindes
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Literatur und Subversion 350 und der Autonomendiskurs in Deutschland.351 Das ›Interview‹ mit »Gönul, 25, Philosophie-Studentin« ist eine Auseinandersetzung mit der deutschen Identitätsphilosophie, insbesondere mit Martin Heidegger.352 Zudem schafft die ›Kanak Sprak‹ zahlreiche neue Komposita, die aus zwei oder mehreren nominalen Gliedern, Adjektiven und Nomen oder auch zwei Verben zusammengesetzt sind, wobei teilweise ein Glied nicht der deutschen Hochsprache entstammt.353 Auf diese Weise wird die Eigenheit der deutschen Sprache, Komposita zu bilden,354 einerseits herausgestellt, andererseits jedoch spielerisch wiederholt und in diesem Akt subvertiert. Doch auch andere Spezifika der deutschen Sprache werden präsentiert und subvertiert, z.B. die Nutzung von Umlauten, die auch in der türkischen Sprache elementar sind – im ›Interview‹ mit der ›Studentin Fehra‹ ist die Rede von »Süppkültür«, »Ünterüntergründ«, »abrütscht« und »Gerüttel« (Ko 16f.). Die onomatopoetische Qualität der deutschen Sprache wird vorgezeigt, allerdings an schnodderigen Begriffen der Jugendszene (»ganz gaff und glotz«, Ko 119), teilweise wird die Sprache – wie in einem Rap – rhythmisiert (»und der popper, der popdepp eben«; KS 21). Selbst in zwei surreal anmutenden Protokollen, die geführt wurden mit »Dervisch, 33, Patient einer psychiatrischen Klinik« (KS 55ff.) und mit »Kücük Recai, 19, Junkie (hat sich soeben die Nadel gegeben)« (KS 104ff.), und einen Stream of consciousness präsentieren, finden sich sämtliche der eben beschriebenen elaborierten und poetischen Qualitäten der Sprache (»mein klimperklumperochsenauge« [KS 57]; »bäumeblätteräste« [KS 104]). Die ›Kanak Sprak‹ lässt sich somit als künstliche und hybride Sprache beschreiben,355 die – im Vergleich mit der deutschen Hochsprache – restringierte und grammatikalisch unkorrekte Merkmale ebenso wie zahlreiche Begriffe aus anderen Sprachen, hoch- und populärkulturelle intertextuelle Verweise, Neologismen und Klangspielereien aufnimmt, was sie – so Tom
beschreibt, das dieses in den ersten Monaten ausbilden kann, wenn es die verlässliche Liebe seiner Eltern erfährt. 350 | Vgl.: »als wäre er James Dean oder n Hellenengott, in Marmor gemeißelt« (Ko 65). 351 | Vgl.: »Oriental-Volxküche« (Ko 40). 352 | Vgl.: »Der Deutsche […] mit seinem ollen Mein-Dasein-meine-VerwirklichungGeschwätz« (Ko 106). 353 | Vgl.: »prolofucker« (KS 86); »Ghettogümgüm« (Ko 28); »Gutfez« (Ko 77). 354 | Hadumod Bußmann stellt fest: »Die Produktivität des Kompositionsvorgangs ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich stark ausgeprägt (vgl. die abnehmende Häufigkeit der Komposition im Dt., Engl. und Frz., im Lat. kommt K. kaum vor).« (Bußmann 1990: 400) 355 | Diese Bewertung teilen auch andere Kolleginnen, die sie als »eine Kunstsprache« (Bodenburg 2006: 132), »eine elaborierte Kunstsprache« (Gerdes 2008: 66) oder einen »neuen Artikulationsmodus« (Yildiz 2009: 194) rubrizieren, vgl. ebenso früh wie präzise zu dieser Frage auch: Günter 1999; Schmitz-Emans 2002.
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Cheesman, der englische Übersetzer Zafer Şenocaks – »effectively untranslatable« (Cheesman 2002: 183) mache.356 Dieser Feststellung entspricht auch die Tatsache, dass sich die als unterschiedliche O-Töne präsentierten ›Interviews‹ leicht als eine vielstimmige ›Kanak Sprak‹ auf der Bühne inszenieren lassen.357 Günter beschreibt diese künstliche Sprache mit dem Bachtinschen Konzept der Polyphonie, »in dem sich verschiedene Redeweisen, Stile und Sinnhorizonte vermischen bzw. begegnen«. In der ›Kanak Sprak‹ werde diese Polyphonie zusätzlich noch genutzt, um »Autorschaft selbst zu problematisieren« (Günter 1999: 18). Die vielen Stimmen, die in den beiden Bänden vereint sind und quer durch die stilisierten Sprecher zu gehen scheinen, ließen sich vom Autor nicht zu einer Sprache verdichten. Gerade diese fehlende Möglichkeit der Authentizität mache die ›Kanak Sprak‹ aus, schreibt Monika Schmitz-Emans 2002, denn sie sei »ein künstliches Idiom, das sich zu seiner Künstlichkeit bekennt, ein Indikator der Wurzellosigkeit, die nicht kompensiert werden kann und soll. Genau in diesem Willen zum ›Dazwischen‹ findet der Kanake seine nicht nur sprachliche hybride Identität.« (Schmitz-Emans 2002: 21) Yasemin Yildiz zeigt in ihrer präzisen Analyse der deutschen, englischen, türkischen und jiddischen Elemente in der ›Kanak Sprak‹ sowie insbesondere ihres Verhältnisses, dass die ›Kanak Sprak‹ innerhalb der deutschen Sprache angesiedelt ist, diese jedoch verändert: »die Veränderung der Standardsprache erzeugt Undurchsichtigkeit und schließt die Mehrheit aus ihrem Netzwerk aus; gleichzeitig ist sie eine stilisierte Form der öffentlichen Rede.« (Yildiz 2009: 199) Neben diesen stilistischen Qualitäten der hybriden ›Kanak Sprak‹ finden sich in den Texten jedoch auch inhaltliche Reflexionen über Sprache, ihre Gestaltung und ihre Bedeutung. Das ›Interview‹ mit »Şükran, 22, Verkäuferin in einer Edelboutique« (Ko 20ff.), die ihre »Regale vollgestellt (hat) mit Lesefutter« (Ko 22), kann als eine Kritik an der unpräzisen Nutzung der deutschen Sprache durch 356 | Es gibt allerdings eine italienische Übersetzung von Abschaum und eine türkische von Kanak Sprak. Cheesman begeistert sich für diese – seiner Auffassung nach unübersetzbare – Sprachgewalt der ›Kanak Sprak‹: »a virtuoso handling of rhythm, assonance and alliteration; a vast vocabulary which does not shy away from scatology, but more interestingly is rich in vernacular terms (here, among others: ›blechen‹, ›pranken‹), in inventive compounds (›blechkamerad‹, ›förderfreunde‹), in telling juxtapositions of registers (here, the jargon of political correctness with trendy slang: ›das betrifft mich jetzt volle kante‹), in dialect terms (especially but not only from north Germany: ›grienen‹), and in vivid metaphors (›luschengaul‹).« (Cheesman 2002: 186) 357 | Anne Buhrfeind schreibt über die Aufführung des Stücks Kanak Sprak auf Kampnagel: »Brigitte Linde verfremdet die von Zaimoglu bereits stilisierten O-Töne seiner als Buch erschienenen Interviews noch weiter. Es sind kaum mehr unterschiedliche Menschen, die da sprechen. Es ist ein Lebensgefühl am Rand der Gesellschaft, ein Sprachbastard im Rampenlicht, Wildes, Ungezähmtes fürs verfeinernde Theater.« (Buhrfeind 1997)
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die Deutschen verstanden werden, denn diese ließen – wie z.B. Ernst Jünger – nur »halbverdauten Schwachsinn vom Stapel« (Ko 22) (wobei diese Kritik nur anfangs selbst unpräzise bleibt). Insbesondere verweist ›Şükran‹ auf die große Differenz zwischen dem realen Leben und dem hohen Ton der deutschen Literatur: »Wenn man meinetwegen eine Frau mit dem Kopf im Backofen findet, dann wird man sich doch nicht hinstellen und sagen: O wie schade, sie hat ihren letzten Lebenshauch verströmt! Das wäre saudumm.« (Ko 24) Diese Kritik kann allerdings zugleich verstanden werden als ein Plädoyer für eine neue deutsche Sprache, die sich vor den gegenwärtigen Realitäten nicht verschließt und mit dem hohen Ton der Klassik bricht. Darum bemüht sich auch exemplarisch die ›Kanak Sprak‹, wobei diese Kritik dadurch gesteigert wird, dass sie von einer Verkäuferin in einer Edelboutique geäußert wird, die für die Ausübung ihres Berufs noch nicht einmal einen akademischen Abschluss erwerben musste: Die nichtakademische Migrantin Şükran wird als stilsicherer inszeniert als bekannte deutsche Schriftsteller. An anderer Stelle wird der diskriminierende Umgang der offiziellen Stellen in Deutschland mit der türkischen Sprache thematisiert. ›Çağil, 27, Studentin‹ stellt fest: In diesem Haus (Deutschland) steht kein Rechner, auf dem ein türkischer Schriftsatz installiert ist. Griechisch, tschechisch, kyrillisch, was weiß ich noch alles. Aber unsere türkischstämmigen Mitbürger, über zwei Millionen an der Zahl, müssen es ertragen, wie sich die deutsche Schreibmaschinerie und Zunge gegen ihren Namen wehrt. Einige Eltern wissen sich dadurch zu helfen, daß sie ihren Sprößlingen neutrale Namen geben wie Jasmin, Deniz, Suzan oder Manolya, Manuela ›auf deutsch‹. (Ko 60)
Insofern wäre die ›Kanak Sprak‹ auch zu verstehen als der Versuch einer ›migrantischen Minorität‹, gegen die und neben der Hochsprache jener Majorität, die die Sprache der Minorität negiert, eine neue Sprache zu etablieren, in der zumindest ihre Namen richtig geschrieben und sie somit mit der ›richtigen Individualität‹ versehen werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass in Kanak Sprak noch keiner, in Koppstoff allerdings immerhin fünf der Interviewten Schriftzeichen in ihrem Namen tragen, die im deutschen Alphabet nicht vorhanden sind, als sei der Fokus erst später auf dieses Problem gefallen. Der Name Zaimoğlus wird allerdings auf beiden Büchern vom Rotbuch-Verlag in der eingedeutschten Variante (ohne yumuşak g bzw. weiches g) geschrieben. Von diesem Transformationsproblem berichten auch einige der Interviewten. ›Reşide, 34, Deutschlehrerin‹ beschreibt ihren ersten Schultag in Deutschland und den vergeblichen Versuch einer Mitschülerin, ihren Namen auszusprechen: »Ein Mädchen mit zwei Zöpfen versucht, die fremden Worte auszusprechen. Ich sage in meiner Sprache: So heiße ich nicht! Du musst mich richtig nennen« (Ko 89), um sie als Menschen richtig zu erkennen. Wenn auch Signifikat und Signifikant auseinanderfallen, so kann die Verwen-
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dung eines ›falschen Signifikanten‹ dem Signifikat Gewalt antun – die Notwendigkeit einer sensiblen Sprach- und Bezeichungspolitik wird auf diese Weise vorgeführt. Verweist ›Reşides‹ Geschichte noch auf die Nichtakzeptanz ›des Fremden‹ durch ›die Deutschen‹, so wird die Umbenennung an einer anderen Stelle auch als Chance zur Abwendung von der türkischen Familie, als Flucht vor der ›fremden (Namens-)Identität‹ beschrieben. ›Nilgün, 17, Schülerin‹, erzählt: »Zu Hause heiße ich Nilgün. Aber draußen nennt mich niemand so. Da bin ich die Nilla. Überhaupt bin ich zu Hause jemand anderes. Das muß so sein. Sonst überlebe ich das nicht.« (Ko 125) Die Umbenennung also als Chance – oder auch die Strategie der Designifizierung, die ›Hasan, 13, Streuner und Schüler‹, betreibt. Er beschreibt eine Geste der Verweigerung eines eindeutigen Namens, die er bezeichnenderweise aus einem Film hat, von dem ihm jemand erzählt habe – die Rückführung auf einen eindeutigen Ursprung bzw. eine eindeutige Bezeichnung wird somit unmöglich: Und die sagen: du bist auf’m damm, mann, wie willst du, daß wir dich nennen? Und du sagst: ich bin, der ich bin! Bruder, das hab ich mal aufgeschnappt von nem spaghetti, und der hat’n film gesehen […]. Und der cop sagt dann cool: baby, ich bin, der ich bin, und was machst du in der gegend. (KS 92)
Dieser Versuch, dem Identität gebenden Namen zu entschlüpfen und sich der Anrufung zu verweigern, ist in ›Hasans‹ Text jedoch als Beispiel für eine Gegenstrategie zu verstehen. Diese verweist in ihrer Bezugnahme auf die alttestamentarische Tautologie ›ich bin, der ich bin‹ auf die patriarchale Selbstermächtigung zum ›göttlichen Bruder‹. Im Akt der Auflösung einer ›minoritären Identität‹ wird somit zugleich eine ›patriarchale Identität‹ rekonstruiert. Auch die meisten anderen ›Interviewten‹ berichten von Schwierigkeiten und Aporien bei ihren Versuchen, sich den rassistischen begrifflichen Identitätszuschreibungen durch ›die Alemannen‹ zu verweigern. Am erfolgreichsten nutzt die ›Kanak Sprak‹ eine Strategie der Resignifizierung, die gegen die Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft ins Feld geführt werden kann – davon soll im Folgenden die Rede sein. Resignifizierung. Die Aneignung des Begriffs ›Kanake‹ Der Name ›Kanak Sprak‹ verweist darauf, dass sie die Sprache ›der Kanaken‹ sei. Das Wort ›Kanake‹ steht im Polynesischen für ›Mensch‹ und bezeichnet die ›melanesische Bevölkerungsgruppe‹, die vor allem Neukaledonien besiedelt, in Abgrenzung von den ›europäischstämmigen Siedler‹, die sich ›Kaldochen‹ nennen. Die Gegenüberstellung von ›Kaldochen‹, die stellvertretend für die ›zivilisierten europäischen Kolonialherren‹ stehen, und ›Kanaken‹, die die ›unzivilisierten fremden Einheimischen‹ darstellen, bildet die Grundstruktur für die diskriminierende Verwendung des Begriffs ›Kanake‹ in Deutschland.
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Mit zunehmender Zahl der in Deutschland lebenden ›Gastarbeiter‹ wurde das Wort ›Kanake‹ für die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen benutzt, deutlich negativ konnotiert, ausgehend vom Bild des ›unzivilisierten Fremden‹. Es gibt allerdings – gerade im anglo-amerikanischen Raum – eine Tradition, von der Mehrheitsgesellschaft benutzte und negativ konnotierte Begriffe für Minoritäten umzuwerten. Mit negativen Vorzeichen versehene Begriffe können durch ihre Adaption durch die diskriminierte Gruppe selbst und ihre positive Resignifizierung umgedreht und ihrer negativen Vorzeichen beraubt werden. Frank Möbus und Martin B. Münch beschreiben dieses Verfahren der subversiven Adaption negativ konnotierter Gruppenbezeichnungen durch die Minoritäten selbst am Beispiel des von ›Schwarzen‹ gebrauchten Wortes ›Nigga‹: Das pejorative Vokabular des sozialen oder politischen Antagonisten wird mit Selbstgewissheit übernommen, die semantischen Implikationen von Beschimpfungen werden in ihr Gegenteil verkehrt: Der African-American, der von sich selbst als »Nigga« spricht, der sich als asozial bezeichnende »Punk«, der Italiener, der sich selbst als »Spaghetti« bezeichnet – sie alle markieren mit der Übernahme die aggressive Akzeptanz gesellschaftlicher Diffamierung. Dieses »Na, und?« macht die Beleidigung zur Floskel und absorbiert sie. (Möbus/Münch 1998: 55) 358
Für Deutschland lässt sich dieses Verfahren im offensiven Umgang der Homosexuellenbewegung mit den Begriffen ›schwul‹ und ›lesbisch‹ feststellen: Noch in den 1970er Jahren wurde die Frage diskutiert, ob es irgendwann möglich wäre, die gesellschaftlich negativ konnotierten (Ausschluss-)Begriffe ›schwul‹ und ›lesbisch‹ jemals umdeuten zu können. Heute nehmen bis zu einer Million Menschen an der ›Lesben- und Schwulenparade in Köln‹, dem Christopher Street Day, teil und verbinden – bei allen weiterhin bestehenden Diskriminierungen – mit den Begriffen ›schwul‹ und ›lesbisch‹ eine regenbogenfarbene Fahne, Tänze und Fröhlichkeit (was auch wieder nur symbolische Zuschreibungen sind, allerdings umcodierte). Eine ähnliche Umwertung des diskriminierenden Begriffs ›Kanake‹ intendiert die ›Kanak Sprak‹, die diesen Begriff im Namen führt und ihre Sprecher als ›Kanaken‹ bezeichnet. Tuschick weist die Grundidee zu diesem Verfahren Zaimoğlu zu, der sich an den Beatniks und ihrer Sprache orientiert habe: »Ein
358 | Randall Kennedy setzt unter dem Titel nigger. The Strange Career of a Troublesome Word insbesondere mit den rechtlichen Folgen der diskriminierenden Verwendung des Wortes ›Nigger‹ auseinander. Auch er kommt schließlich zu der Erkenntnis: »As a linguistic landmark, nigger is being renovated. […] Nigger as a harbinger of hatred, fear, contempt, and violence remains current, to be sure. But more than ever before, nigger also signals other meanings and generates other reactions, depending on the circumstances.« (Kennedy 2003: 137f.)
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fabelhafter Geltungsbeweis von Literatur. Der Aufstieg einer Beleidigung zur Ordenskategorie geht auf Zaimoglu zurück. Er verschaffte dem Schimpfwort Kanake eine Karriere« (Tuschick 2000c: 108). Gleichwohl weisen zahlreiche linguistische Untersuchungen darauf hin, dass zumindest parallel zur Verbreitung der literarischen ›Kanak Sprak‹ auch in den Migrantenmilieus die Umwertung des Begriffs ›Kanake‹ realisiert worden sei: Kallmeyer beschreibt, dass im Bereich der »Ghetto-Kultur« […] »Kanake« positiv umgewertet [wird] als Selbstkategorisierung, z.B. von den Stadtteiljugendlichen in Mannheim, und zum kulturellen Symbol überhöht in Feridun Zaimoølus »Kanak-Sprak«; vgl. auch die Kulturaktion »Kanak Atak« [sic!]. (Kallmeyer 2001: 417; vgl. auch Keim 2001: 380)
Die Migranten wenden sich jedoch nicht nur gegen die negative Konnotation des ihnen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft zugewiesenen Begriffs ›Kanake‹ – sie drehen auch den negativ konnotierten Begriff ›almança‹ (türk. ›Deutschländer‹), der ihnen in der Türkei zugeschrieben wird, um, und benutzen ihn als positive Selbstbezeichnung.359 Wenn die ›Interviewten‹ zudem Schimpfwörter wie »Kruzitürken« (Ko 28) oder »hundsfottürken« (Ko 73) benutzen oder das grammatikalisch falsche und restringierte Deutsch, das viele Deutsche mit ihnen sprechen, imitieren,360 so wird damit gleichsam der rassistische Jargon vorgeführt, gegen seine Benutzer gewendet und unbrauchbar gemacht (gehört zum Jargon doch die Unterstellung, die ›Migranten‹ seien nicht sprachmächtig und also weniger intelligent). Manuela Günter beschreibt das Verfahren der Resignifizierung des Begriffs ›Kanake‹ in zutreffender Weise mit Judith Butlers Modell der resignifizierten ›Anrufung‹, das diese in Hass spricht. Zur Politik des Performativen (1997) entwickelt hat (auch Paula-Irene-Villa verweist in ihrer Monografie über Judith Butler explizit darauf, dass gegenwärtig in Deutschland – im Sinne Butlers – mit dem Begriff ›Kanake‹ ähnlich wie in den USA mit ›nigger‹, ›bitch‹ und ›queer‹ verfahren werde; vgl. Villa 2003: 116–123). Ausgehend von Austins Sprechakttheorie radikalisiert Butler den Begriff des perlokutionären Sprech359 | Werner Kallmeyer beschreibt die positive Resignifizierung der Begriffe ›Kanake‹ und ›Almança‹: »Im Bereich der ›Ghetto-Kultur‹ wird ›Kanake‹ positiv umgewertet als Selbstkategorisierung, z.B. von den Stadtteiljugendlichen in Mannheim […]. ›Deutschländer‹ als Übersetzung von ›almança‹, mit dem Türkei-Türken die türkischen Migranten in Deutschland sehr negativ charakterisieren, wird von den gebildeten, politisch selbstbewussten Türken in Deutschland als positive Selbstcharakterisierung verwendet.« (Kallmeyer 2001: 417) 360 | In Koppstoff sagt Nilüfer: »Aber dann das Maul bis zum Arsch aufreißen: Ihr Türken habt den Aberglauben, du Türkfrau müssen schmeißen weg Kaka-Kopftuch, Türke wehe du werden frech, Türke du nix Hirn, ich dir zeigen wie gehen das, Türke du verziehen dich ab nach Anatolia, wenn du hier nix anpassen, ist unser Land.« (Ko 101)
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aktes, der den Fall bezeichnet, dass Sprecher durch ihre Sprechhandlungen kausale Wirkungen hervorrufen, z.B. bei einer Schiffstaufe oder der Heiratseinwilligung. Butler geht sogar davon aus, »dass das Sprechen selbst eine körperliche Handlung ist« (Butler 1998: 21), die »das Subjekt anruft und konstituiert«. Diese ›Anrufung‹ – wie sie das Verfahren mit Althusser nennt – weise dem Angerufenen jedoch nicht nur einen Namen zu: »Insofern dieser Name verletzend ist, wird man zugleich herabgesetzt und erniedrigt.« (Butler 1998: 10) Es handele sich also um einen ambivalenten Sprechakt, der in der Konstruktion eines Subjekts dieses sogleich als diskriminiertes konstituiert. Eine solche Form der Anrufung bezeichnet Butler als ›hate speech‹, eine sprachliche Variante des diskriminierenden rassistischen Diskurses, die sich u.a. in der Anrufung ›Kanake‹ vollzieht. Zahlreiche ›Protokolle‹ Zaimoğlus berichten von dieser Anrufung, z.B. erzählt ›Akay‹: Die haben schon unsere heimat prächtig erfunden: kanake da, kanake dort, wo du auch hingerätst, kanake blinkt dir in oberfetten lettern sogar im traum, wenn du pennst und denkst: joker, jetzt bist du in deiner eigenen sendung. (KS 25)
Diese rassistischen Zuschreibungen, die im negativ konnotierten Begriff des ›Kanaken‹ kulminieren, ziehen sich durch die meisten Berichte, bleiben den Figuren jedoch äußerlich, eben eine ›fremde Anrufung‹ durch die diskriminierende Majorität. Diese müsse die Sprechakte der ›hate speech‹ regelmäßig wiederholen, um ihre hegemoniale Position zu sichern. In Butlers Konstruktion der ›hate speech‹ wird der verletzende Sprechakt jedoch nicht als illokutionärer Akt gedacht (im Sprechen vollzieht sich die Verletzung), sondern als perlokutionärer Akt: Das Sprechen hat einen – zeitlich versetzten – verletzenden Effekt. Daher könne kein Forscher belegen, dass die Anrufung durch eine ›hate speech‹ unmittelbar einen Akt der Verletzung nach sich ziehe. Dass diese Differenz als eine zeitliche Verzögerung gedacht wird, bietet den möglichen Ausgangspunkt für eine subversive Resignifizierung der Anrufung durch die Angerufenen selbst: Diese Auflösung des Bandes zwischen Akt und Verletzung eröffnet […] die Möglichkeit eines Gegen-Sprechens, eine Art von Zurück-Sprechen, das durch die Feststellung einer solchen Verbindung ausgeschlossen wäre. Somit hat die Kluft, die den Sprechakt von seinen künftigen Effekten trennt, auch günstige Auswirkungen: Sie eröffnet nämlich eine Theorie der sprachlichen Handlungsmacht, die eine Alternative zu der endlosen Suche nach rechtlichen Gegenmitteln darstellt. Das Intervall zwischen den einzelnen Fällen der Äußerung ermöglicht nicht nur eine Wiederholung und Resignifizierung der Äußerung. Vielmehr zeigt es darüber hinaus, wie die Wörter mit der Zeit von ihrer Macht zu verletzen abgelöst und als affirmativ rekontextualisiert werden. (Butler 1998: 28)
Butler geht davon aus, dass Momente der ›hate speech‹ von den Angerufenen aufgenommen, wiederholt und im Akt der Wiederholung mit anderen Konno-
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tation versehen und damit in andere Bedeutungsräume überführt werden können. Die verletzenden Wörter könnten auf diese Weise schließlich ihre Wirkung verlieren. Dieses Verfahren sieht Günter in Zaimoğlus Kanak Sprak am Beispiel des diskriminierenden Begriffs ›Kanake‹ verwirklicht: Statt den politischen Diskurs von der Diskriminierung zu reinigen und mit Zensur zu reagieren, nimmt Zaimoølu mit seinen Befragten diese Benennung auf; sie wird für die Jugendlichen zum »richtigen« Namen. In der unversöhnten Resignifizierung der »elenden hundescheißnamen« werden die »Türken abweichend reformuliert. Die verletzende Anrufung wird gegen die Aggressoren gewendet. Sie bildet den Anfang einer gegenläufigen Bewegung, in der das Wirkungsfeld der »hate speech« zerstört und diese zum Instrument des Widerstands wird, das auf die verletzende Frage antwortet.« (Günter 1999: 20f.)
Diese wiederholende Resignifizierung des Begriffs ›Kanake‹ lässt sich als ein Beispiel des von Kallmeyer und Keim beschriebenen ›emanzipatorischen Stils‹ erfassen, der ein wichtiges Moment der konstruierten ›Kanak Sprak‹ darstellt.361 ›Märchen auf Kanakisch‹. Die ambivalente Absorption der ›Kanak Sprak‹ im Mainstream Die ›Kanak Sprak‹ als künstliche Sprache hat aber nicht nur ihren Anteil an der Resignifizierung des Begriffs ›Kanake‹ in der deutschen Öffentlichkeit. In der Nachfolge der Veröffentlichung von Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) werden in den Bereichen Film, Musik und Comedy weitere Versionen einer ›Kanak Sprak‹ bzw. eines ›Kanakisch‹ prominent, die oftmals deutlich restringierter, weniger hybrid und somit in einer oberflächlichen Weise ›komisch‹ sind. Hier kann nicht behauptet werden, dass diese Entwicklungen ein direkter Effekt der medialen Prominenz der ›Kanak Sprak‹ sind, allerdings hat diese überhaupt erst den öffentlichen Diskurs über künstlerische ›Kanak‹-Produkte angestoßen, in dem sich nun auch andere Künstler präsentieren. Ab 1997 haben die Kabarettisten Bülent Ceylan (* 1976) und Django Asül (* 1972) ihre ersten größeren Auftritte, ab 1998 veröffentlicht das hessische Comedy-Duo Mundstuhl mit den Figuren Dragan und Alder (Ande Werner und Lars Niedereichholz) seine ersten CDs. Mit dem Münchener Duo Erkan & Stefan (Erkan Maria Moosleitner und Stefan Lust, beide * 1979) und ihrem gleichnamigen Film Erkan & Stefan (2000) sowie der Comedyserie Was guckst du? (ab 2001) von und mit Kaya Ya361 | Yildiz beschreibt, dass die Sprache selbst zum Ort der kulturellen Transformation wird: »Durch eine selbstbewusste Performanz betont Kanak Sprak, dass die Trans formation deutscher Kultur in der Folge der Migration kein noch zur Diskussion stehender Prozess ist, sondern unter anderem in der deutschen Sprache selbst längst stattfindet.« (Yildiz 2009: 203) Vgl. auch Steltz 2006: 98–100.
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nar erreicht die Bekanntheit der ›Kanak Sprak‹ einen Höhepunkt, der den Frankfurter Eichborn-Verlag dazu veranlasst, ab 2001 ›Kanakisch‹-CDs undBücher (u.a. Kanakisch-Deutsch: Dem krassesten Sprakbuch ubernhaupt; Wem is dem geilste Tuss in Land? Märchen auf Kanakisch un so) (vgl. Freidank 2001 u. ders./Maus 2002) zu veröffentlichen. Zaimoğlu selbst begleitet diese trivialeren Weiterentwicklungen ›seiner Kanak Sprak‹ publizistisch durchaus wohlwollend,362 Matteo Galli sieht 2005 allerdings eine »Kanakenwelle« bzw. einen »Kanak Markt« (vgl. Galli 2005: 319–322). Inken Keim beschreibt die ›Comedy-Kanak Sprak‹ als eine trivialisierte Form der hybriden ›Kanak Sprak‹ Zaimoğlus.363 In der Comedy würden »bestimmte soziale Typen konstruiert mit den Eigenschaften: nicht-deutscher [sic!] Herkunft, geringe Schulbildung, am Rande der Legalität lebend, angeberisch, machohaft, komisch und gelegentlich auch aggressiv« (Keim 2003: 95), die als triviale Typen für einen großen Publikumserfolg geeignet seien. Tom Cheesman weist darauf hin, dass sich in dieser Trivialisierung der ›Kanak Sprak‹ und ihrer Absorption im Mainstream sowohl der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch der ›blinde Fleck‹ der hybriden ›Kanak Sprak‹ zeige: This popular comedy is symptomatic of majority German culture’s apparently ingrained need to humiliate those who may be insulted as »Kanaken«. But it is also true that the wide class gulf between Zaimoølu or the Kanak Attak core activists, and the typically unqualified, unemployed ›Kanaken‹ they draw attention to, makes a mockery of any notion of a common interest or consciousness of »non-German-Germans«. (Cheesman 2002: 193)
Die Rezeption der hybriden ›Kanak Sprak‹ Zaimoğlus ab 1995 als einer hybriden und poetischen Sprache bleibt somit nur einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten, der sie zudem oft als die ›authentische Sprache‹ von Migranten rezipiert. Einen größeren Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft erreicht
362 | Zaimoølu schreibt sogar einen Zeit-Artikel, in dem er die Protagonisten der ›Kanak-Comedy‹ dem bildungsbürgerlichen Publikum vorstellt und empfiehlt: »Das Narrenkostüm steht dem Ethnodeppen gut, und Kaya Yanar, der Beste der Krawallhumoristen, sabotiert mit einigem Erfolg die Kicherkissen-Lustigkeit der breiten Masse. […] Vielleicht sollten sich unsere Ethnokomödianten eines Meisters erinnern, der ohne Effekte auskam und umso mehr einen gnadenlosen Unfug stiften konnte. Kaya Yanar, Alder & Dragan, Erkan & Stefan – sie sind Heinz Erhards legitime Erben.« (Zaimoølu 2003) 363 | Bereits die hybride ›Kanak Sprak‹ Zaimoølus verzichtet jedoch auf avancierte Verfahren wie das ›code-switching‹ und weist selbst viele restringierte Elemente auf, die sie für ein größeres Publikum rezipierbar macht.
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hingegen die restringierte ›Comedy-Kanak Sprak‹, die auf diese Weise um 2000 zu einem erfolgreichen gesamtgesellschaftlichen Trend wird, jedoch die hybriden und poetischen Eigenschaften der ›Zaimoğlu-Kanak-Sprak‹ aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt:364 Es handele sich, so Julia Bodenburg, um eine »Popularisierung, Kommerzialisierung und Vereinnahmung des rebellischen ›Kanaken‹, was die Entpolitisierung der Kategorie ›Kanak‹ zur Folge hat.« (Bodenburg 2006: 139) In den Folgejahren hat sich Zaimoğlu dementsprechend nicht mehr um das Spiel mit ›authentischen Sprachprotokollen‹, sondern zunehmend um die Akzeptanz des deutschen Literaturbetriebs bemüht und nur mehr Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht. Zaimoğlus Konzept der ›Kanak Sprak‹ wird nicht bloß in einer trivialisierten Form von der Mehrheitsgesellschaft absorbiert. Der künstlerische Bruch mit der Hochsprache bleibt auch in diesen Sprachformen noch sichtbar – und wird selbst von deutschen Jugendlichen als zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit angenommen, wie Keim belegt: »Elemente aus dem ›Türkendeutsch‹ werden auch von deutschen Jugendlichen übernommen, z.B. türkische Schimpfwörter, Drohrituale, grammatische Vereinfachungen und phonetische und prosodische Merkmale, die den ›ausländischen‹ Akzent des ›Türkendeutsch‹ ausmachen« (Keim 2001: 376). Diese Akzeptanz einer – wie auch immer konstruierten – Varietät als eigenständigem Slang könne, so die Hoffnung Androutsopoulus’, auch das Verständnis für die Migranten der zweiten und dritten Generation erhöhen. Diese Möglichkeit beschreibt er am Beispiel der Mainstreamwerdung des ›schwarzen Hip-Hop‹ in einer ›weißen Kultur‹, die sich aber dadurch gegenüber den Widerstandspotenzialen der Hip-Hop-Kultur geöffnet habe: Zur Mainstream-Kultur geworden, erlaubt er (der HipHop) außerdem auch »weißen« Jugendlichen, die Perspektive von »African Americans« und ethnischen Minderheiten besser zu verstehen. Subordinierten Jugendlichen liefert HipHop weltweit ein symbolisches
364 | Die Durchsetzung der ›Kanak Sprak‹ lässt sich parallel sehen zum Eingang des Rap in den deutschen Musikmarkt, wie ihn Thomas Winkler unter dem Titel Von der Posse zum Pop beschreibt. Zwar habe es schon in den 1980er Jahren erste Rap-Singles in Deutschland gegeben, erste Hits gab es allerdings erst 1992 (der »Fun-Rap«-Song Die da von Die Fantastischen 4) und 1993 (der »politisch bewußte[ ] Rap« Fremd im eigenen Land von Advanced Chemistry), vgl. Winkler 2001: 26. In den Folgejahren habe sich ein breites Netzwerk von engen Familienbindungen (›Posse‹ genannt) in Deutschland ausgebreitet und seien viele Independent-Labels gegründet worden. Ab 1998 wurden mit Oli P. und der 3. Generation aber bereits die ersten rein musikindustriellen Rap-Acts in die Charts gebracht, die Mehrzahl der erfolgreichen Bands wurde zur Jahrtausendwende von der Musikindustrie aufgekauft, vgl. Winkler 2001: 33.
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Ein weiterer Effekt ist, dass die künstliche ›Kanak Sprak‹ jenen Migranten der zweiten und dritten Generation, die üblicherweise ›Türkendeutsch‹ oder ›Ghetto-Deutsch‹ sprechen, zusätzliche Sprachvarianten zur Verfügung stellt, die von ihnen spielerisch genutzt werden können. Dies führt zu einer markanten Verdrehung: Während die ›Kanak Sprak‹ anfänglich als ›authentische Dokumentation der Migrantensprache‹ rezipiert wurde, dient sie heute den ›Türkendeutsch‹ oder ›Ghetto-Deutsch‹ sprechenden Jugendlichen als Material für ironische Sprachspiele und stellt somit eine Erweiterung ihrer Sprechmöglichkeiten dar – ein gutes Beispiel für die Rückwirkung ästhetischer Texte in die Gesellschaft, hier zudem subversiv aufgeladen. Die Untersuchungen von Keim belegen, dass inzwischen nicht nur »deutsche Jugendliche […] stilisierte Formen von Kanaksprak vor allem zu Spiel und Ironie« verwenden, sondern auch »Migrantenjugendliche kennen Film- und Comedy-Produktionen mit Stilisierungen von Kanaksprak« (Keim 2003: 95). Diese nutzen sie im Rahmen eines sprachlichen Wechsels, den Keim als ›codeswitching‹ bezeichnet.366 In ihrer Analyse aufgezeichneter Gespräche weist Keim nach, dass »die Jugendlichen Formen stilisierter Kanaksprak vor allem in spielerisch-aggressiven Interaktionszusammenhängen verwenden: In spielerisch-subversiven Kommentaren und Provokationen gegenüber den Betreuenden, beim Blödeln und Stören im Unterricht und bei Hänseleien von Mitschülern.« (Keim 2003: 102; vgl. auch 107f.) Diese Praxis der freiwilligen Übernahme eines künstlichen, subversiven Sprachcodes durch eine minoritäre Gruppe entspricht auch den ›code-switching‹-Verfahren, die Hinnenkamp für England beschrieben hat, »wo der ›bilinguale‹ Sprecher in der Face-to-faceKommunikation mit einem Sprecher der Mehrheiten- oder Prestigesprache in 365 | Volker Hinnenkamp beschreibt in ähnlicher Weise das ›London Jamaican‹ als »ein Konglomerat von linguistischen Merkmalen, die zum Teil dem Jamaican Creole entstammen, zum Teil aber auch völlig innovativ sind, es ist eine Sprache, die eine eigene Pop-Kultur (z.B. britische Reggaemusik) und Literatur ›besitzt‹ (z.B. Linton Kwesi Johnson); sie ist Sprache junger schwarzbritischer Identität und Sprache des Protests.« (Hinnenkamp 1989: 21) 366 | Keim und Kallmeyer beziehen sich in ihrer Nutzung der Begriffe ›mixing‹ und ›code-switching‹ auf Auer 1998. Während es sich beim ›mixing‹ um die Nutzung einer hybriden Sprache handelt, die aus mindestens zwei verschiedenen Varietäten zu einer neuen gemixt wird, bezeichnet das ›code-switching‹ den deutlich markierten Wechsel von einer Varietät in eine andere, wobei diese Varietäten wiederum hybride Sprachen im Sinne des ›mixing‹ sein können. Es ließe sich also ein ›code-switching‹ von der deutschen Hochsprache in die hybride ›Kanak Sprak‹ beschreiben, wobei die ›Kanak Sprak‹ ein Beispiel für das ›mixing‹ darstellt.
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die ethnolektale ›low-prestige‹ Variante switcht, also selbst ›nach unten divergiert‹«.367 Aus dieser freiwilligen Einnahme der Position eines ›Unten‹ wird jedoch zugleich eine sprachspielerische Überlegenheit abgeleitet – ein Beispiel für den ›emanzipatorischen Sprachstil‹. Gleichzeitig weist Hinnenkamp nach, dass minoritäre Sprachvarietäten von Migranten auch vom Mainstream übernommen werden können, was einen »Widerspruch zu Bourdieus Definition einer Distinktionspraxis von Oben nach Unten« (Hinnenkamp 1989: 22) darstelle. Dies führt allerdings dazu, dass die Varietät von den Migranten verändert wird, um eine erneute Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft zu erreichen (vgl. ebd.: 22).
4.2.2. ›Kanak‹ und ›Aleman‹. Dekonstruktionen der rassistischen Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ Nachdem die ›Kanak Sprak‹ unter Zuhilfenahme linguistischer Untersuchungen als eine künstliche, hybride, minoritäre Sprache beschrieben worden ist, wenden sich die folgenden Kapitel ihren Inhalten zu und insbesondere den von ihr konstruierten Personen sowie deren ›Identitäten‹ und Distinktionen. In bisherigen Untersuchungen sind dabei vor allem die ethnischen Identitäten analysiert worden, in dieser Untersuchung sollen vergleichend auch die Geschlechteridentitäten reflektiert werden.368 Edward W. Said hat gezeigt, dass der Orientalismus als westliches Wissen vom Orient weniger mit dem Orient selbst als vielmehr mit der kolonialen westlichen Wahrnehmung zu tun hat, dass der Orient sogar zum Schweigen 367 | Dies belegt auch eine Anekdote des deutsch-türkischen Regisseurs Thomas Arslan, über den 2000 berichtet wird: »Gerade sucht er in Berlin Darsteller für seinen neuen Film, eine Liebesgeschichte, und wenn die jungen Schauspieler ihre Demobänder einreichen, also das, was sie bisher schon gespielt haben, ›reden die oft in dieser verhackstückten Sprache‹, sagt Arslan. ›Obwohl sie perfekt Deutsch können.‹ Dann frage er sich schon, ›warum die sich auf diese Rolle des radebrechenden Idioten festlegen lassen‹. Zaimoglu dreht das um, macht einen Punktsieg daraus, im ewigen Duell mit den Deutschen. ›Ist doch toll, daß unsere Leute beides können: den Alemannen den Kümmel vorspielen und später besser deutsch reden als die selbst‹.« (Gertz 2000) 368 | Manuela Günter, deren Aufsatz über Zaimoølu eine erste sehr differenzierte Lektüre seiner literarischen Verfahren präsentiert, ist an dieser Stelle zu widersprechen. Günter verweist in einer Fußnote auf Unterschiede zwischen Kanak Sprak und Koppstoff, die der notwendigen Authentifizierung ›weiblicher Interviews‹ durch einen ›männlichen Autor‹ geschuldet seien, da der Autor sich gezwungen sehe, die ›weiblichen Interviews‹ »durch genaue Situierung noch stärker zu beglaubigen; in einem Vorspann wird darüber hinaus die jeweilige Gesprächspartnerin charakterisiert – mit dem Effekt der Distanzierung einerseits, der Kontrolle andererseits.« (Günter 1999: 18) Diese Beschreibungen greifen jedoch zu kurz, wie die spätere Analyse zeigen wird.
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gebracht werden musste, damit der Orientalismus etabliert werden konnte (vgl. Said 1981). Kanak Sprak und Koppstoff versammeln ›Protokolle‹ mit in ganz ähnlicher Weise exotisierten bzw. ›kanakisierten‹ Personen, die von einer hegemonialen europäischen Gruppe, der deutschen ›Mehrheitsgesellschaft‹ (zumeist ›die Alemannen‹ genannt), diskursiv als ›die Fremden‹ (zumeist ›Kanaken‹ genannt) konstruiert und homogenisiert werden. Zaimoğlus ›Protokolle‹ zeigen auf vier Ebenen die fiktive Gegenseite des rassistischen Diskurses über ›die Fremden‹, die zum Schweigen gebracht wurden, damit sie konstruiert werden konnten, nun jedoch eine Stimme erhalten: Erstens, indem die ›Interviewten‹ berichten, welche konkreten Effekte die Diskurse in Institutionen und alltäglichen Diskriminierungen zeitigen; zweitens, indem der Diskurs umgedreht und ›die Alemannen‹, d.h. die Herrscher über den rassistischen Diskurs, zu seinem Ziel gemacht und als ›fremde Wesen‹ den Regeln ihres eigenen Diskurses unterworfen werden. Drittens wird die künstlich homogenisierte Gruppe der ›Kanaken‹ ausdifferenziert und somit die Künstlichkeit der hegemonialen Kategorie ›Kanake‹ vorgeführt. Schließlich wird viertens die rassistische binäre Matrix von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ und ihre Kategorien auf vielfältige Weise entnaturalisiert und dekonstruiert. Da sich der Grad dieser Dekonstruktionen in Kanak Sprak und Koppstoff nicht unterscheidet, werden Beispiele aus beiden Texten benutzt, um diese Verfahrensweisen erkennbar zu machen – Beispiele für sprachliche oder argumentative Naturalisierungen oder Verhärtungen ethnischer Identitäten finden sich in beiden Büchern demgegenüber kaum.369 Ausbeutung und Diskriminierungen. Berichte über den Alltag der ›Kanaken‹ In beiden Büchern wird die Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremden‹, zumeist konkretisiert als ›Aleman‹ versus ›Kanake‹, durchgängig zitiert – wobei sich von Kanak Sprak (1995) zu Koppstoff (1998) die physische Bedrohung der ›migrantischen Minorität‹ deutlich verstärkt habe, wie das Vorwort erklärt: »Inzwischen ist rechtsradikale Gewalt, verbal wie körperlich, eine Alltagser369 | In intensiven Lektüren konnten nur die folgenden Formulierungen entdeckt werden, die auf einen ›Ursprung‹ oder die ›Natürlichkeit‹ oder ›Echtheit‹ einer ethnischen Identität verweisen und die – gemessen an den später beschriebenen Entnaturalisierungen ethnischer Identitäten – eine kaum zählbare Größe darstellen: »Wir sind wüchsige aus gaarden« (KS 39); »Und natur will ich dir man beschreiben« (KS 65); »Jetzt kommen nämlich die wirklich Andersartigen (…,) weil sie gar nicht anders sein können« (Ko 58); »Wir machen, wozu wir Lust haben, weit weg von unserem Ursprung. Wir wollen dort nicht versauern.« (Ko 127) Doch auch in diesen Zitaten steht die Konstruktion einer ›echten Identität‹ schon wieder in Frage: Die ›Kanaken‹ sind in Gaarden, einem Stadtteil von Kiel, ›gewachsen‹; Natur ist als Beschreibung immer schon eine ›Unnatürliche‹; die Andersartigen werden sozial zu solchen gemacht; von einem ›Ursprung‹ kann man sich weit entfernen.
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scheinung wie der Gang zum Bäcker.« (Ko 9f.) Zwar gibt es Verweise auf die Furcht vor deutschlandweiten Pogromen (z.B. »Es brennen in Deutschland verdammt viele darauf, ein mieses Projekt zu drehen« [Ko 28]), die meisten Klagen über materielle Benachteiligungen beschäftigen sich jedoch mit der ökonomischen Ausbeutung und der kulturellen Diskriminierung, nicht mit direkter physischer Bedrohung. Der Bericht über die ökonomische Ausbeutung ›kanakischer Arbeitskräfte‹ wird jedoch – anders als dies der ›Gastarbeiterliteratur‹ zugeschrieben wurde – nicht in ›authentischem‹ oder ›Betroffenheitsdeutsch‹ geäußert, sondern vielmehr in Technikmetaphern370 oder über sexuelle oder anale Vergleiche, in denen die ›Kanaken‹ als die ›(Faust-)Gefickten‹, ›Arschabwischer‹ und letztlich als Zwangsprostituierte erscheinen, während Deutschland als ›Puffmutti‹ und sexueller Ausbeuter der ›fremden Körper‹ dargestellt wird.371 Die Gewalt dieser Ausbeutung wird auch in ihrer Extremform beschrieben: Deutschland erscheint als »ein großes Kanak-Grab« (Ko 33), in dem sich die ›Kanaken‹ entweder selbst umbringen,372 in Armut und Krankheit einsam sterben373 oder gar ihren Tod am Feierabend erträumen: »träum ich ne urlange zeitlang vom starken abgang und so, mann, ich würd wohl gern mitten drin abkacken« (KS 118). Ein ›Protokoll‹ berichtet unter dem Titel »Alles an mir ist zweite Wahl« (Ko 88ff.) von der tragischen Biografie einer Migrantin und der Unmöglichkeit, zwischen den Diskriminierungen durch ihre ›türkische Familie‹ und durch die ›deutschen Schule‹ während der Zeit ihrer Ankunft in Deutschland eine eigene Identität entwickeln zu müssen (ironischerweise ist sie inzwischen Deutschlehrerin geworden und vermittelt ihren Schülern, was man unter ›deutscher Kultur‹ zu verstehen habe). Auch die Verhältnisse der ›Interviewten‹ zur eigenen Familie sind sehr ambivalent und schwanken zwischen Bewunderung für die Auf bauleistung der Eltern und massiver Kritik an der Doppelmoral ihres religiösen Konservatismus.374 Die vom deutschen Mig370 | In Koppstoff heißt es z.B.: »Wenn Sie in einem Haus dafür sorgen, daß der Kühlschrank voll ist, immer schön Lebensmittel anschaffen, aber wenn es dann darum geht, den Kühlschrank zu öffnen und sich etwas zu essen herauszuholen, blöd angeglotzt werden, können Sie sich da zu Hause fühlen? So fühle ich mich hier. Aber ich jammere nicht.« (Ko 42) 371 | Vgl.: »Der Kaffer soll den Alemanarsch ausputzen, dafür ist er gut« (Ko 33); »Deutsches land is ne salzige puffmutti« (KS 97); »ich mach die Beine breit in diesem Ratten-Land, ich bin die Aysche-Nutte in diesem Ratten-Land […] und die Faust ist die deutsche Festung in meinem scheiß Bauch« (Ko 112). 372 | Vgl. Ko 18 u. 23. 373 | Vgl. KS 18 u. 60. 374 | Einerseits werden die Eltern für ihre materielle Aufbauleistung gelobt (»unsere väter, mächtig im arsch, und doch schuften die, damit wir’s ne runde sonniger haben wie sie«, KS 40), ihnen wird als Belohnung versprochen, dass sich ihre Kinder später um sie
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rationsdiskurs den ›Kanaken‹ zugeschriebenen Merkmale wie radikale Religiösität oder reaktionäre Konservativität spielen in den ›Protokollen‹ jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Auch die angebliche Kriminalität ›der Kanaken‹ wird in den Protokollen nicht bestätigt. Einige Figuren verweisen zwar auf eigene Drogenerfahrungen oder auf die Existenz von Drogen in ihrem Milieu, wenden sich jedoch eindeutig davon ab und beziehen sich demgegenüber auf den Begriff der ›Ehre‹375 – andere ›Kanaken‹ berichten von der Omnipräsenz der ›alemannischen Polizei‹ und deren ›self-fulfilling‹ Rassismus: »Die cashen dich, so sicher wie’n amen ist das« (KS 23), oder geben Dir »bei einer bullenrazzia den finalen schuss« (KS 128).376 Wenn Jamal Tuschick schreibt, dass Zaimoğlu wegen seiner Texte »als Verherrlicher eines prahlerischen Gangstertums« (Tuschick 2000c: 114) gesehen werde, so lässt sich diese Zuschreibung vielleicht mit Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun (1997) begründen,377 nicht jedoch mit den Protokollen in Kanak Sprak und Koppstoff. Ganz im Gegenteil wird die Furcht des ›Alemannen‹ vor den ›kriminellen Kanaken‹ ironisiert: »wenn er aus dem Ghetto herauskäme, wäre ja der Mongole los. Und dann der Schuhattentäter: kümmern werden (»Ältere Menschen sind wichtig in jedermanns Leben. So wie sie sich einst um uns kümmerten, so müssen wir uns um sie kümmern, und so soll es später auch uns ergehen« [Ko 44]), auch der straffällig gewordene Bruder wird gegen die sozialen Angriffe verteidigt (»Er ist und bleibt mein Abi, mein älterer Bruder eben. Das ist nicht so wie bei den Deutschen« [Ko 126]). Andererseits bezeichnet »Kadir, 32, Soziologe« (KS 100ff.) die ›alten Männer der ersten Migrantengeneration‹ als »kinder einer fehlerhaften orthodoxie« (KS 103) und ihre Frauen als »teigwarenmammas« und »aufgeblähte honigkuchenmutti[s]« (KS 102). Die Doppelmoral ihrer religiösen und konservativen Familie erfährt auch die Barfrau Banu, vgl. Ko 54. 375 | Vgl. KS 40f. u. 122; Ko 18 u. 64. 376 | Es gibt zwei Ausnahmen von dieser Regel: Die Bücher enthalten ›Interviews‹ mit »Kücük Recai, 19, Junkie (hat sich soeben die Nadel gegeben)« (KS 104ff.) und »Nilgün, 17, Schülerin« (Ko 125ff.), die ihren zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Bruder verteidigt. Im ersten Fall lässt sich aus dem ›Protokoll‹ jedoch keine Glorifizierung des Drogenkonsums ableiten, im zweiten Fall wird der Einbruch des Bruders mit seinem sozialen Abstieg begründet und nur aus familiären Bindungen verteidigt (»Mein Bruder war ja nicht so. Er hat nicht von Anfang an Mist gebaut« [Ko 127]). 377 | Zaimoølu fasst Abschaum im Nachwort zusammen: »Ertan Ongun […] hat sie mir erzählt, die Geschichte eines Kanaken, eines Drogenabhängigen, eines Gangsters. […] Seine Drogenkarriere ist geradezu klassisch – Koks schnupfen, Heroin rauchen, schließlich die Nadel, dazu jede Menge Tabletten –, und zu dieser ›Karriere‹ gehören selbstverständlich das Dealen und die Beschaffungskriminalität.« (Zaimoglu 1999a: 183) Während diese Vorführung des Migranten als Kriminellem Abschaum bestimmt, lassen sich bei den Figuren in Kanak Sprak und Koppstoff deutliche Ablehnungstendenzen gegenüber kriminellen Handlungen und Milieus beschreiben.
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Ein Zwanzigjähriger gesteht, zehnmal Heftzwecken, Angelhaken oder Skalpellspitzen in Schuhe gelegt zu haben.« (Ko 104)378 Der Bezug auf die Religion, wobei durchgängig der Islam gemeint ist, ist zumeist wenig zielgerichtet und eher formelhaft (vgl. Ko 110 u. 80) oder als unsichere Hoffnung auf ein höheres Prinzip gerichtet, das als rächende oder richtende Kraft erscheinen möge, sich bislang jedoch nicht gezeigt habe, weshalb man das Schicksal in die eigene Hand nehmen müsse (vgl. u.a. KS 47 u. 75; Ko 92 u. 104). Im Gegensatz zu den deutschen Stereotypen über ›den Islam‹, in denen dieser vor allem als eine ›radikale‹, ›extrem konservative‹ und ›Frauen unterdrückende‹ Religion erscheint, erhalten in den ›Protokollen‹ mit »Yücel, 22, Islamist« (KS 136ff.) und »Reşide, 34, Deutschlehrerin« (Ko 88; vgl. hier v.a. Ko 95f.), zwei sehr religiöse ›Interviewte‹ die Möglichkeit, offen über ihren Glauben zu sprechen. Dies gilt auch für den Diskurs über das Kopftuch, das in Deutschland vor allem als Symbol der Frauenunterdrückung gedeutet wird, hier jedoch von der ›freiwilligen‹ Kopftuch-Trägerin »Hatice, 22, JuraStudentin« (Ko 67ff.), und der Sozialarbeiterin »Nilüfer, 36« (Ko 97ff.), als ein Zeichen für »einen wirklichen Kopf« präsentiert wird, denn die Kopftuchträgerinnen seien »viel freier als diese verbiesterten Zierfeen« (Ko 100),379 die sich dem freizügigen westlichen Kleidungsstil anpassen und deren Assimilation als Auflösung ihrer Persönlichkeit dargestellt wird. Somit bietet das ›ProtokollPatchwork‹ einen geschützten Raum für religiöse Äußerungen und ist in diesem Sinne als Gegendiskurs zu verstehen, denn in Deutschland seien solche Äußerungen öffentlich kaum möglich: »Leider werden vor allem Moslems in Deutschland stark diskriminiert. […] die freie Religionsausübung in Deutschland ist nicht gewährleistet.« (Ko 69) Die Umdrehung der binären Matrix. Der rassistische Diskurs über ›den Alemannen‹ Der deutsche Diskurs über die ›gewalttätigen und kriminellen Ausländer‹ wird umgekehrt, indem die ›Kanaken‹ den Kollektivsingular ›der Aleman‹ nutzen und stereotype Bilder über ›die Deutschen‹ produzieren. ›Die Deutschen‹ sei-
378 | Seit den islamistischen Anschlägen auf New York, Washington D.C., Madrid und London, die ab 2001 stattgefunden haben, hat sich der Diskurs über ›islamische Gewalt‹ massiv ausgeweitet und qualitativ verändert. Daher sollte an dieser Stelle kurz darauf hingewiesen werden, dass Kanak Sprak und Koppstoff vor diesen diskursiven Ereignissen erschienen sind und in Bezug auf die damaligen historischen Diskursen betrachtet werden. 379 | Auch hier gibt es jedoch wieder eine Gegenstimme, die erklärt: »Und die Frauen: Ihr ganzes Leben besteht aus kochen, Kinder erziehen und tratschen. Auch die, die mit einem Schleier herumlaufen. Sie halten sich für was Besseres. Dabei reißen sie das Maul am weitesten auf.« (Ko 127)
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en das Tätervolk des Holocausts und hätten bis heute diese Tat nicht verarbeitet (vgl. KS 83) bzw. seit der deutschen Vereinigung neue globale GrößenwahnFantasien ausgebildet: Jetzt sollen wir klatschen, der Aleman hat was Riesentolles zusammengelitten, er ist ja wieder ganz, er ist ja wieder einig deutsch, wenn der Aleman zur Ganzheit kommt, wird er zum Insgesichtspucker, da ist nicht mal ihr genagelter Herrgott davor, der ist nun mal Judendreck und lange n Radieschenvonuntenriecher. (Ko 32f.)
Diese alte und neue ›deutsche Visage‹ (»der böse Blick […] scheint in den Augenhöhlen der Deutschen zu wohnen«; Ko 61) zeige das Gesicht der Brutalität gegenüber allen Fremden: »Aleman spuckt zurück, Aleman macht dich zu Papier und geht mit Scherenhand da ran, Aleman kürzt dir den Kopf, Aleman hat ne Starfresse« (Ko 133). Sprachlich wird diese ›deutsche Brutalität‹ u.a. durch den Verweis auf die deutschen ›Genickschussspezialisten‹ verdeutlicht, die schon in Handkes Publikumsbeschimpfung (1967) auftauchen: »So fand ich Alemania: mir nah am Arsch, so naher Atem am Genick, und ich weit ab vom Schuß.« (Ko 132)380 Doch die ›Interviewten‹ greifen nicht nur die banale Brutalität der gewöhnlichen Deutschen auf, sondern stellen auch Verbindungen her zwischen der deutschen Geistesgeschichte und dem Nationalsozialismus. Exemplarisch macht »Gönul, 25, Philosophie-Studentin« (Ko 106ff.) die Daseinsphilosophie Martin Heideggers lächerlich: Mein Dasein, sagt der Deutsche, das reißt mich von all den sekundären Sachen weg, es ist mein ein und alles, mein schönes stinkiges vulgäres wahres Dauerwellendasein, das möcht ich nimmer vermissen, mein Gott, ist mein Dasein primär, ich bin da, und schon gibt’s dieses Mein-Dasein, und ohne es kann ich nicht mehr atmenfressenscheißen (Ko 106).
Heidegger, der sich auch nach 1945 nicht von seinen anfänglichen Sympathien für den Nationalsozialismus distanziert hat und dennoch bis heute als einer der größten deutschen Philosophen gilt (vgl. Altwegg 1988), wird dabei mit seiner Daseinsphilosophie in die Nähe der barbarischen Sprache der Nationalsozialisten gestellt – nur eine Seite später zitiert ›Gönul‹ einen fiktiven Deutschen: »›Säg doch mal die Arme vom Juden ab, das vermindert das Packmaß, dann können wir das Ding gut reinschieben.‹ Zitat Ende. Der Deutsche und das Ungeheure.« (Ko 107) Die deutsche Geistesgeschichte trage in sich jene Brutalität und Barbarei, die im Holocaust ihre barbarische Fratze gezeigt habe: 380 | In Handkes Publikumsbeschimpfung heißt es: »Ihr wart verinnerlicht, ihr Massenmenschen, ihr Totengräber der abendländischen Kultur, ihr Asozialen, ihr übertünchten Gräber, ihr Teufelsbrut, ihr Natterngezücht, ihr Genickschußspezialisten.« (Handke 1966: 45)
Minoritäten, Literatur und Subversion Die Geschichte versteht der Deutsche ja nur als eine Summe von privaten Seelenrettungen. Kanonenboote kommen vorbei und schießen die geplagte arme Germanenseele frei. Da soll nichts anderes wachsen und gedeihen, da soll alle Kultur vergehen, weil nur am Deutschen Wesen die rohe primitive Seele genesen kann. Wilhelm war Jesus. Bismarck war Jesus. Hegel und Heidegger waren Jesusse. (Ko 107)
Dieses Zitat vermischt philosophische (Hegel und Heidegger), politische (Kaiser Wilhelm) und literarische deutsche Diskurse (Geibel-Zitat) miteinander und führt sie in einem pathetischen Akt als Welt rettende, göttliche Instanzen vor, wobei es zugleich auf die kriegerischen Akte, die diesen Diskursen entspringen, hinweist. Neben der im Barbarischen kulminierten deutschen Geistesgeschichte wird auch die unverarbeitete nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands vorgeführt, die sich bis heute im ›Triebhaushalt‹ der Deutschen zeige, die vergeblich versuchten, ihre ›innere Schuld‹ ›wegzuficken‹ – und Sexualität entsprechend ihrer autoritären Herr-Knecht-Charaktere nur als ein sado-masochistisches Geschehen lustvoll erleben könnten. »Şükran, 22, Verkäuferin in einer Edelboutique« (Ko 22ff.), zitiert verwundert einen früheren deutschen Liebhaber, der sie gebeten habe: »›Mensch, Schükran, man muss mich eigentlich würgen, dass ich in die Gänge komme. Ich kann nur aus der emotionellen Notlage schöpfen, das gehört hierher, in dieses Land, das ist das beschissene Drama in Deutschland!‹« (Ko 24) Auch die Künstlerin »Aynur, 34« (Ko 32ff.), beschreibt einen »Alemangeschichtsfick«, den die ›deutschen Männer‹ mit ihren »Herrenmenschständer[n]« ausübten und Teil des »Wir-sind-wer-Gröl« (Ko 32) sei. Eine spezielle Figur in Kanak Sprak ist der beschnittene »Ercan, 24, Gigolo« (KS 67ff.), dessen großer »bonus« es verdiene, dass ihm »ja’n hautstück fehlt«, denn er sei zusätzliches Geld, weil ihn eine deutsche Kundin zum ›Juden‹ erklärt: Da ist ja sonne frau mal seltsam geworden, reich war die, schick und gepflegt, […] und als sie sich halt über mir die pralle eichel beugt, sagt sie: du mein schöner jude, und als ich ihr sag, ich bin nur’n schlichter kümmel, wird die lady potzblitz ärgerlich und sagt, ich soll […] sie man machen lassen, […] na ja, die hat halt auch mitten im ausüben des geschäfts volle kante gebrüllt, von wegen mich fickt’n jude, oder ich ich hab’n judenschwanz in mir inner möse, was die prächtig in fahrt brachte, die hätte sich vom vielen reinbohren in mir den rücken fast alle nägel gebrochen […]. Am morgen steckt die mir’n ordentlichen schein inne tasche, und nach’m kurzen schmatzer sagt die zum abschied: mein schlimmer judenschniddel, und ich rück denn ab und denk unterwegs, was doch so ne christenlady alles zusammenstammelt, wo alle welt doch wissen tut, daß der olle alemanne oberster barbar war beim judenschnitzeln und gas denen ihre lunge treiben [sic !]. (KS 70f.)
In diesem ›Protokoll‹ erscheinen die ›Kümmel‹ als die ›Juden‹ der Gegenwart: Eine reiche Deutsche inszeniert sich den ›Fremden‹ nach ihren Wünschen und belegt ihn mit Namen, mit denen dieser sich nicht identifizieren kann
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(›Jude‹ versus ›schlichter Kümmel‹). Die Aggression des ›Fremden‹ (die Ausübung des Koitus) vollzieht sich dabei nur auf Wunsch der Deutschen, die Umbezeichnung des ›fremden Körpers‹ (›judenschwanz‹, ›judenschniddel‹) wird als lustvoll erfahren. In dieser Konstellation lässt sich eine Wiederholung jener Projektionen auf die Juden (›die Deutschen‹ werden ›gefickt‹ von der ›jüdischen Weltverschwörung‹) lesen, die direkt zum Holocaust führten und nun auf die ›Kanaken‹ übertragen werden. ›Ercan‹ selbst beschreibt seine Kundin als eine kranke Frau, die gleichsam vom ›Virus der Verdrängung‹ befallen sei (vgl. KS 71f.), und gewinnt dabei eine neue Sprechposition, wie Leslie A. Adelson in ihrer ausführlichen Analyse dieses ›Protokolls‹ zeigt.381 Die Verdrängung des Holocausts habe bei der ›deutschen Masse‹ zu einem konformistischen, ordentlichen, gefühlskalten und weinerlichen Verhalten geführt. ›Die Deutschen‹ prägten keine eigenständige Persönlichkeit aus und seien noch immer von der von Alexander und Margarete Mitscherlich beschriebenen ›Unfähigkeit zu trauern‹ bestimmt, die auf das Verschwinden des ›Ich-Ideals‹ Führer mit kollektiver Verdrängung und Erkaltung reagiert hätten.382 Als besonders perfide werden jedoch die ›deutschen Gutmenschen‹ und differenzfeministischen ›Emanzen‹ beschrieben, die aus ihrer eigenen Schwierigkeit, sich zum umfassenden Konformitätsdruck positionieren zu müssen, das Recht ableiten, die Lebensweisen anderer Menschen (in diesem Kontext insbesondere von Migranten) vorgeblich verbessern und letztlich nur autoritär bestimmen zu wollen. Auffällig ist, dass diese Distanzierung von den Vereinnahmungen durch die ›deutsche Betroffenheitskultur‹ insbesondere in den Koppstoff-Protokollen vollzogen wird, da vor allem allochthone Frauen zum Objekt dieser Bemühungen 381 | Bei Adelson heißt es: »When the gigolo expounds on his theory about German fantasies and the Jewish undead, he reclaims powers of speech that German stereotypes of Turkish incoherence deny him. […] More pointedly than any other ›Kanak‹ speaker, however, the gigolo emerges rhetorically as a figural presence occupying the same murky ground shared by postwar Germans and their Jewish ghosts in the 1990s, when so many cultures of memory seem unmoored by globalization.« (Adelson 2005: 102f.) 382 | Vgl. Mitscherlich/Mitscherlich 2004. Auch wenn ›die Alemannen‹ sich gerne unangepasst gäben, so seien sie doch alle konformistisch: »’n alemanne mimt gern ›n verwegenen flegel im busch, […] aber so ne obermutti ihm inner psyche hockt, und ihm dreimal am tag die vollgeschissenen windeln wechselt. […] die stehn innem machtgefüge in reih und glied« (KS 79f.). Dass die Deutschen ordentlich seien, zeige sich schon in ihren kraftlosen Flüchen: »Die Flüche hier sind einsilbig und ordentlich wie eine aufgeräumte Kammer« (Ko 94), das gesamte Land sei emotional erkaltet: »Es schreit im Land der Deutschen das alte deutsche Scheißlied von Kühlewindekaltwelt« (Ko 75). Dementsprechend haben ›die Kanaken‹ kein Verständnis für ›die deutsche Weinerlichkeit‹, sie beschimpfen z.B. deutsche Obdachlose, die ihre weitaus besseren Startchancen vergeben hätten (vgl. KS 87), oder die »stinknormale[n] arschkrücken«, die »scharenweise zum seelenklempner« gehen (KS 52).
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würden. Auf diese Weise wird die »Konstruktion der ›Dritte-Welt-Frau‹, die als Opfer par excellence gleich doppelt markiert ist (weiblich, kolonialisiert) und deshalb vielfach ikonisiert wird« (Schößler 2006: 140), offen gelegt. Bereits der Titel des Buches Koppstoff verweist darauf, dass sowohl das Denken der Frauen (›Stoff im Kopf‹) zum Thema wird als auch die mit dem Symbol Kopftuch (›Stoff auf dem Kopf‹) verbundenen Diskurse über die Unterdrückung und die notwendige Emanzipation der allochthonen Frauen, wobei gerade der ›deutsche Weg der Emanzipation‹ von diesen als koloniale Geste eines bourgeoisen Milieus problematisiert wird. Die ›Interviewten‹ wenden sich gegen die ›grüne Friedensbewegung‹ und deren »Friedenflüstern und Plakatpinnen und Kerzenscheinketten« (Ko 73), gegen eine exotisierte und dabei zugleich domestizierte Kultur von »Döner, Exportladenkitsch, Multikultigetrampel tränenreicher ›In der Fremde‹-Literatur und schlechtem Rap, goldbehangen im Sultanschick und anatolische Lieder lallend, wie’s der Deutsche gern hätt« (Ko 61), gegen die zunehmende esoterische Bürgerlichkeit mit »Gläserrücken und pendeln, Memoiren schreiben und Pillen reinpfeifen, Veganer sein und Hausvater sein« (Ko 102). Gleich zwei ›Interviewte‹ beschreiben zudem ihre Erfahrungen mit deutschen Differenzfeministinnen, die unter dem Vorwand der Emanzipation von Frauen nur an der Reproduktion eindimensionaler Frauenbilder und der binären Matrix ›Alemanin‹ (= Retterin) versus ›Kanakin‹ (= zu Rettende) mitarbeiteten. ›Nilüfer‹, die »Betreuerin in einem Heim für junge Frauen«, berichtet unter dem Titel »Befreites Gebiet sie und belagerte Wesen wir« (Ko 97ff.) aus ihrer beruflichen Praxis in einem Berliner Mädchenhaus. Dort zielten die »verbissene[n] Rutenweiber« vor allem darauf ab, »diesen gefallenen Mädchen n Gesinnungsregister rein[zu]dreschen oder die Mösenlagersitte bei[zu]biegen.« (Ko 99) Ganz ähnlich berichtet »Esra, 19, Abiturientin« (Ko 117ff.), die sich selbst als »Fightfrau« (Ko 119) gegen die Unterdrückung von Frauen bezeichnet, von ›missionarischen Übergriffen‹ deutscher Differenzfeministinnen, die sie als »Wohlstandsflittchen« (Ko 119), »Kaffeekranztäntchen«, »Gutelauneabtöter« (Ko 118) oder »Sauertopf-Frauen« (Ko 117) bezeichnet. Diese Differenzfeministinnen reduzierten das zu emanzipierende Subjekt nur wieder auf ein eindimensionales Objekt: »Für so ne Schickipuppis ist doch ne Türkin n bemoostes Schamlippenmodell mit Fetzenhaube« (Ko 119; vgl. auch 102f.). Doch nicht nur von den ›guten deutschen Frauen‹, sondern auch vom deutschen Bürgertum und seiner Lebensart setzen sich die ›Kanaken‹ ab: Die Edelboutiquen-Verkäuferin mokiert sich über den schlechten Geschmack der Deutschen (vgl. Ko 20f.), die meisten Deutschen leisteten sich ihre politische Alternativität nur vor dem Hintergrund ihres eigenen materiellen Wohlstands und siedelten letztlich doch immer nur zur Seite der Mächtigen über (vgl. Ko 101), der Einzug ins höhere deutsche Bürgertum sei für Migranten ohnehin nicht zu erreichen (vgl. Ko 132), die Abgrenzung vom ›deutschen Geldadel‹ sei aus der minoritären Position des Widerstands heraus nur konsequent (vgl. Ko 30). Schließlich wird ein wichtiges Moment des deutschen Diskurses über
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Migration, der Topos des ›Wirtschaftsflüchtlings‹ bzw. ›Scheinasylanten‹, der keine politische Verfolgung ertragen müsse und daher kein Recht auf politisches Aysl habe, ad absurdum geführt, indem an mehreren Stellen auf die weltweiten Reisen und die ›Edelmigration‹ vieler Deutscher hingewiesen wird: Sogar die Deutschen wandern aus. Da sagt keiner ›Wirtschaftsflüchtling‹. Sie wandern aus weit luxuriöseren Gründen aus als andere. Was weiß ich, weil das Wetter hier so schlecht ist oder weil die Menschen hier so unfreundlich sind. Wenn jemand aus solchen niederen Gründen auswandert, ist er »Edelmigrant«. Wenn jemand um seine Existenz kämpft, dann ist er »Wirtschaftsflüchtling« oder hungriger Schmarotzer. (Ko 43) 383
Auf diese Weise wird die Spiegelung des hegemonialen Diskurses und seiner Begriffe auf die hegemoniale Gruppe selbst als subversive Strategie genutzt. Im deutschen Diskurs über ›die Fremden‹ gibt es zudem – als positive Diskriminierung – den Versuch, das Bild der ›Fremden‹ exotisch aufzuladen: Die ›fremde Kultur‹ sei impulsiv, erotisch, wild und deshalb attraktiv. Die Umkehrung des Diskurses in Zaimoğlus Texten bringt ähnlich positive Aufladungen des Diskurses ›der Fremden‹ über ›die deutsche Kultur‹ nicht zustande: Während ›die Deutschen‹ die kulinarische Vielfalt zahlreicher ›fremder Kulturen‹ genössen, heiße ihr »eigener folklorefraß […] gutbürgerliche küche, und meist würgt man da an nem stück ferkel und schiebt rotkohl nach« (KS 85), abgesehen davon sei »Folklore« für Deutsche bloß »musikantenstadl oder schlesienwie-fehlst-du-mir oder’n karatehieb ins kanaken-genick«, und schlimmer noch: »Der deutsche malocher is ne pogromsau, tottreten is für die hier oberster volkssport.« (KS 85f.) Während der koloniale ›deutsche‹ Diskurs über ›die Fremden‹ als Konstruktion vorgeführt und zurückgewiesen wird (wie im Folgenden gezeigt wird), produzieren die ›kanakischen Protokolle‹ einen eigenen rassistischen Diskurs über ›den Aleman‹, in dem diesem Kollektivsingular stereotype Zuschreibungen zugeordnet werden. ›Multikultiliste‹, ›Assimil-Kümmel‹ und Solidarität. Die Ausdifferenzierung der ›Fremden‹ Während der rassistische Diskurs über ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹ auf die Homogenisierung der beiden Gruppen unter Verwischung ihrer inneren Differenzen abzielt, wird die Gruppe der ›Fremden‹ (als ›Kanaken‹) in Kanak Sprak und Koppstoff ausdifferenziert. Die ›Protokolle‹ verdeutlichen somit, dass sich hinter dem Kollektivsingular ›der Kanake‹ zahlreiche unterschiedliche Personen, Kulturen, Sprachen und letztlich also Differenzen verbergen, die zum Verschwinden gebracht werden müssen, damit die Ausschlusskategorie ›Kanake‹ funktionieren kann. Auf diese Weise wird kenntlich gemacht, dass die Katego383 | Weitere Zitate finden sich sowohl in Kanak Sprak (vgl. KS 85) als auch in Koppstoff (vgl. Ko 103f.).
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rie der ›Kanaken‹ bzw. ›Fremden‹ ein Konstrukt des hegemonialen Diskurses ist – das zu ähnlich künstlichen Koalitionen und Solidarbündnissen unter den Minorisierten führt. Der ›Türke‹ »Fikret, 25, arbeitslos« (KS 78ff.), wird schnell zum ›Afrikaner‹, wenn er feststellt, dass eine ›Türken‹ und ›Afrikaner‹ ausschließende und diskriminierende Kategorie wirksam wird (vgl. KS 80). Eine ähnliche Solidarität erfährt »Banu, 33, Barfrau« (Ko 47ff.), bei ihren ›ausländischen Kunden‹, bei denen sie – anders als bei ihren deutschen Gästen – nie das Gefühl der ›Zweitklassigkeit‹ habe (vgl. u. a. Ko 54). Zugleich werden jedoch Hierarchien innerhalb der Gruppe der ›Fremden‹ wirksam, denn »’n kanake als freund rangiert ganz unten auf der multikultiliste, besser is’n jamaikanigger mit ner zottelperücke, noch besser ›n schmalzlatino, und die ganz heiße oberfesche krone is denn ’n yankee-nigger, auf den das einheimische mösenmonopol abfährt« (KS 22). Ein ›türkischer Junkie‹ beklagt sich, dass die ›Kanaken‹ unter den ›Alemannen‹ stünden, er jedoch noch unter der Kaste der ›Kanaken‹ (vgl. KS 105f.). Neben diesen Solidaritäts- und Distinktionsbewegungen innerhalb der Gruppe der ›Ausländer‹ oder ›Kanaken‹ gibt es jedoch auch die Untergruppe jener, die aus der Gruppe der ›Kanake‹ aussteigen und zu ›echten Deutschen‹ werden wollen. Diese werden in den Protokollen als ›Assimil-Kümmel‹ und ›getürkte Deutsche‹ kritisiert – allerdings nicht, weil sie ihre ›wahre Identität‹ verrieten, sondern weil sie die falsche Strategie wählten: Was ein als ›Kanake‹ klassifizierter Mensch auch mache, die ›Alemannen‹ änderten die flexiblen Kategorien und Merkmale der Differenz nach Belieben, der Ausschluss bleibe letztlich bestehen. Insofern verberge sich hinter dem ›Assimil-Kümmel‹ ein opportunistischer ›Kanake‹, der aufgrund seines konformen Verhaltens zu kritisieren sei: Werden feuerrot, wenn sie n Lob einstecken vom Blondkopp, stoßen an mit Yuppiestinkern in Pinscherdisco, geben sich die Rübe mitm Edelknall innem Easyclub, […] geht fetter Rauch rein, kommt dünne Grinse raus. […] der Assimil-Kümmel ist der mieseste Trip, seit es den Kanaken gibt. (Ko 14)
Die ›Interviewten‹ beschreiben diese Assimilationsversuche jedoch nicht nur als eine Veränderung der ›inneren Einstellung‹, sondern auch als eine Bearbeitung der ›äußeren Erscheinung‹. Sie nutzen verschiedene Maskeraden und körperliche Eingriffe, um ihre Identität zu verändern: Einer »von der alten ersten Garde, die gleich in die Fabriken floss«, wird »Alemannenbekenner« genannt, denn er lässt »sich Schnurrbart und Haar färben bis auf die Koteletten« (Ko 82); andere legen »ihr Heimatsprech ab« und bluten »aus ner gerichteten Nase […] inner Kanakfresse, die sie ihr Leben lang nicht wegbrechen können« (Ko 38f.). Äußerlich sehr unterschiedliche Menschen, die dennoch unter der Kategorie ›Kanake‹ versammelt werden, sehen sich gezwungen, ihre Haare und Frisuren den deutschen Idealen anzupassen und somit eine Mimikry zu vollziehen: »N gebleichter
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Brother ausm Kongo und n Türkengirl mit Frisierstabblondlöckchen, die haben was gemeinsam, da ist was, was sie eint, das ist, so seh ich’s jedenfalls, daß sie den Fremdpapp da man abschludern mit nem Fremdmittel« (Ko 36). Auch die Anschaffung eines Hundes werde von vielen ›Assimil-Kümmeln‹ zur ›Deutschwerdung‹ genutzt.384 Hinter all diesen Versuchen verbergen sich jedoch letztlich, so die durchgängige Auffassung zahlreicher ›Interviewter‹, nur Opportunisten, deren »klein-ali-träume« (KS 74) sich strikt innerhalb der vom hegemonialen deutschen Diskurs vorgesehenen Vorstellungen bewegen, die jedoch für die ›Ausgeschlossenen‹ nie eingelöst werden. Dekonstruktionen. Die Kategorien ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹, ›Aleman‹ und ›Kanake‹ Bislang wurde gezeigt, wie das ›Protokoll-Patchwork‹ aus Kanak Sprak und Koppstoff einen Gegendiskurs zum hegemonialen deutschen Migrationsdiskurs konstituiert: Im geschützten Raum der ›Interviews‹ berichten ›Kanaken‹ über ihre alltäglichen Diskriminierungen und ihre ökonomische und physische Ausbeutung, sie äußern sich offen über kulturelle Fragen wie den islamischen Glauben und die Entscheidung für das Kopftuch. Zudem drehen die ›Interviewten‹ den rassistischen Diskurs der majoritären ›Alemannen‹ über die minoritären ›Kanaken‹ um, indem sie die Regularien dieses Diskurses auf die Majorität selbst anwenden. ›Die Deutschen‹ erscheinen in den Beschreibungen als Tätervolk des Holocaust, das unter Schuldkomplexen und Verdrängungsmechanismen leide, die bis heute in der konformistischen und kalten deutschen Gesellschaft virulent seien. Selbst die ›engagierten Deutschen‹ duplizierten nur die hegemoniale binäre Matrix, die strikt zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ unterscheidet. Indem die ›Kanaken‹ beschreiben, dass die Ausschlusskategorie der ›Kanaken‹ völlig unterschiedliche Menschen und Kulturen zu künstlichen Solidargemeinschaften mit künstlichen Hierarchisierungen zwingt, verweisen sie auf die Performativität dieser Kategorie. In einem entscheidenden Schritt wendet sich die Untersuchung nun diesen Verweisen auf die Künstlichkeit der binären Matrix ›Alemanne‹ versus ›Kanake‹ zu: Zeigen die Textanalysen bis hierhin noch – ausgehend von der diskursiven Unterscheidung von ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹ –, wie sich ›die interviewten Fremden‹ in einem Akt der Emanzipation des hegemonialen Diskurses bedienen, um diesen gegen ›die Deutschen‹ selbst zu wenden, so wird 384 | Diese Anpassungsstrategie wird wie folgt beschrieben: »Ich kann dir man auflisten, was’n kanake echt sein läßt, ich geb dir man ’n beispiel: da gibt’s doch sone typen innem schwarzen gewand und bleichschminke inner fresse, für solche isses von wert, ’n köter anner leine zu haben, das hebt denen ihren status, […] und denn denkt ’n kanake: mann, egal ob’s ’n bürgerlicher mösenmolch oder’n szenegeier ist, ’n hund muß eben immer her als statusheber.« (KS 136)
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nun deutlich werden, dass diese hegemonialen Kategorien letztlich dekonstruiert werden. Emanzipation lässt sich im ›Protokoll-Patchwork‹ nicht durch eine Aneignung der Diskurse durch ›die Fremden‹ und die Aufwertung ihrer Diskursposition im Widerstreit von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ herstellen, sondern nur durch die wiederholende Auflösung der binären Matrix und ihre grundlegende Entnaturalisierung. Die Verweise auf die Künstlichkeit der Kategorien ›Aleman‹ und ›Kanake‹ in Kanak Sprak und Koppstoff sind folglich zahllos und sollen nun an einigen Beispielen exemplarisch untersucht werden. Tom Cheesman sieht im ›Protokoll-Patchwork‹ Zaimoğlus eine literarische Realisierung der »Post-colonial Studies, including the analyses of culture, migration and race by figures such as […] Homi Bhabha, Robert White and Gayatri Spivak« (Cheesman 2002: 181).385 Mit Bhabha versteht Günter das ›ProtokollPatchwork‹ als eine Strategie, deren Effekt es letztlich sei, »daß nicht nur die Identität des ›Türken‹ in Frage gestellt wird, sondern ebenso diejenige des ›Deutschen‹« (Günter 1999: 23f.), weil die binäre Matrix als performativ erzeugt präsentiert wird. Wie aber vollzieht sich diese Ent-Naturalisierung in den literarischen Texten? Es finden sich zahlreiche Textstellen, in denen ›Interviewte‹ beschreiben, wie ihre Identität als »nigger« (KS 25), »bimbo« (KS 31), »bastard« (KS 93), »Kanaken« (Ko 27) usw., als eben ›das Fremde‹ oder ›das Andere‹, vom hegemonialen Diskurs ›der Deutschen‹ produziert wird – ohne dass die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften aus ihrem ›realen Leben‹ extrahiert worden wären. Ein ›reales Vorbild‹ für die Konstruktion ›des Fremden‹ ist nicht notwendig. Vielmehr existiert ›der Kanake‹ nur als Fiktion eines ›Kanaken‹, weil die alemannen dich nischt für ne müde mark sehn, du bist gar nischt da, du kannst da antippen und sagen: mann, mich gibt’s schon seit ner urlangen zeit, faß man an, daß du merkst, da is fleisch und knochen, für die biste gar nischt, luft und weniger als schnuppe luft, du hast eben kein sektor, wo man dich ordnen könnt, das sieht denn aus, wie wenn ne olle leichen rumliegt, und die machen mit nem stück kreide nen umriß. (KS 118f.)
Andere ›Kanaken‹ beschreiben, dass sie sich in der Wahrnehmung ›der Alemannen‹ wie in einer Fernsehsendung fühlten, in der sie eine fiktive Figur spielen, um überhaupt existieren zu können: »Die haben schon unsre heimat prächtig erfunden: kanake da, kanake dort, wo du […] denkst: joker, jetzt bist du in deiner
385 | Auch die Literaturkritik sieht in Koppstoff eine literarische Exemplifikation der Theoreme postkolonialer Theorie: »Die ›Kanakas‹ erfahren, unabhängig von Alter oder Schichtzugehörigkeit, dass sie zu ›Fremden‹ erst gemacht werden […]. Der ganze Diskurs von den zwei Kulturen, zwischen denen sie stünden, ist aber offenbar nicht ihr eigener. […] Der Widerstand richtet sich vor allem gegen ethnische Zuschreibungen, durch die soziale Fragen an den Rand gedrängt werden.« (Peters 1998)
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eigenen sendung.« (KS 25) Eine andere ›Kanakin‹ beschreibt, wie sie sich – von Deutschen beobachtet – in ihrem Gemüseladen wie in einer Fernsehröhre fiktionalisiert fühle: »Wir sind für sie eine Art Abwechslung. Es ist wie Fernsehen für sie. Jetzt überleg dir mal, dein Fernseher redet mir dir. Spaß beiseite, ich glaube wirklich, daß wir für diese Leute eine Art Unterhaltung sind.« (Ko 44f.) Gegenüber dieser relativ freundlichen Bewertung der Virtualisierung der ›Kanaken‹ durch ›die Alemannen‹ überwiegen jedoch die Stimmen, die sich gegen die Anmaßung der ›Alemannen‹, die ›Identität‹ der ›Kanaken‹ bestimmen zu können, wehren: Mit wem Freund sein, hä? Mit so nem Blondgesocks? Mitm Liberal, der mich abgrabbelt auf Heimatsprach und Sprechen-gut-Deutsch? Mit Interkulti und Folk gegen rechts? Alles will mir denn einreden und mir Schwäche anhängen und dies scheiß »wo du Kopftuch gelassen?« (Ko 15)
Diese Eigenschaften, die den ›Kanaken‹ durch die ›Alemannen‹ zugeschrieben werden (sie sprächen schlechtes Deutsch, alle Frauen trügen Kopftücher), seien letztlich nichts anderes als erfundene Bilder wie aus einem Film (vgl. u. a. Ko 27). ›Der Kanake‹ sei also »so etwas wie ein synthetisches produkt, das sich und die fabrik haßt, in dem es gefertigt wurde« (KS 110), unterdrückt von einer ›alemannischen Majorität‹, die meint zu wissen, »was gut für dich ist und was deine Identität ist, und du hörst dir den Mist an und wunderst dich, daß nix von dieser Meinung zu dir paßt, aber echt.« (Ko 31) Dementsprechend finden sich in den ›Protokollen‹ zahlreiche Metaphern, die diesen Prozess der Konstruktion des ›Kanaken‹ darstellen, indem er mit der Tätigkeit eines Malers oder dem Anlegen von Kleidung bzw. einer ›zweiten Haut‹ verglichen wird.386 Die Berichte der ›Kanaken‹ über ihre ›fremden Häute‹ zeugen von der Gewalt, die ihnen im Prozess ihrer Stereotypisierung angetan wird. In ganz ähnlicher Weise beschreibt Frantz Fanon die ambivalente Produktion der ›schwarzen Haut‹ durch die ›Weißen‹: »Es gibt eine Suche nach dem Schwarzen, man ruft nach dem Schwarzen, man kann den Schwarzen nicht entbehren, man fordert ihn, aber er soll auf eine bestimmte Art gewürzt sein« (Fanon 1980: 110). Die Konstruktion der ›fremden Haut‹ als epidermales Schema des stereotypisierten Fetischs hat widersprüchliche Effekte: Der Blick auf das Fremde macht die Differenz zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremden‹ deutlich, jedoch ebenso, dass ›das Eigene‹ nur der Effekt einer vorgängigen Differenzierung ist, keine ›Größe für sich‹. ›Das Fremde‹ wird somit begehrt, weil es die Konstruktion des ›Eigenen‹ ermöglicht, und zugleich gehasst, weil es dessen Mangel offenlegt. Der ›Aleman‹ erscheint als »’n wilder Exotenmaler«, der ›das böse Fremde‹ »mit seiner Kleckswut-Kunst« (Ko 85) erst erschaffe, an anderer Stelle be-
386 | Vgl. zu dieser Frage auch Gilleir 2008: 202–205.
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schreibt eine ›Kanakin‹ sich als »Zeugin meines Bildes, des Bildes von mir, das man in einem Museum ausstellen kann wie all diese wild gekrakelten Kunstwerke, denn das Zeichen des Museums ist es ja, starrzumachen, damit die Dinge nicht flüchten können aus toter Luft.« (Ko 122) Dass sich die Kategorien der ›Alemannen‹ nicht auf unveränderliche biologische Fakten stützen, beschreiben zahlreiche ›Interviewte‹ – sie wissen, »daß zum nigger nicht die olle pechhaut gehört« (KS 25), und dass ›die Haut an sich‹ keine Bedeutung hat, sondern dass ihr diese in unterschiedlichen Kontexten in verschiedener Weise aufgeschrieben wird: »Im Bimboslum is die Kümmelhaut n Teppich, auf dem man stapft, und dort draußen hängt man sie wie n Zebrafell anne Wand oder rahmt sie ein oder stopft aus den dir abgerissnen Kopp: also ne Falle.« (Ko 134f.) Die Suggestion des kolonialen Diskurses, dass die Differenz zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ auf der Differenz der ›Körper‹ und damit der Häute beruhe, wird mit Hilfe einer Fell-Metaphorik zurückgewiesen – hinter der Mär von zwei gegensätzlichen ›natürlichen Häuten‹ verbürgen sich ›umschreibbare Felle‹, die auf andere Weise genutzt werden sollten: »Diese scheiße mit den zwei kulturen steht mir bis hier, was soll das, was bringt mir’n kluger schnack mit zwei fellen, auf denen mein arsch kein platz hat, ’n fell streck ich mir über’n leib, damit mir nich bange wird« (KS 96). Auf diese Weise ›malt‹ der ›Aleman‹ sich die ›fremden Körper‹, deren Gestalt sich den bestehenden Stereotypen anzupassen hat. Ein ›Kanake‹ beschreibt die Alternativen, die ›den Kanaken‹ somit bleiben – die Wahl zwischen der Anpassung an ein deutsches Stereotyp und einem scheinbaren Aufbegehren dagegen: entweder bist du’n lieb-alilein, ’n recht und billiger bimbo eben, der doch wunderschön seine kopfsteuer an’n staat blecht […]. So’n lieb-alilein ist der wahre kanake, weil er sich dem einheimischen zwischen die ollen arschbacken in den kanal dienert, und den kakaoüberzug als ne art identität pflegt. […] Dann gibt’s noch’n zweites reservat, in dem der fremdländer den part des verwegenen desperados übernimmt […]. In beiden fällen, bruder, wirst du als luschengaul ins tote rennen geschickt (KS 31f.).
Diese Gewissheit, durch die diskursive und dichotomische Unterscheidung zwischen ›Aleman‹ und ›Kanake‹ aus ›dem deutschen Volkskörper‹ ausgeschlossen und zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, erscheint ›den Kanaken‹ als willkürlich und überflüssig.387 ›Die Kanaken‹ wissen um die Künstlichkeit der Kategorien, auf denen ihr Ausschluss basiert, und bezeich-
387 | Die ›Studentin Çaøil‹ verweist auf die Unnatürlichkeit des diskursiven Ausschlussverfahrens: »Da kommt also der gute Kanake, stellt sich mitten rein, und während er sich fragt, warum die Leute so Spalier stehen, wird er im nächsten Moment auf seinen Platz verwiesen. Schließlich gehört jeder irgendwohin und der Kanake am besten ganz nah an die Abschussrampe.
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nen die binäre Matrix, auf deren Basis der deutsche Migrationsdiskurs ›eigene‹ und ›fremde Identität‹ unterscheidet, als eine ›Lüge‹: Wir sind bastarde, freund, das heißt, daß wir gedanken und empfindungen haben, für die wir nichts können […]. Man sagt dem bastard, er fühle sich unwohl, weil zwei seelen bzw. zwei kulturen in ihm wohnen. Das ist eine lüge. Man will dem bastard einreden, er müsse sich nur für eine einzige seele entscheiden, als ginge es um einen technischen handgriff, damit die räder sich verzahnen, als sei seine psyche ein lahmgelegter betrieb. Der bastard braucht keine politur, er verpaßt sich schon selbst mehrere schichten lack, damit er nicht auffällt wie ein gescheckter hund. (KS 110)
Mit diesen ›Lackschichten‹, die ›die Kanaken‹ über ihre ›fremdbeschriebenen Häute‹ legen, verwirklichen sie die Mimikry im Sinne Bhabhas, die eine »doppelte[ ] Sicht« einnimmt und »durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität auf bricht« (Bhabha 2000: 130). Während der ›koloniale Diskurs‹ den ›Kanaken‹ ihre ›Andersartigkeit‹ aufschreibt, vollziehen die ›Kanaken‹ diese Aufschreibebewegung nach und legen sie bloß, indem sie sie mit einem anderen Gehalt versehen. Auf diese Weise zeigen sie auf, dass sich »Identität nur als stets wechselnde Posen denken läßt«, die jedoch – und das ist entscheidend – »offensichtlich durch ihre Uneindeutigkeit bei der Gegenseite immer wieder das Bedürfnis nach klarer Markierung provoziert« (Günter 1999: 27). Denn anders als im Modell Bhabhas, das die Strategie der Mimikry – vergleichbar der Entnaturalisierung der Geschlechteridentitäten z.B. durch Strategien des Cross-dressings bei Judith Butler – als ein »Erdbeben auf der Ebene der Repräsentationen« und eine »hoffnungsträchtige[ ] Aufgabe[ ]« (Bronfen 2000: XIV) erscheinen lässt, beharren ›die Alemannen‹ stoisch auf den von ihnen konstruierten Differenzen: »Körperliche Zeichen für Andersheit findet der immer, der sie finden will.« (Günter 1999: 26) Im ›Protokoll-Patchwork‹ finden sich zahlreiche Beispiele für die Willkür der Differenzierung, die von ›den Alemannen‹ auch dann rekonstruiert wird, wenn die diskursiven Grundlagen der Differenzierung verschwinden. Die Einbürgerung, also das ›rechtliche Deutschsein‹, hilft z.B. nicht, um als Deutsche/r akzeptiert zu werden, denn »wenn jemand zwar hier geboren und aufgewachsen ist und Deutsch spricht, aber gar nicht aussieht wie ein Deutscher und sich gar nicht so verhält wie einer, aber trotzdem behauptet, er wäre Deutscher: Dann kann er seinen deutschen Pass noch so hochhalten.« (Ko 42) Auch »hier geboren und hier aufgewachsen« zu sein, »besser Deutsch als Türkisch« zu sprechen helfe nicht, denn »trotzdem suchen diese Leute nach einem Unterschied.« (Ko 45) Die willkürliche Konstruktion der Ausschlusskategorien wird von »Suzan, 29, Dolmetscherin für Deutsch und
So wird hier ein- und aussortiert, und die Stücke, die zu klein, zu groß oder zu bunt sind, kommen an die Seite.« (Ko 58)
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Englisch« (Ko 36ff.), mit den subjektiven Einlasskontrollen in Discotheken verglichen: Aber der Haken is, daß son Kümmel mitm abgegespackten Junk richtig nen Fön kriegt, weil der Massa, der läßt ihn nun mal nicht rein, der Massa sagt: Das is so ne Geschmackssache. Und im besten Fall sagt der Massa: Tut mir leid für dich. Und der Massa sagt ganz gescheit: Hör mal, du mußt irgendwie zurück zu deinem Ursprung, also Anatolien und so. Wir müssen unsern Junk trennen, damit ne Kultur draus wird! […] Und nun fragt der Kümmel, was in Gottes Namen is, und ringt um ne bittere Antwort für ne Frage, die ja kein Schwein gestellt hat. Die Frage is vonnem Alemanhimmel gefallen und wird zu nem Oberhauptproblem. (Ko 37f.)
Auch hier wird offen gelegt, dass die Differenzierung zwischen ›Alemannen‹ und ›Kanaken‹ keine natürliche, sondern eine willkürliche Kategorisierung sei, die die Basis für die Konstruktion, den Ausschluss und die Diskriminierung von ›Kanaken‹ darstellt. Die Unterscheidung zwischen ›Aleman‹ und ›Kanake‹ wird direkt in die Tradition kolonialer Diskurse gestellt, der ›Aleman‹ als ›Massa‹ angesprochen. Im Gegensatz zur vorgeblichen ›Natürlichkeit‹ ethnischer Identitäten formulieren einzelne ›Interviewte‹, dass es unmöglich sei, eine »wahre Natur entdecken« zu können: »wo ist denn so ne wahre schöne Schose?« (Ko 62) »Mihriban, 30, Gemüseverkäuferin« (Ko 41ff.), formuliert das Credo hybridisierter Identitäten in einer kulturell globalisierten Welt: Ich bin in dieser Stadt geboren, hier aufgewachsen, habe hier geheiratet, arbeite hier und ziehe meine Kinder hier groß. Eigentlich sollte ich mich hier zu Hause fühlen. Tu ich aber nicht richtig. Ich wollte auch nie in der Türkei leben. Ich weine nicht herum, dass ich keine Heimat habe, wie so viele andere. Ich finde das lächerlich. […] Aber wer hat heutzutage eine Heimat? Das ist ein altmodisches Wort. […] Ich habe mich davon befreit. (Ko 41–43)
Im Gegensatz zur Rekonstruktion einer Heimat gewinnt sie ihrer doppelten kulturellen Auswahl eine positive Seite ab: »Alles an Wissen kann nützlich sein. Nicht umsonst heißt es: ›Wissen ist Macht‹. Ich gucke immer deutsche und türkische Nachrichten oder Dokumentationen.« (Ko 43) Damit entspricht die ›Gemüsehändlerin Mihriban‹ jenem postmodernen Menschen, dessen hybride Identität in der Soziologie als »identitäres Korrektiv« gegen »Ab- und Ausgrenzungsprozesse[ ]« (Honolka/Götz 1999: 19) beschrieben wird – dessen Existenz im hegemonialen Diskurs über Migration im Land der ›deutschen Leitkultur‹ jedoch noch immer negiert wird.
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4.2.3. ›Mann‹ und ›Frau‹. Rekonstruktionen der sexistischen Unterscheidung der Geschlechter Im Folgenden wendet sich die Untersuchung der Frage zu, ob das ›ProtokollPatchwork‹ ähnlich gegendiskursiv und dekonstruktivistisch mit den geschlechtlichen Identitäten verfährt wie mit den ethnischen Identitäten, d.h. ob die Machtpositionen umgekehrt und die ›Natürlichkeit‹ der zugehörigen binären Matrix in Frage gestellt werden oder ob es Unterschiede in den Verfahrensweisen gibt. Diese Untersuchung ist in der bisherigen Forschungsliteratur ein blinder Fleck geblieben – Kanak Sprak und Koppstoff sind vor allem als Auseinandersetzungen mit ethnischen Identitäten gelesen worden. Koppstoff (1998) wurde von der Literaturkritik als Korrektiv hierzu beschrieben, denn Kanak Sprak (1995) und Abschaum (1997) hätten »für weibliche Bewunderer den Makel eines ermüdenden Machismo« (Schmitt 1999) getragen, Zaimoğlu halte seine Behauptung aus Kanak Sprak, die ›kanakische Frau‹ »steht unter Hausarrest, von der Außenwelt abgeschnitten und für jeden Fremden, somit auch für mich, unerreichbar« (KS 15), weshalb das Buch nur ›Interviews‹ mit ›männlichen Gesprächspartnern‹ enthalte, inzwischen »›für eine riesengroße Eselei‹« (Zaimoğlu 1998). Es muss allerdings im Folgenden untersucht werden, ob Koppstoff tatsächlich einen Gegendiskurs zur reinen Duplikation des hegemonialen Geschlechterdiskurses in Kanak Sprak etabliert. Weil sich die entworfenen Geschlechterbilder in Kanak Sprak (›männliche Interviewpartner‹ formulieren einen ›männlichen Diskurs‹) und Koppstoff (›weibliche Gesprächspartnerinnen‹ formulieren einen ›weiblichen Gegendiskurs‹) unterscheiden, untersucht dieses Kapitel die produzierten Geschlechtsidentitäten der beiden Bücher nacheinander. Binäre Matrix, männliche Hegemonie, die Frau als Heilige und Hure. Klassische Männer- und Frauenbilder in Kanak Sprak In Kanak Sprak reproduzieren die ›interviewten Männer‹ die binäre Matrix des hegemonialen Diskurs über ›die Frau‹, ein dichotomisches Denken, das sich historisch zwischen Männern und Frauen in den Gegensatzpaaren »privat – öffentlich«, »Rationalität versus Emotionalität, Aktivität versus Passivität, Stärke versus Schwäche« (Rang 1986: 194) niedergeschlagen habe. Schon seit der Antike ließen sich nach Brita Rang diese Dichotomien beschreiben, diese seien »häufig ganz widersprüchlich bzw. widersprechen sich gegenseitig, abhängig vom jeweiligen Referenzrahmen« (ebd.: 199). Diese dichotomische Struktur findet sich jedoch nicht nur im Verhältnis von ›Mann‹ und ›Frau‹, auch
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innerhalb der Kategorie ›Frau‹ wird die widersprüchliche dichotomische Bestimmung der Frau als ›Heilige‹ oder ›Hure‹ konstruiert.388 Gleich drei Figuren in Kanak Sprak beschreiben den ›natürlichen Körper‹ der ›westlichen Frau‹ als freizügig und sündig. ›Yücel, 22, Islamist‹ sieht in der »frau im westen allein eine blickfischerin«, die wisse, »daß es gut sei und nicht anders zu machen, ihren körper anzubieten, denn das gesetz schreibt vor, daß nacktheit sich auf jeden fall bezahlt macht« (KS 138). Während ›Yücel‹ aber diese unterstellte Promiskuität noch als »sünde« und »niedertracht« (KS 139) ablehnt, berichten ›Cem‹ und ›Tarkan‹ nonchalant über ihr Verhältnis zu Prostituierten, als sei die sexuelle Ausbeutung von Frauen ein ›natürlicher‹ Vorgang. ›Tarkan, 28, Müllkutscher‹, besucht regelmäßig die Prostituierte ›Rosa‹ und reduziert sie auf ihre Körperöffnungen und physischen Funktionen, entsprechend der hebräischen Bedeutung von Hure: ›Loch‹.389 Auch an anderen Stellen der Kanak-Sprak-›Protokolle‹ wird Frauen die Funktion zugewiesen, sich als sexuelles Objekt und Körperware ausbeuten zu lassen.390 Selbstironische Brechungen oder eine Infragestellung des Bordellbetriebs finden sich hier ebenso wenig wie in einem anderen ›Protokoll‹, in dem ein ›Interviewter‹ es für normal erachtet, »wenn einer kies macht mit ’n paar stuten im stall, die er für sich laufen hat« (KS 23). An zwei weiteren Stellen wird die Verantwortung für das ›natürliche sexuelle Verlangen‹ der Männer den westlichen Frauen zugeschoben: die »weiber hier […] machen den mann zum dürren gerippe, und er kann sehen, wo er bleibt. […] Dem araber seine hölle heißt ne blondine« (KS 94). Dabei hätten diese sexuell aggressiven Frauen »’n ton, den die schänder haben, du weißt ja, die mit den ollen pralinen für’s spielplatzkind«. Den somit verführten Männern bleibe gar nichts anderes übrig, als sich diesem Begehren zu fügen, das seinen Ursprung bei der ›verhurten Frau‹ nehme: »Alle welt will ins weiberreservat […]. Jeder hat ne kanone, bruder, egal ob unterm rock oder unterm kaf388 | Carola Hilmes beschreibt, dass sich der Typus der ›Hexe‹ in jenen der ›Femme fatale‹ und inzwischen zum ›vamp‹ gewandelt habe. Die ›Femme fatale‹ sei »eine wesentlich männlich geprägte Imagination des Weiblichen, eine kollektive Phantasie, die ihre spezifische Ausprägung im 19. Jh. erfährt.« (Hilmes 2003: 172) Brita Rang arbeitet den »dualistisch-dichotomischen Charakter der Zuordnungspraxis« (Rang 1986: 194) auf dem Feld der ›Geschlechtercharaktere‹ historisch auf und beschreibt, wie sich diese dualistischen Unterscheidungen historisch formiert und in der frühen Neuzeit im Patriziat und im Adel sowie am Ende des 18. Jahrhunderts auch im Mittelstand und im Kleinbürgertum durchgesetzt haben (vgl. auch Hausen 1976: 363–393). 389 | Ihr »roter mund« sei »perfektive funktion« (KS 125), sie sei »fast ne blaskapelle« und »auch’n bisschen kissen« (KS 126). Dieses Verhältnis rechtfertigt Tarkan, da er als Müllmann »an ne normale tussi […] so leicht nicht ran« (KS 125) komme. 390 | Siehe auch die Äußerungen eines Zuhälters, eines Packers und zweier Arbeitsloser, vgl. KS 48, 51f., 54, 98 u. 135.
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tan, und die is geladen« (KS 63) – wobei die Sexualität in allen Beschreibungen heterosexuell und an dieser Stelle zudem als Gewaltakt, den der ›starke Mann‹ an der ›schwachen Frau‹ vollzieht, codiert wird. Im Gegensatz zum Bild von der Frau als ›verführerische Hure‹ steht der Idealtypus einer Frau als ›Heilige und Erlöserin‹. Die ›wahre Frau‹ wird – im Sinne romantischer Liebe – nicht als sexuelle Gebrauchsware, sondern als ›Erlöserin‹ imaginiert.391 Die ›männlichen Protokolle‹ in Kanak Sprak präsentieren zwar ein offenes Gespräch über das sexuelle Begehren, dieses bleibt jedoch durchgängig männlich codiert, reduziert größtenteils ›die Frauen‹ auf die ›gemeine Verführerin‹, ›die willige Hure‹ oder auf eine Projektionsfläche für romantische Erlösungsfantasien. Die Sexismen und Ausbeutungsverhältnisse, die die ›Protokolle‹ benennen, werden zwar präsentiert, nicht aber einer kritischen oder selbstironischen Problematisierung unterworfen. Gegenüber diesen Frauenbildern entwerfen die Männer zahlreiche Selbstbilder, die auf Verhärtungs- und Kriegsmetaphern basieren, ein Verfahren, das wiederum den hegemonialen Geschlechterdiskursen entspricht und das Liesbeth Minnaard als »a performance of ultra-macho behaviour« (Minnaard 2008: 152) bezeichnet.392 Folglich distanziert sich der arbeitslose ›Ulku‹ von »hippiklottenschrippe[n]«, »an deren prinzessbohne der kümmel […] nuckeln« müsse, denn die Ausführung des Cunnilingus sei gleichbedeutend mit der Unterwerfung unter die Frau und das sei »orntlich gestört« (KS 136) bzw. eine Störung der ›natürlichen Ordnung‹. Doch nicht nur ›weibliche oder lesbische Sexualpraktiken‹ liefen dieser Ordnung zuwider, auch homosexuelle Praktiken unter Männern werden als ›unnatürlich‹ und ›gefährlich‹ dargestellt.393
391 | »Fikret, 25, arbeitslos« (KS 77ff.) sehnt sich nach »erlösung«, die für ihn in einer »milde[n] hand, die sich in meine hand vergräbt« und also einer »frau, […] mit der gut kirschen essen ist« (KS 77), besteht. Dieser Wunsch nach Erlösung wird jedoch erneut stark sexuell codiert. ›Dschemaleddin‹ inszeniert sich als »wachküsser für die rechte braut, wo die man mich gottvoll ersehnen täte und warten und frohlocken«, allerdings vor allem um »mit ihr gute nummern zu schieben« (KS 66). 392 | Ganz in diesem Sinne sieht sich der ›Kanake‹ »als ganzer mannskerl«, der »irgendnen busch scharf ins visier« nehme, um seine »ladung […] ab[zu]pulvern« (KS 133), und ist stolz auf seinen »kokon«, der »hart und borstig außenrum« (KS 65) sei. – Vgl. hierzu: Theweleit 1980: 250–455, der die von Männern fantasierten Frauenbilder im Faschismus als ›flutende Körper‹ beschreibt – das entsprechende Gegenüber ist der ›verhärtete Männerkörper‹. 393 | ›Büjük Ibo‹ verweist auf seine große sexuelle Lust, sein »kanonending zwischen den beinen«, das »sein recht« wolle und »also klemm ich ihn nich ein wie ne schwuchtel«. Dieses Aufrufen eines homophoben Topos führt ihn zu einer kurzen Reflexion über Homosexualität, die er aggressiv abweist (vgl. KS 43). Auch »Tolga, 29, asylsuchender Revolutionär« (KS 127ff.), beschreibt den homosexuellen Analverkehr, den er als
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Die ›Protokolle‹ in Kanak Sprak duplizieren also die binäre und heterosexuell codierte Geschlechtermatrix – die Kategorien des ›gepanzerten Mannes‹, der von der ›Frau als Hure‹ oder von der ›Frau als Erlöserin‹ angetrieben wird, die letztlich für die ihr auferlegten Ausbeutungs- und Objektivierungsverhältnisse selbst verantwortlich gemacht wird, werden in den meisten ›Protokollen‹ nicht selbstironisch gebrochen oder kritisch reflektiert.394 Zwei ›Protokolle‹ können jedoch als Verkehrung der binären Matrix gelesen werden. Der Gigolo und die Transsexuelle. Geschlechtertausch in Kanak Sprak Während die meisten ›männlichen Protokolle‹ die Frau als sexuelles Lustobjekt und käufliche Ware beschreiben, kehrt »Ercan, 24, Gigolo« (KS 67ff.), dieses Machtverhältnis um. Er bezeichnet sich als »mannnutte« und ist stolz auf seinen Beruf: »in die sexmaterie bin ich eingesunken als’n profihandwerker […] mit nem einwandfreien service« (KS 69). Zwar erzählt er im Folgenden eine verstörende Erfahrung mit einer deutschen Kundin, grundsätzlich ändert dies jedoch nichts an seiner Zufriedenheit: »[S]oll mich eben jedefrau und jedermann für’n funktionsficker halten, das ist mir eher lieb.« (KS 73) Auf diese Weise dreht ›Ercan‹ jedoch nur exemplarisch die Rollen innerhalb des sexuellen Ausbeutungsverhältnisses um und zeigt zudem, dass ›die Nutten‹ tatsächlich mit ihrem ›Beruf‹ zufrieden seien. Somit lässt sich dieses Protokoll zwar als Exempel dafür verstehen, dass nicht alle Männer immer die Machtposition auf der binären Geschlechtermatrix einnehmen, diese bleibt jedoch in ihren Grundfesten unangetastet. Etwas anders liegt der Fall bei »Azize, 27, Transsexuelle« (KS 34ff.), die eine operative Mann-Frau-Geschlechtsumwandlung hinter sich hat und zeigt, dass der Wechsel der Geschlechter auch biologisch vollzogen werden kann. Zunächst beschreibt ›Azize‹ ihr Unbehagen an ihrer ›männlichen Identität‹: »für den schwengel mit anhang konnt ich man gottverdammt nix […]. […] schon ziemlich früh hat ich’s gefühl, da is’n höllenversehn über die bühne gegangen ohne mein zutun« (KS 35). Dieser Widerspruch zwischen ›biologischer‹ und ›sozialer Geschlechtsidentität‹ führt zu Komplikationen: »[D]u bist halt falsch
Vergewaltigung durch ›Kriminelle‹ erlebte, als bleibende und gewalttätige Störung der ›natürlichen Sexualität‹: »Seitdem kriege ich keinen hoch« (KS 131). 394 | Es gibt nahezu keine Beispiele für solche Selbstreflexionen der minorisierten ›männlichen Kanaken‹, die im Geschlechterdiskurs jedoch die majoritäre Position einnehmen. Eine Ausnahme findet sich in einem ›Protokoll‹, das zwar die Unterdrückung von ›Frauen‹ deutlich benennt, letztlich die Verantwortung dafür nur wegschiebt, diesmal allerdings nicht auf ›die Frauen‹ selbst, sondern auf ›die Alemannen‹: »Der bastard verflucht den beischlaf, aus dem er hervorgegangen ist […]. Er ist ein gezwungener, deshalb will er niederzwingen. Ganz schlimm trifft es unsere frauen. Für die schweinereien, die man ihnen antut, die bastarde wie wir ihnen antun, finde ich keine worte.« (KS 111)
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[…]. […] irgendwann wußt ich’s ja, daß ich’n schwuli bin oder so was in der art, ne abart halt, wie die leute sagen« (KS 36) – dieser soziale Ausschluss führt bei ›Azize‹ zu einem Suizidversuch und dem Wunsch, das ›falsche biologische Geschlecht‹ zu verändern, damit ›biologisches‹ und ›soziales Geschlecht‹ wieder übereinstimmen und mit der hegemonialen Matrix vereinbar werden. Für diese Übergangszeit des Geldsammelns für die Operation erscheint ihr/ihm das Leben in der ›Schwulen-‹ und ›Stricherszene‹ als gerechtfertigt (vgl. KS 36f.). Mit der gelungenen Operation – »schnipp und weg war das scheißzeug […], mein gott, diese schöne frauenritze« (KS 37) – ist die Ordnung der Geschlechter für ›Azize‹ jedoch endlich wiederhergestellt: »Ich bin jetzt’n segensreiches weib, süßer, und was mir nun auch zustoßen mag, es trifft mich als frau.« (KS 38) Von ›Starkfrauen‹ und der Kritik männlicher Selbstbilder. Männer- und Frauenbilder in Koppstoff Nachdem in Kanak Sprak die majoritäre Seite des hegemonialen Geschlechterdiskurses zu Wort gekommen ist, versammelt Koppstoff ein ›ProtokollPatchwork‹ der minoritären Seite. Die nahe liegende Frage ist nun, ob in Koppstoff jene sprachliche Entnaturalisierung hegemonialer Geschlechterkategorien durch ›minoritäre Protokolle‹ vollzogen wird, die in beiden Büchern in der Auflösung der dichotomischen Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ vorgeführt wird. Das ›Vorwort‹ des Buches suggeriert, dass sich Koppstoff um die Korrektur einiger blinder Flecken von Kanak Sprak bemühe: »Auf fast jeder Lesung wurde angemerkt, daß ›Kanak Sprak‹ ebenso wie ›Abschaum‹ die ›männliche‹ Sicht der Dinge darstelle, und Frauen forderten die weibliche Sichtweise.« (Ko 9) In Koppstoff dienen die aufgerufenen Männerbilder weniger dazu, die Selbstbilder der ›Kanaken‹ zu dekonstruieren, als vielmehr den ›Alemannen‹ die Diskursgewalt zu entziehen. An zahlreichen Stellen werden ›deutsche‹ und ›migrantische Männer‹ direkt miteinander verglichen, im Regelfall schneiden die ›Kanaken‹ besser ab: »Deutsche Männer sind so verdammt sittsam« (Ko 24), hätten nur einen »bleichen und schlaffen Arierdödel« (Ko 32), seien arrogant und emotional kälter (vgl. Ko 51f. u. 54). Andererseits bekommen jedoch auch die ›türkischen Männer‹ ihre Beschränktheit und Brutalität vorgehalten: Es sei wahr, »daß Frauen es bei den Türken schlechter haben als bei den Deutschen […]. Sie schlagen sie nicht so oft«, außerdem »behandeln (sie) auch ihre Kinder besser.« (Ko 53) Zudem seien die türkischen Männer sexfixiert und nicht an der sexuellen Befriedigung der Frauen interessiert (vgl. Ko 51 u. 90). Dies sind Beschreibungen, die sich mit den ›männlichen Selbstbeschreibungen‹ aus Kanak Sprak decken, hier jedoch kritisch umgedreht werden. Die Frauenbilder differieren stark von jenen der ›männlichen Protokolle‹. Jamal Tuschick stellt fest, dass die »weiblich generierte Selbst- und Deutsch-
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landwahrnehmung […] herber als der männliche Komplementärtext« (Tuschick 1998a) sei. Dies entspricht den zahlreichen Selbstbeschreibungen der ›starken Frauen‹, die sich gleichsam den Panzer, den die ›Männer‹ in Kanak Sprak für sich proklamieren, überziehen. Das erste ›Protokoll‹ steht pars pro toto und präsentiert »Nesrin, 24, Rapperin und Streetfighterin« (KS 11ff.), die sich als »Starkfrau« im »Befreiungskampf« (Ko 13) befinde und ihre »taffe Weiberhärte« (Ko 15) dazu nutze. Die ›Anarchistin Gül‹ wendet sich gegen die zugeschriebenen Kategorien der ›heiligen Frau‹ (»ich bin nicht ne brave Türkenmutti hinterm Herd«) wie auch der ›assimilierten Hure‹ (»n Yuppiemiezenrock tu ich mir auch nicht an, weil’s nicht paßt«; Ko 31). Es lässt sich zudem zeigen, dass weit mehr ›Protokolle‹ in Koppstoff als in Kanak Sprak die Attacke und Aggressivität als Strategie gegen die hegemonialen Kolonialdiskurse empfehlen. Doch nicht nur ›Starkfrauen‹ treten auf, sondern auch jene, die vom männlichen Diskurs zu einem ›Sexualobjekt‹ degradiert werden. In Koppstoff benennen ›die Frauen‹ ihre Ausbeutung und bringen die verborgene Seite der Kanak Sprak-›Protokolle‹ ans Licht. Die Barfrau ›Banu, 35‹ erzählt ihre Biografie als eine der Ausbeutung durch die ›männliche Welt‹ (vgl. Ko 47–55). »Aynur, 34, Künstlerin« (Ko 32ff.), nutzt eine Voyeurismusmetapher zur Beschreibung ihrer Situation als ›Kanakin‹: Zu wissen genau, daß der Spanner durch undichte Fuge dich belugt, und doch seelenruhig strippen, alle Wäsche abzulegen, den bösen Wichserblick auf deiner Möse, in deiner Möse schnappend eingefummelt zu wissen, soll deine Erwartung sein und was dich erwartet. Vor dem Mösenausschlecker, dem ganz krummen Hund, vor dem Körperschnüffler und Aufgeiler auf Frauchen zu machen, das sollst du dir gefallen lassen und ganz ganz still sein. Da hat man erst das Kopftuch abgelegt und sind fast alle Stricke gerissen dran, schon bist du Lockgut und Ware für deutsche Männer, so etwas wie ne Taiwanesin in Kanak. Rück mir bloß damit heraus, sagen die Wichser, ich will alles haarklein von dir neugiergestillt bekommen, und schon spannt sich ihr Hosenstall vor fetter Lust. (Ko 34f.)
Auch in ›Aynurs‹ Metapher erscheinen die ›deutschen Männer‹ in hegemonialer Position und mit mächtigem Blick, unter dem die ›Kanakin‹ als Sexualobjekt verfertigt wird. Dass es auch nach ›Aynurs‹ Auffassung nicht um ihre individuelle Persönlichkeit, sondern nur um ihre Angleichung an eine exotische Imagination geht, verdeutlicht ihre Selbstbeschreibung als ›Taiwanesin in Kanak‹. Zwischen den deutschen Milieus scheinen keine Unterschiede zu bestehen: Sowohl in ›Banus‹ zweitklassiger Bar als auch im Künstlermilieu ›Aynurs‹ werde von den Frauen erwartet, sich etwas ›gefallen zu lassen‹, ohne eigene Vorstellungen zu entwickeln oder gar durchzusetzen. Unter diesen Bedingungen erscheint die Entscheidung für das Tragen eines Kopftuchs und gegen eine freizügige, westliche Kleidung wie die Entschei-
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dung gegen die Unterwerfung unter das hegemoniale männliche Blickregime und für die Bewahrung einer ›weiblichen Würde‹. Die ›Jura-Studentin Hatice‹ stellt dementsprechend fest: »Eine unbedeckte Frau, zum Beispiel, hat Schwierigkeiten, unter Männern akzeptiert zu werden, denn diese Männer werden immer in erster Linie eine Frau vor sich sehen und sich von ihr angezogen fühlen.« (Ko 71) Im Gegensatz zum hegemonialen deutschen Diskurs über das Kopftuch verweist ›Hatice‹ darauf, dass sie »niemals zu etwas gezwungen« worden sei und das Kopftuch »freiwillig« (Ko 67) trage. Ohne an dieser Stelle näher auf den komplexen Diskurs um das Kopftuch und seine kulturellen Bedeutungen eingehen zu können, lässt sich feststellen, dass Koppstoff den ›weiblichen Objekten‹ des ›männlichen Blickregimes‹ aus Kanak Sprak die Gelegenheit gibt, von ihrer Ausbeutung, ihren Diskriminierungen, ihren Tränen und ihren Gegenreaktionen zu berichten. Der differenzfeministische Kampf der ›deutschen Emanzen‹ wird von den ›Kanakinnen‹ jedoch – wie zuvor bereits gezeigt wurde – zurückgewiesen, da dieser Kampf letztlich die ›Kanakinnen‹ einem rassistischen Diskurs (›Alemanin‹ = Retterin; ›Kanakin‹ = zu Rettende) unterwerfe. Rekonstruktionen. Die Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ In den ›männlichen Protokollen‹ von Kanak Sprak wird die binäre Matrix des hegemonialen Geschlechterdiskurses mit den eindeutig unterscheidbaren und naturalisierten Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ reproduziert und dupliziert. Die Matrix ist durchgängig heterosexuell codiert, die Frauen erscheinen als ›weiche, minoritäre Objekte‹, die entweder als ›verführerische Körper(funktion)‹ sexistisch beschrieben werden (›Frau‹ = ›Hure‹) oder als Erlöserin imaginiert (›Frau‹ = ›Heilige‹). Im Gegensatz dazu beschreiben sich die Männer mit Verhärtungs- und Kriegsmetaphern als ›gepanzerte und harte Körper‹, setzen sich scharf gegen ›homosexuelle oder weiche Männer‹ ab. Mit einem ›Gigolo‹ und einer ›Transsexuellen‹ werden in Kanak Sprak zwar zwei Gegenfiguren präsentiert, die vorführen, dass die Rollen zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ auf der binären Geschlechtermatrix auch vertauscht werden können. Letztlich bleibt diese jedoch in ihrer ›Natürlichkeit‹ unangetastet und wird eher bestätigt denn dekonstruiert – auch die ›Transsexuelle‹ vollzieht den Wechsel ihres ›biologischen Geschlechts‹, um sich wieder als Heterosexuelle zu normalisieren. Die ›weiblichen Protokolle‹ von Koppstoff lassen sich als ein Gegendiskurs lesen: Hier wird die Geschlechtermatrix umgekehrt, indem die von den Männern als ›weich und schwach‹ imaginierten Frauen nun als ›harte und gepanzerte Wesen‹ erscheinen und gleichsam die ›männliche Position‹ auf der binären Geschlechtermatrix einnehmen, von dort aus nun ›die Männer‹ als ›schwach und weich‹ bewerten. Der unreflektierte Sexismus der Kanak Sprak›Protokolle‹ wird an einigen Stellen benannt und in seinen Effekten für die ›weiblichen Sexualobjekte‹ unter dem ›männlichen Blickregime‹ beschrieben.
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Dieses Verfahren lässt sich – bis zu einem entscheidenden Punkt – mit dem Umgang mit ethnischen Identitäten in Kanak Sprak und Koppstoff vergleichen: Auch hier werden die (dort rassistischen, hier sexistischen) Kategorien der binären Matrix vorgeführt und rekonstruiert, um schließlich den Minorisierten (dort den ›männlichen und weiblichen Kanaken‹, hier den ›Kanakinnen‹) die Gelegenheit zu geben, den hegemonialen Diskurs umzudrehen, von ihrer Ausbeutung und Diskriminierung zu berichten, die majoritären Subjekte als ›schwach und lächerlich‹ zu diffamieren und sich selbst als ›stark und hart‹ zu inszenieren. Während die binäre ethnische Matrix von ›Kanak‹ und ›Aleman‹ jedoch letztlich grundsätzlich unglaubwürdig gemacht wird, die ethnische Identität mit Mal- und Kleidungsmetaphern beschrieben und als eine synthetische, fiktive und konstruierte entnaturalisiert wird, finden sich solche Entnaturalisierungen der binären Geschlechtermatrix von ›Mann‹ und ›Frau‹ in den Texten nicht. Ganz im Gegenteil: Selbst die Bemühungen ›deutscher Differenzfeministinnen‹, die auf die Emanzipation der ›weiblichen Identität‹ abzielen, werden durchgängig als kolonial diffamiert. Während die ›männlichen Protokolle‹ den ›Frauen‹ eine minoritäre Position zuweisen, empfehlen ihnen die ›weiblichen Protokolle‹ die Übernahme der ›männlichen Panzerung‹ oder die Verhüllung der ›natürlichen Weiblichkeit‹ als emanzipative Strategie. Auf diese Weise sprechen auch die ›weiblichen Protokolle‹ letztlich aus einer ›männlichen Perspektive‹ über ›Weiblichkeit‹. Es ließe sich nun einwenden, dass Texte, die in solch herausragender Weise Beispiele für die Dekonstruktion ethnischer Identitäten in sich tragen, einen Rahmen vorgeben, in dem sich auch geschlechtliche Identitäten nicht mehr als ›natürliche‹ lesen lassen. Die geleisteten Analysen haben jedoch gezeigt, dass in den literarischen Texten zwar Gegendiskurse gegen die hegemonialen ethnischen und geschlechtlichen Matrizen eröffnet werden, dass sich die Art und Weise, wie ethnische Identitäten in Kanak Sprak und Koppstoff dekonstruiert werden, in einem hohem Maß von den Rekonstruktionen und Duplikationen hegemonialer Geschlechteridentitäten unterscheiden, die in Kanak Sprak unkritisch und in Koppstoff etwas kritischer aufgerufen werden. Dass sich zwar zahllose Beispiele für Homi K. Bhabhas Konzept der ›Mimikry‹ in den ›Protokollen‹ finden, jedoch keine Beispiele für Judith Butler Konzept der ›performativen Subversion der Geschlechtsidentität‹, mag der Hauptgrund dafür sein, dass die ›Protokolle‹ bislang durchweg als eine Subversion der ›Natürlichkeit‹ ethnischer Identitäten von der Sekundärliteratur gelesen worden sind, jedoch nicht auch als eine Subversion der Geschlechterkategorien. Dass dies auch kaum möglich ist, wurde hiermit gezeigt.395 395 | Während Guido Schenkel in seiner Analyse der Geschlechteridentitäten in Kanak Sprak zu einem anderen Resultat kommt (er beschreibt ein »contradictory play with gender roles (which) serves as one of the main tools of subversion of an assumed authenticity ascribed to Zaimoølu’s texts.«; Schenkel 2009: 26), sieht Yasmin Yildiz ebenfalls
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4.2.4. ›Kanakischer Rap‹ gegen ›alemannische MT V-Popdeppen‹. Popkulturelle Distinktionen und der Mainstream der Minderheiten In Texten der Gegenwartsliteratur werden die Figuren vermehrt auf popkulturellen Tableaus angeordnet, wie Rolf Parr in seiner Analyse popliterarischer Texte gezeigt hat (vgl. Parr 2004). In diesen popliterarischen Verfahren wird die Frage nach dem Pass oder der Herkunft als Merkmal der Identität – ganz im Sinne der Gruppe Kanak Attak – bedeutungslos; Identität oder die Zugehörigkeit zur einer Gruppierung wie der ›Kanaksta-Bewegung‹ bestimmt sich durch den Tanzstil, die Kleidung, Posen und Gesten. An anderer Stelle habe ich bereits zeigen können, dass sich popliterarische Texte der Gegenwartsliteratur auch anhand der Untersuchung ihrer popkulturellen Matrizen differenzieren lassen – die Bestseller der ›neuen deutschen Popliteratur‹ beziehen sich affirmativ auf den Mainstream der globalen Popkultur und produzieren auf diese Weise hegemoniale Generationenkonstrukte.396 Gegen den popkulturellen Kanon der ›deutschen Mittel- und Oberklasse‹ grenzen sich minoritäre Jugendszenen durch einen anderen Musikkonsum, ihre Kleidung und eine spezifische Szenesprache ab. Insbesondere dem Rap wird ein ›subversives Potenzial‹ zugeschrieben (vgl. Watzlawik 2000), das in der ›Kanak Sprak‹ zum durchgängigen Thema wird. Von der literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur ist die Nähe der ›Kanak Sprak‹ zu Strategien und Begriffen der Hip-Hop- und Rap-Kultur bislang nur beiläufig zur Kenntnis genommen worden, weshalb sie hier ausführlicher untersucht wird. Dabei soll von der These ausgegangen werden, dass die ›Interviewten‹ in Kanak Sprak und Koppstoff ihre Identitäten auch durch popkulturelle Positionierungen produzieren, die immer schon artifiziell und hybrid sind. Sascha Verlan und Hannes Loh beschreiben in ihrem Buch 20 Jahre HipHop in Deutschland, dass Feridun Zaimoğlu seine Idee für die ›Kanak SprakProtokolle‹ ab Ende 1993 in Zusammenarbeit mit Ali Aksoy, dem Frontmann der Kieler Hip-Hop-Crew Da Crime Posse entwickelt habe. Zaimoğlu selbst verbreitet dort die Geschichte, dass sich seine Idee zur Entwicklung der ›Kanak Sprak‹ »in den Morgenstunden Ende 1993 nach einer ziemlich arbeitsreichen Nacht« ergeben habe, in der er mit »Ali […] sowie ein paar andere[n] Brothers« zusammen gewesen sei. Ali habe irgendwann begonnen, ›loszulegen‹ in diesem ganz bestimmten metropolitanen Jargon. Das war eine richtige Sturzflut an Metaphern und Bildern, ohne Filter, unverblümt und ohne auf bürgerverfasste Voka-
eine »ambivalente Funktion der überbetonten Männlichkeit als Antwort auf rassistische Strukturen.« (Yildiz 2009: 202) 396 | Vgl. ausführlicher hierzu Ernst 2006: 148f. u. 155ff.
Minoritäten, Literatur und Subversion beln zurückzugehen. Da ging mir ein Lichtlein auf, und ich dachte: Wow! (Zaimoølu, zit. n. Verlan/Loh 2000: 156)
In der Einleitung zu Kanak Sprak heißt es, die ›Kanak Sprak‹ sei »dem FreeStyle-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus.« (KS 13)397 In Ali Aksoy erkennt Cheesman »the only readily identifiable real person in Kanak Sprak« (Cheesman 2002: 185) – mit dem deutsch-spanisch-türkischen Zusammenschluss Cartel spielt Aksoy im Spätsommer 1995 vor mehreren zehntausend Fans in zahlreichen türkischen Fußballstadien. Auch der für die ›Kanak Attak‹-Bewegung und zahlreiche ›Interviews‹ Zaimoğlus zentrale Begriff der ›Attacke‹ entstammt der Rap-Tradition: Schon 1984 veröffentlicht David Toop ein Sachbuch unter dem Titel Rap-Attack (vgl. Toop 2000). Jamal Tuschick nennt Zaimoğlu den ersten deutschsprachigen Autoren, der die seit den 1980er Jahren vollzogene Hinwendung der jüngeren migrantischen Generationen zur Disco- und Rap-Kultur literarisch adäquat verarbeitet habe: »Der Einfluss von Rap und Hip-Hop auf seine Prosa ist deutlich. Auch seine Theatralik kommt daher« (Tuschick 2000c: 111). Hip-Hop und Rap als globale und lokale Bewegungen zwischen Minoritäten und Kommerz Der Rap hat sich in den frühen 1970er Jahren in der South Bronx in New York entwickelt, als Underground-DJs den Sprechgesang oraler Kulturen, Bässe und Drums als Grundbeat und Scratching-Techniken kombinierten. Der Rap als Sprechgesang bildet ein Element der Hip-Hop-Kultur, zu der »Rapmusik, Black Radio, Breakdance, Graffiti, Clubszenen mit DJs, B-Boy und Wild-StyleMode« (Winter 2004: 216) gehören. In seinen Anfängen in den 1970er Jahren etabliert sich der Rap an der US-amerikanischen West- und Ostküste als »Ghettomusik« (Möbus/Münch 1998: 54), und bietet den »schwarzen Jugendlichen eine alternative Identität, die sich einerseits auf zerstörte Traditionen der Black Community berief und sich andererseits gegen die schwarze Mittelklasse und deren Werte abgrenzte.« (Mikos 2003: 66) Bandnamen wie Public Enemy oder N.W.A. (›Niggers With Attitude‹) verweisen auf die widerständige Haltung, die die Rap-Kultur sowohl gegenüber der ›schwarzen Mittelklasse‹ als auch der ›weißen Majorität‹ einnimmt. Die Authentifizierung der ›Ghetto397 | Auch Jahre später greift Zaimoølu noch auf dieses Narrativ einer ›Grün dungsstunde‹ der ›Kanak Sprak‹ zurück, und legitimiert zugleich seine Texte als aus der HipHop-Szene geboren: »Eines Nachts saß ich mit meinen Freunden in einem Keller, und wir rappten uns in eine Art Rausch. Da hat Ali sich in seinem Chefsessel aufgerichtet und einen Wutmonolog rausgelassen […]. Zuhause habe ich meine Schreibmaschine hervorgeholt und das reingedroschen. Am nächsten Tag noch mal. Im Telefonbuch den Rotbuch Verlag gefunden und den ganzen Kram dahingeschickt. Ich konnte es nicht glauben, als die sagten, sie würden das drucken.« (Zaimoølu, zit. n. Anonym 2005b)
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Musik‹ wird jedoch mehr und mehr zur Pose, schon 1979 hat die Sugarhill Gang mit Rapper’s Delight einen Millionenerfolg. Um 1990 schwappt der HipHop auch nach Europa und Deutschland (vgl. Verlan/Loh 2000: 124ff.), der Erfolg des deutschen Hip-Hop-Acts Die fantastischen Vier (›We are Mittelstand‹) führt bereits Anfang der 1990er Jahre zu heftigen Auseinandersetzungen und zur Kommerzialisierung der Szene (vgl. ebd.: 145–150). Während der Rap in seinen Anfängen in den USA eine direkte Nähe zu den Orten der sozial Benachteiligten hatte und sich mit den Symbolen des gewaltsamen ›schwarzen‹ Widerstands ausstattete (vgl. Lindemann 2004, v.a. 19ff.), ist er heute eine kommerzialisierte und auch von staatlichen Organen aus didaktischen Gründen genutzte Kunst geworden. Seit den 1990er Jahren hat sich das Genre des ›Gangsta-Rap‹ auf dem globalen Musikmarkt etabliert, die MCs und DJs werden nur noch »mit dem Authentizitätslabel zu Marketingzwecken versehen« (Mikos 2003: 68). Die Hip-Hop-Kultur kommt heute nicht mehr ›von der Straße‹ oder ›aus den Ghettos‹, sondern wird global medial inszeniert und verbreitet. Ayse Caglar weist auf die Kommerzialisierung und die Institutionalisierung des Rap hin, der »keineswegs zwangsläufig oppositionell« (Caglar 1998: 42) sei. Vielmehr lasse sich heute »die Position an der Peripherie als kommerziell und ethisch durchaus akzeptabel« (ebd.: 44) beschreiben. In ihrer Analyse der deutsch-türkischen Hip-Hop-Kultur in Berlin weist sie nach, dass die vorgeblich ›randständige‹ Hip-Hop-Kultur, bevor sie unter deutschtürkischen Jugendlichen populär wurde, institutionell vom Berliner Senat und Berliner Jugendzentren gefördert und verbreitet wurde (vgl. ebd.: 45f.). Folglich könne »das Image der authentischen und subversiven Minderheiten […] als erfolgreiche Marketingstrategie verstanden werden«, so Caglar (ebd.: 46f.). Auch Rainer Winter kommt in seiner empirischen Untersuchung von HipHop-Fans zu der Erkenntnis, dass sich »fast alle Befragten von dem ›GhettoFeeling‹ der Musik ab(grenzen)« (Winter 2004: 223) und nur die wenigsten die Hip-Hop-Kultur und ihre künstlerischen Systeme zur Produktion eigener Kunst nutzen. Im Gegensatz dazu gebrauche »der größte Teil der von uns befragten […] HipHopper diese Musikrichtung zur Spezialisierung der persönlichen Identität«, durch die Nutzung des spezifischen Warensegments: »HipHop ist für sie in erster Linie ein Arrangement von Konsumartikeln, bestehend aus CDs, Kleidungsstücken in XXL-Größen, Baseballmützen, Turnschuhen, Kettchen etc.« (Ebd.: 222f.). Hinter diese Kommerzialisierung, Globalisierung und Institutionalisierung der Hip-Hop-Kultur kann nicht zurückgegangen werden. Galt die Rapmusik in ihren Anfängen noch als widerständig gegen ›die kommerzielle Popkultur‹, so werden nun Distinktionskämpfe innerhalb der Hip-Hop-Kultur ausgetragen. Heute lasse sich von einer »›Koexistenz von Subversion und Kommerz‹ […] in sich dynamisch ausdifferenzierenden, lokalen HipHop-Märkten« (Androutsopoulos 2003a: 14) sprechen. Zahlreiche Acts und Künstler bedienen sich der ›Ghetto-Inszenierung‹, um in den Top Ten der Charts zu landen, und stammen selbst aus der ›weißen
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Mittelklasse‹, während andere Gruppen die global verbreiteten symbolischen Formen des Hip-Hop in lokalen Kontexten nutzen, um sie mit eigenen Bedeutungen aufzuladen und »subalterne Sensibilitäten« (Winter 2004: 224) auszudrücken. Die Raptexte erhalten auf diese Weise den Charakter einer Geheimsprache: Winter nennt als Beispiele das parodistische Verfahren des Synifying und sprachliche Taktiken der Vermeidung und Verdrehung, »deren Ziel es ist, bestimmte Bedeutungen vor weißen Zuhörern zu verbergen« (ebd.: 221), weshalb die Texte folglich von majoritären Kritikern als ›sinnlos‹ und ›eintönig‹ fehlgedeutet würden.398 Im Gegensatz dazu findet sich in der Hip-Hop-Kultur eine spielerische und hybride Form des Umgangs mit Sprache, wie Gabriele Birken-Silverman am Beispiel einer ›deutsch-sizilianischen‹ BreakdanceGruppe aus Mannheim analysiert hat: Die soziale Identitätskonstruktion der Gruppenmitglieder findet ihren verbalen Ausdruck auf verschiedenen Ebenen: 1. Konstruktion einer alternativen Identität durch alternative Per sonennamengebung. 2. Konstruktion einer alternativen Identität durch alternative Ortsnamengebung. 3. Identitätsstiftung durch gemeinsames Wissen und gemeinsamen sprachliche Code, gekennzeichnet durch einen gruppenspezifischen Stil mit Fachdiskursen, die die Behandlung bestimmter Themen, Fachterminologie und bestimmte diskursive Praktiken implizieren. Teil des Diskurses ist die Konstruktion eines hybriden sizilianisch-HipHop-spezifischen Wertesystems. (Birken-Silverman 2003: 278f.)
Mit Hilfe der Hip-Hop-spezifischen Sprechhandlungen wie Selbstdarstellung, Boasting und Dissen und der Nutzung von Schlüsselbegriffen wie ›Respect‹ und ›Disrespect‹ konstruieren die Mitglieder die Identität ihrer lokalen Gruppe, in Abgrenzung von anderen Hip-Hop-Gruppen wie auch von anderen Jugend- und Musikszenen. In Raptexten werden »Regionalsprachen, soziale Dialekte, Migrantensprachen und nicht-muttersprachliche Varietäten der Landessprache« (Androutsopoulos 2003b: 120) vermischt. Entscheidend ist dabei, dass diese Distinktionen immer schon im hybriden, artifiziellen Raum stattfinden: Die künstliche Hip-Hop- und Rap-Identi398 | Bei Winter heißt es: »Viele weiße Kritiker der Raptexte, die diese wegen ihres aggressiven und angeberischen Stils als nichtssagend, oberflächlich und eintönig betrachten, erkennen diese unter Druck entstandenen stilistischen Konventionen und Feinheiten nicht, die das heutige afro-amerikanische Englisch prägen. Dagegen zeigt Shusterman (1994) in seiner Analyse, daß viele Rap-Songs sich durch raffinierte und witzige umgangssprachliche Formulierungen, durch den Gebrauch von Sprichwörtern und Klischees, die im Kontext des Rap neue Bedeutungen gewinnen, und durch eine Vielzahl von Bedeutungsebenen auszeichnen, die sie zu komplexen polysemen Texten machen.« (Winter 2004: 221) Dies lässt sich parallel zur überheblichen Lesart der ›Kanak Sprak‹ Zaimoølus durch Teile der Literaturkritik und -wissenschaft betrachten.
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tät kann nicht eine verlorene ›natürliche‹ ethnische Identität ersetzen. Die Gruppenmitglieder »kaschieren […] ihre reale bürgerliche Identität durch sog. Codenamen, die ihre echten Namen durch Klangassoziationen verschlüsseln (z.B. Flavio > Flamingo)« (Birken-Silverman 2003: 281), die Rap-Musik selbst mit ihren Techniken des Sampling, des DJings, des Mixens und des Code-Switchings stellt die Originalität von Kunstwerken fundamental in Frage. Sind die Hip-Hop-Kunstwerke nur Aneignungen von bereits Angeeignetem, so sind auch die Künstler selbst nur souverän in der Collage von Artefakten aus verschiedenen Kulturen; jede Geste der Authentizität ist nur eine Pose, eine Inszenierung.399 Wie aber vollziehen sich die popkulturellen Positionierungen der ›Interviewten‹ in Kanak Sprak und Koppstoff ? Wie nutzen die Figuren den Rap-Code zur Distinktionen von ›den Pop-Alemannen‹? Und in welcher Weise wird die Hip-Hop-Kultur zwischen Kommerz und Subversion präsentiert und reflektiert? Kanak Sprak: ›Kanakischer Rap‹ gegen ›MTV-Popdeppen-Alemannen‹ Die Konstruktion einer dichotomischen Unterscheidung zwischen ›kommerziell-majoritärem Pop‹ einerseits und ›gesellschaftskritisch-minoritärem Rap‹ andererseits ist – trotz aller Problematisierungen und Relativierungen – in den 1990er Jahren noch fundamental für das Selbstverständnis der deutsch-türkischen Hip-Hop-Szenen. »›Rap ist rebellische Musik, Pop dagegen kommerziell‹. […] Die meisten Deutsch-Türken im HipHop-Geschäft (seien es Rapper, Produzenten oder Fans) distanzieren sich ähnlich eindeutig von Pop.« (Caglar 1998: 43) Vergleichbar funktioniert die popkulturelle Positionierung der ›Interviewten‹ in Kanak Sprak: Die ›kanakischen Rapper‹ platzieren sich auf dem Positionsfeld der globalen Musikkultur ganz oben und diffamieren die ›westlichen Popper‹. Schon im ersten ›Protokoll‹ wird diese Distinktion programmatisch gesetzt: Der ›Rapper Abdurrahman, 24‹, greift auf den emanzipatorischen PopBegriff der 1960er und 1970er Jahre zurück, mit dem die Illusionen und Trivialmythen einer weltweiten Befreiung und Gleichheit verbunden gewesen seien: »Pop is ne fatale Orgie […]. Es schafft ne egalität, wo jeder gleich is und keinen feinschliff braucht, nur tausend träume von rittern, die olle jungfrauen wachküssen […]. Pop: die große hure babylon.« (KS 19) Diese Illusionen seien jedoch nur aus dem gut genährten jüngeren Bürgertum gewachsen, das die popkulturelle Revolte zu einer Freizeitveranstaltung gemacht habe: »Für’n popspezi is die schose kloßbrühenklar: werktag is werktag, danach wird sich amüsiert, bis die schellen bimmeln, und dann wieder von vorn wie gehabt« (KS 20). Diese Entwicklungslinie der westlichen Popkultur habe ihre 399 | Mikos verweist darauf, dass die Authentizität im Rap durch spezifische ästhetische Codes vorgespielt werde, vgl. Mikos 2003: 79.
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›Schwundstufe‹ nun im ›MTV-Popper‹ gefunden, der ohne jede Inhalte nur noch oberflächlichen und restringierten Begriffen von Schönheit nacheifere (und vom ›Kanaken‹ in einem Rap-Stil ›gedisst‹ wird): Und der popper, der popdepp eben, der is ja man so jämmerlich blöde, daß die kesseln pfeifen, er sieht mtv und klaubt so viel ollen schotter zusammen, daß er auch schön’n videostrahlemann mimen kann, abends, und weil er, wenn er den mund aufmacht, nur lallen kann, zeigt er stundenlang seine beiden zahnreihen. (KS 21)
›Rapper Abdurrahman‹ verweigert sich gegen die westlichen Pop-Bourgeoisie und deren ›Second-Hand-Kultur‹, er achtet darauf, »daß mir die haut sauber bleibt, dass mir keiner an stil und meinung und mode und trend was anhängt« (KS 22). Er kann also seine ›authentische Identität‹, eine reine Haut, bewahren, wenn er seinen ›Stil‹ und seine ›Mode‹ durchhalten kann: Persönlichkeit entsteht durch popkulturelle Positionierungen. Im dritten ›Protokoll‹ kommt ›Ali, 23, Rapper‹, zu Wort, der einzige ›Interviewte‹, dessen reale Existenz durch den Zusatz »(von ›da crime posse‹)« (KS 27) verifizierbar scheint (s.o.; wobei unklar bleibt, ob Ali Aksoy dieses ›Protokoll‹ wirklich als Interview gegeben hat). ›Ali‹ führt in die Geschichte des Rap ein und nennt dessen erste Etappen: Die Gruppe Zulu Nation mit Afrika Bambaataa, der sich nach einem Zulu-Häuptling nannte und in der New Yorker South Bronx gegen die Kämpfe der Jugendgangs Hip-Hop-Battles organisierte;400 Grandmaster Flash, der die gesamte Bewegung politisiert habe, und Public Enemy mit »chuck d«, der »ne ordentliche runde aufklärung in die gemeinde« (KS 28) gebracht habe und Hip-Hop als das ›schwarze CNN‹ bezeichnete. ›Ali‹ habe Ende 1983 seine erste Gruppe gegründet, 1988/89 sei dann da crime posse, seine aktuelle Gruppe, gegründet worden. Auch wenn diese »soviel heißt wie ›kriminelle vereinigung‹«, sei sein Anliegen – orientiert an den großen Vorbildern –, die Jugendlichen von den Straßen und aus der Kriminalität zu holen: »Wir sind sowas wie kopfgeldjäger, wir jagen die kids auf den straßen […], wir müssen sie anbrüllen, daß sie diese gottverschissenen spritzen und das elende banditengegockele sausen lassen, wir müssen ihnen klare parolen bieten« (KS 29). Während ›Abdurrahman‹ davon berichtet, dass die westliche Popkultur verbürgerlicht sei und ihr emanzipatorisches Potenzial, das ihr in den 1960er Jahren noch zugeschrieben wurde, verloren habe, stellt ›Ali‹ seine Rapmusik in die politisch engagierte Traditionslinie, die aus den 1970er Jahre kommt, und beschreibt sich selbst als ›musikalischen Streetworker‹.
400 | Bis heute engagiert sich Afrika Bambaataa in diesem Sinne. In einer seiner letzten Arbeiten, dem von Chris Cunningham gestalteten Videoclip zu Afrika Shox, bewegt sich ein dunkelhäutiger Mann durch New York und verliert nach und nach seine Extremitäten, bis sein Körper schließlich in tausend Stücke zerspringt, vgl. Cunningham 1999.
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Auch für andere ›Interviewte‹ hat die Hip-Hop-Kultur eine fundamentale Bedeutung. Die Einhaltung des ›Rap-Codex‹ und der ›Respekt‹ der ›Community‹ ermöglichen den Hip-Hoppern eine Identität, die die Abgrenzung gegen ›die Alemannen‹ erleichtert. ›Bayram, 18, Breaker‹ (= Breakdancer) stellt fest, der Rap-Codex schaffe eine Gemeinschaft, die sich dadurch auszeichne, nonkonformistisch und minoritär zu sein (vgl. KS 41f.). Aus dieser Haltung heraus fällt die Abgrenzung gegen ›die Alemannen‹ leichter, wie ›Rahman, 24‹, von der ›Flohmarktdisco‹ berichtet (vgl. KS 121). Die Konstruktion einer artifiziellen Hip-Hop-Identität produziert ein Gefühl männlicher Stärke, aus dem heraus die Distinktionskämpfe gegen ›die Alemannen‹ bestritten werden können. Mit hybriden Kategorien wie ›Stil‹, ›Respekt‹ und ›Codex‹ nutzen die ›Interviewten‹ »Hip-Hop als Arena des symbolischen Widerstands gegen ein essentialistisches Verständnis sozialer Identität« (Androutsopoulos 2003a: 18) sowie als kulturelles Zeichenarsenal, »um ›oppositionelle‹ Identitäten zu konstruieren« und »den dominanten Diskurs über deutsch-türkische Jugendliche zu durchbrechen« (Caglar 1998: 53). Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass sich aus den artifiziellen Posen verschiedene Formen männlicher Abgrenzungen und Aggressionen entwickeln. Die Codierung der Hip-Hop-Kultur als ›männlich‹, sexistisch und homophob wird in Kanak Sprak nicht durchbrochen. »Hip-Hop ist – wie die meisten Popgenres – eine Männerkultur«, schreiben Sascha Verlan und Hannes Loh: »Nicht nur, dass unter den aktiven Breakern, Writern, DJs und MCs nur sehr wenige Frauen sind« (Verlan/Loh 2000: 258), auch in »den meisten Rapsongs tauchen Frauen entweder als Objekt männlicher Begierde oder Verachtung auf.« (Ebd.: 260)401 Auch Homophobie ist in der Hip-Hop-Kultur weit verbreitet, es gibt sexistische und antisemitische Ausfälle sogar von den politisch reflektierteren Bands, das deutsch-spanisch-türkische Projekt Cartel (bei dem Ali Aksoy mitwirkte) wurde aufgrund seiner türkisch-nationalistischen Äußerungen von den faschistischen Grauen Wölfen zu vereinnahmen versucht.402 Es hat sich zudem gezeigt, dass große Teile der Hip-Hop-Kultur kommerzialisiert und institutionalisiert sind. Welche popkulturellen Positionierungen finden sich daher in den ›weiblichen Protokollen‹ von Koppstoff ?
401 | Eine Figur, die den Spieß umdreht und aus weiblicher Perspektive Sexismen auf Männer appliziert, ist beispielsweise ›Lady Bitch Ray‹, hinter der sich die promovierte Linguistin Reyhan úahin verbirgt. 402 | Zur Homophobie in der Hip-Hop-Kultur vgl. Verlan/Loh 2000: 271–275; die Debatten über sexistische und antisemitische Raptexte sind zahlreich, vgl. u.a. Lindemann 2004: 19; zum türkischen Nationalismus von Cartel, vgl. Caglar 1998: 48f.; Verlan/Loh 2000: 153f.
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Koppstoff: Die Kommerzialisierung und Absorption des Rap im ›Mainstream der Minderheiten‹ Zwar beginnt Koppstoff mit dem Rap-ähnlichen Gedicht An Çağil, in dem zu Beginn des Buches (wie zu Beginn eines Rap-Textes) die Gegner ›gedisst‹ und die Eigengruppe ›gehypt‹ wird (vgl. Ko 5), ansonsten können die popkulturellen Positionierungen des Buches jedoch als eine Entgegnung auf Kanak Sprak gelesen werden. Bereits das erste ›Protokoll‹ ist programmatisch und wendet sich gegen den in Kanak Sprak vielfach vertretenen und normalisierten RapStil. ›Nesrin, 24‹, ist ›Rapperin und Street-Fighterin‹ und streitet während einer Hip-Hop-Party »mit einigen Rappern lautstark […]. Sie wirft ihnen vor, zu soft zu sein-« (Ko 11) Während in Kanak Sprak viele der ›Interviewten‹ den HipHop-Codex zur Distinktion von ›den Alemannen‹ und zur Konstruktion einer harten, aggressiven und sexistischen männlichen Identität nutzen, ist ›Nesrins‹ Reaktion darauf, dass diese Form des Widerstands noch zu weich sei. Viele der ›Interviewten‹ sehen als alternative Strategie die »taffe Weiberhärte« (Ko 15), den »Kampf« (Ko 31) und die »Attacke […] inne Alemanfresse« (Ko 135); sie positionieren sich jedoch nicht popkulturell als Hardcore-, Crossover- oder Heavy-Metal-Fans. Diese Form der Distinktionsstrategie wird – im Vergleich der beiden Bücher – als eine ›männliche‹ präsentiert, die den ›Protokollen‹ aus Koppstoff äußerlich bleibt. Nur an einer weiteren Stelle wird der Diskurs über die emanzipatorische Wirkung der Popkultur thematisiert, allerdings kritisch und im Sinne der Debatte über den ›Mainstream der Minderheiten‹. ›Ferah‹, eine ›Studentin der Film- und Fernsehwissenschaften‹, die als Expertin für die politische Wirkung von Medien und Künsten gelten soll, reflektiert unter dem Titel ›Sistem gegen süppkültür‹ die Wirkungslosigkeit subkultureller Szenen und die Lächerlichkeit des Beharrens auf ihrem subversiven Potenzial. Die Subkultur sei »die reinste Funktion« und »son Zirkelding, worin alles und jeder verreckt«. Es sei nur eine Utopie, dass die »Süppkültür ihren Sprengtag und ihren Tattag« haben werde, bis dahin würden weiterhin viele belanglose Spiele um Outfits, Filme, Platten und Bücher, Meinungen und Statements gespielt werden, aber letztlich absorbiere die hegemoniale Kultur die Produkte und Köpfe der Subkultur: »Tipptopp ist dies Loser-Tamtam, weil die Industrie den Systemfresser einstellt, und Kritik-Pop und AIDS-Pop und Anti-Aleman-Pop und dein Kanak-Attak-Scheiß stehn schön Schmiere fürs System, weil ihr und wir und alle Welt Lärm machen für Monete und quengeln für bare Münze.« (Ko 17) Doch nicht nur die drohende Kommerzialisierung aller Subkulturen, die – wie gezeigt – im Fall der Hip-Hop-Kultur zurzeit der Buchveröffentlichung bereits schon längst vollzogen war, sondern auch die generelle Absorption jeder gesellschaftlichen Gegenbewegung durch ›das System‹ wird von ›Ferah‹ – in einem systemtheoretischen Sinne – mit Fäkalmetaphern dargestellt: Das System sei wie »Hundescheiße«, »Ausschiss-Arsch und Klobecken« (Ko 19).
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4.2.5. Attacke und Aufklärung, Revolutionär und Islamist, Underground und Ghetto. Topoi der Subversion Auch in Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ finden sich zahlreiche Topoi der Subversion, die auf eine spezifische Weise verwendet werden. Im Folgenden sollen Strategien der Subversion wie Auf klärung, Verweigerung, Attacke und Geheimsprache, das Personal der Subversion anhand dreier Beispiele, dem Auf klärer, dem Islamisten und dem Revolutionär, sowie die Orte der Subversion als Gänge und Brücken zwischen ›Ghetto‹ und ›Deutschlandsiedlung‹ untersucht werden. Die entscheidende Fragestellung ist dabei, welche Topoi der Subversion in der ›Kanak Sprak‹ überhaupt auftauchen und vor allem, wie sie genutzt werden. Lassen sich Strategien der Subversion heute noch realisieren oder stehen sie in einem Widerstreit miteinander? Schaffen es subversive Personen wie der Aufklärer, der Islamist oder der Revolutionär, ihre subversiven Praktiken zu realisieren – und stehen sie dabei in einem Widerstreit miteinander? Welche Orte werden als solche der Subversion gezeichnet? Lassen sich von ihnen aus erfolgreiche ›Kriege‹ führen? Auf klärung, Verweigerung, ›Attacke‹ und Geheimsprachen. Strategien der Subversion In Kanak Sprak und Koppstoff reflektieren, kritisieren und nutzen die ›Interviewten‹ unterschiedliche Strategien der Subversion, die sich unter den Schlagworten Aufklärung, Verweigerung, ›Attacke‹ und Geheimsprachen fassen lassen. Die Texte diskutieren diese unterschiedlichen Strategien nicht mit- oder gegeneinander, vielmehr werden diese von den unterschiedlichen ›Interviewten‹ nebeneinander gestellt wie ein Patchwork subversiver Strategien, das schließlich konkrete Veränderungen produzieren soll. Einige ›Protokolle‹ in Kanak Sprak beziehen sich also auf die Geschichte des Hip-Hop, die mit dem Begriff der »aufklärung« (KS 28) verbunden wird. Während die ›männlichen Protokolle‹ häufig den Codex des Rap und Selbstbeschreibungen von ›Kanaken‹ als ›Streetworker‹ mit Vorbildfunktion präsentieren, enthalten die ›weiblichen Protokolle‹ in Koppstoff klare politische Positionierungen und Botschaften mit aufklärerischem Charakter. Bereits im einleitenden Gedicht bezieht das Buch Stellung gegen »diese lautemperierten« und die »mannskerle[ ]« in ihrem »bürgerlichen wohnzimmer« und solidarisiert sich mit den widerständlern, freien partikeln, den taffgören, den werkwilligen im üntergründ, den agenten im mainstream, den drillichzerfetzern,
Minoritäten, Literatur und Subversion der getarnten bösen brut, den kriegern aller stämme, dem nachtgeschmeiß, der asylantenflut, den rassenschändern, den redskins, dem metropolenmenschenmüll (Ko 5).
Dieses ›Patchwork der Minderheiten‹ entwickelt jeweils unterschiedliche subversive Strategien. Lassen sich die ›Protokolle‹ als Gegendiskurs und Dekonstruktion der binären Matrix von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ lesen, so enthält Koppstoff zusätzlich kapitalismuskritische Passagen. Die ›Anarchistin Gül, 21‹, »lebt in einem besetzen Haus in Berlin«, sie greift fundamental die kapitalistische Idee des Privatbesitzes an (vgl. Ko 30). Zudem formulieren die ›Protokolle‹ ganz simple ›Wahrheiten‹, die jedoch auf großen theoretischen Erkenntnissen beruhen und diese in den literarischen und den Alltagsdiskurs transportieren. »Ich will nicht so leben wie meine Eltern oder die meisten Deutschen hier. Ich sehe keine großen Unterschiede zwischen der deutschen Durchschnittsfamilie und der türkischen« (Ko 128), beschreibt die ›17jährige Schülerin Nilgün‹ und fasst damit die Ergebnisse von interkultureller Generationsforschung und die Bedürfnisse der ›zweiten und dritten Migrantengeneration‹ paradigmatisch zusammen. Ähnlich wird die ›Gemüsehändlerin Mihriban, 30‹ zur Vermittlerin von Postmoderne und Globalisierung: »[…] wer hat heutzutage eine Heimat? Das ist ein altmodisches Wort. […] Heute brauche ich keine Heimat. […] Ich sehe, daß das im Leben eines Menschen nur die Bedeutung hat, die man ihm gibt.« (Ko 42f.) Neben diesen aufklärerischen Positionen, die sich aus einem Bewusstsein speisen, das Verständnis für die minoritären wie die majoritären Milieus hat und diese zu vereinen versucht, gibt es die aggressive Position der Verweigerung gegenüber der ›alemannischen Mehrheitsgesellschaft‹, die vor allem von den ›Männern‹ in Koppstoff eingenommen wird. Der ›Kfz-Geselle Hakan, 22‹, sieht sich »in der liga der verdammten« spielen, weist die Schuld daran dem »ochsige[n] alemannen« (KS 84) zu, der auf den ›Charts der Völker‹ noch unter den »niedrigste[n] und sperrigste[n] aus’m asiatenreich« (KS 85) anzusiedeln sei. Gegen die verdorbene ›alemannische Kultur‹ könnten sich ›die Kanaken‹ nur durch ihre vollständige Verweigerung schützen: Mein ruf an die kanaken in alemania is: […] Wenn ihr die hand gebt dem unbeschnittenen, vergeßt nicht, daß er auch seine eigene mutter auf’n strich schicken würde, wenn genug schotter für ihn herausspringt. […] Ich ruf den brüdern zu: bildet ne stramme einheit, und haltet euch fern von den psychogemetzeln, die da in alemania toben. Verderben ist der stammname des blonden teufels. (KS 86)
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Während die ›alemannische Kultur‹ als autoritär, familienfeindlich, anti-traditionell und psychotisch dargestellt und verteufelt wird, werden ›die Kanaken‹ aufgerufen, sich als Gruppe zu vereinigen und von dieser Kultur aggressiv abzugrenzen. Auch der ›Arbeitslose Ulku, 28‹, der in der ›alemannischen Gesellschaft‹ in doppelt – d.h. ethnisch und sozial – marginalisierter Position lebt, sieht sich als »reicheleutehasser« und »ollen kanaken mit nem heißen brandstempel auf der stirn, wo der man heißt: ich bin und bleib’n hasser eurer scheißregeln.« (KS 135) Bei ›Hakan‹ und ›Ulku‹ wird die Abgrenzung von der ›alemannischen Mehrheitskultur‹ jedoch nur als individuelle bzw. gruppenspezifische Verweigerung dargestellt; in zahlreichen ›weiblichen Protokollen‹ in Koppstoff wird zur ›Attacke‹ aufgerufen: Gegen die Gewalt der ›Alemannen‹ müssten sich die ›Kanaken‹ organisieren und zurückschlagen. Programmatisch für diese kühnere und zugleich brutalere (weibliche) Herangehensweise, der gegenüber ›Ali‹, ›Bayram‹ und ›Ercan‹ als ›verweichlichte Männerdarsteller‹ erscheinen, ist das erste Protokoll der ›Streetfighterin Nesrin, 24‹, die paradigmatisch erklärt: »Mein Tarif is nicht ne Latinoguerilla, wo die hier ne nasse Möse kriegen von Che Guevara, mein Tarif heißt Fight, Fight und nochmals Fight von Sonneauf bis Sonneunter!« (Ko 13) Auch die ›Schauspielerin Belhe, 30‹, sieht »nur eine Lösung«: »Rassenterz auf Germanys sicheren Straßen, Skinpogrom im Gottlosquartier: eine Menge Kadaver, eine Menge Ärger auf n Schlag los.« (Ko 72) Sie stellt die rhetorische Frage: »glaubst du, da wird was besser durch Friedenflüstern und Plakatpinnen und Kerzenscheinketten?« Und gibt die Antwort: »Nur wenn die Faust inne Fresse kracht, ist das Ding rund.« (Ko 73) Diese und weitere Beispiele403 für die ›weiblichen Aufrufe‹ zur Attacke und zur Gewalt gegen ›die Alemannen‹ zeigen, dass in Koppstoff der physische Widerstand und Kampf als subversive Strategie eine wichtige Rolle spielt.404 Neben Aufklärung, Verweigerung und ›Attacke‹ wird eine weitere, subtilere Strategie in vielen Protokollen beschrieben oder empfohlen: die Nutzung 403 | Auch in anderen ›Protokollen‹ finden sich diese aggressiven Frauentypen: ›Nilüfer, 36‹, erhebt den Kampf gegen ›die Alemannen‹ zur Strategie der Befreiung: »Also ist unser aller Befreiung: den Urdeutschraum zu zerschlagen.« (Ko 101) Konkret kann das bedeuten, dass sie den »Deutschen […] den Teller Pennersuppe ins Gesicht« (Ko 97) wirft. Die ›Arbeitslose Sevda, 24‹, hält es für »[v]öllig falsch, sich rauszuschleimen«, im Gegensatz dazu startet sie einen Aufruf: »Attacke, Bruder, da schmeißt unsereiner die Falkenluft von da oben inne Alemanfresse, und ab geht die Party, und keine Faust schmettert härter. Yoo!« (Ko 135) Die ›Anarchistin Gül, 21‹, beschreibt ihre Kämpfe gegen »die Faschos«: man müsse »die Schweine aufspüren und trockenlegen: hartes Gericht, daß ihnen die Nacken knacken.« (Ko 30) 404 | Zudem verdeutlichen sie, dass die binäre Geschlechtermatrix in Kanak Sprak und Koppstoff nicht dekonstruiert wird, sondern dass die Frauen in Koppstoff gleichsam zu Männern verhärtet und dadurch ›emanzipiert‹ werden.
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von Geheimsprachen und -codes. Schon die hybride Gestaltung der ›Kanak Sprak‹ selbst lässt sich als Nutzung von Geheimcodes beschreiben, da sie nur vordergründig einen restringierten Ethnolekt abbildet und dessen ›Authentizität‹ vortäuscht, während sie zugleich hochsprachliche und -kulturelle Varietäten und Intertexte, sogar politische Botschaften, Distinktionen und Aufrufe zur ›Attacke‹ transportiert, die in spezifischen Milieus als ironische Abgrenzung gegen einen ›alemannischen Mainstream‹ und als Orientierungshilfe zur Konstruktion einer eigenen Identität verstanden werden können. Einige der ›Interviewten‹ verweisen zudem darauf, dass ihr Sprechen mit der Nutzung geheimer Codes zu vergleichen sei, dass es in ihrer Position im Überlebenskampf in Deutschland unabdingbar sei, sich zu tarnen und Geheimsprachen zu nutzen oder geheimes Wissen anzuhäufen. Der ›Gelegenheitsstricher Dschemaleddin, 20‹, vergleicht seine – im Vergleich mit den anderen ›Protokollen‹ – relativ hermetische Rede mit einem »Morsezeichen« (KS 60), das er in die Welt sendet, und nur von denen verstanden werden könne, die in der Lage sind, den Code zu decodieren. Der ›Soziologe Kadir, 32‹, dessen ›Protokoll‹ eine kritische Tirade gegen die »fehlerhafte[ ] Orthodoxie« (Ko 103) der männlichen Vertreter der ›ersten Migrantengeneration‹ ist, stellt heraus, dass er diese Position nur durch geschicktes Auftreten aus einem ›Untergrund‹ heraus bewahren könne: »Diese Idee des untergründigen, des erosierten geheimmaterials, der in die versenkung, in die blickdichten abgründe abgeglittenen stoffe, hat mich nie wieder verlassen, und ich glaube, dass ich deshalb ein typisches kind des ostens bin.« (KS 100) ›Kadir‹ beschreibt die Herkunft geheimer Sprachen und einer Position des Untergrunds als eine aus dem Osten bzw. dem Orient und verbindet diese mit dem Kampf aufgeklärter Wissenschaftler (er ist Soziologe, der exilieren musste) gegen einen konservativen und anti-intellektuellen islamischen Mystizismus – diese Struktur sei in ähnlicher Weise auch im Westen konstruierbar. Eine vergleichbare Untergrundposition, die sich in einer strategischen und nur scheinbaren Unterwerfung niederschlägt, aus der subversive Kraft zu gewinnen ist, nimmt die ›Philosophie-Studentin Gönül, 25‹, ein, die – im Gegensatz zu den meisten Deutschen, wie sie sagt – der deutschen Hochsprache problemlos mächtig ist, jedoch spielerisch falsche Formulierungen nutzt: Und das Imperativ, da gibt es diese Ahhs und Ohhs, wenn das Imperativ dahergrölt und sich im Rausch einstimmen kann, dieser falsche Artikel ist übrigens so eine Art Kunstgriff von mir, ich sage das Imperativ, damit diesen öligen Clubphilosophen das Gesicht abrutscht, damit sie diese Grämfärbung, dieses Kummerrot, diesen Richtigstellerdünkel herauskehren können. Plötzlich spielt nämlich die Grammatik in die Pampe hinein, also etwas, was sie die ganze Zeit meinen: Du als Anatolierin, als kurzbeinige Frau, du mit deinem Abitur, nun gut, das können wir ja irgendwie nachvollziehen. Aber bei so einer ernsten Sache wie dem Imperativ mußt du aufpassen. Da hört der Spaß auf, nimm uns das nicht übel, und wir meinen es wirklich gut mir dir, aber eben der und nicht das
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Literatur und Subversion Imperativ. Und ich sage: das Imperativ. […] Weißt du, das freut mich so höllisch, mit einem falschen Artikel sprengst du Dutzende Telegraphenmasten, die kopfmutierte Philosophie mündet in der Lehrstunde Deutsch für Ausländer. Ich liebe diese herrlichen Dahaben-wir-den-Salat-Erkenntnisse! Aber intelligent, bitteschön. (Ko 108f.)
Das grammatikalisch falsche Deutsch der ›Kanakin‹ wird, selbst wenn sie zuvor ihre Fähigkeit zur Partizipation an einem intellektuellen philosophischen Diskurs bewiesen hat, von ›den Alemannen‹ zum Ausschluss benutzt, obwohl dies weder ein hinreichender Grund sein müsste noch den tatsächlichen Fähigkeiten der ›Kanakin‹ entspricht. Diese konstruiert sich selbst eine erhöhte Position über dem Sprach- und Bewusstseinsstand der ›Alemannen‹, die sie allerdings weder mit diesen noch mit den meisten anderen ›Kanaken‹ teilen kann. Zumindest stützt diese provozierte Ausschlussgeste bei ›Gönül‹ die Ausprägung einer starken Identität, die sich gerade aus dem Ausschluss ergibt. Defensiver funktioniert die Taktik der Tarnung beim ›arbeitslosen Faruk, 26‹, der seine Lebensrealität als einen geradezu sozialdarwinistischen Lebenskampf beschreibt (vgl. Ko 75), in dem es für ihn unabdingbar sei, sich zu ›verstecken‹: Das ist nämlich ne kunst, sich bedeckt zu halten, die olle tarnung ist wesentlich, wenn du beim pirschen auf’n zweig trittst, haut das wild ab, und du kannst denn noch so wild die flinte heiß ballern, erwischen tust du nix und niemand. (KS 75)
Strategien der Subversion wie Aufklärung, Verweigerung, Attacke (also die Anwendung physischer Gewalt), die Nutzung von Geheimsprachen und Sprachspielen werden in den ›Protokollen‹ von Kanak Sprak und Koppstoff thematisiert und präsentiert. Die ›Interviewten‹ berichten davon, dass sie diese Strategien in ihrem täglichen Daseinskampf in Deutschland erfolgreich anwenden würden und empfehlen somit die Anwendung dieser Strategien. Die unterschiedlichen ›Protokolle‹ diskutieren nicht, welche Strategie besser oder obsolet sei; gerade die Vielfalt der Strategien, auf die man zurückgreifen könne, sei wichtig für die politischen Auseinandersetzungen. Auf diese Weise verbinden die Bücher traditionelle Konzepte des Widerstands wie physischen Kampf (Attacke!), die generelle Verweigerung oder die klassische Aufklärung mit subversiven und künstlerischen Konzepten wie Geheimsprachen und Sprachspielen. Auf klärer, Islamist und Revolutionär. Das Personal der Subversion In Kanak Sprak und Koppstoff tauchen insgesamt 50 ›Interviewte‹ auf. Während es sich in Kanak Sprak vor allem um sozial schwache, randständige und arbeitslose Figuren handelt, nehmen die Figuren in Koppstoff größtenteils am normalen Erwerbsleben teil oder sind Schülerinnen und Studentinnen. Fast alle Figuren arbeiten mit ihren ›Protokollen‹ an der Dekonstruktion der dichotomischen Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, ›den Deutschen‹
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und ›den Alemannen‹. Unter diesen Figuren sind zudem zahlreiche, die sich Personen der Subversion bezeichnen lassen (und deren Positionierungen in den Textanalysen bereits untersucht wurden). Dabei handelt es sich um –
– – –
Vertreter von jugendlichen Subkulturen, hier der Hip-Hop-Kultur, wie ›Abdurrahman‹ (KS 19ff.), ›Ali‹ (KS 27ff.), ›Bayram‹ (KS 39ff.) und ›Nesrin‹ (Ko 11ff.); Figuren, die einen Geschlechter(rollen)tausch vollziehen, wie die ›Transsexuelle Azize‹ (KS 27ff.) oder den ›Gigolo Ercan‹ (KS 67ff.); den ›Wahnsinnigen Dervisch‹ (KS 55ff.) und den ›Junkie Kücük Recai‹ (KS 104ff.); die politisch aktive ›Anarchistin Gül‹ (Ko 29ff.).
An dieser Stelle sollen zusätzlich drei weitere Protokolle besprochen werden. In den ›Protokollen‹ des ›Soziologen Kadir‹ (KS 100ff.) und des ›Islamisten Yücel‹ (KS 137ff.), das Band abschließt und an prominenter Stelle steht, kämpfen der rationale Aufklärer und der radikale Islamist um die Geltungsansprüche des Islam. ›Kadirs‹ Monolog ist eine Entlarvung der doppelmoralischen Ideologie der männlichen Vertreter der ›ersten Migrantengeneration‹, die sich nicht um ihre notwendige Integration in die deutsche Gesellschaft bemüht hätten, weil sie den Gedanken an die Rückkehr in die Türkei nicht aufgeben wollten, der aber nur noch eine Illusion sei. So hätten sie sich in einer reaktionären Position zwischen den sich weiterentwickelnden Kulturen eingerichtet, sie seien »fürchterlich schlecht gekleidet«, »ernähren sich […] ungesund[ ]« und beharrten auf konservativen und prüden Vorstellungen von Familie und Sexualität (vgl. KS 101). Sie lebten in »nostalgie« und »haß«, sprächen weder gutes Deutsch noch gutes Türkisch und hätten eine »erbarmungslose schwäche für kitsch« (KS 102). Zudem folgten sie der Tradition des Islam, in Abgrenzung von den emanzipatorischen Ideen der westlichen Kulturen: Sie sind mümmler über gebundenen heiligen büchern, in denen kryptische lettern zum hohelied des zürnenden zusammengebacken wie in stein gemeißelte inschriften anmuten. […] man (hat) sie geheißen […], daß die ehre auf dem spiel steht und die siebenschlössige unschuld des weibes. Und einige lassen das weib in einem abstand von sieben schritten folgen, die […] ihre blößen züchtig bedeckt zum wohlgefallen des mannes. Und sie sagen in schwachen momenten: sieben freunde kenne ich: freundlich gereichtes brot, lammfleisch, kühles wasser, weiche kleider, lieblichen duft, ein bequemes bett und den anblick dessen, was schön ist. (KS 102f.)
Die Figur ›Kadir‹ tritt auf als ein moderner Auf klärer, der die reaktionäre, romantisierende und mystische Konservativität und Religiosität der Väterordnung einer radikalen Kritik unterwirft. Zudem zeigt er deren Effekte auf: Den Hass gegen ›die Alemannen‹ und die systematische Unterdrückung der
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Frauen, die zugleich verborgen werden hinter einer Fassade aus Kitsch und vormodernen Fantasien. Diese Ideologie sei – darin ist ›Kadir‹ Kants Auf klärungsgedanke ganz nahe – Ausdruck einer »selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1993: 53), denn zwar gäben die Gläubigen vor, die heiligen Bücher zu lesen, in Wirklichkeit täten sie jedoch das, ›was ihnen geheißen‹. ›Kadirs‹ Präsenz in Kanak Sprak ist die eines wissenschaftlich legitimierten Rufers gegen die schlechte Realität, der die Macht der »alten männer« (KS 105) fundamental in Frage stellt und somit als ›subversive Person‹ beschrieben werden kann. Nun schließt allerdings ein junger Mann, der ›Islamist Yücel, 22‹, den Kanak-Sprak-Band ab, und hält genau jene Rede, die ›Kadir‹ diffamiert hat. ›Yücels‹ ›Protokoll‹ ist eine ›heilige Rede‹ und als solche durchdrungen von religiösen Beschwörungen, sie beginnt mit »Im namen des allerbarmers, des gnadenvollen« (KS 137), wird mehrfach unterbrochen von der Wendung ›Gott erhöre mich‹ und schließt mit der Floskel »So spricht yücel, gottes knecht und ergebener diener.« (KS 141) In seinem Monolog zeichnet ›Yücel‹ Deutschland als ein »ungläubige[s] land« (KS 138), in dem die Jugendlichen durch die westlichen Werte verführt würden und in dem die Geschlechterverhältnisse in Unordnung geraten seien. Es herrsche sogar ein »bürgerkrieg zwischen mann und frau«, der dazu führe, dass die kinder »ihr urvertrauen« verlören. In ›Yücels‹ Kritik am verdorbenen Westen mischen sich antisemitische Elemente, er nennt die emanzipierten Eltern im Westen »philister und pharisäer« (KS 139) und empfiehlt den Kindern, zu fliehen aus »dieser zinsfressergemeinschaft«; stellt fest: »Die hure babylon zeigt ihre fratze, sie, die herrin über tausend schleichwege und intrigen.« (KS 140) ›Yücel‹ selbst tritt für jene Werte ein, die ›Kadir‹ zuvor einer fundamentalen Kritik unterworfen hat, und nimmt in Kauf, dafür als Fundamentalist kategorisiert zu werden: Ich […] esse koscheres geschächtetes fleisch, halte von mir fern glücksspiel, zins und zinseszins, unzüchtige berührung mit einer nicht vom herrn zugeschriebenen frau, ich vermeide die gesellschaft der glaubensspötter und baalanwinsler, ich suche nicht auf jene tempel, in denen sie ihrer sexualnot genügen […]. […] die tödlichste waffe des gläubigen gegen baals tempel und das sündige system ist radikale und fundamentale ablehnung all dessen, was krieg führt wider gott, die völlige nichtbeteiligung, und so sollen sie uns hassen als fundamentalisten, das ist eine auszeichnung, das ist uns ganz recht. (KS 141 u. 140)
Zwischen ›Kadirs‹ und ›Yücels‹ ›Protokollen‹ ergibt sich somit eine direkte Spannung, ein eindeutiger Widerspruch: Während ›Yücel‹ sich als ›Islamist‹ gegen die Werte der westlichen Aufklärung stellt und aus minoritären radikalreligiösen Position heraus gegen ›den Westen‹ polemisiert, diffamiert ›Kadir‹ auf dem Fundament der westlichen Aufklärung jene Milieus, in denen sich noch immer die reaktionären islamistischen und patriarchalen Verhältnisse
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fortsetzen. Während in Thomas Meineckes Tomboy die Auseinandersetzung zwischen den Gender-Studies-begeisterten Protagonistinnen und der terroristischen Kleingruppe am Ende des Romans zu einer Lösung gebracht wird (die Terroristen landen im Polizeigewahrsam, die queeren Heldinnen gehen tanzen und ›gewinnen‹ den Vergleich),405 findet eine ähnliche Auflösung hier nicht statt. Die beiden völlig unvereinbaren Positionen koexistieren im Buch und belegen die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der ›migrantischen Submilieus‹, die eben nicht als ›das Fremde‹ homogenisiert werden können. Einer deutlichen Bewertung unterzogen wird allerdings die subversive Figur des Revolutionärs. In Kanak Sprak erzählt der ›Asyl suchende Revolutionär Tolga, 29‹ (KS 127ff.), seine Geschichte des Scheiterns, die Pars pro Toto für die Geschichte revolutionärer Bewegungen und Konzepte zu stehen scheint. ›Tolga‹ war in seinem Heimatland im politisch-revolutionären Kampf aktiv, allerdings habe ihn dieser Kampf in vielerlei Hinsicht in eine katastrophale Situation gebracht. Die Agenten des Systemfeindes seien zu übermächtig gewesen und hätten die sieben Mitglieder seiner ›Kampfzelle‹ entweder getötet oder verrückt gemacht, ihn selbst eingeschlossen: zwei wurden hingerichtet, eine genossin bei einer razzia erschossen, der vierte schoß sich selbst in den mund, daß seine eigene mutter ihn wahrscheinlich nicht wiedererkannt hat, von einem anderen fehlt jede spur, der sechste pißt nachts ins bett vor lauter angst, sie könnten ihn abholen kommen, und ich, der letzte im bunde, laufe kaputt und in den arsch gefickt und mit dreißig in der gegend herum. (KS 131)
›Tolga‹ sei einst in eine Zelle gesperrt und von vier Kriminellen vergewaltigt worden, seitdem sei er impotent: »der revolutionär und sein schlapper schwanz, was für ein blöder witz.« (Ebd.) Seither fühle er sich wie »eine nippesfigur« der Revolution und habe schwere psychische Probleme. Seine »schizophrenie« (KS 129) stamme jedoch vor allem aus der widersprüchlichen Situation, in die ihn seine Verfolgung gebracht habe: »ich habe gegen die bourgeoisie gekämpft im eigenen land und floh in ein anderes, wo es eine fettere ausgabe derselben gibt, und die ich anbettele, mich aufzunehmen. Also ein ziemlicher witz.« (KS 128) Die Begeisterung für Formen politisch-revolutionärer Subversion führe, so ›Tolga‹, zwangsläufig in den Tod oder in schwere psychische Probleme sowie letztlich in aporetische Positionen, die weit entfernt seien von den ursprünglichen Zielen. ›Tolga‹ ist somit ein literarischer Abgesang auf die Figur des subversiven politischen Revolutionärs.
405 | Vgl. Unterkap. 3.2.4.
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Gänge und Brücken zwischen ›Ghetto‹ und ›Deutschlandsiedlung‹. Topographien der Subversion Rebekka Ladewig stellt fest, dass Grenzen »nicht als distinkte Linie oder hermetische Abdichtungen zwischen Eigenem und Fremdem, Ich und Anderem, Innen und Außen, Hier und Dort denkbar sind«, sondern vielmehr »fragile Gebilde« und »vorläufig« (Ladewig 2005: 769) seien, wovon literarische Texte zeugten, indem sie Bewegungen und Übergänge thematisierten. Zu untersuchen ist im Folgenden, welche Topografien des Randes und des Zentrums sowie der Grenzen zwischen diesen Bereichen in Kanak Sprak und Koppstoff konstruiert und in welcher Weise diese als ewig oder temporär, fest oder beweglich, unüberwindbar oder überwindbar beschrieben werden. In seiner Einleitung zu Kanak Sprak berichtet Zaimoğlu, dass er für seine ›Recherche‹ abseitige Orte habe aufsuchen müssen: »Ich tauchte ab in den ›Lumpen-Hades‹, suchte den Kanaken auf in seinen Distrikten und Revieren, Ghetto-Quartieren und Stammplätzen, in seinen Verschlägen und Teehäusern.« (KS 15) Damit wird bereits vor dem ersten ›Protokoll‹ markiert, dass die Texte aus einem Untergrund oder Randbereich der deutschen Gesellschaft gesprochen würden, worauf auch der Buchtitel prominent verweist: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Die Bezüge auf die Orte des Ausschlusses in den ›Protokollen‹ sind zahllos, zumeist werden die Orte negativ konnotiert und als räumliche Benachteiligung empfunden: »Hier unten ist’s zum erbarmen« (KS 24), sagt ›Akay‹, der seinen Wohnort als »unser Ghetto« (KS 25) bezeichnet. »Unten also«, sagt auch der ›arbeitslose Faruk‹, »suhlt sich das viech, das primitiv gestrickte« (KS 74f.).406 Der Ausschluss habe auch Folgen für die eigene Kultur und Religion, denn »[l]eider werden vor allem Moslems in Deutschland stark diskriminiert«, was sich auch, so die ›Jura-Studentin Hatice‹, in Debatten über den Gebetsruf zeige (vgl. Ko 69). Auch ›Zeynep‹ beschreibt »das Ghetto« als eine »Erosion, und alle Reviere und Kampfviertel stinken und erbrechen.« (Ko 80) Der Lädenmix in den ›Türkenbezirken‹ sei beschränkt, die ›Schülerin Nilgün‹ sucht vergeblich nach Orten, an denen sie am ›westlichen Kulturleben‹ teilhaben könnte; die ›arbeitslose Sevda‹ sieht in ihrem Leben ›auf der Straße‹ sogar einen täglichen und animalischen Kampf ums Überleben (vgl. Ko 125 u. 132). Einerseits werden die Orte des Ausschlusses, die als ›hier unten‹, ›das Ghetto‹, ›Homeland‹, ›Kampfviertel‹, ›Türkenbezirk‹ oder ›Straße‹ bezeichnet werden, als kulturlos, unsicher, gefährlich, erbarmungslos beschrieben. Andererseits gibt es jedoch ebenso viele Bezüge auf die Orte des Ausschlusses, die
406 | Die ›Anarchistin Gül‹, die nun in einem besetzten Haus lebt, vergleicht den Wohnort ihrer Familie gar mit den südafrikanischen »Homelands« (KS 31) der Apartheid (mit diesem Begriff bezeichnet ›Nilüfer‹ allerdings an anderer Stelle das Land, aus dem sie aus politischen Gründen nach Deutschland fliehen musste, vgl. KS 97).
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diese positiv konnotieren, und ›das Ghetto‹ als einen Rückzugs- und Heimatort gegen die Anfeindungen und die Werte ›der Alemannen‹ idealisieren. Diese Wertung leitet sich vor allem aus den Codes der Hip-Hop-Kultur ab, in denen das eigene Viertel bzw. der eigene Block zum Revier hypostasiert wird, über das ›die Gang‹ ihre Macht ausübe.407 ›Rahman‹ beschreibt diese Aneignung des Reviers wie einen Kampf um ›Blut und Boden‹: »Die jungs straffen denn da ne schnur und dort ne schnur und sagen: ist mein revier, schöne gute erde, und wer da’n fuß setzt, kippt gleich man um zur übung, daß er weiß, wer da die herde hüten tut und herr is über’n hieb.« (KS 116) Der ›Dichter Memet‹ romantisiert die »deserteure« (KS 108), die »halbstarken«, die »jungs«, das »rudel«, die »gang«, die »das wahre lumpenproletariat« darstellten (KS 109). Auch wenn es nicht die Meinung des ›Rappers Ali‹ ist, so weiß er doch: »Für viele ist der schmutz auf den straßen die reinste mystik« (KS 33). Während in den ›männlichen Protokollen‹ der Kampf um ›das Revier‹ als eine reale, physische Auseinandersetzung beschrieben wird, sieht ›Zeynep‹ in Koppstoff darin einen symbolischen Kampf um ›Mode‹ und ›Ehre‹ (vgl. Ko 82). Die positive Aufladung des ›Ghettos‹ steht somit in einer direkten Verbindung mit nach innen gerichteten Kämpfen um die Macht im ›Revier‹; das ›Ghetto‹ wird jedoch auch als Ausgangspunkt für den Kampf gegen die ›deutsche Mehrheitsgesellschaft‹ und deren Hegemonieansprüche genutzt. Einerseits wird ›das Revier‹ als militärischer Rückzugsort für den Krieg gegen ›die Alemannen‹ beschrieben: ›Ulku‹ vergleicht seine Situation mit der eines »partisan[en]«, der »wartet auf’n feind« und »will anner heiklen grenze stehn als ganzer mannskerl und irgendnen busch scharf ins visier nehmen, und alle ladung beim kleinsten blätterzittern abpulvern«, denn »dann erst kann sich’n partisan sinnvoll vorkommen.« (KS 133) Das ›Ghetto‹ sei für einen solchen ›Krieg‹ ideal, weil es genug Nischen und Verstecke für die Kämpfenden biete, die von ›den Alemannen‹ nicht entdeckt würden, weiß ›Suzan‹: »Ich setz mich in ne nische, da sind zehn Verstecke, und in jedem Versteck hundert Baumhöhlen, und in jeder Baumhöhle…, na ja, kannst jedenfalls abhaken bei mir von wegen einziger Wohnsitz.« (Ko 40) Doch nicht nur innerhalb des ›Undergrounds‹, in den man abgetaucht sei (vgl. KS 31), finden sich diese Nischen und Verstecke; es gibt auch die Vision, vom ›Ghetto‹ aus Tunnel in das Zentrum der Mehrheitsgesellschaft zu buddeln und diese somit zu unterwandern, die allerdings immer nur in den ›weiblichen Protokollen‹ geäußert wird (während die Männer aus Kanak Sprak die Kämpfe im ›Ghetto‹ selbst führen, wie gezeigt): ›Studentin Ferah‹ verweist darauf, dass in ihrem Milieu geradezu ein Wettbewerb um die Frage: »Wer ist 407 | Diese Strategie hat bereits ihren Weg in die deutsche Hip-Hop-Kultur gefunden. Der Rapper Sido aus Berlin landete 2004 mit seinem Hit Mein Block in den Charts. Sido beschreibt darin das Leben im Märkischen Viertel in Berlin, stammt selbst aber aus einem bürgerlichen Milieu, vgl. Sido 2004.
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der taffste Wühler, und wer kann die längsten Gänge höhlen« (Ko 17) ausgetragen werde. Die ›Abiturientin Oya‹ referiert den deutschen Mediendiskurs, der ›die Kanaken‹ als eine Bedrohung zeichnet, weil sie ›die deutsche Leitkultur‹ unterwanderten: »Wir haben keine Luxuslust auf Ghettotürkiye erfunden, man sagt aber über uns, wir wühlen uns durch zu heimlicher Hauptstadt mitten unter der Mehrheit« (Ko 85). Die Trennung zwischen ›der Mehrheit‹ und ›den Kanaken‹ wird von der Polizei repräsentiert und personalisiert, die als Exekutive für die Sicherung der Grenze sorgt (KS 45). Interessant ist hier jedoch, dass die Grenze zwischen ›Kanaken‹ und ›Wärtern‹ inzwischen überschreitbar scheint. Der ›Rapper Ali‹ gesteht, dass es für ihn ein politischer Akt wäre, bei der Polizei zu arbeiten: »so in einem halben jahr ist es raus, ob die musik ne zukunft birgt, und wenn nicht geh ich zu den bullen. Das vertret ich vor den brüdern so, daß ich für ne unbedingte teilnahme plädiere« (KS 32). Auch die Grenzen selbst werden als ›Brücke‹ oder ›Pforte‹ in eine andere Welt in den ›Protokollen‹ thematisiert. ›Breaker Bayram‹ berichtet vom Leben in seinem ›Ghetto‹ in Gaarden, das von der ›deutschen City‹ durch eine Brücke getrennt sei, die man nicht überqueren könne: »Gaarden is knochenbrecher, ’n sperrbezirk, das is hier das olle ostufer und dort der reiche westen, und dazwischen reckt sich wie’n langer arm die gablenzbrücke, doch du denkst, die vermaledeite brücke is tag wie nacht und ewig hochgeklappt, so is es in gaarden, wo ja prall unzählige kümmel hausen« (KS 39). Die ›Dolmetscherin Suzan‹ beschreibt die Eingangskontrollen zu einer Diskothek wie auch die sexuelle Annäherung zwischen einem »Aleman« und einem »Kanaken«; die ›Einlasspforte‹ in die deutsche Diskothek wie auch in die ›Alemannenvagina‹ gehe zwar kurz auf, um jedoch letztlich verschlossen zu bleiben (vgl. Ko 37). Es gibt also Orte des Übergangs, die Grenzen scheinen teilweise gar nicht durchlässig (›Bayram‹), teilweise nur in Ansätzen durchlässig (›Suzan‹), teilweise sehr durchlässig (›Ali‹). Was aber geschieht, wenn ›Kanaken‹ tatsächlich die Grenze überqueren und das ›Ghetto‹ verlassen? Die Stätten der ›Alemannen‹, das gesellschaftliche ›Zentrum‹ und die ›Alemanweitewelt‹ werden in den ›Protokollen‹ immer wieder als Orte mit anderen Regeln, höherem Wohlstand und Schutzmechanismen gegen die Einbrüche von Minoritäten beschrieben. Die ›Künstlerin Aynur‹ vergleicht das »Ghetto« mit einem »Sammelquartier«, in dem die ›Kanaken‹ von den ›Alemannen‹ zusammengepfercht worden seien. Komme ein ›Alemanne‹ einmal in das ›Ghetto‹, würde dieses exotisiert: »hält mal ein Aleman die Nase da rein, heißt’s: Hmmm, ich rieche gar so viele Aromen«. In Wahrheit sei das ›Ghetto‹ jedoch nur »Elend«. Wagt es umgekehrt ein ›Kanake‹, das ›Ghetto‹ zu verlassen, so hilft ihm die zugeschriebene Exotik nicht weiter: »wenn einer wagte, das Verkriechen sein zu lassen und zu gehen in die Alemanweitewelt, heißt’s: Zieh dich doch etwas schneller bitte aus und erkläre dich.« (Ko 34)
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›Sevda‹ erläutert, dass die Schutzmechanismen des deutschen Bürgertums gegen ›die Fremden‹ nahezu perfekt seien: »Der Bürgerstand hat wahrlich hohen Zaun um ihm sein Leben gebaut mit Gold und Kies, und wer’s nich hat, hat’s nich und is nich Bürgerstand. Der Bürgerstand is die Opernkostümmaus, is die Sekretärschlampe, is s Unigirl und s Diplomkindchen. Doch wir nich und ich nich, weil wir Gefickte sind, weil wir Pech haben und Räude haben: so isses.« (Ko 132) Folgerichtig stellt ›Sevda‹ jedoch in Zweifel, ob das Leben an den Orten des deutschen Bürgertums überhaupt erstrebenswert wäre, denn ›die Deutschlandsiedlung‹ sei letztlich ein Betrug (vgl. Ko 135). Dennoch plädiert ›Sevda‹ für eine offensive Einstellung der ›Kanaken‹, die einfach eine Schneise in das ›Revier‹ der Deutschen schlagen sollten: [D]a scheißt du echt auf den Revierzaun. Und Aleman hat sich ja auf seine lausigen Güter zurückgezogen, und er wird rübenrot, weil da hat sich so n Kümmelkeil aufn Weg gemacht. Die Schneise is echt ordentlich, die so nen Keil da man treibt innen Alemangrundstück, und du tanzt da an und bolzt ihm die Messingtafel wech, du bolzt ihm seinen verschissenen Piefke-Vorgarten wech, und du bolzt ihm seine Holzfresse wech: […] Zeig deinen Körper! (Ko 134)
Im Gegensatz zu ›Sevda‹, für die das Eindringen in ›die deutschen Gebiete‹ eine Selbstermächtigung und einen Existenzbeweis darstellt, beschreibt die ›Kunstgeschichtsstudentin Devrim‹ ironisch, wie die ›türkischen‹ Versuche, sich in die Stätten des westlichen Kapitalismus zu integrieren, wirklich enden: In der Provinz-McDo-Filiale ist ein Türke ›Unser Mitarbeiter des Monats‹. Das ist ja der helle Wahnsinn! Mein Gott, sind wir angekommen und richtig beteiligt! Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schulter. Das nenne ich Sensationsintegration. (Ko 104)
Die Überwindung der ›Ghetto-Begrenzungen‹ wird also teilweise als möglich angesehen, allerdings oft als wenig erstrebenswert oder als Weg in eine neue Form der Kolonialisierung beschrieben. Eine Utopie entwirft und somit einen utopischen Raum besetzt die ›Anarchistin Gül‹, die »in einem besetzen Haus in Berlin« (Ko 29) lebt, also sowohl außerhalb des ›Ghettos‹ als auch außerhalb der deutschen Rechtsordnung. Dort lebe sie in einer »Gegenstruktur«, einer »Gemeinschaft« mit »null Gewohnheitsrecht, der Stärkere sitzt im selben Boot mitm Schwachen, und wenn du draus n Haus machst, wird n Prinzip draus, eine feine Art des Lebens, und so was zieht mich immens an.« (Ko 30) Diese solidarische und utopische Gegengemeinschaft existiere außerhalb des binären Schemas, in dem sich die ›Kanakin Gül‹ eigentlich positionieren müsste, aus dem sie jedoch ausgebrochen sei und das somit keine Gültigkeit mehr habe: »Ghetto und Gelddeutschland kenn ich nicht, es ist eher ne Sache von Plattform, wo sich Bestimmte treffen, ne Sache von gemeinsamem Interesse, also n Kopfding ist es, da strömt uns soviel reaktionäre Meinungsmache zu, die
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Yuppieverblödung musste erst mal knacken« (Ko 31). Die dichotomische Gegenüberstellung von ›Ghetto‹ und ›Türkenrevier‹ einerseits sowie ›Deutschlandsiedlung‹ bzw. ›-haus‹ anderseits ließe sich also lösen durch die Herauslösung aus dieser Matrix in einen neuen, rechtsfreien, utopischen Raum.
4.2.6. Der Autor als öffentliche Person. Feridun Zaimoølu zwischen ›kanakischen‹ Abgrenzungen und preiswürdigem Popstartum In der Gegenwart seien Autorinnen und Autoren, so Britta Herrmann, »so (medien-)präsent wie nie zuvor: sei es als Popstar (Stuckrad-Barre, Lebert, in gewissem Maße auch Goetz), sei es als ›angry young man‹ (Zaimoglu, Biller).« (Herrmann 2002: 479f.) Zweifelsohne wird Feridun Zaimoğlu nicht unberechtigt genannt, wenn es um die präsentesten und umstrittensten Autorenfiguren in der Medienöffentlichkeit um 2000 geht. Wie aber hat sich Zaimoğlu als ›Autorfigur‹ auf dem literarischen Feld und gegenüber den Medien positioniert? Und wie hat sich dann seine Position und Präsenz verschoben? In welche Aporien hat sich Zaimoğlu dabei verstrickt? Welchen Zuschreibungen ist er unterworfen und inwiefern ist er ›exotisiert‹ worden oder hat sich selbst ›exotisiert‹? »Tatsächlich werden die Kämpfe innerhalb des literarischen und künstlerischen Feldes wesentlich um die Bestimmung des Feldes, das heißt die legitime Teilnahme an den Kämpfen, geführt«, so Bourdieu in seinem Aufsatz über Das intellektuelle Feld (Bourdieu 1992: 159). Es lässt sich nachweisen, dass Zaimoğlu in den Jahren nach seinem Debüt Kanak Sprak (1995) die Legitimation und Autorität preiswürdiger Literaten fundamental in Frage gestellt hat, um schließlich seine eigene Literatur auf dem Feld der Literatur zu etablieren und ab 2002 selbst mit vielen Preisen ausgezeichnet zu werden. Dieser Weg ist im Fall der Medienfigur ›Feridun Zaimoğlu‹ allerdings nicht linear verlaufen, sondern Effekt zahlreicher symbolischer, widersprüchlicher und politischer Kämpfe um Sprech- und Machtpositionen, die im Folgenden anhand von Zeitungsartikeln und von Essays und Glossen aus Zaimoğlus Kopf und Kragen. Kanak-Kultur-Kompendium (2001) dargestellt werden sollen. Dabei ist davon auszugehen, dass der Autor und sein Umfeld ein großes Wissen um die Schwierigkeiten und Widersprüche seiner medialen Präsenz haben, auf die Zaimoğlu kontinuierlich in Interviews verweist. Zu seiner Selbstdarstellung gehört die passende Inszenierung seines Äußeren sowie das Spiel mit den Zuschreibungen, die er durch die Medien erfährt.408 Im Jahre 2004, 408 | Schon 1998 bittet er Jamal Tuschick im Interview, »mal meine Pressemappe durchzugehen. Sie werden sehen, daß es von Zuschreibungen bloß so wimmelt.« (Zaimoølu, zit. n. Tuschick 1998b) Zudem offenbart er seine Strategien im Umgang mit medialen Zuschreibungen: »Herr Özdemir und ich waren mal auf einer Veranstaltung, da
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als preisgekrönter Autor, stellt er rückblickend fest: »Ich war natürlich ein Darsteller, ich habe mich in einen Kunstsektor, in einem künstlichen Milieu, nämlich im Kultursektor, bewegt […]. Das wirkliche Leben wollte ich nicht zeigen«. Diese Selbstinszenierung verwirklichte er nicht nur gegenüber den Medien, sondern auch bei seinen zahlreichen Lesungen auf der Bühne: »Ich bin auch, weil ich szenische Lesungen gemacht habe, mal in die Rolle des Zuhälters, mal in die Rolle des Strichers, des Schülers, des Islamisten geschlüpft. Ich habe große Lust an Rollenprosa, überhaupt daran in Rollen zu schlüpfen« (Zaimoğlu, zit. n. Persch 2004: 88f.). Dies sei geschehen im klaren Bewusstsein, dass er – bei allen Verweigerungsversuchen – ohnehin ›ethnisiert‹ und auf bestimmte Autorenbilder von den Medien festgelegt werden würde: Egal, mit welchem Buch ich auf den Markt kam – man hat mich mit der Frage gequält: »Wie autobiografisch ist dieses Buch?« Und selbstverständlich muss ich damit gar nicht so kokettieren, wenn ich denn weiß, dass einer öffentlichen Figur immer bestimmte Attribute und Klischees zur besseren Kennzeichnung zugeschrieben werden. Mir ergeht es da nicht anders als anderen öffentlichen Figuren. Das wird sich nicht ändern. Nun kann man sich damit anfreunden oder man kann auch, wenn das zur Sprache gebracht wird, dagegen einwenden, dass man kein Manifest formuliert, sondern ein Buch geschrieben hat. Aber wenn ich schon mit einer anatolischen Großfamilie komme, muss ich mich ja nicht wundern, dass es Menschen gibt, die dieses Buch lesen und dann sagen: ›Na siehst du, hab’ ich es doch gewusst!‹ Genauso, wie es damals, als ich über Vorstadtgangster Bücher geschrieben habe, ja auch hieß: »Das ist der Türke, wie er leibt und lebt!« (Zaimoølu, zit. n. Zaimoølu/Abel 2006: 161)
Die mediale Präsenz des Autorbildes ›Feridun Zaimoğlu‹ lasse sich also ohnehin nicht kontrollieren, allerdings könne man versuchen, sie strategisch zu lenken. Dies sei schon beim Medium Literatur notwendig, noch extremer sei dies bei den Medien Film und Musik, die allerdings auch eine größere Reichweite hätten als die Literatur, womit Zaimoğlu die gesellschaftliche Relevanz der Literatur relativiert und minorisiert.409 Als Vertreter des Mediums Literatur nimmt er die Position eines ›politischen Autors‹ ein, weist jedoch darauf hin, wurde ich als Malcolm X der Türken bezeichnet, da hat Herr Özdemir gesagt: Dann bin ich wohl Martin Luther King. Man spielt mit diesen Zuschreibungen.« (Zaimoølu, zit. n. Schmidt 2000) 409 | Auf die Frage, welche Bereiche der Kultur am ehesten prädestiniert seien, um nach außen zu treten, antwortet Zaimoølu 1998: »Musik!« Als Beispiele nennt er »HipHop«, die »schwule […] wunderbare DJ-Club-Kultur«, »wunderbare HipHopperinnen«, »HouseMusik«, »Trip-Hop« und »Leute, die türkische Volksmusik sampeln und ganz wahnsinnig mit indischer Musik plus deutscher Volksmusik mischen«. Er stellt apodiktisch fest: »Musik ist das ganz große Ding. Ich kann noch so viele Bücher schreiben … Man kann mit Schrift nur bis zu einer gewissen Grenze die Leute enthusiasmieren. Danach kommen Filme. Gute Filme.« (Zaimoølu, zit. n. Apraku 1998)
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dass die Begriffe und Konzepte einer engagierten Literatur und des Intellektuellen obsolet seien. Aus der Geschichte lasse sich lernen, dass »jede Protestbewegung, die ihre Utopie von einer gerechten Gesellschaft detailliert dargelegt hat, unterwegs steckengeblieben ist. Alle wurden sie verdaut. Die widerständigen Mittel sind ihnen aus der Hand gehauen worden, sobald von Utopie die Rede war. Mit der Darlegung der Utopie bist du domestiziert« (Zaimoğlu, zit. n. http://www.balkanforum.info/f16/verzweiflung-dynamit-1474). Ganz in der subversiven Tradition der Poplinken, in deren Kontext er sich vor seinem literarischen Debüt bewegt hat, sieht Zaimoğlu sich in einem Kampf um die kulturelle Hegemonie auf der Ebene künstlerischer Repräsentationen. Er will »[a]bseitige Bilder, die sonst nicht gezeigt werden, zeigen, Leute zu Wort kommen lassen, die sonst nicht zu Wort kommen«, sein Ziel sei, »eine gerechte Gesellschaft über kulturelle Hegemonie zu erstreiten.« (Ebd.) Dabei weiß er, dass dieser Kampf nicht durch universale Werte, wie noch im Universum der Intellektuellen, zu begründen ist, sondern nur durch ein subjektives Gefühl der ›Verzweiflung‹ und einen transzendentalen ›Glauben an eine gerechte Sache‹.410 Geschickt will er seinen Kampf um Bilder, Repräsentationen und Hegemonie führen, dabei sein Wissen um die Kanäle der Öffentlichkeit nutzen für seine »Öffentlichkeitskeitarbeit«, für die er erst »eine Öffentlichkeit […] schaffen« müsse. 1999 sieht sich Zaimoğlu noch in einer Nische, die er erst zu einer Öffentlichkeit erweitern bzw. in der Öffentlichkeit etablieren müsse: »Die Bilder in Umlauf bringen, die Nische vergrößern, neue Öffentlichkeiten schaffen. […] Öffentlichkeitsarbeit braucht viele Medien und innerhalb der Medien viele Formen.« (Ebd.) Wie aber hat diese Öffentlichkeitsarbeit Zaimoğlus in seinen Anfangsjahren als Autor funktioniert? Authentifizierungen und Abgrenzungen als ›Kanake‹. Kritische Annäherung an das Feld der Literatur Um sich auf dem Feld der Literatur etablieren zu können, müssen Autorinnen und Autoren »eine bestimmte Definition der legitimen Praktik (durchsetzen), die historische Bestimmung einer Kunst oder einer Gattung, die den spezifischen Interessen der Inhaber eines bestimmten spezifischen Kapitals entspricht« (Bourdieu 1992: 159). In den ersten Jahren seiner öffentlichen Präsenz hat Zaimoğlu seine Autorposition sowohl mit Hilfe verschiedener Strategien 410 | Zaimoølu begründet seinen Kampf um kulturelle Hegemonie wie folgt: »Verzweiflung ist Dynamit! Die Verzweifelten in diesem Land haben keine Lust, es sich in ihrer Sitzpille gemütlich zu machen. Gerade ein Verzweifelter kann sehr leicht seine Waffe ziehen und aus seiner Verzweiflung eine bombige Sache machen. Der Protest bleibt, auch wenn man viele Schlappen, viele Niederlagen hinnehmen muß. Den Glauben an eine gerechte Sache kann uns niemand nehmen.« (Zaimoølu, zit. n. http:// www.balkanforum.info/f16/verzweiflung-dynamit-1474)
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authentifiziert und als notwendigen künstlerischen Ausdruck minorisierter Gruppen dargestellt, als auch durch Abgrenzungen gegen viele Gruppen des literarischen Feldes dasselbe um eine neue, singuläre Position zu ergänzen versucht. Nicht nur die Medien, sondern auch Zaimoğlu selbst verweisen auf seine eigene Biografie, die ihn als einen ›typischen Vertreter der zweiten Migrantengeneration‹ zeichnet. So berichtet der Autor in einem Porträt: »Feridun war der einzige Türke an seiner Grundschule in München. ›Da gab es Saures. Da gab es Keile.‹ Am Gymnasium war es kaum besser, nur subtiler. Der Lehrer gab ihm als Berufsziel Automechaniker vor« (Thelen 1999). 2000 hält er einen Vortrag in Hannover beim Verein Weltenbürger e.V., in dem er ausführlich seine eigene Migrationsbiografie erzählt und diese Pars pro Toto setzt für ›die Zuwandererkinder‹.411 Die Verweise auf seine harte und brutale Jugend in Armut und seine direkten Verbindungen ins ›Ghetto‹ und zu jenen ›Kanaken‹, aus deren Alltag er berichte, sind zahlreich. Ausgrenzung und Rassismus habe er am eigenen Leib erfahren; der Vater seiner deutschen Freundin habe zu ihm gesagt: »›Ich hasse es, mir vorzustellen, daß ein Beschnittener meine Tochter fickt.‹ Ich bin dann aufgestanden, wollte ein bißchen den Rambo spielen und habe den Tannenbaum umgeschmissen« (Zaimoğlu, zit. n. Apraku 1998). Später sei er militanter geworden: »Klar, während ich studiert habe, bin ich auch Skins jagen gegangen« (ebd.). Während Zaimoğlu 1998 berichtet, als ›Vertreter des Ghettos‹ selber handgreiflich geworden zu sein, spricht er sieben Jahre später nur noch davon, dass es ihm finanziell sehr schlecht gegangen sei, weshalb er als Abwäscher, Hilfsarbeiter und Schlächter gearbeitet habe und somit ein Teil der minorisierten Milieus gewesen sei.412 Dass sich Zaimoğlu auf einer sozialen und kommunikativen Wellenlänge mit den ›Kanaken aus dem Ghetto‹ befindet, behauptet 2000 auch ein Weggefährte des Autors, zu dessen Anthologie MorgenLand 411 | Vgl. Zaimoølu 2001: 8–21. Darin heißt es: »Ich spreche nicht nur von einem Aspekt meiner Kindheit, ich spreche von tausend mal tausend Gastarbeiterhaushalten der ersten Stunde, ich spreche von den verschimmelten Arbeiterbaracken, von den Hinterhausbuchten und den Elendkabuffs, in denen wir groß geworden sind, wir – das sind die Zuwandererkinder. Für Sozialromantik hatten weder unsere Eltern noch wir glutäugigen Kids Zeit und Verwendung, dafür saßen wir zu sehr in der Falle der Armut« (Zaimoølu 2001: 14). In demselben Buch findet sich allerdings eine kurze Beschreibung, dass seine Sozialisation in Deutschland vor allem dem westlichen Fernsehen zu verdanken sei, vgl. Zaimoølu 2001: 63–65. 412 | In einem Interview sagt er: »Um Geld zu verdienen, war ich Abwäscher in der Großküche, Hilfsarbeiter für Landvermesser und ganz übel: für Gerichtsvollzieher. […] Nach Jahren des Malens, Jobbens und Studierens fand ich mich in einer Massenschlachtung, wo ich den Tieren für die Schächtung die Kehle durchgeschnitten habe.« (Zaimoølu, zit. n. Anonym 2005b)
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Zaimoğlu im gleichen Jahr noch ein Vorwort beisteuert: Jamal Tuschick habe »erlebt, wie er den türkisch- und marrokanischstämmigen Gästen eines Brennpunktjugendzentrums, die während der Veranstaltung mit Messern spielten, wahrhafte Brothergefühle suggerierte« (Tuschick 2000c: 108). Zaimoğlus ›direkter Draht‹ zu den ›Ghettobrothers‹ wird nicht nur von Kollegen, sondern auch von den Figuren seiner Texte ›bestätigt‹. In Kanak Sprak finden sich zahlreiche kleine Verweise auf das direkte Verhältnis von ›Autor‹ und ›Interviewtem‹: »also schreib man jetzt die schose auf« (KS 62), »Also schreib das man wie ne wichtige eintragung da in dein kalender man auf« (KS 89) und »Verstehste macker, das is hier vor ort mir’n orntliches bild, wo du man aufschreiben kannst« (KS 97), wird der Autor aufgefordert, er wird als »bruder« (KS 95) angesprochen. Auch in den ›Protokollen‹ von Koppstoff sprechen die ›Interviewten‹ den ›Autoren‹ direkt an oder reflektieren über die Form ihres Erzählens (vgl. Ko 22, 52 u. 98). Zudem fügt die Erzählinstanz des Textes in die kurzen Einführungstexte vor den ›Protokollen‹ einzelne Informationen aus den ›Interviewsituationen‹ ein, wodurch diese als ›real‹ inszeniert werden.413 Doch Zaimoğlu authentifiziert nicht nur seine Sprech- und Schreibposition als eine paradigmatische der ›zweiten Migrantengeneration‹ und als eine, die aus der Mitte der ›Ghettobrothers‹ kommt, sondern er grenzt seine Position auch gegen zahlreiche politische und literarische Gruppen und Positionen ab, versucht sich gleichsam zwischen alle besetzten Stühle auf dem literarischen Feld zu setzen, damit ihm schließlich ein Stuhl gereicht wird, mit dessen Hilfe er dann eine neue Position besetzen kann. An erster Stelle wendet er sich gegen Skinhead-Nazis und die Neue Rechte: Er will die kulturelle Hegemonie »nicht der Neuen Rechten überlassen, die sich das ja auch auf die Fahnen geschrieben hat« (Zaimoğlu, zit. n. http://www. balkanforum.info/f16/verzweiflung-dynamit-1474). Zudem berichtet er davon, dass es normal für ihn sei, dass seine kulturellen Aktivitäten von Rechtsradikalen bekämpft werden: »im Osten gibt es Angriffe von Glatzen bei Lesungen, das Übliche halt« (Zaimoğlu, zit. n. Schmidt 2000). Er selbst habe in seiner Studienzeit mit der antifaschistischen Bewegung auf der Straße gegen ›Nazis‹ gekämpft. Zugleich wendet sich der Autor jedoch vehement gegen den Kampf für eine ›multikulturelle Gesellschaft‹, der ihm »[a]m rückständigsten« (Lottmann 1997) erscheint; dessen Geschichte zeige, dass man mit bestimmten politischen Konzepten nur »alsbald in der Mittelstandsnarkose der deutschen Volksgemeinschaft wieder angekommen« (Zaimoğlu, zit. n. http://www.balkanforum.info/f16/verzweiflung-dynamit-1474) sei. Er verweigert sich (in 413 | In den kurzen Einleitungen vor den ›Protokollen‹ gibt die Autorfigur Informationen über die Gesprächssituation oder erklärt, wie es zum Kontakt mit der ›Interviewten‹ kam (vgl. Ko 11, 36, 56, 67 u. 114).
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den ersten Jahren) der Teilnahme an ›multikulturellen Wochen‹, da diese die ›fremde Kultur‹ exotisierten, allerdings nicht mit deren wahrem Leben zu tun hätten,414 und wird für seine Angriffe auf »die Kulturhoheit der artikulierten Minderheiten in Parteien und Verbänden« (Tuschick 2000c: 115) massiv angegangen. Legendär ist sein Auftritt 1998 in der Diskussionsrunde Drei nach neun des NDR, in der Zaimoğlu von Wolf Biermann, Norbert Blüm und Heide Simonis das Recht abgesprochen wird, sich in seiner Weise kritisch über die deutsche Migrationspolitik zu äußern, und wo er als ›bramarbasierender Halbstarker‹, der nur ›pfäffisches Gerede‹ von sich gebe, geradezu ›hysterisch‹ diffamiert wird.415 Kati Röttger beschreibt die »Politiker-Reaktion auf Kanak Sprak« als eine »(aggressive) Verstörung, die auftritt, wenn der ›orientalisierte‹ Andere sich anmaßt, kulturelle Grenzen zu überschreiten, indem er die ihm zugewiesene Position verlässt« (Röttger 2003: 295). Auch links-liberale Interessenverbände der Migranten wenden sich gegen Zaimoğlus ›Kanak-Attacken‹.416 Doch nicht nur von den Vertretern einer ›multikulturellen Gesellschaft‹, sondern auch von deren Vertretern im Bereich der ›Migrantenliteratur‹ setzt Zaimoğlu sich scharf ab, vielleicht am schärfsten, um – ganz im Sinne Bourdieus – eine Nachfolgeposition auf dem Feld der Literatur besetzen zu können. In Koppstoff proklamiert die ›Studentin Çağil‹: 414 | Joachim Lottmann berichtet von seinem Gespräch mit Zaimoølu: »Er erzählt, daß die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung ihn zur Multikulturellen Woche eingeladen habe, zu anatolischem Steptanz und Döner-Essen. Da habe er sich gefragt: ›Was hat dieser Scheiß mit meinem Leben zu tun?‹ Würde ein, sagen wir, Angestellter von Gruner + Jahr einer Einladung zu ›typisch deutschen Sepplhosen mit Blaskapelle‹ folgen? Natürlich nicht.« (Lottmann 1997) 415 | Tuschick fasst die Diskussionsrunde zusammen: »Er wird auch massiv angegangen. […] Wolf Biermann bezeichnete Zaimoglus Diktion als ›pfäffisches Gerede‹. Beim selben Termin, einer Drei-nach-Neun-Sendung, echauffierte sich Heide Simonis über den Autor wie über einen in der Fußgängerzone bramarbasierenden Halbstarken. Zaimoglus Freude an Provokation und Furore mobilisiert Reserven auch dort, wo man sie nicht erwartet.« (Tuschick 2000c: 114) Zaimoølu selbst berichtet über die Veranstaltung: »In der Runde saßen ja auch Heide Simonis und Norbert Blüm und haben so getan, als würde ich angebrütete Küken schlürfen. Daß so eine Simonis vor laufender Kamera den Hysteriekoller kriegt, geht für mich immerhin auf.« (Zaimoølu, zit. n. Tuschick 1998b; vgl. auch Minnaard 2008: 158f.) 416 | In einem Bericht der taz hamburg werden diese Auseinandersetzungen zwischen Zaimoølu und anderen ›deutsch-türkischen‹ Kulturschaffenden thematisiert: »Damit sind manche Vorredner der zweiten Generation, die sich gerade aus der Subkultur herausbewegt, ganz und gar nicht einverstanden. ›Türken als Kanaken zu bezeichnen – das muß nicht sein‹, setzt etwa der Hamburger Filmemacher Fatih Akin auf Vermittlung. ›Meine Eltern könnten das nicht ertragen.‹« (Marquardt 1998)
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Literatur und Subversion Den Abschiebegegnern fiel ein Spruch ein, dem keine Tränendrüse widerstehen konnte: »Wir holten Gastarbeiter und es kamen Menschen«. Jetzt ist Schicht mit Tränendrüse. […] Ja, die Bastarde kommen, aber nicht mit […] Multikultigetrampel tränenreicher »In der Fremde«-Literatur und schlechtem Rap (Ko 61).
Der Autor Zaimoğlu sekundiert und startet einen frontalen Angriff auf ›die Migrantenliteratur‹: »Das meiste dieser weinerlichen Migrantenliteratur, die ich verabscheue wie die Beulenpest, kommt von dahergelaufenen Kleinbürgern, die immer noch in der Zeit von vor 30, 40 Jahren leben.« (Zaimoğlu, zit. n. Apraku 1998) Diese seien nur »Krämer«, die »Schnarchlesungen« (Zaimoğlu, zit. n. Tuschick 2000c: 114) veranstalten. Neben der Tatsache, dass er die Autorinnen und Autoren der ›Migrantenliteratur‹ als ›Kleinbürger‹, »doppelte[ ] spießbürger« und »türkenaffe[n]« (Zaimoğlu 1998b: 91) diffamiert, wirft er ihnen literarische Talentlosigkeit vor, die dadurch kaschiert würde, dass sie sich »gelenk in die nähe (ihrer) grünen glibbergenossen und kulturverkacker schreibend fummeln« (ebd.: 91), die ihr Schreiben dann subventionierten. Sie seien somit »kulturnutten« (ebd.: 90), die sich willig vom deutschen Literaturbetrieb ausnutzen ließen, wenn sie nur entlohnt würden: es träumt der gnompotatoe von seiner relevanz im deutschen schulbuch gleich im anschluß an die katholikentrübsal böll. wer auf all die hochdotierten lit-preise stiert und im besten falle das adelbert-von-chamisso-dingsbums einsacken kann, der wird, nun ja, vor lauter minoritärer hysterie sich erst recht mit einem wirklichen dichter verwechseln. zum einen. zum anderen: mann, freunde, schämt ihr euch nicht ein bißchen für den tränenschmonz, ihr om-rastafaris des lost türkiye, des verlustspektakels, der zischenden geiferei, der lachmadschun-nostalgie, des gesänftigten gestus? (Ebd.: 91f.)
Das Zeitalter der »Migrantenschreibe der Siebziger ist erledigt« (Zaimoğlu 1999a: 9), proklamiert Zaimoğlu in klarer Distinktion, die Rede darüber sei eine über »untotes, wir reden über menschen, die theoretisch und praktisch und ästhetisch zu den sozialen kämpfen der gegenwart und der nahen zukunft einen scheißdreck beitragen. […] ihr seid erledigt, motherfuckers!« (Zaimoğlu 1998b: 96f.). Die Frontstellung Zaimoğlus gegen die ›Migranten-‹ oder ›Migrationsliteratur‹ dauert in dieser Vehemenz an, 2006 sagt er: »Also, in der Migrationsliteratur… – dieses Wort nehme ich so ungern in den Mund, das ist echt ein Ekelbegriff!« (Zaimoğlu, zit. n. Zaimoğlu/Abel 2006: 166) Es wäre noch eine tiefergehende Untersuchung der Frage notwendig, ob Zaimoğlus Literatur mit dem ästhetischen Diskurs der ›Migrantenliteratur‹ tatsächlich radikal bricht.417 Mark Terkessidis und Tom Cheesman stellen 417 | In jedem Fall behauptet Kirsten Prinz über sein ›Kanak Sprak‹-Konzept, dieses schreibe sich in den avantgardistischen Diskurs der Subversion ein, denn sie sieht »Anschlussmöglichkeiten an eine (links) avantgardistische Traditionsbildung
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Zaimoğlus öffentliche Distinktionsbewegung gegen ›die Migrantenliteratur‹ jedenfalls in Frage, indem sie seine frühen Texte in eine direkte Verbindung mit Beispielen aus der ›1980er-Jahre-Migrantenliteratur‹ setzen.418 Seine öffentliche Distanzierung ist auf jeden Fall deutlich und wird als solche auch von den Vertretern der ›Migrantenliteratur‹ ernst genommen. Carmine Chiellino fragt in ihrem einleitenden Aufsatz zu ihrem Sammelband Interkulturelle Literatur skeptisch: Ob es den Romanautor/innen und Lyriker/innen der jüngsten Generation gelingen wird, Lernprozesse bei der Mehrheit durch ›kanakenhafte‹ Sprachprovokation (wie z.B. Feridun Zaimoølu und Imran Ayata) zu beschleunigen, ist abzuwarten (Chiellino 2000: 61).
Neben den Vertretern der ›Migrantenliteratur‹ positioniert sich Zaimoğlu auch gegen die konservativen Milieus der ›ersten Migrantengeneration‹, als deren ›Vorzeigekulturarbeiter‹ er nicht tauge. Zahlreiche Stellen seiner Texte würden ihm »von türkischer Seite übel« genommen. Zu seinen Lesungen kämen »diese Assimilierten in Abendgarderobe, weil sie denken, da ist einer von uns, der hat’s zu was gebracht. Aber dann entdecken sie in mir nur den Teufel, der sie mit pornografischer Prosa beschmutzen will« (Zaimoğlu, zit. n. Teipel 1998). Von ihnen komme dann auch »der Vorwurf der Nestbeschmutzung. […] Ich bin dann auch so ein verdächtiger Bombenleger in ihren Augen« (Zaimoğlu, zit. n. Loges 1999). Wie aber positioniert sich Zaimoğlu gegenüber den politischen Gruppen und literarischen Bewegungen der ›deutschen Mehrheitsgesellschaft‹? Zwar berichtet er immer wieder, dass er an der Kieler Universität im AStA als Kulturreferent gearbeitet habe, dennoch sagt er sich von diesem Milieu wie auch von den Strategien der Poplinken los. Deren Differenzierungen seien ohne jede praktische Bedeutung und letztlich nur eine Art Selbstbeschäftigungstherapie für Bürgerkinder, die noch einmal den Aufstand ausprobieren, bevor sie sich selbst ins Bürgertum einfügen. Ich scheiße auf eure Subkultur, ihr Schmöcke!, heißt es unmissverständlich im Untertitel seiner Abrechnung mit der Subkultur von 1996. Man müsse begreifen,
[…]. Ähnlichkeiten zeigen sich beispielsweise im Bezug auf Autoreninszenierung (Antibürgerlichkeit) und Schreibverfahren (Sprach- und Satzdestruktionen, fragmentarischer Sinn, Polyphonie).« (Prinz 2009: 195) 418 | Mark Terkessidis und Tom Cheesman sehen eine Verbindung zwischen Zaimoølus Kanak Sprak und »Dursun Akcams Textsammlung ›Deutsches Heim – Glück allein‹ aus dem Jahre 1982.« (Terkessidis 2000: 89) Allerdings konstatiert Cheesman eine »difference between the alternation of Turkish text and German translation in Deutsches Heim, and Zaimoølu’s multiply hybrid German.« (Cheesman 2002: 195)
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Überhaupt hätten sie keine Ahnung von der rauhen Lebenswirklichkeit jener unterdrückten Schichten, für deren Befreiung sie sich engagierten. Dieses Manko versuchten sie durch spätpubertäre Revoluzzerspielchen zu überwinden (vgl. ebd.: 91). Ähnlich radikal fällt Zaimoğlus Abgrenzung gegen die ›neue deutsche Popliteratur‹ aus, die eine literarische und neokonservative Weiterentwicklung der pop- und subkulturellen Lebensweisen darstelle und parallel zu Zaimoğlus ersten Erfolgen das Zentrum des literarischen Feldes und somit der medialen Aufmerksamkeit erobert. In einem programmatischen Text in Die Zeit diffamiert er die Texte von Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und anderen unter der Überschrift »Knabenwindelprosa« als »reaktionäres Kunsthandwerk«. In seiner Analyse des Bandes Tristesse Royale (1999) beschreibt er den »galoppierenden Narzißmus besagter Popposer«, der »vom Schwachsinn kaum zu unterscheiden« (Zaimoğlu 1999b) sei. Ihre Werke seien nur der Ausdruck einer neuen bürgerlichen Konservativität, die die ›Neue Mitte‹ der ›Berliner Republik‹ erobert habe.419 In ganz ähnlicher Weise greift er mit Rainald Goetz auch den vielleicht bekanntesten deutschen Popliteraten an. Zaimoğlu nennt ihn den »Oheim Ecstacy-verstrahlter Glückstrottel« und seine Literatur »Erbauungshefte[ ] für marginalisierte Gymnasialversager« (Zaimoğlu 2002). Ähnlich wie im Falle seiner Abgrenzung von der ›Migrantenliteratur‹ verdecken seine öffentlichen Äußerungen als Autorfigur jedoch die tatsächliche ästhetische und inhaltliche Nähe zu den Verfahren popliterarischer Texte.420 Feridun Zaimoğlu schafft es also in seiner öffentlichen Selbstinszenierung, seine Position als Vertreter der ›zweiten Migrantengeneration‹ über autobiografische Details und Hinweise auf seine direkte Verbindung zu den jeweiligen Milieus zu authentifizieren. Zugleich grenzt er sich ab von der Neuen Rechten und von Rechtsradikalen, von grünen Milieus und dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft, von den Vertretern der ›Migrantenliteratur‹, von konservativen migrantischen Milieus, von studentischen Subkulturen und der Poplinken sowie der ›neuen deutschen Popliteratur‹. Aufgrund dieser vehementen und zahlreichen Distinktionsbewegungen wird er »als Enfant terrible der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehandelt.« (Zaimoğlu/Abel 419 | Vgl. hierzu auch Zaimoølu 2001: 38–47. Der Autor fingiert hier ein Interview mit ›Herrn von Talkau-Marl‹, hinter dem sich unschwer Benjamin von Stuckrad-Barre erkennen lässt, und der ein »junger Popstar des Literaturbetriebs« (Zaimoølu 2001: 38) sei. 420 | Vgl. hierzu Ernst 2006, v.a. 148f. u. 155–158.
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2006: 159) Doch Zaimoğlu platziert sich auch konstruktiv auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Er prägt den Begriff der ›Kanak Sprak‹, inszeniert sich als Vertreter der Bewegung Kanak Attak und entwickelt sich auf diese Weise in den Folgejahren zum politischen ›Kanaken-Stellvertreter‹ und zu einem medialen Popstar. Zaimoğlu als ›Kanaken-Stellvertreter‹, ›Malcolm X‹ und Pop-Star. Positionierung auf dem literarischen Feld Von Anfang an wird Zaimoğlu als Repräsentant des ›Ghettos‹ und der ›KanakKids‹ bzw. als Stellvertreter der ›jungen Deutsch-Türken‹ medial inszeniert. Zwar wiegelt er immer wieder ab, dass er »nicht der Türkenvertreter« (Zaimoğlu, zit. n. Thelen 1999) sein wolle und ebenso wenig »der Vorzeigetürke von Moscheegängern oder der Vorzeigetürke von Multikulturalismus« (Zaimoğlu, zit. n. Persch 2004: 89), allerdings wendet er sich damit nur gegen missverständliche Deutungen seiner Position und präzisiert diese: Zaimoğlu möchte weder die konservativen migrantischen Milieus noch die subkulturellen ›Multik-Kulti-Verfechter‹ repräsentieren, sondern jene, die er als ›GhettoKids‹ und ›Kanaksta‹ bezeichnet.421 Diese hätten ihn, so Zaimoğlu, direkt beauftragt, damit er ihre Botschaft auch in anderen Milieus verbreiten könne. Die ›Kanak-Kids‹ sagten über Kanak Sprak: »Das ist das erste Buch, in dem wir richtig dargestellt werden«. Seine Literatur werde »von ihnen auch als Öffentlichkeitsarbeit verstanden« (Zaimoğlu, zit. n. Teipel 1997). Ganz »[i]m Ernst« erzählt er die Geschichte: »Die Leute aus meinem Buch ›Kanak Sprak‹ haben Geld zusammengelegt und sind mit mir einkaufen gegangen. Damit ich anständig aussehe, wenn ich in die Welt rausgehe und ihre Sache vertrete.« (Ebd.) Folglich sei es seine Aufgabe, »sachdienstliche Leistungen« zu erbringen »für die Rechte von Leuten, die sonst nicht zu Wort kommen« (Zaimoğlu, zit. n. Grumbach 1999). Diese Selbststilisierung Zaimoğlus als ›Repräsentant der Kanaken‹ wird von den Medien willfährig übernommen. Im soeben zitierten Text der Süddeutschen Zeitung lautet es tautologisch: »Feridun Zaimoglu […] verleiht jenen eine Stimme, die selbst oft kein Gehör finden« (Grumbach 1999). Die Zeit erklärt ihn zum »Malcolm X der deutschen Türken« (Lottmann 1997), die Frankfurter Rundschau sieht in ihm den »Rudi Dutschke jener Almanci […], die ihren Standpunkt nicht auf dem Weg der Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft suchen.« (Tuschick 1997) Orientiert an Strategien der US-amerikani421 | Nur in der linken Zeitung junge Welt findet sich ein selbstkritischer Verweis, dass seine Position als Repräsentant der ›Bastarde‹ überflüssig und problematisch sei: »Da draußen sind Bastarde in Verhältnissen ohne formschlüssige Befestigung, die brauchen keinen Hula-Hula-Apachen wie mich. In Babel hat ja auch keiner nach einem diplomierten Architekten gebrüllt, wohl aber nach einer weiteren starken Hand.« (Zaimoølu, zit. n. Tuschick 1998b)
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schen Hip-Hop-Kultur habe er sich zum ›Gemeindesprecher‹ für die Belange der Unterdrückten gemacht: Zaimoglu begann als – besser als der Rest informierter – Stellvertreter; ein Vermittler, der behauptete, seinen Auftrag von den Brothers aus der Nachbarschaft erhalten zu haben. Damit folgte er einer afroamerikanischen Informations- und Agitationsstrategie: Rap ist ein Nachrichtentransporter, ›das CNN für (amerikanische) Schwarze‹, so Chuck D. von Public Enemy. Zaimoglu wirkt immer noch wie ein temperamentvoller, vom eigenen Sendungsbewußtsein erhobener Gemeindesprecher. (Tuschick 2000c: 111)
Auf diese Weise etabliert sich Zaimoğlu als Experte für die politischen Belange der ›zweiten Migrantengeneration‹ – eine klassische Intellektuellen- und Repräsentantenrolle, die er vorgeblich nie einnehmen wollte, der er sich jedoch auch nicht konsequent verweigert. Er äußert sich in den Folgejahren u.a. kritisch zu verfehlten Integrationskonzepten (1998), zur durch den Innenminister Manfred Kanther veränderten Visumsverordnung für Kinder (1998), zum Rassismus im medialen Diskurs und besonders in Magazinen wie Spiegel und Focus (1998), zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts (1999), zum EU-Beitritt der Türkei (2004) und durchgängig zur Überflüssigkeit der Kategorie ›Identität‹.422 Zudem beschäftigt er sich öffentlich mit der Position von ›Türkinnen‹ in Deutschland, wobei er einerseits rassistische Stereotype selbst wiederholt, andererseits genau diese Stereotype zu dekonstruieren versucht.423 Erstaunlich ist jedoch, dass er sich und seine Literatur auch als direkte
422 | In verschiedenen Interviews inszeniert sich Zaimoølu als Intellektueller und positioniert sich öffentlich zu politischen Fragen, so kritisiert er den damaligen Ausländerbeauftragten von Frankfurt a.M., Daniel Cohn-Bendit (vgl. Zaimoølu, zit. n. Teipel 1998), den deutschen Innenminister Kanther und die rassistischen Tendenzen des Magazins Focus (vgl. Zaimoølu, zit. n. Apraku 1998) oder die Staatsbürgerrechtsreform (Zaimoølu, zit. n. Loges 1999). Er gibt ein Interview zum EU-Beitritt der Türkei (vgl. Zaimoølu, zit. n. Neumann 2004) und positioniert sich zur Frage der Identität (vgl. Zaimoølu, zit. n. Persch 2004: 89). 423 | Einerseits schreibt er sich in den rassistischen Diskurs über die ›unterdrückten türkischen Frauen‹ ein, indem er feststellt: »Ich hatte nur deutsche Freundinnen. Wenn ich mir die Türkinnen anguckte, dann sahen die entweder so aus, als wenn sie ’nen Bruder mit ’nem Messer im Schrank hätten. Oder daß sie bereits nach zwei Wochen mit ’nem Verlobungsring ankommen würden. Irgend so ’ne konservative Pampe. Kein Bock da drauf!« (Zaimoølu, zit. n. Apraku 1998) Im selben Interview problematisiert er jedoch auch das Stereotyp der ›unterdrückten Kopftuchträgerinnen‹, die gerade nicht konservativen Islamisten unterworfen seien, wie der deutsche Diskurs behauptet: »In den Fußgängerzonen siehst du Frauen, wunderschöne Türkinnen, mit einem Kopftuch. […] Dazu tragen sie hautenge Bodies, High-Heels und enge Jeans mit Schlag. Nach islamischen Vorschriften wäre das ’ne Todsünde.« (Zaimoølu, zit. n. Apraku 1998)
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Repräsentation der Migrantinnen inszeniert, zumal seine Texte zahlreiche Sexismen enthalten und die binäre Geschlechtermatrix rekonstruieren und nicht dekonstruieren. »Eine Frau hat nach der stillen Lektüre eines Protokolls ausgerufen: ›Mein Gott, sie spricht mir aus der Seele‹«, berichtet Zaimoğlu in einem Interview, überhaupt würdigten Frauen »›Koppstoff‹ als manifestiöses Kunstprodukt«, als einen »Angriff auf viele Mürbemacher: das System, Männerpopanztum, Katalogfraulichkeit, die Köpfe alten Stils und alter Mode, die Trautheiten der Experten.« (Zaimoğlu, zit. n. Tuschick 1998b) Aussagen wie diese, in denen ein deutschsprachiger Gegenwartsautor seiner eigenen Literatur eine literarische Klasse und eine politische Bedeutung zuspricht, rufen umgehend kritische Stimmen wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf den Plan: »Der Dichter Zaimoglu sollte dem Propagandisten Zaimoglu bisweilen den Mund verbieten. Und zuhören, wenn der durch seine Frauen spricht« (Schmitt 1999). Das ficht seine Wirkung in der Öffentlichkeit jedoch nicht wirklich an. Schon 1997 hat ihn Die Zeit zum »Star der Frankfurter Buchmesse, Idol militanter Türk-Rapper und Liebling multikulturell Empfindender« (Lottmann 1997) stilisiert. Zaimoğlu, der den Hype um die ›neue deutsche Popliteratur‹ scharf kritisiert hat, wird selbst ein Popstar auf dem Feld der Literatur, und lässt sich auch vereinnahmen von boulevardesken Stories von Medien wie dem Spiegel, die er zuvor noch kritisiert hat, oder einer Zeitung wie Petra. Dort wird er 1999 unter dem exotisierenden Titel Orient-Express mit »Tarkan, Pop-Star«, »Fatih Akin, Regisseur«, »Aziza A., HipHop-Queen«, »H-Khan, DJ«, »Boulevard Bou, Rapper«, »Erhan Emre, Schauspieler« und »Ayse Polat, Regisseurin« (Rating-Schatz 1999) als türkische Kultur-Avantgarde in Deutschland inszeniert. Im Spiegel Reporter lässt er sich gemeinsam mit einem Vertreter der von ihm diffamierten Grünen, Cem Özdemir, und einer Figur des Fernseh-Boulevards, Nadja Ab Del Farrag, interviewen (vgl. Schmidt 2000). Mark Terkessidis kritisiert diese zunehmende Boulevardisierung der Autorfigur Zaimoğlu bereits 2000. Der Autor bediene »in Artikeln und Auftritten mehr und mehr ein exotisierendes Bedürfnis nach metropolitaner Ghettoromantik – eben nach einer Kultur, die ›erregend anders‹ (Spiegel) ist« (Terkessidis 2000: 89). Damit vollziehe er dieselbe konformistische und verbürgerlichende Bewegung, die er vor wenigen Jahren bei den Vertretern der ›Migrantenliteratur‹ noch scharf kritisiert hatte. Literaturpreise und Plagiatsvorwürfe für ›Feri Ultra‹. Etablierung auf dem literarischen Feld Heute ist Zaimoğlu im Zentrum des Literaturbetriebs angekommen, hat zahlreiche bedeutende Literaturpreise und Stipendien gewonnen und darf sogar
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den Leitartikel in der Zeit schreiben.424 Die Selbstinszenierung, ein Autor des Randes und der ungehörten Minoritäten zu sein, wird ihm nun auch in Interviews nicht mehr abgenommen. In einem Gespräch mit dem UniSpiegel stellt Zaimoğlu, wie Mitte und Ende der 1990er Jahre, die Legitimation und den Stellenwert des Bildungsbürgertums fundamental in Frage: »Das Bildungsbürgertum ist seit den siebziger Jahren unglaubwürdig. Da haben sich die, die es sich leisten konnten, von Bildung und Kultur verabschiedet.« Doch der Interviewer springt auf die Provokation nicht mehr an, sondern ironisiert Zaimoğlu als einen Autor, dessen Status inzwischen von den verbliebenen bildungsbürgerlichen Milieus abhängig ist: »UniSpiegel: Sagt der Vorzeigeintellektuelle. Der Teilzeitprofessor. Der Bestsellerautor.« (Anonym 2005b) Die Ankunft Zaimoğlus im Literaturbetrieb vollzieht sich nach der Veröffentlichung seines umstrittenen Romans German Amok (2002). Bis dahin hatte Zaimoğlu mit den ›Protokolltexten‹ Kanak Sprak (1995), Abschaum (1997) und Koppstoff (1998) sowie dem Briefroman Liebesmale, scharlachrot (2000) nur Bücher veröffentlicht, die noch aus formalen Gründen (es sei kein ›echter Roman‹ oder keine ›längere Erzählung‹, somit keine ›eigene Leistung‹) von den Institutionen des Literaturbetriebs abgelehnt werden konnten. Der Roman German Amok ist »von der Kritik ebenso gnadenlos verrissen worden, wie Kanak Sprak bejubelt wurde. Es hagelte Beschimpfungen wie ›Kultursöldner‹, es gab widerliche Anspielungen auf das Sexualleben des Autors« (Gaschke 2003), wie Die Zeit 2002 zusammenfasst. Diese porträtiert ihn allerdings zugleich als einen ›Angekommenen‹ – in einem Text unter dem Titel: Nie mehr MigrationsAli. Hier zu Hause, hier erfolgreich: Die neue türkischstämmige Mittelschicht. Vier Porträts (Gaschke 2003).425
424 | Unter anderem gewann Zaimoølu den Friedrich-Hebbel-Preis (2002), den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2003), den Carl-Amery-Preis (2007), den Jakob-Wassermann-Literaturpreis (2010) und den Preis der Literaturhäuser (2012). Im Jahr 2005 bekam er zudem den Adelbert-von-Chamisso-Preis verliehen, den er noch 1998 als ›Preis für Verlierer‹ verhöhnt hatte. Im September 2006 nahm er teil an der von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble initiierten Deutschen Islamkonferenz, am 12. April 2006 verfasst er den Leitartikel der Zeit, in dem er in einer paradoxen Wendung, seine Stimme an einem prominenten Orte hebend, beklagt, dass die von ihm vertretene Gruppe nicht die Stimme heben dürfe: »Nur wir, die Kinder der Migranten, haben keine Stimme. Kaum zu glauben, dass die ZEIT mir, dem im anatolischen Bolu geborenen Sohn eines Metallarbeiters und einer Putzfrau, die Spalten des Leitartikels anbietet.« (Zaimoølu 2006) 425 | Zaimoølu reflektiert seine Ankunft im Literaturbetrieb als ›echter Autor‹ retrospektiv wie folgt: »Anfangs waren es tatsächlich wilde Stammestänze, damals ging es mir eher um […] den Klang, die Musik und Rhythmus über die Sprache. Die Botschaft wollte natürlich auch vermittelt werden, aber es waren so kleine Mini-Philosophien. […]
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Zu diesem Zeitpunkt hat Zaimoğlu schon lange mit der Gruppe Kanak Attak, als deren medialer Vertreter er bekannt wurde, gebrochen: Zaimoølu himself fell out with many of Kanak Attak’s core activists in 1999, for many reasons including his decision to take that name – with a slightly different spelling – for the feature film based on Abschaum. His own promotional website is www.kanak-attack.de, while the group’s is www.kanak-attak.de. (Cheesman 2002: 192)
Mark Terkessidis erläuterte auf Anfrage, dass sich Zaimoğlu das Label der Gruppe, bei der er anfangs mitgearbeitet hatte, »bereits gesichert hatte« und dass es »einen großen Streit zwischen der Gruppe und Feridun« gab, an dessen Ende der genannte Kompromiss und sein »Ausstieg aus der Gruppe« gestanden hätten.426 Zaimoğlu konnte also einerseits die Gruppenidentität nutzen, um medial bekannt zu werden, ab 1999 jedoch die Gruppe hinter sich lassen, um an seiner Positionierung auf dem Feld der deutschen Literatur als solitärer Schriftsteller zu arbeiten. 2006 erklärt er, dass es ihm »trotz dieser vielen Zuschreibungen und Projektionen« gelungen sei, »als ein, ja, Solitär aufzutreten, als einer, der nicht bloß ein Kollektivbewusstsein zu Papier bringt; als ein deutscher Autor, mit – dafür bin ich dankbar – interessanten Büchern.« (Zaimoğlu, zit. n. Zaimoğlu/Abel 2006: 165) Fraglich ist allerdings, ob Zaimoğlu diese öffentliche Aufmerksamkeit auch erlangt hätte, wenn er sich anfangs nicht – anders als er es darstellt – als Vertreter des ›kanakischen Kollektivbewusstseins‹ inszeniert hätte. Rückblickend nennt Tom Cheesman den »Kanak-Chic« ein Phänomen, »which Zaimoğlu at once personified, profited from and criticised« (Cheesman 2002: 180). In der Nachfolge Zaimoğlus, aber auch schon bei ihm selbst, war es eine entscheidende »Erscheinung […], bewusst mit dem Element des Fremden zu spielen, einen Akzent beizubehalten oder künstlich zu pflegen. Damit spielen auch einige unserer Preisträger, der Markt verlangt es, was ich schade finde, obwohl man sehr erfolgreich mit dieser Masche sein kann« (Albers, zit. n. Ferchl 2003), so Frank Albers. Zaimoğlu selbst erklärt zu diesem TheIch habe festgestellt, dass man viel weiter kommt, wenn man die Geschichten, die man schreibt, selber ausphantasiert.« (Zaimoølu, zit. n. Zaimoølu/Abel 2006: 160) 426 | »Anfangs hat Feridun Zaimoølu bei der Gruppe Kanak Attak mitgearbeitet, bis sich herausstellte, dass er das Label für seinen Film Kanak Attack okkupieren wollte und sich die Rechte bereits gesichert hatte. Daraufhin gab es einen großen Streit zwischen der Gruppe und Feridun, beide Seiten beanspruchten das Label für sich. Letztlich fuhr Feridun mit seinem Film auf dem Ticket der Gruppenaktivitäten, wobei als Kompromiss im Filmtitel aus dem ›k‹ ein ›ck‹ geworden war. Das war aber gleichbedeutend mit seinem Ausstieg aus der Gruppe.« (Mark Terkessidis; dieses Zitat stammt aus einem Gespräch des Verfassers mit Mark Terkessidis, das am 2. Dezember 2005, gegen 16.30 Uhr, telefonisch geführt und von Mark Terkessidis autorisiert wurde.)
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ma, dass man ihm »bei jedem Buch, immer mal wieder, Exotismus vorgeworfen« habe. Er stellt fest: »Der Vorwurf ist berechtigt, der lässt sich auch nicht entkräftigen«, denn »solche Autoren wie ich, ob deutsch oder nicht, werden […] in die Verlegenheit geraten, der […] exotischen Kultur zugeschlagen zu werden.« (Zaimoğlu, zit. n. Zaimoğlu/Abel 2006: 163) Tatsächlich ist es kaum denkbar, dass Zaimoğlu in der deutschen Kultur zur entsprechenden Zeit ein Buch hätte veröffentlichen können, ohne dass seine Herkunft thematisiert und wahrscheinlich auch exotisiert worden wäre. Inzwischen ist der Autor in andere Kämpfe auf dem Feld der Literatur verstrickt. Zaimoğlu war ab 2006 Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und 2009 von den Grünen berufener Wahlmann bei der Wahl des Bundespräsidenten, seine Romane Leyla (2006) und Liebesbrand (2008) schafften es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Musste er sich und seiner ›Kanak-Literatur‹ zwischen 1995 und 2000 erst eine Position auf diesem Feld erarbeiten, so wird nun Zaimoğlus Position als etablierter Autor delegitimiert. Es gibt zwei frühe Beispiele für Angriffe auf den etablierten Autoren Zaimoğlu: Erstens der Plagiatsvorwurf gegen ihn, der 2006 erhoben wurde, zweitens seine verschärfte Auseinandersetzung mit dem Autor und taz-Kolumnisten Wiglaf Droste. Nach Erscheinen des Buches Leyla (2006) gelangte die Analyse der Germanistin Marie E. Brunner an die Medien, die nachzuweisen versuchte, dass die Struktur, viele Figuren und teilweise sogar einzelne Sätze und Motive aus Zaimoğlus Roman aus Emine Sevgi Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992) bekannt seien. Brunner zeigt schließlich 2009 an verschiedenen Beispielen, dass es Zaimoğlu nicht gelinge, »zu einer selbstständigen künstlerischen Artikulationsform zu finden […], denn sein Roman liefert bloß ein Klischee behaftetes Patchwork aus Özdamars Vorlage.« (Brunner 2009: 50f., Hervorh. herausgenommen) In der Öffentlichkeit entstand schnell eine Debatte über Zaimoğlus Fähigkeiten als Autor; der Plagiatsvorwurf stand im Raum, wenngleich auch nicht von Özdamar erhoben, die als Autorin für denselben Verlag wie Zaimoğlu schreibt und daher schon kein Interesse an einer für beide unangenehmen Auseinandersetzung haben konnte. Die FAZ stellt dazu fest: »Feridun Zaimoglu streitet alle Vorwürfe vehement ab. ›Ich habe keines der Bücher von Emine Sevgi Özdamar gelesen‹, sagt er. Es ist die Geschichte seiner Mutter, sagt er.« (Weidermann 2006) Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, war es zumindest in den Anfängen Zaimoğlus große Stärke, mit der ›Authentizität‹ seiner ›Protokolle‹ und Texte zu spielen und sich an vorliegenden Quellen intertextuell zu bedienen. Auf diese Weise hat er der hybriden ›Kanak Sprak‹ subversive Qualitäten verliehen. Im Zentrum des literarischen Feldes gelten jedoch andere Regeln, Zaimoğlu muss sich hier als ein ›Originalgenie‹ inszenieren, das einen exklusiven Zugriff auf private – und nicht öffentliche – Inspiration und Quellen hat. Was früher noch als ›intertextuelle Spielerei‹ gelobt wurde, wird nun als ›Pla-
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giat‹ abqualifiziert. Die FAZ als Vertreterin der literarischen Öffentlichkeit fordert: Der Beweis für ein Plagiat, für ein bewußtes Abschreiben, eine Aneignung fremden geistigen Eigentums wird kaum zu erbringen sein. Das Gegenteil, der Unschuldsbeweis: vielleicht. Es wird schon helfen, wenn Zaimoglu die Bänder mit den Gesprächen mit seiner Mutter vorlegt. (Weidermann 2006)
Diese Auseinandersetzung wird nicht geklärt werden können, sie ist jedoch ein guter Beleg dafür, dass sich die Position der Autorfigur ›Feridun Zaimoğlu‹ auf dem Feld der Literatur von 1995 bis 2006 massiv verändert hat und nun anderen Regeln unterworfen ist. Dabei spielt auch die Literaturwissenschaft – und auch diese Studie – eine Rolle, denn der wissenschaftliche Versuch zur Kategorisierung der ›Kanak Sprak‹ ist letztlich ein wichtiges Element des kanonisierenden Ein- und Ausschlusses. Volker Dörr beklagt selbstreflektiv »die Gefahr der literaturwissenschaftlichen Domestikation […]: Kleine Literatur, Kafka, Kanak Sprak – terminologisch beherrscht, eingehegt und damit wieder ausgegrenzt: über das (diskriminierende) Moment der (kulturellen) Alterität der Autoren.« (Dörr 2005: 626) Die Wandlung, die Zaimoğlu in seiner öffentlichen Selbstinszenierung vollzogen hat, wird seit 1998 von Wiglaf Droste kritisch dokumentiert. Unter dem Titel Elefanten im Paul-Celan-Laden qualifiziert Droste Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ schon 1998 als »sprachliches Kurzwarenangebot« ab und wirft dem Autor vor, dass er »das Bedürfnis des Kulturbetriebs nach Exotik vollkommen widerstandslos befriedigt« und nur ein »Ghetto-Darsteller« sei, den man treffenderweise »Feri ultra« (Droste 1998) nennen sollte (die Werbung für das gleichnamige Waschmittel verspricht, dieses spüle besonders weich). Zaimoğlu revanchiert sich, indem er 2001 ein fiktives Interview mit einem ›Iglav Borste‹ veröffentlicht, der »seit Jahren […] Revolverkolumnen für eine arrivierte alternative Zeitung« (Zaimoğlu 2001: 80) schreibe. Darin schimpft der fiktive Interviewer seinen Gesprächspartner ›Borste‹/Droste u.a. eine »prominente Witzfigur« (ebd.: 81), »einen Kinderbuchhumoristen« mit einer »darmdicken Bierwampe«, ein »Grunzgeschöpf« und einen »typisch deutschen Spießerextremisten« (ebd.: 83) sowie eine »Mimose« (ebd.: 84) und empfiehlt diesem letztlich, »zu einem Boulevardblatt überzuwechseln. Ich kann mir gut vorstellen, dass man Sie als Klatschartist mit Kusshand nehmen würde.« (Ebd.: 80) Vor diesem Hintergrund einer schon länger datierenden polemischen Auseinandersetzung müssen die drei Texte gesehen werden, die Droste 2004 und 2006 über Zaimoğlu veröffentlicht und diesen schließlich zu einer Gegendarstellung veranlassen. Bereits 2004 polemisiert Droste gegen die Differenz zwischen Zaimoğlus politisch radikaler Selbstinszenierung und seiner gleichzeitigen Unterwerfung unter die Regeln des Kulturbetriebs (Sachverhalte, die
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Droste übrigens auch in vielen seiner Kolumnen bei anderen Mitarbeitern des Kulturbetriebs problematisiert): Am 12. August machte sich der Goldkettchenschriftsteller Feridun Zaimoglu in der taz für die Kurz- und Kleinschreibung halbstark […]: ›was mir an der radikalen kleinschreibung gefällt, ist ihr pamphletartiger charakter, wie damals bei der raf.‹ Drei Tage nach diesem bizepsreichen Auftritt konnte man Zaimoglus Beschreibung der Olympia-Eröffnungsveranstaltung aus Griechenland in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lesen, selbstverständlich in Großschreibung. Wieder ging es nicht ohne Aufpumpen ab. (Droste 2004)
Tatsächlich lässt sich in Zaimoğlus Rechtschreibung – parallel zu seiner Bewegung hin zum Zentrum des Literaturbetriebs – eine Wandlung beschreiben: Anfangs nutzt er in Essays die durchgängige Kleinschreibung, in Kanak Sprak nutzt er die Großschreibung nur am Satzanfang, bei den allermeisten späteren Texten die übliche Groß- und Kleinschreibung – eine Anpassung an die gesellschaftlichen Normen, die der Etablierung des Autors geschuldet sind.427 Doch Droste kritisiert nicht nur Zaimoğlus literarisch-formale Anpassungsleistung, sondern auch seine Loblieder auf seine Belohnung durch den Literaturbetrieb, wobei Droste sogar antisemitische Bilder aufruft428 und dem Autor jenen Vorwurf macht, den dieser noch in den 1990er Jahren den arrivierten Autorinnen und Autoren gemacht hatte: Er sei eine ›Kulturnutte‹ und habe jetzt »seinen Platz gefunden: Er ist jetzt im betreuten Schreiben, Vollpension inklusive.« (Ebd.) 2006 schreibt Droste vom »Kulturbetriebskriecher Feridun Zaimoglu« (Droste 2006a), der – hier spielt er auf Zaimoğlus Unterstützung der SPD im Wahlkampf an – »dem SPD-Strippenzieher und Geschaftlhuber Günter Grass zu Diensten ist.« (Ebd.) Den Plagiatsvorwurf gegen Zaimoğlu nutzt Droste dann in einem Rundumschlag gegen ›den deutschen Türken‹ während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, um von »dem blasierten Buchabschreiber Feridun Zaimoglu« (ebd.) zu schreiben. Dies veranlasst Zaimoğlu, ähnlich wie schon in der Plagiatsdebatte selbst, zu einer direkten Reaktion. Am 22. Juni 2006 erscheint eine Gegendarstellung in der taz: In ›die tageszeitung‹ vom 16. Juni 2006 schreibt Wiglaf Droste in seiner Kolumne auf Seite 16 ›ohne fahne niemals nicht‹ über mich: ›Buchabschreiber Feridun Zaimoglu‹. Hierzu stelle ich fest: Ich habe bei der Erstellung meiner Werke von keinem anderen 427 | Vgl. Zaimoølu 1996; Zaimoølu 1998b; KS. 428 | Droste bezieht sich auf einen Bericht des Kultur Spiegel, in dem Zaimoølu im Juli 2004 über sein »Sylter-Inselschreiber-Stipendium« berichtet habe: »›Ich liebe den Rummel des Betriebs‹, bekennt Zaimoglu – man hört das Geräusch des Händereibens und sieht das ölige Grienen beim Mitmischen […]. Auf ein Nüttchen mehr oder weniger im Kulturbetrieb ist gepfiffen, das muss […] nicht in den Rang einer Nachricht erhoben werden.« (Droste 2004)
Minoritäten, Literatur und Subversion Buch abgeschrieben. Berlin, 21. Juni 2006. Rechtsanwalt Dr. Christian Schertz für Feridun Zaimoglu. (Http://www.taz.de/pt/2006/06/22/a0237.1/text)
Im Anschluss an diese Gegendarstellung wurde Drostes Text von der tazHomepage entfernt; in seinem Weblog hat er daraufhin den Text noch radikalisiert.429 Am Beispiel Feridun Zaimoğlus lässt sich somit der Anpassungs- und Absorptionsprozess eines ›angry young authors‹ beschreiben, der außerhalb des literarischen Betriebs stand und inzwischen in dessen Zentrum angekommen ist. Jene Wut und Aggressivität, die in den frühen öffentlichen Abgrenzungen Zaimoğlus u.a. gegen die etablierten Autorinnen und Autoren des Feldes der Gegenwartsliteratur gerichtet waren, werden nun gegen Zaimoğlu selbst gerichtet. 1998 schreibt er noch in einem Essay: wer sich aufs feuilleton-sentiment kapriziert und von den bourgeois staatstragender hochherrschaftspostillen mit einem toitschen flatus in die fremdenfresse bedacht wird, hat es als lakai im schlimmsten und täppischer ziegentreiber im weniger schlimmen falle nicht anders verdient als erledigt zu werden. (Zaimoølu 1998b: 96f.)
In gewisser Weise entzünden sich diese Kämpfe des Erledigens nun an ihm, dem preisgekrönten Bestsellerautor, der allerdings durch seine Positionierung auf dem Feld der Literatur – ganz im Sinne der künstlerischen Avantgarde – die künstlerischen und teilweise auch die medialen Diskurse über ›die Migranten‹ und ›die Kanaken‹ verschoben hat.
4.3. D EKONSTRUIERTE E THNIZITÄT, REKONSTRUIERTES G ESCHLECHT : Z AIMO ÷ LUS ›K ANAK S PR AK‹ ALS MINORITÄRE UND DEKONSTRUK TIVE K UNSTSPR ACHE . E IN F A ZIT Seit der Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR 1990 lassen sich in Deutschland Tendenzen zur Normalisierung einer ›unbelasteten nationalen Identität‹ beschreiben, die zu neuerlichen Ausschlüssen von Minoritäten führen. Der Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland liegt gegenwärtig 429 | In der neuen Version lautet es nun: »Ulkig wie so häufig indes ist der deutsche Türke. Seine Fußballer, kompetent im Schlechtverlierenkönnen und also Schlagen und Treten von Schweizer Kollegen und so gesehen dem schmierigen Buchabschreiber Feridun Zaimoglu sehr ähnlich« (Droste, zit. n. http://www.citforum.de/archive/index. php/t-71293.html). Vgl. auch www.mattwagner.de/2006/06/droste-gegen-zaimogluund-umgekehrt.htm.
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bei etwa sieben Millionen Menschen. Trotz der Modifikation des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts 1999 ist es noch immer nur für eine Minderheit möglich, eine doppelte Staatsangehörigkeit dauerhaft zu bekommen. Die weiterhin starre politische Trennung zwischen ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹ spiegelt sich auch in den medialen Diskursen wider, die seit der Vereinigung rassistisch aufgeladen worden sind und konkrete Folgen haben: Seit 1990 haben die ausländerfeindlichen und rechtsradikalen Gewalttaten um ein Vielfaches zugenommen, insgesamt sind (nach Zählungen von NGOs) über 180 Menschen an den Folgen dieser Anschläge gestorben. Vor diesem Hintergrund lassen sich die ›Protokolle‹ in Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak und Koppstoff als ein Diskurs mit verkehrten Sprechpositionen und als eine literarische Dekonstruktion der binären Gegenüberstellung von ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹ lesen. Zunächst bieten die Texte den vom übermächtigen kolonialen Diskurs stereotypisierten ›fremden Objekten‹ die Möglichkeit, ihre Eigengruppe der ›Kanaken‹ zu differenzieren und auf diese Weise die herrschenden Stereotype über ›den Kanaken‹ zu problematisieren. Es erweist sich, dass sie Verfahren der Mimikry nutzen müssen, um sich überhaupt (als Stereotyp) wahrnehmbar machen zu können, und sich durch Strategien der Verweigerung oder die Nutzung von Geheimsprachen gegen die rassistischen Zuschreibungen zu wehren versuchen. Außerdem bieten die ›Protokolle‹ den ›Kanaken‹ einen geschützten Raum, in dem sie sich zu Symbolen wie dem Kopftuch, das im deutschen Migrationsdiskurs eine feststehende Bedeutung bekommen hat, äußern und offen von ihren Diskriminierungen, Negativutopien und Fluchtmotiven berichten können. Subversive Figuren wie Rapper und Breakdancer aus jugendlichen (HipHop-)Subkulturen, die erfolgreiche ›Anarchistin Gül‹ (die die Hausbesetzung als kleine politische Utopie verwirklicht hat) und andere präsentieren und diskutieren verschiedene subversive Strategien, die nicht vermittelt, sondern nebeneinander gestellt werden, als müsse sich politischer Widerstand auf einer breiten Basis subversiver Konzepte auf bauen. Die ›Protokolle‹ plädieren für Strategien politisch-revolutionärer Subversion wie Aufklärung und den physischen Widerstand (›Attacke!‹), wobei der ›Revolutionär Tolga‹ als gescheitert präsentiert wird, und für eine künstlerisch-prozessuale Subversion (die sich mit der hybriden ›Kanak Sprak‹, die die Figuren nutzen, selbst etabliert); der Konflikt zwischen einer minoritären Subversion, die von starken Kollektividentitäten ausgeht, und einer dekonstruktivistischen Subversion, die sich um die Dekonstruktion dieser Kollektividentitäten bemüht, wird in den ›Protokollen‹ nicht vollständig gelöst – ethnische Identitäten werden dekonstruiert, geschlechtliche Identitäten werden rekonstruiert. Die ›Protokolle‹ beschreiben Orte wie das ›Ghetto‹, den ›Untergrund‹ und den ›Türkenbezirk‹ als Stätten des Randes, des Ausschlusses und des Elends, allerdings zeigen sie auch die Idealisierungen dieser Orte, denen die ›Deutschlandsiedlung‹ und die ›Alemanweitewelt‹ als sowohl erstrebenswerte wie auch ablehnenswerte Orte des
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Zentrums entgegengestellt werden. Die Durchlässigkeit zwischen diesen Bezirken ist, je nach ›Protokoll‹, mal nicht vorhanden, mal sehr groß, und lässt sich somit nicht allgemein bestimmen – sie wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst, nicht nur von der Kategorie ›Ethnizität‹. Die Kategorien ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹ bzw. ›Aleman‹ und ›Kanake‹ werden fast durchgängig als konstruiert und diskriminierend vorgeführt (wobei ›die Kanaken‹ allerdings – in Umkehrung des rassistischen deutschen Diskurses über ›die Fremden‹ – einen rassistischen und stereotypen Diskurs über ›den Aleman‹ produzieren). Dass diese – noch immer juristisch wirksame – Achse der Differenzierung der Ethnien und Geschlechter nur eine Fiktion ist, zeigen die ›Interviewten‹ aus Kanak Sprak und Koppstoff, die auf diese Weise die Fundamente hegemonialer politischer Diskurse in Deutschland literarisch subvertieren. Im Gegensatz dazu findet sich in Kanak Sprak eine Rekonstruktion von Geschlechterbildern: In Kanak Sprak reproduzieren die ›interviewten Männer‹ patriarchale und sexistische Diskurse über das Objekt ›Frau‹ (wobei zwei ›Protokolle‹ zeigen, dass ein Geschlechter(rollen)tausch möglich ist, der die binäre Matrix jedoch unangetastet lässt). Im drei Jahre später erschienenen Koppstoff werden diese starren Duplizierungen hegemonialer Geschlechterbilder von den ›interviewten Frauen‹ ein wenig aufgebrochen: Viele Frauen erscheinen hier als ›männlich hart‹ und kämpferisch, verlassen den Objektstatus. Die binäre Geschlechtermatrix, die in beiden Texten durchgängig hetero sexuell codiert ist, wird jedoch auch hier nicht in Frage gestellt, es werden nur ihre beiden Seiten vertauscht, indem sich die ›passiven Frauen‹ nun als ›aktive Männer‹ gerieren. Während Zaimoğlus Texte also die binäre Matrix ethnischer Identitäten, die ›Eigenes‹ von ›Fremdem‹ scheidet, dekonstruiert, wird die binäre Matrix geschlechtlicher Identitäten, die ›Männer‹ von ›Frauen‹ unterscheidet, nicht in Frage gestellt. Die ›Männer‹ in Kanak Sprak nutzen zudem popkulturelle Distinktionsverfahren und beziehen sich auf die globale Hip-Hop-Kultur und deren Codes, um sich von den westlichen Pop-Milieus abzusetzen. In Koppstoff greifen einige ›Frauen‹ diese ihrer Auffassung nach wirkungslosen popkulturellen Distinktionen an, die von einem ›echten Kampf‹ abhielten. Mit diesen Positionierungen gegen die Positionsfelder der westlichen Popkultur wie auch letztlich gegen die popliterarischen Strategien überhaupt platzieren sich die ›Protokolle‹ auf dem Feld der Gegenwartsliteratur oppositionell zu den zwischen 1995 und 1998 sehr erfolgreichen Texten der ›neuen deutschen Lesbarkeit‹ und der ›Popliteratur‹. Unter dem Label ›Kanak Sprak‹ erkämpfen sich die Texte eine eigene Position auf dem Feld der Literatur, die sich zudem ironisch und spielerisch von der Traditionslinie der ›Migrantenliteratur‹ absetzt. Indem Kanak Sprak und Koppstoff nur relativ kurze ›Protokolle‹ versammeln, verweigern sie sich gegenüber den klassischen Formen der Narration wie dem Roman oder der Erzählung. Diese Tatsache führt in Verbindung mit der inszenierten ›Protokoll‹Situation dazu, dass die ›Kanak Sprak‹ von Teilen der Literaturkritik und
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-wissenschaft als ›authentische und dokumentarische Migrantenliteratur‹ bzw. als ›authentisches Ghetto-Deutsch‹ gelesen wird. Die Texte selbst verhalten sich ambivalent und spielen mit dem Topos der ›Authentizität‹: Deutlichen Hinweisen auf ihre Künstlichkeit stehen zahlreiche Gesten der Authentifizierung gegenüber. Als Ergebnis einer vergleichenden linguistischen Analyse, die Forschungsergebnisse von Werner Kallmeyer und Inken Keim hinzugezogen hat, lässt sich Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ als hybride und – im Sinne Bachtins – polyphone Kunstsprache beschreiben, die restringierte und elaborierte Merkmale miteinander verknüpft, spielerisch und ironisch mit Begriffen und Regeln der deutschen Standardvarietät umgeht und den diskriminierenden Begriff ›Kanake‹ resignifiziert, wie sich mit Judith Butlers Konzept der anrufenden ›hate speech‹ zeigen lässt. Die Literatur macht den Anfang, erst andere Medien wie Film und Fernsehen ermöglichen in den Folgejahren eine größere Wirkung: Die ›Comedy-Kanak Sprak‹, eine restringierte Form der ›Zaimoğlu-Kanak Sprak‹, findet auf diese Weise ein Millionenpublikum. Die künstliche Sprachvarietät steht nun zahlreichen Milieus zur Verfügung und wird von Angehörigen der ›zweiten und dritten Migrantengeneration‹ für subversive und ironische Sprachspiele in der Kommunikation mit deutschen Hochsprachlern und Autoritäten genutzt. Das öffentliche Autorbild Feridun Zaimoğlus entwickelt sich ganz im Sinne von Pierre Bourdieus Beschreibung der Positionierung eines Schriftstellers auf dem Feld der Literatur. Zunächst authentifiziert er seine Figur und grenzt sie gegen die meisten anderen Positionen auf dem Feld ab, schließlich etabliert er ein eigenes Label auf dem Feld. Zaimoğlu hat ein großes Bewusstsein für die medialen Prozesse und hält das Konzept des universellen wie des speziellen Intellektuellen für obsolet. Seine mediale Präsenz begreift er als ›Öffentlichkeitsarbeit‹ für die Angehörigen der ›zweiten Migrantengeneration‹, deren Biografien und Diskriminierungserfahrungen er teile und die ihn gleichsam mit einem ›imperativen Mandat‹ versehen hätten, für deren minoritäre Belange in der Öffentlichkeit einzutreten. Anfänglich inszeniert er sich als Vertreter der Gruppe Kanak Attak (bis er prominent genug ist, um auch als Solitär die Öffentlichkeit zu erreichen), er grenzt sich gegen zahlreiche ›deutsche‹ wie ›migrantische‹ Gruppen ab, insbesondere gegen die ›Migranten- und die Popliteratur‹, die ›grünen Vertreter des Multikulturalismus‹, die ›studentischen Subkulturen‹ und die ›konservative erste Migrantengeneration‹. In zahlreichen Zeitungsartikeln (auch von Boulevardzeitungen), Fernsehauftritten, Lesungen und auch bei der Werbung für seinen Film Kanak Attack präsentiert er sich in der Öffentlichkeit, ab 2002 erhält er Literaturpreise und -stipendien, 2006 verfasst er einen Leitartikel für Die Zeit. Er prägt das Label der ›Kanak Sprak‹ und etabliert sich als Vertreter der ›Kanaken‹ und als Experte für die Belange der ›zweiten Migrantengeneration‹ im Zentrum des literarischen Feldes, auf dem er um kulturelle Hegemo-
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nie kämpft. Inzwischen ist seine eigene Position diejenige, von der sich andere Literaten abgrenzen: Er muss sich gegen Plagiats- und Exotismusvorwürfe wehren, geht mit rechtlichen Mitteln gegen einen Kolumnisten vor, der seine Anpassungsbereitschaft an den Kulturbetrieb verhöhnt und ihm Plagiatsvorwürfe macht. Die Kategorie ›Migrantenliteratur‹, die in der Literaturwissenschaft und -kritik als Bezeichnung für literarische Äußerungen von minoritären Gruppen oder Migranten galt, ist auch durch Zaimoğlus Engagement inzwischen höchst umstritten. Zwischen 1995 und 2000 hat sich, durch die Veröffentlichung von Zaimoğlus Debüt Kanak Sprak (1995) und andere diskursive Ereignisse, die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich hinter Texten der ›Migrantenliteratur‹ heute nur mehr ein virtuoses Spiel mit dem behaupteten ›dokumentarischen und authentischen Charakter‹ minoritärer Literaturen verbirgt. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs wird die Aufhebung einer Trennung von ›deutschsprachiger‹ und ›migrantischer Gegenwartsliteratur‹ diskutiert: Nachdem seit den 1980er Jahren der Begriff der ›Migrantenliteratur‹ problematisiert und als ausschließende Kategorie in Frage gestellt wurde, wird inzwischen ›das Eigene‹ zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion. Heute wird die Frage diskutiert, inwiefern die Kategorie einer abgeschlossenen ›deutschen Nationalliteratur‹ schon immer eine Fiktion war, die zur Legitimation spezifischer Machtverhältnisse und als Ausschlusskategorie genutzt wurde. Literatur kann keine Morde aus rassistischen Motivationen verhindern. Sie kann aber die Diskurse und Begriffe, die ein potenzielles Objekt rassistischer Übergriffe wie ›den Kanaken‹ konstituieren, problematisieren und zu dekonstruieren versuchen. Manuela Günter sieht in Zaimoğlus Kanak Sprak einen Anlass, »daß sich auch die ›Alemanen‹ endlich als das Resultat einer hybriden Kultur begreifen und sich von der für die Minderheiten in diesem Land immer schon sehr gefährlichen Vorstellung einer homogenen Gesellschaft verabschieden.« (Günter 1999: 27) Volker Dörr geht sogar noch einen Schritt weiter: Die ›Kanaken‹ seien »nicht wirklich ›das Resultat einer bereits hybriden Kultur‹«, sondern »je individuelle Hybridbildungen aus Hybridem«. Zugleich müssten ›die Deutschen‹ »einsehen, dass die deutsche (Leit-)Kultur weder homogen noch für jeden […] relevant« (Dörr 2005: 619) sei. Nicht nur Nationalstaaten und Kulturen, sondern auch Individuen müssten also als hybride Konstrukte gedacht werden. Was das für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bedeuten könnte, wird die Zukunft zeigen.
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5. Untergrund, Literatur und Subversion D IE S OCIAL-B EAT-B EWEGUNG ALS › AUSSERLITERARISCHE O PPOSITION ‹
Die AußerLiterarischeOpposition – ALO – meldet sich zu Wort. Michael und Joachim Schönauer (1997: 7) 430
Während im vorherigen Kapitel dieser Untersuchung anhand von Feridun Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ untersucht wurde, inwiefern die literarische Repräsentation einer ›migrantischen Minorität‹ als subversive Literatur zu beschreiben wäre, soll in diesem fünften Kapitel untersucht werden, wie sich heute noch eine deutschsprachige Literatur als eine des ›Untergrunds‹ inszeniert. Die leitende Frage dabei ist, wie sich eine solche Literatur auf Topoi, Topografien und Personale des Untergrunds bezieht, um welche Formen von Inszenierungen es sich handelt und welche Distinktionsbewegungen (politischer, gesellschaftlicher, medialer oder literarischer Art) die Texte dabei vollziehen. Schließlich ist eine weitere entscheidende Frage, in welchem Verhältnis diese Texte zu ›Untergrund-Literaturen‹ aus anderen Zeiten und Gesellschaftssystemen stehen, ob sie sich als ›subversiv‹ beschreiben lassen und ob sie ihre Einsprüche für das Feld der Literatur oder auch für andere gesellschaftliche Felder formulieren. Diese Fragen sollen exemplarisch an der prominentesten Untergrund-Literatur-Bewegung untersucht werden, die sich im deutschsprachigen Raum nach der Wende von 1989/90 formiert hat, der ›Social-Beat-Bewegung‹, die ihre Hochphase von 1993 bis 1999 hatte. Diese Auswahl liegt nahe, weil sich diese Bewegung als unabhängiges Netzwerk von ›dem Literaturbetrieb‹ abge430 | Für die Anthologie Social Beat, Slam Poetry. Die ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort (1997) von Michael und Joachim Schönauer, auf die sich die Primärtextanalysen beziehen, wird im Folgenden die Sigle »SB« genutzt. Dabei wird die Anthologie als Kollektivdokument der Social-Beat-Bewegung begriffen; es wäre zwar philologisch genauer, allerdings für die Lektüre dieser Studie wesentlich unübersichtlicher, wenn die einzelnen Texte separat zitiert würden. Die jeweiligen Texttitel und Autorinnen und Autoren werden jedoch in der Argumentation benannt.
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grenzt und sich als ›Untergrund-Literatur‹ inszeniert hat. Einige Autoren der Social-Beat-Bewegung bezeichnen diese als »AußerLiterarischeOpposition« (Schönauer 1997: 7)431 und stellen damit ihren politisch-subversiven Charakter heraus. Als weitere Bewegungen wären vielleicht noch die ›Berliner Vorlesebühnen‹ oder die Geschichte der sog. Szene vom Prenzlauer Berg nach dem Ende der DDR zu untersuchen gewesen. Im Gegensatz zu diesen beiden anderen möglichen Untersuchungsfeldern hat die Social-Beat-Bewegung jedoch den entscheidenden Vorteil, dass sie sich am ehesten auf die untergrundliterarischen Konzepte Westdeutschlands bezieht, was eine vergleichende historische Untersuchung ermöglicht. Während zur westdeutschen Untergrund-Literatur der 1960er Jahre und zu Autorinnen und Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte inzwischen zahlreiche Untersuchungen vorliegen,432 ist der Social Beat – als Randphänomen des literarischen Feldes der 1990er Jahre – bislang nur sehr begrenzt und meist von Aktivisten, die der Bewegung nahe stehen, literaturwissenschaftlich untersucht worden.433 Da es sich – anders als in den Analysen der Texte und Autorfiguren von Meinecke und Zaimoğlu – beim Social Beat um eine literarische Bewegung handelt, die aus vielen Autorinnen und Autoren besteht, widmet sich dieses Kapitel neben der Analyse exemplarischer Anthologien verstärkt der Selbstinszenierung und Manifestation der Literaturbewegung. Die Analysen vollziehen sich in drei Schritten: Damit der Social Beat überhaupt als ›UntergrundLiteratur‹ eingeordnet werden kann, wird zunächst auf vier Ebenen der Begriff 431 | Kerenski beschreibt, dass die Bezeichnung Außerliterarische Opposition – in Anlehnung an die Außerparlamentarische Opposition (APO) – von Tom de Toys ›erfunden‹ und von einigen Teilnehmer des ersten bundesweiten Social-Beat-Festivals 1993 genutzt worden ist, vgl. Kerenski 2001: 49 u. 61. 432 | Vgl. allgemein zur westdeutschen Untergrund-Literatur der 1960er Jahre u.a.: Bentz u.a. 1998; Boor 2003; Briegleb 1993; Hubert 1974; zu Rolf Dieter Brinkmann die Monografien, Sammelbände und Aufsätze von: Arnold 1981; Bentz 1999; Bentz 2003; Brinkmann 1995; Ernst 2006b; Geduldig/Sagurna 1994; Groß 1993; Okun 2005; Schäfer 1998; sowie zu Fichte die Arbeiten von Bandel 2006; Büsser 1999; Schumacher 2003; Teichert 1987; Uerlings 1997. 433 | Es liegen bislang jeweils eine Magister- und eine Diplomarbeit von Helen Bauerfeind und Andreas Reiffer vor, die allerdings mit sehr geringem Abstand zur Hochphase der Social-Beat-Bewegung entstanden, vgl. Bauerfeind 1997; Reiffer 1998. Zudem haben Boris Kerenski, Boris Preckwitz und Enno Stahl Aufsätze über den Social Beat vorgelegt, vgl. Kerenski 2001 (leicht modifiziert als Kerenski 2003); Preckwitz 2003; Stahl 2003a. Bis auf Helen Bauerfeind handelt es sich bei allen Autorinnen und Autoren um Aktivisten des Social Beat oder, im Fall von Enno Stahl, um einen Performer mit einer Nähe zu dieser Bewegung, so dass er zumindest in ihrem Kontext auftrat und einen Text in einer Social-Beat-Anthologie veröffentlichte, vgl. SB 186–191.
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der Untergrund-Literatur historisch und im kulturellen Vergleich untersucht (5.1.). Daran anschließend wird anhand einer exemplarischen Anthologie und zahlreicher Manifestationen und Selbstinszenierungen der Autorinnen und Autoren der Social Beat (5.2.) analysiert. Zum Abschluss werden die Ergebnisse der Literaturanalysen in einer Zusammenfassung in ein Verhältnis zu den eingangs präsentierten Bestimmungen und Merkmalen der Untergrund-Literatur gestellt (5.3.).
5.1. Z ENSUR , V ERFOLGUNG , V ERWEIGERUNG . Z UM B EGRIFF DER U NTERGRUND -L ITER ATUR Wenn gegenwärtig im deutschsprachigen Raum von ›Untergrund-Literatur‹ gesprochen wird, so wird diese Bezeichnung zumeist auf literaturproduzierende und -vertreibende Milieus bezogen, die sich seit den 1960er Jahren etabliert haben, oder auf in diesen Milieus entstandene Texte. In ihrer Arbeit über Literatur von unten – die andere Kultur stellt Gundel Mattenklott fest: In den zwei Jahrzehnten seit 1968 ist das programmatische Stich- und Schlagwort einer Literatur von unten nie ganz verstummt, aber in verschiedenen Phasen auf sehr unterschiedliche Weise ausgelegt worden. Entsprechend weit ist das Spektrum der Texte, die darauf Anspruch erheben, eine solche andere Literatur zu realisieren. (Mattenklott 1992: 153)
Als Beispiele für ›Literaturen von unten‹, die sich seit 1968 im deutschsprachigen Raum etabliert hätten, untersucht Mattenklott 1. den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, 2. die neue Kinderliteratur der frühen 1970er Jahre, 3. die Underground – Subkultur – ›Scene‹ (mit Rolf Dieter Brinkmann, Rolf Schwendter, Josef Wintjes, Arnfrid Astel und Rolf Brück), 4. Schreiben als Therapie (›Frauenliteratur‹, ›schwule Literatur‹ und ›Gefangenenliteratur‹), 5. die Oral history und das autobiografische Schreiben sowie 6. die sich ab dem Ende der 1970er Jahre entwickelnden Initiativen, Institutionen und Diskussionen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Gruppen wie Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen, Schwule oder Gefangene, die in den erfolgreichen Texten des Literaturbetriebs unterrepräsentiert sind, eine Stimme geben möchten, indem Repräsentanten aus den Gruppen selbst in ihren Texten diesen »gesichtslose[n] Massen« (Mattenklott 1992: 153) eine Kontur geben, wobei sich diese Versuche in vielerlei Hinsicht als problematisch erweisen. Andreas Kramer bezieht seine Bestimmung der ›Underground-Literatur‹ literaturhistorisch auf die dritte von Mattenklott genannte Schreibbewegung, die sich um die »Radikalisierung bestimmter Beat-Techniken und Sprechweisen« bemüht habe: »Sprache und Themen werden direkter, rauher, teilweise obszön. […] Die Lust am Tabubruch, die Hinwendung zur Sexualität wird zele-
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briert. Der persönliche, von keiner Poetik oder Erwartung beeinflusste Ausdruck herrscht vor.« (Kramer 2003: 33) Während Kramer von den ästhetischen Eigenschaften der Untergrund-Literatur ausgeht, versammelt Enno Stahl unter dem Dach der Untergrund-Literatur ästhetisch voneinander abzugrenzende Phänomene wie Social Beat, Slam Poetry und Trash-Literatur. Den ›Untergrund‹ bestimmt er als einen »rein infrastrukturelle[n], ökonomisch basierte[n] Terminus«, als den »nicht-kommerziellen Bereich, der ohne größere Geldmittel ausgestattet ist, im finanzamtlichen Sinne Liebhaberei oder gar Selbstausbeutung betreibt, und Autoren, die im etablierten Literaturbetrieb nicht veröffentlicht werden« (Stahl 2003a: 274). Die Rede von der Untergrund-Literatur lässt sich jedoch nicht nur auf Ansätze im deutschsprachigen Bereich seit den 1960er Jahren reduzieren; Untergrund-Literaturen lassen sich in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten beschreiben. Eine Konferenz hat sich vom 27.–29. Juli 2006 in Berlin dem Thema Underground Publishing and the Public Sphere: Comparative and Transnational Perspectives gewidmet, wobei sich gezeigt hat, dass die Forschung auf diesem Feld noch in den Anfängen steckt und es sich bei den Vorträgen »vorrangig um erste Versuche« handelte, sich diesem Thema anzunähern.434 Die Konferenz habe, so Steffen Hennicke, Paulina Gulinska-Jurgiel und Thomas Lindenberger in ihrem Bericht, belegt, dass die historischen Kontexte, in denen sich Untergrund-Literaturen ausgeformt haben, sehr disparat gewesen seien. Der abschließende Definitionsversuch von Thomas Lindenberger ist dementsprechend allgemein gehalten: »Untergrundpublizistik« sei »eine illegale Tätigkeit, die sich in der Regel an eine kleine, mit persönlichen Beziehungen verbundene Gruppe von Lesern, in bestimmten Situationen aber auch an ein anonymes Massenpublikum richtet, wobei der Raum des Untergründigen unscharfe Grenzen aufweist«. Diese Tätigkeit berühre zudem in »jedem Fall […] die hegemonialen Verhältnisse in einer gegebenen Gesellschaft« (http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1359). Während Mattenklotts Beschreibung der Untergrund-Literatur in der Bundesrepublik von subkulturellen Milieus und minorisierten Gruppen ausgeht, die ihrer unterdrückten Stimme innerhalb einer demokratischen Gesellschaft und mit Hilfe literarisch-ästhetischer Texte Gehör zu verschaffen versuchen, begrenzt die interdisziplinäre Berliner Konferenz den Begriff der UntergrundLiteratur auf illegale Tätigkeiten, die sich in eine konfrontative Stellung zur Staatsmacht begeben und mit politischen Botschaften an kleine Gruppen wenden. Diese beiden Perspektiven vereint Reinhard Döhl, der zwei Formen von ›Underground-Literatur‹ unterscheidet:
434 | Auch Kathrin Ackermann und Stefan Greif vertreten die These, »dass die vielfältige Szene- und Underground-Literatur nur wenigen Spezialisten vertraut blieb und bis heute nicht vollständig aufgearbeitet wurde« (Ackermann/Greif 2003: 64).
Untergrund, Literatur und Subversion Underground-Literatur (auch Subliteratur), grundsätzlich (1) jede Literatur, deren Verfasser aus politischen oder ideologischen Gründen in den Untergrund gehen müssen, die heimlich erscheinen muss und vertrieben wird; speziell (2) Sammelbezeichnung für unterschiedliche literarische Strömungen und Formen, die seit etwa 1960 von den USA ausgehen und […] Teil einer zur offiziellen kulturellen und politischen Szene kontroversen Subkultur sind. (Döhl 2000: 514)
Döhls Bestimmung weist allerdings zwei Schwächen auf: Erstens fehlt der Hinweis darauf, dass der Begriff ›Untergrund‹ und die Unterscheidung zwischen der ›offiziellen Szene‹ und der ›Subkultur‹ immer eine Form der Konstruktion beinhaltet und keinesfalls immer deutlich konturierbar ist. Teilweise provozieren Formen von Zensur die Entstehung eines literarischen Untergrunds, manchmal inszenieren sich Literaturgruppen jedoch nur als Marginalisierte – oft ist es eine Frage der Lesart, inwiefern es sich beim UntergrundBezug um eine Inszenierung handelt. Zweitens erscheint es sinnvoller, die Unterscheidung zwischen der institutionell-politisch (1) sowie der literarischästhetisch (2) bestimmten Untergrund-Literatur noch weiter auszudifferenzieren. Dies soll im Folgenden geschehen, indem vier Merkmale einer Untergrund-Literatur unterschieden und am Beispiel der bundesrepublikanischen Literatur (allerdings teilweise auch der Literatur der DDR und anderer Länder) erläutert werden. Diese vier Merkmale und ihre historische Erörterung sollen einen Hintergrund bieten für die Analyse der Social-Beat-Bewegung, deren Inszenierung als Untergrund-Literatur, die nach 1989/90 entstanden ist, auf diese Weise in ihrer jeweiligen Spezifität in die historischen und (inter)kulturellen Entwicklungen eingeordnet werden kann. Zunächst werden die institutionellen Hintergründe des Literaturvertriebs untersucht, am Beispiel von alternativen Vertriebsnetzwerken, Raubdrucken und Untergrundverlagen in der DDR und der Bundesrepublik (5.1.1.), dann werden die Autorenbilder analyisert und daraufhin befragt, wie sich Autoren und Literaturgruppen als Stimmen des Untergrunds inszenieren (5.1.2.), schließlich wendet sich dieses Kapitel den formalen Aspekten zu und beschäftigt sich mit der Sprache und Gestaltung von Untergrund-Literatur (5.1.3.) sowie den inhaltlichen Aspekten, den Personen, Orten und Themen der Untergrund-Literatur (5.1.4.). Die ersten beiden Unterkapitel differenzieren Döhls erste Bestimmung, die letzten beiden Unterkapitel seine zweite Bestimmung der Untergrund-Literatur. Je nach gesellschaftlich-historischer Situation und Textexempel erfüllen die literarischen Texte diese Kriterien mehr, weniger oder in unterschiedlichen Konstellationen – für die Bezeichnung einer Literatur als Untergrund-Literatur kann es ausreichen, dass sie auf einem der vier Felder besondere Qualitäten entwickelt.
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5.1.1. Zensur und Distinktionen. Die gesellschaftlichinstitutionellen Bedingungen der Untergrund-Literatur Mit der Einführung des Buchdrucks im Europa des 15. Jahrhunderts, der die massenhafte Verbreitung von Schriften ermöglicht, entsteht die Idee des literarischen Untergrunds, der sich im Geheimen um die Weiterverbreitung verbotener Schriften bemüht, denn »auslöschen und vernichten, aus der Welt schaffen, wie im Zeitalter der Handschriften, kann man Bücher, seit sie gedruckt vorliegen, nicht mehr«, schreibt Sigrid Löffler unter dem Titel Feuer und Verbote in der Bücherwelt. Verbotene Bücher würden seither »im Privatbesitz gehütet, im Geheimen vervielfältigt und weitergegeben à la Samisdat, im Untergrund gedruckt und unter der Hand vertrieben, im Giftschrank von Bibliotheken gesammelt und weggesperrt als so genannte ›Remota‹, als separierte und dem Lesepublikum nicht zugängliche Bestände, oder einfach im Ausland verlegt.« (Löffler 2003: 7f.) Auch Werner Fuld stellt in seinem Buch der verbotenen Bücher fest: »Die Geschichte der Verbote ist […] vor allem eine Geschichte vom Überleben des in Büchern gespeicherten Gedächtnisses der Menschheit.« (Fuld 2012: 9f.) Seit dem 18. Jahrhundert lässt sich die alternative oder geheime Vertriebsund Veröffentlichungspraxis durch Verlage und Vertriebsnetzwerke, die Zensur und Verboten durch Raub- und Privatdrucke zu entkommen versuchen, an zahllosen Beispielen nachweisen. Das prominenteste Exempel der deutschen Geschichte sind die sechs 1942 und 1943 verteilten Flugblätter der Widerstandsgruppe Die Weiße Rose, für deren Verbreitung Willi Graf, Kurt Huber, Christoph Probst, Alexander Schmorell sowie Hans und Sophie Scholl von den Nationalsozialisten die Todesstrafe erhielten – dies ist zugleich ein Beispiel für die Gefahren, die diese untergrundliterarischen Aktivitäten mit sich bringen (vgl. Scholl 1993). Die DDR-Geschichte einer staatlichen Kontrolle und Zensur des Buchmarkts kann hier nicht umfassend thematisiert werden, da sie auf anderen politisch-institutionellen Voraussetzungen beruhte als die hier zu untersuchende Inszenierung einer ›Untergrund-Literatur‹ in der demokratisch-kapitalistischen Bundesrepublik.435 Da Teile der Social-Beat-Bewegung jedoch von der ›Szene vom Prenzlauer Berg‹ inspiriert wurden oder sogar teilweise selbst dieser Szene angehörten, soll diese als ein herausragendes Beispiel für den literarischen Untergrund in der DDR kurz vorgestellt werden, zumal sie zu435 | Zum leitenden Begriff dieser Untersuchung passt es, dass Anna-Christina Giovanopoulos die zensierte Rezeption der Literatur des ›Klassenfeindes USA‹ in der DDR unter dem Titel Die Institutionalisierung von Sinn zwischen Affirmation und Subversion untersucht hat. Die DDR habe zwar spezifische Formen der Kontrolle entwickelt, doch wo Zensur ist, entsteht auch ein Untergrund, denn »es war immer wieder möglich, die Zensur zu unterlaufen« (Giovanopoulos 2000: 34).
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gleich als Beleg für den hohen Grad der Selbstkonstruktion und die zahlreichen Anfechtungen eines jeden Untergrunds stehen kann. Im Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg hatten sich ab Ende der 1970er Jahre junge Punks, Avantgardisten, bildende Künstler und politisch Alternative gesammelt,436 die allerdings »alles andere als homogen (waren) – man sollte hier eher von einem ›Individualistengeflecht‹ sprechen« (Faktor 1994: 32). Während sich die ältere Generation engagierter und kritischer DDR-Autoren wie Volker Braun, Heiner Müller oder Christa Wolf noch immer auf die staatlich vorgesehenen Strukturen bezogen,437 formierte sich diese jüngere Generation außerhalb der offiziellen DDR-Kultur: In Kirchen und privaten Wohnzimmern wurden Konzerte und Lesungen abgehalten, verbotene westliche Kulturprodukte wie die PunkMusik rezipiert.438 Eine wichtige Rolle spielte die Verbreitung von Songs und Texten auf selbst aufgenommenen Kassetten (vgl. Galenza/Havemeister 1999: 45) – die Geschichte des Untergrund-Vertriebs ist immer auch eine seiner Medien und Vertriebstechniken. Die Aktivisten der ›Prenzlauer Berg-Szene‹ sehen sich in der frühen Phase staatlicher Verfolgung ausgesetzt und erhalten im Regelfall für ihre literarischen Texte keine Druckerlaubnis, aus inhaltlichen, ästhetischen und/oder repressiven Gründen. Die wichtigste Anthologie der Szene, Berührung ist nur eine Randerscheinung, die von Elke Erb und Sascha Anderson herausgegeben wird, erscheint 1985 in der Bundesrepublik beim Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln trotz eines Verbotes durch die DDRStaatsführung (vgl. Walther 1999: 163) – die Veröffentlichung verbotener Texte im Ausland ist also eine weitere mögliche Strategie des Untergrunds. Ab 1984 tritt die Szene in eine zweite Phase ein, da das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine neue Taktik wählt, viele Ausreiseanträge der Aktivisten genehmigt und auf diese Weise die Szene ausbluten lässt. In dieser zweiten Phase setzt das MfS, wie sich nach dem Mauerfall gezeigt hat, erfolgreich die Spitzel Sascha Anderson und Rainer Schedlinski ein, so dass die ›Szene vom Prenzlauer Berg‹ im Rückblick wie »eine Art genehmigte[r] Underground« (Feix 1999: 49) erscheinen muss. Westdeutsche Kommentatoren schreiben hämisch, bei der einst berüchtigten ›Prenzlauer Berg-Szene‹ handele »es sich um einen kulturellen Bluff, arrangiert und inszeniert von der Stasi, 436 | Zeitgleich entwickelte sich in Westdeutschland die Punkbewegung mit ihren Subkulturen und verschiedenen Untergrund-Bewegungen, vgl. Teipel 2001. 437 | Heiner Müller gibt sein Befremden über den »literarischen Untergrund« zu: »Mich hat das nicht sehr interessiert. Vielleicht war ich eine Generation zu alt dafür. […] Die DDR hat für diese Generation nicht existiert, aber etwas anderes kannten sie auch nicht. […] Das merkst du den Texten an, dünnes Gebäck. Ihre Existenz in der DDR war eine Scheinexistenz« (Müller 1999: 288). Auch Daniel Sich konstatiert, dass »die subversive Funktion von Dichtung doch eigentlich mit der Wende« (Sich 2003: 83) endete. 438 | Vgl. auch: Dahn 1987: 222–235; Endler 1996; Galenza/Havemeister 1999; Wawerzinek 1999.
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die sich hier – im Gegensatz zu ihrer sonstigen dumpfen Kunstauffassung – eine Enklave urbaner Geistigkeit leistete« (Glaser 1997: 366).439 Die politische Wirkung und Bewertung der Szene ist jedoch bis heute umstritten und unklar – während Glaser die gesamte Szene als ›Bluff‹ bezeichnet, nimmt Joachim Walther eine differenziertere Perspektive ein. Er stellt fest, dass sich innerhalb des Untergrunds vom Prenzlauer Berg verschiedene Subgruppierungen gebildet hätten und es somit »eine Vielzahl von Subszenen gab, auf die Anderson keinen Einfluss hatte« (Walther 1999: 762).440 Unentschieden in seiner rückblickenden Bewertung ist Gerrit-Jan Berendse, der einerseits feststellt, dass sich trotz aller Bemühungen durch die Autorinnen und Autoren des Prenzlauer Bergs »kein archimedischer Punkt außerhalb des Herrschaftsdiskurses« habe finden lassen und »Gegenöffentlichkeit nur simulier[t]« worden sei, während er zugleich in der Literatur von Bert Papenfuß den geglückten Versuch sieht, »die Grenzen des Sprechens zu verlegen, d.h., sich innerhalb des vorgegebenen Sprachmilieus mit eigenwilligen Literaturkonzepten zu etablieren« (Berendse 1999: 200). Es gibt allerdings einen Konsens darüber, dass es im starren und autoritären DDR-Sozialismus deutlich einfacher war als in der liberalen Bundesrepublik, künstlerischen Widerstand zu produzieren, der direkte staatliche Reaktionen hervorrief: Punk, und renitente Jugendkulturen überhaupt, mußte in einer Diktatur eine ganz andere Wirkung entwickeln als in einem Staat, der sich demokratisch versteht und geistig wie ökonomisch situiert in der Lage ist, derartige Angriffe auf sein Selbstverständnis zu absorbieren (Gericke 1999: 98).
Jüngere literaturwissenschaftliche Untersuchungen der ›Prenzlauer Berg-Szene‹ gehen dennoch von einer Differenz zwischen Selbstinszenierungen und realen Effekten aus: »Sollen die tatsächlichen Autorenprofile untersucht werden, ist zu berücksichtigen, dass sie nicht selten von für den Markt entworfenen Rollenbildern – Selbststilisierungen und Zuschreibungen – ›übermalt‹ sind« (Berbig u.a. 2001: 9). Diese Differenzierung, so lehrt die staatliche Un439 | Zur ›staatlichen Subversion‹ der ›staatsfeindlichen‹ und subversiven SchriftstellerSzene in der DDR durch die Staatssicherheit, vgl. Walther 1999. Alison Lewis spricht vom Prenzlauer Berg zwischen autonomem Untergrund und Stasisimulation, vgl. Lewis 2001. 440 | Untergrundgruppen müssen ihrer eigenen Unterwanderung vorbauen und strukturieren sich folglich nicht immer homogen. Papenfuß gibt zu: »Wir wussten immer, dass bei größeren Gruppen jemand von der Stasi mit dabei war. Es gab bezüglich Sascha auch viele Vorwarnungen […]. Denn je mehr man in so eine Logenstruktur reinrutscht, umso größer wird ja die Wahrscheinlichkeit, dass gerade da noch jemand drin sitzt« (Papenfuß, zit. n. Ullmaier 2001: 140).
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terwanderung der ›subversiven Untergrund-Literatur‹ vom Prenzlauer Berg in der DDR, muss konstitutiv sein für die Analyse jeder Untergrund-Literatur, die sich gegen staatliche Repressionen wehrt. Auch wenn der politisch aufgeladene Diskurs um die Notwendigkeit unabhängiger Untergrundverlage in Deutschland heute relativiert wird und zudem weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, so gibt es – wie gezeigt – dennoch bis heute kleine Verlage, die sich in dieser Tradition sehen. Literarische Texte stehen einerseits noch immer unter der Beobachtung von staatlichen Kontrollinstanzen, die Bundeszentrale für jugendgefährdende Medien hat bereits mehr als 18 000 Bücher indiziert (vgl. Ohmer 2007: 134), wenngleich ihre Urteile von literaraturwissenschaftlicher Seite als »unzulänglich und willkürlich« (Ohmer 2007: 134) eingeschätzt werden. Andererseits werden literarische Texte zunehmend zum Klage-Gegenstand von »zivil-(und straf-)gerichtlich[ ] interessierte[n], meist wirtschaftlich mächtige[n] Private[n]« (Schefold 1997: 447). 2003 wurde mit Esra von Maxim Biller und Meere von Alban Nicolai Herbst die Auslieferung gleich zweier Bücher wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verboten (vgl. Biller 2003; Herbst 2003). In diesen Fällen wie in den zivilrechtlichen Klagen gegen die (Auto-)Biografien Prominenter wie Dieter Bohlen oder Harald Juhnke erweist sich, dass einerseits von den Verbotsprozessen eine große Werbewirkung ausgeht,441 dass andererseits die verklagten Autorinnen und Autoren sich als Verfolgte inszenieren und auf das Recht der freien Meinungsäußerung berufen, gar den Status eines ›Intellektuellen‹ einzunehmen versuchen. Wenngleich die Zensur in der Bundesrepublik kaum angewandt wird und das Veröffentlichungssystem in diesem Sinne relativ frei ist, beobachtet Dian Schefold andere Formen der Lenkung des Literaturmarktes, wenn sie feststellt, daß mit der Überwindung des Systems der Vorzensur literarische Freiheit nicht gewährleistet, sondern nur die Fragestellung verschoben ist. Wie vor der Trennung von Staat und nach bürgerlicher Öffentlichkeit strebender Gesellschaft, so treten auch nach der Relativierung dieser Unterscheidung Einflußfaktoren auf die Literatur zutage, die nicht primär grundrechtliche Freiheit beschränken, sondern das Meinungsspektrum lenken. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und mancher sozialistischer Staaten – namentlich der DDR – haben gezeigt, daß dadurch eine Zensur überflüssig oder nicht als solche erkennbar werden kann, weil sie in den Bereich der Buch- und Presseproduktion verlagert wird. (Schefold 1997: 447f.) 442
441 | Anja Ohmer stellt in ihrem Überblicksartikel Literatur vor Gericht: Zensur in Deutschland fest: »Leute kaufen diese Bücher wegen der prekären Stellen und die einstweilige Verfügung wirkt wie ein Gütesiegel. Zensur ist in diesen Fällen werbewirksam und auflagenfördernd« (http://www.eurozine.com/pdf/2004–03–22-ohmer-de.pdf). 442 | Noch 2006 beteiligen sich hundert Autorinnen und Autoren an einem Aufruf in der Süddeutschen Zeitung, der sich für die ihrer Auffassung nach in Deutschland bedrohte
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5.1.2. Ökonomisch unabhängige Literaturproduktion. Untergrundverlage in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren In der Bundesrepublik hat sich der ›literarische Untergrund‹ ab den 1960er Jahren als alternatives Vertriebs- und Veröffentlichungsnetz nicht primär als Reaktion auf politische Zensurmaßnahmen der Staatsführung, sondern vor allem gegen die normierenden Konkurrenzverhältnisse des freien, kapitalistischen Marktes gebildet. Damit bezogen sich die Begründer neuer Literaturvertriebsnetze, -verlage und -zeitungen indirekt auf Adornos und Horkheimers Analysen der Kulturindustrie, welche die Entwicklung eines freien und demokratischen Bewusstseins verhindere: »Was nicht konformiert, wird mit einer ökonomischen Ohnmacht geschlagen, die sich in der geistigen des Eigenbrötlers fortsetzt. Vom Betrieb ausgeschaltet, wird er leicht der Unzulänglichkeit überführt« (Adorno/Horkheimer 2000: 141). Die Warenhaftigkeit des Kunstwerks sollte ihrer ›ideologischen Verhüllung‹ entrissen werden und zum Vorschein kommen – im Idealfall sollte ein Subsystem des Literaturvertriebs etabliert werden, in dem die Regeln des kapitalistischen Marktes exemplarisch außer Kraft gesetzt würden. Wolfgang Fritz Haug weist der Kunst in der Tauschgesellschaft die Funktion zu, sowohl die Befriedigung der Legitimationsbedürfnisse der Herrschenden wie auch der Bedürfnisse der Beherrschten als möglich vorzuführen, allerdings nur im Schein. Damit stellt er sich in die marxistische Tradition und schließt kritisch an Walter Benjamin an: Schon aus dem Tausch geht […] die Ästhetisierung der Waren zwingend hervor. Auf allen Ebenen des Systems der bürgerlichen Gesellschaft gilt, daß die Lebensinteressen der Menschen nicht das oberste Ziel, nicht der bestimmende Zweck sind. Im Maße nun, in dem auf den verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens […] die Notwendigkeit entsteht, diese Verhältnisse als den menschlichen Lebensbedürfnissen unmittel-
freie literarische Meinungsäußerung einsetzt. Drei Jahre nach dem Verbot des Romans Esra von Maxim Biller hatten die beiden Frauen, die ihre Persönlichkeitsrechte durch den Text beeinträchtigt sahen, noch einmal eine Klage auf 100 000 € Schmerzensgeld eingereicht. Im Aufruf der Autorinnen und Autoren zu diesem Anlass heißt es u.a.: »Der Deutsche P.E.N., der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Verband deutscher Schriftsteller (VS) haben sich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gegen ein Verbot des Buches ausgesprochen. Die hier Unterzeichnenden schließen sich deren Meinung und Urteil an.« (100 Schriftsteller 2006) Zu den Unterzeichnenden gehören die in dieser Arbeit besprochenen Autoren Thomas Meinecke und Feridun Zaimoølu, die Nobelpreisträger Günter Grass und Elfriede Jelinek, Untergrundverleger wie Barbara Kalender und Jörg Schröder sowie Autorinnen und Autoren wie Jutta Ditfurth, Wladimir Kaminer, Christoph Schlingensief und Benjamin von Stuckrad-Barre.
Untergrund, Literatur und Subversion bar und hauptsächlich dienend darzustellen, erwächst von Seiten der Herrschenden ein zwingendes Bedürfnis nach einer Art von Ausdruck und rechtfertigender Inszenierung, die den Schein erzeugt, die sozialen Verhältnisse dienten wirklich den Lebensbedürfnissen aller. […] Die Tätigkeit der ästhetischen Produzenten kommt diesem Bedürfnis von sich aus der Form nach entgegen – nicht dem Inhalt und nicht von vornherein der subjektiven Motivation nach. (Haug 1972: 172f.)
Nach Haugs Theorie führt der Tauschhandel zwangsläufig zur Ästhetisierung von Waren, die wiederum den Kunstproduzenten keine andere Möglichkeit lasse (fernab der Inhalte und möglichen kritischen Motivation ihrer Werke), als die Bedürfnisse der Herrschenden zu ihren eigenen zu machen. Kritische, alternative oder anti-kapitalistische Kunst hat, nach Haugs Modell, nur dann überhaupt eine Möglichkeit, wenn sie sich dem Tauschprinzip und damit dem freien Markt verweigert. Diese Grundannahmen, dass ›wahre, kritische Kunst‹ schon durch ihre Teilhabe am kapitalistischen Kunstmarkt und -vertriebssystem verhindert wird, inspiriert in unterschiedlicher Form die verschiedenen Untergrund-Vertriebsnetze, -Verlage und -Pressen der 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Die Konstituierung eines Untergrund-Vertriebsnetzes vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: Zunächst durch die Hand- und Minipressen, die das Monopol der großen Verlage auf die Publikation von Schriften unterminieren; durch unabhängige Kleinverlage, die sich neu gründen oder von größeren Häusern abspalten und eine andere Literatur in neuen Designs veröffentlichen; die Minipressen und Untergrundverlage präsentieren sich auf Gegenmessen zur Frankfurter Buchmesse; zudem kursieren zahlreiche Raubdrucke von alten Schriften linker Theoretiker, die von den ›großen Verlagen‹ nicht wieder neu aufgelegt werden, auf diesem Wege auch von weniger Vermögenden erworben werden können, die das Urheberrecht als eines, das einen kapitalistischen Eigentumsgedanken vertritt, unterminieren. Die westdeutsche Untergrund-Literatur orientiert sich in den 1960er Jahren vor allem an Vorbildern aus den USA, insbesondere an der Beat Generation.443 Deren Mitglied Lawrence Ferlinghetti veröffentlichte in der Reihe City 443 | Eine Geschichte der jüngeren Untergrundliteratur in Deutschland ließe sich nicht schreiben ohne eine genaue Analyse der Rezeption der Beat Generation durch deutsche Autorinnen und Autoren. Dirk Linck stellt die Beat Generation als eine Gruppe dar, »die sich in den 40er Jahren bohèmeartig außerhalb des etablierten Literaturbetriebs konstituierte und als kulturkritische underground-Bewegung mit eigenem Jargon, Milieu, Habitus und publizistischem Netzwerk (Zeitungen, Verlage) eine ideologisch vorsätzlich widersprüchliche Kritik an den politischen, moralischen und ästhetischen Ordnungssystemen der westlichen Industriestaaten formulierte. […] Propagiert werden: die Absonderung von der bürgerlichen Sphäre, eine momentanistische Emphatik des Augenblicks, die rückhaltlose Hingabe an sinnliche Eindrücke (swing) und leibliche Sensationen (kicks), der Primat der Ästhetik als Ausdruck des Verzichts auf den morali-
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Lights Pockets Poets seines Kleinverlags City Lights Books seit Mitte der 1950er Jahre die ersten Bücher von u.a. Jack Kerouac, William S. Burroughs und Allen Ginsberg, deren Werke mit der Zensur zu kämpfen hatten, von den großen Verlagen zunächst auch nicht akzeptiert wurden.444 Das Konzept der Veröffentlichung von Büchern als billige Paperbacks bzw. Taschenbücher oder gar zusammengeheftete Kopien wurde von den deutschen Minipressen übernommen, insbesondere im Kontext der Studierendenbewegung um 1968; es wird berichtet von einer »täglichen Flut vervielfältigter Flugblätter auf den Tischen der Mensa über den grauen Markt der Raubdrucke bis hin zu einem bunten Angebot in den Schaufenstern der Buchhandlungen« (Bentz u.a. 1998: 285). Häufig führten die neuen Techniken der Untergrundszenen zu einer Modifikation der Programme des offiziellen Literaturbetriebs: Von den 1950er bis zu den 1970er Jahren setzten sich – ab den 1960er Jahren unterstützt durch die Kleinverlage – Taschenbuchreihen auch in den Großverlagen durch, das Medium Buch wurde auf diese Weise günstiger und für mehr Milieus attraktiv, in gewisser Weise materiell demokratisiert. Diese Demokratisierung der Vertriebsmittel geht in den USA wie in der Bundesrepublik einher mit einem bewussten Verzicht auf das Lektorat als Selektions- und Ordnungsinstanz, was Rolf Dieter Brinkmann zum subversiven Programm erhebt: »Für die Produkte, die im vor-offiziellen Bereich kursieren, gilt: dass die offensichtlichen Fehler und das nach tradierten Maßstäben Mißlungene relevanter sind als das ›Gelungene‹« (Brinkmann 1969: 393). Die Kleinverlage könnten viel schneller als die großen Verlage publizieren, seien zudem nicht auf die Erfüllung des Massengeschmacks angewiesen, deshalb könnten die Kleinverlage gerade aufgrund »ihrer relativen Unabhängigkeit wider die schon konsumreife Literatur drucken, etwas an Texten […] publizieren, in denen nicht mehr der alte Scheiß von Dichtung herumwabert« (Brinkmann, zit. n. Bentz 2003: 122). Die Großverlage wehren sich anfangs gegen Brinkmanns radikal grenzüberschreitendes Programm und seine Provokationen, mit denen er sich vom bestehenden Literaturbetrieb abwendet (vgl. Ernst 2006b: 131f.). Zugleich weist Brinkmann jedoch auf einen Unterschied zwischen den USA und der Bundesrepublik hin: In Deutschland bildeten sich Kleinverlage und Minipressen auch, um mit den Großverlagen konkurrieren zu können, eine ›schönere Literatur‹ zu machen und gerade in einer Zeit der Relativierunschen Ernst bürgerlicher Kultur, die Begeisterung für die Oberfläche und das Plakative, die theatralische Selbstinszenierung als Ersetzung der eigenen historischen Gestalt durch eine statuarische persona von kontinuierlicher Intensität, der mythische Einklang des Subjekts mit den Dingen« (Linck 2000: 58). 444 | Die zweite Auflage von Ginsbergs Howl and other poems sollte im März 1957 verhindert werden. Ferlinghetti nutzte diese Aktion als Werbung für das Buch, ließ trotz des Verbots eine zweite Auflage drucken und landete dafür eine Zeit lang im Gefängnis.
Untergrund, Literatur und Subversion
gen ›bürgerlicher Ästhetiken‹ diese zu restaurieren, wenn auch in experimentellem Sinne. Karl Riha erhebt diese Tendenz gar zur eigentlichen Leistung der Minipressen: Ihr Ehrgeiz sei es gewesen, einerseits »gegen die Flut der Massenproduktion noch einmal vorzuführen, wie schön Bücher sein können, andererseits – in Korrespondenz mit entsprechenden Innovationen in Kunst und Literatur – als Vorstoß in typographisches und buchtechnisches Neuland« (Riha 2000: 198) zu fungieren, als Beispiel nennt er Victor Otto Stomps Eremiten-Presse. Stomps Schüler Horst Bingel sieht in der Sozialisierung des Produktionsmittels Handpresse ganz euphorisch eine Befreiung von der Institution Kulturbetrieb und einen Angriff auf die autoritären Gesellschaftsstrukturen: Wir können nicht genug Handpressen haben! Hätten wir sie, in jeder Straße, in jedem Haus, wir wären für alle Zeiten gegen jede Diktatur gefeit. Jeder Diktator braucht Jahre, um alle Pressen zu zerstören! […] Ein Salut den jungen Zeitschriften und Pressen! (Bingel, zit. n. Pasterney/Gehret 1982: 1)
Die Vorherrschaft der großen Verlage wird jedoch auch auf andere Weise angegriffen: Bingel organisiert 1968 erstmals eine Gegenmesse zur Frankfurter Buchmesse, in deren Tradition bis heute die ›Mainzer Minipressen-Messe‹ stattfindet (1970 hat diese Messe mit 9 000 Besucher ihren größten Erfolg). Zur selben Zeit wird von der Gruppe der ›Literaturproduzenten‹ eine einmalige Gegenmesse organisiert – und in den Jahren 1967–1969 wird die Frankfurter Buchmesse als Markt und Präsentationsfläche des Literaturbetriebs systematisch durch Aktionen und Happenings desavouiert, die Frankfurter Buchmesse 1968 geht gar als ›Polizeimesse‹ in die Geschichte ein.445 Auch in den Verlagen wird (nur teilweise erfolgreich) um Demokratisierung und den Abbau der Hierarchien gestritten, zahlreiche Manifeste, Streiks und Entlassungen künden von den Kämpfen bei Suhrkamp, Hanser, Luchterhand, Rowohlt, Melzer und in anderen großen Verlagshäusern. In Einzelfällen setzen sich für kurze Zeit Autorenbeiräte und Lektorenmitsprachemodelle durch. Dies führt in Frankfurt a.M. 1969 zur Gründung des genossenschaftlichen Verlags der Autoren, an dem sich u.a. Peter Handke, Erika Runge und Günter Herburger beteiligen (und der bis heute Bestand hat) (vgl. Bentz u.a. 1998: 313–331; Gilcher-Holtey 2006). Der Lektor Jörg Schröder wendet sich unzufrieden vom Melzer Verlag ab und gründet mit dem März Verlag jenen Verlag, der nun die Bücher veröffentlicht, deren Publikation bei Melzer in dieser Form nicht möglich ist, z.B. die ACID-Anthologie von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla.446 In 445 | Vgl. Briegleb 1993: 134–149; Ullmaier 2001: 59–61; Bentz u.a. 1998: 293, 297, 300f., 305 u. 313ff. 446 | Brinkmann hatte bereits einen Gedichtband mit dem Titel Underground Poems beim kleinen Berliner Verlag Oberbaumpresse veröffentlicht, dann bei Melzer ein viel
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gewisser Weise ist Schröder seinem Untergrund-Konzept treu geblieben: Seit 1990 hat er – gemeinsam mit Barbara Kalender – in 60 Folgen der Reihe Schröder erzählt, die heute die einzige Publikation des März Desktop Verlags darstellt und in einer Auflage von etwa 400 Exemplaren erscheint, zahlreiche provokante Geheimnisse über den Literaturbetrieb und seine Protagonisten gelüftet, die ihn selbst in eine Underdog- oder eben Untergrundposition drängen. Auch heute gibt es noch unabhängige kleine (Untergrund-)Verlage und Editionen wie Alibri (Aschaffenburg), Blumenbar (München), Edition Tiamat (Berlin), kookbooks (Berlin/Idstein), Krash (Köln), Matthes & Seitz (Berlin), Nautilus (Hamburg), Roadhouse (Hannover), Schwarze Risse/Assoziation A (Berlin/Hamburg), SUBH (Meine), SuKuLTuR (Berlin), Tropen (Berlin), Trotzdem (Grafenau), Ventil (Mainz), Verbrecher (Berlin), Voland & Quist (Dresden) oder Zu Klampen (Springe), die sich allerdings mit vielfältigen Problemen konfrontiert sehen und zugleich den eigenen politischen Anspruch relativieren.447 Den Niedergang der Untergrund- und Kleinverlagsszenen und linken Buchhandlungen bildet auch der Niedergang des von Josef ›Biby‹ Wintjes im Literarischen-Info-Zentrum in Bottrop herausgegebenen Ulcus-Molle-Infos ab, das einst als »Sprachrohr der Szene« (Reiffer 1998: 36) gelten konnte.448 diskutiertes Buch mit dem Titel Fuck You! Underground Poems – zwei Bücher, die den Begriff der Untergrund-Literatur in dieser Phase um 1968 maßgeblich prägten, wie Jörg Schröder berichtet: Fuck You! »schlug richtig ein als erste literarische UndergroundVeröffentlichung, begleitet von einer Spiegel-Story« (Schröder, zit. n. Ullmaier 2001: 58). 447 | Vgl. das Gespräch in Plesch/Ullmaier 2004. Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag verweist darauf, dass es heute nur noch »allerhöchstens dreißig« linke oder kleine Buchhandlungen gebe, während es zu den Hochzeiten der Studierendenbewegung, so ›Veteran‹ Jörg Schröder vom März Verlag, »noch fünfhundert rote Buchhandlungen plus die Läden mit ›Bücherstuben-Charakter‹, die von ›guten Buchhändlern‹ geführt wurden« (Sundermeier/Schröder, zit. n. Plesch/Ullmaier 2004: 36), gegeben habe. Außerdem sei heute das Label ›Untergrundliteratur‹ von den großen Verlagen absorbiert worden, wie Lutz Schulenburg von der Edition Nautilus feststellt: »Was ist denn Underground? Das schreiben sich ja auch Kiepenheuer & Witsch auf die Fahne.« (Schulenburg, zit. n. Plesch/Ullmaier 2004: 37) 448 | Wintjes gründete das Zentrum 1969, das Ulcus-Molle-Info hatte 1974 schon 800 Abonnenten, 1977 waren es sogar 1382 bei einer Auflage von 2000 Exemplaren; das Heft musste nach 130 Ausgaben jedoch 1990 eingestellt werden. Die Nachfolgezeitung IMPRESSUM – literarischer Pressedienst für Autoren und Verleger wurde von 1987 an veröffentlicht und 1999 eingestellt. Wintjes verstarb bereits 1995; sein Nachlass, die »wohl umfangreichste Privatsammlung dieser Art von Literatur« (Reiffer 1998: 38), wartet im Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin als Archiv für Alternativkultur auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung.
Untergrund, Literatur und Subversion
Rückblickend lassen sich auch die Effekte der Untergrund-Literatur der 1960er Jahre relativieren: Die »Dichotomie zwischen Großverlagen und literarischem Untergrund« habe sich vor allem »in Bezug auf das Interesse an neuer, experimenteller Gegenwartsliteratur« ergeben, so Kathrin Ackermann und Stefan Greif. Das Interesse großer Verlage wie Suhrkamp, Rowohlt, Luchterhand, Fischer und Hanser an der »Beat- und Underground-Literatur« sei wegen ihres »dezidiert ästhetischen Anspruchs an die Literatur, nicht zuletzt aber auch aus ökonomischen Gründen eher gering« (Ackermann/Greif 2003: 59) gewesen. Daher sei es in diesen Jahren eine wichtige Funktion von Untergrund-Verlagen wie »Maro, MaD oder Oberbaum« gewesen, den »zum Teil regionalen Szenen überhaupt erst ein Kommunikations- und Verständigungsforum« zu bieten – wobei einige ihrer Autoren »heute bei bekannten Großverlagen erscheinen« (Ackermann/Greif 2003: 58). Der Literaturbetrieb und die Untergrund-Literatur stellen also schon in den Anfängen der bundesrepublikanischen Untergrund-Literatur keine voneinander unabhängigen Systeme dar – die Grenzen sind fließend: »Eine eindeutige Grenze zwischen literarischem Untergrund und etablierter Verlagskultur ist […] schon deshalb nicht auszumachen, weil neben Brinkmann auch andere Autoren zwischen Szene- und Großverlagen changieren.« (Ackermann/Greif 2003: 60) Die Absorption der Untergrund-Literatur durch ›das Establishment‹ wird von Autorinnen und Autoren der Bewegung selbst thematisiert449 und kritisch diskutiert.
5.1.3. Verfolgung und Selbstinszenierung. Autorenbilder und Literaturgruppen des Untergrunds Neben der institutionellen Seite der politischen und juristischen Instanzen, des Literaturvertriebs und Verlagswesens sowie der ökonomischen Konstellation spielt die Figur des Autors bzw. die Existenz einer Autorengruppe eine entscheidende Rolle bei der Beschreibung einer Literatur als Untergrund-Literatur. Hierbei können zwei Fälle voneinander unterschieden werden: Erstens gibt es Autoren oder Gruppen, die einer direkten Form politischer Verfolgung oder sozialer Diskriminierung unterworfen werden, aus dieser Position schreiben und die zur Veröffentlichung Verlage in anderen Ländern oder verbotene Vertriebswege wie Flugblätter, Kopien oder das Internet nutzen. Eine solche Position besetzen Autorinnen und Autoren, die ein Leben weit abseits der ›gesellschaftlichen Normalität‹ oder in der Illegalität führen, staatlich verfolgt werden und auf der Flucht sind (wie Ayaan Hirsi Ali, Taslima Nasrin und Salman Rushdie), teilweise mit Decknamen und anonym veröffentlichen. 449 | Hadayatullah Hübsch stellt fest: »Der ›underground‹, eine totgeborene Erfindung des ›establishments‹. Solange er sich verkaufen und schematisieren ließ, machte er bis heute von sich reden« (Hübsch, zit. n. Engel/Schmitt 1974: 8).
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Manchmal wird dieser Schritt durch ein klares öffentliches Zeichen vollzogen, wie z.B. vom Beat-Dichter LeRoi Jones, der in den 1960er Jahren zur Black Power-Bewegung stieß und sich fortan den nom de guerre Imamu Amiri Baraka gab.450 Daneben gibt es Fake-Namen, die von Untergrund-Autoren oder -Gruppen als Identitätspassepartout benutzt werden können – hier markiert z.B. der Name ›Luther Blissett‹ subkulturelle (Kollektiv-)Werke, während Gerichte bei potenziellen Klagen gegen die unter dem Namen ›Blissett‹ veröffentlichten Texte nur eine eingeschränkte Handhabe besitzen. Auch die Nutzung dieses in europäischen Subkultur-Publikationen immer wieder präsenten Namens (in Deutschland zeichnet ›Blissett‹ u.a. für das Handbuch der Kommunikationsguerilla verantwortlich) kann als eine Verweigerung gegenüber der Inszenierung des bürgerlich-originellen Autorsubjekts auf dem freien, kapitalistischen Buchmarkt verstanden werden. In einem Luther-Blissett-Manifest, das auch die Geschlechtsidentität der Figur verkehrt, heißt es: Luther Blissett will aus dem Gefängnis der Kunst entfliehen und DIE WELT VERÄNDERN : Zu diesem Zweck bemüht sie sich, der kapitalistischen Gesellschaft ein Angst machendes Bild ihrer selbst zu präsentieren. […] Der kollektive Name zerstört die Kontrollmechanismen der kapitalistischen Logik. […] Jede mit Luther Blissett gezeichnete Aktion ist eine Herausforderung der Herrschaft, eine Demonstration unserer Unregierbarkeit. (Ernst/Rauscher 1998: 164) 451
Damit ist ein dritter Bereich benannt, der nicht mehr direkt kontinuierliche politische Verfolgung und als Effekt ein Leben und Schreiben aus dem Untergrund oder aber einen ökonomischen Rückzug aus dem herrschenden Litera-
450 | Ähnliches beschreibt, in hybridisierter Form, Birken-Silverman für die deutschmigrantische Hip-Hop-Kultur. Zu den Bemühungen der Hip-Hop-Gruppen um eine alternative Identitätsfindung gehöre auch die »Konstruktion einer alternativen Identität durch alternative Personennamengebung« (Birken-Silverman 2003: 278): »Nach dem Vorbild von HipHop-Künstlern kaschieren die Gruppenmitglieder ihre reale bürgerliche Identität durch sog. Codenamen, die ihre echten Namen durch Klangassoziationen verschlüsseln (z.B. Flavio > Flamingo). Sie tragen als ›sprechende Namen‹ zur Aufwertung des Namensträgers bei, indem sie auf dessen Rolle, Eigenschaften und Anspruch auf Ruhm verweisen.« (Birken-Silverman 2003: 281) 451 | Um die Entstehung des Passepartout-Namens ›Luther Blissett‹ sind zahlreiche Mythen konstruiert worden. Einer davon lautet wie folgt: Das linksradikale Prankster(engl. ›jemand, der Streiche spielt‹)Kollektiv Transmaniacs habe den Namen erstmals im Sommer 1994 genutzt und sich dabei auf einen englisch-jamaikanischen Fußballspieler bezogen, der in den 1980er Jahren äußerst erfolglos beim AC Mailand gespielt habe (Ernst/Rauscher 1998: 165f.). Vgl. auch: autonome a.f.r.i.k.a. gruppe u.a. 1994: 75–79.
Untergrund, Literatur und Subversion
turmarkt zur Folge hat: die aktive Inszenierung von Autorinnen und Autoren und Gruppen durch öffentliche Akte oder Erklärungen als Teil bzw. Vertreter eines (konstruierten) Untergrunds. Dieser Schritt wird häufig in Gesellschaften vollzogen, in denen literarische Werke zwar nicht unmittelbar von der Zensur oder von Verboten bedroht sind, in denen jedoch der literarische Betrieb oder die kulturellen Institutionen sehr erstarrt sind und insbesondere jüngere Autorinnen und Autoren neue oder ihnen angemessene Positionen nur durch die Etablierung von Subkulturen außerhalb des Betriebs einnehmen können. Für die deutsche Nachkriegsliteratur lässt sich dies exemplarisch bei Rolf Dieter Brinkmann zeigen, der im November 1968 in der Hochschule der Künste in Berlin dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bei einer öffentlichen Diskussion drohte, wenn sein Buch ein Gewehr wäre, würde er ihn niederschießen (vgl. Bentz u.a. 1998: 248; Kreis 1994: 132). Fernab jeder Debatte über seine literarische Ästhetik wird der Autor aufgrund seines sozialen Verhaltens (mit dem er sich in diesem Fall auch in Diskurse des Antisemitismus und des literarischen Skandals einschreibt) aus dem ›eigentlichen Literaturbetrieb‹ ausgeschlossen und in eine Außenseiterposition bzw. einen ›Untergrund‹ gedrängt. Die Inszenierung eines/r Autors/in als Teil eines Untergrunds hat sich mit der Zeit jedoch stark relativiert, weil die Autorinnen und Autoren materiellen Zwängen unterliegen und die bewusste Abgrenzung gegen den ›offiziellen Literaturbetrieb‹ und seine Verdienstmöglichkeiten oft nicht durchhalten können (das gilt in derselben Weise auch für Kleinverlage)452 . Dies wird beispielsweise in einem Interview deutlich, das Thomas Daum 1981 mit dem Untergrund-Literaten Jörg Fauser geführt hat: «Seit fünf, sechs Jahren habe ich mit dem zu tun, was man ›Alternativ-Literatur‹, ›GegenKultur‹, ›Klein-Verlage‹ etc. nennt.« (Fauser) In dieser Zeit habe er mit Schreiben umgerechnet DM 52,90 pro Monat verdient. Fazit: »Hätte ich in diesen annähernd sechs Jahren nicht eine Reihe von Jobs wie Gepäckarbeiter oder Nachtwächter gehabt, würde ich nicht für Rundfunk/TV/bürgerliche Feuilletons/Nackedeimagazine u.a. schreiben, könnte ich mir diese ›Alternativ-Szene‹ gar nicht erlauben.« (Daum und Fauser, zit. n. Briegleb 1993: 21)
Die Selbstpositionierung in der Untergrund-Literatur kann für eine/n AutorIn die Notwendigkeit zur Folge haben, eine Tätigkeit auf einem gesellschaftlich sehr wohl akzeptierten oder gar korrumpierten Feld (das mitunter im Gegensatz zu den politischen Zielen der literarischen Untergrundtätigkeit steht) ausüben zu müssen. Ein Beispiel für die ambivalenten Folgen dieser Positionierung liefert Jürgen Ploog, der Anfang der 1970er Jahre in München den
452 | Der März Verlag konnte z.B. nur überleben, weil er in der Reihe Olympia Press pornografische Literatur vertrieb, vgl. Ackermann/Greif 2003: 61.
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Piratensender Radio 23 auf bauen half, literarisch in der Untergrund-Szene verankert ist und bis heute mit Cut-up-Verfahren experimentiert. Seine Haupteinnahmequelle war jedoch seine kaum mit dem Untergrund verbundene Tätigkeit als Flugzeugpilot bei der Lufthansa, die allerdings auch wieder eine Form unkonventionellen Berufslebens darstellt und damit zumindest indirekt die normalen Abläufe des Berufslebens in der Bundesrepublik sprengt – vergleichbar den Cut-up-Verfahren, die die üblichen Bewusstseinsvorgänge zu sprengen versuchen.453 Das Problem, dass man sich die Produktion von Untergrund-Literatur im ganz materiellen Sinne leisten können muss, führt zu Auseinandersetzungen zwischen ›echten Autoren‹ und ›echten Untergrundautoren‹, wobei die Grenze fließend ist. Gundel Mattenklott berichtet vom ›Dilettantismusstreit‹, der 1982 während des Hamburger Literatur-Festivals Literatrubel »zwischen professionellen Literaten und der Schreibbewegung« ausgetragen wurde. Der Hintergrund, so Mattenklott, sei die Auseinandersetzung »um die ohnehin mageren Subventionen für die verschiedenen Literaturzentren und für Lesungshonorare« gewesen, sublimiert als Kampf »um den Status des Autors, den man nicht mit jeder schreibenden Hausfrau teilen möchte«. Ohne jeden Zufall lief dieser Konflikt auf die Restauration jener Ordnung hinaus, gegen die die (Frauen-) Schreibbewegung ursprünglich angetreten war: Es lasse sich rückblickend feststellen, daß hier auch Männer (keine Frau hat den Offenen Brief unterschrieben) ihre Position gegen die aus ihrer Stummheit heraustretenden Frauen verteidigen und Gewerkschafter sich wehren gegen die unorganisierte Basisöffentlichkeit der Bürgerinitiativen. Die Literaturpost sieht die Hierarchie von oben und unten wieder zementiert (Mattenklott 1992: 179).
Die Inszenierung von Autorinnen und Autoren als Untergrund-Literaten wird oft mit einer martialisch-männlichen Selbstdarstellung oder aber der Überdeterminierung distinktiver Identitätskonzepte und Ausschlussverfahren verbunden. Dies mag einer Gegenbewegung gegenüber dem starken Druck der Majoritäten auf die minoritären Gruppen geschuldet sein, kann allerdings zur paradoxen Situation führen, dass z.B. aufgrund ihrer ethnischen Zuordnung
453 | Ploog selbst stellt zwischen seinen (subversiven) Cut-up-Verfahren und seinem Berufsleben eine direkte Verbindung her: »Wie kann ich eine Struktur entwickeln, in der Bangkok, New York und Frankfurt sich gleichzeitig nebeneinander bewegen? Und der Schlüssel dazu war für mich das Montieren und Cutten – wo dann immer gefragt wird: Ja wie? Eben warst du noch in New York, wieso bist du jetzt in Bangkok? Na weil ich da hingeflogen bin, nur habe ich nicht langweilig beschrieben, wie ich neun oder zwanzig Stunden in der Maschine saß, sondern gleich in Bangkok weitergemacht. So war ja auch mein Leben.« (Ploog, zit. n. Ullmaier 2001: 71)
Untergrund, Literatur und Subversion
Verfolgte gerade die ethnische Zuordnung von Menschen zum entscheidenden Ausschlusskriterium aus ihren Gruppenzusammenhängen machen, oder dass Autoren, die sich für eine befreite Sexualität literarisch engagieren, Frauen in ihren Texten eine Rolle als auszubeutendes Sexualobjekt zuweisen und damit neue Strukturen der Unterdrückung produzieren und stützen. Es ist bemerkenswert, dass als zentrale Figuren der Untergrund-Literatur (auch in diesen Ausführungen) fast nur Männer genannt werden, wenngleich viele ihrer Texte über Sexualität auch als ›Männer(-selbstvergewisserungs-)literatur‹ rubriziert werden könnten.454 Gleichzeitig wird die ›Frauen(selbstvergewisserungs)literatur‹ (z.B. von Verena Stefan oder Erika Runge) allerdings als ›Frauenliteratur‹ gekennzeichnet, was wiederum auf die Nichtmarkierung der hegemonialen männlichen Position in Literaturbetrieb wie -wissenschaft verweist. Mit anderen Worten: Die Untergrund-Attitüde des Bürgerschrecks und der Provokation kann in der Untergrund-Literatur schnell umschlagen in eine Dialektik, die im Versuch, neue Freiheiten zu erlangen, alte Unfreiheiten reproduziert. Die Geste des literarischen Redens im Namen einer minorisierten Randgruppe ist jedoch selbst bereits einem Legitimationsproblem unterworfen. Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt hatte sich »die Darstellung der Situation abhängig Arbeitender, vornehmlich mit sprachlichen Mitteln« (Werkkreis Literatur der Arbeitswelt 1990: 142), zum Programm gemacht, bekam jedoch zunehmend ein großes Problem – »die geringe Beteiligung der Hauptpersonen: der Arbeiter« (Mattenklott 1992: 155). Andere wie »die Frauen-, Schwulen- und diversen gemischten Schreibgruppen« seien nicht mehr gewesen als eine literarische Therapie für »die Schmerz- und Krisengeschüttelten« (ebd.: 171) und »in den achtziger Jahren zunehmend verbürgerlicht«, wodurch die distinktive und politische Qualität des Schreibens obsolet geworden sei: »Subversiv ist an deren Arbeit im besten Fall der mehr oder weniger heimliche Aufstand der Hausfrauen gegen den abstumpfenden Haushalts- und Ehealltag« (ebd.: 179f.). Pierre Bourdieu beschreibt das Phänomen, dass Teile des Kleinbürgertums (die teilweise einen sozialen Abstieg hinter sich haben und souverän auf ein hohes kulturelles Kapital zurückgreifen können) ein strategisches Verhältnis zu kulturellen Protestäußerungen hätten, um symbolisch eine Gegenposition zur Bourgeoisie und zur Hochkultur einzunehmen. Es lasse sich beobachten, dass diese Gruppen
454 | Ein prominentes Beispiel für die ›männliche Untergrund-Literatur‹ ist Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr, den dieser zur Zeit seiner offensiven UntergrundInszenierung veröffentlichte. Die offenen Schilderungen hetero- und homosexueller (auch oraler und analer) Akte sowie die Benutzung eines als obszön empfundenen Vokabulars zielten auf die Möglichkeit eines neuen Sprechens über Sexualität in der Gesellschaft ab, vgl. u.a.: Brinkmann 1993: 79, 116, 96 u. 135f.
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Literatur und Subversion mit jedwedem symbolischen Protest sympathisieren und […] sich alle Gattungen, die – wie der Jazz, der Film, Comics, Science-fiction – zumindest vorübergehend nur am (unteren) Rand der legitimen Kultur existieren, an[…]eignen und in der Übernahme amerikanischer Moden und Vorbilder – Jazz, Jeans, Rock, Underground –, auf die sie am liebsten ein Monopol hätten, an der legitimen Kultur Revanche […] nehmen. (Bourdieu 1987: 566)
Auch die Analysen Bourdieus verweisen auf das Problem, dass Mitglieder bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Milieus eine Sprechposition einnehmen, aus der heraus sie sich für randständige und minorisierte Milieus einsetzen – allerdings weniger, weil sie direkten Kontakt zu diesen Milieus haben, sondern vielmehr, weil sie auf diese Weise ihren eigenen gesellschaftlichen Status aufwerten können. Jede Positionierung von Untergrund-Autoren oder -Gruppen muss also daraufhin untersucht werden, aus welcher sozialen Position heraus für welche soziale Position gesprochen wird.
5.1.4. Dilettantismus, Cut-up und Szenesprachen. Formen und Schreibweisen der Untergrund-Literatur Jenseits der Frage, wie sein/e AutorIn sich öffentlich inszeniert, kann ein literarisches Werk bereits die Zuschreibung ›Untergrund-Literatur‹ erfahren, indem es sich formal oder sprachlich auf einen Untergrund und seine Sprache oder Zeichensysteme bezieht. Das kann einerseits den Einbezug von subkulturellen Sprachen in den Text beinhalten, andererseits die (experimentelle) Nutzung von subkulturellen Zeichensystemen oder -formen wie z.B. Graffitis, die sich im Design zahlreicher Untergrund-Anthologien der letzten Dekaden finden, oder von Cut-ups. Zugleich weist die Gestaltung der Untergrund-Bücher oft einen (inszenierten) Dilettantismus auf: Die Cover sind oder scheinen zusammengeklebt, die Titel handschriftlich verfasst, die Texte unlektoriert in die Druckvorlage eingeklebt. Das ›Hastige‹ suggeriert, dass der Text ›auf der Flucht‹ entstanden sei, das (scheinbar) Unprofessionelle negiert die Regel des Literaturbetriebs, möglichst ›schöne‹, gut verkauf bare oder zumindest professionell gestaltete Literatur anzubieten. Damit werden gerade im Untergrund neue künstlerisch-experimentelle Verfahren entwickelt, die im Literaturbetrieb selbst (noch) keine Akzeptanz finden und teilweise mit zeitlicher Verzögerung von diesem aufgenommen werden. Bereits im Dadaismus führen die Lautgedichte zu einer Frontstellung der Autoren gegenüber den großen Verlagen, die eine solche ›de-semantisierte‹ Sprache nicht verbreiteten, weshalb die Autoren sich primär auf Happenings und durch Flugblätter der Öffentlichkeit präsentieren. In den 1960er Jahren bemüht sich die ›Dirty Speech‹-Bewegung in den USA durch die Einführung einer ›schmutzigen‹ und vom Literaturbetrieb nicht akzeptierten Sprache um die Befreiung der individuellen Wahrnehmungs- und Sprechweisen von gesell-
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schaftlichen Normierungen – und trifft in ihren Bemühungen nicht nur auf politischen, sondern auch auf juristischen Widerstand. Bereits Ginsbergs Howl wird im März 1957 aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen konfisziert, der Exekutor Chester MacPhee stellt fest, dass »the words and the sense of the writing […] obscene« seien (MacPhee, zit. n. Campbell 2000: 193). Auch Rolf Dieter Brinkmanns erster Roman, Keiner weiß mehr von 1968, erscheint mit einem eingelegten Selbstverpflichtungsschein, das Buch Minderjährigen nicht zu geben, um potenzielle Anklagen (die es dennoch gab) zu vermeiden (vgl. Bentz u.a. 1998: 249f.). Die Kritik begründet Brinkmanns Verwendung einer ›obszönen Sprache‹ allerdings mit seinem Sujet, der Auseinandersetzung mit offener Sexualität, wie u.a. Karl Heinz Bohrer: »Brinkmanns zwanghaftes Leit-Motiv, das sexuelle Experiment […,] forderte den brutalen Sound der UndergroundSprache geradezu heraus« (Bohrer, zit. n. Bentz u.a. 1998: 250). Wenn kanonisierte Literatur sich üblicherweise der Hochsprache bedient und diese im künstlerischen Prozess noch verfeinert, könnte der Eingang von subkulturellen Sprachen in die Literatur einen provozierenden Effekt haben, vielleicht gar das Sprechverhalten der Literaturinteressierten beeinflussen. Zudem könnte die Nutzung einer marginalisierten Sprache in der Literatur ein neues Selbstbewusstsein für Menschen bedeuten, die sich dieser Sprache bedienen – so die Thesen in der damaligen Zeit. Die Frage, welche Varietäten in die Literatur eingehen, lässt sich nur mit Hilfe der Soziolinguistik klären, die Kategorien zur Differenzierung einer Gesamtsprache als »Gesamtheit aller sprachlichen Mittel einer Sprachgemeinschaft« in verschiedene Subsysteme als »(Hypo-)Systeme einer Gesamtsprache« (Veith 2002: 26) entwickelt hat. Zu diesen Subsystemen zählen: Sprachvarietäten bzw. Sondersprachen, die »primär dazu dienen, Gruppenmitglieder als solche zu identifizieren« (z.B. Dialekte, Jugendsprache, Rotwelsch); Fachsprachen als »Mittel einer optimalen Verständigung über ein Fachgebiet unter Fachleuten« (z.B. in der Medizin oder in der Jurisprudenz); sowie Jargons als »situationsabhängige Sprachform mit gemeinsprachlicher Grammatik, saloppem Stil, emotionalen Wörtern und Wendungen« (Veith 2002: 26–28). Veith unterscheidet drei Bereiche, in denen sich sprachliche Subsysteme entwickeln können. Zwischen dem Makrobereich, der auf höchster Ebene übernationale und nationale Einheiten zu beschreiben versucht, und dem Mikrobereich, der auf kleinster Ebene Peer- und Primärgruppen zusammenfasst, siedelt er den Mesobereich an: Darin befinden sich Institutionen (Klinik, Gericht, Schule usw.), soziale Netze (Dorfgemeinschaft, Nachbarschaft usw.) sowie Milieus, zu denen auch die Subkulturen und Szenen gezählt werden. Auf dieser Mesoebene entwickeln sich Dialekte, Pop- und Szenesprachen, das Rotwelsch sowie verschiedene Jargons, die in einen Gegensatz zur Hochsprache gestellt werden können, welche einerseits als sprachliche Norm institutionell veran-
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kert ist, sowie andererseits von den höheren sozialen, ökonomischen und akademischen Schichten gesprochen wird. In der Abgrenzung von der hochsprachlichen Norm und bei einer gleichzeitigen Verbindung mit einem gesellschaftlich minoritären Standpunkt kann eine Sprachvarietät bzw. Sondersprache als eine Sprache des Untergrunds inszeniert werden. Ein entscheidendes Merkmal dieser Untergrundsprachen ist, dass sie sich nicht nur inhaltlich den Normen der Hochsprache verweigern, sondern auch formal: Es gibt für sie keine festen Regeln, vielmehr eine unüberschaubare Zahl an Möglichkeiten. Schon 1983 konstatiert Ernest W.B. Hess-Lüttich: »Der subkulturelle Wortschatz nährt sich meist aus den terminologischen Beständen mehrerer ›Szenen‹ zugleich; Begriffe der Musikszene […] und der Musiktechnik […], der Drogenszene […], der Alpha-Szene […] oder der Ökoszene« (Hess-Lüttich, zit. n. Veith 2002: 69). Auch neuere Untersuchungen bestätigen diese grundsätzlich polyphone Verfassung jugendlicher Subsprachen: »Es gibt so viele Jugendsprachen wie es Jugendgruppen und Situationen gibt […] oder anders ausgedrückt: Der Vielzahl gruppenspezifischer und individueller Lebensstile entspricht eine ebenso große Zahl unterschiedlicher Stile« (Schlobinski 1993: 93). Zwar lassen sich Tendenzen beschreiben, z.B. dass die ›Drogen-Szene‹ stärker als andere Szenen Anglizismen aufnimmt, ihr genaues Funktionieren muss jedoch immer an einer klar benannten Gesprächssituation oder einem Werk herausgearbeitet werden. Die kanonisierten und teilweise in Wörterbüchern niedergelegten subkulturellen Sondersprachen wie das Rotwelsch als sog. Gaunersprache haben im 20. Jahrhundert ihre Virulenz verloren (vgl. Veith 2002: 76 u. 79). Einer Publikation kann allerdings sowohl durch den Untergrund-Bezug der Sprache, als auch durch die Form der Texte und des gesamten Buches ein Status als Untergrund-Veröffentlichung zugewiesen werden. Untergrund-Texte positionieren sich teilweise durch ein dilettantistisches Layout oder die Selbstkennzeichnung als ›Raubdruck‹ bereits äußerlich außerhalb des Literaturbetriebs. Zudem kann die avantgardistische Überschreitung der Grenze zwischen der Literatur und einem anderen, neuen Medium diese als Produkt eines künstlerischen Untergrunds beschreibbar machen. Die Anthologie ACID von Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla sollte bei ihrem Erscheinen 1969 ursprünglich den Untertitel Multimedia-Lesebuch tragen, was ein Verweis auf den neuartigen Charakter des Überspringens von Medienbegrenzungen gewesen wäre. Bentz wertet diese Grenzüberschreitung als »ein bezeichnendes Merkmal der Untergrund-Literatur […]. Sie verlässt den Bereich traditioneller Literatur und begibt sich in Grenzbereiche zur Malerei und zur Musik, die beide ihrerseits längst ihre Grenzen gesprengt haben. Der Schockeffekt wirkt doppelt: Was gesagt wird, ist ebenso provokativ wie die Art, auf die es gesagt wird« (Bentz u.a. 1998: 238). Diese Veröffentlichung des alternativen März-Verlags sollte dabei, wie es ihr Name bereits andeutet, die Wir-
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kung einer Droge entfalten455 – eine Metaphorik, die für die großen Verlage und ihr bürgerliches Publikum zur damaligen Zeit kaum realisierbar gewesen wäre. Im Bereich der Untergrundliteratur wird die Drogenmetapher jedoch zum Programm erhoben: Auffällig ist, wie stark die Wirkung halluzinogener Drogen wie Haschisch oder LSD mit dem eben erwähnten Konzept vergleichbar ist: sie lösen das Zeitgefühl auf, erzeugen bunte, abrupt sich einander ablösende Bilderfolgen und zerbrechen – scheinbar – den Zusammenhang des alten Ich (Hubert 1974: 273).
Brinkmanns Plädoyer für eine »Neue Sensibilität« (Brinkmann 1985: 147) und eine ›Befreiung der Wahrnehmung‹ basiert auf einer Vielzahl von programmatischen Grenzüberschreitungen in der Literatur: Die Überschreitungen von geografischen, kulturellen und sprachlichen Grenzen, der Grenze von Hoch- und Populärkultur, der Grenzen zwischen Literatur und anderen Medien, der Grenzen literarischer Gattungen und von Schriftarten (vgl. Ernst 2006b: 127–130). Die Überschreitung dieser Grenzen hat sich allerdings inzwischen normalisiert, die Verbindung von Malerei, Fotografie, Musik und Literatur hat heute den Nimbus des Neuartigen verloren. Andere Medien wie digitale Fotografie, CD, DVD und das Internet haben Möglichkeiten für neue Untergrund-Literaturen eröffnet. Wenn kleine Verlage heute das nahezu komplette Verlagsprogramm mit Büchern mit CD-Beilage bestreiten, wie der Dresdner Verlag Voland & Quist, so steht dies zwar zweifelsohne in der formalen Tradition der Untergrund-Literatur, die sich neue Medien und Techniken aneignet, um – wenngleich dilettantisch – eine veränderte Sicht auf Literatur und Welt zu ermöglichen, entspricht aber den heute üblichen intermedialen Mediennutzungsweisen durchschnittlicher Kulturkonsumenten. Es sollte allerdings darauf hingewiesen werden, dass Untergrund-Literatur ihre dilettantische Form nicht immer mit einem programmatischen Anspruch verknüpft und auf experimentelle Weise interessante ästhetische Produkte erzeugt, wie im von Wolfgang Müller herausgegebenen Band Geniale Dilletanten (1982). Darin wird das »Ver-spielen, das Ver-schreiben als positiver Wert, als Möglichkeit zu neuen, noch unbekannten Ausdrucksformen zu gelangen« (Müller 1982b: 10), verstanden, denn »Dilletantismus [sic!] (kann) in provozie455 | Rolf Dieter Brinkmann beschreibt in einem Brief ACID als eine »Materialsammlung & Dokumentation. Darüber hinaus ist aber auch durch die beigefügten Bilder, Comics & Fotokollagen, die zum Teil mit den Texten verschnitten sind, eine Art Lesebuch angestrebt von möglichst hohem Reizwert. Die Quellen sind teilweise hektografierte Zeitschriften, Literaturmagazine & Underground-Zeitungen, aber auch Illustrierte & offizielle Publikationen. […] ACID heißt Säure. Gleichzeitig ist das Wort ein Synonym für LSD. Also der Titel kann in jeder Hinsicht wörtlich genommen werden« (Brinkmann, zit. n. Bentz 2003: 123f.).
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render Form einen Schock auslösen« (Müller 1982b: 12). Im Gegensatz dazu stehen untergrundliterarische Texte, die ästhetisch dilettantisch gestaltet sind, weil ihre Wirkung primär durch ihre Einbettung in die Subkultur oder durch sehr plakative ›Botschaften‹ erzeugt werden soll. Mattenklott schreibt der Literatur der ›Frauen-Schreibbewegung‹, der ›schwulen Literatur‹ und der ›Gefangenenliteratur‹ zu, dass diese von einem »Mangel an Selbstwertgefühl, Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung« geprägt seien und ihre Autorinnen und Autoren die »Therapie mehr als das literarische Gespräch« (Mattenklott 1992: 174) gesucht hätten, diese Literaturen folglich ästhetisch irrelevant seien. Ähnlich apodiktisch hat sich Jost Hermand gegen die frühe Pop- und UntergrundLiteratur gestellt, die er als »ideale Wegschmeißkunst« (Hermand, zit. n. Mattenklott 1992: 163) bezeichnet hat. Literatur verweigert sich hier zwar komplexen ästhetischen Strukturen, erfüllt für die Autorinnen und Autoren und ihr jeweiliges Publikum jedoch eine andere, Selbstverständnis und Solidarität produzierende, soziale Funktion. Pierre Bourdieu verweist darauf, dass sich viele gesellschaftliche Milieus die Produktion ästhetisch anspruchsvoller und komplexer Kunst materiell nicht leisten könnten: Daß sie allem möglichen Zwang ausgesetzt sind, führt die unteren Klassen […] zu einer pragmatischen und funktionalistischen ›Ästhetik‹, die jedes l’art pour l’art und formale Experimente als sinnlos und läppisch zurückweist, und motiviert auch ihre alltäglichen Entscheidungen und die Wahl ihres Lebensstils, der notwendigerweise rein ästhetische Intentionen als »hellen Wahnsinn« ablehnt. (Bourdieu 1987: 591)
Neben einem prinzipiellen Dilettantismus ist eine wichtige und in vielen Texten der Untergrund-Literatur vertretene Technik das Verfahren des Cut-up.456
5.1.5. Minoritäten, Subkulturen und Hässlichkeit. Inhalte, Personen, Topografien und Topoi der Untergrund-Literatur Die bundesrepublikanische Untergrund-Literatur der letzten fünf Dekaden lässt sich von ihren Inhalten her bestimmen als eine Literatur, die aus einem Milieu berichtet, das in der jeweiligen Gesellschaft soziologisch als ein ›Untergrund‹ bzw. eine ›Subkultur‹ zu bezeichnen wäre. In diesem Sinn sind z.B. der Roman Die Glücklichen (1979) des im Anschluss an einen Schusswechsel mit zwei Polizisten zu 15 Jahren Haft verurteilten APO-Aktivisten Peter-Paul Zahl oder der Roman Abgang (1988) des ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock Berichte aus dem terroristischen Untergrund – die Protagonisten oder Erzähler sind Teile der Szene politisch verfolgter Terroristen und berichten über alltägliche und intime Verhaltensweisen, die für ›die gesellschaftliche 456 | Vgl. die Ausführungen zum Cut-up in Unterkap. 2.2.2.
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Mitte‹ nicht-normal oder gar provokativ sind. Ähnlich gestaltet sich dies z.B. in den Romanen Tophane (1972) und Rohstoff (1984) von Jörg Fauser, in denen sich die Figuren weitestgehend im illegalen Milieu der Drogensüchtigen bewegen (vgl. Fauser 1972 u. 1984). Ein anderer Autor, dessen Werk eine Ansammlung von Berichten aus dem Untergrund und von den gesellschaftlichen Rändern ist, ist Hubert Fichte. Schon in Die Palette (1966) wagt sich die Hauptfigur Jäcki symbolisch in den Untergrund hinab: ›Die Palette‹ ist ein Hamburger Kellerlokal, in dem sich die Marginalisierten – Schwule, Arbeitslose, Drogensüchtige – treffen. Tatsächlich steigt Jäcki schon im zweiten Abschnitt die VIER STUFEN HINUNTER : […] In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in den Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen. […] Das Hinuntersteigen über die vier Stufen dauert lange genug, um zu empfinden, daß es zwischen den zwei Klinkermäuerchen eng und niedrig wird und man nicht gern vor der Tür stehen bleibt (Fichte 1970: 7f.).
Das Hinuntersteigen in die Palette bzw. den Untergrund erscheint also als attraktiv, gerade weil es der Ort des Abseitigen – Sexuellen, Geheimen, Toten und des Rausches – ist. In der vielbändigen Geschichte der Empfindlichkeit (1978–85) reist Jäcki, 1935 unehelich geboren, homosexuell und ›Halbjude‹, also mehrfach minorisiert, an abgelegene Orte zu anderen Minoritäten. Martin Büsser sieht in dieser dezentralisierten Bewegung hin zum Untergründigen den Kernpunkt des Fichteschen Werkes: »Fluchtlinien der Dezentralisierung bestimmen das komplette Werk Hubert Fichtes, Wege fort vom (gesellschaftlichen, lokalen und mentalen) Zentrum an Ränder, die immer neu gesucht und gesteckt werden müssen: mal Afrika, mal St. Pauli.« Fichte bewegte sich an den »Müllhalden der Zentren, Orte, zu denen Ausgegrenzte aller Art gespült werden (die dadurch, daß sie weggespült wurden, keineswegs zu besseren Menschen geworden sind)« (Büsser 1999: 193). Als Verfasser (pop-)literarischer Berichte von den Orten der Marginalisierten dient Fichte auch heute noch anderen Autorinnen und Autoren wie Thomas Meinecke und Kathrin Röggla als Vorbild (vgl. Schumacher 2003: 160f.). Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, dass sich Untergrund-Literatur inhaltlich bestimmen lässt durch die Bezugnahme auf Protagonisten gesellschaftlicher Submilieus: Terroristen, Drogensüchtige, Kriminelle und Gefangene, sexuelle und ethnische Minderheiten und jene, deren Stimme in der Literatur unterrepräsentiert ist, wie Frauen und Arbeiter. Die Texte bewegen sich häufig an den Orten der Ausgegrenzten, im ›Ghetto‹, einem ›Untergrund‹, einem besetzten Haus oder in einem Versteck, einer Höhle, der Kanalisation. Topoi des Hässlichen, Abseitigen, Gewalttätigen, Rauschhaften und Wahnsinnigen werden aufgerufen.
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Teilweise wird der Untergrund, in dem die Hauptfiguren leben, jedoch stark verfremdet oder von gegenwärtigen Milieus abgekoppelt – viele Texte der Science-Fiction-Literatur beschreiben zukünftige Untergrund-Bewegungen. Eine besonders wichtige Untergattung der Science-Fiction ist in diesem Kontext die Cyber-Punk-Literatur, die Anfang und Mitte der 1980er Jahre – während der Einführung der Personal Computer und der konservativen Regierungszeit Ronald Reagans – unter diesem Label entstand. Diese Gattung beschreibt marginalisierte Personen, die in einem technisch bestimmten, totalitären Datennetzwerk (=Cyberspace) leben müssen, das keinen Ausbruch und somit auch keine Freiheit zulässt. Die Protagonisten sind jung und aggressiv, oft Hehler oder Diebe (von Geräten, Chips, Daten) oder Anarchisten – und stehen gegen das System auf (= Punk). Oft erscheinen diese Protagonisten als Cyborgs, Hybride aus Mensch und Maschine, deren Gehirn sich an das elektronische System anschließen kann. Die Geschichten spielen meist im urbanen Raum, der dunkel und pessimistisch gezeichnet wird – die ›Punks‹ bewohnen darin einen untergründigen Ort. Wichtigste Vertreter des Cyberpunks sind William Gibson mit Neuromancer (1984), Bruce Sterling und seine Anthologie Mirrorshades (1986) sowie Virtual Girl (1993) von Amy Thompson, deren Vorbild auch einzelne deutsche Arbeiten der 1990er Jahre genutzt haben. Die CyberPunk-Literatur nutzt somit Figuren, Topografien und Topoi des Untergrunds, ließe sich somit auch als Untergrund-Literatur klassifizieren, wobei sie allerdings die realistischen Berichte aus einem Alltag minorisierter Gruppen in eine virtuelle Zukunft verlegt.
5.1.6. Jenseits des Literaturbetriebs. Eigenschaften von Untergrund-Literaturen – eine Zusammenfassung Um eine Literatur als eine Untergrund-Literatur beschreiben zu können, müssen fünf Punkte untersucht werden: Das gesellschaftlich-institutionelle Umfeld, in dem der jeweilige Text und sein/e AutorIn veröffentlicht werden; die ökonomische Position des Autors und des Verlags; die Autorenbilder und Selbstinszenierungen der Autorenfigur; die Formen und Schreibweisen der jeweiligen Literatur; und ihre Verwendung von Inhalten, Personen, Topografien und Topoi. Erstens ist eine Analyse des gesellschaftlich-institutionellen Umfeldes unabdingbar, damit überhaupt bestimmt werden kann, wo im jeweiligen Gesellschaftsgefüge ein Untergrund konstruiert wird und gegen wen sich die jeweiligen Untergrundautoren abgrenzen. Es konnte gezeigt werden, dass sich zwei grundsätzliche Fälle der Formation einer Untergrund-Literatur unterscheiden lassen: In autoritären Staaten mit einem umfassenden Zensursystem und teilweise physischer Bedrohung der Autorinnen und Autoren lässt sich Untergrund-Literatur bestimmen als jene Publikationen, die illegal und trotz ihres Verbots auf geheimem Wege veröffentlicht werden. Der Kanon
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politischer Zensurbestimmungen und verbotener Texte ist dabei historisch flexibel und widersprüchlich, abhängig von den jeweiligen politischen und juristischen Diskursen und Machtverhältnissen. In demokratischen Staaten mit einem kulturellen Liberalismus, die über keine umfassende Zensur verfügen und nur sehr wenige Texte indizieren, formieren sich subkulturelle und untergrundliterarische Szenen durch Akte der Selbstinszenierung und der Distinktion vom etablierten Literaturbetrieb und den hegemonialen staatlichen Institutionen. Bereits in den 1960er Jahren erweist sich die dichotomische Gegenüberstellung von ›Literaturbetrieb‹ einerseits und ›Untergrund-Szene‹ andererseits jedoch als problematisch: Die Grenzlinie ist unscharf, viele Autorinnen und Autoren wechseln häufig zwischen beiden Bereichen, einige Neuentwicklungen der Untergrund-Szene werden schließlich von den großen Verlagen absorbiert. Zweitens kann die ökonomische Position der Autorinnen und Autoren und ihrer Verlage in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften als eine des Untergrunds gewertet werden, indem sie sich außerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung oder des literarischen Marktes ansiedeln. Hier geht es um die Unabhängigkeit von größeren Medienkonzernen, die günstige bzw. rechtefreie Bereitstellung von Texten sowie um die Abgrenzung von den herrschenden Strukturen des Buchmarktes und seinen rechtlichen und ökonomischen Regularien. Die Grundvorstellung ist dabei, dass nur die Distanzierung von ökonomischen Zwängen und Abhängigkeiten den Verlagen und ihren Autorinnen und Autoren auch eine inhaltliche und ästhetische Freiheit ermöglicht. In der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass einerseits auch unabhängige Verlage sowie Autorinnen und Autoren schnell in die bestehenden Strukturen eingekauft werden und andererseits auch bei den arrivierten Verlagen ökonomisch wenig erfolgreiche Texte verlegt werden. Drittens müssen die Autorenbilder und Selbstinszenierungen von Untergrund-Autoren und -Gruppen untersucht werden. Auch hier ergibt sich wieder die Zweiteilung zwischen einerseits Autorinnen und Autoren und Literaturgruppen, deren Texte verboten und die einer direkten Verfolgung ausgesetzt werden und sich deshalb an geheime Zufluchtsorte zurückziehen und nur in sehr strategischer und illegaler Weise die Öffentlichkeit erreichen können, sowie andererseits Autoren- und Literaturgruppen, die sich als solche eines Untergrundes oder des gesellschaftlichen Randes inszenieren. Die Analyse einer Untergrund-Autorfigur muss sich daher der Frage widmen, für welche Untergrundgruppe die Autorinnen und Autoren wie zu sprechen vorgeben; wie ihr Verhältnis zu dieser Gruppe ist; inwiefern sich hinter der (Selbst-)Beschreibung eine Inszenierung verbirgt; wie sich das Verhältnis zum Untergrund in der jeweiligen Literatur niederschlägt. Viertens müssen die Formen und Schreibweisen der jeweiligen Literatur untersucht werden. Die Strategien sind dabei gegensätzlich: Von einer realistischen oder dilettantischen (Trash-)Literatur, die sich gegen die Ästhetizismen
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der hohen und kanonisierten Literatur abgrenzt (aber teilweise nur verschleiert, dass die Texte primär die Funktion einer Selbsttherapie erfüllen sollen), über die Nutzung einer als ›obszön‹ und ›dreckig‹ empfundenen Szenesprache, die teilweise nur für subkulturelle Milieus verständlich ist, bis hin zu experimentellen Formen wie intermedialen Schreibprojekten oder der Nutzung des Cut-up-Verfahrens werden viele Schreibweisen und Formen genutzt. Fünftens ist es notwendig, die Inhalte, Personen, Topografien und Topoi der jeweiligen Texte zu analysieren, inwiefern sie aus der Perspektive oder über das Leben von Figuren aus einem gesellschaftlich als Untergrund oder Subkultur zu bestimmenden Milieu berichten. Dabei wird der jeweilige Untergrund oder die Subkultur als ›normal‹ gesetzt und die gesellschaftliche Mitte bzw. die herrschenden gesellschaftlichen Normen erscheinen als fremd und unnormal oder gar als Angriffsziel von Attacken und Kämpfen. Es können Angehörige minorisierter Personengruppen wie Frauen, Arbeiter, Homo- und Bisexuelle, Gefangene, Drogensüchtige, Terroristen oder von Sub- und Jugendkulturen als positive Figuren dargestellt werden, von den Orten der Ausgegrenzten wie Slums, den ›Ghettos‹ oder heruntergekommenen Arbeitervierteln berichtet werden sowie aus unbekannten zeitlichen Räumen, die eine UndergroundOverground-Struktur konstruieren (wie in der Cyber-Punk-Literatur). Im Gegensatz zur ›schönen Literatur‹ werden häufig Topoi des Hässlichen und der Provokation genutzt sowie Momente des Schocks evoziert, außerdem werden gesellschaftliche Tabus oder hegemoniale Diskurse offen gelegt oder angegriffen. Entscheidend ist bei allen fünf Punkten, dass die jeweiligen UntergrundBezüge nicht einfach vorgeführt und ironisiert oder problematisiert werden, sondern dass Autoren bzw. Erzähl- oder Hauptfigur(en) sich in der jeweiligen Subkultur positiv situieren und von diesem Standpunkt aus eine kritische oder distanzierte Perspektive zu hegemonialen Diskursen, den politisch-juridischen Institutionen, der ökonomischen Ordnung, den Mittelklasse- und Oberschichtmilieus und/oder zum Literaturbetrieb einnehmen. Ob es sich bei einem Text um ein zur Untergrund-Literatur zu zählendes Werk handelt, kann jeweils nur eine Analyse aller fünf Punkte klären, wobei es nicht zwangsläufig wichtig ist, dass alle fünf Kriterien erfüllt werden. Es ist vielmehr denkbar, dass die Erfüllung bereits einer Kategorie ausreichen kann, damit ein Buch als Untergund-Literatur bezeichnet wird – wenn dieser Punkt in einer jeweiligen politisch-historischen Situation umfassend genug den Text und seine Rezeption bestimmt.
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5.2. U NTERGRUND , L ITER ATUR UND S UBVERSION . S OCIAL B E AT ALS N E T Z WERK UND DIE A NTHOLOGIE S OCIAL B EAT, S LAM P OETRY (1997) Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Bestimmungen einer UntergrundLiteratur soll im Folgenden mit dem Social Beat exemplarisch eine literarische Bewegung untersucht werden, die sich in Deutschland nach der Wende von 1989/90 gebildet hat. Es wäre an dieser Stelle auch möglich, einzelne Untergrund-Autoren näher zu untersuchen, im Rahmen dieser Arbeit soll jedoch das ›szenenhafte‹ Auftreten von Untergrund-Autoren der Gegenwart in Gruppen zum Gegenstand werden, um analysieren zu können, wie und ob literarische Untergrundszenen als Formen politischen Schreibens in der Gegenwart noch funktionieren.457 Zudem haben sich einige der wichtigsten Untergrundautoren der 1990er Jahre wie Dan, Kersten Flenter, Hadayatullah Hübsch, Boris Kerenski, Jaromir Konecny, Jan Off, Jürgen Ploog, Philip Schiemann, Michaela Seul und Enno Stahl im Rahmen von Social-Beat-Anthologien und -Veranstaltungen als (zumindest assoziierter) Teil dieser Bewegung gezeigt. Bereits Ende der 1980er Jahre hatte eine Gruppe von altgedienten Untergrund-Literaten der 1960er Jahre wie Hadayatullah Hübsch versucht, unter dem Label ›60/90‹ »Jungs und Mädels von früher wieder [zu] versammeln; aber nicht als Veteranentreffen, sondern gemeinsam mit Leuten von heute, die was zu sagen haben.« (Hübsch, zit. n. Ullmaier 2001: 134f.) Dieser Versuch einer Reanimation des literarischen Untergrunds in Deutschland ebbte nach zwei bis drei Jahren wieder ab,458 legte jedoch den Grundstein für eine Untergrund-Szene, die in den 1990er Jahren unter dem Namen ›Social Beat‹ bekannt wurde.
457 | Im Bereich der ›Untergrundliteratur‹ hätte diese Studie auch Arbeiten von Autoren des Prenzlauer Bergs und ihrer Nachfolger wie Adolf Endler (1930–2009), Bert Papenfuß (* 1956) und Johannes Jansen (* 1966) daraufhin untersuchen werden, inwiefern sie eine subversive Literatur darstellen; weitere mögliche Gegenstände wären die Genialen Dilletanten und Hörspielmacher Wolfgang Müller (* 1957), Andreas Ammer (* 1960), FM Einheit (* 1958) und Frieder Butzmann (* 1954); Autorinnen und Autoren, die sich anfangs im Kontext der Berliner Vorlesebühnen bewegten, wie Ahne (* 1968), Françoise Cactus (* 1964) und Tanja Dückers (* 1968); einzelne Vertreter des Social Beat und der Slam Poetry wie DAN (=Daniela Lindemann, * 1972), Kersten Flenter (* 1971), Boris Kerenski (* 1971), Philipp Schiemann (* 1969), Michaela Seul (* 1962), YussufM (=Michael Schönauer; * 1961); oder der Nachlass Ronald M. Schernikaus (1960–1991) und die Collagen Stefan Wirners (* 1966). 458 | Vom im Selbstverlag veröffentlichten Sammelband Interzone-Transit 99 wurden nur 30 Exemplare verkauft, vgl. Reiffer 1998: 39.
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Was sich hinter dem Begriff ›Social Beat‹ verbirgt, ist umstritten. Klar ist nur, wann und von wem dieser Begriff geprägt wurde: Die Berliner Untergrund-Autoren Jörg André Dahlmeyer und Thomas Nöske wollten ein Literaturfestival organisieren. Sie hatten – mit einigen anderen Gefährten – auf der Mainzer Minipressen-Buchmesse sehr enttäuscht beobachtet, dass diese Gegenverstaltung zur Frankfurter Buchmesse selbst »immer seltsamere Züge entwickelte: […] Bleisatz-Drucke, […] aufwendig gestaltete Künstlerbücher, […] Bücher über fair gehandelten Kaffee und Esoterikfibeln […,] die Vertreter der ›Unabhängigen Literatur‹ fühlten sich nicht mehr richtig vertreten« (Kerenski/Entalpie 1998: 6). Für das viertägige Festival der verbliebenen Vertreter ›unabhängiger Literatur‹, das vom 5. bis 8. August 1993 in Berlin stattfinden sollte, suchten Dahlmeyer und Nöske einen Begriff, unter dem die anreisenden Autorinnen und Autoren versammelt werden konnten, die sich teilweise schon an der Anthologie Downtown Deutschland. Underground Anthologie (1992) beteiligt hatten. Der Legende nach wurde, und somit ist in der Namensgebung schon ein selbstironisches Moment enthalten, der Begriff ›Social Beat‹ nach dem »Verzehr von siebzehn halben Litern Bier im Café Schliemann (im Berliner LSD-Viertel) ausbaldowert.« (Gröj Rejemlahd,459 zit. n. Kerenski 2003: 135) Die Begrifflichkeiten sind schon in ihren Anfängen diffus – es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Zuschreibungen Nöske und Dahlmeyer mit den jeweiligen Begriffen ›Social‹ und ›Beat‹ verbunden hätten. ›Social‹ wird mit ›Socialism‹ und dem Untergang des realen Sozialismus, aber auch mit ›Social Fiction‹, ›Social Message‹, also der Teilhabe am sozialen Alltagsleben, sowie dem Wunsch nach Vernetzung verknüpft. Mit dem Begriff ›Beat‹ wird ein Bezug zum ›Lebensgefühl der jungen Generation‹, aber auch eine historische Verbindung zur Beat Generation hergestellt.460 Diese begriffliche Offenheit führt zunächst dazu, dass bereits auf dem erfolgreich verlaufenden ersten Social-Beat-Festival einige Autorinnen und Autoren den Begriff inhaltlich zu füllen versuchen und sich zur Außerliterarischen Opposition ausrufen. In der Rekonstruktion der Social-Beat-Bewegung wird deutlich, dass der Begriff tatsächlich eher als eine Art Oberbegriff für unterschiedliche Szenen firmierte, die sich allesamt als ›Untergrund‹ verstanden, ohne ein gemeinsames Programm oder ein kollektives ästhetisches Konzept entwickeln zu können oder zu wollen. Diese Wandelbarkeit und Flexibilität wurde von den Aktiven positiv bewertet: »Social Beat ist eine Leerformel, die der Einzelne mit Inhalt füllt und somit neu definiert. Social Beat ist wie ein Virus, der ständig sein Aussehen verändert, deshalb nicht auf einen Nenner gebracht werden 459 | Bei diesem Ananym handelt es sich um Jörg Dahlmeyer. Das ›LSD-Viertel‹ ist das von der Lychener, der Schliemann und der Dunckerstraße gebildete Dreieck in BerlinPrenzlauer Berg. 460 | Vgl. Kerenski 2003: 135f.; Kerenski/Entalpi 1998b: 6; Degens 1999: 229.
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kann.« (Kerenski/Entalpie 1998: 6)461 Die Verweigerung von verbindlichen und verallgemeinerbaren ästhetischen Programmen ist damit ein wichtiges Merkmal der ›Social Beat‹-Bewegung. Es soll jedoch eine der Leistungen der folgenden Analyse sein, bei aller Heterogenität der Social-Beat-Texte dennoch formale und inhaltliche Merkmale zu beschreiben, die vielen Texten gemein sind. Von 1993 bis 1998 haben zahlreiche Social-Beat-Festivals 462 stattgefunden, sind verschiedene größere Social-Beat-Anthologien (vgl. Kerenski 2003: 137) und Social-Beat-Zeitungen463 erschienen und wurde der Begriff von zahlreichen Autorinnen und Autoren bzw. Verlagen (vgl. hierzu Reiffer 1998: 84–87) als Label zur Selbstbeschreibung benutzt. Auf dem Höhepunkt der Bewegung veröffentlichte der Social-Beat-Autor, -Herausgeber, -Theoretiker und spätere -Kritiker Boris Kerenski noch 1998 sein euphorisches Zwischenfazit: Social Beat ist ein Selbstläufer geworden. Es ist wie ein Schneeball, der eine Lawine ausgelöst hat. Kleine Verlage und Zentralen wurden gegründet, in nahezu allen Städten finden neuerdings Lesereihen statt. […] es ist unmöglich geworden, das Ganze zu überblicken. (Kerenski/Entalpie 1998: 6)
Zur selben Zeit deutete sich jedoch bereits das Ende der Bewegung an;464 in den Folgejahren wandten sich Autorinnen und Autoren vom Label ›Social Beat‹ 461 | Von der Vielfalt an Bedeutungszuschreibungen, die der Begriff ›Social Beat‹ bei den unter ihm Versammelten zugelassen hat, zeugt die Mailart-Aktion von Boris Kerenski, der 75 Social-Beat-Autoren jeweils auf einer Postkarte den Begriff bestimmen lässt, vgl. Schönauer/Kerenski 1998: 11–86. Wichtigstes Ergebnis dieser Umfrage ist die große Heterogenität der Autorinnen und Autoren im Umgang mit dem Label ›Social Beat‹, das eher ein Netzwerk verschiedener Untergrund-Literaturen denn eine gemeinsame ästhetische Ausrichtung formt. 462 | Die größten Festivals fanden in Berlin statt: 1993 unter dem Motto Tötet den Affen, 1994 als Der Affe schlägt zurück-Festival und 1998 unter dem Titel Affenterror. Weitere Festivals gab es u.a. in Ludwigsburg und Hannover (1995), Bremen, Dortmund, Bielefeld, Hannover, Münster, Ludwigsburg (1996), Hannover (1997), Stuttgart und Hannover (1998); vgl. auch Reiffer 1998: 81–83. 463 | Einige der wichtigsten Organe waren Der Störer. Zeitschrift für Social-BeatLiteratur (Berlin; hg. von Jörg André Dahlmeyer u.a.); Cocksucker. Zeitung für Underground-Literatur (Essen; hg. von Oliver Bopp); SUBH (SUBHversiv, SUBHkulturell & SUBHper!). Organ für Social Beat, Punk & Weltrevolution (Cottbus; hg. von Andreas Reiffer) sowie Der Sprung ins nächste Jahrtausend (Essen; hg. von Marc Degens). Im Internet erschien das Ezine M.O.B.; vgl. auch Reiffer 1998: 78–81 u. 87f. 464 | Das zentrale Informationsorgan der Bewegung, die Wanze, wurde von wechselnden Redaktionen betreut, arrangierte die eingesandten Beiträge und erschien »in einer Auflage von ca. 90 Stück unregelmäßig« (Kerenski 2003: 137). Im Frühjahr 1998 sieht der Verantwortliche Boris Kerenski jedoch von der Veröffentlichung einer neuen
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ab, die Bewegung löste sich zunehmend auf. 2003 veröffentlichte Kerenski einen Abgesang auf die Social-Beat-Bewegung, denn es »stellt sich die berechtigte Frage, von wem heute überhaupt die Rede ist, wenn man von Social Beat als einer Underground-Bewegung spricht, von einem Begriff, der in das sprachliche Allgemeingut übergegangen sein soll & ein bestimmtes Genre bezeichnen will.« (Kerenski 2003: 143) Zur folgenden Untersuchung der Social-Beat-Bewegung werden Manifeste, Vorworte und Selbstbeschreibungen der Aktivisten ebenso herangezogen wie die empirische Untersuchung von Andreas Reiffer, der 1998 eine repräsentative Fragebogen-Umfrage unter den Autorinnen und Autoren durchführte (bei etwa 200 Aktivistinnen und Aktivisten erhielt er 53 auswertbare Fragebögen). Gegenstand der Primärtextanalyse ist die Anthologie Social Beat, Slam Poetry: die ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort, die von Michael und Joachim Schönauer herausgegeben wurde und programmatisch Vertreter des Social Beat mit Prosatexten und Gedichten versammelt; der Untertitel verweist darauf, dass mit Hilfe dieser Anthologie eine literarisch und politisch relevante Literaturgruppe, die Außerliterarische Opposition, etabliert werden soll. Dieser Begriff kann als Überbegriff für die Social-Beat-Bewegung bestimmt werden, der im Anschluss an die Außerparlamentarische Opposition während der großen Koalition in der Bundesrepublik der 1960er Jahre eine politische Relevanz suggerieren sowie die Social-Beat-Autoren zu einer Gegenöffentlichkeit erklären soll, wie Andreas Reiffer darlegt.465 Eine zweite Begründung für die Auswahl dieser Anthologie liefert der Literaturwissenschaftler, Autor und Archivar Enno Stahl, der die Social-Beat-Bewegung aufmerksam verfolgte und die Anthologie als »ein authentisches Bild des literarischen Untergrunds« (Stahl 2003a: 260) bewertet. Schließlich ist diese Anthologie drittens die erfolg-
Nummer ab, da »er kaum Material für eine neue Wanze habe«, da »scheinbar der gegenseitige Austausch unwichtig geworden sei« (Kerenski, zit. n. Reiffer 1998: 45). 465 | Vgl. Reiffer 1998: 6 u. 22. Die Außerliterarische Opposition (ALO) bestimmt er auf drei Ebenen: »1. Die Verweigerungshaltung gegenüber der sogenannten etablierten bzw. Hegemonialkultur. 2. Literarisch-politische Experimente, deren Wurzeln nicht zuletzt in der 68er Generation zu finden sind. […]. 3. In Ermangelung eines besseren Begriffs. In den sechziger und siebziger Jahren wurde von einer ›Alternativliteratur‹ gesprochen. […] Heute sammelt sich ein großer Teil der hier beschriebenen Literaten und Literaturprojekte unter dem Label ›Social Beat‹. ›ALO‹ sammelt all diese Begriffe, auch solche, die nach Social Beat kommen mögen oder sich nicht durch ein Label bzw. eine Schublade vereinnahmen lassen wollen.« (Reiffer 1998: 6f.) Da sich an die SocialBeat-Bewegung nicht noch weitere, neue Labels anschlossen, muss der Begriff der ›Außerliterarischen Opposition‹ im Rückblick allerdings als ein Kampfbegriff von Teilen der ›Social-Beat-Bewegung‹ begriffen werden.
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reichste Veröffentlichung aller Kleinverlage aus dem Social-Beat-Kontext.466 Problematisch an dieser Textauswahl ist, dass sich in der Anthologie Prosatexte und Lyrik sowie Mischformen finden, sich diese Untersuchung allerdings der Analyse von Prosatexten verschrieben hat. Bei der Primärtextanalyse werden deshalb nur Prosatexte zum Gegenstand der Untersuchung; sollten sich einzelne Bemerkungen auf lyrische Texte beziehen, wird gesondert darauf hingewiesen. Die Literaturanalyse des Social Beat vollzieht sich nach dem erprobten Schema: Zunächst werden Formen und Schreibweisen der Social-Beat-Literatur untersucht (5.2.1.), dann ihre Inhalte und Themen (5.2.2.). Anschließend werden die von ihr aufgerufenen Topoi und Topografien der Subversion beschrieben (5.2.3.) sowie zum Abschluss die öffentliche Präsenz des Social-Beat-Netzwerks und seine Strukturen und Selbstinszenierungen (5.2.4.).
5.2.1. Zwischen Dilettantismus und E xperimenten. Formen und Schreibweisen des Social Beat Weil die Autorinnen und Autoren des Social Beat außerhalb des institutionalisierten Literaturbetriebs (als Verbindung der großen, hochkulturellen Verlage und Feuilletons, subventionierter Veranstaltungsräume und ähnlicher Institutionen) stehen und eine größere Nähe zum ›eigentlichen Leben‹ bzw. zum Publikum hätten, wird von ihren Texten behauptet, sie seien freiere, ehrlichere und daher bessere literarische Werke als die Veröffentlichungen der Großverlage. Im Gegensatz dazu wird jedoch oft festgestellt, dass sich im Social Beat und in der Slam Poetry nur Autorinnen und Autoren versammelt hätten, deren Literatur qualitativ zu schlecht für den Literaturbetrieb sei. Die bewusste oder zwangsläufige Nähe zum ›Trash‹, also zur ›überflüssigen Müll-Literatur‹, führt zu einer Ambivalanz: Von den einen wird sie selbstbewusst als intendiertes Merkmal benannt, z.B. von Jörg André Dahlmeyer: Wenn Du Dir sicher zu sein glaubst, unter SB würden sich lediglich drittklassige Bukowski-Epigonen verschanzen, die dort in trauter Nischen-Eintracht ihre sexuellen Neurosen ausleben, so kannst Du wohl nicht leugnen, dass Du sehr komische Zeitungen liest – denn wir sind viertklassig! (Die neue D-Klasse.)« (Dahlmeyer 1998: 3)
Andere haben genau mit diesem ›Trash‹-Selbstbewusstsein ihre Probleme und antworten in der Mailart-Aktion von Boris Kerenski und Michael Schönauer auf die Frage, was Social Beat sei, mit einem skeptisch-kritischen »Dilettantis466 | Andreas Reiffer schreibt: »Im Bereich der Social-Beat-Verlage ist mir bisher erst ein Buch bekannt, das eine Auflage über 1000 Stück besitzt; meistens liegt die ›Schallgrenze‹ bereits bei 500 Stück. Bei dem besagten Werk handelt es sich um die Anthologie Social beat, slam poetry (Schönauer 1997).« (Reiffer 1998: 57)
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mus?« (Manfred Kilger, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 13). Social Beat sei ein »Netzwerk heißer Luft!!« (Hardy Krüger, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 64) bzw. eine »Spielwiese des Mittelmaß, Grabbelkiste für Hilfspoeten und JunkReimer« (Markus Peters, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 18). Auch Marc Degens verweist darauf, dass der Social Beat die Chance vergeben habe, »ein Hort der Gegenkultur, des formal Experimentellen oder der radikalen Inhalte zu sein« – vielmehr sei er »immer mehr zum Müllberg des offiziellen Literaturbetriebs (verkommen), auf dem all das seinen endgültigen Platz findet, was für den anderen zu schlecht ist.« (Degens 1999: 227) Folglich habe bislang kein Aktivist des Social Beat bei Großverlagen landen oder bekannt werden können (vgl. Ullmaier 2001: 142). Der Kampf um die (Mit-)Bestimmung des literarischen Feldes oder die Verschiebung seiner Kräfteverhältnisse, wie Bourdieu ihn beschreibt, wird von der Social-Beat-Bewegung verloren.467 Falls eine Untergrund-Literatur nur dann subversive Kräfte entwickeln kann, wenn sie sich dem Literaturbetrieb gegenüber verweigert und zugleich über eine ausreichende ästhetische Qualität verfügt, dann lässt sich für die Social-Beat-Literatur feststellen, dass hier höchstens in Einzelfällen ästhetische Qualitäten entwickelt wurden, die diesen Anspruch einlösen. Die Untergrund-Literatur der 1960er Jahre hatte noch eine große öffentliche und literaturhistorische Bedeutung gewinnen können, weil sie vor dem Hintergrund eines unflexiblen Buchhandels und Literaturmarktes, der Vorherrschaft eines hochkulturellen literarischen Kanons und eingeschränkter Distributionsmöglichkeiten neue Buchformen (wie intermediale Konzepte) sowie neue literarische Schreibweisen (wie Cut-ups und die Nutzung subkultureller oder obszöner Sprachen und Begriffe) etablierte. In den 1990er Jahren hatten sich diese neuen literarischen Schreibweisen jedoch bereits im Literaturmarkt etabliert und erreichten als ›Neue deutsche Popliteratur‹ deren Zentrum; intermediale Projekte sind im Buchhandel ein Normalfall geworden. Experimentelle und untergründige Formspiele entwickelte in den 1990er Jahren die sog. Medienguerilla und die Cyber Left mit Hilfe der Medien Computer und später des Internets. In den Prosatexten der Anthologie Social Beat, Slam Poetry wird die Nutzung neuer Medien – wie Schreibexperimente am Computer oder die Kommunikationsformen des Internet (das Internet wurde ab 1996 von breiteren Bevölkerungsschichten genutzt) – oder von anderen Geräten wie Anruf beantwortern oder Videospielen nur beiläufig oder sogar negativ beschrieben.468 Hier zeigt 467 | Bei Bourdieu heißt es: »Von dieser oder jener Strömung, dieser oder jener Gruppe behaupten: ›Das ist keine Dichtung‹ oder: ›Das ist keine Literatur‹, bedeutet, ihr die legitime Existenz abzusprechen, sie aus dem Spiel auszuschließen, sie zu exkommunizieren.« (Bourdieu 1992: 159) 468 | Der Protagonist in Enno Stahls Romanauszug Bleche (aus dem Roman Peewee rocks) lenkt sich durch Videospiele ab, was ihn aber nicht vor dem finalen Rauswurf aus
Untergrund, Literatur und Subversion
sich in den Texten des Social Beat die Tendenz, sich gegenüber neuen medialen Entwicklungen zu versperren und somit neue ästhetische Potenziale ungenutzt zu lassen.469 Die Anthologie Social Beat, Slam Poetry lässt sich in diesem Sinne keinesfalls als eine Sammlung von neuen Ideen, sondern – vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-medialen Veränderungen – eher als eine traditionelle Fortsetzung von Schreibweisen der 1960er Jahre lesen. Formal außergewöhnlich ist nur das Lesezeichen des Buches: Als zweite Seite 201 ist ein kleiner Zettel eingelegt, der ein Gedicht von Dr. Treznok enthält und mit dem Satz »Bitte als Lesezeychen [sic!] verwenden!« (SB 201b) versehen ist. Diese Ergänzung lässt sich jedoch eher als gestalterisches Spiel denn als radikales Auf begehren gegen ›den Literaturbetrieb‹ bewerten – und ist zudem nur einem Versehen der Herausgeber geschuldet.470 der Wohngemeinschaft bewahrt, diesen eher noch beschleunigt (SB 190f.). In Bettina Sternbergs Erster Erster funktioniert die Technik nicht: »Man hatte ihr zu Weihnachten einen Anrufbeantworter geschenkt, mit dessen Technik sie jedoch auf Kriegsfuß zu stehen schien.« (SB 197) Der alte Philosoph in Dagi Bernhards Ein alter Film – so ein Schmarrn sieht in der Aufkunft des neuen Mediums einen Kulturverfall: »Blaß und aufgedunsen sitzen sie am Computer. Sie wissen nicht, wie man mit Kasperlfiguren spielt und bunte Bilder malt. […] Mit ihren kalten Fingern unterdrücken sie einmal alles, was Leben zeigt.« (SB 28) In Grobilyn Marlowes Newbie, Wein und Troubleshooter schließlich wird präsentiert, welche kriminellen Möglichkeiten die Nutzung eines Laptops und des Internets bieten, so dass der Protagonist zum Schluss seine »alte Olympia wieder aus dem Schrank« kramt und »ein Schmähgedicht gegen Weingläser in der Nähe von Computertastaturen« (SB 122) schreibt. 469 | Eine Ausnahme bildet allerdings die Nutzung neuer Medien zur Erleichterung des Vertriebs und zur Produktion der Fanzines. Andreas Reiffer beschreibt dies wie folgt: »Zur Produktion eines Fanzines bedarf es wenig: Früher reichten Schreibmaschine, Prittstift, Schere und Filzstift (›Edding‹) aus, heute wird meist am Computer layoutet und im Copy-Shop vervielfältigt. Gerade diese Produktionsmittel, die der breiten Masse der Bevölkerung zur Verfügung stehen, haben in den achtziger Jahren einen Boom ausgelöst.« (Reiffer 1998: 73) Auch die Beilage von CDs zu Fanzines lässt sich in diesem Kontext sehen: »Allerdings ist auch bei Punk-Zines eine Professionalisierung zu beobachten, so liegt beispielsweise den auflagenstärksten Heften der Szene mittlerweile eine Gratis-CD bei. […] Namentlich sind dies: PLASTIC BOMB (Duisburg), Der WAHRSCHAUER (Berlin) und OX (Essen). Diese Hefte haben jeweils (laut Impressum) eine Auflage von 5000–6000 Stück. Die CD wird jeweils durch die dort vertretenen Bands bzw. deren Plattenlabels finanziert. Für den Verbraucher soll sie ein zusätzlicher Kaufanreiz sein. Tatsächlich läßt sich so die Auflage stark steigern (beim OX waren es immerhin über 50 % Auflagensteigerung seit Einführung der CD).« (Reiffer 1998: 75) 470 | Boris Kerenski stellt dazu in einer persönlichen Bemerkung fest: »Das war weder ein Aufbegehren noch ein Spiel, sondern eine Notlösung. Das ›Lektorat‹ – also
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Alle anderen Formspiele und Schreibweisen sind im besten Fall gelungene Wiederholungen untergrundliterarischer Strategien der 1950er und 1960er Jahren. Die grammatisch korrekte Hochsprache wird verfremdet, indem in vielen Texten das ›und‹ durch ein ›&‹ ersetzt oder eine generelle Kleinschreibung, in einzelnen Texten in Komposita eine doppelte oder mehrfache Großschreibung genutzt wird (»verLUSTe«, »NachBarSchaft«, »ZimmerAlkoHohl«, SB 53) sowie in einzelnen Gedichten der ›ei‹-Laut durch ein ›ey‹ ersetzt wird (»rufzeychen«, SB 138; »MorgenZeyt«, 201b). Sternzeit 23 von Jürgen Ploog ist ein klassischer Cut-up-Text (vgl. SB 147–163), Bleche von Enno Stahl eine assoziative Geschichte mit zahlreichen harten Schnitten und einem experimentellen Sprachsystem (vgl. SB 186–191), Matti Menzels Text, Titel kurz vor Schluß ist ein Formspiel, in dem der eigentliche Titel tatsächlich erst kurz vor dem Ende verraten wird (vgl. SB 114). In allen anderen der 45 Prosatexte lassen sich keine relevanten experimentellen Schreibweisen erkennen. Die Sprache der Texte ist zum überwiegenden Teil nicht besonders obszön oder auf subkulturelle Varietäten bezogen. Die Nutzung von derben Wörtern (insbesondere aus dem Bereich des Sexuellen), aus Dialekten oder Fremdsprachen ist relativ überschaubar und setzt die Texte nur bedingt in einen Kontrast zu Alltagsgesprächen oder zum Gros der von den Großverlagen veröffentlichten literarischen Texte.471 Eine experimentelle, hybride Sprache, die sich zugleich auf subkulturelle Schönauers und ich – hatte das Fehlen des Textes bei der Begutachtung nicht bemerkt. Blöderweise stand der Text im Inhaltsverzeichnis. Das mit dem Lesezeichen war dann die Idee, die Sache zu retten. (Man musste allerdings in jedes Buch so einen Zettel einlegen – unpraktisch.) Im Prinzip hatten wir Glück, denn eigentlich funktionierte das nur mit Treznok. Aus diesem Grund gibt es auch die Seite 201 zweimal (an dieser Stelle stand ja was anderes).« (Boris Kerenski in einem Brief an den Verf., der am 4. Juni 2004 verschickt wurde.) 471 | Als Beispiele für eine ›obszöne Sprache‹ lassen sich Wörter wie » TIT TEN «, »Möse« (SB 11), »Scheiße« (SB 13), »Pisse« (SB 69), »Arschloch« (SB 119) und »ficken« (SB 202) nennen. Es wird der bayrische und der kölsche Dialekt aufgerufen: »Geh, Oma, so ein Schmarrn!«; »Das langt schon.« (SB 25); »Moh ej, dä hätt dä Machmutt nä Mässä inne Bauch jesteckt« (SB 187). Zudem finden sich Sätze und Begriffe aus dem Griechischen (»Psáchno ja duliá« [SB 213]; griech. ›Ich suche Arbeit‹), dem Jiddischen (»Malocher« [SB 26]; »Schmu« [SB 71]; »koscher« [SB 117]), dem Französischen (»Liebeschateau« [SB 134]; »Concierge« [SB 139]) sowie türkische Namen (»Recep und Can« [SB 134]). Vor allem sind die Texte durchzogen von englischen Vokabeln und Formulierungen, die noch immer auf die vorherrschende Orientierung der deutschsprachigen UntergrundLiteratur an der englischsprachigen verweisen, zugleich aber auch die Narrative in einer Welt des globalisierten Kapitalismus verorten (»SmallTalk« [SB 53]; »Outfit« [SB 97]; »old style« [SB 115]; »newbie«, »natty« [SB 117]; »way out« [SB 147]; »Coke«, » Snack Bar« [SB 148]; »Coffeeshop«, »Freaks«, »Hot Dogs, Milkshakes« [SB 149]; »die Abgefuckten« [SB 189]; »Winter in good ol’GerMoney«, »old café« [SB 213]; »shop«
Untergrund, Literatur und Subversion
Varietäten und die Hochsprache bezieht, lässt sich viel eher in Feridun Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ sehen (vgl. Unterkap. 4.2.1).
5.2.2. Ausbeutung, Sexismus, E xotismen und Drogen. Die Inhalte des Social Beat Wird jedoch die fast komplette Abwesenheit formaler Innovationen oder experimenteller Schreibweisen im Social Beat durch einen subversiven Umgang mit neuen Inhalten kompensiert? Marcus Webers Text Maul haun Deutschland beschreibt die Gedankengänge eines Social-Beat-Autors bei der Erstellung seines Textes: »›Ah, einen echt punkig-dreckigen Text zu schreiben, ist gar nicht so einfach […]. Bis jetzt noch keinen Tropfen Alk, geschweige denn Sex.‹« Später formuliert der schreibende Protagonist die mögliche inhaltliche Quintessenz eines typischen Social-Beat-Textes: Ich habs!! Voilá!: Ein einsamer junger Mann sitzt in einer miesen Eckkneipe, Schnaps und Bier trinkend, und macht sich kluge Gedanken über die Spießer um ihn rum. […] Und zufällig trifft er eine Frau, die wahnsinnig scharf auf ein [sic!] Quickie ist und ihn mit in ihr Auto nimmt. Dort wird dann gevögelt. (SB 202)
Der Autor ist sich sicher: »die Story würden sie nehmen.« (SB 203) Webers Versuch, eine paradigmatische Geschichte zu erzählen, die in einem SocialBeat-Text die Beschränktheit der Social-Beat-Inhalte vorführt und zugleich reflektiert, steht allerdings nur bedingt repräsentativ – die Inhalte der SocialBeat-Literatur sind jedoch vielfältiger und widersprüchlicher. In den Anthologien Downtown Deutschland (1992) und Asphalt Beat (1994) würden, so Enno Stahl, die »Geldlosigkeit in der kalten Großstadt, Drogen, Aids, Alkohol, Kater-Erwachen und de[r] Blues, ein Leben am gesellschaftlichen Rande« sowie »die Unbarmherzigkeit der Bürokratie, der Arbeits- und Sozialämter, das Unverständnis der ›Spießerwelt‹« (Stahl 2003a: 265) thematisiert. Sergiu Ştefănescu sagt über den Social Beat im Allgemeinen, es gehe »um Liebe, Sex, Currywurst, Sex, Straßenleben, Sex, Spaß und Gewalt, um innere Grenz(sprich:Drogen)erfahrungen.« (Ştefănescu 1998: 2) Die Selbstbeschreibung von Social-Beat-Autoren weist in eine ähnliche Richtung: Besonders das Alltagsleben wird von ihnen als Thema genannt, aber auch Politik, Kultur, Rausch, Lebensdiskrepanzen und der ›Geschlechterkampf‹.472 Die [SB 214]; »Quicklyquickly« [SB 215]). Für einen insgesamt 224-seitigen subkulturellen Reader sind diese Beispiele quantitativ jedoch überschaubar. 472 | Es handelt sich hier um eine Auswertung der 53 Fragebogen, die Andreas Reiffer von Social-Beat-Autoren erhalten hat (Mehrfachnennungen waren möglich). Dabei zeigen sich als »Tendenzen zu Textinhalten: Alltagserleben (19), Politik (18), Philosophie (15), Kultur (13), Mensch/Moderne, Kommunikation, Rausch (je 12), Lebensdiskrepanzen
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Mehrheit der Social-Beat-Autoren verfolgt mit ihren Texten einen Anspruch zur politischen Veränderung der Gesellschaft, wobei allerdings der Entwurf einer positiven Utopie größtenteils zurückgewiesen wird.473 Die inhaltliche politische Ausrichtung der Social-Beat-Bewegung ist umstritten und teilweise gegensätzlich: Reiffer zitiert aus zweien seiner anonymisierten Fragebögen: EinE AutorIn will sich »vor keinen politischen Karren spannen lassen« und hofft, »daß die unerträgliche Diskussion um Sexismus, PC und dergleichen nicht noch mehr aufgestachelt wird«, einE andereR fordert eine »emanzipatorische, antirassistische, antisexistische Grundhaltung«, die »inhaltlich fundiert und ›links‹ ausgerichtet ist« (Reiffer 1998: 62).474 Wenn im Folgenden also die in Social-Beat-Texten beschriebenen Arbeits-, Familien- und Geschlechterverhältnisse, die ethnischen Konstruktionen und die Darstellung von Drogen, Eskapismen, Gewalt und Selbstzerstörung untersucht werden, soll einerseits der Versuch unternommen werden, am Beispiel einer exemplarischen Anthologie die wichtigsten Themen der Social-Beat-Literatur zu beschreiben, dabei muss jedoch andererseits auf die Widersprüchlichkeit der Positionierungen geachtet werden. Weil sich die Social-Beat-Literatur als ein Patchwork heterogener Autorinnen und Autoren und Texte präsentiert, kann diese Vielfalt nur in kursorischen Lektüren nachvollzogen werden. Die folgenden Analysen einer Auswahl der 45 ein- bis 17-seitigen Kurzprosatexte beziehen sich daher teilweise nur auf kurze Auszüge daraus; damit kein ent(11), Geschlechterkampf, Psychologie (je 10), keine Beschränkung (9), Öffentliches/ Privates (7), Innenwelt (6), Satire/Groteske (5), Gewalt (4), Randexistenzen (3).« (Reiffer 1998: 48) 473 | Reiffers Frage, ob mit den Textinhalten der »Anspruch gesellschaftlicher/politischer Veränderung« verbunden sei, beantworten die Autorinnen und Autoren wie folgt: »klares ›Ja‹ (23), nicht ausschließlicher Anspruch (19), Veränderung/Spiegel der Gesellschaft (15), bedingt politische Realität (11), nur gesellschaftliche Realität (5), klares ›Nein‹ (0).« (Reiffer 1998: 49) Die Frage, ob mit den Textinhalten eine »Utopie und Veränderung durch Texte« intendiert sei, wurde so beantwortet: »klares ›Nein‹ (18), Ja, aber nicht Hauptziel (17), anderer Blickwinkel auf die Welt (15), Zerstörung von Utopien/Negativ-Utopien (8), klares ›Ja‹, wichtig sind kleine Veränderungen (je 6), nicht als politische Lösungsvorschläge (4), Rest (2).« (Ebd.: 49) 474 | Auf Reiffers Frage, welche Texte oder Inhalte aus dem Social-Beat-Umfeld die Befragten ablehnen, erhielt er folgende Antworten: »Texte nicht als SB definierbar! (22), Sexismus/Rassismus/Faschismus (18), literarisch ›schlechte‹ Qualität (17), keine Texte ablehnen (11), Fäkalsprache (10), Rest (eine Antwort) (6), Saufgeschichten, Drogenverherrlichung (5), politisch dogmatische Texte (4).« (Reiffer 1998: 63) Auffällig an dieser Auflistung ist, dass hier viele der wichtigsten Social-Beat-typischen Merkmale und Inhalte versammelt werden, ohne die sich die Social-Beat-Literatur kaum bestimmen ließe – somit ist diese Liste ein weiterer Beleg für die inhaltliche Divergenz der Bewegung.
Untergrund, Literatur und Subversion
kontextualisiertes Bild entsteht, werden jeweils auch ganze Texte und ihre Struktur und Inhalte präsentiert. Entfremdung und Aggression. Arbeits- und Familienverhältnisse in der Prosa des Social Beat Die Arbeitsverhältnisse werden in den Texten als entfremdete vorgeführt. Wenn Frank Brökers Schattentod mit dem Satz »[e]rst einmal wurde er Knecht in einem Futtermittelzulieferungsbetrieb« (SB 32) beginnt, so kann dieser Satz pars pro toto für einen Großteil der Prosatexte stehen: Die Figuren stehen oder standen in einem üblichen Erwerbsleben, das sie als entfremdend und ausbeutend erfahren haben, und entwickeln sich im besten Fall von diesem fort – wenn sie sich nicht bereits aus diesem Erwerbsverhältnis gelöst haben und nun arbeits- oder obdachlos geworden sind. In Brökers kurzem Text versucht sich der Protagonist Dirk schließlich als Künstler. Bei Kersten Flenter trifft sich »ein bunt zusammengewürfelter Haufen« am Junkieufer und sieht sich »vereint durch unser Bündnis gegen Arbeit.« (SB 57) Die Mitglieder der Gruppe verloren ihre Jobs ohne eigene Fehler und wurden kalt und zynisch entlassen (vgl. SB 58). Das Sozialamt wird an anderer Stelle beinahe zärtlich als »Sozi« bezeichnet, die Arroganz der Beamten dort wird angeklagt: »Dabei ist es doch nur Zufall, daß die hinter dem Tisch sitzen & ich davorstehe!« (SB 199) Philipp Schiemanns Kurzgeschichte Jobsuche berichtet von den vergeblichen Versuchen des Ich-Erzählers, der ›Schiemann‹ heißt, einen neuen Job zu finden, wobei ihm schon beim Lesen der Zeitungsanzeigen klar wird: »Sie werden dich erniedrigen.« (SB 175) Seine beiden Vorstellungsgespräche scheitern, weil er die Form nicht wahrt und im ersten Fall offen über Sexualität und im zweiten Fall über sein Künstlertum spricht, ohne seine Qualifikation für ›einfache Gartenarbeiten‹ bzw. einen ›Möbelpackerjob‹ darzulegen: Und kein verdammter Job ohne den Lebenslaufklüngel. Ich hatte mich so viele Jahre in kein Angestelltenverhältnis begeben, daß mir an dieser Stelle plötzlich klar wurde, wie sehr mir die Arbeitnehmermentalität abging. Zu Kreuze kriechen für einen Fahrerjob. Rosetten lecken für einen Gesellenbrief. All diese Dinge mochten bestehende Regeln sein, aber dennoch waren sie für mich ausgeschlossen. (SB 177)
Die Geschichte endet wie erwartet: Der Ich-Erzähler erhält keinen der beiden Jobs. Aber auch die utopische Variante funktioniert nur bedingt: In YussufMs475 Geschichte Das war die große Orangen-Freiheit… hilft der Erzähler im Januar im warmen Kreta bei der Orangenernte. Die Arbeitsrealität entspricht nicht in Ansätzen den exotisch aufgeladenen Verlockungen der Umgebung:
475 | Hinter dem Autorennamen YussufM verbirgt sich Michael Schönauer, der MitHerausgeber der Anthologie.
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»O gottverdammich erbarmungslos ists, tropenfeucht & heiß […]. Auf den Zähnen knirschend Orangenerde, in der Nase fauliger Geruch. […] & niemand fragt nach deinen blutig geschrammten Schultern« (SB 215f.). Auch vom Lohn für die schwere und unbefriedigende Arbeit kann man sich nichts kaufen: »[A]m Schluß wird bar ausgezahlt & hat der Tag ein Ende – für diesen Taglohn findste nix«. Der Abschied von dieser Arbeit nach einem Monat wird wie eine Befreiung von der utopischen »Orangenfreiheit« (SB 216) empfunden, deren Realität nicht der exotischen Wunschvorstellung entsprach. Die Arbeitswelt, die im kapitalistischen Wirtschaftssystem Befriedigung und Erfolg verheißen soll, wird in den Social-Beat-Texten als Welt der Entfremdung und Ausbeutung beschrieben. Im günstigsten Fall gelingt es den Figuren, als freie Künstler, Arbeitslose oder Drogensüchtige außerhalb dieses Erwerbssystems zu existieren, in diesem Fall werden allerdings andere materielle Probleme wirkungsmächtig. Die Texte zeigen zwar Figuren, bei denen es nachvollziehbar ist, dass sie sich den regulären Erwerbsverhältnissen verweigern, sie sind jedoch nicht so radikal in ihrer Ablehnung des kapitalistischen Erwerbslebens wie z.B. das Manifest der Glücklichen Arbeitslosen, das von der Berliner Aktionsgruppe 1998 veröffentlicht wurde.476 Neben der Arbeitswelt ist die Familie jener Ort in der deutschen Gesellschaft, der den Individuen Sicherheit und eine feste soziale Position ermöglichen soll. Abgesehen von der Kurzgeschichte Ein Film – so ein Schmarrn von Dagi Bernhard, in der die Ich-Erzählerin ihrer ›Oma‹ einen Social-Beat-Text in Form einer Filmidee erzählt und beide schließlich die Meinung teilen, dass dieser Entwurf nur »ein Schmarrn« (SB 28) sei und somit ein innerfamiliäres Verständnis herstellen, berichten alle anderen Texte in teilweise radikaler Form von unglücklichen, brutalen, gewalttätigen und inzestuösen477 Familienverhältnissen. In einigen Texten sind die Protagonisten traumatisiert aus ihrer Kinder- und Jugendzeit hervorgegangen. Ein Ich-Erzähler berichtet: »Die Bullen brachten mich wieder nach Hause zurück, wo ich von Vater und Mutter gemeinsam geschlagen wurde« (SB 78), ein anderer davon, wie er mit seinem Bruder den Vater, der Alkoholiker und sturzbetrunken ist, von einem Spielplatz nach Hause tragen muss:
476 | Peter Paul Zahl hat bereits 1973 die Zeitschrift Der glückliche Arbeitslose vertrieben, deren Leitsatz ›Berufsverbot für alle‹ lautete. Ab 1996 veröffentlicht die Berliner Aktionsgruppe Die Glücklichen Arbeitslosen Aufrufe, Glossen und Manifeste, die 2002 im Buch Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Anrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen versammelt werden, vgl. Paoli 2002; http://www.diegluecklichenarbeitslosen.de. 477 | Vgl. auch den Beitrag von Frank Bröker über die Idylle des Land- und Familienlebens, SB 32.
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»Mein Bruder und ich machten uns dann auf den Weg und wollten Müllabfuhr spielen, so wie wir es schon oft getan hatten.« (SB 112)478 Während in diesen Texten die Familie als ein Ort der (vor allem väterlichen) Gewalt und des gleichzeitigen Versagens der Erziehungsinstanz beschrieben wird, richten sich in anderen Texten die Aggressionen der Kinder auf die Eltern oder die ältere Familiengeneration. Der Text Muttertag von Daniel Dachtewitz ist eine Muttervernichtungsfantasie, die anfangs noch einen idyllischen Muttertag beschreibt, um dann in die Tötung und Zerstückelung der Mutter durch die Söhne umzuschlagen (wobei die gedrängte Schreibweise die irrationale Tat antizipiert): »wasmachenwirmitihrfragtderzweitesohn/auseinandersägenundeinfrierenantwortetderjüngerebruder/unddanngehenwirerstmaleinentrinken…« (SB 43) In einer anderen Geschichte ersticht »das zehnjährige Kind (das Messer wieder und wieder mit beiden Händen in den blutigen Klumpen zu seinen Füßen stoßend)« seine ganze Familie: »›Nein, nein, mein Täubchen, das kannst du deinem alten Opa doch nicht antun. Erst die Oma (is ja nicht so schlimm), aber die Susi, meine liebe, kleine, liebe Susi…« (SB 202)479 Selbst wenn die Familienstrukturen noch intakt scheinen, sind sie fundamental bedroht. Die Familie wird in Social-Beat-Texten nur in Ausnahmen als Sicherheit oder Rückzugsort inszeniert – im Gegensatz dazu wird sie fast durchgängig als Stätte der Gewalt, des Versagens und der Traumatisierung gezeichnet. Patriarchen, Sexismen und spontane Geschlechtsumwandlungen. Geschlechterverhältnisse in der Prosa des Social Beat Im paradigmatischen Text Marcus Webers wird gleich mehrfach darauf verwiesen, dass die Darstellung von Sexualität ein zentrales Thema der SocialBeat-Literatur sei – folgerichtig trifft der männliche Ich-Erzähler auf eine willige Frau, die er als Objekt seiner sexuellen Wünschen ›benutzen‹ kann (wobei es später zu einer Schlägerei zwischen beiden kommt, die die Frau gewinnt). Auch indem man verbotene Formen der Sexualität beschreibe, könne man einen passablen Social-Beat-Text produzieren.480
478 | Vgl. auch Dagmar Wecks Requiem, unendlich, in der der Vater die Trauer über die verstorbene Zwillingsschwester der Ich-Erzählerin bestimmt, SB 204. 479 | In Michaela Seuls Die glückliche Familie kippt eine idyllische Urlaubsfahrt mit Postkartenmotivik in ihr Gegenteil um, in einer grotesken und sprachlich rhythmischen Szene schlachtet sich eine Kleinfamilie in einem ›preiswerten Lokal‹ gegenseitig ab, vgl. SB 185. 480 | Die Figur des Autors in Webers Maul haun Deutschland denkt darüber nach, wie sie eine erfolgreiche Social-Beat-Geschichte schreiben könnte und imaginiert pädophile und sodomitische Handlungen: »›hmm…dem Mädchen ne Pulle Wodka in die Kinderhände, dem Alten den Schwanz aus der Hose hängen lassen (oder nackt und eri-
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Der Social-Beat-Bewegung wurde, wie auch Webers Text andeutet, sowohl von außerhalb und wie auch intern der Vorwurf gemacht, sexistisch und patriarchal zu sein. Die starke Prägung des Social Beat durch männliche Autoren lässt sich an zahlreichen Beispielen belegen, u.a. beträgt der durchschnittliche Männer-Anteil an relevanten Social-Beat-Anthologien und bei -Festivals etwa 90 % – von einer paritätischen Vertretung beider Geschlechter in der SocialBeat-Bewegung kann also keine Rede sein.481 Dies entspricht zwar den diskriminierenden Geschlechterverhältnissen in manchen Teilen der deutschen Gesellschaft, ist jedoch besonders problematisch in einer Subkultur, die für sich den Anspruch erhebt, gerade den Marginalisierten eine Stimme zu verleihen. Den Sexismus belegen zahlreiche Texte und Gesten, exemplarisch sei hier ein Beispiel aus Michael Schönauers und Boris Kerenskis Mailart-Aktion zur Frage Was ist Social Beat? benannt: Dieter Groß zeichnet eine nackte Prostituierte auf einem Bett, die fragt: »Soll ich Dir zeigen, was Socialbeat ist?« (Groß, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 69) Der Autor Mirko Buchwitz distanzierte sich aufgrund des Sexismus‹ der Szene 1997 vom Social Beat und benannte dies ebenso deutlich, ähnlich wie Niels Seibert. Buchwitz präsentiert unter dem Titel Social Beat einen »Lückentext zum Selbermachen«, in dem es u.a. heißt: »… harte Eier … geil … ficken … Fotze … Schwanz …« (Buchwitz, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 44); Niels Seibert schreibt unter der Überschrift Was ist Social Beat? vor dem Hintergrund eines aufgeklebten sexistischen Textbeispieles mit aufgeklebten Buchstaben »Sexisti … Scheiss« (Seibert, zit. n. Schönauer/Kerenski 1998: 26). Inwiefern treffen diese Vorwürfe jedoch auf die Texte der Anthologie Social Beat, Slam Poetry zu? Die männlichen Figuren in zahlreichen Texten sind aggressiv und gewalttätig, sie töten beispielsweise ihre Mütter. Die Jungen seien »für ihren Drang bekannt, sich zu prügeln« (SB 91), heißt es, und an anderer Stelle trägt der »Mann […] sein Messer offen. Seine Tochter kriegt zehn Vorhänge, wenn sie sich morgens wäscht […], ihre Haut so weiß.« (SB 139) Auch männliche Omnipotenzfantasien finden ihren Eingang in die Texte.482 Die Insignien der Mängiert?), oder vielleicht zwingt die Kleine den Alten, seine Hündin zu ficken?…hmmm…‹« (SB 202). 481 | Im zu analysierenden Band SB gibt es 65 Autoren und 9 Autorinnen (=88 %iger Männeranteil), in der vergleichbaren Anthologie von Schönauer/Kerenski 1998 finden sich Beiträge von 67 Männern und 7 Frauen (=91 %iger Männeranteil). Auf dem 3. Social-Beat-Festival 1998 in Ost-Berlin lasen 23 Männer und 7 Frauen (=77 %iger Männeranteil), von den 53 von Andreas Reiffer im Rahmen seiner Umfrage unter Social-Beat-Autoren ausgewerteten Fragebögen waren 47 von Autoren (=89 %iger Männeranteil), vgl. Reiffer 1998: 46. 482 | In Junkieufer heißt es: »›Kauft Strapse-Harrys Potenzelixier: täglich drei Tropfen auf den Nillenrand, und er steht ne ganze Stunde!‹ – Mein Gott, das tut meiner auch so, hatte Seebär protestiert« (SB 56).
Untergrund, Literatur und Subversion
ner sind ihre Härte, ihre Waffen und ihre Dauererektionen, die Frauen zeichnen sich durch ihre Schönheit und Weichheit aus – auf diese Weise werden klassische Geschlechterbilder reproduziert. Während nur in einem Text, Bettina Sternbergs Erster Erster, eine emanzipierte Ich-Erzählerin einen männlichen »Märchenprinzen« (SB 196) erträumt, der sie vor ihrem hohen Alkoholkonsum beschützen soll, formulieren in zahlreichen Texten männliche Figuren ihre häufig exotisierten und durchgängig sexualisierten Frauenimaginationen.483 In anderen Geschichten tauchen die Männerfantasien gleich in Form von Sexheften oder personalisiert als ›Courtney Love‹ oder ›Tank Girl‹ auf.484 Die als Sexualobjekte imaginierten und anvisierten Frauen erweisen sich – zumindest für eine bestimmte, gute Zeit – im Regelfall als ›willig‹.485 Insbesondere Jürgen Ploogs Cut-up-Story Sternzeit 23 versammelt sexistische und exotisierte Frauenimaginationen, in denen diese beschrieben werden, als seien sie aus Pornofilmen und -magazinen entstiegen; sexualisierte Körperteile wie ›Zunge‹, ›Nippel‹, ›gespreizte Schenkel‹ und ›rasierte Mösen‹ werden Pars pro Toto für das begehrte exotische und weibliche Sexualobjekt gesetzt.486 483 | In Alper Öncüls Mother Drug tauscht eine Männergruppe ihre Frauenfantasien aus: »Recep […] schreit seinen Wunsch nach […] schwarzen Frauen« (SB 136). Ein junger Malocher berichtet in Dagi Bernhards Ein Film – so ein Schmarrn aus Tunesien: »›[…] Da gibt es viele schöne Frauen anzusehen – Weiber, verstehst – und eine Bauchtänzerin kannst auch sehen.« (SB 26) 484 | Die Hauptfiguren aus TUBERKEL Knuppertz’ Der Froschkönig sind Courtney Love und Kurt Cobain – das Riot-Girl begegnet dem Grunge-Musiker unterwürfig: »›Hey, du billige Schlampe. Was soll das Outfit eines Flittchens?‹« beschimpft und fragt der Musiker seine Zukünftige. Doch: »Courtney verliebte sich auf der Stelle in ihren Prinzen.« (SB 97) In Newbie, Wein und Toubleshooter treffen die beiden männlichen Protagonisten ein Tank Girl, das aus einem Videospiel entstiegen zu sein scheint, vgl. SB 120f. Darin heißt es auch: »Jemand mußte die Monatsgirls von Jahrzehnten und aus mindestens fünfzig verschiedenen Wichsblättern an die Wände der Garage gepappt haben. Gespreiztes, Befeuchtetes und Ordinäres. Selbst die Decke war vollgekleistert. Ich fühlte mich in einen dreidimensionalen Autokalender der untersten Mittelklasse versetzt.« (SB 118) 485 | In Die Stadt der Suchenden von Thomas Nöske formuliert der Ich-Erzähler: »Wir haben ständig gefickt, Sekt in der Badewanne gesoffen, und am Wochenende sind wir raus zu ihrem Pferd gefahren. Naja, sie hatte einen festen Freund, der verreist war. Als er zurückkam, warf sie mich raus.« (SB 129) 486 | Eine exemplarische Stelle aus Ploogs sexistischem Text, die auch rassistische und exotisierende Stereotypen enthält, lautet: »Das Gespenst einer Schwarzen aus den goldenen Zwanziger Jahren, die einen Packard mit französischer Nummer fährt. Sie nimmt die Kurven, dass man sich kaum auf dem Sitz halten kann. Heisser Zigeunerswing kommt aus dem Autoradio … die Strasse teilte sich wie eine Arschfalte & verschluckte
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Auch die Beschreibungen von Sexualakten sind zahlreich, wobei fast immer die Männer eine aktive Rolle einnehmen und den Frauen ein Objektstatus zugewiesen wird. Das Thema Sexualität dringt dabei auch in Alltagsschilderungen oder Gesprächssituationen ein, aus denen es normalerweise ausgeschlossen wird.487 Im Regelfall wird markiert, dass es sich bei der von den Social-Beat-Figuren gelebten Sexualität um etwas Außergewöhnliches handelt, das besonders ›experimentell‹, ›wild‹ und ›pervers‹ ist und sich daher von der ›normalen Gesellschaft‹ absetzt 488 – nur in einem Text wird dies als bloße Wunschvorstellung entlarvt.489 Frauen werden zudem in vielen Social-Beat-Texten als kauf- und ausbeutbare Sexualobjekte vorgeführt, sie tauchen z.B. als »Prostituierte[ ]« (SB 62), »Nutten« (SB 80) und »Edelnutten« (SB 68) auf, in Kersten Flenters Junkieufer wird die sexuelle Ausbeutung einer Drogensüchtigen sogar zu einem Akt der Solidarität stilisiert.490 uns … […] Bessies Schatten hat etwas von einer spöttischen Statue…wir ziehen uns aus … ihr gekräuseltes Schamhaar zeigt einen Stich ins Violette, ihr Körper schimmert wie Robbenhaut … ein leichter Schauer streift die Spitzen ihrer Nippel …« (SB 148f.). Vgl. auch SB 156 u. 159. 487 | Der Protagonist ›Schiemann‹ in Philipp Schiemanns Jobsuche bricht mit den Regeln eines Vorstellungsgesprächs, indem er seinen Gesprächspartner durch die Schilderung seiner sexuellen Fertigkeiten schockiert: »›[…] ich habe zwar kein Abitur, aber ich habe letzte Woche mit Auszeichnung einen Volkshochschulkurs absolviert. […] IN PUSSYLECKEN , HERR SCHNEIDER . DAS IST, WENN MAN SEINE ZUNGE TIEF IN EINE PUSSY STECKT. WIE WENN MAN TULPENZWIEBELN TIEF IN DIE ERDE RAMMT. SIE VERSTEHEN SCHON .‹ Ende des Gesprächs.« (SB 176) 488 | Der Protagonist in Grobylin Marlowes Newbie, Wein und Troubleshooter fragt: »Wieviel kuriose Perversionen hatten wir in manch‹ weingetränkter Nacht zusammen ersonnen […]? Ich hatte ihr Sex gegeben« (SB 115). Die Ankündigung einer Ausgabe der Social-Beat-Zeitung S.U.B.H. durch Jan Off verspricht die Beschreibung von »Sexualpraktiken, die sich mit einem sittlichen Verständnis von Zeugungstrieb und Ehehygiene alles andere als vereinbaren lassen und jedem halbwegs aufrechten Volksgenossen den Ekel und die Schamesröte ins Gesicht treiben sollten.« (SB 34) 489 | Hartmut Malornys Text In einer Nacht besteht aus nächtlichen und männlich codierten sexuellen Fantasien. In einer Nacht endet jedoch mit einem schellenden Wecker, der die männlich codierten Imaginationen willfähriger Sexualpartnerinnen als Traumbild kennzeichnet, vgl. SB 113. 490 | In Junkieufer verkauft sich die heroinsüchtige und schwangere Luna an den IchErzähler: »Wir tun es, und ich gebe ihr Geld, nicht weil sie es verlangt: um nicht reden zu müssen. Mein Griff in die Hosentasche nach dem Schein ist wahrscheinlich die zärtlichste Geste, die ich für sie habe.« (SB 55) Am ›Junkieufer‹ scheint die Semantik des bezahlten Sexualaktes verschoben – die sexuelle Ausbeutung der Süchtigen erfolgt als Akt der Solidarität, der sich am Ende der Geschichte bestätigt, denn die Kommune be-
Untergrund, Literatur und Subversion
Die vorherrschende sexistische und patriarchale Perspektive wird allerdings an manchen Stellen aufgelöst oder problematisiert.491 In Späte Rache von Jorge Petersen wird anfänglich die Formation des sexistischen und patriarchalen Geschlechterdiskurses reproduziert, dann jedoch subversiv gewendet: Nicht nur gewinnt die von einem Stalker bedrohte Frau den physischen Kampf gegen ihren ›männlichen Kontrahenten‹, sondern dieser stellt sich in der komischen Schlusswendung als Hund heraus – und somit die männliche Gewalt gegen Frauen als eine animalische.492 Heike Reich verkehrt in Kälte die patriarchalen Machtverhältnisse: In der sado-masochistischen Szene besitzt die Frau die Macht über den Mann, macht ihn zu ihrem Objekt, sein Begehren ist keines der Herrschaft und Härte, sondern eines der Unterwerfung.493 schließt, Luna aufzunehmen und sie ›wieder gesund zu machen‹, vgl. SB 58. – In Ploogs Sternzeit 23 zieht der Ich-Erzähler vor allem mit der attraktiven, sexuell freizügigen und exotischen Bessie umher, doch auch alle anderen Frauen erscheinen als Prostituierte oder sexuell experimentierfreudige Objekte seines männlichen Blicks, vgl. SB 153 u. 162. In Jaromir Konecnys Pompeji dient die Frau als Erfüllungsgehilfin für die materiellen Wünsche der Männer, um ihre eigene Bedürfnisbefriedigung oder den Wunsch nach einem verlässlichen Partner wird sie betrogen, vgl. SB 99f. In Alper Öncüls Mother Drug formiert sich ein misogyner islamischer Männerbund (der seine eigene marginalisierte Position in der deutschen Gesellschaft durch seine Misogynie zu kompensieren versucht). Die Freunde Recep, Can, Musi, Amigo und der Ich-Erzähler Alp, die sich in Mother Drug von ›den Christen‹, die gerade Weihnachten feiern, abgrenzen, bilden einen Männerbund, der zwar verletzbar ist, jedoch einen patriarchalen und sexistischen Diskurs konstruiert, vgl. SB 134f. 491 | Dirk Hartmanns Bagdad – Babylon – 1990 nervous breakdown setzt sich kritisch mit den Medien- und Männerbildern auseinander, die den ersten Golfkrieg legitimieren. Er greift das männliche Härteideal an und spricht über »Männer, aus dem Holz geschnitzt, mit dem man Krematorien beheizt« (SB 61). 492 | Die Protagonistin Jutta Fröse wird von ihrem Ex-Freund Frido, der in einer Telefonzelle vor ihrer Wohnung steht und sie wüst beschimpft, bedroht: »› RRRRRRRR! Ich komm jetzt rauf, Fröse, und dann REISS ich dich in Stücke!!!‹ brüllte Frido durch die Zelle und knallte den Hörer mehrmals gegen den Apparat. ›Ich hab‹ noch die Schlüssel…‹« (SB 141) Tatsächlich stürmt Frido die Wohnung und es scheint zu einer typischen Gewaltanwendung von einem Mann an einer Frau zu kommen: »Jutta konnte sich kaum wehren, als er ihr den Bademantel vom Leib riß.« (SB 142) Überraschenderweise gewinnt Jutta Fröse jedoch den Kampf mit Frido und tötet ihn, worauf sich im letzten Satz herausstellt, dass es sich bei Frido um eine »Promenadenmischung« (SB 143) handelt. 493 | In Kälte wird ein nackter Mann von seiner Domina in eine Gefrierkammer eingesperrt, sie verschließt die Tür von außen, er masturbiert in der Gefrierkammer und erlebt einen Orgasmus, bevor er langsam erfriert. Als er bereits sein Bewusstsein zu verlieren droht, öffnet die Domina die Tür: »Sie ist es! Sie ist gekommen. Wie konnte er glauben, sie ließe ihn im Stich?« (SB 168)
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In zwei Texten wird die binäre Geschlechtermatrix mit der klaren Unterscheidung von ›Mann‹ und ›Frau‹, die zudem in allen anderen Texten heterosexuell codiert ist, in Verwirrung gebracht. Ein Pavian im Wasser von Ulrich Jösting erzählt die Selbstreflexionen eines schwulen und jüdischen Ich-Erzählers, der mit seiner homosexuellen Identität keine Schwierigkeiten hat, offen von seinen sexuellen Erlebnissen berichtet und diese dadurch normalisiert (vgl. SB 76f.). In Frauen und Männer von Guido Ahner hat der Protagonist Günter eine nächtliche biologische Geschlechtsumwandlung erlebt und wird zunächst – als Frau – zum Objekt eines sexistischen und patriarchalen Diskurs seines zu Hilfe geholten Freundes Fritz. Als er jedoch auf die Toilette muss, vollzieht er nach der Wandlung seines sex auch die Wandlung seines gender und akzeptiert, als er in den Spiegel sieht, seine neue biologische Identität auch als seine kulturelle und fühlt sich nun von seinem Freund heterosexuell angezogen. Ab dieser Stelle wird Günter nicht mehr als ›er‹, sondern als ›sie‹ bezeichnet – ›sie‹ verlässt das Bad und betritt nackt das Wohnzimmer, doch dort – so lautet die Schlusspointe des Textes – »sah sie in die großen dunklen Augen eines spanischen Ochsen« (SB 14): Die radikale Mannwerdung ist eine Tierwerdung; der »symbolische Vater« (Lacan 1975: 89), als der Fritz die wiederhergestellte Einheit von Ich und Anderem in Günter hätte ordnen können, hat sich aus der menschlichen Zeichenordnung verabschiedet. Es gibt somit auch Texte, wenngleich sie in der Minderheit sind, die mit der heterosexuellen binären Geschlechtermatrix spielen und das biologische und das kulturelle Geschlecht als veränderbar und nicht-natürlich vorführen, wobei die Wandlungen den Figuren eher zufällig zustoßen als von diesen intendiert sind. Rassismen, Exotismen, Verkehrungen. Ethnizität in der Prosa des Social Beat Während die Geschlechterverhältnisse in den Texten der Anthologie Social Beat, Slam Poetry zu einem großen Teil innerhalb der binären und heterosexuell codierten Matrix von ›Mann‹ und ›Frau‹ zu verorten sind und zahlreiche sexistische und patriarchale Diskurse reproduziert werden, gestaltet sich der Diskurs über Eigenes und Fremdes in den Texten anders. Diskriminierende Rassismen oder Abgrenzungen gegenüber Fremden sind in der Minderzahl, das Fremde und Migrationsprozesse werden viel häufiger positiv aufgeladen und exotisiert. Rassistische Abgrenzungen gegenüber Fremden stehen nirgendwo im Mittelpunkt der Texte, sondern werden hin und wieder beiläufig vollzogen.494 494 | Auf dem Land seien »rituelle Schlägereien zwischen Ortsansässigen und den Fremden« (SB 87) normal, ein alter Malocher verkündet: »Das ausländische Zeug mag ich nicht‹« (SB 26), und in einer Geschichte, die einen Mord im Milieu der Drogendealer beschreibt, wird das Bild des ›kriminellen Türken‹ aufgerufen: »n Türke in Lederjacke verpißt sich als hätten sie’n gesengt & Mahmud hat Glotzgesicht starrt stier strauchelt & wankt« (SB 187).
Untergrund, Literatur und Subversion
Widersprüchlicher ist der Umgang mit der jüdischen Geschichte und jüdischen Identitäten,495 wobei auch hier vor allem rassistische bzw. antisemitische Aussagen aufgerufen werden – so leidet der schwule und jüdische Protagonist in Ein Pavian im Wasser nicht unter seiner homosexuellen, jedoch unter seiner jüdischen Identität, die er verleugnet (vgl. SB 76), am Ende der Geschichte wird er als lügender »›Judenlümmel‹« (SB 78) diffamiert. Im Gegensatz zu diesen Bildern von ›kriminellen Türken‹ und ›lügenden Juden‹ werden jedoch sehr häufig fremde Kulturen als positive Bezugspunkte aufgerufen und exotisiert.496 Die eigene Rede lässt sich allerdings nicht immer durch die Bezugnahme auf Fremdes und Exotisches legitimieren, wie im Fall des alten Philosophen, der sich zwar auf »die Schönheit Thailands« beruft, allerdings dort noch nie war, so dass »ihm niemand mehr zu(hört)« (SB 105).497 Das Unterwegssein und die fremden Orte werden in Ploogs Sternzeit 23 vom Protagonisten, der als Pilot die Welt bereist, durchweg positiv konnotiert: »Letzte Telefonate vor dem Abflug. […] Entweder war es ›Na, gerade aus Kalkutta zurück?‹ oder ›Wann kommst du mal wieder nach New York?‹« (SB 147) Der Text ist allerdings durchdrungen von rassistischen Stereotypen, die exotisch aufgeladen werden: Er sieht »Das Gespenst einer 495 | In Ploogs Sternzeit 23, das zahlreiche sexistischen Bilder präsentiert, wird »…der jüdische Friedhof mit seinen schweren Schatten…« (SB 161) als Ort aufgerufen, was als Verweis auf die jüdische Leidensgeschichte gesehen werden kann. In einer Geschichte über Amsterdam wird wiederum ein antisemitisches Bild zitiert – ein Krimineller und Drogensüchtiger wird von einem ›Fremden‹ diffamiert: »Leider gibt es für solches Ungeziefer keine Kammerjäger, die man anruft und die sie zertreten…und selbst wenn – wie bei den kleinen Viechern, würden sofort von überall her neue heranströmen…« (SB 174). 496 | In den Texten werden »die tägliche Melancholie der Finnen« (SB 57), die Weissagung eines »alte[n] Tuscarora-Indianer[s]« (SB 22) als Quelle der Weisheit wie auch ein türkisches Sprichwort (SB 81) als Wissen über fremde Kulturen aufgerufen. Dieses spezifisch (post-)koloniale Wissen versucht, aus dem exotisierten Fremden eine Wahrheit der eigenen Rede abzuleiten. 497 | In Es stimmt. Der Tod ist immer lästig von Markus Peter imaginiert sich der Erzähler in fremde, teilweise exotische Welten, als »Cowboy«, »nach Kairo«, in eine Taverne mit »Mariachi-Musik« und in ein »Hotel in Griechenland« (SB 139) – am Ende des Textes stellt sich heraus, dass er diesen Tagtraum hat, während er den Haushalt seines gerade verstorbenen Bruders auflöst. Robsie Richters Prosagedicht Mexico D.F.II zeichnet ein exotisches Bild von Mexiko und berichtet aus »Chiapas« und von den »Zapatisten« (SB 169f.), während YussufMs Das war die große Orangenfreiheit… zwar zahlreiche exotische Bilder von der Orangenernte auf Kreta reproduziert (»Im old pub Vasilious erstmal viel Ouzo & Bier«; SB 213), die Arbeit und das Leben dort aber letztlich als hart und unattraktiv beschreibt: »irgendwann einfach aufstehn, rausgehn, abhaun, umhaun … nach einem Monat …« (SB 216).
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Schwarzen aus den goldenen Zwanziger Jahren« in einem Auto, »[h]eisser Zigeunerswing kommt aus dem Autoradio …« (SB 148), der Kellner bringt im »Ambassador« in Casablanca »Anis, Hammelbraten & Pfefferminztee […] mit orientalischer Lautlosigkeit« (SB 160). In zwei Texten wird von Autoren, die selbst eine migrantische Biografie haben und in Prag bzw. Istanbul geboren wurden, die Geschichte einer Migration und der Blick der Fremden auf die ›deutsche Mehrheitskultur‹ beschrieben. Jaromir Konecnys Pompeji berichtet von der erfolgreichen Flucht zweier Freunde aus Prag durch den Eisernen Vorhang in den Westen. Der Text beschreibt kritisch, wie in einem bayrischen Sammellager mit Asylbewerbern umgegangen wird: »Und ich schwöre! Lieber zehn Jahre Sozialismus als ein Jahr in diesem Lager!« (SB 102) Auch der gemeinsame Ausflug in den Traumort Pompeji erweist sich als eine Enttäuschung. In ganz ähnlicher Weise nehmen die Protagonisten in Alper Öncüls Mother Drug den ›fremden Blick‹ auf ›das Deutsche‹ ein: »Es war Freitagabend und wir saßen bei Musi an der Wasserpfeife. Für die Christen war heute Weihnachten und wir sahen Jesus im Fernseher.« (SB 134) Gemeinsam nehmen Protagonist Alp und seine moslemischen Freunde Kokain und andere Drogen und ziehen dann durch die Weihnachtsnacht, die sie ironisch mitfeiern: Wir sind Moslems und feiern heute […] das Fest der Christen […]. Wir beschließen einen Solidaritätsmarsch mit Trommel und Geige für Jesus. […] Die Fenster öffnen sich, Menschen schauen auf uns herab und schimpfen, was der Krach denn am Heiligabend soll. Wir fordern sie auf, im Namen Jesu mit uns zu gehen, im Glauben an die Wiedergeburt. Sie lachen, und ihnen ist der Weg zu weit, schimpfen Blasphemie und leeren Wasser aus der Höhe. (SB 136)
Das christliche ›Fest der Liebe‹ wird für die moslemische Freundesgruppe zu einer erneuten Ausgrenzungserfahrung: »[S]o manche Träne schwillt im Auge.« (SB 137) Amigo, der in einer schwierigen Lebenssituation steckt, erfriert in dieser Nacht freiwillig – das friedliche Familienfest der deutschen Christen provoziert den Tod eines einsamen Muslims. In den Texten von Konecny und Öncül wird die Diskursherrschaft zwischen ›Deutschen‹ und ›Migranten‹ umgedreht – die binäre Matrix von Eigenem und Fremdem bleibt jedoch unangetastet. Die Hybridität von Identitäten in einer globalisierten Welt, in der sich zahllose Migrationsbewegungen vollziehen, wird demgegenüber kaum thematisiert. Nur in Ingo Bentz’ 300 mg without order sine ira taucht eine als hybrid beschriebene Person auf, die zugleich keinen ›echten Namen‹ hat: »K, eine füllige Mischung ägyptischer, syrischer und israelischer Vorfahren mit amerikanischem Paß.« (SB 19)
Untergrund, Literatur und Subversion
Von der Befreiung zum Verlust der Wahrnehmung. Drogen in der Prosa des Social Beat Die frühe westdeutsche Untergrund-Literatur zielte auch auf eine ›Befreiung der Wahrnehmung‹, und propagierte zu diesem Zweck neben der ästhetischen Nutzung des Cut-up-Verfahrens auch die reale Nutzung von Drogen, unter deren Einfluss einige Protagonisten der Untergrund-Literatur sehr unterschiedliche Erfahrungen machten.498 In den Social-Beat-Texten der 1990er Jahre spielen Drogen zwar noch immer eine große Rolle, allerdings wird hier weniger ihr befreiendes als vielmehr ihr bedrohendes Potenzial thematisiert. In den Texten der Anthologie wird eine große Bandbreite an Drogen konsumiert: Alkohol, Kokain, Heroin, Mescalin, Crack, LSD, Psillos-Pilze, Stechapfeltee und Ecstasy,499 der Konsum von Joints gehört in vielen Geschichten zur Hintergrundszenerie und zur Etablierung von Gemütlichkeit (vgl. SB 22, 61f., 86, 137, 174 u. 195). Nur selten wird den Drogen eine durchweg positive oder bewusstseinserweiternde Wirkung zugeschrieben. Es heißt zwar an einer Stelle: »Junk ist Orgasmus. Orgasmus ist Junk« (SB 156); und in einzelnen Texten wird Drogen eine Wirkung zugeschrieben, die den Sex intensiviert (vgl. SB 98 u. 115), oder behauptet, dass der Alkoholgenuss den Verstand schärfe (vgl. SB 106). Nur in Dirk Hartmanns teilweise hart geschnittenem Text Bagdad – Babylon – 1990 nervous breakdown, der sich kritisch mit den Bilderfluten rund um den ersten Golf krieg beschäftigt, wird William S. Burroughs’ Cut-up- und Drogen-Programm der Befreiung von der ›Realität‹ der Massenmedien angewandt: Der Erzähler berichtet davon, dass er während der Niederschrift des Textes drei Joints geraucht habe und strukturiert seinen Text auf diese Weise (vgl. SB 61f.). In allen anderen Texten, die Drogen zu einem entscheidenden Thema machen, ist jedoch jede Hoffnung auf deren positive Effekte einer realistischen Einschätzung ihrer destruktiven Wirkungen gewichen: Der übertriebene Konsum der Droge Alkohol wird mehrfach als sozialer Makel
498 | Die ›Drogenliteratur‹ beginnt allerdings nicht erst in den 1960er Jahren, sondern hat eine längere Tradition. Stephan Resch verweist in Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 auf Thomas De Quinceys Bekenntnisse eines englischen Opiumessers und Charles Baudelaires Die künstlichen Paradiese als den international wichtigsten Textes dieses Genres aus dem 19. Jahrhundert, während die deutsche Literatur in den Texten »E.T.A. Hoffmanns, Novalis’ und im frühen 20. Jahrhundert Schmitz’, Trakls und Benns durchaus einen wichtigen Beitrag zum Genre der Drogenliteratur geleistet« (Resch 2007: 8) habe. 499 | Die Verweise auf die Drogen finden sich an folgenden Stellen: Alkohol (SB 88ff., 106, 112, 116, 132, 188, 193ff., 199 u. 214), Kokain (SB 118, 132 u. 134f.), Heroin (SB 132 u 186ff.), Mescalin (SB 21), Crack (SB 187ff.), LSD (SB 92), Psillos-Pilze (SB 89), Stechapfeltee (SB 93) und Ecstasy (SB 132).
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präsentiert,500 die destruktiven Wirkungen von Marihuana, Heroin, Crack und LSD werden dargestellt.501 In den meisten Texten haben die Drogen also keinesfalls eine befreiende oder die Lebensintensität verstärkende Wirkung, sondern sorgen für soziale Isolation, den Verlust der Wahrnehmung und körperlichen Verfall. Im Gedicht Langweiler mit Hang zum Zeitloch von Jan Off wird sogar apodiktisch behauptet, wer sich regelmäßig in einen Drogenrausch begebe, sei heute als ›Spießer‹ zu bezeichnen (vgl. SB 132). Eine Befreiung der Wahrnehmung wird somit – anders als in der Untergrund-Literatur der 1960er Jahre – nicht mehr in der Nutzung von Drogen gesucht, sondern – allenfalls – in der Hinwendung zur Religion bzw. in der Abwendung von der materiellen Welt, die allerdings nur in zweien der Prosatexte der Anthologie thematisiert wird.502 500 | Hartmut Malornys Die kleine Kunst, sich den Makel der Jugend zum Vorteil zu machen berichtet von den Jugenderinnerungen des Erzählers, der mit seinem Bruder den Vater, der Alkoholiker ist, auflesen und nach Hause bringen muss. Die Mutter warnt: »Die Nachbarn, seid leise, was sollen die anderen denken?« (SB 112) Ganz ähnlich berichtet in Bettina Sternbergs Erster Erster die Ich-Erzählerin vom Tag nach einem silvesterlichen Vollabsturz: »Als ich das Badezimmer betrat, sah und roch ich die Bescherung. […] Reality-TV. Klamotten, auf dem gekachelten Fußboden verteilt und verunreinigt mit hellbraunen – nein, Häufchen wäre untertrieben.« (SB 196) Sie steckt ihre Kleidung in die Waschmaschine, deren Sicherung jedoch rausfliegt, weshalb ihr Vater sie bittet, die Wäsche doch wieder herauszunehmen, wodurch ihre Scham über den Alkoholmissbrauch noch gesteigert wird. 501 | Die beiden Protagonisten aus Axel Klingenbergs Kein schöner Land nehmen während und nach einem Schützenfest in der Lüneburger Heide einen wahren Drogencocktail aus Bier, Pilzen, LSD und Stechapfeltee zu sich. Während der IchErzähler im Krankenhaus landet und nur temporär wahnsinnig war, ergeht es seinem Freund Enno »wesentlich dreckiger. Ich glaube nicht, daß er die Klinik nochmal verlassen wird. […] Das einzige, was in seinen Augen zu sehen ist, ist die Angst, daß sie wiederkommen.« (SB 96) In Yves dos Santos’ Entmystifiziert reist ein gerade aus dem Gefängnis Entlassener ins »Drogenmekka[ ]« Amsterdam und landet schließlich in einem Coffeeshop, wo der Konsum von Joints allerdings keine befreienden Wirkungen entfaltet, im Gegenteil: »sein Kopf war ein Vakuum. […] Es floß alles an ihm vorbei.« (SB 174) In Kersten Flenters Junkieufer wird der körperliche Zerfall der heroinsüchtigen Luna eindringlich beschrieben. Sie stinke »wie Pottwalkotze aus dem Mund« (SB 55), besitze einen »skelettenen Körper« (SB 56) und einen »schon faulenden Einstich in ihrem unbestrumpften Bein« (SB 58). 502 | In Der Vorstadtphilosoph erzählt Hardy Krüger von einem ›Kopf‹ genannten Denker, der im Verlauf der Story zunächst von allen anderen belächelt wird, schließlich jedoch das buddhistische Ideal, die Loslösung von allem Materiellen, verwirklicht und sogar seinen eigenen Körper auflöst: Von ›Kopf‹ bleibt nur der Kopf übrig. Das Ergebnis seiner geistigen Anstrengungen wird von ihm als das Erreichen eines Glückszustandes
Untergrund, Literatur und Subversion
5.2.3. Von Subkulturen, hässlichen Städten, Illegalität und Ironie. Topoi, Personen, Topografien und Strategien der Subversion im Social Beat Eine sich als Untergrund-Literatur inszenierende Bewegung wie der Social Beat nutzt auch Topoi, Personen, Topografien und Strategien des Untergrunds. In den 1960er und 70er Jahren gelang es Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Jörg Fauser und Jürgen Ploog durch eine Literatur, die von ausgegrenzten, minorisierten Gruppen und Subkulturen wie Homosexuellen, Drogensüchtigen oder Kriminellen berichtet, diese Themen sowie ihre neuen Schreibweisen auch auf dem hochkulturellen Literaturmarkt zu etablieren und eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Wie aber gestalten sich die Bezüge auf Topoi, Personale, Topografien und Strategien des Untergrunds in der Social-Beat-Literatur der 1990er Jahre? Unterschicht, Subkultur und alternative Popkultur. Personen und Archive in der Prosa des Social Beat Enno Stahl stellt in seiner Analyse der Social-Beat-Literatur fest, dass in dieser »immer wieder Minoritäten, die Kleinen, Hässlichen, zu kurz Gekommenen« auftreten, die sich abgrenzen gegen »die Unbarmherzigkeit der Bürokratie, der Arbeits- und Sozialämter, das Unverständnis der ›Spießerwelt‹, das denen begegnet, die sich nicht eingliedern wollen in ein System aus rastlosem Konsum und ungehemmter Konkurrenz.« (Stahl 2003a: 265) Diese Konstruktion einer positiven Bezugsgruppe im gesellschaftlichen Untergrund, die sich gegen eine mächtige und reiche Mittel- und Oberschicht abgrenzt, hat Diedrich Diederichsen als eines der sieben Merkmale von Subversion beschrieben: Subversion nutze »eine Metaphorik der B-Ebene, (ist) also das freiwillige Beziehen eines Unten in einer hierarchischen Macht-Topik« (Diederichsen 1993a: 35). Tatsächlich gibt es keine Protagonisten in den Prosatexten der Anthologie Social Beat, Slam Poetry, die der Oberschicht entstammen, reich sind oder über politische Macht verfügen. Ganz im Gegenteil: Wenn das Milieu der Protagonisten in den Texten eine Rolle spielt und näher beschrieben wird, handelt es sich um Arbeiter und Arbeitslose, erfolglose Künstler und Denker, Alkoholiker und Heroinsüchtige, Kriminelle und Hacker, Trans- und Homosexuelle, Mülldiebe und Migranten.503 Auffällig ist, dass in keinem Text eine Figur präsen-
bewertet, vgl. SB 107. Im Prosagedicht Macht nackt empfiehlt Hadayatullah Hübsch, Anhänger der »Ahamadiyya-Muslim-Gemeinde« (SB 67), die Loslösung von der Konsumgesellschaft und die Hinwendung zur Religion, vgl. SB 70. 503 | Es finden sich Textverweise zu den folgenden Gruppen: Arbeiter und Arbeitslose (SB 26ff., 55ff., 175ff., 199 u. 213ff.), erfolglose Künstler und Denker (SB 32ff., 105ff. u. 108), Alkoholiker (SB 112 u. 192ff.) und Heroinsüchtige (SB 55ff., 97f. u. 186ff.),
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tiert wird, die sich eines Systems politischer Mitbestimmung bedient – die Verwurzelung in der Subkultur ist bereits der zentrale politische Akt.504 Die Positionierung in einem gesellschaftlichen Untergrund- oder Randmilieu wird von den Figuren verstärkt, indem sie sich teilweise absetzen gegen andere Milieus oder Agenten der Staatsgewalt.505 Auch Soldaten als Vertreter der Staatsmacht werden diffamiert (vgl. SB 61). Zugleich wenden sich die Figuren gegen die Vertreter klein- und großbürgerlicher Milieus: Seien es die Yuppies (SB 8, 68f. u. 189) oder die Teilnehmenden an einem Schützenfest in der Provinz (SB 87ff.) – diese bleiben den Social-Beat-Figuren fremde Milieus. Bemerkenswert ist zudem, dass sich in zahlreichen Texten Abgrenzungen gegen eine andere Alternativkultur – das Milieu der Alt-68er, der Hippies und der grünen Bewegung – finden. Einzelne Autoren setzen sich schon in ihren Selbstvorstellungen von der Chiffre ›1968‹ ab,506 doch auch in den Texten finden sich solche Invektiven.507 Kriminelle und Hacker (SB 116ff., 173ff.), Trans- und Homosexuelle (SB 9ff. u. 76ff.), Mülldiebe (SB 44f.) und Migranten (SB 134ff.). 504 | Der einzige Text mit einem Protagonisten aus einem ›bürgerlichen Milieu‹ ist Ploogs bereits 1975 erstveröffentlichte Geschichte Sternzeit 23, in der der erzählende Flugzeugpilot allerdings abseits seines Berufs auch in Subkulturen verkehrt: »Ich hatte mich mit Linken herumgeschlagen, mit heimlichen Junkies, mit Globetrottern, Schlangenbeschwörern, mit Künstlern und Anarchisten oder wie sie sich sonst nannten.« (SB 147) 505 | In einem Text heißt es: »die bullen stöhnen innerlich: n Bericht tippen für nix & wieder garnix – man siehts ihnen an: kritzeln Scheiße auf ihren Block & am liebsten wär ihnen das vollegal: nee AM LIEBSTEN WÄR IHNEN DAS AM LIEBSTEN! wenn Dealer & Drogis sich gegenseitig abstächen: wär das Problem aus der Welt & die Sache gegessen & die Stadt beinahe sauber für Bullenseelen« (SB 187f.). Die als ›Bullen‹ diffamierten Vertreter der staatlichen Exekutive kämen also ihren Aufgaben nicht nach, hätten Gewaltfantasien und seien innerlich leer, kurzum: In Social-Beat-Texten »verspotten sogenannte ›Künstler‹ unsere Polizei« (SB 34). 506 | In der Autorselbstbeschreibung von Axel Klingenburg heißt es: »Jahrgang 68, aber kein Alt-Achtundsechziger« (SB 86), bei TUBERKEL Knuppertz: »Gebürtiger, und das mit ›Widerwillen‹« (SB 97). 507 | Der Text Ey, ihr verkackten Arschgeigen formuliert eine Anklage »gegen die Doppelmoral der Öko–68er. Mit ihrer Birkenstock-Mentalität zertreten sie alles reinrassig. Es ist die Generation der bleifreien Volvo-Fahrer, die vor allem Angst haben, was sie mit der Fernbedienung nicht ausschalten können, z.B. Junkies, Nutten, Kids und Tekkno.« (SB 80) In Schiemanns Jobsuche ironisiert der arbeitslose Protagonist während seines zweiten Vorstellungsgesprächs den ›grünen‹ Lebensentwurf seiner potenziellen neuen Arbeitsgeberin, die ihn schließlich abweist – hinter der vorgeblichen ›progressiven Alternativität‹ verberge sich letztlich ein ›konservatives Spießertum‹, vgl. SB 176f.
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Durch intertextuelle Verweise auf Medienerzeugnisse und Kunstprodukte positionieren sich viele Figuren auf alternativen popkulturellen Feldern – und gegen die kleinbürgerlichen Musiktraditionen.508 Positiv verweisen die Protagonisten vor allem auf die US-amerikanische und die deutsche Alternativkunst.509 Im Vergleich mit den popkulturellen Alternativarchiven, die sich in Thomas Meineckes Romanen finden, handelt es sich hier teilweise um Bezüge zu populären Phänomenen, die bis in den Mainstream eingedrungen sind: Cobains Band Nirvana wird für die Auflösung des Independent-Gedankens verantwortlich gemacht, Ellis’ Roman und Bowies Musik erreichten weltweit große Verkaufszahlen, selbst Ministrys Album The Suceed and the Way to Suck Eggs (1992), von dem der Song Psalm 69 stammt, erreichte Platz 27 auf den Billboard-Charts. Die popkulturellen Referenzen der Social-Beat-Texte suggerieren zwar, dass sie der Alternativkultur angehören, sind jedoch selbst größtenteils als absorbiert vom Mainstream zu bezeichnen. Hässliche Urbanität, dreckige Randbezirke, Kellerräume. Topografien in der Prosa des Social Beat Die Texte des Social Beat spielen zumeist in dreckigen urbanen Räumen (vgl. SB 44f., 80, 112, 118f., 129, 134ff., 143, 152, 155, 186ff., 196 u. 199), die mit den
508 | Eine Geschichte über den ausschweifenden Drogengebrauch in der Provinz trägt den Titel des idyllischen Volksliedes »Kein schöner Land« (SB 86) – die ländliche Provinz erweist sich jedoch nicht als Idylle, sondern als Horrorlandschaft. In einem anderen Text wendet sich Protagonist Peewee von der Mainstream-Musikkultur ab: »der Fernseher läuft blubbert Bilder MTV […]: Bewegung wird vorgetäuscht – mehr nicht…« (SB 189) »Courtney Love«, Sängerin und »Prinzessin der RiotGrrrls«, und Kurt »Cobain« (SB 97), der die Grunge-Bewegung weltbekannt machte, also zwei Popstars der Alternativkultur, werden der konservativen, bürgerlichen Kultur, dem »Vatikan« und den Kunden von »IKEA« und des »Beate-Uhse-Katalog[s]« (SB 98), gegenüber gestellt. 509 | Diese Verweise beziehen sich auf den US-amerikanischen Science-FictionComic »Flash Gordon« (SB 146), »Mickey Rourke in Barfly« (SB 194), einen von zwei Filmen, für die Charles Bukowski das Drehbuch schrieb, und auf den neoexpressionistischen bildenden Künstler »Markus Lüpertz« (SB 77). Musikalisch zitieren die Texte Songs der Industrial-Metal-Band Ministry – das sexuell anspielungsreiche Lied » PSALM 69« (SB 90) und »Never trust a junky« (SB 91) –, Johnny Thunders Song You Can’t Put Your Arms Around A Memory über die Heroinsucht (die Negation verschwindet im Text allerdings, vgl. SB 56) und »Ziggy Stardust« (SB 155), die Figur aus dem Titelsong von David Bowies Album The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars (vgl. Bowie 1972). Außerdem werden Vergleiche mit Bret Easton Ellis’ Buch »American Psycho« (SB 206) sowie einem »Trash Metal-Video« (SB 192) genutzt, in einem Raum liegen ein »Stapel Titanics« und »U-Comix« (SB 109).
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Chiffren des Unangehmen und Hässlichen versehen werden.510 Einige Geschichten, wie Müllschlucker von Jörg André Dahlmeyer, können geradezu als Erkundungen des Hässlichen, Unangenehmen und Abseitigen verstanden werden: Die Protagonisten Frank, Britta, Charly, Zoe und der Ich-Erzähler ziehen »durch die Straßen« und stehlen Müll: »Überall stöbern wir etwas auf, die Stadt ist voll davon.« (SB 44) Die Müllschlucker ernähren sich von den Abfällen der Stadt: »Zu Hause angekommen entleeren wir alle unsere Taschen auf dem Küchentisch, der jetzt reichlich bedeckt ist. Tomaten, Artischocken, Käsebrote, Pilze, Thunfisch, Kartoffelschalen, Salami, Schinken, Mohrrüben und Rote Beete. […] Frank rülpst.« (SB 45) Die Geschichte endet mit der gemeinsamen Mahlzeit und der Ankündigung des Ich-Erzählers, morgen werde er sich die Kanalisation vornehmen.511 Als paradigmatisches Symbol einer dreckigen Halbwelt-Stadt, in der ›abseitige Lebensweisen‹ normal sind, wird in zwei Geschichten das »Drogenmekka[ ]« Amsterdam präsentiert, das als ein »Bild des Elends« (SB 173) erscheint (vgl. auch SB 50ff.). Manchmal spielen sich die Geschichten in Kneipen ab (vgl. SB 24, 35f. u. 105f.) oder in Wohngemeinschaften und Kommunen (vgl. SB 32f. u. 186ff.). Exemplarisch kann wieder auf Kersten Flenters Junkieufer verwiesen werden, wo sich die gestrandeten, arbeits- und obdachlosen oder psychisch kranken Figuren illegal in einem gescheiterten Bauprojekt eingerichtet haben (vgl. SB 57). In den von den Reichen verlassenen Orten richten sich also die Armen und Entrechteten ein, arrangieren sich still oder bestenfalls ironisch mit den ungünstigen Lebensumständen, gegen die sie allerdings nicht politisch auf begehren. Orte, die tatsächlich ›unter dem Grund‹ liegen, wie die Kanalisation oder Keller tauchen vergleichsweise selten als Bezugspunkte auf. In Junkieufer lebt die drogensüchtige Luna in einem (Fixer-)Keller, der Computerhacker Josh in Newbie, Wein und Troubleshooter in einem geheimnisvollen Kellerraum (vgl. SB 55 u. 116). Während diese Kellerräume wie ein Versteck vor der ›offiziellen Welt‹ und ihren Gesetzen inszeniert werden, erhält der Keller in Ein Pavian im Wasser eine andere Bedeutung. Anfangs wird die Deportation von Juden in Konzentrationslager beschrieben: »Als wir aus dem Waggon herausgetrieben wurden, landete 510 | Die Figuren laufen durch die Stadt und sehen einen »frischen Haufen Hundekot« und »einen von Kohleasche qualmenden Müllcontainer« (SB 44), in einem anderen Text sind die Straßen »hoffnungslos verdreckt und die Versuche der Reinigungstrupps, wieder Sauberkeit herzustellen, scheinen mehr als grotesk.« (SB 50) In weiteren Texten laufen die Figuren durch »einen der ärmeren Stadtteile dieser europäischen Großstadt« (SB 130), sie wachen »frühmorgens in einer Seitengasse hinter Müllcontainern auf« (SB 173), »die gesammelte Häßlichkeit großer Städte offenbarte sich hier in archetypischer Reinheit.« (SB 129) 511 | Vom Leben in den heruntergekommenen Vierteln der Großstadt erzählt auch André Henze in Freunde, besucht mich im Sommer!, vgl. SB 66.
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ich sofort in einem Kellerraum, in dem ich meine Sachen abzustellen hatte. Irgendeine Frau weigerte sich und es gab eine Schießerei, die Soldaten eröffneten einfach das Feuer auf uns alle. Es gelang mir, in einen Gang zu flüchten.« (SB 76) Der Keller und somit der Untergrund werden als Stätten konnotiert, in denen man von den Herrschenden und ihrer Exekutive getrieben wird. Neben dem hässlichen urbanen Raum und seinen Randbezirken, der Halbwelt-Stadt Amsterdam und Kellerräumen spielen zwei Geschichten in der Provinz bzw. auf dem Bauernhof, wobei diese Orte als äußerst unangenehm beschrieben werden und die Fluchtversuche der Protagonisten in ein Leben als Künstler bzw. in den Rausch dargestellt werden. Die Texte entwerfen auch neue Fluchtorte bzw. zerstören diese (vgl. SB 32f. u. 86ff.).. Im Gegensatz zu den warmen Klimaten in den Hippie-Hochburgen Indien, Thailand und Südamerika stilisiert Heike Reichs Kälte in einer sado-masochistischen Fantasie die Gefrierkammer zu einem utopischen Ort, in dem Lust erfahrbar sei. Daneben werden zahlreiche Orte der Idylle wie die Küste, eine Ferieninsel, der Familienurlaub, der Zoo oder eine ökologisch eingerichtete Wohnung ihrer idyllischen Atmosphäre beraubt. In einem Traum von Meer und Klippen tauchen plötzlich Androide auf, der Himmel schwärzt sich, die Szenerie wird apokalyptisch (vgl. SB 126). Das Versprechen der Freiheit, die die Reise in unbekannte Welten und das Unterwegssein noch in Jack Kerouacs On the Road suggerierte, scheint verloren gegangen.512 Idyllische Bilder von Familien im Urlaub oder am Muttertag enden in bestialischen Schlachtszenen (vgl. SB 43 u. 185), der Ausflug von Kindern in den Zoo, einen Ort der gelassenen Freude, wird vom »gnadenloseste[n] Kinderalptraumbereiter« (SB 206) gestört und zerstört.513 In einzelnen Texten werden die Orte jener Gruppen und Milieus, von denen sich die Personen des Untergrunds absetzen, wie Yuppies, Klein- und Großbürger, Hippies und die grüne, ökologische Bewegung, ironisiert oder diffamiert.514 Ganz im Geiste des Punk, der sich gegen die romantisierende Naturverehrung und die Technikfeindlichkeit der Hippie-Kultur und der 512 | In Das war die große Orangen-Freiheit… stellt sich das exotische Bild vom schönen und warmen Kreta, in dem sich die Orangenernte spielend erledigen ließe, als Trugschluss heraus (vgl. SB 216). Am ehesten findet sich die als Freiheitserlebnis inszenierte Reiselust in Ploogs Sternzeit 23, allerdings ist dieser Text bereits 1975 in einer ersten Version erschienen, als das Leben in anderen Kontinente durch die HippieBewegung noch als Utopie begriffen wurde. 513 | Nur in einer Geschichte, die »bei der Oma in der Küche« (SB 25) spielt, bleibt der harmonische Familienort mit der Einheit von Großmutter und Enkelin gewahrt. 514 | Die ironisierte Landflucht hat Axel Klingenberg unter dem bezeichnenden Titel Kein schöner Land verfasst, vgl. SB 86–96. Auch in Newbie, Wein und Troubleshooter landen die beiden Protagonisten durch ein Versehen in einem Naturgebiet, wo sie auf eine Frau treffen, die sie mit einem Gewehr bedroht, vgl. SB 119–121.
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grün-ökologischen Bewegung stellt, erfahren sie den ›natürlichen Raum‹ oder die ökologisch bewusste Inneneinrichtung von Wohnungen als rückständig und bedrohlich.515 Attraktiv erscheint, bei aller Hässlichkeit, der urbane Raum – »Zurück zum Beton« (S.Y.P.H. 1980) lautete der Punk-Slogan schon 1980. Die Social-Beat-Text berichten jedoch nicht nur von Verweigerungs- und Ironisierungsgesten gegenüber ökologischem Enthusiasmus und kleinbürgerlicher Regelungswut, die ihre praktische Umsetzung in Wohnungseinrichtungen und Hausordnungen finden – auch die Räume und Insignien der YuppieMilieus werden abgewertet. Schon in der Einleitung der Anthologie schreibt Michael Schönauer, dass die Texte der Anthologie »zum nächsten (sozialen) Schlag« ausholten, »geradewegs in die schnieken Designer-Cappuccino-Täßchen dieser bornierten Kaffeehausreplikanten« (SB 8). Am deutlichsten wendet sich Hadayatullah Hübschs Text gegen die Orte, in denen sich einige der popliterarischen Texte der 1990er Jahre bewegen, gegen »Galerien«, »secondHand-Boutiquen«, »Ibiza«, ein »Swatch-Museum«, die »Werbeetagen der Gründervillen« und »Kaufhäuser« (SB 67f.) – Orte der Mittel- und Oberklasse, in denen sich das Leben der anderen, gehobenen Schichten abspielt. Anti-Politik, Verweigerung, Illegalität, Ironie. Subversive Strategien in der Prosa des Social Beat Keine der Personen in den Social-Beat-Texten bemüht sich um eine politische Einflussnahme, die die vorgesehenen Instanzen des politischen Systems wie Parteipolitik, Bürgerentscheide oder Petitionen nutzt. Das politische System und seine Vertreter werden, wenn sie überhaupt genannt werden, als korrupt, indiskutabel und dumm verhöhnt.516 Neben diesen Abgrenzungen gegen die (konservativen) Parteien und der Absage an das parlamentarische System werden der nationale Normalisierungsdiskurs, neonazistische Figuren und die
515 | In Schiemanns Jobsuche setzt sich der Protagonist vom ökologischen Lebensstil ab, indem er die Wohnungseinrichtung ironisch beschreibt, vgl. SB 176. Auch in Sternbergs Erster Erster wird das ›bürgerliche Wohnen‹ und seine Regeln ironisch beschrieben, die Protagonistin übergibt sich nach ihrem silvesterlichen Besäufnis auf dem Nachhauseweg und in der eigenen Wohnung mehrfach, zugleich verweigert sie sich der ›Hauswoche‹, bei der sie eigentlich mit der Reinigung des Hauses an der Reihe wäre, vgl. SB 196. 516 | In einem Text, der in der konservativen Provinz spielt, verweist der Protagonist darauf, dass durch politische Wahlen nichts verändert werden könne, denn »in einer Gegend, in der sogar die SPD rechtsradikal ist, würde ein Wahlsieg dieser Partei auch nichts ändern.« (SB 89) Ein anderer Text verhöhnt jene, die konservative Parteien wählen: »Tausenden habe ich den Maßkrug schon so auf den Kopf gehauen, daß sie nicht mehr denken müssen, aber noch Bier trinken können. Die wählen jetzt alle CSU.« (SB 24)
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dichotomische Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem angegriffen.517 Über diese Distinktionen positionieren sich die Texte in einem diffus als anti-parlamentarisch und anti-nationalistisch zu beschreibenden Umfeld, wobei nicht übersehen werden darf, dass sich das Gros der Texte nicht in diese politischen Diskurse einschreibt: Es handelt sich eher um Rückzugsbewegungen aus einem nationalistisch oder parteipolitisch definierten Raum, gegen den keine eigenständige politische Position entwickelt wird. Ansätze eines utopischen Denkens fehlen oder werden entweder komplett zerstört bzw. als Trugschluss vorgeführt.518 Große politische Entwürfe oder die Hoffnung, die Weltökonomie, die Herrschaftsverhältnisse und das Massenbewusstsein grundlegend verändern zu können, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren noch virulent waren, finden sich in den Texten nicht – und wenn, dann werden sie delegitimiert. Im Gegensatz liefern allerdings einzelne Texte Beispiele für illegale und lokale Aktionen, also Mikropolitiken, die zwar nicht das gesamte politische System verändern, aber einzelnen Personen ganz konkrete Gestaltungs- und Lebensmöglichkeiten bieten,519 Neben diesen illegalen und kriegerischen Aktivitäten nutzen die Figuren in einzelnen Texten auch (selbst-)ironische, komische und paradoxe Kommentare und Aktionen, um ihre marginalisierte Position zu relativieren (vgl. auch: SB 34f., 91, 101, 136 u. 188) oder berichten selbstreflexiv über den Schreibprozess und die Themenwahl eines Social-Beat-Autors (vgl. SB 122 u. 202).
517 | Es heißt z.B.: »Son Pech dasses die Deutschen gibt ohne die Deutschen wär Deutschland nich halb so häßlich …« (SB 186), und als in einer anderen Geschichte eine »dieser seltsamen Gestalten« mit »Trainingshose und den Kampfhund an der Leine« vorbeikommt, legt sich die Hauptfigur »auf den Boden und brüll[t] in einen Gulli: Hat hier irgendjemand Müll gesehen?« (SB 44) In Kein schöner Land werden Nationalisten zugleich als Ewiggestrige gezeichnet, deren Zeit vorbei sei, vgl. SB 87f. 518 | Die Utopie in Ingo Bentz’ 300 mg without order sine ira ist z.B. eine negative, destruktive und apokalyptische: Die Erde werde bald »in ein vollkommen restloses Nichts verglühen« (SB 22). 519 | In einem Text wird als subversive Taktik gegen die Vorherrschaft der gewalttätigen Medienbilder im Massenbewusstsein empfohlen, sich als Guerillakämpfer aktiv an diesem Krieg zu beteiligen, vgl. SB 62. In Junkieufer formiert sich eine kleine Gruppe Gescheiterter, indem sie ein nicht mehr betriebenes Bauprojekt besetzt und bewohnt, also Eigentum sozialisiert, vgl. SB 57.
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5.2.4. Untergrund versus Literaturbetrieb, Authentizität versus Absorption. Social Beat als Autorennetzwerk Die Gründung der Social-Beat-Bewegung zielte auf die Formierung eines untergrundliterarischen Autoren-, Verlags-, Magazin- und Festivalnetzwerks – daher soll nun abschließend untersucht werden, wie sich dieses Netzwerk auf dem literarischen Feld positioniert hat. Hierzu wird zunächst das Social-BeatNetzwerk selbst beschrieben, anschließend dessen Konstruktion einer Dichotomie von ›literarischem Untergrund‹ versus ›Literaturbetrieb‹. In einem dritten Schritt werden die Autoren(selbst-)bilder analysiert und zum Schluss die Frage diskutiert, inwiefern die Social-Beat-Bewegung bzw. einzelne ihrer Texte oder Autorinnen und Autoren vom Literaturbetrieb absorbiert worden sind bzw. ob sich die starre Unterscheidung zwischen ›literarischem Untergrund‹ und ›Literaturbetrieb‹ auch heute noch legitimieren lässt. Ein offenes bundesweites Vertriebsnetzwerk. Social Beat als Rhizom Zwar ist unter den Social-Beat-Autoren umstritten, ob es gemeinsame formale oder inhaltliche Kriterien der Social-Beat-Literatur gibt – es gibt jedoch einen breiten Konsens unter ihnen, dass die Social-Beat-Bewegung vor allem als Autorennetzwerk mit gemeinsamen Festivals, Lesungen, Verlagen und Fanzines für einige Jahre dem literarischen Schreiben und Publizieren von UntergrundAutoren in Deutschland eine besondere Aufmerksamkeit beschert habe. Social Beat sei, so Hadayatullah Hübsch, »eine Art Network«, um einen »Zusammenhalt der verschiedensten Szenen« zu erreichen und gemeinsam zu »versuchen, so eine Art Untergrundbewegung im Gegensatz zur konventionellen Literatur aufzubauen.« (Hübsch, zit. n. Ullmaier 2001: 134) Reiffer gibt einen Einblick, wie sich dieser Zusammenhalt konkret auf einem Social-Beat-Festival, hier am Beispiel des Buchfrust von 1997 in Hannover, gestaltet hat: Die Gagen belaufen sich meist nur auf die Fahrtkosten. Viel wichtiger ist der persönliche Kontakt […]. Zusammen wird das eine oder andere Bier getrunken, das natürlich nicht an der Theke des Veranstaltungsortes gekauft wird, sondern an der nächsten preisgünstigeren Trinkhalle, um es dann ›reinzuschmuggeln‹. Neue Gesichter werden gerne aufgenommen, sei es, daß sie an Spontanlesungen oder Poetry-Slams teilnehmen oder ihre Bücher und Texte anbieten. Eine strikte Trennung zwischen Publikum und Künstler wird nicht vollzogen. Nach dem Lesungsblock am Abend spielt meist noch eine Punkrock- oder ähnliche Band. Übernachtet wird nicht im Hotel, sondern in Schlafsäcken in einer Gemeinschaftsunterkunft. (Reiffer 1998: 31)
Doch nicht nur die Vereinigung zersplitterter Szenen, sondern auch die pragmatische Aussicht auf eine größere Öffentlichkeit habe die Gruppen geeint, wie Boris Kerenski feststellt: »Es ist sehr schwierig, sich alleine zu vermarkten, d.h. an die Öffentlichkeit ranzukommen, ein Podium zu finden, Aufmerksam-
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keit zu erregen, Presseartikel zu bekommen… Es ist viel einfacher, wenn man sich als Autor einer Gruppe oder einer Bewegung in der Öffentlichkeit vorstellt.« (Kerenski/Entalpie 1998: 6) Aus dieser pragmatischen Motivation heraus stelle die Social-Beat-Bewegung auch keine homogene Szene dar. Sie setzt sich aus vielen kleinen Künstlergruppen und einzelnen Aktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen, welche in einem losen ›Netzwerk‹ in Kontakt stehen, gemeinsame Projekte planen und sich über ihre literarische Arbeit austauschen. (Ebd.: 4) 520
Diese Perspektive teilt ein Großteil der Social-Beat-Autoren in Reiffers empirischer Untersuchung – wobei die Autorinnen und Autoren allerdings zugleich auf das Problem hinweisen, dass das Netzwerk einerseits nur durch dauerhafte Abgrenzung funktionieren könne, andererseits allerdings ausgebaut werden müsse, um eine größere Wirkung zu erreichen.521 Im Vergleich aller Versuche Reiffers, in seiner Umfrage gemeinsame Merkmale der Social-Beat-Bewegung zu erfragen, wird »der Netzwerksansatz als der wohl positivste Effekt der Szene genannt«; dieser ermögliche »a) alternative Vertriebsformen abseits des Buchhandels, b) Live-Literatur, c) persönliche[n] Austausch von Literatur-ProduzentInnen« (Reiffer 1998: 55). Der Begründer des Begriffs, Jörg André Dahlmeyer, veröffentlicht 1998 rückblickend die Analyse, dass die Stärke der Bewegung gerade ihre inhaltliche und ästhetische Unverbindlichkeit und die dadurch ermöglichte Vernetzung sei: »Wenn Du denkst, SB sei eine ›Literaturbewegung‹, bist Du ein Pechvogel. SB sind immer genau die Leute, die unter
520 | Philipp Schiemann, einer der wichtigsten Social-Beat-Autoren, beschreibt die Bewegung als ein ästhetisch heterogenes und daher pragmatisch ausgerichtetes Netzwerk: »Was ist Social Beat? Wahrscheinlich eine Ansammlung von kreativen Leuten, die in Ermangelung irgendwelcher Fördermittel eine Art Netzwerk gebildet haben, eine kleine Gruppe von Leuten, die um ihrer Sache selbst willen Initiative gezeigt haben. Danach jede Menge Nachzügler, die Generation der Trittbrettfahrer, die den Begriff als Prädikat für ihre eigene Auffassung benutzt, die hochtrabende politische Reden schwingt und andere vor ihren Karren spannen möchte, mit Begriffen wie: außerliterarische Opposition. Junge, Junge, wogegen denn diesmal?« (Schiemann, zit. n. Ullmaier 2001: 156) 521 | Auf die Frage »Würdest Du Social Beat als ein Netzwerk bezeichnen?« erhält Reiffer folgende Antworten: »Ja, durch Sympathien/Austausch (13), ja, durch eigene Medien (12), Netzwerk ist ausbaubedürftig (12), klares ›ja‹(11), zu wenige Gemeinsamkeiten (9), funktioniert nur intern (8), klares ›nein‹ (4), Rest (4), Netzwerk löst sich auf (2).« (Reiffer 1998: 54f.) Als ein Problem wird »immer wieder das ›Einigeln‹ in die eigene Szene und die Abkapselung von anderen Strömungen, bzw. der sogenannten etablierten Literatur, genannt.« (Reiffer 1998: 55)
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diesem Namen zusammenkommen. Egal, ob auf oder vor der Bühne.« (Dahlmeyer 1998: 3) Enno Stahl stellt rückblickend fest, dass es dem Social-Beat-Netzwerk einige Jahre lang gelungen [ist], eine kooperative Struktur aufzubauen und zu erhalten, die die Bewegung unabhängig vom etablierten Betrieb bleiben ließ und ihr eine Medienaufmerksamkeit eintrug, von der mancher SuhrkampLiterat träumen würde. (Stahl 2003a: 264)
Auch wenn die letzte Behauptung als eine Übertreibung gesehen werden kann, so hat dieses Netzwerk doch in der Zeit zwischen 1993 und 1998 funktioniert und zahlreiche Festivals, Lesungen, Magazine, Fanzines und Bücher realisiert. Das Netzwerk des Social Beat kann in dieser Zeit als ein Rhizom im Sinne von Deleuze und Guattari verstanden werden, das sich als »ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat« (Deleuze/Guattari 1977: 35) dem Literaturbetrieb mit seinen Zentren und Hierarchien gegenüber stellt. Auf welche Weise jedoch haben sich der Social Beat und seine Autorinnen und Autoren als rhizomatisches Netzwerk gegen den hierarchischen Literaturbetrieb gestellt? Die Dichotomie von ›Untergrund‹ und ›Literaturbetrieb‹. Distinktionen des Social Beat Die Social-Beat-Literatur steht in einer Traditionslinie mit der früheren Untergrund-Literatur der USA und der Bundesrepublik, die sich in den 1950er bis 1970er Jahren als Gegenöffentlichkeit und in Abgrenzung vom bestehenden Literaturbetrieb inszenierten. Schon die Aufnahme des Begriffs ›Beat‹ stellt eine Verbindung zur Beat Generation her. Die Autorinnen und Autoren verweisen in ihren Selbstvorstellungen auf ihre Vorbilder wie Rolf Dieter Brinkmann, William S. Burroughs, Jörg Fauser oder Helmut Salzinger.522 Drei Veteranen der Untergrund-Literatur der 1960er und 70er Jahre sind in der Social-BeatBewegung aktiv und verweisen auf ihre damaligen Erfahrungen: Jürgen Ploog verbinde bis heute »eine persönliche Freundschaft« mit »William Seward Burroughs« (SB 147), das Leben Hadayatullah Hübschs habe sich damals zwischen »Kommune 2 und Trips« (SB 67) abgespielt, Jörg Burkhard habe »1968/1. Mai […] die erste linke Buchhandlung in der BRD« (SB 35) eröffnet.
522 | Boris Kerenski arbeitet »an dem Zyklus ›Hommage à W. S. Burroughs‹« (SB 50), Peter Engstler widmet seinen Text »Helmut Salzinger (1935–1993)« (SB 48) und Jaromir Konecny hat 1995 ausgerechnet den »Fritz-Hüser-Preis des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt« (SB 99) gewonnen. Michael Schönauer bezeichnet die Anthologie als eine »›Literatur von Unten‹«, wie sie durch den »schriftstellernden Sprengsatz eines Rolf Dieter Brinkmann oder Jörg Fauser populär« (SB 7) geworden sei.
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Viele Texte des Social Beat konstruieren eine Wir-Ihr-Struktur, die die Mächtigen, Reichen, Herrschenden und den Literaturbetrieb einerseits den Unterdrückten, Proletariern, Minoritäten und der Untergrund-Literatur andererseits als unvereinbare Lager dichotomisch gegenüberstellen.523 Die SocialBeat-Autoren konstruieren ihre Identität gerade in Abgrenzung von den gescholtenen Vertreter ›des Literaturbetriebs‹, der immer in toto bezeichnet wird, was eine binäre Matrix produziert: ›der Literaturbetrieb‹ versus ›der Untergrund‹ – und nichts dazwischen. Der Social Beat, so Kerenski, »scheißt auf utopische Entwürfe, schöngeistiges Geschwätz und tote Worte im leeren Raum« (Kerenski 1998: 3), wie sie in den Hallen der Literaturhäuser inszeniert würden. Michael Schönauer bezeichnet in seiner Einleitung zur Anthologie Social Beat, Slam Poetry,die vom Literaturbetrieb »gepushte POP-LiteraturFraktion« als »literarische Scharlanterie«, »nichts als heiße Luft« und »Mogelpackung« – gegen diese »protegierten schriftstellernden Yuppies und diskursverliebten Musikredakteure« trete die »{U}nabhängige {L}iteratur« und die »wortstarke Independent-Literatur-Szene« (SB 7) an. Das Social-Beat-Magazin SUBH, das die Unterzeile subhVersiv – subhKulturell – subhPer trägt, proklamiert in einer eigenen Ausgabe das ›Ende der Popliteratur‹ mit zynischen und aggressiven Beiträgen von Dirk Bathen, Crauss, Kersten Flenter, Tobias Stenzel und Stephan Waldscheidt, die die Frontstellung von ›Social Beat‹ und ›Popliteratur‹ zu zementieren versuchen (vgl. Klingenberg/Reiffer 2002: 6–21). Die Social-Beat-Autoren behaupten, dass sie – im Gegensatz zu den Autorinnen und Autoren der großen Verlage oder der ›neuen deutschen Literatur‹ – einen direkten Kontakt zu ihrem Publikum hätten, ihre Lesungen könne man auch »an den herkömmlichen Orten, in Kneipen, Hallen, Diskos, auf der Straße und in Unterführungen« erleben, für Lesungen nutzen sie auch (ehemals) besetzte oder heruntergekommene Häuser und Kneipen.524 Eine Distanz zwischen den Vortragenden und dem Publikum, die einen Abstand zwischen den genialischen Autor und der lesenden Masse inszeniert, sei nicht vorhanden: »Bei Social Beat ist der Autor mitten im Publikum, ein Autor zum Anfassen. Jeder kann seine persönliche Meinung vertreten und diese direkt vor Ort einbringen.« (Kerenski/Entalpie 1998: 5f.) Im Gegensatz zum hierarchisierten Literaturbetrieb versteht sich die Social-Beat-Bewegung als basisdemokratisch und gerecht – die Texte der Anthologie Social Beat, Slam Poetry werden nicht nach inhaltlichen oder ästhetischen 523 | Diese Struktur findet sich auch in zahlreichen Gedichten der analysierten Anthologie, vgl. SB 64f., 67ff., 82, 133, 198 u. 201. 524 | Beim 3. Berliner Social-Beat-Literatur-Festival unter dem Motto Affenterror wurde z.B. in verschiedenen Lokalitäten in Berlin-Mitte und -Prenzlauer Berg gelesen, die als ›Kastanie 85‹, ›Lychi 60‹, ›Schokoladen‹ und ›Sportlertreff‹ bezeichnet werden. Allerdings fand auch eine Veranstaltung im Roten Salon der Volksbühne, d.h. in einem Ort der subventionierten Hochkultur, statt.
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Kriterien angeordnet, sondern in der alphabetischen Reihenfolge der Autorennamen.525 Auf diese Weise positioniert sich die Social-Beat-Bewegung gegen die Marktorientierung des Literaturbetriebs, da sie der Autoren-Zuhörer-Gemeinschaft vorführt, dass Gesellschaftsentwürfe auch jenseits von Hierarchien, Autoritäten und Selektionsprozessen möglich sein können. Nur manchmal gelingt es der Social-Beat-Bewegung, in andere Literaturund Politikmilieus hinein zu wirken, wobei von diesen Aktionen nur in SocialBeat-Medien berichtet wird. Anekdotisch berichtet ein Social-Beat-Autor von einem Auftritt bei einer traditionellen Kulturveranstaltung: Daß der STÖRER seinem Namen alle Ehre macht, habe ich u.a. bei meiner Lesung am 03. Mai in Wendeburg erfahren: Ich las zum Schluß aus STÖRER Nr. 3 meinen Text »Glückliche Schweine« – und wurde prompt vom anwesenden Vorsitzenden des Kulturausschusses (CDU-Mann) angepflaumt: Ich hätte mit dem Text »den schönen Bücherfrühling-Abend gestört«. (U.S., zit. n. Reiffer 1998: 79)
Die Wirkung dieser Aktion bleibt jedoch lokal – die Auseinandersetzung entsteht im Rahmen einer kleinstädtischen Kulturveranstaltung, während die Social-Beat-Bewegung in Städten wie Berlin und Hamburg eine eigene Nische besetzt, fernab des traditionellen und offiziellen Literaturbetriebs, in der sie sowohl ungestört wie auch keine größere Störung provozierend alternative Kulturangebote macht. Zwischen Authentifizierung und Selbstironie. Autorinszenierungen im Social Beat Wenn sich die Social-Beat-Bewegung auf eine dichotomische Unterscheidung von ›Untergrundliteratur‹ und ›Literaturbetrieb‹ beruft, liegt die These nahe, dass sich die in ihr konstruierten Autorenbilder und deren Selbstinszenierung in den Medien und der Öffentlichkeit als solche des Randes, der Minoritäten oder des Untergrunds erscheinen. Eine Gemeinsamkeit der Social-Beat-Autoren, behauptet Boris Kerenski, sei der »Anspruch des Authentischen, des Ganz-nah-am-Leben-sein & im Kokettieren damit, am Rande dieser Gesellschaft zu stehen« (Kerenski 2003: 140); auch Enno Stahl stellt fest, dass die »Behauptung von Authentizität« (Stahl 2003a: 274) und der direkte Kontakt zu
525 | Ein ähnliches Verfahren nutzte – neben vielen weiteren Strategien – auch die Grazer Autorenversammlung (GAV) in den späten 1970er Jahren, um sich gegen die Distinktionsverfahren der hohen Literatur, insbesondere den österreichischen PEN -Club, abzugrenzen: »Bei Massenlesungen tragen Autoren und Autorinnen der GAV in alphabetischer Reihenfolge vor, nicht jedoch gemäß ihrer Bekanntheit. Auf diese Weise wird auch jüngeren, noch nicht etablierten Autoren eine Chance gegeben.« (Schößler 2006: 64)
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den subkulturellen Szenen obligatorisch für die Autorinnen und Autoren des Social Beat sei.526 Tatsächlich schreiben sich viele Social-Beat-Autoren in die Tradition der historischen Avantgarde ein, die die Trennung zwischen Kunst einerseits und Alltags- und Arbeitswelt andererseits durch Happenings und experimentelle Aktionen aufzulösen versuchte. Die Oppositionshaltung des Social Beat gegen ›den Literaturbetrieb‹ basiert auf der Konstruktion, dass sich die professionellen Autorinnen und Autoren von ›der Lebenswirklichkeit‹ entfernt hätten und in ihren Texten nur ›künstliche Diskurse‹ produzierten. Im Gegensatz dazu gilt das Leben der Social-Beat-Autoren als ereignisreich und ›echt‹, ihre Texte als ›realistisch‹. Diese Authentizitätsfiktion schlägt sich sowohl in den Selbstbeschreibungen der Autorinnen und Autoren als auch in ihren Texten in Social Beat, Slam Poetry nieder.527 Eine weitere Authentifizierungsstrategie ist der Verweis auf die Sozialisation und den bestehenden Kontakt zu Musikszenen wie dem Punk, dem Hardcore sowie dem Heavy- und Trash-Metal.528 Auch Drogen- und Rauscherfahrungen authentifizieren die Autorenrede über die alternativen Milieus.529 Sogar die Motti der drei bundesweiten Social-Beat-Festivals – Tötet den Affen (1993), Der Affe schlägt zurück! (1994) und Affenterror (1998) – verweisen auf die Sprache der Fixerszene, wo sich hinter der Formulierung ›den Affen kriegen‹ die Notwendigkeit des nächsten ›Schusses’ verbirgt. Neben der Punksozialisation, den Drogenerfahrungen und ihrer psychotischen Verfassung inszenieren sich einzelne Autorinnen und Autoren als ›unangepasste Gammler‹ bzw. Obdachlose und Migranten.530 Auch in den Ankündigungstexten für das 526 | Enno Stahl plädiert in diesem Sinne für einen sozial-realistischen Roman, vgl. Stahl 2006: 15. Als Beispiele nennt er Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands, Michel Houellebecqs Elementarteilchen und Ingo Schulzes Simple Storys. Vgl. auch Stahl 2013. 527 | André Henze schreibt, er produziere »›Bauchliteratur‹, meint ›direkt‹« (SB 66), und Philipp Schiemann bezeichnet seine Texte als »authentisches Zeug, fixiert, als die Emotionen noch frisch waren« (SB 175). 528 | Das sind Positionierungen von Frank Bröker, Klaus N. Frick, Alexander Pfeiffer und Robsie Richter, vgl. SB 32, 59, 144 u. 169. 529 | Hadayatullah Hübsch hat – nach eigener Auskunft – in den 1960er Jahren »Trips« (SB 67) eingeworfen, Stan Lafleurs beste Eigenschaft ist es, »sehr viel [zu] trinken, ohne hinzufallen« (SB 108), TUBERKEL Knuppertz wird zum »Prolet und Großmaul, wenn er zuviel des Alkohols genossen hat« (SB 97), und Yves Dos Santos hat »nach Horrortrips auf Speed die Schule abgebrochen« (SB 173). Daniel Dachtewitz inszeniert sich als Drogensüchtigen und Psychiatriepatienten, der noch heute der Gewalt zugeneigt sei und somit eine unkontrollierbare Bedrohung darstelle, vgl. SB 43. 530 | Henning Chaddes Leben bestehe aus der Tätigkeit, »ein wenig zu studieren und mich rumzutreiben« (SB 41), Robsie Richter habe nach dem Abitur und dem »Verweis aus der mütterlichen Wohnung« ein »mehr-monatiges Leben auf den Straßen Hanaus«
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3. Bundesweite Social-Beat-Festival von 1998 finden sich bei einigen Autoren Verweise, dass sie kriminell, illegal, drogensüchtig oder psychopathisch seien – in jedem Fall nicht mit der ›bürgerlichen Masse‹ oder den ›langweiligen Literaturbetriebsautoren‹ zu vergleichen.531 Wie verhält es sich allerdings mit der ›realen‹ materiellen Situation, dem Berufsleben und der Ausbildung der Autorinnen und Autoren ? Sehr viele Autoren haben zwar ein Studium begonnen, nach eigener Aussage jedoch abgebrochen, wie Ralf Bernauer, Kersten Flenter, Thorsten Nesch, Jorge Petersen, Alexander Pfeiffer und Thomas Schweisthal (vgl. SB 23, 55, 127, 140, 144 u. 182). Andere haben verschiedene Jobs wie »Verkäufer, Druckereihilfe, Gartenarbeiter« (SB 74), »gärtner / erzieher / alleskünstler« (SB 128), arbeiten als »TramDriver in Dortmund« (SB 112), jobben »beim Sozialamt« (SB 109) oder sind »arbeitslos« (SB 210). Die Behauptung, dass sich alle Social-Beat-Autoren jenseits akademischer oder literarischer Milieus bewegen, muss jedoch falsifiziert werden. Vielmehr sollte von einer Verortung der Autorinnen und Autoren in sehr divergenten Milieus und Berufen ausgegangen werden; unter »den Autoren finden sich Studenten, Arbeitslose genauso wie Arbeiter oder Angestellte.« (Reiffer 1998: 46) Tatsächlich haben Autorinnen und Autoren wie Tanja Dückers, Caroline Hartge, Mattis Manzel, Rayl Patzak, Wolfram Teufel, Dagmar Weck und Pille Weibel literaturaffine Fächer wie Germanistik, Anglistik, Amerikanistik, Musik oder Publizistik studiert, studieren diese noch oder üben sogar den Beruf des Lehrers aus (vgl. SB 46, 60, 114, 138, 198, 204 u. 206). Wenn behauptet wird, dass sich die Social-Beat-Autoren fernab der künstlerischen und akademischen Felder im ›echten Leben‹ bewegten, so gilt dies keinesfalls für alle; bei vielen handelt es sich um eine Inszenierung von ›wildem Leben und Authentizität‹ (vgl. auch Degens 1999: 226).
(SB 169) verbracht, Yves Dos Santos einige »Jahre ›rumgegammelt‹«, dann sei er »Hausbesetzer in Lübeck« gewesen. Er sei geboren »73 in Paris / Vater Portugiese / Mutter Deutsche« (SB 173) und habe somit migrantische Erfahrungen, eine hybride Identität. Auch Jaromir Konecny und Alper Öncül seien nicht in Deutschland geboren, sondern als Migranten nach Deutschland gekommen. Michael Schönauers Pseudonym YussufM verweist auf eine ›fremde Identität‹, die er sich durch »Reisen: Afrika / Amerika / Asien / Arktis / Ad Astra« (SB 213) angeeignet habe. 531 | Die Autoren lassen sich ankündigen als ›totale Kriegs dienst verweigerer‹ (Jens Petz Kastner), ehemalige ›Internierte eines Stasi-Knasts’ (SHANGHAI), »ehemaliger Sänger der inzwischen zum Glück verbotenen Alkoholikerkapelle Hrubesch Youth« (Kai Damkowski), »kokainabhängig« (Jan Off), entlassen »aus einem griechischen Bullenknast« (Bernd Kramer) sowie geprägt durch »Aufenthalte in Nervenkliniken & Gefängnissen« (Hadayatullah Hübsch) oder »Auftritte mit der Besetzerband Swinging Mescaleros« (Theo Köppen) (Dahlmeyer u.a. 1998a: 6, 7, 10, 13, 15 u. 18).
Untergrund, Literatur und Subversion
Auch theoretische Texte und Essays über die Social-Beat-Autoren verweisen darauf, dass ihr Außenseiterdasein weniger ein beruflich-soziales als vielmehr ein literarisches sei. Marc Degens bestimmt Untergrund-Literaten über ihre materielle Situation: Sie seien jene, die sich (noch) nicht über ihre literarischen Werke finanzieren könnten und daher kunstferne Berufe ausüben müssten. In diesem Sinne definiert er »Underground oder Social Beat« als »all jenes […], was nicht dem etablierten Literaturbetrieb angehört.« (Degens 1999: 230) Während Degens jedoch zu beschreiben versucht, dass dieses literarische Außenseitertum durch fehlende literarische Qualität begründet sei und daher in keiner Weise subversive Wirkungen entfalten könne, sehen andere Social-Beat-Vordenker gerade darin eine große Chance und die eigentliche Stärke der Social-Beat-Untergrund-Literatur.532 Das ›NichtSchriftsteller-Sein‹ wird für die Social-Beat-Autoren somit zum paradoxen Distinktionsbegriff. Tatsächlich ist es für alle Social-Beat-Autoren unmöglich, ohne einen Zweitberuf oder anderweitige finanzielle Unterstützung vom Schreiben zu leben, wie Andreas Reiffer festgestellt hat. Zwar haben zwei Drittel der von ihm interviewten Autorinnen und Autoren bereits ein Honorar für ihre Texte oder Lesungen erhalten, allerdings bewegt sich dieses auf so geringem Niveau, dass es nicht für den Aufbau einer Künstlerexistenz reichen würde. Während die Gewerkschaften z.B. für eine Lesung professioneller Autorinnen und Autoren ein Mindesthonorar von 250 € vorschlagen (zzgl. Fahrtkosten und Unterkunft), erhalten die Social-Beat-Autoren Honorare zwischen 15 und 50 €.533 Daher sehe zwangsläufig das »Gros der Kleinstverleger und Fanzinemacher« ihr jeweiliges »Projekt als schlichtes Hobby an« (Reiffer 1998: 89). Reiffers Untersuchung macht jedoch eine signifikante Differenz der Aussagen über die bisher realisierten und die zukünftig erwünschten Veröffentlichungen sichtbar: Während das Gros der Social-Beat-Autoren bislang nur in Fanzines, Anthologi532 | Sergiu útefćnescu z.B. lobt die »Underground-Schriftsteller« Autoren einer von ihm herausgegebenen Anthologie, sie schrieben »so verdammt gut, […] weil sie frei sind […], weil sie meistens nicht wissen (wollen), dass sie Schriftsteller sind« (útefćnescu 1998: 2). Boris Kerenski schreibt über die Social-Beat-Autoren, ihnen sei »der Alltag und das Leben allemal wichtiger als bedeutungsschwangere Verse.« (Kerenski/Entalpie 1998: 5) 533 | Reiffer schreibt: »Frage 14 beschäftigt sich mit den Honoraren: ›Hast du durch dein Schreiben schon einmal Geld verdient?‹ Natürlich waren hier Mehrfachnennungen erlaubt. Von den 53 Befragten gaben 52 Auskunft. Immerhin konnten 30 Autoren schon einmal Geld für einen gedruckten Text in der Hand halten. […] Noch höher liegt die Nennung bei den Lesungshonoraren, die über die Aufwandsentschädigung (Fahrkosten, Getränke- und Essenbons) hinaus gehen: Hier konnten immerhin 37 Befragte schon mal ein Plus verbuchen. Doch erfahrungsgemäß sind dies nur kleine Summen zwischen 30 und 100 DM [=15 und 50 €] pro Lesung.« (Reiffer 1998: 59)
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Literatur und Subversion
en und Einzelbänden mit Kleinstauflagen unter 500 Exemplaren veröffentlicht hat, wünscht sich eine Zwei-Drittel-Mehrheit die Veröffentlichung von Einzelbänden, die eine Auflage von über 5 000 Exemplaren erreichen sollten.534 Die Marginalisierung der eigenen Texte, die vorgeblich eine selbst gewählte ästhetische und politische Strategie ist, wird also nur von einer Minderheit der Autorinnen und Autoren als wünschenswert angesehen. Aus dieser somit in den meisten Fällen ambivalenten Position heraus nutzen viele Autorinnen und Autoren des Social Beat selbstironische Selbstinszenierungen oder Formen des Understatements, um sich von den professionellen Autorinnen und Autoren ›des Literaturbetriebs‹ abzugrenzen.535 Andere Autorinnen und Autoren verhöhnen die im Literaturbetrieb übliche Aufzählung von Preisen, Stipendien und akademischen Mitgliedschaften: Bettina Sternberg stellt fest: »93 Ehrung ›als junge Künstlerin‹ durch den Rat der Stadt Helmstedt, (weil der noch nie was von mir gelesen hat.)« (SB 192), und Tom Toys nennt als wichtige Schritte seiner Biografie: »1990 Gründung des Instituts für Ganz & GarNix«, außerdem »im Juni 1996 adlig gesprochen, seitdem Düsseldorfs Dichterfürst Tom de Toys« (SB 200). Neben diesen (selbst-)ironischen und sarkastischen Autorinszenierungen treten einige Social-Beat-Autoren auch als engagierte Autorinnen und Autoren auf, allerdings in einer subkulturellen Variante: Es geht ihnen nicht darum, für die gesamte Gesellschaft zu sprechen oder sich auf die allgemeinen Menschenrechte zu berufen, vielmehr vertreten einige Autorinnen und Autoren auf spezifischen Politikfeldern radikale politische Positionen. In ihren Selbstinszenierungen benennen einzelne Autorinnen und Autoren ihr politisches Engagement als Anarchisten, Antifaschisten, Antirassisten oder Sozialarbeiter,536 während ande534 | Unter dem Punkt »Bisherige und gewünschte Veröffentlichungen« fasst Reiffer zusammen: Unter »bisherige Veröffentlichungen: Fanzines (52), Anthologien bis 500 (27), Einzelbände bis 500 (29), Anthologien 501–1000 (31), Einzelbände 501–5000 (11), Anthologien über 5000 (6), Einzelbände über 5000 (2)«; unter »gewünschte Veröffentlichungen: Einzelbände über 5000 (34), Einzelbände 501–5000 (31), Anthologien über 5000 (15), Einzelbände bis 500 (18), Anthologien bis 500 (15), Fanzines (18), Anthologien 500–5000 (11).« (Reiffer 1998: 56) 535 | Urs Böke »lebt in Essen, mehr nicht« (SB 29), Hartmut Malorny hat »[k]eine Frauen, wenig Geld und ’ne Menge Perspektiven« (SB 112), Dirk Hartmann widmet sich »der Neurosen-Zucht« und betreibt »seit 1991 Studium/Kultivierung des Überflüssigen« (SB 61), Stan Lafleur hat bereits »zahlreiche weitgehend fehlgeschlagene versuche zur überwindung von raum & zeit & diesen dingen« (SB 108) unternommen. 536 | In Jens Petz Kastners Kurzbiografie steht die »[t]otale Kriegsdienstverweigerung« (SB 84) mit den bekannten strafrechtlichen Folgen, Pille Weibel bezeichnet sich als »Anarchopazifist und subversiver Staatsfeind« (SB 206); anstelle auf seine Zivildienstbzw. Bundeswehrzeit zu verweisen, schreibt Axel Klingenberg: »nach der Schule folgte das Ausführen nichtselbständiger, entfremdeter Arbeit im Dienste des deutschen
Untergrund, Literatur und Subversion
re sich eher ironisch zu politischen Kontexten oder zur Möglichkeit, sich politisch zu engagieren, verhalten.537 Daneben gibt es auch einzelne religiös-esoterische Positionierungen, die allerdings deutlich in der Minderheit sind,538 ebenso wie Positionierungen der Autorinnen und Autoren in feministischen Diskursen.539 Der Stellvertreterkampf für die Minoritäten gegen die Hegemonialgesellschaft auf Feldern außerhalb des Literaturbetriebs durch einige Social-Beat-Autoren erweist sich also als widersprüchlich: Viele von ihnen inszenieren sich als gesellschaftliche Außenseiterfiguren, operieren mit starken Abgrenzungen und machen die Kämpfe minoritärer Gruppen zu ihrer Sache, stehen jedoch in einem ›normalen‹ Erwerbsleben oder Studium und sind daher meist nicht selbst in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen involviert. Eine ganz ähnliche Tendenz hat Klaus Briegleb schon in Rolf Dieter Brinkmanns Selbstinszenierung ausgemacht: Sein »Macht kaputt was euch kaputt macht« (dieser Songtitel ist von den Ton Steine Scherben, Briegleb schreibt ihn Brinkmann zu [vgl. Ton Steine Scherben 1970]) sei »nicht ›persönlich gemeint‹, nicht existentiell wie bei den Kommunarden selber. Es ist den Randgruppen verordnet, die kommod weit entfernt vom Schreibtisch leben. […] Doch was sind das für ›Randgruppen‹? Es ist geliehenes Milieu, das als Leihgut vermittelt erst die Unmittelbarkeit der literarischen Farbe und Theatralik ausstrahlt.« (Briegleb 1993: 190) Zwar formulieren viele Autorinnen und Autoren und Theoretiker den Anspruch, es handele sich bei Social-Beat-Autoren und ihren Texten um authentische Zeugnisse aus minorisierten Milieus. Tatsächlich sind dies jedoch zumeist nur Behauptungen und Inszenierungen, die im besten Fall durch selbstironische und spielerische Verhöhnung der Autorinnen- und Autorenbilder ›des Literaturbetriebs‹ dessen Regeln, Normbiografien, Tabus
Staates« (SB 86). Grobilyn Marlowe engagiert sich als »Mitarbeiter der Bochumer / Dortmunder Obdachlosenzs. BODO« (SB 115), Hardy Krüger ist Herausgeber des »Antirassismus-Readers ›In Deutschland nichts Neues‹ (Leutkirch 1992)« (SB 105). Vgl. auch SB 53, 66 u. 127. 537 | Das Pseudonym eines Autors lautet Bdolf (vgl. SB 16), Henning Chadde stellt fest, er sei »gegen meinen Willen in die Welt geschickt worden (dagegen protestiere ich heute noch)« (SB 41). 538 | Dagi Bernhard bezeichnet sich als »Autorin, Reiki-Lehrerin und Steinehändlerin« (SB 24), die drei Autoren Ralf Bernauer, Dennis Busch und Günther Kahrs nennen ein Datum für ihre ›Rebirth‹ bzw. ›Wiedergeburt‹ in den 1990er Jahren, vgl. SB 23, 37 u. 80. Bettina Sternberg bezieht sich auf die Religion ›Wicca‹, vgl. SB 192. 539 | Boris Kerenski erweist sich als »Hrsg. des Textbuches ›porNo 4 pyros‹« (SB 50), Michaela Seul ist »Co-Autorin des ›Frauen-Motorrad-Handbuches‹ (Verlag Frauenoffensive München 1995)« (SB 184) und Bettina Sternberg inszeniert sich als militante Kämpferin gegen das Machotum: »Tatmotiv: Wut. Anspruch: Den Ignoranten in die Fresse schlagen.« (SB 192)
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und Ausschlussverfahren sichtbar machen und eine diesen entgegen gesetzte Autorinnen- und Autorenidentität konstruieren. Literatur im Paternoster. Die Aufnahme der Social-Beat-Autoren in den Literaturbetrieb Schon in den 1960er Jahren wussten Untergrund-Autoren um die Durchlässigkeit der Grenze zwischen ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla erkannten beispielsweise, dass die von ihnen in der Anthologie ACID (1969) präsentierte Literatur der Beat Generation »bis zu einem gewissen Grade Eigenständigkeit erlangt« habe, dass sich diese jedoch nicht als eine »Konkurrenz zum offiziellen Literaturbetrieb« verstehe, da dieser »die interessantesten Autoren ohnehin aufnimmt« (Brinkmann/Rygulla 1969: 417). Die Dichotomie von ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹ ist inzwischen auch vor dem Hintergrund der These vom ›Mainstream der Minderheiten‹ von Tom Holert und Mark Terkessidis zu sehen: Es lasse sich von einer »aussichtslosen Unabhängigkeit« (Holert/Terkessidis 1996: 14) sprechen, denn »der Mainstream (bemüht) sich vehement um das symbolische Kapital von ›Minderheiten‹.« (Holert/Terkessidis 1996: 9) Die Opposition von ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹ als binäre Idealtypen ist nur eine rhetorische Zuspitzung, es bestehen fließende Übergänge zwischen kleineren und größeren Formen von Verlagen. Johannes Ullmaier beschreibt exemplarisch die fließenden Grenzen zwischen Großkonzern-Verlagen, Großverlagen, mittleren Verlagen, szenenahen Kleinverlagen und sogar szeneexternen (Selbst-)Verlagen. Dabei stellt er den Sinn des Vertriebs- und Veröffentlichungsargumentes in Frage: »Denn so wie man bei Klein- und Selbstverlagen genauso gut auf FeierabendGraphomanen, Epigonen und Versehrte stoßen kann wie auf starke, aber für den Mainstream zu unorthodoxe, renitente, grenzwertige Texte, wächst mit der Größe der Verlage nicht nur die ihrer Talente, sondern auch der Hang zu marketing-, betriebs- und zielgruppenkonformem Kompromiss- und Eintagsramsch.« (Ullmaier 2001: 142f.) Wenn aber eine kohärente Abgrenzung gegen ›den Literaturbetrieb‹ nicht möglich ist, würde dies dem Argument der Untergrund-Autoren, es ließen sich konforme Großverlage und widerständige Untergrundverlage klar voneinander abgrenzen, seine Kraft nehmen. Die Behauptung, dass sich ›Untergrund-Literaten‹ eindeutig von ›Autorinnen und Autoren des Literaturbetriebs‹ unterscheiden ließen, wird von vielen Social-Beat-Autoren selbst konterkariert, die sich z.B. in der Anthologie Social Beat, Slam Poetry mit Insignien schmücken, die dem literarischen, akademischen oder didaktischen Betrieb entstammen. Einige Social-Beat-Autoren partizipieren nicht nur an offiziellen Institutionen oder Fördermöglichkeiten, sie verweisen sogar innerhalb der Szene offen darauf.540 540 | Jörg André Dahlmeyer ist »Mitglied im BvjA« (SB 44), Hadayatullah Hübsch sogar »Vorsitzender des VS Hessen« (SB 67), Hans Wagner ist »mitglied im verband
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Doch die Unterscheidung zwischen ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹ erweist sich auch auf andere Weise als Konstruktion. Selbst wenn man unterstellt, dass es in Literaturproduktion und -vertrieb sowie im Verlagswesen unterschiedliche Grade der Autonomie und der ökonomischen Ausrichtung gibt, so bleibt die Möglichkeit, dass ›unabhängige Untergrund-Literatur‹ und ihre Autorinnen und Autoren von größeren und kommerziellen Verlagen oder Medien aufgenommen und somit absorbiert werden. Wenn man der Argumentation von Holert und Terkessidis folgt, haben sich in den letzten zwei Dekaden die Formen der Akkumulation künstlerischer Produkte in einer Weise verändert, dass es heute nahezu unmöglich geworden ist, einen Ort außerhalb des Kultur- bzw. Literaturbetriebs zu behaupten. Viele Künstler, die sich dem Mainstream gegenüber kritisch verhalten, stehen auch dem Begriff des Untergrunds kritisch gegenüber. Wiglaf Droste erklärt exemplarisch: »Alles, was mit Underground kokettiert, ist mir verdächtig. Oft ist es nur Eifersucht bzw. eine Strategie, der Mainstream von morgen oder übermorgen zu sein.« (Droste, zit. n. Ullmaier 2001: 146) Auch Kerenski beschreibt für den Social Beat die Gefahr, vom Literaturbetrieb absorbiert zu werden, denn heute »wird jedes Außenseitertum – und sei es noch so extrem – immer schneller vom Mainstream, der auf der ständigen Suche nach Neuem ist, integriert. Damit verliert eine Gegenbewegung etwas von ihrer Sprengkraft. Jeder ist mittlerweile zwangsläufig so in das Netz des Systems eingebunden, dass er es gar nicht mehr verlassen kann.« (Kerenski/Entalpie 1998: 5)541 Nadja Geer und Andreas Reiffer stellen fest, dass diese Beschreibung insbesondere auf die Bereiche der Musikzeitschriften und des Subkultur-Journalismus zutrifft, deren Situation sich Anfang der 1990er Jahre grundlegend geändert habe,542 denn diese Entwicklung bringe
deutscher schriftsteller« und »schreibgruppenleiter, dozent für literatur, vhs, fortund weiterbildung in gruppendynamik und poesietherapie.« (SB 201) Michaela Seul gewann den »1. Wiener Werkstattpreis 1993« (SB 184), Heike Reich erhielt »1996 (das) Literaturstipendium in Ahrenshoop« (SB 165), Mattis Manzel »1993/94 (das) Stipendium aus Schloß Solitude« und ein »Literaturstipendium der Stadt Esslingen.« (SB 114) 541 | Ein Beispiel für einen Autoren, der diese Gefahr früh erkannt hat und sich aus der Slam-Poetry-Bewegung verabschiedete, weil er glaubte, dass dieser populäre Import die deutschen Untergrundstrukturen zerstören würde, ist Enno Stahl, vgl. Kerenski 2003: 151. 542 | Geer untersucht den Subkultur-Journalismus und kommt zum Ergebnis: »Während es 1986 noch das Feuilleton der Hochkultur war, […] so stellt sich seit 1993 das parasitäre Verhältnis zwischen Sub- und Hochkultur-Journalismus doch eher umgekehrt dar: Zeit, Spiegel, Focus & Co (miß-)brauchen Subkulturtexte als Trendbüro, frei Haus.« (Geer 1995: 66) Vgl. auch Reiffer 1998: 72.
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Literatur und Subversion »den Underground« ins Wanken. Das Souterrain ist nicht mehr sicher, seine ehemaligen Bewohner sind entweder ganz in die Beletage hinaufgezogen oder haben sich im Fahrstuhl eingerichtet und somit einen der Transiträume erorbert [sic!], die für die Kulturschaffenden der neunziger Jahre vielleicht den krisensicheren Ort bedeuten. Der Subkultur-Journalismus macht […] die neue Beweglichkeit mit, er springt auf den kreisenden Paternoster auf, seine Mobilität sichert ihm einen festen Platz in der Reihe der Kulturkommentatoren. (Geer 1995: 84)
Lässt sich auch eine Absorption des Social Beat durch den Literaturbetrieb beobachten? Zunächst kann behauptet werden, dass relativ früh auch Großverlage Anthologien veröffentlicht haben, die sich auf die Trash-Literatur des Social Beat und der verwandten frühen Slam Poetry berufen. Dabei handelt es sich um die Anthologie Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion, die – von Andreas Neumeister und Marcel Hartges herausgegeben – 1996 bei Rowohlt erscheint (und neben einzelnen Slam-Poetry-Autoren auch jene des Literaturbetriebs vereint wie Franzobel, Marcel Beyer, Kathrin Röggla, Johannes Jansen und Peter Weber),543 sowie um die Anthologie Trash-Piloten. Texte für die 90er, 1997 von Heiner Link bei Reclam in Leipzig herausgegeben. Link verweist in seinem Vorwort auf die separatistischen Tendenzen der Slam Poetry und der SocialBeat-Bewegung, deren »Trash-Autoren […] den Buchmarktautomatismus (ignorieren), der auf eine uniforme Autorenriege, letztlich auf den Autor als Warenlieferanten abzielt.« (Link 1997a: 16) Tatsächlich tauchen in seiner Anthologie jedoch viele Autorinnen und Autoren auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits bei Verlagen ›des Literaturbetriebs‹ wie Suhrkamp und Rowohlt ihre Bücher veröffentlicht haben, wie z.B. Sibylle Berg, Franzobel, Andreas Neumeister und Georg M. Oswald. In der Social-Beat-Bewegung sind wiederum einige Distinktionsbewegungen gegenüber diesen Büchern und ihrer Rezeption zu verzeichnen. 1997 konstatiert Michael Schönauer, dass »die großen deutschen Verlage Begriffe wie SLAM!- Trash- Beat-Literatur (okkupieren) und […] ihren Reibach damit« machen. Die Distinktion zwischen ›Untergrund‹ und ›Literaturbetrieb‹ richtet sich an der Frage aus, wer ›von Anfang an‹ und vor allem ›wie‹ dabei war und ist: »Da springt also ein ganzes Verlagsgenre auf einen fahrenden Zug, doch für den Leser ist die Trittbrettfahrt eben nicht der wilde Nervenkitzel eines UGroundSurfs.« (Schönauer 1997: 8) Nicht nur die Verlage nutzen die Untergrundbewegungen sowie deren Ideen und Produkte relativ schnell (die Anthologien von Neumeister/Hartges und Link entstanden zwei bzw. drei Jahre nach den ersten Poetry Slams in Deutsch543 | Vgl. Neumeister/Hartges 1996. Als Autorinnen und Autoren oder Beteiligte des Social Beat (z.B. durch Auftritte bei den Festivals) beteiligen sich u.a. Kai Damkowski, Franz Dobler, ›Matthias‹ BAADER Holst, Arne Rautenberg, Michaela Seul und Enno Stahl an dieser Anthologie.
Untergrund, Literatur und Subversion
land und vier bzw. fünf Jahre nach Gründung der Social-Beat-Bewegung, die erst ein bzw. zwei Jahre später ihren Höhepunkt erreichte). Immer häufiger werden Literaturagenten (wie die Trendscouts auf den Feldern der Musik und der Kleidung) von den Verlagen auf die Veranstaltungen geschickt, um die Talente möglichst schnell in die mittleren und großen Verlagshäuser zu bringen: »Heute läuft viel über Agenten, und die sind natürlich etwas wendiger – was insgesamt schlecht ist, weil die subkulturelle Energie dadurch viel schneller abgesaugt und in den offiziellen Betrieb überführt wird« (Papenfuß, zit. n. Ullmaier 2001: 147) – ein Phänomen, das insbesondere in Berlin auffällig ist.544 Johannes Ullmaier differenziert, dass sich »die Slam-Szene […] inzwischen weniger als strikte Antithese denn als informelles Nebengleis zum offiziellen Literaturbetrieb begreift«, dies für den »früheren Social Beat« (Ullmaier 2001: 148) jedoch nicht gelte. Damit verweist Ullmaier darauf, dass die Social-BeatBewegung sich aufgelöst habe, bevor sie nach und nach durch den eigentlichen Literaturbetrieb vereinnahmt werden konnte – was eine ›gelungene‹ Form der Verweigerung wäre, wenn sie nicht aus inneren Problemen resultiert wäre. Allerdings haben sich tatsächlich bis heute einige der Autorinnen und Autoren, die zumindest anfangs mit Lesungen auf Social-Beat-Festivals (und teilweise auch in den Anthologien) präsent waren, erfolgreich im Literaturbetrieb positionieren können.545
544 | Bert Papenfuß verweist in seinem Zitat auf die Berliner Vorlesebühnen, die der Form der Slam Poetry und dem Gestus des Social Beat verwandt sind. Seit den 1990er Jahren treffen sich verschiedene Autorengruppen wie die ›Chaussee der Enthusiasten‹ und die ›Reformbühne Heim & Welt‹ regelmäßig an Berliner Veranstaltungsorten, um einem jungen Publikum ihre Texte zu präsentieren (vgl. Kaminer 2001). Besonders auffällig ist jedoch, dass inzwischen viele jener Autorinnen und Autoren, die in den 1990er Jahren noch den Social-Beat-ähnlichen Gestus der vom Literaturbetrieb entfernten Autoren pflegten, inzwischen bei mittleren oder großen Verlagen ihre Bücher veröffentlicht haben. Neben Wladimir Kaminer (Goldmann, Manhattan) sind dies u.a. Ahne (Kiepenheuer & Witsch), Jochen Schmidt (C.H. Beck, dtv, Piper) und Jakob Hein (Kiepenheuer & Witsch, Piper). Zwei Essays über die Berliner Vorlesebühnen schließen mit dem Verweis, dass die vermutete bzw. behauptete Alternativität der Veranstaltungsformen bei näherer Betrachtung nicht haltbar sei, vgl. Bürger 2002 u. Rinke 2001. 545 | Aus dem Kreise von Autorinnen und Autoren wie Ahne, Marc Degens, Tanja Dückers, Thomas Kapielski, Peter Wawerzinek oder Michael Wildenhain, die zwar nicht im Zentrum der Social-Beat-Bewegung standen, aber teilweise in diesem Kontext mit Lesungen oder Veröffentlichungen aktiv waren, wurden bis heute Bücher bei Verlagen wie Aufbau, Kiepenheuer & Witsch, Klett-Cotta oder Suhrkamp veröffentlicht, zahlreiche Literaturstipendien eingeworben, einzelne der Autorinnen und Autoren erhielten inzwischen Preise wie den Alfred-Döblin-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Preis
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In Reiffers Befragung verhalten sich die Social-Beat-Autoren 1998 zu dieser Frage sehr indifferent: Auf die Frage, ob der Social Beat von der ›kommerziellen Massenkultur‹ geschluckt werde und wie sich der/die jeweilige AutorIn dazu positionieren würde, antworten 26 % resignativ, das werde sicherlich passieren und man könne nichts dagegen tun, 20 % finden sogar, dieser Prozess habe schon stattgefunden, wohingegen 19 % glauben, das werde nicht passieren, und 15 % diese Entwicklung sogar begrüßen würden (vgl. Reiffer 1998: 65). Die Tatsache, dass sich inzwischen bereits eine literaturwissenschaftliche Dissertation mit der Social-Beat-Literatur beschäftigt, kann zusätzlich als Beleg für die These bewertet werden, dass diese bereits einen musealen Status erreicht hat und ihre behauptete Autonomie verloren hat.
5.3. D ER S OCIAL B E AT ALS LITER ARISCHE N ACHL ASSVERWALTUNG IM SUBKULTURELLEN D ISKURS DER S UBVERSION . E IN F A ZIT Es können verschiedene historische und kulturelle Formen von UntergrundLiteraturen und -Autoren unterschieden werden. In autoritären Staaten werden Autorinnen und Autoren und Texte verboten, sanktioniert und verfolgt, so dass sich Untergrund-Netzwerke bilden, die diese Texte illegal veröffentlichen, wobei hier die Frage der zur Verfügung stehenden Medien und die Form der Sanktionierungen für die Formierung des literarischen Untergrunds entscheidend ist. In der Bundesrepublik besteht ein weitgehendes liberales und autonomes Kunstsystem, in dem nur wenige Indizierungen und Privatklagen für die Verbote einzelner Texte sorgen, der gesamte Literaturmarkt jedoch zu einem großen Teil von großen Medienkonzernen gelenkt wird. Gegen dessen Vorherrschaft und die Regularien des kapitalistischen Marktes hat sich in den 1960er Jahren ein alternatives Vertriebsnetz gegründet, das auf die Demokratisierung des Mediums Literatur abzielte, auf seine Befreiung aus den Marktzwängen und seine Öffnung gegenüber neuen Schreibweisen, Medien und Inhalten. Viele dieser Projekte scheiterten jedoch – und ihre besten Varianten wurden vom Literaturbetrieb aufgenommen: Einzelne Autorinnen und Autoren landeten mit ihren Texten bei Großverlagen, intermediale Literaturformen setzten sich durch, die Vielfalt der Themen und Schreibweisen vergrößerte sich. Die Absorption der ›Untergrund-Literatur‹ durch ›den Literaturbetrieb‹ wurde bereits in den 1960er Jahren von den Autorinnen und Autoren selbst kritisch diskutiert; die Grenzen zwischen diesen beiden Polen erwiesen sich schon damals als fließend. der Literaturhäuser, einer der Autoren stand bereits auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Untergrund, Literatur und Subversion
›Underground‹ versus ›Literaturbetrieb‹. Die Selbstinszenierung des Social-Beat-Netzwerks und ihre Aporien In diese Traditionslinie schreiben sich die Autorinnen und Autoren der SocialBeat-Bewegung ein, die als ›außerliterarische Opposition‹ von 1993 bis 1998 ein bundesweites Netzwerk mit zahlreichen Festivals, Lesungen, Fanzines und Anthologien bildet. Der Begriff Social Beat bleibt unbestimmt und eine Art Passepartout für unterschiedliche Szenen und Ansätze, die sich in einer rhizomatischen Struktur gegen den hierarchischen Literaturbetrieb stellen – wobei sich dennoch gemeinsame Distinktionsbewegungen und Selbstinszenierungen der Social-Beat-Autoren beschreiben lassen. Fundamental für den Social Beat ist die Dichotomie zwischen ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹: Die Unterdrückten, Minoritäten und Vertreter der Untergrund-Literatur einerseits werden den Mächtigen, Reichen und den Vertretern des Literaturbetriebs andererseits gegenübergestellt. Die Konstruktion der untergrundliterarischen Eigen-Identität erfolgt primär in einer Distinktionsbewegung weg von den Regularien und Repräsentanten des Literaturbetriebs, wie z.B. den erfolgreichen Popliteraten. Im Gegensatz zum Literaturbetrieb, so die Selbstbeschreibungen der Autorinnen und Autoren, gehe es in der Untergrund-Literatur basisdemokratisch und authentisch zu, die Grenzen zwischen Künstlern und Rezipienten würden aufgelöst. Allerdings intervenieren und wirken die Social-Beat-Autoren nur selten in andere Milieus hinein. Folglich bewegt sich die Selbstinszenierung der Social-Beat-Autoren zwischen Authentifizierung und Selbstironie. Die meisten Autorinnen und Autoren wenden verschiedene Strategien zur Authentifizierung und Legitimation ihrer Autorenposition an: Sie schreiben sich ein in die Traditionslinie der historischen Avantgarden und behaupten, die Grenze von Kunst und Alltagsleben zum Verschwinden zu bringen, da ihre Lebenswirklichkeit – im Gegensatz zu jener der Autorinnen und Autoren des Literaturbetriebs – ›echt‹ und ›realistisch‹ sei; sie verweisen auf ihre Sozialisation in Musikszenen wie dem Punk, dem Hardcore und dem Heavy- und Trash-Metal; sie beschreiben ihre Drogen- und Rauscherfahrungen und sich selbst als Gammler und Minorisierte; schließlich schreiben sie sich aus dem literarischen und dem akademischen Feld heraus, da sie auf ihre Studien- und Schulabbrüche sowie die ›normalen Berufe‹, die sie ausüben, verweisen. Diese sich vom Literaturbetrieb abgrenzende Selbstinszenierung als Außenseiterfiguren ist jedoch in dreifachem Sinne problematisch: Erstens wiederholen die Social-Beat-Autoren damit größtenteils Distinktionsbewegungen, die sich schon bei den Untergrund-Literaten der 1960er Jahre als nicht haltbar erwiesen haben, da sich die besseren von ihnen schließlich als Autorinnen und Autoren des Literaturbetriebs etablieren konnten. Zweitens beziehen sich die Distinktionsmerkmale teilweise auf Felder, die inzwischen ihre subkulturellsubversive Kraft verloren haben und normalisiert worden sind (Punk-Musik),
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deren befreiender Mythos inzwischen selbst in Texten des Social Beat problematisiert wird (Drogen, Gammlertum) oder an der Rekonstruktion harter Identitätsmuster arbeiten (Heavy- und Trash-Metal). Drittens lässt sich konstatieren, dass die Schul- und Berufsbildung der Social-Beat-Autoren noch immer überdurchschnittlich hoch ist, dass sich hinter ihrer ›Authentizität‹ tendenziell ein ›Feierabendliteratentum‹ verbirgt und ihr Engagement für minorisierte Gruppen häufig eine nur stellvertretende und anmaßende Rede als Vertreter des Kleinbürgertums darstellt. Dieser Stellvertreterkampf erweist sich somit bei näherer Betrachtung als widersprüchliche Konstruktion, die zudem oft – im Sinne des minoritär-subkulturellen Diskurses der Subversion – jene Dichotomien (Mann versus Frau, Deutsche versus Ausländer, Reiche versus Arme) rekonstruiert, auf deren Existenz soziale Ausschlüsse und Diskriminierungen rekurrieren. Ganz in diesem Sinne wird die Dichotomie von ›Untergrund-Literatur‹ und ›Literaturbetrieb‹ zur wiederholten und zentralen Distinktion. Das Feld der Literatur erweist sich allerdings – wie bereits in den 1960er Jahren – als differenziertes System mit fließenden Übergängen von großen Verlagen und staatlichen Institutionen zu kleineren Verlagen und unabhängigen Autorengruppen; auch Social-Beat-Autoren schmücken sich mit den Insignien des Literaturbetriebs, und verschiedene Autorinnen und Autoren des Social Beat oder eine Veranstaltungsform wie Poetry Slams werden von Großverlagen absorbiert und zu einem Pop-Phänomen umgedeutet. Die Social-Beat-Bewegung lässt sich also – im Vergleich mit anderen historischen und kulturellen Untergrund-Literaturen – als eine Selbstinszenierung von Untergrund-Literatur beschreiben, die durch die Distinktion von ›dem Literaturbetrieb‹ und die aktive Reproduktion verschiedener binärer Schemata ihren Status als Untergrund-Bewegung zu produzieren versucht. Bei dieser Inszenierung verfangen sich die Autorinnen und Autoren jedoch in zahlreichen Aporien und nehmen Stellvertreterpositionen ein, die bereits in den 1960er und 70er Jahren von den Untergrund-Autoren als problematisch diskutiert wurden. Verloren im Medienwandel. Die traditionellen Schreibweisen des Social Beat In den 1960er und 70er Jahren war die westdeutsche Untergrund-Literatur innovativ, indem sie zahlreiche experimentelle Schreibweisen und Buchgestaltungstechniken aus der US-amerikanischen Untergrund-Literatur importierte und auf diese Weise den deutschen Literaturmarkt nachhaltig beeinflusste. Zudem fiel es der Untergrund-Literatur in dieser Zeit noch leicht, sich als eine der vielen militant und massenhaft auftretenden studentischen und jugendlichen Gegenkulturen zu inszenieren und somit die eigenen Aktivitäten als politisch relevant aufzuladen. Schließlich funktionierte das Feld der Literatur damals noch anders als heute: Es gab noch keine ähnlich starke Differenzierung in
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Groß-, Klein- und Kleinstverlage wie heute, im Gegensatz dazu funktionierte die schulische und akademische Kanonbildung ebenso noch wie eine konservative Literaturkritik, die zudem – ausgehend von der Position der Literatur als Leitmedium der Gesellschaft – aus literarischen Texten Aussagen über die Gestalt der Gesellschaft ableitete und diese teilweise zu moralischen Setzungen machte. Vor diesem Hintergrund war es leicht, gegen diese literaturbetrieblichen Instanzen und eine Öffentlichkeit, die die Hippie-Kultur und die kommunistischen Studierendengruppen zu isolieren versuchte, eine literarische Gegenöffentlichkeit zu etablieren, die zugleich eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erzielte. Gegen die hochkulturellen Schreibweisen und die sublimierte literarische Hochsprache war die Nutzung obszöner Wörter, von Szenesprachen und Dialekten oder eines dilettantischen Schreibens eine oppositionelle Geste, auf die teilweise sogar mit Klagen und Indizierungen reagiert wurde. Experimentelle Schreibtechniken wie Cut-ups, Kollaborationen oder die intermediale Verknüpfung von literarischen Texten, Comics, Fotografien und Filmstills erweiterten die Möglichkeiten der Literatur und zielten auf eine ›Befreiung des Bewusstseins‹. Der Gebrauch von Minipressen und die Produktion von Raubdrucken half bei der illegalen Veröffentlichung und Verbreitung von Texten. Einer der entscheidenden Gründe, warum die Untergrund-Inszenierung der Social-Beat-Literatur nach wenigen Jahren ins Leere lief, ist der digitale Medienwandel. Während – auch durch die Aktivitäten der Untergrund-Literatur – das Medium Buch heute seine Funktion als Leitmedium verloren hat, intermediale Literaturformen und experimentelle Schreibweisen sogar staatlich gefördert werden und auch der literarische Kanon sich weitestgehend aufgelöst hat, Literatur also selbst zu einem minoritären Medium geworden ist, hat sich zeitgleich zur Social-Beat-Bewegung eine ähnliche Entwicklung wie auf dem Feld der Literatur in den 1960er und 70er Jahren in den digitalen Medien, insbesondere im World Wide Web und in der Netzkunst-Avantgarde, abgespielt. Hier realisierten sich durch die Nutzung der neuen Vertriebsmöglichkeiten, das illegale Hacken, die Verbreitung politischer oder ästhetisch-dilettantischer Texte, die Aneignung der Produktionsmittel und die Umgehung des Copyrights jene provokanten und neuartigen Aktionen, die einen neuen medialen ›Underground‹ der Hacker und Netzkunstaktivisten etablierten. An der Schnittstelle von Literatur und Internet konnten in den 1990er Jahren und danach einige Aktionen realisiert werden, die provozierende Wirkungen entfaltet haben546 – diese Herangehensweise spielt im Social Beat jedoch keine Rolle. 546 | Als beispielsweise die Bloggerin Kathrin Passig 2006 den Ingeborg-BachmannPreis gewann und die literarische Öffentlichkeit erkannte, dass Passig zum – mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten – Webblog riesenmaschine.de gehört, wurde dies zum Skandalon, da nun sowohl ihre Autorinselbstinszenierung als auch ihr Preistext nur als Mimikry einer hochliterarischen Autorinnenperformanz verstanden wurden (dazu
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Die Formen und Schreibweisen der Social-Beat-Literatur sind im Gegensatz dazu nicht ästhetisch innovativ, viele Texte beschreiben die Notwendigkeit zur Bewahrung der Schrift- und Buchkultur und grenzen sich von den neuen Computertechniken und den Internet-Kommunikationsmöglichkeiten ab. Bis auf sehr wenige Ausnahmen entwickeln die Texte keine neuen experimentellen oder intermedialen Schreibweisen, nur vereinzelt nutzen sie das Cut-upVerfahren oder obszöne Begriffe und subkulturelle Sprachen. Im besten Falle handelt es sich dabei um adäquate Wiederholungen der ›untergrundliterarischen Traditionen‹, denn formal am gelungensten sind jene Texte, die durch Formspiele die Hochsprache verfremden und harte Schnitt-Techniken nutzen. Der Social Beat transportiert somit Formen ästhetisch-subversiven Wissens weiter, wie eine Art literarisches Museum für subversive Untergrund-Techniken, die allerdings in einer veränderten gesellschaftlichen und medialen Umgebung weitestgehend folgenlos bleiben. Literarische Nachlassverwaltung. Die Inhalte des Social Beat Die deutsche Untergrund-Literatur der 1960er Jahre entfaltete ihre Wirkung, indem sie jenen Minoritäten eine Stimme gab, die bislang nicht in der deutschsprachigen Literatur adäquat vertreten waren oder nur als diskriminierte Minderheiten auftauchten. Berichte aus Milieus, die soziologisch als Subkulturen zu bezeichnen waren, oder von den Orten der Ausgegrenzten, den Vorstädten, besetzten Häusern und Szeneclubs, und von Personengruppen wie Terroristen, Drogensüchtigen, Kriminellen und Gefangenen, sexuellen und ethnischen Minderheiten sowie die Nutzung von Topoi des Hässlichen, Abseitigen, Gewalttätigen, Rauschhaften und Wahnsinnigen stellten literarische Versuche dar, durch die Darstellung und Archivierung minoritärer Identitäten und Lebensweisen diesen eine verbesserte gesellschaftliche Position zu verschaffen und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verschieben – ganz im Sinne des Verständnisses von Subversion als minoritärer Distinktion. In den Texten des Social Beat zeigt sich jedoch, dass viele dieser subversiven Zuschreibungen heute nicht mehr funktionieren. Die Milieus der Bundesrepublik haben sich im Postmoderne-Schub seit den 1960er Jahren ausdifferenziert, inzwischen sind weitaus unterschiedlichere Lebensstile legitim. Der Diskurs über die Reproduktion minoritärer Identitäten, wie sie sich z.B. in der Repräsentation der Geschlechterverhältnisse zeigen, ist inzwischen – in Anbetracht des poststrukturalistischen Diskurses der Subversion, der sich in den 1980er und 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum verbreitete – umstrittener als noch in den 1960er Jahren. Etwa 90 % aller Social-Beat-Aktivisten waren männlich, zahlreiche Texte des Social Beat reproduzieren patriarchale Verhältnisse und sexistische Stereotypen: Während die männlichen Figuren zumeist als aktiv, agtrug u.a. ihr ironisches Präsentationsvideo bei, das mit Klischees der Klagenfurter Autorinszenierungen spielt).
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gressiv, gewalttätig und omnipotent erscheinen, werden die weiblichen Figuren als passiv, schön und weich, teilweise als willige Sexualobjekte oder sogar pornografische Männerfantasien imaginiert und exotisiert. Die Sexualität wird als außergewöhnlich, wild und experimentell beschrieben, in einigen Texten wird die sexuelle und materielle Ausbeutung von Frauen (und teilweise auch von Prostituierten) durch die männlichen Protagonisten als ›normal‹ dargestellt. Es gibt zwar eine Minderheit von Texten, die diese sexistischen und patriarchalen Elemente auflösen und problematisieren, insgesamt lässt sich jedoch eine Minorisierung feministischer oder homosexueller und einer Rekonstruktion patriarchaler männlicher Identitäten innerhalb der Social-Beat-Texte festhalten. Während sich die Geschlechterverhältnisse somit zu einem großen Teil innerhalb der binären Matrix ›Mann‹ versus ›Frau‹ bewegen und die hegemonialen Machtverhältnisse reproduzieren, verhält sich dies mit den ethnischen Kategorien ›Eigenes‹ versus ›Fremdes‹ etwas anders: Diskriminierende Rassismen oder Ausschlüsse von Fremden sind in der Minderzahl, ›das Fremde‹ und Migrationsprozesse werden positiv aufgeladen und exotisiert. Zwar gibt es einerseits vereinzelte Reproduktionen rassistischer Stereotypen, häufiger werden jedoch exotisierende Topoi über fremde Kulturen und Bilder aufgerufen und teilweise gebrochen. Das Unterwegssein und Herumgammeln – in der USamerikanischen Untergrund-Literatur der 1950er Jahre ein sehr wichtiger Topos der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, wie in Jack Kerouacs On the Road – wird kaum mehr positiv aufgeladen. In einzelnen Texten erzählen Autoren mit Migrationserfahrungen Geschichten von Migranten und werfen einen ›fremden Blick‹ auf das ›eigene Deutsche‹ – die binäre Matrix von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ bleibt unangetastet, allerdings werden die Machtverhältnisse vertauscht. Eine hybride, globalisierte Perspektive auf ethnische Identitäten, wie sie am Beispiel der ›Kanak Sprak‹ Feridun Zaimoğlus im vorherigen Kapitel analysiert wird, findet sich in den Texten des Social Beat jedoch nicht, im besten Falle positive Diskriminierungen, die innerhalb der Kategorien des rassistischen Diskurses über ›das Fremde‹ verbleiben. Auch eine produktive Bezugnahme auf verfolgte Autorinnen und Autoren oder inszenierte Untergrund-Szenen aus anderen Ländern und Kontinenten, die angesichts der veränderten Kommunikationsmöglichkeiten und der Prozesse kultureller Globalisierung naheliegen müssten, sucht man innerhalb der Texte vergeblich; im Gegensatz dazu ziehen sich die Protagonisten auf ihre jeweiligen nationalstaatlichen Milieus zurück, die nur durch US-amerikanische Kulturprodukte und Begrifflichkeiten angereichert werden. Während Drogen in den 1950er bis 1970er Jahren als Garanten für eine Befreiung der Wahrnehmung mystifiziert wurden, spielen diese heute zwar noch immer eine Rolle, allerdings werden sie eher für den Verlust der Wahrnehmung verantwortlich gemacht. Zahllose Drogen wie Alkohol, Marihuana, Kokain, Heroin, Mescalin, Crack, LSD, Pilze, Stechapfeltee und Ecstasy tauchen in den Texten auf, es wird jedoch eher ihre zerstörerische Wirkung sowie
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der körperliche Verfall und die soziale Isolation, die sie hervorrufen, dargestellt und problematisiert. Die wichtigsten Keimzellen der bürgerlichen Gesellschaft, die Familie und die Arbeitsverhältnisse, werden in vielen Texten als durchdrungen von Gewalt und Ausbeutung dargestellt. Mit einer Ausnahme erscheinen die Erfahrungen der Protagonisten in ihren Familien als traumatisch, brutal und inzestuös; die Familie wird nicht als Rückzugsort von einer bedrohlichen Außenwelt, sondern vielmehr selbst als Stätte der Gewalt und der Traumatisierung beschrieben. Im Gegensatz zu den untersuchten Texten von Thomas Meinecke und Feridun Zaimoğlu findet sich in den Social-Beat-Texten noch eine (traditionelle) Kapitalismuskritik, die die entfremdeten Arbeitsverhältnisse (auch in sog. Traumjobs) sowie die soziale Benachteiligung von Arbeits- und Obdachlosen problematisiert und von Formen der Verweigerung gegenüber den kapitalistischen Erwerbsverhältnissen – u.a. durch eine Existenz als freie/r KünstlerIn, Drogensüchtige oder Arbeitslose – berichtet. Die Protagonisten der Social-Beat-Texte sind Arbeiter oder Arbeitslose, erfolglose Künstler, Drogensüchtige, Kriminelle und Hacker, Trans- und Homosexuelle, Mülldiebe und Migranten, die ihre gesellschaftliche randständige Position teilweise noch verstärken, indem sie sich gegen die (klein-)bürgerlichen Milieus und gegen die Vertreter der Staatsgewalt absetzen. Die Texte vollziehen auch Distinktionsbewegungen gegen andere Alternativkulturen wie das Milieu der Alt-68er, der Hippies und der grün-pazifistischen Bewegung – nicht Friede, sondern (inszenierte) Härte lautet die zentrale Vokabel der SocialBeat-Bewegung, ganz in der Tradition des Punk. Die Mehrzahl der Texte nutzt Topografien des Untergrunds, wobei es sich dabei zumeist um einen als hässlich und dreckig beschriebenen urbanen Raum handelt, der mit verschiedenen Chiffren des Unangenehmen verknüpft wird, teilweise ist die Erkundung hässlicher und abseitiger Orte sogar ihr zentrales Thema. Die Texte berichten vom Leben in verwahrlosten Stadtvierteln, in der Halbwelt oder im ›Drogenmekka Amsterdam‹ und zeigen, wie sich die Armen und Entrechteten – fernab der Konsumtempel in den Innenstädten – ohne politisches Auf begehren und im besten Falle selbstironisch mit ihrem marginalen Platz außerhalb des Gesellschafts- und Machtzentrums arrangieren. Die Orte der Yuppies in den schicken Cafés, der Klein- und Großbürger in den attraktiven Einkaufsparadiesen oder der Hippies in den Landkommunen werden von den Protagonisten gemieden oder verhöhnt. Kellerräume werden als Zufluchtsorte vor der Staatsgewalt und ihren Gesetzen sowie als Ort, an den man vertrieben worden ist, dargestellt. Es werden nur wenige Strategien des Untergrunds vorgeführt, da die (problematische) subversive Aufladung des subkulturellen Lebens als subversive Strategie vorherrschend ist. Das demokratische politische System der Bundesrepublik wird als korrupt dargestellt, die Nutzung politischer Instanzen oder Interventionsmöglichkeiten als effektlos verworfen. Der nationalistische Nor-
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malisierungsdiskurs und neonazistische Figuren werden angegriffen, allerdings transportieren die Texte keine eigenständigen Utopien oder politischen Positionen. Die Protagonisten vollziehen eher Rückzugsbewegungen aus dem politischen Raum, zudem können einzelne Beispiele für illegale Aktivitäten und Mikropolitiken sowie (selbst-)ironische, komische und paradoxe Aktionen beschrieben werden, die jedoch ebenfalls den politischen Anspruch der Protagonisten marginalisieren. Insgesamt handelt es sich also bei den Inhalten, Themen und Topoi der Social-Beat-Literatur um eine Art literarische Nachlassverwaltung jener Traditionen und Inhalte, die in den 1950er und 1960er Jahren noch subversive Kräfte entfalten konnten oder als subversiv mystifiziert wurden (Drogen, Reiselust, Exotismen), sich inzwischen allerdings in den gesellschaftlichen Mainstream vorgearbeitet haben und somit keine Provokation mehr darstellen. Der Social Beat war jedoch – teilweise – erfolgreich in seinen Bemühungen, die Regularien und Tabus des Literaturbetriebs ironisch vorzuführen und offen zu legen. Allerdings hatte er keine eigene ästhetische oder inhaltliche Substanz, um die er den Literaturbetrieb bereichern und somit verändern konnte. Eine problematische Konstellation stellt seine Inszenierung als ›gesellschaftlicher Untergrund‹ bei einer gleichzeitigen Abgrenzung von neuen medialen Entwicklungen im Bereich der Computer und des Internets dar sowie seine Reproduktion des hegemonialen Geschlechterdiskurses und rassistischer Exotisierungen. Auf diese Weise lässt sich die Social-Beat-Bewegung eher als eine apologetische Wiederholung eines 1960er Jahre-Programms unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen bewerten denn als eine progressiv-avantgardistische Literaturbewegung, die subversive Kräfte entfaltet hätte – während zeitgleich die Netzkunstavantgarde und die Medienguerilla in den digitalen Medien jene Wirkung erreichten, die die Untergrund-Literatur noch in den 1960er Jahren zu entwickeln verstand. Abschließend kann jedoch – mit Peter Bürgers Theorie der Avantgarde oder auch Tom Holerts und Mark Terkessidis’ Mainstream der Minderheiten – festgestellt werden, dass jene symbolischen Kämpfe, in die der Social Beat die sozialen Auseinandersetzungen der Gegenwart übersetzt, sich auf Konstruktionen beziehen und in strukturellen Aporien verfangen, die schon in den 1960er und 1970er Jahren von Untergrund-Autoren problematisiert wurden. Der Social Beat kann zwar als Untergrund-Literatur beschrieben werden, eine subversive Wirkung von Untergrund-Literaturen in demokratischen Gesellschaften wie Deutschland mit einem autonomen und liberalen Kunstsystem lässt sich jedoch nicht behaupten und höchstens für einzelne, sehr wenige Texte aus dem Bereich des Social Beat aufzeigen. Es gibt allerdings noch andere UntergrundLiteraturen wie die Berliner Vorlesebühnen oder die Apologeten der ›Szene vom Prenzlauer Berg‹, die noch gesondert untersucht werden müssten.
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6. Diskurse und Aporien der Subversion P OLITISCHES S CHREIBEN IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN G EGENWARTSPROSA . EIN FAZIT
Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß. Walter Benjamin (1988: 8)
Diese Untersuchung ist von dem Spannungsverhältnis ausgegangen, das sich in den 1990er Jahren zwischen Diskursen, die das ›Ende der Geschichte‹ und das ›Ende der Gutenberg-Galaxis‹ behaupten, und den zahlreichen Beispielen literarischer Texte und Autorinnen und Autoren, die noch immer verboten, verfolgt oder skandalisiert werden, entwickelt hat. Ihre Ausgangsthese war, dass sich die Grundbedingungen des Verhältnisses von Literatur, Politik und Gesellschaft gewandelt haben, wichtige ästhetische Konzepte des 20. Jahrhunderts in der gegenwärtigen Situation als unangemessen erscheinen und sich neue Entwicklungen vollzogen haben, die es zu untersuchen gilt. Zunächst konnte gezeigt werden, dass sich schon im Verlauf des 20. Jahrhunderts zahlreiche Autorinnen und Autoren und Literaturbewegungen – wie z.B. die historischen Avantgarden – gegen das Konzept des Intellektuellen und der engagierten Literatur positioniert haben, wie es Émile Zola, Bertolt Brecht und Jean-Paul Sartre in unterschiedlicher Weise in ihren Schriften vertreten. Auch neuere politische Akteure wie die Nichtregierungsorganisationen, der von Foucault beschriebene Typus eines spezifischen Intellektuellen oder die Formation von Subkulturen oder Minoritäten als politische Kräfte stellen die prominente gesellschaftliche Funktion des Intellektuellen in Frage. Die Transformationen der westlichen Gesellschaften seit ›1968‹ sowie die Ausbreitung einer weltweiten Bewegung für eine andere Globalisierung seit Ende der 1990er Jahre, die sich sehr differenter Strategien bedient, zeigen zudem an, dass sich auch nach den historischen Umbrüchen von 1989/90 nicht vom
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Ende der Geschichte sprechen lässt, sondern dass neue Kämpfe um Hegemonie auf andere Weisen geführt werden. Parallel zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen hat sich eine Transformation der Gutenberg-Galaxis vollzogen: Das Medium Buch hat durch die Verbreitung der Neuen und Neuesten Medien wie Fernsehen, Computer und Internet seine Rolle als Leitmedium eingebüßt, es erreicht nur mehr spezifische literaturaffine Milieus. Seit den 1960er Jahren sind noch weitere Faktoren immer wirkungsmächtiger geworden: die voranschreitende Differenzierung der Gesellschaft in immer spezifischere Milieus, die postmoderne Zersplitterung verbindlicher Werte, die kulturelle und mediale Globalisierung und Flexibilisierung des gesellschaftlichen Lebens sowie die zunehmende Komplexität und Internationalität politischer Probleme. Dies hat in den vergangenen Dekaden dafür gesorgt, dass die Rede des universellen Intellektuellen, der souverän in die nationalstaatlichen politischen Diskurse interveniert, heute nicht mehr zu legitimieren ist. Für Deutschland kann für die Zeit seit den politischen Umbrüchen von 1989/90 ein nationaler Normalisierungsprozess beschrieben werden, der sich unter anderem in Diskursen zur ›Bewältigung‹ der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Holocaust sowie in einer Erweiterung der militärischen Präsenz Deutschlands niedergeschlagen hat. Die Rekonstituierung eines ›vereinten Deutschland‹ führt zudem zur Konstruktion neuer, ›unverkrampfter‹ Generationen sowie zu verschiedenen Diskussionen um die Kultur eines vereinten Deutschland. In den Diskursen des Literaturbetriebs entwickelt sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im Kontext der allgemeinen diskursiven Verschiebungen eine Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die ebenfalls neu bestimmt wird. Die historische Zäsur von 1989/90 hat dabei auf die literarischen Texte der älteren Autorengeneration nahezu keinen Einfluss. Allerdings sollte nicht von der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gesprochen werden, da dieser Begriff eine Homogenität suggeriert, die vor dem Hintergrund einer immer weiter differenzierten literarischen Öffentlichkeit unangemessen ist. Die Untersuchung konnte zeigen, dass sich – als ein Effekt der sich an die historische Wende von 1989/90 anschließenden Literaturdebatten – ab etwa 1995 auf dem Feld der jüngeren deutschsprachigen Literatur sehr wohl eine Zäsur vollzieht, infolge derer zwar die avancierte und engagierte Literatur älterer Autorinnen und Autoren (die es in diesem monolithischen Sinne auch nie gab) nicht abgelöst oder ersetzt wird, sich jedoch mit der ›neuen deutschen Literatur‹ und der ›Popliteratur‹ neue, unterhaltsame und eher unpolitische Texte auf dem Literaturmarkt etablieren. Dieser ›neuen deutschen Literatur‹ wird eine ›Rückkehr zum Erzählen‹ und eine ›neue Lesbarkeit‹ als zentrale Eigenschaften zugeschrieben, sie richte sich gegen avancierte und experimentelle literarische Konzepte und bemühe sich darum, der Literatur angesichts der immer komplexeren Gesellschaftsverhältnisse und der zunehmenden Medi-
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enkonkurrenz durch den Rückzug auf bekannte und weniger komplexe ästhetische Verfahrensweisen ein Überleben zu sichern (wobei es allerdings der ›Popliteratur‹ gerade um die souveräne Verknüpfung der literarischen Tradition mit den neuen Medien und um die Nivellierung literaturästhetischer Kategorien geht). Die Erfolge der ›neuen deutschen Literatur‹ und der ›Popliteratur‹ erreichen zur Jahrtausendwende ihren Höhepunkt und haben bis heute den Literaturmarkt nachhaltig beeinflusst. Vor diesen Hintergründen einer veränderten politischen und medialen Situation hat sich die Studie zum Ziel gesetzt, das Verhältnis von Literatur, Politik und Gesellschaft über den Begriff der Subversion zu bestimmen und ausgehend von diesem ein Konzept zu entwickeln, das sich zur systematischen Beschreibung von ›subversiver Literatur‹ eignet. Der Begriff der Subversion, so die Ausgangsthese, eignet sich besonders gut für eine Beschreibung einer politischen Gegenwartsliteratur, die sich aus einer minorisierten Position heraus kritisch zu den komplexen, flexibilisierten und globalisierten Verhältnissen positioniert. Die vorliegende Untersuchung sieht sich zudem als Teil einer seit den 1990er Jahren (und noch einmal seit etwa 2006) stärker werdenden Tendenz akademischer und politischer Diskurse, den Begriff der Subversion auf sehr unterschiedliche politische Konzepte anzuwenden. Aus diesem Ansatz resultierten fünf Untersuchungskomplexe, deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden. Die vier Diskurse der Subversion: Politisch-institutionelle Revolution, künstlerische Avantgarde, Subkulturen und Dekonstruktion Mit dieser Arbeit liegt erstmalig eine Diskursanalyse vor, die den von Wörterbüchern zumeist auf die Bedeutung ›Staatsumsturz‹ reduzierten und in akademischen, künstlerischen und medialen Diskursen deutlich vielfältiger genutzten Begriff der Subversion historisch differenziert beschreibt. Diese Analyse hat zeigen können, dass sich seit Ende des 18. Jahrhunderts die folgenden vier Diskurse der Subversion im deutschsprachigen Raum nebeneinander gestellt haben. –
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Der politisch-institutionelle Diskurs der Subversion versteht Subversion als einen revolutionären Staatsumsturz. Diese älteste Nutzung war lange Zeit die vorherrschende Wortbedeutung von ›Subversion‹. Subversion wird im polizeilich-juridischen Diskurs genutzt, um die Auseinandersetzungen zwischen Terroristen bzw. politischen Massenbewegungen, die auf den Umsturz der herrschenden staatlichen Ordnung zielen, und den staatlichen Institutionen, ihren Geheimdiensten und verteidigenden Organen zu benennen. Im künstlerisch-avantgardistischen Diskurs der Subversion wird Subversion als künstlerisch-prozessuale Bewegung verstanden. Diese Bedeutung ist vorrangig in Kunstdiskursen präsent, wobei die avantgardistischen Kunstdiskurse sich
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um ihre Entgrenzung und Ausweitung auf andere gesellschaftliche Felder bemühen. Dieser Diskurs der Subversion formiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die historischen Avantgarden wie Dadaismus und Surrealismus die Kampfmetaphorik des Avantgardebegriffs auf das Feld der Kunst übertragen. Die künstlerische Avantgarde nutzt neue Konzepte und Techniken und bemüht sich, in exemplarischen Einzelaktionen sowohl die gesellschaftlichen Normen und Rituale als auch die Traditionen des Kunstbetriebs durch neue Handlungsweisen zu ersetzen und auf diese Weise das künstlerische Feld zu erweitern. In den 1960er Jahren wird durch die Gruppe Subversive Aktion der Begriff der Subversion in den künstlerisch-avantgardistischen Diskurs übertragen. Seit den 1990er Jahren, in denen sich das Wiederaufleben der Kommunikationsguerilla und die Entstehung der Netzkunst-Avantgarde vollziehen, wird der Begriff der Subversion häufiger im künstlerisch-avantgardistischen Diskurs als im politisch-institutionellen Diskurs verwendet, es hat also eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden. Der subkulturelle Diskurs der Subversion geht von der Bedeutung von Subversion als einer minoritär-distinktiven Bewegung aus. Zwar gibt es diskriminierte und minoritäre Sub- und Gegenkulturen schon weitaus länger, doch erst seit der Punkbewegung und der daraus entstehenden ›Poplinken‹ hat sich in den 1980er Jahren der Begriff der Subversion auch in diesem Diskurs etabliert. Verschiedene Ansätze der Cultural Studies zeigen, dass sich Subkulturen einerseits als Reaktion auf ihre Diskriminierung unter Kategorien wie Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Sexualität, Religion, Behinderung, Alter oder Aussehen (wie die Frauen-, Lesben- oder die Schwulenbewegung) formieren, jedoch auch als distinktive Jugend- oder Gegenkulturen (wie die Hippies oder die Punks). Aus einer Kollektividentität, die sich in einem gemeinsamen minoritär-distinktiven Lebensstil in den Bereichen Kleidung, Musik, Drogen, Sexualität und teilweise auch einer gemeinsamen politischen Praxis niederschlägt, leitet die jeweilige Sub- oder Gegenkultur ihre subversive Kraft ab. Mit Hilfe von unabhängigen Räumen und Medien kämpfen die Sub- und Gegenkulturen durch die öffentliche Realisierung ihrer Lebensweise und teilweise auch durch politische Aktionen um die Emanzipation ihrer Eigengruppe, die Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position und um die Liberalisierung bzw. Entkriminalisierung ihrer Lebensweise innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Im poststrukturalistischen Diskurs der Subversion lässt sich Subversion als Dekonstruktion bestimmen. Dieser Diskurs ist der jüngste und bewegt sich zudem hauptsächlich in der akademischen Welt, hat sich – aus Frankreich kommend – in den 1980er und 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum durchsetzen können. Gegen die abendländische Geistesgeschichte und ihre Erkenntniskategorien wie ›Wahrheit‹, ›Geschichte‹ oder ›Identität‹ beschreiben theoretische Ansätze wie die Gender und die Queer Studies
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oder die postkoloniale Theorie Wissen, Kultur und Identität als von hegemonialen Diskursen konstruierte Formationen, die als performative oder hybride Konstrukte begriffen werden müssten. Durch Formen resignifizierender Wiederholungen und Strategien wie Travestie und Parodie können Stereotype, binäre Matrizen und scheinbar feste Identitätsmodelle dekonstruiert werden. Die verschiedenen Diskurse der Subversion grenzen sich teilweise voneinander ab, manchmal interagieren sie auch. Literarische Texte können sich durch ihre Formen oder Inhalte in die jeweiligen Diskurse einschreiben oder aber die Diskurse der Subversion archivieren, reflektieren oder parodieren. Während die gesellschaftliche Bedeutung des Mediums Literatur abgenommen hat, hat die Bedeutung von Kommunikation und Sprache für die Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zugenommen – einer Minorisierung der medialen Bedeutung von Literatur steht somit die Aufwertung ihrer sprachreflexiven Bedeutung gegenüber. Literatur als Subversion: Revolutionäre Manifeste, literarische Avantgarde, minoritäre Distinktionen und dekonstruktive Texte Die Sichtung von Forschungsarbeiten der letzten beiden Dekaden zur ›subversiven Literatur‹ hat ergeben, dass in diesem Kontext sehr unterschiedliche literaturwissenschaftliche Methoden genutzt werden. Dazu zählen textimmanenthermeneutische, (neo-)marxistische und literatursoziologische, psychoanalytische, mystizistische, medien- und zeichentheoretische sowie intertextuelle Methoden ebenso wie die Theorien der Cultural Studies, des Poststrukturalismus, der Dekonstruktion, der Gender Studies und der feministischen Theorie. Ausgehend von der Unterscheidung der vier Diskurse der Subversion hat diese Arbeit einige der genannten Methoden und Theorien – unter zusätzlicher Nutzung weiterer Theorien, wie jener des Feldes (Bourdieu), des Normalismus und Positionsfeldes (Link bzw. Parr), der Avantgarde (Adorno, Bürger) sowie der postkolonialen Theorie (Bhabha, Said, Spivak) – in ein systematisches Modell überführt, mit dessen Hilfe sich literarische Texte als ›subversiv‹ beschreiben lassen. Die vier Bestimmungen einer subversiven Literatur korrespondieren mit den vier Diskursen der Subversion: –
Literatur als Manifeste der Revolution: Zwar werden Kunst und Literatur von terroristischen und revolutionären Gruppen im Regelfall als konterrevolutionär desavouiert, allerdings können auf Basis eines breiten Literaturbegriffs revolutionäre Manifeste oder die Erklärungen und Aufrufe revolutionärer Gruppen als Formen subversiver Literatur im politisch-institutionellen Diskurs der Subversion verstanden werden. Da die politischen und ästhetischen Diskurse der Bundesrepublik jedoch seit der friedlichen Revolution von
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1989/90 jenseits einer revolutionären Situation verlaufen, lassen sich in diesem Bereich keine relevanten Gegenstände bestimmen. Literarische Texte können allerdings sehr wohl Ereignisse, Personen, Strategien oder Topografien, die dem Terrorismus oder dem Ziel eines revolutionären Staatsumsturzes zuzuordnen sind, archivieren, reflektieren und ironisieren. Literatur als Avantgarde: Literarische Texte können als Teil des künstlerischavantgardistischen Diskurses bestimmt werden, wenn sie die Techniken der literarischen Avantgarde wie Montage, Collage oder Cut-up nutzen, sich in einer neuartigen Weise auf dem Feld der Literatur positionieren oder aber die Begrenzungen des literarischen Diskurses überschreiten und diesen somit erweitern. Da die Techniken der historischen Avantgarde und ihre Grenzüberschreitungen von den Institutionen des Kunstdiskurses absorbiert worden sind, werden Texte, die in dieser Tradition stehen, heute zumeist als neoavantgardistisch bezeichnet. Im Idealfall verbindet sich die Nutzung avancierter literarischer Techniken mit einer oppositionellen Abgrenzung gegen die hegemonialen Positionen des literarischen Feldes. Auch Texte, die in anderen gesellschaftlichen Diskursen skandalisiert oder verklagt worden sind, werden im Sinne des Avantgarde-Begriffs als ›subversive Literatur‹ bezeichnet. Dabei muss in jedem Fall gefragt werden, ob und inwiefern die Texte ihr meist nur in einer bestimmten Zeit und einem spezifischen Milieu vorhandenes subversiv-avantgardistisches Potenzial verlieren bzw. verloren haben. Literatur als minoritäre Distinktion: Wenn literarische Texte von den Auseinandersetzungen zwischen ›Majorität‹ und ›Minorität‹, ›hegemonialem Diskurs‹ und ›Gegendiskurs‹, ›Normalität‹ und ›Abweichung‹ bzw. ›Dominanzkultur‹ und ›Sub-/Gegenkultur‹ berichten oder sich durch ihre Personen, Topografien, Sprachen oder Positionsfelder als minoritär-distinktive Texte inszenieren, schreiben sie sich in den subkulturellen Diskurs der Subversion ein. Diese Analyse kann mit Hilfe von Foucaults Diskursanalyse, Links Interdiskurs- und Normalismustheorie, Parrs Positionsfeldtheorie, Deleuze’ und Guattaris Bestimmung einer kleinen Literatur oder den Ansätzen der Cultural Studies geleistet werden. Es ist allerdings auch hier so, dass sich diese minoritär-distinktiven Abgrenzungsbewegungen, deren dichotomische Konstruktionen und das aus ihnen abgeleitete subversive Potenzial literarischer Texte als problematisch erweisen können, da sie (minoritäre) Kollektividentitäten konstruieren, die selbst hegemoniale Effekte erzeugen oder möglicherweise von anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen im Sinne eines ›Mainstreams der Minderheiten‹ absorbiert werden. Literatur als Dekonstruktion: Mit den Gender Studies und den Queer Studies sowie der postkolonialen Theorie lässt sich zeigen, wie geschlechtliche, sexuelle und ethnische Identitäten in literarischen Texten de-(und allerdings auch: re-)konstruiert werden. Texte, die die Geschlechteridentitäten ihrer Fi-
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guren durch Travestien entnaturalisieren oder durch die Nutzung hybrider Sprachen die Eindeutigkeit der Unterscheidung von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ unterlaufen, lassen sich als literarische Formen im dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion beschreiben. Die spezifische Form der Intertextualität, die ein Text nutzt, wie auch die Arsenale, an denen er sich intertextuell bedient, sind in diesem Zusammenhang zu untersuchen, da intertextuelle Bezüge sowohl eine bestehende Ordnung abbilden und stützen als auch zertrümmern oder in Unordnung bringen können. Wenn ein literarischer Text auf diese Kategorien hin untersucht wird, müssen vier Schritte durchlaufen werden: Erstens ist es wichtig, die politisch-institutionellen Strukturen und insbesondere den jeweiligen literarischen Diskurs, in dem der Text zu positionieren ist, diskursanalytisch zu beschreiben. Dieses Hintergrundwissen macht die Beschreibung eines Textes als neoavantgardistisch oder dekonstruktivistisch möglich. Zweitens müssen die Formen und Schreibweisen der Subversion im Text untersucht werden, wobei die Fragen nach seiner neoavantgardistischen Qualität, seinen intertextuellen oder parodistischen Verfahren und seiner (gegendiskursiven) Positionierung gegenüber anderen Diskursen und ihren Regelsystemen besonders im Fokus stehen. Drittens sind die Inhalte und Topoi der Subversion, die sich im Text finden, zu thematisieren, wobei z.B. minoritäre Distinktionsbewegungen oder die Dekonstruktion hegemonialer Stereotype zu untersuchen wären. Zu diesem Punkt zählt auch die Analyse von Topografien, Personen und Sprachen der Subversion. Viertens ist es notwendig, den Autor als öffentliche Person zu untersuchen, ausgehend von der Annahme, dass die Inszenierung von Autorinnen und Autoren in der medialen Öffentlichkeit noch immer einen entscheidenden Anteil an der gesellschaftlichen Bedeutung der Literatur hat, diese mediale Inszenierung allerdings anderen Regelsystemen unterliegt als der literarische Text im literarischen Diskurs. Dieses Modell zur systematischen Beschreibung literarischer Texte als subversiv ist auf drei Feldern der Gegenwartsliteratur exemplarisch angewandt und auf diese Weise überprüft worden. Dazu zählen die avancierte Popliteratur und die Romane Tomboy und Hellblau von Thomas Meinecke, das Feld der minoritären Literatur und das ›Kanak Sprak‹-Konzept von Feridun Zaimoğlu sowie der Bereich der Untergrund-Literatur und die literarische Bewegung des Social Beat. Die Ergebnisse der Literaturanalysen werden im Folgenden dargestellt, aufgeteilt nach Formen und Schreibweisen, Inhalten und Topoi sowie Autorinszenierungen der Subversion in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Formen und Schreibweisen der Subversion in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa: Diskursüberschreitungen, Sprachkritik, Resignifizierungen Die untersuchten Texte von Thomas Meinecke und Feridun Zaimoğlu lassen sich durch ihre Formen oder Schreibweisen ebenso von den Texten der ›neuen
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deutschen Literatur‹ und der ›Mainstream-Popliteratur‹, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre große Verkaufserfolge erreichten und das Zentrum des literarischen Marktes besetzten, abgrenzen, als auch von dem Großteil der Texte auf ihrem eigenen literarischen Feld (also den Diskursen der Pop- bzw. Migrantenliteratur). Sie schreiben sich allerdings weder in eine neoavantgardistische Tradition ein noch provozieren sie Prozesse oder öffentliche Skandale. Ihre Positionierung in den literarischen Diskursen ist also keine avantgardistisch-subversive, sondern vielmehr eine minoritär-distinktive. Thomas Meineckes Romane Tomboy (1998) und Hellblau (2001) verweigern sich einerseits den traditionellen Narrationen der ›neuen deutschen Literatur‹ und nutzen andererseits keine harten Schnitte wie die Avantgardeliteratur. Allerdings lassen sich die Texte als eine spezifische Mischung aus Erzählung und Zitat beschreiben, in der durch starke intertextuelle Verfahren und weiche Schnitte ein Text-Rhizom entsteht, in dem die Grenze zwischen literarischer und wissenschaftlicher Sprache aufgelöst wird. Die heterogenen Zitate werden jedoch stilistisch einander angepasst und über weiche Schnitten miteinander verbunden, somit verwischen auch die Eigenheiten der Zitate. Die Texte enthalten zahlreiche sprachreflexive Momente und können daher auch als sprachkritische Romane bezeichnet werden. Feridun Zaimoğlus ›Protokoll-Sammlungen‹ Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) und Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (1998) entwickeln mit der künstlichen ›Kanak Sprak‹ eine hybride und polyphone Sprache, die mit den Schreibweisen der dokumentarischen sowie jenen der sog. Gastarbeiter- bzw. Migrantenliteratur spielt. Indem sie verschiedene Fremd-, Szene- und Geheimsprachen in sich vereint, unterminiert sie sowohl jene kolonialen Diskurse, die ›migrantischen Autorinnen und Autoren‹ nur die Fähigkeit zur dokumentarischen Abbildung der Gesellschaft zuschreiben, als auch die politisch hegemoniale Konstruktion einer homogenen ›deutschen Identität‹, die von einer ›fremden Identität‹ zu scheiden sei. Zudem wird in den Texten der zumeist pejorativ genutzte Begriff des ›Kanaken‹ in positiver Weise resignifiziert – eine Bedeutungsverschiebung, die durch die Umwandlung der hybriden ›Kanak Sprak‹ in eine restringierte ›Comedy-Kanak-Sprak‹ im Medium Fernsehen auch ein größeres Publikum erreicht und dabei jedoch teilweise wiederum zur Reproduktion ethnischer Stereotypen genutzt wird. Anders gestalten sich die Formen und Schreibweisen des Social Beat und Slam Poetry in der exemplarisch analysierten Anthologie Social Beat, Slam Poetry. Die Ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort! (1997) Zwar grenzen sich die Social-Beat-Autoren gegen den Literaturbetrieb und seinen Markt ab, allerdings gelingen ihnen keine ästhetischen Innovationen. Im Gegensatz dazu lassen sie sich als eine wiederholende Nutzung oder eine Archivierung der untergrundliterarischen Schreibweisen der 1960er und 1970er Jahre beschreiben, die nur in wenigen Beispielen durch formale Spiele die Hochsprache verfremden oder harte Schnitt-Techniken anwenden – wobei diese Verfahren inzwischen
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ihre kulturellen Wirkungen weistestgehend verloren haben. Ansonsten setzen sich die Texte gegen die Techniken der neuen Medien und gegen innovative Schreibweisen ab. Während die Texte von Meinecke und Zaimoğlu sich also nur bedingt in die künstlerisch-avantgardistischen Diskurse der Subversion einschreiben, entwickeln sie zumindest eine minoritär-distinktive ästhetische Qualität innerhalb ihres jeweiligen literarischen Diskurses – in Abgrenzung zur ›Mainstream-Popliteratur‹ bzw. zur ›Migrantenliteratur‹. Die Texte des Social Beat und der Slam Poetry sind hingegen, wenngleich sie Schreibweisen wiederholen, die in den 1960er Jahren noch subversiv genannt wurden, heute als traditionell zu bezeichnen. Es ist allerdings generell fraglich, inwiefern literarische Texte heute noch – angesichts ihrer minoritären Stellung gegenüber den neuesten Medien wie Computer oder Internet – eine politische Wirkung durch die Entwicklung avancierter Schreibweisen entwickeln können. Öffentliche Skandale lösen literarische Texte heute weniger durch die Nutzung einer avanciert-experimentellen Schreibweise als vielmehr durch die Verwendung einer traditionell-poetischen bzw. satirischen literarischen Sprache aus, die allerdings mit spezifischen Inhalten verknüpft wird, wie die Auseinandersetzungen um Peter Handkes Eine winterliche Reise oder verschiedene Klagen gegen das Satiremagazin Titanic zeigen. Subversion als Inhalt der deutschsprachigen Gegenwartsprosa: Archivierung und Reflexion subversiver Diskurse und Topoi, Dekonstruktion und Verkehrung der Machtverhältnisse, minoritäre Distinktionen und Verweigerungen Die untersuchten Romane verhandeln die Diskurse der Subversion mit- und gegeneinander, sie konstruieren popkulturelle Positionsfelder, rufen Topoi, Topografien, Personen, Strategien und Sprachen der Subversion auf und re- oder dekonstruieren (kollektive) Konzepte von Identität. In Thomas Meineckes Romanen wird der dekonstruktivistische Diskurs der Subversion archiviert, reflektiert und teilweise auch parodiert, in Tomboy trifft er zudem auf den politisch-revolutionären Diskurs der Subversion, dieser erweist sich jedoch als obsolet und politisch folgenlos. Während Tomboy den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion primär über die Gender Studies und in einer ambivalenten Weise präsentiert, indem z.B. die an den Gender Studies interessierten Protagonistinnen einem männlichen Erzählregime unterworfen werden, das ihre Aktivitäten ironisiert, tritt in Hellblau die postkoloniale Theorie als wichtiges Thema hinzu und verschwindet das parodistische Moment, indem die Erzählperspektive auf drei Ich-Erzähler dissoziiert ist. Die Figuren des Romans bewegen sich vorrangig im akademischen Milieu; die Figurenkonstellation in Tomboy ist zudem eine Umkehrung der hegemonialen Geschlechterverhältnisse: Die gesellschaftlich nicht völlig gleichberechtigten Frauen und minoritäre Sexualitäten stehen hier in Zentrum, während die machohaften Männer an die Peripherie des Erzählten gedrängt und dort karikiert werden.
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Auch in Zaimoğlus Texten wird das Verhältnis von Dominanzkultur und minoritären Milieus, allerdings auf dem Feld der ethnischen Identitäten, umgedreht. Die ›Protokollierten‹ können sich im literarischen Raum als ›Kanaken‹ von den ›Alemannen‹ in minoritär-distinktiver Weise absetzen, offen über Themen sprechen, die im kolonialen Diskurs tabuiert sind, und – in einer Verkehrung des gesellschaftlich hegemonialen Diskurses – einen eigenen rassistischen Diskurs über ›den Deutschen‹ als Stereotyp entwickeln. Neben dieser Formierung der ›Kanaken‹ als Minorität wird die ihrer Minorisierung zugrunde liegende Kategorie einer ›ethnischen Identität‹ und die binäre Matrix von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ anhand zahlreicher Aussagen und Beispiele entnaturalisiert und somit dekonstruiert. Während sich Kanak Sprak und Koppstoff bezogen auf koloniale Diskurse und ethnische Identitäten in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion einschreiben, verfahren sie mit geschlechtlichen Identitäten anders: Die binäre Matrix von ›Mann‹ und ›Frau‹ wird eher rekonstruiert, in Kanak Sprak finden sich sogar zahlreiche Reproduktionen patriarchaler und sexistischer Diskurse, die nicht problematisiert werden. Die Social-Beat-Bewegung schreibt sich in den Diskurs der UntergrundLiteratur ein und somit in den subkulturellen bzw. minoritär-distinktiven Diskurs der Subversion. Ihre Texte sind durchdrungen von zahlreichen dichotomischen Distinktionsbewegungen gegen die Regularien und Repräsentanten des Literaturbetriebs. Die affirmative Konstruktion einer starken Eigengruppe führt jedoch zugleich zur problematischen Rekonstruktion jener Kategorien, die den Minorisierungsprozessen zugrunde liegen: Die binären Matrizen des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ sowie von ›Mann‹ und ›Frau‹ werden reproduziert, Frauen erhalten einen Objektstatus innerhalb sexistischer Diskurse, ›die Fremden‹ werden tendenziell positiv diskriminiert und exotisiert. Stärker als in Meineckes und Zaimoğlus Texten thematisiert der Social Beat die sozialen Verhältnisse und die üblichen Arbeitsbedingungen und stellt sie als durchdrungen von Gewalt und Ausbeutung dar. In den Texten werden allerdings keine politischen Alternativen oder Strategien der Subversion beschrieben, nur vereinzelte illegale Aktivitäten, die sich in den politisch-institutionellen Diskurs der Subversion einschreiben; viel eher vollziehen die Protagonisten Rückzugsbewegungen aus dem politischen Raum. Generell handelt es sich in den Texten des Social Beat um eine Art literarische Nachlassverwaltung jener Inhalte, die schon in der Untergrund-Literatur der 1950er und 1960er Jahre virulent waren (wie Drogen, Reiselust, Exotismen), deren mystifizierte subversive Aufladung allerdings heute verloren gegangen ist. Es konnte weiterhin gezeigt werden, dass sich in den Texten unterschiedliche popkulturelle Positionsfelder formieren, mit deren Hilfe sich die (minoritären) Protagonisten positionieren. In Meineckes Texten wird die MainstreamPopkultur nicht archiviert, sondern – wenn überhaupt – zur Reflexion hintergründiger und kritischer Fragen aus der Perspektive des dekonstruktivistischen Diskurses der Subversion aufgerufen. Im Gegensatz dazu ordnen
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die Positionsfelder in Tomboy und Hellblau minoritäre und nicht-populäre popkulturelle Produkte an. Auf diese Weise gelingt zwar eine Abgrenzung gegen die am gesellschaftlichen Mainstream ausgerichteten Archive und Positionsfelder der ›Mainstream-Popliteratur‹, zugleich wird jedoch auch eine neue Form popkulturellen Expertenwissens konstruiert. In Kanak Sprak von Zaimoğlu nutzen viele ›Protokollierte‹ Bezüge auf die globale Hip-Hop-Kultur, um sich von der westlichen Popkultur abzusetzen. Diese minoritär-distinktive Strategie der Subversion steht in Koppstoff jedoch in Frage, hier verhandeln die ›Protokolle‹ den Topos vom Mainstream der Minderheiten. In den Texten tauchen zahlreiche Personen der Subversion auf, die in unterschiedlicher Weise bewertet werden. Die Texte Meineckes und Zaimoğlus führen insbesondere Vertreter des politisch-revolutionären und des minoritär-distinktiven Diskurses der Subversion als Scheiternde vor: Die terroristischen Aktivitäten des Pärchens Pat Meier und Bodo Petersen in Tomboy wie auch jene des Revolutionärs Tolga in Kanak Sprak haben diese nur ins Gefängnis bzw. sogar in die Folter geführt, während ihre Aktivitäten politisch folgenlos bleiben. Tomboy und Koppstoff parodieren bzw. diffamieren zudem die minoritär-distinktiven und politisch-emanzipatorischen Strategien der Differenzfeministinnen. Als Träger subversiven Potenzials präsentieren Meineckes Romane die intellektuellen Protagonistinnen und Protagonisten, die sich für die Diskurse des Poststrukturalismus interessieren, sowie hybride Figuren wie die/der TransvestitIn Angela/o, während sich in Zaimoğlus ›Protokollen‹ sowohl männliche Rapper als auch starke Frauentypen – also minoritär-distinktive Identitäten, die allerdings ein Bewusstsein ihrer hybriden ethnischen Identität besitzen – als politisch erfolgreich inszenieren. Die Literatur des Social Beat ruft zahlreiche verschiedene minoritäre Personen auf, die sich in minoritär-distinktiver Weise positionieren, dazu zählen gesellschaftliche Randfiguren wie Arbeiter und Arbeitslose, erfolglose Künstler, Drogensüchtige, Kriminelle und Hacker, Homosexuelle und Migranten. Als Topoi und Strategien der Subversion rufen die Texte u.a. dekonstruktivistische Verfahren wie das Cross-dressing als eine Entnaturalisierung der Geschlechtsidentität (Meinecke) oder das Anlegen verschiedener Häute, als Entnaturalisierung der ethnischen Identität (Zaimoğlu) auf. Daneben stellen die Texte verschiedene Topoi und Strategien der Subversion als wirkungslos dar. Die Protagonisten in der Social-Beat-Literatur nutzen zahlreiche verschiedene Drogen, allerdings wird deren früher als befreiend mystifizierte Wirkung ersetzt durch die Beschreibung des Wahrnehmungsverlusts oder der sozialen Ausgrenzung, die sie hervorrufen. Die Texte nutzen spezifische Topografien der Subversion und spielen zumeist an Stätten des Randes oder des Untergrunds, die einem Zentrum der Macht entgegenstehen, wobei es Möglichkeiten des Übergangs zwischen diesen Stätten gibt. Texte des Social Beat kontrastieren auf diese Weise den hässlichen urbanen Raum der Vorstädte mit den sauberen Einkaufszentren und den
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Yuppie-Cafés, Zaimoğlus ›Protokolle‹ stellen das von den ›Alemannen‹ besetzte Stadtzentrum dem ›Ausländer-Ghetto‹ in der Vorstadt als Ort des Ausschlusses und des Elends gegenüber, wobei das ›Ghetto‹ teilweise auch idealisiert wird. Komplexer gestaltet sich dies in Meineckes Hellblau, wo sich in einem maritimen Raum Relikte des U-Boot-Krieges, die Imagination eines ›schwarzen Atlantis‹ und die Insel der Intellektuellen als ein von ›natürlichen Katastrophen‹ bedrohter Rückzugsort überlagern. Schließlich entwickeln die Texte neue Sprachen der Subversion, die sich sowohl von der deutschen Hochsprache als auch von den Schreibweisen anderer literarischer Texte abgrenzen. Hierzu zählt vor allem die intertextuelle Sprache Meineckes und das daraus resultierende Text-Rhizom, das die Grenze zwischen literarischer und wissenschaftlicher Sprache auflöst. Zudem werden in Hellblau verschiedene Geheimsprachen aufgerufen. Feridun Zaimoğlus ›Kanak Sprak‹ lässt sich als eine hybride Literatursprache beschreiben, die auf ironische und experimentelle Weise die Vorherrschaft der deutschen Hochsprache und den Topos von der ›authentischen Migrantenliteratur‹ unterwandert. Der politisch-revolutionäre Diskurs der Subversion wird in den untersuchten literarischen Texten kaum aufgerufen oder aber als obsolet vorgeführt – die Zeiten für eine Revolution oder Angriffe auf die politisch-institutionelle Macht, so könnte ein Ergebnis lauten, scheinen vorbei, wenn es nach den untersuchten Texten ginge. Gleichzeitig schreiben sie sich auf verschiedene Weisen in die dekonstruktivistischen und die minoritär-distinktiven Diskurse der Subversion ein, die sie zudem archivieren, reflektieren und teilweise auch problematisieren und parodieren. Am Beispiel der Social-Beat-Bewegung ließ sich zeigen, dass der affirmative literarische Bezug auf den subkulturellen Diskurs der Subversion zur Reproduktion von Kollektividentitäten und Kategorien der Diskriminierung führen kann. In Zaimoğlus ›Protokoll‹-Sammlungen lässt sich ein Widerspruch innerhalb des dekonstruktivistischen Diskurses der Subversion beschreiben: Während die ›Protokollierten‹ ihre ethnischen Identitäten dekonstruieren, rekonstruieren sie geschlechtliche Kategorien. Meineckes Romane schreiben sich in den dekonstruktivistischen Diskurs der Subversion ein und lassen sich somit ein literarisches Beispiel für die subversive Dekonstruktion geschlechtlicher und ethnischer Identitäten rubrizieren. Autorenbilder und Intellektuellenfiguren in medialen Diskursen der Gegenwart: Stellvertreterrollen und intellektuelles Engagement versus Abgrenzungen und Parodien Der mediale und der literarische Diskurs unterliegen unterschiedlichen Regelsystemen, die teilweise diametral entgegengesetzte Bilder der Autorfigur produzieren. Während Autoren wie Meinecke und Zaimoğlu in ihren literarischen Texten intertextuelle und hybride Sprachen entwickeln, aus denen sich eine schöpferisch-genialische Autorfigur ›ausschreibt‹, rekonstituieren sie originä-
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re Autorfiguren in den medialen Diskursen. Die medialen Autordiskurse funktionieren dabei widersprüchlich: An zahlreichen Beispielen kann belegt werden, dass von Fernsehen und Zeitungen die Figur des Intellektuellen für obsolet erklärt worden ist. Zugleich rufen diese Medien den Topos des Intellektuellen immer wieder auf und pressen die Autorfiguren in diese noch immer virulenten Raster. Es lässt sich somit am Beispiel von Meinecke und Zaimoğlu von Aporien der medialen Autorfiguren sprechen, da sie teilweise gezwungen sind, sich in einen Gegensatz zu ihren Texten zu stellen. Während sich Thomas Meinecke eher in der hochkulturellen Öffentlichkeit bewegt – u.a. als Suhrkamp-Autor sowie als Autor und DJ des Bayrischen Rundfunks –, erscheint Zaimoğlu in verschiedenen Öffentlichkeiten, die von Boulevard-Zeitungen bis zu Konferenzen des deutschen Innenministeriums reichen, während sich die Social-Beat-Bewegung als ein rhizomatisches Untergrund-Autorennetzwerk ohnehin außerhalb der literarischen Institutionen und medialen Diskurse positioniert. Auffällig ist, dass sich Meinecke, Zaimoğlu und Vertreter des Social Beat sowohl gegen konservative und nationalistische politische Gruppen als auch gegen die ›68er‹, die Hippies und die grün-ökologische Bewegung abgrenzen. Im Bereich der Literatur wenden sie sich allesamt von der ›Mainstream-Popliteratur‹ ab, die während der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Während Meinecke seiner Begeisterung für akademische Diskurse und Milieus Ausdruck verleiht, vollziehen Zaimoğlu und Vertreter des Social Beat eine Abgrenzungsbewegung von den studentischen Milieus. Die Geste des Social Beat, der sich generell gegen den Literaturmarkt und den Literaturbetrieb abgrenzt, wird von Meinecke und Zaimoğlu, die bei großen Verlagen wie Suhrkamp, Fischer und Kiepenheuer & Witsch veröffentlichen, nicht geteilt. Die öffentliche Selbstinszenierung der Social-Beat-Bewegung, die sich hauptsächlich auf eigenen Festivals oder in Alternativzeitungen zeigt, ist weitaus dekonstruktiver als jene von Meinecke und Zaimoğlu, die sich in den traditionellen Diskurs des Intellektuellen, dessen Grundannahmen sie in ihren Texten teilweise dekonstruieren, einschreiben. Die Inszenierungen der Social-BeatAutoren bewegen sich zwischen Authentifizierung und Selbstironie und legen in ihren ironischen und parodistischen Distinktionsbewegungen vom Literaturbetrieb z.B. in ihren biografischen Anmerkungen oder Lesungsankündigungen dessen Regelsysteme und Insignien bloß. Allerdings lässt sich ihre öffentliche Rede teilweise auch als ein stellvertretendes Sprechen für Minoritäten, die wiederum in ihren Reihen kaum vertreten sind, beschreiben. Auch Feridun Zaimoğlu nimmt eine öffentliche Stellvertreterrolle ein und inszeniert sich als Vertreter der zweiten und dritten Generation in Deutschland lebender ›Migranten‹. Als solcher positioniert er sich als traditioneller Intellektueller, der sich zu Fragen wie dem EU-Beitritt der Türkei äußert oder einen Leitartikel für Die Zeit schreibt und in seinem medialen Engagement für eine Hybridisierung des Kulturbegriffs und für die Stimmen der Ausgegrenz-
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ten plädiert. Mit Bourdieu lässt sich paradigmatisch beschreiben, wie Zaimoğlus anfängliche kritische Distinktion vom Feld der Gegenwartsliteratur über seine anschließende Positionierung auf diesem Feld zu einer späteren Etablierung auf ebendiesem führt. Während Zaimoğlus Autorfigur anfangs noch als Provokateur konstruiert und kolonialen Stereotypen unterworfen wurde, gelten für ihn als mittlerweile etabliertem Autor andere Regeln: Er nimmt literarische Preise an (gegen die er einst polemisierte) und muss die ›Originalität‹ seines Schreibens belegen (wenngleich er als Produzent einer hybriden Literatur bekannt wurde). Während Thomas Meinecke in seinen hochgradig intertextuellen Romanen die Autorfigur weitestgehend verschwinden lässt, inszeniert er sich in medialen Diskursen als starker Autor, engagierter Intellektueller und Moralist, der zudem sein eigenes Werk öffentlich interpretiert. Auf diese Weise schreibt sich Meinecke in die Diskurse der Auf klärung, der engagierten Literatur und der Intellektuellen ein, deren Grundlagen von den dekonstruktivistischen Theorien der Subversion, die im Zentrum seiner Romane stehen, radikal in Frage gestellt werden. Allerdings ist seine mediale Präsenz widersprüchlich, denn er tritt weder als Stellvertreter noch als Verkünder politischer Konzepte auf, sondern eher als ein – in einer anarchistischen Punk-Tradition stehender – antinationalistischer, antirassistischer und antiideologischer Kritiker und Warner. Zudem delegitimiert er seine öffentliche Rolle als literarischer Intellektueller, indem er die gesellschaftliche Position des Mediums Literatur und somit auch die mediale Bedeutung der Intellektuellen relativiert. Es ist allerdings ein überraschendes Ergebnis dieser Untersuchung, die u.a. von der zunehmenden Verbreitung jener Diskurse ausging, die das ›Ende der Geschichte‹, das ›Ende der Gutenberg-Galaxis‹ und das ›Ende der Intellektuellen‹ behaupten, dass es selbst für Gegenwartsautoren, deren Literatur sich vom Diskurs der Aufklärung und der Tradition der engagierten Literatur abgrenzen, nahezu unmöglich ist, sich in den medialen Diskursen nicht als literarische Auf klärer und engagierte Intellektuelle zu inszenieren, da diese Topoi medial noch immer stark präsent sind. Die Autorinnen und Autoren der Social-Beat-Bewegung zeigen im Gegensatz dazu, wie man sich ironisch zu den Regelsystemen des Literatur- und Medienbetriebs positionieren kann – allerdings auch um den Preis ihres Ausschlusses aus diesen. Aporien der Subversion und die Enden der Geschichten. Fazit und Ausblick Der gesellschaftliche Einfluss literarischer Texte hat kontinuierlich abgenommen, es kann nicht mehr von einer Wirkung der Literatur auf die Gesellschaft gesprochen werden – und konnte dies allerdings auch noch nie. War das Medium der Literatur für die historischen Avantgarden noch ein entscheidendes, so hat sich dessen Stellenwert auch in gesellschaftlichen Umbruchsphasen wie während der Studierendenbewegung der 1960er Jahre oder der jugendkultu-
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rellen Auf brüche der 1980er Jahre immer weiter marginalisiert, während andere Elemente wie Musik oder Mode als Distinktionsmerkmale wichtiger geworden sind. Heute setzen sich interdisziplinäre theoretische Arbeiten, die sich mit politischen Alternativkulturen beschäftigen, mit Formen des Culture Jammings oder dem Hacking im Internet auseinander; die öffentliche Wirkung der Literatur ist größtenteils auf das literarische Feld beschränkt. Dennoch bleibt es sinnvoll, die Bedeutung einzelner literarischer Texte für spezifische Diskurse oder Milieus zu beschreiben, da Verbote, Prozesse und Skandale anzeigen, dass Literatur eine – wenngleich begrenzte – subversive Kraft entwickeln kann. Diese Untersuchung hat dazu ein Modell entwickelt, das die systematische Beschreibung von subversiver Gegenwartsprosa ermöglicht. In markanter Weise produziert die Archivierung, Reflexion und teilweise auch Ironisierung der Diskurse der Subversion im Medium der Literatur sowie dessen Einschreibung in die Diskurse der Subversion Aporien der Subversion. Dazu zählt beispielsweise die Rekonstruktion und gleichzeitige Dekonstruktion eines Diskurses der Subversion, die Präsentation und gleichzeitige Subversion politischer Konzepte und Strategien, die Rekonstruktion geschlechtlicher Identitäten bei gleichzeitiger Dekonstruktion ethnischer Identitäten oder die Konstruktion einer Dichotomie zwischen ›Literaturbetrieb‹ und ›kleiner Literatur‹, die sich kaum aufrechterhalten lässt. Während die Rede von ›Aporien der Subversion‹ den immer schon gefährdeten Status des subversiven literarischen Potenzials und die Gleichzeitigkeit von Inszenierung und Absorption stärkt, suggeriert der Begriff der Subversion der Subversion eine Ungleichzeitigkeit: Es sei für eine bestimmte temporäre Phase möglich, subversive Potenziale zu entwickeln, die in einer anschließenden Phase unterminiert werden. Auch wenn sich diese Temporalität von avantgardistischer bzw. minoritär-distinktiver Subversivität und ihrer nachfolgenden Absorption durch gesellschaftliche und literarische Institutionen und Diskurse an einigen Beispielen nachweisen lässt, so scheint die Verfassung deutschsprachiger Gegenwartsprosa, die subversive Konzepte verhandelt, eher eine aporetische zu sein, da sie schon im Moment ihre Veröffentlichung widersprüchliche Konstruktionen in sich trägt (und zumeist auch reflektiert). Als minoritäres Medium muss die Literatur zudem damit leben, dass ihre revolutionären Entwürfe, ihre neoavantgardistischen Schreibweisen, ihre minoritären Distinktionen und ihre Dekonstruktionen von populäreren Medien wie dem Fernsehen oder dem Internet genutzt, weiterentwickelt und in einer popularisierten Version verbreitet werden, wie beispielsweise die Entwicklung der hybrid-literarischen ›Kanak Sprak‹ zur restringierten ›Comedy-KanakSprak‹ gezeigt hat. Auf diese Weise erreichen literarische Innovationen zwar auch andere gesellschaftliche Felder, zugleich verliert in diesem Fall das literarische Konzept seine politische Brisanz. Im Kontext dieser Arbeit konnten nur drei Felder der Gegenwartsliteratur exemplarisch untersucht werden. Es wäre daher zu überprüfen, ob das hier
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vorgeschlagene Analysemodell auch auf andere Phänomene der (nicht-deutschsprachigen) Gegenwartsliteratur (wie die neoavantgardistische, die satirische, die Science-Fiction-Literatur) oder sogar auf Gegenstände aus anderen Medien (wie Filme, Hörspiele, Computerspiele oder die Netzliteratur) appliziert werden kann. Durch eine solche Ausweitung seines Gegenstandsbereichs würde auch das Analysemodell selbst erweitert, differenziert oder modifiziert werden. Diese Studie würde somit im Diskurs der literaturwissenschaftlichen Analyse ›subversiver Gegenwartsliteratur‹ ein immer kleiner werdendes Fragment, dessen hiermit vorgeschlagene Begrifflichkeiten und Methoden künftiger Studien der Subversion harren. Möge diese Untersuchung jene verborgenen Nischen und Fugen erreichen, die sie zu kennen glaubt. Die politische Literatur ist jedenfalls nicht als Sondermüll auf den blühenden posthistorischen Feldern der kapitalistischen und multimedialen Gegenwart gelandet, vielmehr haben ihre Konzepte eine Transformation durchlaufen, die sie den komplexen, globalisierten Machtverhältnissen und ihrer eigenen marginalisierten gesellschaftlichen Position angeglichen hat. So müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Enden der Geschichten auch zukünftig um- und weitergeschrieben werden.
7. Anhang 7.1.
S IGLEN
Um den Anmerkungsapparat im Text zu entlasten, wurden für die zentralen Primärtexte die folgenden Siglen vergeben: Hb Ko KS SB
Tb
Thomas Meinecke: Hellblau. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Feridun Zaimoğlu: Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1998. Ders.: 1999: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1999 (4. Aufl.). Michael u. Joachim Schönauer (Hg.): Social Beat, Slam Poetry. Die ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort. Asperg: Killroy Media 1997. Thomas Meinecke: Tomboy. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
7.2. L ITER ATURVERZEICHNIS 7.2.1. Literatur, Anthologien und Manifeste Ackermann, Irmgard (Hg.) 1982: Als Fremder in Deutschland. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. München: dtv. Anonym (Hg.) 2003: Feuer, Lebenslust! Erzählungen deutscher Einwanderer. Stuttgart: Klett-Cotta. Artmann, Hans Carl 1964: Das suchen nach dem gestrigen tag. Neuwied/Berlin: Lucherhand. Bandi, Nina/Kraft, Michael G./Lasinger, Sebastian (Hg.) 2012: Kunst, Krise, Subversion. Zur Politik der Ästhetik. Bielefeld: transcript. Biller, Maxim 2003: Esra. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Böckelmann, Frank/Nagel, Herbert (Hg.) 2002: Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Frankfurt a.M.: Neue Kritik.
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– 1998: Das Konzept Stadtguerilla. April 1971. In: Martin Hoffmann (Hg.): SubversionsReader. Texte zu Politik & Kultur. Berlin: ID, S. 77–106. Runge, Erika 1968: Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – 1996: Nachwort. In: Dies.: Frauen. Versuche zur Emanzipation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 271–274. Salzinger, Helmut 1972: Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? Frankfurt a.M.: Fischer. Scholl, Inge 1993: Die weiße Rose. Frankfurt a.M.: Fischer (erw. Neuaufl.). Schoeller, Wilfred F./Wiesner, Herbert (Hg.) 2009: Widerstand des Textes. Politisch-ästhetische Ortsbestimmungen. Berlin: Matthes & Seitz. Schönauer, Michael/Schönauer, Joachim (Hg.) 1997 (=Sigle »SB«): Social Beat, Slam Poetry. Die ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort. Asperg: Killroy Media. Schönauer, Michael/Kerenski, Boris (Hg.) 1998: Was ist Social Beat? Publikation zur Mailart-aktion von Boris Kerenski. Asperg: Killroy Media. Schwarzer, Alice 1972: Nachwort. In: Dies. (Hg.): Frauen gegen den § 218. 18 Protokolle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (2. Aufl.), S. 133–156. Sebald, W.G. 1999: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt a.M.: Fischer. Sezgin, Hilal (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Mit einem Vorwort von Christoph Peters. Berlin: Blumenbar 2011. Spalt, Lisa 2005: de chamäleon. chamälidiomatisch magazin für de chamäliodiomatisch mehrheit und de chamäliomatisch nachdichtung mit de modestreck in dschärndadeutsch. Wien: Herbstpresse. Stefan, Verena 1994: Häutungen. Mit einem Vorwort zur Neuauflage. Frankfurt a.M.: Fischer. Ştefănescu, Sergiu 1998: Editorial. In: Boris Kerenski/Ders. (Hg.): Es gibt. Social Beat / Slam Poetry – Texte der 90er. In: text. zeitschrift für literaturen. Heft 3/4 (1998). Stuttgart: Ithaka, S. 2. Stuckrad-Barre, Benjamin von 1998: Soloalbum. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Tawada, Yoko 2002: Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch. Teipel, Jürgen 2001: Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Teufel, Fritz/Klöpper, Gerald/Reinders, Ralf/Fritzsch, Ronald 1998: ›Die Unbeugsamen von der Spree‹. Ein Interview von 1978. In: Martin Hoffmann (Hg.): SubversionsReader. Texte zu Politik & Kultur. Berlin: ID, S. 146– 164. Trojanow, Ilija 2000a (Hg.): Döner in Walhalla. Texte aus der anderen deutschen Literatur. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
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Literatur und Subversion
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Literatur und Subversion
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Literatur und Subversion
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7.2.3. Zeitungs- und Magazinartikel 100 Schriftsteller 2006: Freiheit, die wir meinen. Ein Aufruf von Schriftstellern für Billers ›Esra‹. In: Süddeutsche Zeitung, 24.7.2006. Adolphs, Stephan/Hörbe, Wolfgang/Rau, Alexandra 2002: Der Begriff des politischen Subjekts hat seinen Gehalt verändert. Passagen der Multitude. In: Jungle World, 7.8.2002. Altenburg, Matthias 1992: Kampf den Flaneuren. Über Deutschlands junge, lahme Dichter. In: Der Spiegel, 12.10.1992, 42/1992 (zit. n.: Andrea Köhler/ Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998, S. 72–78). – 2000: Alles Kohl? Welche Moral braucht die Literatur? Matthias Altenburg antwortet auf Maxim Biller. In: Die Zeit, 19.4.2000. Anonym 2006: Cover. In: Titanic. Das endgültige Satiremagazin, 7/2006. – 2005a: Die Revolutions-GmbH. In: Der Spiegel, 14.11.2005, 46/2005. – 2005b: ›Ich bin ein Lust-Hooligan‹. Der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoglu, 40, über seinen doppelten Studienabbruch und die Wut, die ihn zum Bestsellerautor gemacht hat. In: Uni-Spiegel 1/2005, S. 10–12. Apraku, Eva 1998: Wir sind keine homogene Affenhorde. In: tip. Magazin, 22/1998. Assheuer, Thomas 1993: Was ist rechts? Botho Strauß bläst ins Bockshorn. In: Frankfurter Rundschau, 10.2.1993 (zit. n. Franz Josef Görtz/Volker Hage/ Uwe Wittstock (Hg.): Deutsche Literatur 1993. Jahresüberblick. Unter Mitarbeit von Katharina Frühe. Stuttgart: Reclam 1994, S. 269–272). Bartels, Gerrit 1999: Denn sie wissen, was sie tun. In: taz – die tageszeitung, 23.11.1999. – 2005: Schnecken auf Kurs. In: taz – die tageszeitung, 13.8.2005. Beyer, Susanne/Festenburg, Nikolaus von/Mohr, Reinhard 1999: Die jungen Milden. Jugend ’99 – die pragmatische Generation. In: Der Spiegel, 12.7.1999, 28/1999. Biller, Maxim 1991: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: Die Weltwoche, 25.7.1991 (zit. n. Andrea Köhler/Rainer
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Anhang
Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998, S. 86–104). Zaimoğlu, Feridun 1999b: Knabenwindelprosa. Überall wird von deutscher Popliteratur geschwärmt. Aber sie ist nur reaktionäres Kunsthandwerk. Eine Abrechnung. In: Die Zeit, 18.11.1999. – 2002: Gerechtigkeit für Maxim Biller. Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu porträtiert den begabtesten Polemiker Deutschlands. In: Die Welt, 16.2.2002. – 2006: Mein Deutschland. Warum die Einwanderer auf ihre neue Heimat stolz sein können. In: Die Zeit, 12.4.2006.
7.2.4. Internetquellen (Stand: 15.11.2013) http://www.citforum.de/archive/index.php/t-71293.html. http://wwsw.eurozine.com/pdf/2004–03–22-ohmer-de.pdf. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1359. http://www.echo.non.at. http://www.femigra.com. http://www.heise.de/tp/artikel/13/13778/1.html http://https://www.alumniportal-deutschland.org/nc/en/webinars-events/eventcalendar/single-view.html?tx_ppwcalendar_pi1[eventID]=33958&tx_ppwcalendar_pi1[backPage]=1. http://www.kanak-attak.de. http://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5584. http://www.mattwagner.de/2006/06/droste-gegen-zaimoglu-und-umgekehrt. htm. http://www.balkanforum.info/f16/verzweiflung-dynamit-1474. http://www.noborder.org/archive/www.deportation-class.com/lh/presse/ pm010202.html. http://www.taz.de/pt/2006/06/22/a0237.1/text. http://www.unmuendige.de.
559
560
Literatur und Subversion
7.2.5. Filme und Musik Baur, Gabrielle 2002: Venus Boyz. ch/usa/d: onix Films Zürich. Becker, Lars 2000: Kanak Attack. D: Concorde. Bowie, David 1972: The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars. usa: rcs/Virgin. Cunningham, Chris 1999: Leftfield & Afrika Bambaataa: Afrika Shox. usa: rsa/Black Dog Films. Freidank, Michael/Maus, Ingo 2002: Kanakisch-Deutsch: Dem krassesten Sprakbuch ubernhaupt. Frankfurt a.M.: Eichborn. Livingston, Jennie 1990: Paris is Burning. USA: Off White Productions. Sido 2004: Mein Block. Berlin: Aggro Berlin (Groove Attack). s.y.p.h. 1980: s.y.p.h. (Zurück zum Beton). D: Pure Freunde. Ton Steine Scherben 1970: Macht kaputt, was euch kaputt macht. / Wir streiken. D: Ton Steine Scherben (7’’ Single).
7.3.
P ERSONENREGISTER
In das Register konnten nur Autorinnen und Autoren, Theoretikerinnen und Theoriker sowie Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aufgenommen werden, die auf mindestens drei verschiedenen Seiten genannt werden. Autoren-, Kunst- und Musikgruppen sowie Magazine und Labels sind kursiviert. Adelson, Leslie A. 161, 290, 293, 300, 303, 333f. Adorno, Theodor W. 20, 26f., 87f., 101f., 106–108, 110, 115, 136, 404, 479 AG Spass muß sein 74f., 105 Aichinger, Ilse 24, 81f. Altenburg, Matthias 58f., 66 Amirsedghi, Nasrin 289, 292f. Anderson, Sascha 75, 401f. Anz, Thomas 35, 46f., 57 Arens, Hiltrud 292–294 Artmann, Hans Carl 108, 115, 186 autonome a.f.r.i.k.a. gruppe 74, 105, 308, 410 Bachtin, Michail M. 78, 166f., 179, 317, 392 Barthes, Roland 78f., 164–166, 175, 195, 208, 268
Baßler, Moritz 63, 116, 184, 190, 193, 195, 197f., 204, 206f., 221f., 225f., 228–230, 232, 241, 249, 251, 260 Begemann, Christian 284, 286, 292, 303, 307f. Benjamin, Walter 78, 109, 125f., 404f., 475 Berendse, Gerrit-Jan 69, 96, 402 Bernhard, Dagi 428f., 434, 437, 461 Beyer, Marcel 43, 55f., 60, 66–68, 71, 82, 464 Bhabha, Homi K. 58f., 79, 151, 153–155, 161, 179, 255f., 339, 342, 351, 479 Biendarra, Anke S. 69, 71f. Biller, Maxim 58–60, 63, 66, 192f., 302f., 372, 403f. Biondi, Franco 287f., 290f. Böll, Heinrich 23f., 30f., 71f. Böttiger, Helmut 60, 183f., 206, 217, 263
Anhang Bogdal, Klaus-Michael 24, 42f., 52, 166, 303 Bohrer, Karl Heinz 87f., 415 Bossinade, Johanna 145–147, 166 Bourdieu, Pierre 16, 58f., 79, 136–138, 177, 180, 219, 327, 372, 374, 377, 392, 413f., 418, 428, 479, 487f. Bovenschen, Silvia 157f., 237, 260 Boyarin, Daniel 211, 215, 241, 258f. Brecht, Bertolt 20–24, 26f., 60, 75, 125f., 475 Breger, Claudia 150f., 154f., 158, 204, 225, 237, 243, 255f. Briegleb, Klaus 24, 28, 101–104, 245f., 396, 407, 411, 461 Brinkmann, Rolf Dieter 75f., 115, 186– 188, 195, 197, 200, 245, 274–276, 396f., 406–409, 411, 413, 415–417, 445, 454, 461f. Bröker, Frank 433f., 457 Bronfen, Elisabeth 151, 154, 158, 163, 342 Brumlik, Micha 70, 211–213 Briegleb, Klaus 24, 28, 101–104, 245, 396, 407, 411, 461 Bürger, Peter 101, 107–112, 136, 473, 479 Büsser, Martin 75f., 142–144, 185, 187, 189, 195, 205, 218, 227, 274, 396, 419 Burroughs, William S. 74, 113f., 186, 208, 405f., 443, 454 Butler, Judith 79, 147–149, 154, 158f., 179, 204, 207f., 215, 219, 232f., 237–239, 242, 249, 251–255, 305, 321–323, 342, 351, 392
Diederichsen, Diedrich 74f., 78, 98, 104f., 114, 122–125, 141–143, 202f., 220, 226, 264f., 445 Dörr, Volker C. 294, 303, 387, 393 Drexciya 211f., 225, 264 Droste, Wiglaf 12, 82f., 189, 247, 386–389, 463 Dückers, Tanja 67f., 295f., 423, 458, 465 Dunker, Axel 249, 255, 260 Entalpie, Rose 424f., 452f., 455, 459, 463 Enzensberger, Hans Magnus 27, 30–32, 71, 101, 108f., 125f. Ezli, Özkan 291, 300f.
Caduff, Corina 67, 78, 81 Celan, Paul 312, 315, 387 Cheesman, Tom 297, 303, 316f., 324, 339, 353, 378f., 385 Chiellino, Carmine 282, 288, 290f., 379
Fähnders, Walter 22, 98, 100 Fanon, Frantz 163f., 179, 340 Fatah, Sherko 67, 301–303 Fauser, Jörg 187f., 411, 418f., 445, 454 Fichte, Hubert 28, 187f., 195, 200, 209, 396, 419, 445 Fiebig, Gerald 193, 195, 267, 269 Fiedler, Leslie A. 186f., 227, 273–275 Fischer-Lichte, Erika 99, 101, 111 Fiske, John 138–140, 179 Flenter, Kersten 423, 433, 438f., 444, 448, 455, 458, 562 Foucault, Michel 31–33, 35–37, 73, 77–79, 87, 127–130, 144–146, 149, 152, 164–166, 176–179, 195, 208, 233f., 239, 268, 475, 480 Frank, Dirk 49, 185, 189–191, 199 Frank, Manfred 33, 145f. Frederking, Monika 284, 286, 288–290 Freud, Sigmund 78, 102, 149, 239, 258f. Fukuyama, Francis 11f., 34, 39
Dahlmeyer, Jörg André 73, 424f., 427, 448, 453f., 458, 462f. Dath, Dietmar 202f., 272 Degens, Marc 202f., 424f., 428, 458f., 465 Deleuze, Gilles 31, 35–37, 41, 73, 78f., 106, 133–135, 144–146, 173f., 179, 215–217, 221, 289f., 454, 480
Gärtner, Stefan 82f., 117 Galli, Matteo 55, 307, 324 Gansel, Carsten 55, 67f., 96 Garber, Marjorie 24, 149, 159f., 179, 237, 243 GAV – Grazer Autorenversammlung 137f., 456 Geier, Andrea 68, 78f., 81, 184, 255
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562
Literatur und Subversion Geisenhanslüke, Achim 43, 55, 77, 79, 127f. Genette, Gérard 106, 166–168, 196 Ginsberg, Allen 186, 405f., 415 Glaser, Peter 83, 188f. Goetz, Rainald 16, 72f., 75f., 112f., 115, 189f., 200, 202f., 208, 221, 229–232, 246, 272, 275, 372, 380 Grass, Günter 12, 23f., 54–56, 62f., 68, 70–72, 388, 403f. Greenblatt, Stephen 107, 115–117, 177, 180 Gruppe 47 23f., 27f., 43 Guattari, Félix 73, 78f., 133–135, 144–146, 173f., 179, 215, 221, 289f., 454, 480 Günter, Manuela 78, 294, 303–305, 308f., 316f., 321, 323, 327, 339, 342, 393 Habermas, Jürgen 33, 233f. Hage, Volker 58, 62f. Hall, Stuart 129, 138f., 153f. Handke, Peter 11f., 44, 54, 68, 103, 332, 407, 483 Haraway, Donna 150, 205f., 217, 237, 242 Hardt, Michael 37–39, 106, 172–176 Hecken, Thomas 98, 185f., 188 Heimböckel, Dieter 77, 79, 81 Heißenbüttel, Helmut 24, 28, 108 Hermann, Judith 61, 64, 115 Herrmann, Britta 138, 158, 169, 196, 372 Hielscher, Martin 58f., 61f., 291, 301 Hilbig, Wolfgang 60, 81f. Holert, Tom 141–144, 178, 462f., 473 hooks, bell 237, 242, 251 Horkheimer, Max 26, 102, 107, 404 Hübsch, Hadayatullah 187f., 409, 423, 444f., 450, 452, 454, 457f., 462f. Huyssen, Andreas 33, 35, 58 Illies, Florian 48, 191, 198, 222–224, 226, 229, 231, 277 Irigaray, Luce 157, 218f., 237, 239, 241 Jäger, Georg 20f., 23, 31, 35, 44 Jäger, Margret 45, 49, 284f. Jäger, Siegfried 45, 49, 130, 134f., 284f. Jelinek, Elfriede 55f., 60, 69, 81, 83, 85, 106, 115, 169, 187f., 233, 246, 403f.
Jirgl, Reinhard 55f., 60, 68, 81f. Jung, Werner 53, 56, 63 Kaf ka, Franz 27, 60, 108, 133–135, 170, 387 Kalender, Barbara 83, 404, 408 Kallmeyer, Werner 296, 305, 310–312, 321, 323, 326, 392 Kaminer, Wladimir 65, 199, 301f., 404, 465 Kammler, Clemens 52f., 57, 64, 67f. Kanak Attak 281f., 295–297, 300, 324, 352f., 359, 381, 385, 392 Kapielski, Thomas 83, 189, 465 Kaulen, Heinrich 64, 68, 96, 194, 201 Keim, Inken 305, 309–312, 321, 323–326, 392 Kerenski, Boris 396, 423–427, 429f., 436, 452–456, 459, 461, 463 Kerouac, Jack 186, 406, 449, 471 Kiesel, Helmuth 28, 102f. Klein, Naomi 38, 125, 172 Kling, Thomas 60, 82, 115 Konecny, Jaromir 423, 439, 442, 454, 458 Kracht, Christian 55, 61–63, 65, 189– 191, 194, 199, 207, 223f., 272, 380 Kraft, Thomas 54, 58, 67, 184, 190f., 301 Kramer, Andreas 113f., 188, 397f. Kramer, Sven 17, 23, 76f. Kristeva, Julia 78, 106, 166f. Kronauer, Brigitte 60, 83, 112 Krüger, Hardy 428, 444, 461 Kyora, Sabine 216, 243, 250, 260 Lacan, Jacques 78, 146, 218, 238f., 440 Lange, Alexa Hennig v. 61, 190f., 246f., 272 Leggewie, Claus 47f., 50 Link, Jürgen 45f., 79, 82, 130–133, 179, 198, 213, 479f. Lottmann, Joachim 113, 192, 295f., 298, 300, 302, 376f., 381, 383 Lyotard, Jean-François 31–34, 37, 111, 145, 173f., 187, 217 Marcuse, Herbert 78, 101f. Marx, Karl 75, 78, 102, 106, 139 Mattenklott, Gundel 397f., 412f., 418 Mayröcker, Friederike 54, 82, 108, 112
Anhang Mein, Georg 53, 303, 307f. Meinecke, Thomas 12, 15, 60, 66–68, 72f., 80, 84, 92, 106, 113, 139, 177, 183–186, 189f., 192, 194f., 197, 200, 202–278, 280, 313, 367, 396, 404, 419, 447, 472, 481–488 Minnaard, Liesbeth 164, 346, 377 Mora, Terézia 49, 288, 301f. Müller, Heiner 25, 71, 313, 401 Müller, Herta 60, 301f. Müller, Wolfgang 189, 417f., 423 Negri, Antonio 37–39, 106, 172–176 Neumeister, Andreas 68, 189f., 194, 203, 221, 229f., 232, 272, 275, 464 Neuner, Florian 16, 82, 111, 115, 207, 215 Niemann, Norbert 66f., 71, 203 Nüchtern, Klaus 218, 250, 270 Oasis 141, 194, 221–224, 226, 246 Öncül, Alper 437, 439, 442, 458 Ören, Aras 285–288, 290, 302 Özdamar, Emine Sevgi 285, 288, 291, 297, 300, 302, 386 Özdoğan, Selim 296, 298f., 301 Off, Jan 203, 423, 438, 444, 458 Oswald, Georg M. 66f., 69, 71, 190, 192, 203, 464 Papenfuß, Bert 75, 115, 402, 423, 465 Parr, Rolf 20, 49, 53, 79, 91, 130, 193, 195, 197f., 221f., 226, 294, 352, 479f. Picandet, Katharina 184, 213f. Ploog, Jürgen 75, 82, 113, 187, 411f., 423, 430, 437, 439, 441, 445f., 449, 454 Plumpe, Gerhard 97f., 110–112 Politycki, Matthias 48, 61, 63, 65 Pollesch, René 83, 235, 272 Prinz, Kirsten 295, 378f. Reich, Heike 439, 449, 463 Reiffer, Andreas 396, 408, 423, 425–427, 429, 431f., 436, 452f., 456, 459f., 463 Rock, Zé do 300–302 Röggla, Kathrin 66, 72, 82f., 190, 246, 272, 419, 464 Runge, Erika 25, 121, 306, 407, 413 Rygulla, Ralf-Rainer 187, 407, 416, 462
said 288, 291, 302 Said, Edward W. 79, 151–154, 179, 255, 327f., 479 Salzinger, Helmut 122, 220, 454 Sartre, Jean-Paul 20, 22f., 26, 32, 244, 271, 475 Schäfer, Jörgen 42, 185–188, 191, 194f., 197, 396 Schami, Rafik 287f., 290f., 299, 302 Schiemann, Philipp 73, 423, 433, 438, 446, 450, 453, 457 Schirrmacher, Frank 17, 57f. Schlingensief, Christoph 75, 83, 404 Schmidt, Arno 24, 108, 112 Schmitz-Emans, Monika 163, 316f. Schönauer, Michael (auch ›Yussuf M‹) 395f., 423, 425–427, 429, 433, 436, 441, 450, 454f., 458, 464 Schößler, Franziska 17, 51, 116, 137f., 140, 159, 164, 170, 335, 456 Schröder, Jörg 83, 404, 407f. Schütz, Erhard 51, 53, 59 Schumacher, Eckhard 148, 184, 190, 193–195, 199f., 204, 209, 221, 226, 228, 230f., 255, 260, 269, 396, 419 Sebald, W.G. 57f., 68, 70f., 80 Sennett, Richard 36f., 41 Şenocak, Zafer 293, 298, 301f., 317 Seul, Michaela 246, 423, 435, 461, 463f. Social Beat 12, 16, 68, 73, 76, 85, 92, 177, 190, 246, 395–400, 423–473, 481–488 Spivak, Gayatri Chakravorty 79, 151, 155, 163, 255, 339, 479 Stahl, Enno 17, 68, 73, 113, 190, 193, 195, 396, 398, 423, 426, 428, 430f., 445, 454, 456f., 463f. Stefan, Verena 25, 121, 236, 413 Stephan, Inge 68f., 157f., 160 Sternberg, Bettina 429, 437, 444, 450, 460f. Strauß, Botho 44, 57, 70, 87 Stuckrad-Barre, Benjamin v. 16, 61, 63–65, 115, 190f., 194, 197, 199, 207, 222f., 226, 246f., 272, 276f., 372, 380, 404 Subversive Aktion 97, 102, 106, 125, 478 Szymanski, Sylvia 246, 297, 299
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Literatur und Subversion Taberner, Stuart 30, 54f., 60f., 65 Tawada, Yoko 288, 300–302 Teipel, Jürgen 123, 189, 274, 401 Terkessidis, Mark 105, 119, 141–143, 175, 178, 282–284, 309, 378f., 383, 385, 462f., 473 Thore, Petra 284, 288–290 Titanic. Das endgültige Satiremagazin 12, 82, 84, 117, 447, 483 Trojanow, Ilija 67, 69, 96, 288, 299f., 302 Tuschick, Jamal 183, 270, 280, 297–303, 309, 320f., 330, 349, 353, 372, 376–378, 381f. Uerlings, Herbert 151f., 160–162, 289, 396 Ullmaier, Johannes 61, 69, 114f., 142, 184, 189–192, 194–197, 200–202, 204f., 213, 224, 230, 250, 272f., 407f., 428, 462, 465 Underground Resistance 212, 221, 224–226, 264, 266 Walser, Martin 24, 44, 57, 70f., 186, 201 Wawerzinek, Peter 203, 401, 465
Weber, Marcus 431, 435f. Weidermann, Volker 17, 66, 386f. Welsch, Wolfgang 32f., 111 Werkkreis Literatur der Arbeitswelt 25, 397, 413, 454 Wiener Gruppe 108, 112, 314 Winkels, Hubert 41, 190, 203, 206, 214, 260 Wolf, Christa 25, 35, 54, 57, 70f., 401 Wolf, Ror 24, 82, 108, 113 Yildiz, Yasemin 280, 316f., 323, 352 YussufM (−› Michael Schönauer) Zahl, Peter Paul 12, 24, 418, 434 Zaimoğlu, Feridun 12, 15, 55, 65, 68, 73, 80, 84, 92, 177, 190, 199, 273, 279–282, 288, 295f., 301–393, 395f., 404, 431, 471f., 481–488 Zeh, Juli 12, 67f., 96 Zelik, Raul 297, 301f. Žižek, Slavoj 39, 94, 241 Zola, Émile 20f., 32, 475
Danksagung
Diese Arbeit wäre in der vorliegenden Form nie entstanden ohne zahlreiche Menschen, die mir wichtige Anregungen gaben sowie in materiell und ideell problematischen Phasen an meiner Seite standen. An erster Stelle gebührt ein großer Dank meiner Betreuerin Franziska Schößler, die sich der Arbeit in einer schwierigen Situation ohne Zögern annahm und eine Betreuung dieser Arbeit leistete, die ich mir besser nicht hätte wünschen können. Dass diese Arbeit überhaupt entstanden ist, ist zu großen Teilen ihr Verdienst. Daneben danke ich der Hans-Böckler-Stiftung, die meine Arbeit an dieser Studie vorbildlich unterstützt hat. Ein besonderer Dank gebührt meinem Betreuer, Werner Fiedler, dessen Loyalität ich mir immer sicher sein konnte. Zudem danke ich meiner Vertrauensdozentin Ilse Nagelschmidt und der Mikro AG Kultur- und Medienwissenschaften – Patricia Gozalbez Cantó, Bartholomäus Figatowski, Sebastian Richter, Nadja Sennewald und Julia Tieke. Der Fachbereich 2 der Universität Trier wies mir ein Abschlussstipendium im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes Rheinland-Pfalz zu, das mir die Beendigung dieser Arbeit ermöglichte. Eine Dissertationsphase erfordert von Freundinnen und Freunden und der Familie eine große Rücksichtnahme sowie einen emotionalen und teilweise auch materiellen Rückhalt. Diesen bekam ich vor allem von Marrit Van Coillie, deren fester Glaube an mich und das Projekt seinen Abschluss überhaupt erst ermöglichte, aber auch von Andreas, Brigitte, Lara, Niels und Heinz-Hermann Ernst, Diederik Van Coillie und Ria Delée, von meinen Großeltern und Onkeln sowie – auf außergewöhnliche Weise – von Rainer Briel, Willem Deschuytter, Ilse De Smedt, Thomas Durchschlag, Lutz Lender und Helga Schneider. Während der Arbeit an dieser Studie war ich Kollegiat des DFG-Graduiertenkollegs Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.–21. Jh) an der Universität Trier. Ich danke den betreuenden Professorinnen und Professoren, insbesondere Viktoria Schmidt-Linsenhoff und Herbert Uerlings, der auch als Zweitgutachter meine Arbeit betreute, sowie den Kolleginnen und Kollegen, vor allem Andrea Geier und Liesbeth Minnaard, für ihre zahlreichen Anregungen. Während meiner Promotionsphase erhielt ich zudem das freundliche Angebot des Department for Germanic Languages and
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Literatur und Subversion
Literatures an der Columbia University in New York, als Gastwissenschaftler für drei Monate dort zu arbeiten. Meinem Mentor, Andreas Huyssen, gebührt ein Dank für seine Unterstützung, unsere anregenden Gespräche und diese wichtige Erfahrung, der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Unterstützung dieses Aufenthalts. Als Teil der Mikro AG Kultur- und Medienwissenschaften und unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung (Eike Hebecker), dem Künstlerhaus Edenkoben (Ingo Wilhelm) und der Universität Trier (Franziska Schößler) konnte ich im Juli 2006 eine Tagung zum Thema SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart mitveranstalten. Einzelne Inhalte dieser Arbeit wurden angeregt durch die Vorträge und Diskussionen dieser Tagung, wofür allen Teilnehmenden und den Förderinstitutionen noch einmal gedankt sei. Äußerst wichtig waren befreundete Gesprächspartnerinnen und -partner, die in unterschiedlichen Phasen durch ihre kritischen Lektüren und Gespräche meine Arbeit oder meine Promotionsphase befruchteten, hierzu zählen vor allem Christine Bähr, Franziska Bergmann, Natalie Bloch, Gerd Dembowski, Solveig Gade, Dirk von Gehlen, Irina Gradinari, Melanie Groß, Simon Güntner, Harald Hickmann, Anja Hirsch, Carola Köhler, Peter Leitzen, Thomas Lenz, Thomas Mader, Ania Mauruschat, Matthew Miller, Stefan Münker, Alexandra Rau, Moritz Schramm, Mark Terkessidis und Nicole Zillien. Für wissenschaftliche Anregungen, Ratschläge und kritische Diskussionsbeiträge auf Konferenzen oder in privaten Gesprächen zu Fragestellungen dieser Arbeit danke ich Inge Arteel, Moritz Baßler, Anke Biendarra, Klaus-Michael Bogdal, Michael Braun, Tom Cheesman, Sarah De Mul, Arne De Winde, Anke Gilleir, Dieter Heimböckel, Siegfried Jäger, Werner Jung, Annina Klappert, Uwe Lindemann, Jürgen Link, Bart Philipsen, Eckhard Schumacher, Arvi Sepp, Christian Steltz, Stuart Taberner, Johannes Ullmaier und Yasemin Yildiz. Die Inhalte dieser Arbeit und meine Thesen konnte ich mit verschiedenen Autorinnen und Autoren besprechen, die mir viele Anregungen gaben. Dafür sei gedankt Hans Bernhard, Martin Büsser, Kersten Flenter, Stefan Gärtner und der Titanic-Redaktion, Boris Kerenski, Thomas Meinecke, Florian Neuner, Kathrin Röggla, Jürgen Roth, Enno Stahl, Jörg Sundermeier, Andres Veiel, Daniel Wetzel, Feridun Zaimoğlu und Raul Zelik. Georg Mein und Achim Geisenhanslüke danke ich für die Aufnahme dieser Studie in ihre Reihe Literalität und Liminalität. Schließlich danke ich Rolf Parr für die wissenschaftlich und menschlich optimale Arbeitssituation, in der ich das Buchmanuskript abschließen konnte, Katharina Graef, Corinna Schlicht und Patrizia Schneider für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung des finalen Manuskripts, Wolfgang Delseit für den Satz und das Lektorat sowie Jörg Burkhard von transcript für die Betreuung. Thomas Ernst, Brüssel und Essen, im November 2013
Literalität und Liminalität Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen (unter Mitarbeit von Rasmus Overthun) 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8
Achim Geisenhanslüke, Rasmus Overthun (Hg.) Kino der Blinden Figurationen des Nichtwissens bei David Lynch 2012, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2086-3
Eckart Goebel Jenseits des Unbehagens »Sublimierung« von Goethe bis Lacan 2009, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1197-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literalität und Liminalität Oliver Kohns, Claudia Liebrand (Hg.) Gattung und Geschichte Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie 2012, 384 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1359-9
Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1400-8
Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität 2011, 270 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-779-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literalität und Liminalität Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung Die kulturelle Praxis des Verausgabens 2009, 246 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-989-3
Natalie Bloch Legitimierte Gewalt Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute 2011, 362 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1786-3
Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion 2008, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-870-4
Jens Elberfeld, Marcus Otto (Hg.) Das schöne Selbst Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik 2009, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1177-9
Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-877-3
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9
Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift 2008, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-777-6
Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen 2008, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-778-3
Sebastian Reddeker Werbung und Identität im multikulturellen Raum Der Werbediskurs in Luxemburg. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1988-1
Christian Steltz Zwischen Leinwand und Bühne Intermedialität im Drama der Gegenwart und die Vermittlung von Medienkompetenz 2010, 304 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1266-0
Achim Geisenhanslüke, Michael Peter Hehl (Hg.) Poetik im technischen Zeitalter Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs Januar 2013, 236 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1598-2
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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