Literarische Räume der Herkunft: Fallstudien zu einer historischen Narratologie 9783110444681, 9783110442113

Whether in the Homeric epic, ancient romance, medieval epic poem, early modern prose romance, autobiography, postcolonia

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German Pages 412 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
„Nichts Süßeres sonst als das eigene Land“. Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee
Jüngling trifft Mädchen – Leser trifft Welt. Herkunftsräume im griechischen Liebesroman
Korinth – Rom – Madauros: Zur Semantik der Herkunftsräume in Apuleius’ Metamorphosen
Heterotope Herrschaftsräume in frühhöfischen Epen und ihren Bearbeitungen. König Rother, Herzog Ernst B, D und G
Dietrichs Bern. Überlegungen zur mittelhochdeutschen Dietrichepik
wer oder wannen ist diz kint, des site sô rehte schoene sint? Die räumliche Multiplikation der Herkunft im höfischen Roman am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan
Herkunftsraum und Identität: Heterotopien der Herkunft im mittelhochdeutschen Roman. Lanzelet, Tristan, Parzival, Trojanerkrieg
Raum der Herkunft, Ort des Erzählens. Zum Phänomen der anderweltlichen Herkunft im Roman der Frühen Neuzeit
Addio, monti. Zur dynamischen Semantisierung des Raumes in Alessandro Manzonis I promessi sposi
„Wo gehn wir denn hin?“ „Immer nach Hause“. Zu Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums in Friedrich von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen
Herkunftsräume im historischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts
Ausgangspunkte neu erzählen. Der Raum der Herkunft in Jean Genets Journal du Voleur
Die Re-Semiotisierung von Herkunftsräumen im multimodalen Migrationsroman
The place for me. Karibische London-Texte der Nachkriegszeit im Spiegel von Michel de Certeaus Gehen in der Stadt
Heteropolis. Paris und London in afrikanischer Migrationsliteratur
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Literarische Räume der Herkunft: Fallstudien zu einer historischen Narratologie
 9783110444681, 9783110442113

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Literarische Räume der Herkunft

Narratologia

Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert

Band 51

Literarische Räume der Herkunft

Fallstudien zu einer historischen Narratologie Herausgegeben von Maximilian Benz und Katrin Dennerlein

Gedruckt mit Unterstützung des Mittelbaus des Deutschen Seminars der Universität Zürich.

ISBN 978-3-11-044211-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044468-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043622-8 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: topada design, Potsdam (Jonas Köpfer) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Maximilian Benz, Katrin Dennerlein Zur Einführung   1 Cornelia Heinsch „Nichts Süßeres sonst als das eigene Land“. Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee   19 Felix Mundt Jüngling trifft Mädchen – Leser trifft Welt. Herkunftsräume im griechischen Liebesroman   41 Therese Fuhrer Korinth – Rom – Madauros: Zur Semantik der Herkunftsräume in Apuleius’ Metamorphosen   67 Julia Weitbrecht Heterotope Herrschaftsräume in frühhöfischen Epen und ihren Bearbeitungen. König Rother, Herzog Ernst B, D und G   91 Dominik Hey Dietrichs Bern. Überlegungen zur mittelhochdeutschen Dietrichepik 

 121

Franziska Hammer wer oder wannen ist diz kint, des site sô rehte schœne sint? Die räumliche Multiplikation der Herkunft im höfischen Roman am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan   147 Markus Stock Herkunftsraum und Identität: Heterotopien der Herkunft im mittelhochdeutschen Roman. Lanzelet, Tristan, Parzival, Trojanerkrieg   187 Coralie Rippl Raum der Herkunft, Ort des Erzählens. Zum Phänomen der anderweltlichen Herkunft im Roman der Frühen Neuzeit   205 Erik Schilling Addio, monti. Zur dynamischen Semantisierung des Raumes in Alessandro Manzonis I promessi sposi   235

VI 

 Inhalt

Sebastian Wilde „Wo gehn wir denn hin?“ „Immer nach Hause“. Zu Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums in Friedrich von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen   253 Fabian Lampart Herkunftsräume im historischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts 

 275

Christine A. Knoop Ausgangspunkte neu erzählen. Der Raum der Herkunft in Jean Genets Journal du Voleur   311 Wolfgang Hallet Die Re-Semiotisierung von Herkunftsräumen im multimodalen Migrationsroman   337 Michael C. Frank The place for me. Karibische London-Texte der Nachkriegszeit im Spiegel von Michel de Certeaus Gehen in der Stadt   357 Antje Ziethen Heteropolis. Paris und London in afrikanischer Migrationsliteratur  Register 

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 383

Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

Zur Einführung

1 Raum und Herkunft Ob in homerischen Epen, antiken Romanen, Epen und höfischen Romanen des Mittelalters, frühneuzeitlichen Prosaromanen, Bildungsromanen, historischen Romanen, Autobiographien, multimodalen oder postkolonialen Romanen – der Raum, aus dem die Hauptfigur stammt, spielt innerhalb der erzählten Welt häufig eine entscheidende Rolle. Im Herkunftsraum werden oftmals nicht nur der Ausgangs-, sondern auch der Endpunkt der histoire lokalisiert (so im Fall der Odyssee). Die dementsprechende Struktur von ‚Auszug und Rückkehr‘ prägt unterschiedliche Erzählschemata, etwa das ‚Heliodor’sche Schema‘, das auf den antiken Roman zurückgeht, oder das in der mittelhochdeutschen Epik wichtige Brautwerbungsschema. Noch im postkolonialen Erzählen von Remigration erfährt diese Struktur eine spezifische Aufladung. Die Produktivität dieser räumlichen Konfiguration zeigt sich dabei gerade auch dort, wo das Schema von ‚Auszug und Rückkehr‘ nicht vollständig umgesetzt oder variiert wird: Wenn der Herkunftsraum als defizient wahrgenommen und verlassen wird (wie im Bildungsroman), kann eine Rückkehr ausgeschlossen sein. Wo Herkunft nicht eindeutig verortet werden kann, werden Herkunftsräume vervielfacht (wie im Fall von Gottfrieds von Straßburg Tristan). So wichtig Räume der Herkunft sind, so vielfältig sind die Möglichkeiten ihrer Konzeptualisierungen, ihrer Darstellungsweisen, ihrer Bedeutungen und ihrer Funktionen für die Erzählung vor allem der Geschichte der Hauptfigur. Je nach Welt- und Menschenbild1 und abhängig von literarischen, insbesondere generischen Konventionen2 wird sowohl in dia- wie in synchroner Hinsicht auf vielfältige Weisen von Räumen der Herkunft erzählt. Höhere Komplexität erfahren Konzeption, Darstellung und Bedeutung des Herkunftsraums, wenn die Herkunft der Hauptfigur mit weiteren Herkunftsräumen des Erzählers, des Autors, des Stoffs usw. verbunden wird.

1 Vgl. für das Mittelalter in phänomenologischer Perspektive Kelly 2009. 2 Mit Gattungen beschäftigen sich vor allem die Beiträge von Felix Mundt (antiker Roman), Markus Stock (mhd. Roman), Fabian Lampart (historischer Roman) und Wolfgang Hallet (multimodaler Roman).

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 Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

Der vorliegende Band möchte anhand von Fallbeispielen aus der erzählenden europäischen Literatur von der Antike bis heute Schlaglichter auf die je spezifischen Zusammenhänge von Raum und Herkunft werfen.3 Gegenstand der folgenden Beiträge sind dabei jeweils die konkreten Räume der Herkunft, sofern sie ein integraler Teil der erzählten Welt sind, ohne jedoch Haupthandlungsschauplatz zu sein. Diese Einschränkung hat einen tieferen Sinn: Das Nomen ‚Herkunft‘, abgeleitet vom Verb ‚herkommen‘, hat neben der laut Deutschem Wörterbuch primären zeitlichen (im Sinne von ‚Abstammung‘) immer auch eine räumliche Denotation. In beiden Fällen ist eine Differenz impliziert. Während die zeitliche Bedeutung zwischen einer Person und ihren Vorfahren oder einer Sache und ihren Ursachen differenziert,4 fokussiert die räumliche Bedeutung das ‚Woherkommen‘ einer Person oder einer Sache, was die Existenz weiterer Räume voraussetzt.5 Damit impliziert die Frage nach den Herkunftsräumen, dass in der erzählten Welt voneinander unterschiedene Räume nicht nur nebeneinanderstehen, sondern auch aufeinanderfolgen und durch die erzählte Bewegung der Hauptfigur, durch die die Räume maßgeblich narrativ erzeugt werden, zugleich aneinandergebunden werden. Diese Implikationen entwickeln in Hinsicht auf verschiedene Analyseziele eine heuristische Kraft. Uns geht es zunächst um die Darstellung, also die Erzeugung und narrative Vermittlung des Herkunftsraums. Die Konfrontation mehrerer Räume in einem Text ermöglicht es, dass sich die Spezifik der Darstellung des Herkunftsraums textimmanent kontrastiv zur Darstellung anderer Räume ermitteln lässt. Durch einen Vergleich mit der Darstellung von Herkunftsräumen in weiteren Texten, etwa derselben Gattung, wird das so entstandene Bild noch differenzierter. Darüber hinaus soll auch die Bedeutung von Herkunftsräumen untersucht werden, die diese im Gesamtzusammenhang des Textes haben. Die narratologisch besonders gut beschreibbare, strukturell gegebene Kontrastierung mit anderen Räumen erzeugt bedeutungstragende Differenzen,6 aus denen hermeneutisch, also für die Deutung des Textes, Kapital geschlagen werden kann: Denn oftmals können über

3 Eva von Contzen hat erst jüngst in ihren 10 Thesen zu einer mediävistischen Narratologie explizit eine transdisziplinäre Zusammenarbeit von Mediävisten mit Neuphilologen eingefordert, um die narratologische Begrifflichkeit anzupassen bzw. zu erweitern (vgl. von Contzen 2014, 16). 4 Vgl. DWB, Bd. 10, Sp. 1110. 5 Bewusst wurde nicht das Konzept der ‚Heimat‘, sondern das strukturelle Konzept des Herkunftsraumes zum Ausgangpunkt gemacht. Zum Heimatbegriff vgl. Gebhard u. a. 2007, zur komparatistischen Untersuchung von Heimatkonzepten in der Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts vgl. Bauer u. a. 2014. 6 Dies zeigt Antje Ziethen mit Blick auf Abdourahman A. Waberis Transit und Brian Chikwavas Harare North.

Zur Einführung 

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das Verhältnis der Räume wesentliche Themen und Konfliktfelder eines Textes bestimmt werden.7 Der thematische Fokus der Frage nach Räumen der Herkunft lenkt den Blick darüber hinaus immer auch auf handlungs-, figuren- und zeitspezifische Momente – ein Aspekt, der auch im Bachtin’schen Chronotopos-Konzept bedacht ist, mit dem sich Felix Mundt kritisch auseinandersetzt. In figurenspezifischer Hinsicht führt die Analyse der Herkunftsräume oftmals zu den hinter den Texten stehenden Identitätskonzepten,8 die ihrerseits, dem wissenssoziologisch beschreibbaren Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Semantik entsprechend, historischem Wandel unterliegen.9 Dabei kann sich durchaus zeigen, dass die räumliche und die zeitliche Bedeutung von ‚Herkunft‘ auf komplexe Weise miteinander verbunden sind. Wenn etwa die Genealogie – worauf in diesem Band im Sinne eines ‚caveat‘ Markus Stock eindringlich hinweist – in mittelalterlichen Texten in Hinsicht auf die Figurenkonzeption eine wichtigere Rolle spielt als der Raum der Herkunft,10 so bleibt diese Herkunft dennoch an Räume gebunden11 bzw. wird über die Bewegung der Figur durch verschiedene Räume verhandelt.12 An dieser Stelle ist eine zweifache Abgrenzung nötig. Die Frage nach Räumen der Herkunft ist erstens tatsächlich als Frage gemeint, die vor dem Hintergrund der oben entwickelten strukturellen Gegebenheiten der Erzählungen formuliert wurde. Die Einzeluntersuchungen bestätigen auf differenzierte Weise, dass die Zentralstellung des Raumes in unserer Fragestellung ein fundamentum in re hat

7 So zeigt Julia Weitbrecht, dass in der ‚heterotopen‘ Verschaltung von Herkunftsraum und Fremde im König Rother und im Herzog Ernst (B) feudale Konflikte und Probleme von Herrschaft verhandelt werden. 8 Vgl. besonders die Beiträge von Cornelia Heinsch (Odysseus und Ithaka), Dominik Hey (Dietrich und Bern), Franziska Hammer (Tristan und Parzival mit ihren je mehrfachen Herkunftsräumen), Markus Stock, Coralie Rippl, Sebastian Wilde, Fabian Lampart, Christine Knoop, Michael C. Frank und Antje Ziethen. 9 Vgl. Luhmann 1989, wobei das Luhmann’sche Modell der vormodernen Situation kaum gerecht wird: Vgl. von Moos 2004, 2–3. 10 Vgl. Müller 2007, 46–106. 11 So zeigt Dominik Hey, dass in den Texten der historischen Dietrichepik im Widerspruch zu dem, was man über Theoderich den Großen weiß, Dietrich nicht als Eroberer dargestellt, sondern in eine Ahnenreihe eingeordnet und seine genealogisch gesicherte Position in der Zuordnung zu Bern verdichtet werde. 12 Dies zeigt neben dem Beitrag von Franziska Hammer besonders deutlich die Argumentation Markus Stocks, der betont, dass für mittelalterliche Zusammenhänge das Territorium der Herkunft keine große Bedeutung hat, die Identität des Protagonisten aber in den spannungsreichen Bezügen „zwischen Herkunftsraum, alternativen Räumen und dem Weg des Protagonisten ausgehandelt“ werde.

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 Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

und nicht nur Folge einer aktuellen Mode der Geisteswissenschaft ist.13 Wie aber die eben erwähnte Bedeutung der Genealogie für mittelalterliches Erzählen zeigt, lässt sich die spezifische Funktion der Raumdarstellung durchaus historisch modifizieren. Mit dem gewählten Fokus sollen aus diachron-vergleichender Perspektive unterschiedliche Darstellungsweisen und Funktionen von Herkunftsräumen untersucht werden, ohne dass damit innerhalb der Komplexität narrativer Situationen immer schon und überall eine Prävalenz des Raumes angenommen wird. Zweitens folgen wir keinem korrekt verstandenen, d. h. politisch-kritischen spatial turn.14 Durchaus legitim könnte man entsprechend eines aktuellen, also selbst wiederum historisch gebundenen Interesses nach der ‚Signifikanz‘ der Herkunftsräume fragen.15 Wir hingegen fokussieren nicht die Bedeutung der erzählten Herkunftsräume für unsere Gegenwart, sondern versuchen, uns methodisch kontrolliert entlang historischer Adäquatheitskriterien zu bewegen. Damit ist das Programm des vorliegenden Bandes und der Tagung umrissen, die vom 21. bis 23. Juni 2013 in Würzburg stattfand und auf die dieser Band zurückgeht. Zugleich ist angedeutet, weshalb die Frage nach der Herkunft primär mit der nach dem Raum verbunden wurde. Im Folgenden wollen wir knapp darlegen, inwiefern sich diese Unternehmung als Beitrag zur historischen Narratologie versteht (2), welche Herkunftsräume von den Beiträgerinnen und Beiträgern jeweils untersucht werden und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang in erster Linie Identitätskonzepte haben (3), wie die Herkunftsräume narrativ erzeugt und gestaltet werden (4) und wie der Zusammenhang von konkretem Raum und seiner / seinen Bedeutung(en) zu konzeptualisieren ist (5).

2 Historische Narratologie Die Narratologie hat in ihrer formalistischen und strukturalistischen Variante fast immer den Anspruch erhoben, alle denkbaren Positionen eines Phänomens zu erfassen. Im Zuge dessen wurden Terminologien entwickelt, die auf Vollständigkeit setzen. Beispiele dafür sind die Begriffe zum zeitlichen Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, das entlang der Parameter Ordnung, Dauer und Frequenz erschöpfend erfasst wurde,16 oder Genettes Terminologie zur Fokalisierung, mit

13 Vgl. Kaube 2011. 14 Vgl. Winkler u. a. 2012. 15 Vgl. zu E. D. Hirschs Unterscheidung von ‚significance‘ und ‚meaning‘ Jannidis u. a. 2003, 9. 16 Zur Unterscheidung von erzählter Zeit und Erzählzeit vgl. grundlegend Müller 1968. Genettes Ausgestaltung dieser Unterscheidung findet sich in Genette 1994, 21–114.

Zur Einführung 

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der er die drei möglichen Fälle des Verhältnisses von Erzähler- und Figurenwissen unterscheidet (der Erzähler weiß mehr, genauso viel oder weniger als seine Figuren).17 Die Narratologie zielt demnach zunächst darauf ab, in der Fülle der Erscheinungen Grundbausteine zu entdecken, und so eine Abstraktionsleistung gegenüber der Vielfalt der Phänomene zu erreichen. In der literaturwissenschaftlichen Praxis wird das narratorologische Begriffsinstrumentarium dazu verwendet, einzelne Texte als historische Phänomene adäquat zu beschreiben und auf diese Weise hermeneutische Überlegungen und spezifische Verknüpfungen mit Kontexten vorzubereiten und plausibel zu machen. Es liegt nahe, unter historischer Narratologie eine Art Kompromiss zwischen dem systematisch-narratologischen Anspruch und dem literarhistorischen Erkenntnisinteresse zu verstehen. Die Verwendungsweisen dieser Nominalphrase sind allerdings spezifischer, auch wenn es sich bei der historischen Narratologie um ein sehr junges und noch kaum systematisch beschriebenes Forschungsfeld handelt.18 Die Überlegungen, die dazu in den letzten fünfzehn Jahren angestellt wurden, lassen sich grob in mindestens die folgenden fünf Ansätze aufteilen: 1. 2. 3. 4. 5.

eine Theoriegeschichte der Narratologie,19 eine Geschichte der narrativen Formen und ihrer Funktion,20 deren Kontextualisierung im kulturgeschichtlichen Zusammenhang,21 eine Reflexion über die Passung narratologischer Terminologie für die Erfassung der Spezifika vormodernen Erzählens22 und eine komparatistische Geschichte von erzählender Literatur, die auf Erkenntnissen zu Gattungen, Einzelwerken und Erzählverfahren beruht.23

Die in diesem Band versammelten Fallstudien zur Erzählung von Herkunftsräumen können als Beitrag zu einer solchen Literaturgeschichte verstanden werden, die ihre Textbeschreibungen auf der Grundlage von narratologischen Analysen anfertigt.24 Wir schließen somit an ein Verständnis von historischer Narratologie

17 Genette 1994, 132–138. Ein hilfreicher Überblick über die Diskussin zu dieser Terminologie findet sich bei Schmid 2014, 109–114. 18 Vgl. für eine erste, verdienstvolle Systematisierung die Einleitung in Werner 2010, einer Rezension des Bandes von Haferland und Meyer. 19 Vgl. Ernst 2000. 20 Vgl. Fludernik 2003. 21 Vgl. Erll und Roggendorf 2002. 22 Vgl. etwa Haferland und Meyer 2010. 23 Vgl. Martínez 2011. 24 Literaturgeschichte beginnt ja nicht erst dort, wo literarische Texte in große Entwicklungen

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 Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

im Sinne des fünften Ansatzes an; dies setzt aber zugleich voraus, dass man im Sinne der vierten Stoßrichtung die Passung narratologischer Terminologie am je konkreten Erzähltext überprüft. Deshalb fragen wir auch nach einem Analyseinstrumentarium, das sich zur Untersuchung von Herkunftsräumen in Texten von der Antike bis in die Gegenwart eignet.25 Da die meisten narratologischen Begriffe für modernes Erzählen entwickelt wurden, ist zunächst zu klären, ob diese Begriffe sich auch auf vormodernes Erzählen anwenden lassen. In der Klassischen Philologie wird narratologische Terminologie, die an moderner Literatur entwickelt wurde, zwar einerseits genutzt, um Spezifika antiken Erzählens herauszuarbeiten,26 andererseits wird aber auch die Adäquatheit narratologischer Termini bestritten.27 Ein ähnliches Bild zeigt sich etwa auch in der germanistischen Mediävistik, in der durchaus mit narratologischer Terminologie gearbeitet wird, obwohl sich in der mittelhochdeutschen Literatur Phänomene beobachten lassen, welche sich mit dieser Terminologie nicht beschreiben lassen. Gleichwohl wird betont, dass gerade die Differenzierungen einer modernen Narratologie „dasjenige, was mittelalterliches Erzählen von modernem trennt, deutlicher in den Blick“28 nehmen ließen. Für die Frage nach Herkunftsräumen lässt sich an rezente klassisch-philologische und mediävistische Forschung zur Erzählung von Räumen anschließen.29 Die Beschreibung narratologischer Konzepte in dieser Einleitung soll eine Bündelung und einen Vergleich der Analyseergebnisse in Hinblick auf die Räume der Herkunft vorbereiten. An die Stelle historischer Entwicklungsthesen, die aufgrund der zu geringen historischen Dichte der Fallstudien weiteren Untersuchungen zu Räumen der Herkunft überlassen werden müssen, tritt somit der Versuch einer Gliederung der Ergebnisse entlang systematischer Gesichtspunkte. Für die einzelnen Beiträge hatten narratologische Fragestellungen nach Art, Erzeugung, Darstellung, Semantisierung und Funktionalisierung der Herkunftsräume, die als Teil des Exposés an die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer versendet

eingeordnet werden, sondern bereits bei der Sichtung relevanter Texte und mit Analysen entlang der späteren Ordnungskriterien (ein Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, Literaturgeschichte zu betreiben – von der bio-bibliographischen Darstellung über die Annalistik bis hin zur kontextualisierenden Erzählung –, findet sich in Schönert 2007). 25 So weist etwa Hübner 2003 auf die Möglichkeit der Fokalisierung „der evaluativen Funktion der Stimme“ (Hübner 2003, 117) hin, die von der modernen Narratologie so nicht vorgesehen sei. 26 Vgl. de Jong 2009. 27 Vgl. Bakker 2009 zu den Implikationen des mündlichen Vortrags. 28 Schulz 2012, 369. 29 Vgl. für die Klassische Philologie etwa Paschalis und Frangoulidis 2002; Purves 2010; jüngst de Jong 2012, für die Mediävistik etwa Störmer-Caysa 2007; Schulz 2012, 292–321.

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wurden, die Funktion, eine Heuristik für relevante Aspekte der Herkunftsräume bereitzustellen.30 In diesem Sinne sind die Beiträge narratologisch informiert, beschränken sich aber keinesfalls auf dieses vorgegebene Set von Fragen, sondern gehen auf die Gewichtungen des Einzeltextes bzw. der jeweiligen Gattung ein.

3 Typologie der behandelten Räume der Herkunft Hauptsächlich werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes Räume der erzählten Welt analysiert. Gleichzeitig hat es sich aber auch als weiterführend erwiesen, Wechselwirkungen mit den Herkunftsräumen von Autoren oder Lesern, von Motiven oder Stilen in den Blick zu nehmen. Obwohl demnach der konkrete Herkunftsraum der Hauptfigur, der nicht zugleich Haupthandlungsschauplatz ist, im Zentrum der folgenden Einzeluntersuchungen steht, werden auch weitere Herkunftsräume untersucht. Die Palette der untersuchten Räume der Herkunft stellt sich wie folgt dar: Figur Erzähler Autor Leser Sprache Schreibmaterial Motiv Stoff Stil materielles Substrat (Entstehungs- und Aufbewahrungsort)

jeweils historisch und kulturell verschiedene Konzepte dieser Instanzen und der Identitätskonzepte

räumlich-konkrete Manifestation der Herkunft im Text oder Paratext

Abb. 1: Herkunft im/des literarischen Texts

30 In diesem Sinne hat Fotis Jannidis in einem einleitenden Impuls zum Begriff der ‚Historischen Narratologie‘ auf der Tagung einen „kleinen Grenzverkehr“ zwischen Narratologie und Erzählforschung vorgeschlagen. Dieser ist seiner Meinung nach dann möglich, wenn das Beschreibungsinstrumentarium der Narratologie Begriffskonzepte enthalte, die durch historische Forschung je spezifisch konkretisiert werden könnten. Auf diese Weise sei es möglich, dass die Narratologie zum einen der Erzählforschung als Heuristik, im Gegenzug die Erzählforschung der Verbesserung des narratologischen Beschreibungsinstrumentariums diene.

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 Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

Die Räume der Herkunft von Sprache, Motiv, Stoff, Stil und materiellem Substrat sind gegenüber denen der Figur der zumeist weniger komplexe Fall, da es sich hier um Entitäten ohne Bewusstsein handelt; die Bedeutung entsteht durch die spezifische Verknüpfung dieser Herkunftsräume mit denen der Hauptfigur. So beschäftigt sich Therese Fuhrer bspw. mit der Herkunft von Schreibgerät, Stoff, Stil und Motiven in der Vorrede zu den Metamorphosen des Apuleius, Erik Schilling nimmt die Herkunft der Handschrift in seine Überlegungen mit auf. Wie oben bereits angedeutet, hängt der Herkunftsraum von Figuren maßgeblich mit Fragen nach deren ‚Identität‘ zusammen. Denn bei anthropomorphen Instanzen ist der Herkunftsraum derjenige, der die Identität prägt. Wie allerdings diese Prägung der Identität durch den Herkunftsraum genau zu denken ist, hängt vom jeweiligen Identitätskonzept ab. Den Zusammenhang von Herkunftsraum und Identität der Figur möchten wir deshalb hier etwas ausführlicher beleuchten. Dabei lassen sich verschiedene Modifizierungen des Herkunftsraums, die die Beiträgerinnen und Beiträger vornehmen, zusammenfassend einführen. Die Geburt ist über den gesamten Zeitraum hinweg ein zentrales identitätsbestimmendes Moment, das die Figur zumeist auch an eine soziale Gruppe, z. B. die Familie (etwa im Fall von Odysseus), oder an eine Institution mit einem bestimmten Statusgepräge, wie z. B. an den Hof (vgl. Tristan und Parzival) oder an das Kloster, bindet. Auch die Prägung durch primär räumliche Eigenschaften ist zu beobachten (etwa die wilde und Abgeschiedenheit des Waldes in Thürings Melusine31 oder die Isolation des geschichtsfernen Herkunftsraumes des Protagonisten in Scotts Waverly32). Wie der Beitrag von Christine Knoop zeigt, wird mit diesen Konventionen (in Bezug auf räumliche Eigenschaften) beispielsweise in Genets Journal du voleur gespielt, indem Genet das Geburtskrankenhaus als Ort beschreibt, an dem keinerlei Informationen zu seiner Herkunft zu erfahren sind, am Ort seines Aufwachsens aber die Tatsache, dass die Pflanzen, die er gegessen hat, sich von dem Knochenstaub von ermordeten Jungen nähren, als Ursache für seinen schlechten Charakter angibt. Andere Konzepte von Identität wiederum modellieren einen Raum der Herkunft, in dem die Figur nicht geboren ist und den sie auch noch niemals betreten hat. Das von Michael C. Frank analysierte Beispiel dafür ist Sam Selvons The Lonely Londoners, in denen der Protagonist beschließt, aus Sehnsucht nach England zu fahren, das er als sein kulturelles Mutterland versteht, obwohl er selbst in der Karibik aufgewachsen und geboren ist. Identität kann als etwas Statisches gedacht werden. In diesem Fall werden die die Identität prägenden Aspekte (wie z.  B. Sozialverhalten, Strukturen des

31 Vgl. den Beitrag von Coralie Rippl. 32 Vgl. den Beitrag von Fabian Lampart.

Zur Einführung 

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Raumes, Verhalten im Raum) von einer Figur in der Fremde oftmals aktualisiert bzw. auf den neuen Raum übertragen. Identität kann aber auch dynamisch konzipiert sein, so dass der Herkunftsraum von einer Figur verlassen werden muss, damit sie sich entwickeln oder ihren Status verbessern kann. Beispiele für ein statisches Identitätskonzept und eine daraus resultierende Übertragung von Strukturen und Eigenschaften des Herkunftsraumes finden sich sowohl in den Eroberungen König Rothers,33 als auch in der Kreolisierung Englands34 und in der Afrikanisierung von Paris.35 Beispiele für den zweiten Fall der dynamischen Identität sind Entwicklungs- und Bildungsromane.36 Werden verschiedene Aspekte der Identität mit unterschiedlichen Räumen verbunden, ist eine Multiplikation von Herkunftsräumen gar nicht so selten. So votieren die vorliegenden Beiträge z.  B. häufig für die Existenz mehrerer Herkunftsräume, die subsequent etwa die ständische, charakterliche, verhaltensbezogene oder berufliche Identität prägen. Bei einer Neuorientierung von Figuren kann sich der Herkunftsraum auch dynamisch auf einen anderen Ort übertragen.37 Zur Beschreibung der zeitlichen Abfolge der Herkunftsräume in histoire und discours bietet sich beispielsweise die Differenzierung in einen primären und einen sekundären Herkunftsraum an, wie das Franziska Hammer für den Parzival und den Tristan vorgeschlagen hat. In beiden Texten werden die beiden Protagonisten zwar in einer höfischen Umgebung geboren, wachsen aber in einer nichthöfischen Umgebung auf. Bei einer Übertragung und Erweiterung dieser Klassifizierung auf weitere Texte sind im Einzelfall Alterszäsuren zu diskutieren, die wiederum mit der Frage zusammenhängen, wann der Identitätsfindungsprozess als einigermaßen abgeschlossen gelten kann sowie ob und in welchem Umfang Kindheit und Adoleszenz in Figuren-, Autor- oder Leserkonzepten als identitätsprägende Abschnitte abgegrenzt werden.

4 Narrative Erzeugung der Räume der Herkunft Diese vielfältigen Herkunftsräume vor allem der Figuren können wiederum auf je verschiedene Weise in den Prozess des Erzählens eingebunden sein. Beim Erzählen von Raum kann man zwischen einer ereignisbezogenen und einer nicht-

33 Vgl. den Beitrag von Julia Weitbrecht. 34 Vgl. den Beitrag von Michael C. Frank. 35 Vgl. den Beitrag von Antje Ziethen. 36 Zum Beispiel der Heinrich von Ofterdingen, den Sebastian Wilde bespricht. 37 Vgl. den Beitrag von Erik Schilling.

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 Maximilian Benz, Katrin Dennerlein

ereignisbezogenen Darstellung unterscheiden und davon ausgehen, dass beim Erzählen von Ereignissen Ereignisregionen als besondere Einheiten des Raumes entstehen.38 Mithilfe dieses Konzepts lässt sich der Vorschlag von Certeau, der für die Praxis des Gehens im Raum entworfen wurde, für narrative Texte reformulieren. Certeau, auf den Michael C. Frank ausführlich rekurriert, hatte mit seiner Unterscheidung von lieu und espace zu erfassen versucht, wie aus der Zweidimensionalität des Ortes einer Stadt der erlebte Raum als dreidimensionales Gebilde entsteht. Er konzentriert sich dabei auf die Bewegung im Raum. Will man allerdings nicht nur eine soziale Praktik beschreiben, sondern die Erzeugung von Räumen (espace bzw. Ereignisregionen) in narrativen Texten umfassend berücksichtigen, so müsste neben der Bewegung von Figuren auch die Verortung von Ereignissen, die nicht bewegungsbezogen sind, als Mittel zur Erzeugung erzählter Räume berücksichtigt werden. Unter dem von Ryan vorgeschlagenen Begriff des story space39 lassen sich die erzählten Räume zusammenfassen als derjenige Raum, in dem die Erzählung spielt.40 Über diejenigen Techniken hinaus, die zur Erzeugung eines story space führen, werden räumliche Gegebenheiten auch durch Erwähnungen, durch Beschreibungen, durch die Einbindung in Reflexionen und v. a. natürlich durch Wahrnehmung erzählerisch gestaltet. Nicht nur für die Untersuchungen des vorliegenden Bandes, sondern auch für die Beschäftigung mit Räumen der Herkunft in weiteren Texten lassen sich im Anschluss an die Theoriebildung zum Raum in Erzähltexten folgende Fragen formulieren: Welche Informationen zum Herkunftsraum werden explizit genannt, welche lassen sich erschließen und wie kann man diese Schlussprozesse plausibel machen? Wie viel Wissen wird vorausgesetzt? Wie ist das Verhältnis von Menge und / oder Explizitheitsgrad und Wichtigkeit? Inwieweit wird auf außertextuelle resp. realweltliche Räume rekurriert? Die einzelnen Beiträge beantworten diese Fragen differenziert und mit Blick auf die untersuchten Einzeltexte. Einige Antworten sollen hier veranschaulichend erwähnt werden: Besonders auffällig ist, dass der Umfang der Darstellung der Herkunftsräume stark variieren kann, er aber häufig nicht mit ihrer Bedeutung korreliert. Herkunftsräume werden in den Texten und Paratexten in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit und Explizitheit eingeführt bzw. wieder ins Gedächtnis gerufen. Neben detailreichen Schilderungen mit realgeographischem Bezug finden sich punktuelle Nennungen von räumlich diskontinuierlich verteilten Objekten oder räumlichen Gegebenheiten. Felix Mundt zeigt in seinem

38 Vgl. Dennerlein 2009, 122–126. 39 Vgl. Ryan 2009, 421–425. 40 Vgl. bspw. den Beitrag von Erik Schilling oder Antje Ziethen.

Zur Einführung 

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Beitrag, dass im griechischen Liebesroman das Problem, dass beim Rezipienten – anders als in den auf mythische Erzählungen rekurrierenden homerischen Epen – kein Wissen über die Herkunftsräume der Protagonisten vorausgesetzt werden konnte, zunächst so gelöst wurde, dass möglichst unspezifische, generische Räume verwendet werden, die durch einfache Gattungsbezeichnungen erzeugt werden. Zunehmend wird diese Freiheit jedoch dazu genutzt, längere ekphrastische Passagen an den Beginn der Romane zu stellen, die, teilweise über das Wissen aus anderen fiktionalen Welten, anhand der Raumwahrnehmung zentrale literarästhetische Prinzipien für die Rezeption des jeweiligen weiteren Romanverlaufs etablieren. Im multimodalen Roman wird nicht nur die Imagination des Herkunftsraums durch weitere Medien wie z. B. Karten und Fotos erzeugt;41 vielmehr werden in diesem Zuge auch die Repräsentation des Herkunftsraumes und die Grenzen und Möglichkeiten der Erinnerung und des Wiedererlebens des Herkunftsraumes explizit thematisiert und/oder der Rezipient indirekt auf diese Problematik aufmerksam gemacht. In Sebalds Austerlitz (2001) etwa ist die besonders ausführliche Beschreibung des Herkunftsromans sogar Programm. Hier sammelt die Hauptfigur geographische, topographische, architektonische und klimatische Gegebenheiten des Herkunftsraumes, um sie in eine enzyklopädische Kulturgeschichte Europas einzuspeisen. Allerdings kann der Herkunftsraum auch dann von Bedeutung sein, wenn er nur durch spärliche Hinweise erzeugt wird. So werden bspw. den Herkunftsräumen des Protagonisten in Genets Journal du voleur jeweils – im Vergleich mit anderen Räumen des Textes – nur sehr kurze Passagen gewidmet. Die Herkunftsräume und die mit ihnen verbundenen Erfahrungen sind jedoch entscheidend für die Frage, welche Herkunftsräume der Protagonist während seiner Reise aufsucht bzw. meidet. Auch Auslassungen von Informationen können als intendierte Schweige-Effekte begriffen werden und von hohem Informationswert sein  – so zum Beispiel, wenn in Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara, einem der von Fabian Lampart analysierten historischen Romane, der Protagonist aus dem Zug hinter einem verwilderten Ortsschild mit der Aufschrift „Nürnberg“ nur noch eine Steppe erkennen kann, dadurch also im mentalen Modell des Lesers aber vermutlich drei Raummodelle aus dem Konnotationsparadigma42 zu Nürnberg

41 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Hallet. 42 Ein weiteres Beispiel für ein solches Konnotationsparadigma ist die implizite Verhandlung literar- und kulturhistorischen Wissens in Apuleius’ Metamorphosen (vgl. den Beitrag von Therese Fuhrer). Der Begriff wurde in Anlehnung an Nünnings Vorschlag gebildet, die Unterscheidung von Paradigma und Syntagma auch für die Untersuchung des erzählten Raumes zu verwenden (vgl. Nünning 2009, 39–44).

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aufgerufen werden sollen, die für den Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielten: die Kaiserburg mit den mittelalterlichen Reichstagen, das Reichsparteitagsgelände mit den Auftritten des Führers und der Justizpalast als Ort der Hauptkriegsverbrecherprozesse nach dem 2. Weltkrieg. Weitere Fragen betreffen die Verbindung von Herkunftsraum und Erzählvorgang: Durch welche Aspekte von Situationen und Raummodellen wird der Raum wieder aufgerufen? In welche Darstellungsmodi ist das Erzählen vom Herkunftsraum eingebunden und wie wird die Verknüpfung mit der histoire gestaltet? In der Odyssee wird Ithaka als Herkunftsraum von Odysseus im discours zu Beginn Schauplatz, wenn Athene nach Ithaka reist und sich ein Bild von der Insel ohne den Herrscher, Gatten und Vater Odysseus macht. Ithaka bleibt dann über lange Strecken erwähnte räumliche Gegebenheit und wird sprachlich nur mit äußerst spärlichen Mitteln wieder aufgerufen, ist allerdings als Erinnerungs-, Ziel- und Sehnsuchtsraum von großer Bedeutung. Besonders markiert ist deshalb die dreifache Erzählung der Ankunft Odysseus’ im Hafen von Ithaka zu Beginn des zweiten Teils. Einer Beschreibung durch den Erzähler folgt die vernebelte Wahrnehmung von Odysseus, anschließend die von Athene geleitete RaumAnagnorisis. In Alessandro Manzonis Roman I promessi sposi enthält eine erste Beschreibung des Erzählers aus der Vogelperspektive zahlreiche Hinweise auf die Bedeutung der folgenden Handlung. Interessant ist die Beschreibung vor allem im Vergleich mit der späteren Wahrnehmung der Protagonistin, die in Blickführung und Semantisierung ganz subjektiv gestaltet ist. Michael C. Frank und Antje Ziethen zeigen, wie Migranten einerseits Wahrnehmungsmuster aus dem Herkunftsraum auf ihre Migrationsorte projizieren, andererseits aber auch durch Praktiken, die sie mitgebracht haben oder neu entwickeln, die Topographie der erzählten Welt mit Ereignisregionen überlagern, die in Struktur und Bedeutung ihren Herkunftsräumen gleichen. Dies geschieht in unbewussten oder bewussten, affirmativen, kreativen oder bewusst widerständigen Akten. Ziethen schlägt vor, den auf diese Weise entstandenen story space als Heteropolis zu bezeichnen, um damit die besondere, andersartige Qualität der von den Migranten erlebten Stadt hervorzuheben. Auch können die Räume der Herkunft eher indirekt in die Erzählung eingebunden sein. Der konkrete Raum der Herkunft bleibt auf diese Weise präsent, auch wenn er nicht direkt genannt wird. So spielt eine implizit-metonymische Bezugnahme auf die Räume der Herkunft oftmals eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich etwa im Verweis auf die schuldhaften Ereignisse im Wald durch die Wildheit von Reymunds Kind Geffroy in Thürings Melusine.43 Gelegentlich lässt sich sogar

43 Vgl. den Beitrag von Coralie Rippl.

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eine, wie Christine Knoop sie nennt, Inferenz zweiter Ordnung über Ereignisse und Handlungen beobachten: Metonymisch wird dabei auf konkrete Räume referiert, welche ihrerseits wiederum auf die Herkunftsräume verweisen.44

5 Funktionen In literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen interessiert häufig nicht der Raum um seiner selbst willen, sondern die Bedeutung, die einer konkreten räumlichen Gegebenheit respektive dem jeweiligen Raum im Zusammenhang des Gesamttextes zukommt. Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Verfahren, durch die die Imagination der Herkunftsräume erzeugt wird, stark variieren können, der Grad der Explizitheit jedoch nicht mit der Bedeutung des Raumes korreliert. Doch inwiefern kann Raum überhaupt eine (eigenständig beschreibbare) Bedeutung haben und wie fügt sie sich in das Gesamtspektrum eines Textes ein? Dies möchten wir abschließend noch etwas ausführlicher entwickeln. Die Bedeutung, die eine räumliche Gegebenheit, beziehungsweise in unserem Fall der Raum der Herkunft, hat, resultiert aus der sinnerzeugenden Funktion, die der Raum im Zusammenspiel mit anderen Elementen der Erzählung innehat. Dabei scheint es angebracht zu sein, mindestens zwischen innerfiktionalen, poetologischen und rezeptionsdisponierenden Funktionen des erzählten Herkunftsraumes zu unterscheiden. Ausgehend von den Funktionen lässt sich die spezifische Bedeutung des Raumes der Herkunft konkret beschreiben. Je nach Funktion lässt sich auch festlegen, ob die raumbezogenen Informationen eigentlich oder übertragen zu verstehen sind. Auch im Fall der eigentlichen Bedeutung kann der konkrete Raum semantisch aufgeladen werden, meist ausgehend von den Konnotationen der erwähnten räumlichen Gegebenheiten: Hierbei können sich auch im Zusammenhang mit nicht-räumlichen Komponenten Konnotationsparadigmen ausbilden. Ist hingegen eindeutig eine übertragene Bedeutung

44 Christine Knoop arbeitet die Inferenzen vor allem mit Blick auf das Gegensatzpaar Paris/ Berlin in Genets Journal du voleur heraus.

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anzunehmen, bietet es sich an, zwischen metaphorischen, metonymischen45 und symbolischen46 Verweisen zu unterscheiden.47 Die möglichen innerfiktionalen Funktionen des Herkunftsraumes sind vielfältig: Der Herkunftsraum kann als Attribut der Figuren fungieren (und sie können insofern über ihn charakterisiert werden) und zur Verhandlung ihrer Identität beitragen, Teile des Plots spiegeln, spätere Ereignisse vorbereiten, Stimmungen übertragen oder die Funktion anderer Räume festlegen, sie etwa als Möglichkeits- und Kompensationsräume determinieren. Fragt man nach der Funktion des Herkunftsraums für den Gesamttext, kommt es, wenn der Herkunftsraum nicht von sich aus übertragen zu verstehen ist, meist allein durch den Fortgang der Handlung zu einer semantischen Aufladung: Andere Räume (beispielsweise der Fremde oder, sofern die Herkunftsräume selbst vervielfacht werden, auch weitere Herkunftsräume48) kontrastieren mit dem Herkunftsraum, weswegen in vielen Fällen die dem Herkunftsraum entgegengesetzten Räume im Anschluss an Michel Foucault als ‚heterotop‘ beschrieben werden können.49 Während unter Rekurs auf das Foucault’sche Modell Aspekte der wechselseitigen Bezogenheit besonders prägnant gefasst werden können, lassen sich narrative Funktion, werthafte Besetzung und Aspekte der Räumlichkeit gerade in ihrem Ineinander mithilfe des strukturalistischen Entwurfs Jurij Lotmans analysieren:50 Der Erzeugung einander entgegengesetzter Räume liegen semantische Oppositionen zugrunde, die Ausgangspunkt werthafter Besetzung oder ihrer Subversion sind. Aufgrund der engen Kopplung von Figur und Raum werden die entgegengesetzten Räume durch einen Grenzübertritt zueinander in Beziehung gesetzt, der seinerseits die Handlung oftmals allerst in Gang bringt. Dabei ist es nicht nur der Kontrast zu

45 Vgl. zu den Formen metonymischer Raumreferenz in Thürings von Ringoltigen Melusine den Beitrag von Coralie Rippl. Sie zeigt, wie Verweisstrukturen „einen einmal konkret dargestellten Raum sofort symbolisch aufladen und diese Bedeutung auf zweiter Ebene wieder aufrufen, wobei die Referenztechnik selbst als räumliche, nämlich metonymisch an der Oberflächenstruktur des Textes funktionierende beschrieben werden kann. Raum als bloße Kulisse, der also in seiner Konkretheit bestehen bliebe (ohne sofort mit symbolischer Bedeutung aufgeladen zu werden), gibt es in den von mir untersuchten Texten nicht.“ 46 Vgl. den Beitrag von Sebastian Wilde. 47 Vgl. Dennerlein 2011, 162–163. 48 Vgl. zu primärem und sekundärem Herkunftsraum den Beitrag von Franziska Hammer. 49 Vgl. Foucault 2006. Auf ihn rekurrieren Julia Weitbrecht, Franziska Hammer, Markus Stock, Fabian Lampart und Wolfgang Hallet. Coralie Rippl zeigt, inwiefern im frühneuzeitlichen Prosaroman eine Verlagerung der ‚heterotopen‘ Räume von genuinen Außenräumen ins Zentrum selbst stattfindet. 50 Vgl. Lotman 1993. Vgl. zum Anschluss an Lotman die Beiträge von Dominik Hey, Franziska Hammer, Erik Schilling, Fabian Lampart und Wolfgang Hallet.

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anderen Räumen, der Bedeutung erzeugt. Vielmehr kann mittels spezifischer Raummodelle51 im Rahmen der Konventionen literarischer Kommunikation ein Raum mit einer bestimmten Bedeutung versehen sein. Das Raummodell liefert dabei nicht nur Wissen über die konkrete Ausgestaltung, sondern auch über typische Handlungsfolgen, was in Bachtins Chronotopos-Konzept besonders pointiert zum Ausdruck gebracht wird.52 Während die innerfiktionalen Funktionen des Herkunftsraums auf die Diegese beschränkt bleiben, transzendieren poetologische und rezeptionsdisponierende Funktionen diese. Eine poetologische Funktion des Herkunftsraumes oder des Erzählens selbst lässt sich dort erkennen, wo eine übertragene Bedeutung der räumlichen Gegebenheiten in Hinsicht auf eine Selbstreflexion des Erzählens entschlüsselbar wird. Hierbei ist es wichtig, zwischen Räumen respektive Orten der Herkunft des Erzählens und der Figuren zu differenzieren respektive das Wechselspiel und das mögliche Ineinander der jeweiligen Bezugsgrößen zu beobachten.53 Eine rezeptionsdisponierende Funktion liegt vor, wenn die Erzählung des Herkunftsraumes den Rezipienten auf die Lektüre vorbereitet, indem etwa durch den Einsatz von Raummodellen spezifische Wissensbestände und Erzähltraditionen aufgerufen werden; deshalb ist in diesem Fall das Verhältnis der eigentlich oder übertragen zu verstehenden Herkunftsräume der Figuren und der Anfangsräume des Erzählens von großer Bedeutung.54 Derselbe Herkunftsraum kann freilich mehrere Funktionen übernehmen: Wo es etwa um generische Aspekte geht, berührt sich die rezeptionsdisponierende mit einer poetologischen Funktion,55 wobei der jeweilige Herkunftsraum in anderer Hinsicht auch innerfiktionale Funktionen übernehmen kann. Die Fallstudien des vorliegenden Bandes untersuchen einzeltextspezifisch und ebenendifferenziert Herkunftsräume und versuchen dabei, stets von den Texten, ihren Darstellungsstrategien und Erzählinhalten ausgehend, narratologische Beschreibungskategorien für die methodisch kontrollierte, auf Befunde abgestützte Deutung von Texten fruchtbar zu machen. Deren gesamte Komplexität ist interpretativ nicht einholbar, gleichwohl durch bestimmte Perspektiven bereichsspezifisch beschreibbar. Dass im Zusammenspiel von

51 Vgl. Dennerlein 2009, 178–189. 52 Dies ist gegenüber einer bloßen Verbindung von Raum und Zeit eine oftmals vergessene Pointe des Bachtin’schen Konzepts. Vgl. Bachtin 2008. 53 Dies zeigt der Beitrag von Therese Fuhrer. 54 Umso mehr gilt dies, umso weniger feste Gattungskonventionen den Leser orientieren: Für den sogenannten griechischen Roman zeigt dies Felix Mundt. 55 Vgl. zu diesem Ineinander den Beitrag von Erik Schilling.

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Zeit, Raum, Figuren und Ereignissen die Räume der Herkunft eine wesentliche Schnittstelle darstellen, mag dabei nicht nur als allgemein, sondern gerade auch als fallweise zu begründende These gelten.

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Cornelia Heinsch

„Nichts Süßeres sonst als das eigene Land“ Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee

1 Einleitung Odysseus ist nach dem Ende des Trojanischen Krieges von nur einem Gedanken beseelt: dorthin zurückzukehren, wo er herkommt – nach Ithaka, das in seiner Abwesenheit aus dem Gleichgewicht geraten ist. Er nimmt zehn Jahre qualvoller Irrfahrten auf sich, um nach Hause zu gelangen und seine alte Heimat wiederzuerobern. Der Raum der Herkunft spielt in der Odyssee also eine tragende Rolle: Er ist als Schauplatz und Sehnsuchtsort zugleich im ganzen Epos präsent. Eine räumliche Einheit, wie sie Ithaka darstellt, ist nach Katrin Dennerlein ein Schauplatz der erzählten Geschichte, „wenn die Origo in ihr verortet wird und wenn sie nach den Regeln der erzählten Welt zur faktischen Umgebung eines Ereignisses wird“ .1 Dies ist am Anfang und in der zweiten Hälfte der Odyssee der Fall: Nachdem Athene im ersten Buch im Götterrat den Beschluss erwirkt hat, dass Odysseus, ihr Liebling unter den Menschen, nach Hause zurückkehrt, begibt sie sich nach Ithaka, um Telemach auf die Ankunft seines Vaters vorzubereiten. Die Stadt befindet sich in Unordnung und Ungerechtigkeit: Während die Freier den Besitz des Odysseus aufbrauchen, behandeln sie Telemach ungebührlich und bedrängen Penelope. Die Exposition des Epos auf Ithaka zeigt, dass der Heimat des Odysseus die wichtigste Konstante fehlt: Die Stelle des Herrschers, Vaters und Ehemanns – des Odysseus – ist unbesetzt. Im zweiten Teil der ersten Hälfte spielt Ithaka als erwähnte räumliche Gegebenheit, also in „nicht-ereignisbezogenen Modi“2 eine Rolle: Die Handlung des fünften Buches trägt sich auf Ogygia zu, wo die Nymphe Kalypso Odysseus zwingt, ihr Liebhaber zu sein. Das Angebot, bei ihr, der schönen, ewigjungen Göttin, zu bleiben, muss er ablehnen. Das Heimweh lässt ihn nicht los, da er Ithaka als seinen Bestimmungsort sieht. Seine Heimat macht seine Identität aus und so zieht er es vor, abzufahren und weitere Leiden in Kauf zu nehmen.

1 Dennerlein 2009, 132. 2 Dennerlein 2011, 160.

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Das letzte Drittel der ersten Eposhälfte erzählt Odysseus selbst. Seine Irrfahrten sind eine Suche nach der Heimat, bei der er sich als beständiger erweist als seine Gefährten. Selbst „ein üppiges Haus“ (9, 35–36)3 könnte ihn seine Heimat und die Seinen nicht vergessen machen. Auch hier wird Ithaka thematisiert, jedoch nicht situationsbezogen erzählt. Das dreizehnte Buch, mit dem die zweite Hälfte der Odyssee beginnt, schildert, wie Odysseus auf Ithaka erwacht. Hier wird der Raum seiner Herkunft von der erwähnten räumlichen Gegebenheit zum Schauplatz – das Ereignis, das er zwanzig Jahre lang herbeigesehnt hat. Die gesamte zweite Hälfte der Odyssee spielt auf heimatlichem Boden. Dennoch ist Odysseus’ Heimkehr mit der Ankunft nicht abgeschlossen. Er muss Ithaka erst zurückerobern und die alte Ordnung wiederherstellen. Dies geschieht, indem er die Freier tötet und seine Familie zurückgewinnt.4 Ithaka ist also nicht nur Schauplatz des ersten Buches und der zweiten Hälfte der Odyssee, sondern auch semantisch aufgeladen als Herkunfts- und Erinnerungsort, als Ort der Sehnsucht und der fatalen Bestimmung. Wie lässt sich jedoch der Umstand, dass der Herkunftsraum des Odysseus ein essentieller Bedeutungsträger des Epos ist, mit der Beobachtung vereinbaren, dass Raum in der Odyssee kaum erzählt wird und dessen erzählerische Vernachlässigung sogar als geradezu typisch für Heldendichtung gilt?5 Dieser Frage möchte ich nachgehen, indem ich zeige, wie Ithaka im dreizehnten Buch der Odyssee als Raum narrativ erzeugt und gewichtet wird. Davon ausgehend untersuche ich, welche Funktion der Herkunftsraum an dieser Stelle für die Geschichte des Odysseus übernimmt. Da es insbesondere um die Identifikation des Herkunftsraumes durch Odysseus geht, eignet sich der Textabschnitt dazu, seine problematische Wiedererkennung nachzuvollziehen. Die Textanalyse schließt an einige einleitende Bemerkungen zur erzählerischen Darstellung von Raum in der Odyssee an.

3 Diese und alle folgenden deutschen Übersetzungen orientieren sich an Hampe 1979. 4 Schadewaldt 1958, 29 unterscheidet die äußere von der inneren Heimkehr, die im 13. Buch beginnt und mit der „Zurückgewinnung des eigenen Hauses“ abschließt. 5 Vgl. de Jong 2012, 21; Bowra 1952, 132.

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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2 Erzählerische Darstellung von Raum in der Odyssee Der homerische Erzähler fokussiert Geschehen in der Regel unmittelbar, ohne zuvor einen räumlichen Hintergrund zu skizzieren. Die räumlichen Gegebenheiten6 werden im Zuge der Handlung miterzählt, wo es notwendig ist.7 Wie Irene de Jong festhält, finden sich zwar Raumdarstellungen in der ganzen Odyssee, sie sind jedoch verstreut – im Stile eines „impressionistic framework“.8 Wenn räumliche Gegebenheiten sprachlich nicht konkret bezeichnet sind, werden sie der Phantasie überlassen. Entweder kann man ihr Vorhandensein aus unbestimmten Anhaltspunkten logisch erschließen oder sie bleiben Leerstellen, die beliebig aufzufüllen, aber nie zu belegen sind.9 So wird der äußeren Erscheinung von Objekten und Räumen kaum Aufmerksamkeit geschenkt, und Relationen zwischen einzelnen Orten bleiben unklar. Auch wenn beispielsweise einige Subräume10 auf Ithaka eröffnet werden, wie der Hafen von Phorkys, der Hof des Eumaios und der Palast des Odysseus, dessen räumliche Details von Bedeutung für die Handlung sind,11 könnte kaum eine Karte der Insel gezeichnet werden – die Lage der Orte und die Abstände zwischen ihnen sind Leerstellen.12 Georeferentielle und metrische Angaben findet man in der Odyssee selten.13 Raumreferentielle Ausdrücke zur Bezeichnung des konkreten Raums lassen sich in der Odyssee dagegen nachweisen.14 So wird natürlich auf den Herkunftsraum des Odysseus mit einem Toponym verwiesen (Ithaka). Als Eigenname wäre zum Beispiel die Bucht von Phorkys (Φόρκυνος λιμήν, 13, 9615) zu nennen. Das Haus des Odysseus wird der Gattung „Palast“ untergeordnet, in dem sich typische Räume wie die Vorhalle und die Halle finden. Auch Deiktika und Konkreta sind vorhanden. Eine Besonderheit des homerischen Texts sind Epitheta, die Toponyme näher charakterisieren. So ist zum Beispiel Ithaka untrennbar mit dem Attribut εὐδείελος („weithin sichtbar“) verbunden. Die formelhaft wiederkehrende Verwendung der Epitheta führt einerseits dazu, dass das Attribut semantisch abgeschwächt wird und mit

6 Hier und im Folgenden verwende ich die Terminologie von Dennerlein 2009. 7 Z. B. Hellwig 1964, 31; de Jong 2012, 25. 8 De Jong 2012, 21. 9 Vgl. Dennerlein 2009, 94–96. 10 Auf die Bedeutung von Subräumen für den Plot geht Marie-Laure Ryan 2009, 429 ein. 11 Kullmann 1992, 306 untersucht die Funktion des Palastes als „Bühne der Haupthandlung“. 12 Vgl. Andersson 1976, 42; de Jong 2012, 21. 13 Vgl. Lateiner 2014, 64−65. 14 Vgl. Dennerlein 2009, 209. 15 Hier und im Folgenden wird der griechische Text aus Allen 1917/1918 direkt im Text zitiert.

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seinem Bezugswort verschmilzt. Andererseits wird es wegen seiner hohen Frequenz als besonders identitätsstiftendes Charakteristikum des Bezugswortes wahrgenommen. Statt Räume narrativ zu erzeugen, werden sie mit Vorliebe ausführlich ekphrastisch beschrieben. Nicht nur Objekte sind Gegenstand der Ekphrasen, wie etwa die Brosche, welche Odysseus Penelope als Erkennungszeichen schildert (vgl. 19, 225–231), sondern auch räumliche Gegebenheiten wie Alkinoos’ Palastanlage (vgl. 7, 82–132) oder Ereignisregionen wie beispielsweise der Hafen von Phorkys mit seinem Ölbaum und der Nymphengrotte, der später zum Schauplatz wird. Charakteristisch für die Ekphrasis ist, dass zunächst die Funktion und dann die Geschichte des Beschreibungsobjekts im Zentrum stehen.16 Die Beschreibungen sind nicht zwangsläufig statisch, sondern oftmals dynamisch in die Erzählung eingebunden.17 Im Einzelfall kann der genauen Beschreibung eine erzählerische Funktion zugewiesen werden.18 Sie sorgt nicht nur für Glaubwürdigkeit und einen realistischen Effekt,19 sondern lenkt auch besondere Aufmerksamkeit auf die mit dem jeweiligen Objekt oder Ort zusammenhängende Handlung, verleiht ihr besondere Bedeutung und verankert sie durch ihre Anschaulichkeit insbesondere im Gedächtnis des Lesers.20 Wie Irene de Jong an homerischen Textausschnitten belegt, zeigen die seltenen Raumdarstellungen gleichwohl eine große Bandbreite an Wirkungen: Sie können Handlung vorbereiten, Teile des Plots widerspiegeln, Figuren charakterisieren, Stimmungen illustrieren und – wie im Fall Ithakas – symbolische Funktion haben.21

3 Der Raum der Herkunft im 13. Buch der Odyssee Im 13. Buch erreicht Odysseus endlich Ithaka: Die Phäaken legen ihn nach blitzschneller und sicherer Fahrt schlafend am Strand seines Heimatlandes ab (vgl. 13, 70–124). Durch die Landung überwindet Odysseus den Raum, welchen der Musenanruf zu Anfang des Epos absteckt, und lässt die Leiden auf dem Meer

16 Vgl. de Jong 2012, 32. 17 Vgl. de Jong 2012, 8–11. 18 Vgl. de Jong 2012, 33. 19 Vgl. Nünning 2009, 33. 20 Vgl. Minchin 2001, 102. 21 Vgl. Byre 1994, 1–2; de Jong 2012, 33–38, bes. 38: „Usually taking the form of small details, sometimes of synoptic descriptions, space creates settings, prepares for action to come, has a symbolic function, mirrors the plot, characterizes people, and signals moods.“

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und die Erfahrungen in den Siedlungen fremder Menschen, von denen dort die Rede ist,22 hinter sich. Ithaka, das in Hinblick auf seine Figur für lange Zeit nur erwähnte räumliche Gegebenheit war, wird zum Schauplatz des weiteren Geschehens. Mit dem Erreichen des großen Ziels verschiebt sich das τέλος („Ziel“) des Odysseus auf das Innerste der Insel: ihren Herrschaftssitz.23 Ithaka macht so für die zweite Hälfte der Geschichte, die in mehrfacher Hinsicht einen Neuanfang bedeutet, den Raum aus, in dessen Grenzen gehandelt und der durch Subräume wie den Hof des Eumaios und den königlichen Palast, den die Freier besetzen, ausdifferenziert wird.24 Bevor jedoch etwas von Odysseus’ weiterem Schicksal nach seiner Landung bekannt wird, zeigt sich die teleologische Dimension seiner Ankunft: Poseidons Zorn flackert noch einmal auf. Er nimmt seine letzte Rache, indem er das Schiff der Phäaken, die eigentlich von ihm abstammen und unter seinem Schutz standen, zu Stein erstarren lässt (vgl. 13, 159–164). So erfüllt sich deren Bestimmung, die schon lange vorhergesagt wurde, mit Odysseus als ihrem letzten Gast (ὣς ἀγόρευ’ ὁ γέρων· τὰ δὲ δὴ νῦν πάντα τελεῖται, 13, 178). Indem Poseidon von Odysseus ablässt und stellvertretend für ihn seine eigenen Nachkommen bestraft, wird deutlich, dass die Machtverhältnisse sich verschieben und die Voraussetzungen für das weitere Geschehen sich erneuern. Die Verschränkung der Ankunft und der letzten Rache ist in der Erzählung auffällig: Mitten im Vers schwenkt der Blick von den Phäaken, die im Gebet zu Poseidon verharren, zu Odysseus, der gerade aufwacht (vgl. 13, 187).25 Der plötzliche Szenenwechsel zeigt in der unmittelbaren Nähe kontrastiv, dass durch die Kompensation des Zorns die Zeichen für Odysseus auf Neuanfang stehen – hinter dem Schlafenden schließt sich ein Vorhang.

22 Vgl. Od. 1, 1–5. 23 Von hier arbeitet sich Odysseus Schritt für Schritt zum ehelichen Schlafzimmer vor (vgl. Lateiner 2014, 78). 24 Purves 2010, 84−96 weist darauf hin, dass Odysseus’ eigentliches Ziel außerhalb der Odyssee liegt. Teiresias sagt ihm nämlich voraus, dass er, um Poseidon endgültig zu besänftigen, über Land wandern muss, bis er Menschen trifft, die das Meer nicht kennen (11, 121–137). In den Versen 88−92 klingt das Proömium der Odyssee an, was auf einen zweiten Anfang innerhalb des Epos – nämlich den der inneren Heimkehr – hindeutet (vgl. Haller 2007, 73; Clay 1983, 190). Die Dämmerung markiert das Ende eines Erzählstranges (vgl. Haller 2007, 72−80), doch der Neuanfang folgt nicht unmittelbar: Die Sonne geht noch nicht auf, auch wenn das Tageslicht bei Ankunft der Phäaken auf Ithaka vom ersten Stern angekündigt wird (vgl. 13, 93−95). Die Landschaft müsste also im Zwielicht liegen, das keine Details erkennen lässt. Diese Tageszeit, die vielmehr einen Übergang und Zwischenraum als eine eigene Zeitspanne darstellt, liefert das passende Lichtverhältnis für Odysseus’ zeitweise Verbannung aus Zeit und Raum. Sie unterstützt die Wirkung des Nebels, den Athene aufkommen lässt. 25 Vgl. Purves 2010, 89.

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Die Bedingungen seines Schicksals können neu ausgelotet werden. Seine Ankunft beendet Poseidons Einflussnahme und erfüllt den Willen des Zeus.26 Odysseus allerdings verkennt seine vernebelte Umgebung zunächst. Das lässt nicht nur den Raum prekär erscheinen, sondern auch die Zeit stillstehen, weil ihm die göttliche Zäsur unbekannt ist. Athene kreiert so einen Transitionsraum, in dem Odysseus die Signifikate der sichtbaren Zeichen um ihn herum zunächst verliert, wenn er sich nunmehr in einem leeren, unzeitgemäßen Raum befindet. Mit Athenes Hilfe kann er sie schließlich neu und gleichzeitig seiner Erinnerung gemäß mit ihren Bedeutungen besetzen. Die Raumdarstellung schafft im 13. Buch also eine Übergangsphase, welche die Handlung retardiert und ihre weiteren Bedingungen austariert. Der Ort der Ankunft, der Hafen des Phorkys, wird aus drei verschiedenen Perspektiven fokalisiert, die ich gesondert untersuche, um Odysseus’ Erkenntnisprozess nachzuvollziehen: Als das Schiff der Phäaken „der Insel nah“ ist (νήσῳ προσεπίλνατο, 13, 95), schickt der Erzähler der Einfahrt in den Hafen eine Ekphrasis desselben voraus (vgl. 13, 96–112). Die Sicht des Odysseus dagegen wird von einem Nebel getrübt, in den ihn Athene gehüllt hat. Deshalb erscheint ihm „alles so anders von Ansehn“ (vgl. 13, 194–196), bis Athene ihm Ithaka zunächst wie einem Fremden beschreibt (vgl. 13, 237–249), um ihm nach der Auflösung ihres trügerischen Spiels räumliche Gegebenheiten als Zeichen zur Wiedererkennung seines Heimatlandes zu zeigen (vgl. 13, 345–351). Nach einer Analyse der Ekphrasis des Hafens werde ich zunächst Odysseus’ gestörte Wahrnehmung in den Blick nehmen. Sodann gilt das Augenmerk der Ithaka-Darstellung Athenes in Gestalt eines Hirten. Um Odysseus’ Reaktion auf ihre Beschreibung besser nachvollziehen zu können, soll seine eigene Darstellung im 9. Buch zum Vergleich herangezogen werden (vgl. 21–36). Hier stellt Odysseus seine Insel den Phäaken vor, die noch nie auf Ithaka waren, so dass die Merkmale, die ihm am wichtigsten und als kennzeichnend für seine Heimat erscheinen, herausgearbeitet und in Bezug zu seinem Erkenntnisprozess gestellt werden können.

26 Vgl. Od. 1, 74–79. Auch Ford 1992, 164 geht auf die plötzliche Abwendung von den Phäaken ein, deutet sie aber rezeptionsästhetisch: Dass Poseidon das Schiff der Phäaken versteinere und ihr Schicksal in der Schwebe gelassen werde, verabschiede die „epic world“. Homers Zuhörerschaft werde hier illustriert, dass es ihnen selbst unmöglich sei, den Phäaken je zu begegnen.

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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3.1 Die Ekphrasis des Hafens von Phorkys Die Ekphrasis der Bucht von Phorkys erfolgt kurz vor der unbewussten Ankunft des schlafenden Odysseus auf Ithaka. Der Hafen dürfte schon in Sicht sein, als die Beschreibung des Erzählers unvermittelt einsetzt.27 Dass er sich einem Ereignisraum, der kurz darauf zum Schauplatz wird, so ausführlich widmet, ist für die Odyssee ungewöhnlich.28 Die mobile Wahrnehmungsinstanz folgt der Fahrtrichtung vom offenen Meer aus:29 Nach der Benennung und Verortung des Hafens (ἐν δήμῳ Ἰθάκης, 13, 97) beginnt sie bei den vorstehenden „schroffen Felsen“, die sich zum Hafen hin senken und so vom Wind aufgepeitschte Wellen abhalten. Weiterhin der Blickrichtung zum Land hin folgend, wird der „Kopf“ (13, 102) des Hafens anvisiert. Hier registriert der Erzähler einen Ölbaum, bevor er sich der Grotte der Najaden „ganz in der Nähe“ (13, 103) zuwendet. Einer Beschreibung der webenden Nymphen in der Grotte ist eine emphatische Formulierung nachgestellt, die eine wertende Perspektive offenbart: „ein Wunder zu schauen“ (θαῦμα ἰδέσθαι, 13, 108). Ob sich der Erzähler hier in die Phäaken hineinversetzt, die sich schon am wunderbaren Anblick ergötzten? Sie kennen den Hafen und damit auch die Grotte als Wasserquelle jedenfalls bereits von früheren Aufenthalten (vgl. 13, 113) und könnten auch ihre Bewohnerinnen und die charakteristischen Vorgänge vor ihrem inneren Auge sehen. Indem der Erzähler das Innere der Höhle beschreibt, verlässt er jedoch definitiv ihren momentanen Wahrnehmungsbereich. Dass er die Zugänge zum abgeschlossenen Innenraum der Höhle erst nachträglich nennt, läuft außerdem der räumlich organisierten Beschreibung aus der Perspektive eines jeden beliebigen Ankömmlings zuwider, der sich in der Grotte mit frischem Wasser versorgen will. Der Erzähler bettet seine Beschreibung also in die Handlung ein, indem er als mobile Wahrnehmungsinstanz mit seinem Blick zunächst die Bewegung der Phäaken zum Inneren der Insel hin nachvollzieht. Mit der Konzentration auf die Höhle wendet er sich jedoch einem Ereignisraum zu, der für die Handlung erst später relevant wird. Nach ihrem Ende wird die Ekphrasis aber wieder explizit mit der Handlung verknüpft, wenn es heißt „Dort nun fuhren sie ein“ ( Ἔνθ’ οἵ γ’ εἰσέλασαν, 13, 113).30

27 Vgl. de Jong 2001, 318. 28 Es handelt sich hier sogar um die längste Hafenbeschreibung der Odyssee (vgl. de Jong 2001, 317–318); Topographische Einführungen gibt es zwar auch in 4, 354; 15, 403; 19, 172 (vgl. Heubeck und Hoekstra 1989, 169), allerdings stammen diese von Figuren der Erzählung. 29 Vgl. Elliger 1975, 127. 30 Byre führt aus, wie allein die Erzählperspektive der Ekphrasis Nähe und Distanz zwischen Rezipierenden und Odysseus zugleich bewirkt: „Sympathetic closeness“ werde dadurch

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Die einzelnen Stationen der Beschreibungen sind im Detail zu untersuchen: Der Name des Gottes Phorkys steht in exponierter Stellung am Anfang des ersten Verses (vgl. 13, 96). Eine ihn näher bestimmende Apposition „des Alten vom Meere“ folgt an dessen Ende, während δέ τίς ἐστι λιμήν in der Mitte steht. Da der Meeresgott Phorkys im weiteren Verlauf der Handlung keine Rolle mehr spielt, fragt man sich, warum sein Name betont wird. Zum einen stärkt die Nennung von Details wie Eigennamen die Glaubwürdigkeit des Erzählers, weil er die Existenz des Hafens für die Rezipierenden mit einem Namen konkretisiert. Zum anderen spiegelt die Zugehörigkeit des Hafens zum Meeresgott die Transzendenzfähigkeit des ganzen Ortes wider. Er ist ja Aufenthaltsort von Nymphen und insbesondere mit seiner Grotte ein Ort, an dem sich die Wege von Göttern und Menschen kreuzen. Auf die Konfrontation von göttlicher und menschlicher Sphäre weist der Name noch auf einer zweiten Ebene hin: Phorkys ist der Großvater des Polyphem, durch dessen Blendung Odysseus Poseidons Zorn auf sich gezogen hat (vgl. 1, 68–75).31 Zwei schroffe Felsen bilden die Grenze zwischen dem wilden Meer (ἔκτοθεν, „draußen“, 13, 100) und dem Innenraum (ἔντοσθεν, „im Innern“, 13, 100), der einen idyllischen Hafen schafft: Hier liegen Schiffe so ruhig und sicher, dass sie nicht einmal vertäut werden müssen (ἄνευ δεσμοῖο μένουσι, 13, 100) – Natur und Kultur befinden sich im Einklang. Die Grenze vom Meer zum Land zeigt sich also im Gegensatz zu den letzten Anlegestellen des Odysseus als gastfreundlich und macht zusammen mit dem zweiten Teil der Ekphrasis deutlich, wie unbegründet Odysseus’ Ängste sind, die er in den Versen 200–202 äußert.32 Wind und Welle (ἀνέμων σκεπόωσι δυσαήων μέγα κῦμα, 13, 99), die für ihn schon solch verheerende Auswirkungen hatten, sind aus dem Schutzraum der Ankunft verbannt. Der „Kopf“ des Hafens (ἐπὶ κρατὸς λιμένος, 13, 102) ist von einem „langblättrigen Ölbaum“ (τανύφυλλος ἐλαίη, 13, 102) gekrönt. Der Baum ist als Anzeichen für fruchtbare Erde ein typisches Konstituens von Heiligtümern. Dass es sich ausge-

geschaffen, dass die Beschreibung im Präsens einen realen Status des Hafens impliziere und man sich außerdem durch die dynamische Wahrnehmung in Odysseus’ Situation hineinversetze. Andererseits distanzierten der momentane Schlaf und die entstehende Wissensdiskrepanz Odysseus wiederum von den Rezipierenden (Byre 1994, 8). 31 Elliger 1975, 128: „Der einleitende Vers mit dem vorangestellten Φόρκυνος nennt mehr als nur den Namen der Bucht, er definiert sie zugleich als göttlichen Bereich, der den menschlichen umschließt.“ 32 Anthony T. Edwards 1993, 27–78 zeigt, dass in der zweiten Hälfte der Odyssee die bisherige „ethische Geographie“ umgekehrt wird. War es während der Irrfahrten auf dem Land gefährlicher als in der πόλις („Stadt“), ist Odysseus nun am Strand und auf dem Hof des Eumaios sicher, während die Freier seinen Palast besetzen.

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rechnet um einen Ölbaum handelt, könnte auf die Nähe Athenes verweisen.33 Die Höhle wird als innerster, diskreter Kern des Bildes am genauesten beschrieben. Nach einer ersten generellen Charakterisierung als „liebreizend“ und „schattig“ bezeugt die Zuordnung zu den „Nymphen, die Najaden genannt werden“, in ihrer Präzision erneut die Verlässlichkeit des Erzählers. Die abschirmende Funktion der Höhle ist dabei stark betont: In der folgenden aufzählenden Beschreibung des Höhleninneren wird nämlich jeder der drei Punkte anaphorisch mit „drin“ eingeleitet (ἐν δέ, 13, 105; 107; 109). Es lässt sich vermuten, dass eine raumsemantische Beziehung zwischen der Innerlichkeit im Gesamtbild und der Heiligkeit des Ortes besteht. Vom Äußeren und der Größe der Höhle erfährt man nichts. Sie wird ausschließlich über die Vorgänge konstituiert, die charakteristisch für sie zu sein scheinen und die man von ihr nicht trennen kann. So, wie die Bienen stets Honig sammeln, wirken die Nymphen beständig schöne Gewänder, während das Wasser „immer fließt“ (ἀενάοντα, 13, 109). Das Bild evoziert den friedlichen Eindruck einer lebendigen, rhythmischen Gleichmäßigkeit, die durch die Vorstellung einer Geräuschkulisse von stetem Bienensummen und unermüdlichem Rauschen des Wassers noch verstärkt wird. Die Harmonie spiegelt sich im parallelen Aufbau der drei Vorgänge wider.34 Die beiden Zugänge zur Höhle sind einander entgegengesetzt: Während der von den Menschen genutzte Eingang nördlich liegt, ist der südliche „heilig“ (θεώτεραι, 13, 111) und einzig den unsterblichen Göttern vorbehalten (13, 109–112). Die getrennten Zugänge machen deutlich, dass Menschen und Götter außerhalb der Höhle verschiedenen räumlichen Bereichen angehören. Ermöglicht der wegen seiner steinernen Abgeschlossenheit und der besonderen geheimnisvollen Stimmung der restlichen Welt entrückte Raum das Unmögliche: das Zusammentreffen von Menschen und Göttern? Auch in dieser Hinsicht stünde der Hafen für eine Grenzüberschreitung.35

33 Vgl. Baudy 1997. 34 In Bezug auf die Bienenarbeit und die Nymphen fällt auf, dass der Erzähler zunächst das natürliche Hilfsmittel nennt, um dann mit ἔνθα (13, 106; 107) zum eigentlichen Tun der Bienen und der Nymphen überzugehen. Nicht nur der Fluss des Wassers ist ewig und suggeriert eine eigene Zeitlichkeit des separaten Raumes. Auch die steinernen Gefäße und Webstühle, Objekte des täglichen Gebrauchs, sind wegen ihres Materials von Dauer. Ford 1992, 166 hebt hervor, dass sie permanent und stabil sind, ihre Funktionalität aber gewahrt ist. 35 Clay 1983, 212 zufolge werden im 13. Buch die Grenzen zwischen Göttern und Menschen verhandelt, wenn sich Athene und Odysseus miteinander messen. Die Höhle, die vor dem Zusammentreffen beschrieben wird, stelle mit ihren zwei Eingängen ein Sinnbild für den Konflikt dar: „All along, the fundamental question has been: who can rightfully enter where?“

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Die Ekphrasis des Hafens von Phorkys hat, wie meine Analyse zu zeigen versuchte, mehrere Funktionen: Sie verschafft den Rezipierenden einen detaillierten Wissensvorsprung vor Odysseus, der in krassem Gegensatz zu dessen anfänglicher Orientierungslosigkeit steht. Ein tatsächlicher Schauplatz eröffnet sich im Voraus, dessen Zeichen hier genau entschlüsselt werden. Es handelt sich um eben die Merkmale, die Odysseus zunächst nicht sehen kann. Indem der Erzähler den Hafen von Phorkys als idyllischen, sakralen Ort überhöht, würdigt er außerdem die Bedeutung der Ankunft auf der Handlungsebene:36 Nach 20 Jahren Irrfahrten hat Odysseus sein langersehntes Ziel erreicht. Da der Erzähler die Bedeutsamkeit dieses Moments nicht explizit in einem Erzählerkommentar ausdrückt, übernimmt die Beschreibung hier eine Ersatzfunktion, um den besonderen Moment zu kennzeichnen.37

3.2 Die gestörte räumliche Wahrnehmung des Odysseus Als Odysseus aus seinem tiefen, todesähnlichen Schlaf (vgl. 13, 80) erwacht, erkennt er seine eigene Heimat zunächst nicht wieder (vgl. 13, 187–188). Für seine Orientierungslosigkeit ergeben sich aus dem Text zwei Begründungen, von denen keine ausgeschlossen werden kann: Wenn man das Partizip ἀπεών (13, 189; „abwesend“) kausal versteht, was sich in Anbetracht der näher bestimmenden Adverbien ἤδη δὴν („schon lange“) anbietet, ist seine lange Abwesenheit die Ursache seiner Orientierungslosigkeit.38 Er hätte dann über die Jahre schlichtweg

36 Haller 2007, 211 weist darauf hin, dass die Beschreibung an einer Stelle eingefügt wird, an der sich in der erzählten Zeit der Sonnenaufgang erst ankündigt. Es ist also noch Nacht und die Figuren selbst können das Beschriebene nicht sehen, auch wenn sie wie die Phäaken wach sind. Dieser Umstand betone nicht nur das Privileg des Erzählers und der Rezipierenden, mehr sehen und wissen zu können, sondern löse die beschriebene Landschaft auch sub specie aeternitatis aus ihrem zeitlichen Rahmen heraus. 37 Eine ähnliche Funktion stellt de Jong 2012, 22, 25−26 z. B. bei der Beschreibung von Andromaches Kopfschmuck in Il. 22, 468–472 und von Achills Zelt in Il. 24, 448–456 fest. Dougherty 2001, 162–163, die Odysseus’ Rückeroberung seiner Heimat als eine Art ‚kolonialistische Neugründung‘ begreift, vergleicht seine Ankunft mit den Hafeneinfahrten bei den Kyklopen, Aeolus und den Laistrygonen, weil auch diese ethnographische Beschreibungen enthalten. Dabei geht sie nicht darauf ein, dass diese Passagen aus der Sicht des Odysseus geschildert sind und keiner dieser Häfen so ausführlich und idyllisch dargestellt wird. Zur allegorischen Deutung der Ekphrasis und immanenten Verweisen auf zurückliegende und bevorstehende Ereignisse vgl. Bowie 2013, 112–114 und Byre 1994, 11. 38 Stanford 1958, 205 hält ἤδη δὴν ἀπεών für „an addition for the sake of Pathos to εὕδων“. Auch Ameis u. a. 1964, 12 nehmen an, dass die Begründung erst nachfolgt. Heubeck und Hoeks-

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vergessen, wie der Hafen von Phorkys aussieht, oder dessen Aussehen deckte sich nicht mit seiner Erinnerung. Deutlicher ist der zweite Grund für Odysseus’ Unkenntnis formuliert: Athene habe ihn in Nebel gehüllt (περὶ γὰρ θεὸς ἠέρα χεῦε, 13, 189). Der Zweck der Verhüllung mag darin liegen, dass Odysseus in Gestalt des Bettlers von niemandem erkannt werden soll, damit die Rache an den Freiern gelingen kann (vgl. 13, 189–193). Der Finalsatz in V. 190−191 bezöge sich dann auf Odysseus’ Verwandlung in einen Bettler und seine Besprechung mit Athene. Zunächst will sie Odysseus das Land aber verheimlichen, um ihn vor einer überstürzten Reaktion zu bewahren und ihn in ihre Pläne einzuweihen.39 In den Versen 194–196 gibt der Erzähler wieder, was der ahnungslose Odysseus sieht, als er auf sein Heimatland blickt: Statt des einen Hafens zeigen sich ihm mehrere, statt des einen Ölbaums viele Bäume. Auch Pfade und Klippen sieht er (vgl. 13, 194–197). Sein Blickfeld ist demnach nicht eingeschränkt, sondern vielmehr erweitert. Odysseus nimmt die Landschaft um sich herum durchaus wahr, doch sie erscheint ihm in anderer Gestalt (ἀλλοειδέα, 13, 194). Indem Athene Nebel aufkommen lässt, macht sie Odysseus’ Blick unscharf. Im Gegensatz zum Erzähler, der die Phorkys-Bucht detailliert beschrieben hat, sieht Odysseus nur die Weite einer unbestimmten Landschaft, doch Besonderheit und Zusammenhang der einzelnen Elemente erschließen sich ihm nicht.40 Sein Wahrnehmungsbereich, dessen Fokus zu weit eingestellt ist, stimmt nicht mit seinem Erlebnisbereich überein. Wie sich später zeigt, sind für die Wiedererkennbarkeit des Raums seine Erinnerungen und die typischen Ereignisse, die sich am jeweiligen Ort abspielen, entscheidend – die Objekte werden erst durch ihre eigene Geschichte zu σήματα („Zeichen“). Bis dahin bleibt Odysseus’ Blick unbeteiligt und unwissend. Das „weithin sichtbare“ Ithaka ist für ihn nur aus der Nähe erkennbar.

tra 1989, 175–176 lehnen ein kausales Verständnis ebenfalls ab und übersetzen das Partizip temporal: „after he had been absent so long“, wundern sich aber über dessen Stellung. Auch Bowie 2013, 129 spricht sich eindeutig für die temporale Auffassung aus. 39 Stanford 1958, 206 und Ameis u. a. 1964, 12 nehmen an, dass ὄφρα hier zwischen temporaler und finaler Bedeutung changiere. Athene müsse für das Vorhaben und die Besprechung Zeit gewinnen. Haller 2007, 223−232 dagegen plädiert dafür, in V. 190 mit Aristophanes αὐτῷ statt αὐτόν zu lesen, da sich so „a more consistant organization and progression of events“ (223) ergebe. Damit wäre der unmittelbare und praktische Zweck des Nebels formuliert, das Land für Odysseus unkenntlich zu machen. Hallers scheinbar ausschlaggebende Begründung, dass Athene Odysseus vor einer überstürzten Reaktion bewahren wolle (vgl. 231), ist jedoch nicht hinreichend, da sie auch für die Lesart αὐτόν geltend gemacht werden kann. Athene will ja gerade deshalb Zeit gewinnen, weil sie Odysseus so auf ihr Vorhaben vorbereitet, bevor er möglicherweise unvorsichtig nach Hause eilt (vgl. de Jong 2001, 322). 40 Clay 1983, 167: „The power to change form but not substance is the masterart of the gods.“

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Während seine Vergangenheit unter den Vorzeichen von Poseidons Zorn abgeschlossen ist und Athene sich schon seiner Zukunft annimmt, hängt Odysseus also noch einem Irrglauben an und hadert mit seinem Schicksal, über das er in einem Monolog reflektiert.41 Er verleiht seiner Enttäuschung über den vermeintlichen Betrug der Phäaken Ausdruck (vgl. 13, 200–216) und geht „mit viel Jammern und Klagen“ am Strand entlang. Das Meer begleitet ihn mit „lautem Rauschen“ (ἑρπύζων παρὰ θῖνα πολυφλοίσβοιο θαλάσσης, 13, 220), obgleich die Bucht, wie in der Ekphrasis ausführlich beschrieben, vor Wind und Welle geschützt ist.42 Diese Widersprüchlichkeit ist einer psychologisch durchdrungenen Darstellung des Raumes geschuldet: Der Jammer des Odysseus spiegelt sich im Naturereignis.43

3.3 Darstellungen Ithakas Als Odysseus am Strand seine Schätze zählt, tritt unvermittelt Athene in Gestalt eines jungen Hirten an ihn heran (vgl. 13, 221–225). Odysseus bittet sie, ihn über Name und Lage der Küste aufzuklären (vgl. 13, 228–235). Es folgt die letzte von drei kurzen Beschreibungen Ithakas in der ganzen Odyssee.44 Im Folgenden soll sie analysiert und mit der des Odysseus vor den Phäaken verglichen werden (vgl. 9, 21–36). In der Wiedererkennung des Odysseus können dann die Charakteristika Ithakas als Raum der Herkunft ausgemacht werden. Athenes Sprechhaltung steht unter den Vorzeichen der Verstellung. So bezeichnet sie Odysseus als Fremden (ξεῖv’) und täuscht Verwunderung darüber vor, dass er seinen doch so berühmten Aufenthaltsort nicht kenne (vgl. 13, 237). Statt Odysseus direkt den Namen der Insel zu nennen, nach dem er gefragt hat, verrät sie ihn erst als Pointe am Ende ihrer Rede (vgl. 13, 248–249). Auch auf die Frage nach der Küste geht sie nicht ein. Als Merkmale Ithakas führt sie seine Bekanntheit (vgl. 13, 237–241; 248–249) und die ökonomische Nutzbarkeit an (vgl. 13, 242–247). Letztere ist jedoch nicht so hervorragend, dass sie die Berühmtheit begründen könnte. Vielmehr macht die Insel in Athenes funktionaler Beschrei-

41 Purves 2010, 95 hebt die Ähnlichkeit mit Odysseus’ Ankunft bei den Phäaken hervor. 6, 119– 121 stimmt mit 13, 200–202 überein. 42 Vgl. Andersson 1976, 38−39 und seine Interpretation der Ankunft auf Scheria: Auch hier drückt die Umgebung Odysseus’ momentanen Zustand aus. 43 De Jong 2012, 36 weist auf die psychologisierende Funktion des Meeres an anderen Stellen hin (z. B. Od. 5, 82−84): „The coast bordering on the loud-thundering, endless or dark sea signals feelings of isolation or despondency.“ 44 Winfried Elliger 1975, 118−123 vergleicht die drei Beschreibungen ausführlich. Darauf, wie Telemach seine Heimat charakterisiert, gehe ich hier nicht ein (vgl. 4, 605–608).

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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bung einen eher unscheinbaren Eindruck. Zunächst führt die Göttin sogar negative Aspekte auf: Das Land sei rau und nicht befahrbar, zwar „nicht ganz arm“, aber auch nicht „geräumig“. In den nächsten vier Versen begründet sie die nicht unbeträchtliche Habe des Landes, indem sie seine Vorzüge in vier Begriffspaaren umreißt, die sich jeweils ein Prädikat teilen. Es gebe Getreide und Wein, Regen und Taufall, gute Ziegen- und Rinderweiden sowie Wald und „immerfließende Quellen“. Somit lobt sie Ithaka als ein gut kultiviertes Land, in dem man sich niederlassen könnte. Von einer enkomiastischen oder idealisierenden Darstellung zu sprechen, erscheint mir aber übertrieben.45 Vielmehr dürfte Athene Ithaka deshalb sachlich und zweckmäßig darstellen, um die Insel mit der affektiven Bedeutung kontrastieren zu lassen, die sie für Odysseus besitzt. Den großen Ruhm des Landes, um dessen Identität Odysseus immer noch nicht weiß, begründet Athene mit ihrer Beschreibung nicht. Auch wenn Odysseus zumindest schon das Adjektiv „rau“ an seine Heimat erinnert hat, kann ihm erst das Toponym „Ithaka“ Sicherheit geben. Keines der von Athene genannten Attribute würde sich nämlich als Alleinstellungsmerkmal eignen und auch in der Kombination ist die Beschreibung immer noch recht allgemein. Mit dem Hinweis, von Ithaka habe man doch sogar in Troja schon gehört, das sehr weit entfernt sei, treibt Athene ihre Verstellung auf die Spitze. Schließlich weiß keiner besser als Odysseus aus eigener leidvoller Erfahrung, wie weit Troja entfernt ist. Außerdem hat Ithaka die Berühmtheit in dieser Entfernung natürlich keinem anderen zu verdanken als Odysseus selbst, der sich ja im Trojanischen Krieg bewährt hat.46 Die Nennung der zwei Schicksalsorte hebt die Spannung vorerst auf und übermittelt Odysseus die erlösende Nachricht. Unter einem von Odysseus’ Perspektive nicht beeinflussten, unbeteiligten Blick, wie ihn Athene an dieser Stelle zu haben vorgibt, ist Ithaka nur durch den Eigennamen von anderen Inseln unterscheidbar und gewinnt einzig durch seinen Stellvertreter Odysseus an Bedeutung über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Ohne Odysseus wäre es objektiv gesehen so gesichtslos, wie es ihm im Nebel erscheint. Es konstituiert seine Besonderheit also nicht etwa als Schauplatz historischer Ereignisse47 oder durch seine spezielle natürliche Beschaffenheit, sondern einzig durch seine Eigenschaft als Raum der Herkunft einer bestimmten Person – Odysseus.

45 Als „encomiastic“ bezeichnet de Jong 2001, 325 die Rede. Elliger 1975, 122 nennt sie „insgesamt ideal, selbst wenn (wie bei Telemachos) die starke Hervorhebung des Nutzaspekts nicht übersehen werden kann.“ 46 Vgl. Ameis u. a. 1964, 16. 47 Vgl. Elliger 1975, 122.

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Die pathetischen Worte, mit denen Odysseus sich den Phäaken im neunten Buch vorstellt, stehen in scharfem Gegensatz zu Athenes sachlicher Beschreibung. Nachdem Alkinoos ihn am Ende des achten Buches gefragt hat, wer er sei und woher er komme (vgl. 8, 550–556), gibt Odysseus sich zu erkennen, bevor er zur Erzählung seiner Irrfahrten anhebt. Er nennt zunächst in zwei Versen seinen Namen mit Patronym (εἴμ’ Ὀδυσεὺς Λαερτιάδης, 9, 19; „ich bin Odysseus, Sohn des Laertes“), seinen Listenreichtum als die ihn auszeichnende Charaktereigenschaft und seinen grenzenlosen Ruhm. In den folgenden sieben Versen erzählt er von seinem Heimatland Ithaka. Das Verhältnis der Verszahlen lässt erahnen, wie wichtig der Raum der Herkunft für Odysseus’ Verständnis seiner eigenen Identität ist. Trotz zwanzigjähriger Abwesenheit sagt er, dass er Ithaka „bewohne“ (ναιετάω δ’ Ἰθάκην εὐδείελον, 9, 21; „ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka“). Die Verwendung des Präsens in diesem Vers zeigt, dass er sich auch nach der langen Trennung nicht nur als Abenteurer und Kriegsheld, sondern immer noch und vor allem als Einwohner Ithakas versteht. Odysseus beschreibt Ithakas äußere Erscheinung mit dem Epitheton „weithin sichtbar“ (εὐδείελον, 9, 21), das in ironischem Kontrast zu seiner Blindheit im dreizehnten Buch steht. Als erstes Merkmal dient eine topographische Angabe, die er ebenfalls mit einer lobenden Erläuterung versieht: „es gibt einen Berg dort, Neritos, hochaufragend, mit blätterschüttelndem Laubwald“ (9, 21–22). Durch die Toponyme wirkt die Beschreibung konkret und anschaulich. Das Attribut „blätterschüttelnd“ verleiht ihr sogar Lebendigkeit und kommt einer Personifizierung des Berges nahe. Im Anschluss gibt Odysseus eine relative Verortung seiner Heimat, indem er drei benachbarte Inseln beim Namen nennt und Ithaka in räumliche Beziehung zu ihnen setzt. Das „niedrige“ Ithaka befinde sich im Vergleich zu ihnen am weitesten westlich im Meer (πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται πρὸς ζόφον, 9, 25–26). Diese Angabe legt die Vermutung nahe, dass Odysseus den Phäaken eine Orientierung für seine Heimfahrt geben möchte.48 Da er von Antinoos aber bereits weiß, dass die phäakischen Schiffe ihr Ziel finden, indem sie die Gedanken ihrer Passagiere lesen (vgl. 8, 557–563), steht dieses Anliegen wahrscheinlich nicht im Vordergrund. Vielmehr handelt es sich um eine konkrete Darstellung, die Ithakas Einzigartigkeit zeigt: Sie unterscheidet sich eben in der besonderen Lage von allen anderen Inseln. So führt Odysseus im Gegensatz zu Athene ein Alleinstellungsmerkmal Ithakas an. Die Anschaulichkeit der Darstellung verleiht Odysseus’ Bitte um Heimgeleit Nachdruck.49

48 So z. B. de Jong 2001, 228. 49 Wie Andersson 1976, 45 betont, geht es Odysseus nicht um eine Identifizierung Ithakas, sondern darum, seine Nostalgie auszudrücken, damit er das Mitleid der Phäaken weckt.

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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Die einzige Gemeinsamkeit von Odysseus’ Beschreibung mit der Athenes besteht in der Verwendung des Adjektivs „rau“ (τρηχεῖ’, 9, 27), das Odysseus jedoch umgehend, verbunden mit einer adversativen Konjunktion (ἀλλ’, 9, 27), durch die Bezeichnung „gut für der Jugend Aufwuchs“ (ἀγαθὴ κουροτρόφος, 9, 27) aufwiegt. Ηier lenkt er den Blick auf das, was die Heimat für ihn persönlich ausmacht: die Menschen, die sie bewohnen, insbesondere seine Familie. So mündet seine Beschreibung Ithakas in einen emphatischen Ausdruck der Zuneigung zu seinem „Vaterland“, das er zweimal als unvergleichlich „süß“50 bezeichnet. Zwischen den beiden Komparativen eröffnet er in parallelistischem Aufbau die Alternativen, die ihm Kalypso und Kirke zu seinem kargen Heimatland anboten und die er trotz ihrer Attraktivität ablehnte (vgl. 9, 29–33). Diesen Beweis seiner Liebe zum „Vaterland“ bekräftigt er mit der Aussage, dass auch ein üppiges Haus in einem fremden Land nicht der eigenen Heimat mit den eigenen Eltern gleichkommen könne. Neben der Sehnsucht nach seiner Familie könnte man als Grund für Odysseus’ unbedingtes Festhalten an seiner Heimat seinen ererbten Machtanspruch als Herrscher von Ithaka vermuten, der mit einer angesehenen gesellschaftlichen Rolle und Wohlstand verbunden ist. Auf diese Aspekte geht er an dieser Stelle jedoch nicht ein und gibt im Gegensatz zu Athene auch keine Auskunft über Ithakas wirtschaftlichen Zustand. Der Grund für die Stärke seines Willens, der sich nicht überreden lässt (vgl. 9, 33), liegt schlicht in der Tatsache, dass es sich um sein eigenes Land (ἧς γαίης, 9, 28; ἧς πατρίδος, 9, 34) handelt. Es ist untrennbar mit seiner Identität verbunden und lässt ihm alles andere als mangelhaft erscheinen. Während die Ablehnung Kalypsos und Kirkes Penelope als ersehnte Gattin nur impliziert, werden in den Versen 34 und 36 die Eltern (τοκήων) ausdrücklich genannt. Der eigene Ursprung, die Abkunft und Herkunft, machen Ithaka für Odysseus zum süßesten Anblick. Der Raum seiner Herkunft, den er in den Versen 21–27 eigentlich als unscheinbar beschreibt, fungiert symbolisch für seine familiäre und soziale Identität. Im Vergleich mit der Ithaka-Beschreibung des Odysseus wirkt Athenes Rede nicht wie die Erfüllung seiner Erwartung,51 sondern eher wie eine ironische Gegenrede, die sie im Wissen um die Bedeutung Ithakas für ihren Schützling Odysseus hält. Sie weiß, dass Ithakas wirtschaftliche Nutzbarkeit und seine

50 Οὔ τοι ἐγώ γε ἧς γαίης δύναμαι γλυκερώτερον ἄλλο ἰδέσθαι (9, 27–28); ὡς οὐδὲν γλύκιον ἧς πατρίδος οὐδὲ τοκήων γίγνεται (9, 34–35). 51 Elliger 1975, 122: „ι 21 ff (Odysseus) und ν 242 ff (Athene) verhalten sich wie Erwartung und Erfüllung. Unmittelbar im Anschluß an Athenes Worte begrüßt Odysseus die Vatererde, die er nun mit Hilfe der Göttin wiedererkannt hat.“

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Bekanntheit für ihn keine entscheidenden Merkmale sind und verschleiert durch ihre Akzentuierung seinen Blick, bis sie mit der Pointe herausrückt. Zudem fällt auf, dass sie nur Merkmale nennt, die Odysseus nicht unmittelbar mit eigenen Augen überprüfen kann, da sie sich alle auf das Landesinnere beziehen (vgl. 13, 244–247). Odysseus freut sich zwar zunächst (vgl. 13, 250–252), reagiert aber mit einer Trugrede, in der er sein wahres Verhältnis zum Raum, wie es ihm Athene eröffnet hat, ins Gegenteil verkehrt: Er sei ein verschlagener Fremder und befinde sich auf der Flucht – er macht also den Herkunftsraum zum Raum der Fremde, in der er sich bisher befunden hat (vgl. 13, 256–286). Mit seiner Verstellung greift Odysseus Athenes Plan voraus, dass er sich als ein anderer ausgeben müsse und sich niemandem zu erkennen geben dürfe, bevor er Rache genommen habe (vgl. 13, 189–193). Von seiner Geistesgegenwart entzückt, streichelt Athene ihm den Kopf, indem sie sich vom Hirten in eine Frau verwandelt (vgl. 13, 287–289). Athene offenbart sich Odysseus, indem sie ihre eigene Wandlungsfähigkeit vorführt, seine Verstellung lobt und den Listenreichtum zum Charakteristikum erhebt, das sie beide unter Menschen und Göttern auszeichne (vgl. 13, 297–299). In der Verstellung und im Trug sind sie einander fast ebenbürtig. Der große Unterschied, der sich im 13. Buch zeigt, besteht darin, dass sich der menschliche Trug dem äußeren Anschein anpassen muss, die göttliche Macht diesen aber einfach verändern kann („denn du nimmst jede Gestalt an“, 13, 313).52 Deshalb ist es dem Menschen, der auf seine Sinneswahrnehmung als beweisende Kraft angewiesen ist, nicht möglich, auf äußere Kennzeichen zu verzichten, von denen er auf Identitäten schließen kann, um restlos überzeugt zu werden. Odysseus muss in seiner Trugrede scharfsinnig den Anschein der Situation mit seiner ausgedachten Geschichte abstimmen, worin ja gerade seine besondere Fähigkeit liegt – und wird von der Göttin natürlich dennoch durchschaut. Athenes Identität zeigt sich gerade in ihrer Wandelbarkeit und in ihrer besonderen Beziehung zu Odysseus, so dass er sie erkennen kann. Für die Identität Ithakas verlangt er jedoch noch einen Beweis, da das Aussehen nicht mit seiner Erinnerung übereinstimmt – sei es aufgrund seiner langen Abwesenheit oder aufgrund des Nebels. Sein Wissen kann sich nur über das eigene Sehen konstituieren.53

52 Clay 1983, 209 vermutet, dass Athene ihre Macht Odysseus beweisen wolle, da er ihre göttliche Überlegenheit durch seine Intelligenz in Frage stelle. Dies könne sie am besten, indem sie sich selbst verwandle, so dass er sie nicht erkenne: „Admitting Odysseus’ excellence at concocting stories and doloi, the goddess lays claim to an essential superiority which Odysseus, as a mere mortal, can never attain“ (199). Das Machtspiel gewinne aber letztlich Odysseus, da er sie als unschätzbar wertvolle Verbündete gewinne, indem er sie in ihrer Macht bestätige. „In this complicated game of dissimulation, Odysseus plays the loser and gains an invaluable ally“ (207). 53 Über die Konstitution von Wissen durch sinnliche Wahrnehmung bei Homer siehe Lesher

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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Die Rede Athenes rekurriert auf die Phorkys-Ekphrasis des Erzählers am Anfang der Ankunftssequenz und schließt die Übergangsphase ab. Sie ist ganz vom Zeigegestus bestimmt: Neben dem Prädikat δείξω („ich werde zeigen“, 13, 344) verwendet sie eine Reihe von Demonstrativa, um Odysseus auf Objekte zu stoßen, die ihm die Identität Ithakas beweisen sollen.54 Die Abfolge der Nennung von Raumdetails entspricht jedoch nicht, wie beim Zeigegestus zu erwarten wäre, dem Prinzip der subjektiven Nähe.55 Athene zeigt also nicht zunächst das, was Odysseus und sie am nächsten vor Augen haben. Vielmehr übernimmt sie vom Erzähler die in seiner Ekphrasis behauptete Perspektive eines Seefahrers, der in die Bucht einfährt: Sie nennt zunächst den Hafen von Phorkys (vgl. 13, 345), dann den Ölbaum (vgl. 13, 346) und in dessen Nähe die Höhle der Nymphen. Die Verse 345–346 stimmen fast mit den Versen 96 und 102 der Phorkys-Ekphrasis überein. Lediglich das Indefinitpronomen τις und die Partikel γάρ sind durch Demonstrativa ersetzt. Identisch sind V. 347–348 und V.  103–104, welche Attribute zur Grotte liefern. Indem Athene Odysseus an die Opfer erinnert, die er den Nymphen darbrachte, ersetzt sie die Beschreibung des Heiligtums in V. 103–112.56 Mit der namentlichen Erwähnung des Neritos geht sie über die Hafen-Ekphrasis hinaus und greift ein Element aus der eigenen Beschreibung des Odysseus (vgl. 9, 21–22) und seiner blinden Sicht auf die Umgebung auf (δένδρεα τηλεθάοντα, 13, 196). Für die Rezipierenden neue Informationen nimmt Athene in die Beschreibung der räumlichen Gegebenheit nicht auf. Vielmehr wird der Wissensvorsprung, der durch die Ekphrasis entstanden ist, eingeholt.57 Die Beschreibung Athenes greift die des Erzählers auf – doch beschreibt sie auch wirklich dasselbe? Sie bezieht sich auf den erinnerten Raum des Odysseus und holt mit ihren Hinweisen seine eigene Ankunft, die er verschlafen hat, in der entsprechenden Reihenfolge der Wahrnehmungen perspektivisch nach. Indem

2009. Lesher macht bei Homers Figuren drei Wege aus, Wissen zu erlangen und zeigt sie in den Wiedererkennungsszenen der zweiten Hälfte der Odyssee: „direct observation, relying on the testimony of others, and the staging of a test or trial“ (17). Auffällig ist, dass Odysseus Wissen aus zweiter Hand, sogar aus dem Mund einer Göttin, nicht ausreicht: Er traut seiner eigenen Wahrnehmung mehr als Athenes Worten (vgl. Clay 1983, 204). 54 ὅδ’ἐστὶ λιμήν, 13, 345; ἥδε…τανύφυλλος ἐλαίη, 346; τοῦτο δέ τοι σπέος, 349; τοῦτο δὲ Νήριτόν ἐστιν ὄρος καταειμένον ὕλῃ, 351. Vgl. Elliger 1975, 126. 55 Vgl. Dennerlein 2011, 161. 56 Vgl. de Jong 2001, 332. 57 Wie Byre betont, haben die Rezipierenden Odysseus immer noch etwas voraus. Sie haben den Hafen nämlich aus einer göttlichen Sicht gesehen, die Odysseus gar nicht einnehmen kann. Er kann nicht wissen, was die Nymphen in der Grotte tun und dass es einen Eingang für Götter gibt. Dieser Umstand habe die dramatische Ironie der Szene noch verstärkt (Byre 1994, 8–10).

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sie den Nebel auflöst, gibt sie den Zeichen ihre Signifikate wieder und macht den Ankunftsraum zum Herkunftsraum. Somit schließt sie die Übergangsphase ab, in der sie menschliche Gesetze wie die Verlässlichkeit der Sinneswahrnehmung außer Kraft gesetzt hat. Indem sie die räumliche Ordnung wiederherstellt, kann auch die erzählte Zeit wieder beschleunigt und die Rache an den Freiern vorangetrieben werden. Mit der Verengung des handlungsrelevanten Raums vom Meer auf das Land – das hat die durch die räumliche Verwirrung verursachte Retardation gezeigt – hat Athene an Macht gewonnen, die sie Odysseus mit ihrer Verstellung demonstriert. Außerdem lässt sie ihm durch die sukzessive Erkenntnis, dass er sich auf heimatlichem Boden befindet, Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, wieder zuhause zu sein, und versorgt ihn mit den notwendigen Informationen, bis sie ihn zum nächsten Schritt leitet. Der Hafen von Phorkys wird im Nebel zum Transitionsraum, der Odysseus auf seine endgültige Heimkehr vorbereitet. Während Athenes erste, auf wirtschaftliche Nutzbarkeit ausgerichtete Beschreibung Odysseus nicht überzeugen konnte, versichert sie ihn an dieser Stelle in nur wenigen Versen der Identität Ithakas. Dies gelingt ihr, indem sie einzelne räumliche Gegebenheiten mit ihren Eigennamen als unverkennbare σήματα aufführt58 und sie zudem mit der Erinnerung des Odysseus verknüpft. Mit ihrem Sprechakt geht eine Auflösung des Nebels einher (vgl. 13, 352), so dass Odysseus den Raum um sich herum selbst sieht, was ihm einzig als Beweis dienen kann. Der Blick auf das Einzelne mit seiner Benennung und typischen Ereignissen definiert hier den Raum der Herkunft. Ein Blick auf die Gesamtkomposition, wie Odysseus ihn durch den Nebel hatte, kann Ithaka nicht ausmachen. Die Relationen der Gegebenheiten sind hier nur insofern wichtig, als sie derselben Ereignisregion, nämlich dem Hafen, zugehören. Der Wechsel von Verkennen aufgrund eines falschen Anscheins und Wiedererkennen sinnlich wahrnehmbarer Zeichen ist programmatisch für die ganze zweite Hälfte der Odyssee. So wie Odysseus Ithaka zunächst nicht erkennt, weil es verwandelt ist, wird auch er in der Gestalt eines Bettlers zunächst unerkannt bleiben.

4 Ergebnis Die Untersuchung sollte zeigen, wie der Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee dargestellt und gewichtet wird und was die Raumdarstellung für die Erzählung

58 Vgl. Elliger 1975, 126–127.

Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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der Ankunft leistet. Da die Grenzüberschreitung des Odysseus gedehnt und die sukzessive Wiedererkennung der Heimat hinausgezögert wird, eignet sich die Passage besonders dazu, die identitätsstiftenden Merkmale des Herkunftsraumes zu untersuchen. Um die Konstituierung des Raumes nachzuvollziehen, habe ich zunächst eine vom Erzähler fokalisierte Ekphrasis des Hafens von Phorkys, des späteren Schauplatzes, analysiert. Sie charakterisiert den Ort durch seine Funktion für Seefahrer und typische Vorgänge, übergeht aber die äußere Erscheinung wie Größenverhältnisse, Farben, Formen und nicht-handlungsrelevante Details. In der Folge der Ortsangaben bewegt sich der Erzähler vom offenen Meer ins Innerste des Ortes, die Höhle. Diese Bewegung geht mit einer Sakralisierung des idyllischen Ortes einher, welche die folgende Szene vorbereitet und programmatisch für die ganze zweite Hälfte der Odyssee ist. In mehrfacher Hinsicht bereitet die Ekphrasis somit den Erkenntnisprozess des Odysseus vor. Einerseits dient sie den Rezipierenden als Kontrastfolie für die Fehlwahrnehmung. Andererseits greift Athene sie bei der endgültigen Enthüllung des Ortes auf. Auch mit der Handlung ist sie eng verknüpft, da Odysseus seine Schätze in der Höhle verstecken und sich mit Athene unter dem Ölbaum beraten wird. Der vom Nebel getrübte Blick des Odysseus und die erste Beschreibung, die Athene in Gestalt des Hirten liefert, zeigen Ithaka in einer Weise, in der es nicht sicher zu identifizieren ist. Ein Vergleich mit Odysseus’ eigener Beschreibung vor den Phäaken und mit den späteren untrüglichen raumreferentiellen Hinweisen Athenes gibt Aufschluss darüber, was Ithaka als Raum unvergleichlich macht. Der unbestimmte, allgemeine Blick des Odysseus im Nebel sieht lediglich ein unspezifisches Gesamtbild der Landschaftskomposition. Dies reicht nicht aus, um Ithaka zu erkennen – offensichtlich fehlen Details und die Übereinstimmung mit der Erinnerung. Eine bloß verbale Enthüllung reicht Odysseus jedoch auch noch nicht, zumal er andere Aspekte Ithakas als identitätsstiftend erachtet, wie seine Beschreibung im neunten Buch zeigt. Für ihn machen seine persönliche Schicksalsverbundenheit und seine Familie Ithaka aus, deren topographische Besonderheiten nur unter diesem Aspekt von Bedeutung sind. Nur weil Odysseus auf eben die räumliche Gegebenheit hingewiesen wird, die der Erzähler eingangs in seiner Ekphrasis nennt und die Athene zum Teil wörtlich wiederholt, kann er Ithaka wiedererkennen. Einzig die eigene visuelle Wahrnehmung, die Nennung der konkreten Namen und die Verknüpfung mit der eigenen Geschichte bewirken die Erkenntnis. Indem er lediglich einen Ausschnitt genau beschreibt, liefert der Erzähler keine umfassende Darstellung Ithakas. Ein Gesamtbild der Insel ergibt sich für die Rezipierenden nur aus den drei Beschreibungen der Figuren. In diesen wirkt die Heimat des Odysseus unscheinbar. Der bewaldete Berg Neritos ist zwar ein

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positives Merkmal, doch ansonsten zeichnet sich Ithaka besonders durch seine Mängel aus: Es ist rau und unwegsam, hat kaum Wiesen und nur Ziegenweiden. Dennoch ist es als Herkunftsraum des Odysseus von großer Bedeutung. Es lässt sich sogar behaupten, dass die Identität des Odysseus und die Ithakas sich wechselseitig bedingen: Ithaka ist als Heimat, die seine Familie und seine Vorfahren bewohnen, für Odysseus identitätsstiftend. Umgekehrt hätte Ithaka ohne den Ruhm des Odysseus keine besondere Bedeutung. In der Mitte des Epos, in der Odysseus das Ende seiner Irrfahrten und den Anfang seiner endgültigen Heimkehr erst zeitversetzt realisiert, schafft die Verhandlung des Herkunftsraumes als Ankunftsraum Gelegenheit, das neue göttliche Kräfteverhältnis zu bestärken, das Odysseus’ Schicksal beschließt: Athene, die sich Odysseus aus Angst vor Poseidon zum letzten Mal in Troja gezeigt hatte, ist wieder an seiner Seite und steht ihm mit der für beide typischen List bei, die sie mit ihrer Täuschung demonstriert und die im Gegensatz zu Poseidons Gewalttätigkeit steht. Der Ankunftsraum wird für Odysseus kurzfristig zum Transitionsraum „von anderer Gestalt“ (ἀλλοειδέα, 13, 194), die in ihrer Fremdheit nicht näher bestimmt ist. Dass Odysseus sich in dieser Zeit gewissermaßen außerhalb des wirklichen Raumes befindet und seine Erkenntnis verspätet erfolgt, ermöglicht ihm eine Neuorientierung, in der auch die alten Zeichen ihre Bedeutung zurückerlangen.

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Ankunftsraum und Herkunftsraum im 13. Buch der Odyssee 

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Felix Mundt

Jüngling trifft Mädchen – Leser trifft Welt Herkunftsräume im griechischen Liebesroman

1 Einleitung: Der griechische Roman und die Narratologie von Zeit und Raum Dank der Koinzidenz des erheblich gestiegenen Forschungsinteresses am antiken Roman und der Ankunft des spatial turn in den Altertumswissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts herrscht an sich kein Mangel an Studien, die beides miteinander verbinden. Die Konzentration auf die Nullpunkte oder ‚Origines‘ der Erzählungen bietet jedoch die Chance, nicht nur die Grundzüge der narratologischen Erforschung des antiken Romanraumes an einer begrenzten Zahl prominenter Fallbeispiele nachzuzeichnen, sondern auch zu untersuchen, ob und inwieweit sich Konzepte, die für die Gesamtheit des Romans von Bedeutung sind, auch in der Exposition der Räume wiederfinden, mit denen der Leser zuerst konfrontiert wird und die in den meisten Fällen auch mit der Heimat der Protagonisten identisch sind. Seit Bachtin, der für die Erforschung des Raumes im griechischen Roman wichtige Impulse geliefert hat, wird der Raum erstens stets in Verbindung mit erzählter Zeit und Erzählzeit betrachtet, zweitens mit dem möglichen geographischen Erfahrungshorizont des Autors und seiner zeitgenössischen Leser kontrastiert. Die Schwierigkeiten, die sich aus beiden Verfahren ergeben, betreffen gerade auch die Herkunftsräume und sollen daher vorab kurz skizziert werden. Die narratologische Erforschung des Raumes hat in vielerlei Hinsicht von der Narratolgie der Zeit gelernt und versucht, deren Konzepte zu übertragen, so zum Beispiel durch die Transformation des Dualismus von erzählter Zeit und Erzählzeit1 in die Begriffe von fabula space und story space.2 Genette hat das Problem, dass die erzählte Zeit wiederum dreigeteilt ist, in die ausführlich dargestellte, die

1 Dazu grundlegend Genette 2010, 17−19. 2 Das Begriffspaar stammt ursprünglich von Chatman 1980, 96, dort erscheint der fabula space als discourse space. De Jong 2012, 2−3 nimmt die beiden Termini als Leitbegriffe für die Erforschung des Raums in der antiken Literatur auf.

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 Felix Mundt

summarisch zusammengefasste und die vom Leser als Voraussetzung des Erzählten zu erschließende,3 dadurch gelöst, dass er die Romanzeit in die Kategorien „Ordnung“ und „Dauer“ unterteilt und in dieser Weise getrennt behandelt hat. In der Erforschung des Raumes bereitet die Zweiteilung in story space und fabula space noch Probleme, da streng genommen der story space als Analogie zur Erzählzeit die Dicke eines Codex oder der Umfang einer Buchrolle sein müsste, die sich durch mathematische Operationen in Erzählzeit umrechnen ließen und daher keinen ‚Mehrwert‘ gegenüber der Analyse der Erzählzeit böten. Oft aber wird story space als Summe der ausführlicher dargestellten Ereignisräume verstanden, fabula space als Gesamtheit der durch kurze Erwähnungen vom Erzähler beiläufig konstruierten oder der beim Leser als bekannt vorausgesetzten und für das Verständnis der Handlung notwendigen Roman-Welt.4 Um bei der Analyse der Herkunftsräume einer ähnlichen begrifflichen Unschärfe zu entgehen, muss zwischen der Heimat der Helden, dem ersten ausführlich beschriebenen Handlungsort (dieser kann auch der Schauplatz einer Rahmenhandlung sein) und dem Ort, an dem die Chronologie der Ereignisse ihren Anfang nimmt, klar unterschieden werden. Diese Komplexität der Beziehungen zwischen Raum und Zeit hatte Michail Bachtin unterschätzt, als er den antiken Roman als vermeintlich einfach zu erfassenden Ausgangspunkt für seinen berühmten ‚Chronotopos‘, den ZeitRaum, wählte, von dem er sich trotz bescheidener Einschränkungen vermutlich erhoffte, er werde innerhalb der Literaturwissenschaften eine ähnliche Bedeutung erlangen wie die Raumzeit eines Einstein. Innerhalb der Klassischen Philologie hat sich die anfängliche Hoffnung, mit Bachtins Hilfe an einer großen literaturwissenschaftlichen Relativitätstheorie des Romans mitarbeiten zu können, zwar nicht erfüllt, doch beginnt mit ihm bzw. mit der Distanzierung von seiner stark vereinfachenden Sichtweise die moderne Erforschung des Raumes im griechischen Roman. So kann auch der vorliegende Beitrag mit dem ‚Chronotopos‘ seinen Anfang nehmen, um auf diese Weise die spezifische Frage nach den Herkunftsräumen in die größeren Zusammenhänge der Erforschung des antiken Romanraumes einzubetten.

3 Ein Paradebeispiel, das auch Genette 2010, 19−20 zitiert, ist die Ilias, deren zeitliche Struktur bei Latacz 2000, 152, 154 vorbildlich graphisch dargestellt ist. Die Grundzüge des zehn Jahre währenden Trojanischen Krieges werden als grundsätzlich bekannt beim Leser oder Hörer vorausgesetzt und gelegentlich durch Rückblenden und Vorausschau angedeutet. Die eigentliche Erzählung beschränkt sich auf 51 Tage. Dabei werden wiederum auf die sechs Tage, die den Handlungskern bilden, 13444 von 15682 Versen verwendet. 4 Zu dieser begrifflichen Verwirrung vgl. de Jong 2012, 3−5 und die zugehörige Rezension von Grethlein 2012.

Herkunftsräume im griechischen Liebesroman 

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Bachtin unterteilte den antiken Roman in drei Subgattungen, den „abenteuerlichen Prüfungsroman“, dem alle vollständig erhaltenen griechischen Liebesromane zugerechnet werden, den „abenteuerlichen Alltagsroman“ (Petron und Apuleius) sowie den „biographischen Roman“, für den er kein vollgültiges antikes Beispiel zu nennen vermochte. Vermutlich begann er mit dem griechischen Roman, weil dieser ihm in verschiedener Hinsicht als besonders simpel erschien. Erstens nämlich, so Bachtin, sei der Raum des griechischen Romans ein fast völlig abstrakter und von der geographischen Realität weitgehend unbeeinflusst. Das Meer sei eben irgendein Meer, eine große Stadt (mag sie auch Syrakus oder Alexandria genannt werden) irgendeine Stadt usw.5 Zweitens spiele die Zeit für die Handlung keinerlei Rolle, was man daraus ersehen könne, dass die Protagonisten im Laufe ihrer ausgedehnten Reisen und Irrfahrten weder einem körperlichen noch einem geistigen Reifungsprozess ausgesetzt seien. Die Zeit ist bei Bachtin gewissermaßen ein Nullwert, in dessen Nichts der Raum substituierend eintritt.6 Er hat also den Verlauf der Zeit an den Alterungsprozess der Figuren gekoppelt, möglicherweise beeinflusst von Einsteins Zwillingsparadoxon, nach dem ein (allerdings mit Lichtgeschwindigkeit) reisender Mensch überhaupt nicht oder weniger altert als ein auf der Erde verbleibender Zwillingsbruder. Viele Einwände drängen sich auf und sind längst geäußert. Der erste und wichtigste ist, dass auch innerhalb des auf den ersten Blick homogenen Genres des griechischen Liebes- und Abenteuerromans der Umgang mit dem Raum innerhalb der einzelnen Werke zu unterschiedlich ist, als dass man auf wenigen Seiten eine übergreifende Theorie des griechischen Romanraums aufstellen könnte. Außerdem steht etwa bei Daphnis und Chloe das Heranwachsen und körperliche Reifen der Protagonisten geradezu im Mittelpunkt der Handlung.7 Eine zentrale Passage aus Bachtins Überlegungen zur Welt des Romans berührt bei genauem Hinsehen gerade das Problem der Herkunftsräume:

5 Vgl. Bachtin 2008, 24; vgl. kritisch Connors 2002, 12. 6 Bachtin 2008, 13: „Auch verfügt die Zeit im griechischen Roman über keine elementare biologische, altersbezogene Dauer. […] Die Zeit, in deren Verlauf sie [sc. die Protagonisten] eine unglaubliche Zahl von Abenteuern zu bestehen haben, wird im Roman nicht bemessen und nicht berechnet. […] Die griechische Abenteuerzeit bedarf einer abstrakten räumlichen Extensität. […] Das Abenteuer braucht, um sich entfalten zu können, Raum, viel Raum.“ Vgl. kritisch Konstan 2002, 1. 7 Zudem finden sich in auch in den übrigen Romanen explizite Hinweise auf die Entwicklung der Helden und auf den Umstand, dass die vielen ihnen begegnenden Zwischenfälle nur scheinbar zufällig und damit in ihrer zeitlichen Abfolge und inneren Logik beliebig sind (vgl. Whitmarsh 2005, 116−119).

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Der Abstraktionsgrad, der für die griechische Abenteuerzeit unerlässlich ist, wäre bei einer Darstellung der eigenen heimischen Welt […] gänzlich unrealisierbar. Deshalb ist die Welt des griechischen Romans eine fremde Welt. […] Die Helden sind zum ersten Mal in dieser Welt: zwischen ihr und den Helden bestehen keinerlei wesentliche Zusammenhänge oder Beziehungen. […] Die Fremdheit dieser Welt wird in den griechischen Romanen jedoch nicht hervorgekehrt und darf deshalb auch nicht als exotisch bezeichnet werden. Bei der Exotik wird das Fremde vorsätzlich dem Eigenen gegenübergestellt […]. Das gibt es im griechischen Roman nicht. Dort ist alles fremd, auch das Heimatland der Helden […], und man findet hier auch nicht das, was als das Heimatliche, Gewohnte und Bekannte (das Heimatland des Autors und seiner Leser) impliziert ist […].8

In ihrer Radikalität sind fast alle diese Aussagen falsch.9 Bachtin ist offenbar erstens der Ansicht, dass die Romanhelden einer echten Heimat in dem Sinne entbehren, dass diese ihr Wesen als ‚typischer Junge aus Tyros‘ oder ‚typisches Mädchen aus Ephesus‘ erkennbar geprägt hätte. Dem kann man noch zustimmen. Problematischer ist die zweite Aussage, dass ein zeitgenössischer Leser nichts hätte identifizieren können, das mit seiner eigenen Heimat oder der des Autors zu tun hätte, und sich daher in der Welt des Romans fremd fühlen müsse. Dass der Raum des griechischen Romans, seine Inseln und Städte, historisch identifizierbarer Merkmale entbehren, kann eine Identifikation gerade breiter Leserschichten, die die Welt des Romans mit Hilfe ihrer subjektiven geographischen Kenntnisse, ihrer persönlichen Imagination und – nicht zu vergessen – ihrer vorgängigen Leseerfahrung10 ergänzen, erst ermöglichen. Was meint Bachtin ferner damit, wenn er sagt, die Helden seien zum ersten Mal in dieser Welt des Romans? – Er erklärt es nicht näher, und so ist das, was nun folgt, nicht mehr Bachtin, sondern nur von der Unvollständigkeit seiner Überlegungen angeregt. Möglicherweise ist der Gegensatz zur Welt des Mythos mitgedacht. Der Leser (oder Hörer) der Odyssee ist nicht zum ersten Mal mit Odysseus auf Reisen. Was er liest, ist weder das erste Abenteuer im Leben des Helden noch die erste Begegnung mit seinem Namen. Das antike Epos greift aus einem allgemein bekannten

8 Bachtin 2008, 25. 9 Vgl. die differenzierte Kritik von Branham 2002. Die negative Grundhaltung zum griechischen Roman hatte Bachtin von Rohde übernommen, dessen Buch er kannte und schätzte, vgl. Whitmarsh 2005, 113. 10 So folgt die Beschreibung der Lage und Beschaffenheit von Tyros bei Achilleus Tatios (s. unten Anm. 45) einem bekannten Schema, das auf alle unter Alexander dem Großen ausgebauten und über Brücken oder Dämme mit dem Festland verbundenen Insel- bzw. Halbinselstädte angewandt werden konnte. Vgl. die zeitgenössische Beschreibung von Kyzikos bei Aelius Aristides 27, 11−12. Ein Leser des 2. Jahrhunderts dürfte sich angesichts einer idealtypischen Beschreibung einer idealtypischen hellenistischen Stadt durchaus wie zu Hause gefühlt haben, auch wenn er selbst unter ganz anderen Verhältnissen lebte.

Herkunftsräume im griechischen Liebesroman 

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Sagenkreis eine Episode heraus, die es ausgestaltet. Es setzt die Kenntnis dessen, was seinem Inhalt vorausgeht und folgt, voraus und arbeitet mit diesem Wissen des Rezipienten.11 Jeder antike Rezipient der Odyssee wusste vorab, dass das Ziel des Helden der Ort seiner Herkunft ist: Ithaka.12 Leukippe und Kleitophon, Daphnis und Chloe aber sind keine mythologischen Gestalten. Sie haben kein Leben außerhalb ‚ihres‘ Romans, ihre Abenteuer sind nicht Teil eines Zyklus. Ebenso wenig kennt der Leser ihren Herkunftsraum, bevor er den Roman zur Hand nimmt. Die Helden entstehen für den Leser im gleichen Moment wie ihre Welt. Das Verhältnis der beiden Ursprungsorte (der Herkunft des Helden und des Ortes, an dem eine Erzählung beginnt) ist von großer Bedeutung für die Interpretation des Gesamtplots. Nehmen wir als Beispiel Vergils Aeneis. Aeneas’ Heimat ist Troja, doch nicht dort beginnt die Aeneis, sondern im Seesturm vor Sizilien. Je nach dem, welchen Herkunftsraum man fokussiert, offenbart sich eine andere Bedeutung der Reise: vom Chaos zum Frieden oder von Troja nach Rom. Noch größer ist die Freiheit eines Romanautors. Er kann von Anfang an ohne Rücksicht auf eine mythologische Tradition alle Anfangsorte frei wählen und ausgestalten: Die Heimat der Protagonisten, den Ort, an dem das früheste im Roman erzählte Ereignis stattfindet und den Ort, mit dem sein Buch beginnt. Diese Freiheit wird, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, von den meisten Autoren virtuos genutzt, um die Rezeption des Lesers zu steuern und gleichzeitig das Konzept einzuführen, das der gesamten Handlung zugrundeliegt.

2 Chariton, Kallirhoe und Xenophon, Ephesiaka Fünf griechische Liebesromane sind vollständig erhalten: (1) Chariton, Kallirhoe, entstanden spätestens im 1. Jh. n. Chr.;13 (2) Xenophon von Ephesos, Ephesiaka (vermutlich 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts);14 (3) Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts); (4) Longos, Daphnis und Chloe (wohl

11 So ähnlich formulierte es bereits Rohde 1914, 180. Weitere anregende Gedanken zum Vergleich des Romanraumes mit der Welt des klassischen Mythos findet man bei Schmeling 2003, 430−433. 12 Analog weist Vergil seine Leser darauf hin, dass Aeneas auf seinen Irrfahrten von Troja nach Italien im Grunde auf dem Weg in die Heimat seiner Vorfahren ist: Verg. Aen. 3, 167. 13 Eine ausführliche Diskussion der mutmaßlichen Entstehungszeit des Romans bietet Tilg 2010, 36−79, der für eine Datierung in die Mitte des 1. Jh. n. Chr. plädiert. 14 O’Sullivan 1995, 3, 9 plädiert für eine frühere Datierung. Tilg 2010, 87−90 setzt ihn nach Chariton an.

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um 200); (5) Heliodor, Aithiopika (spätes 3. oder 4. Jahrhundert).15 Die Ephesiaka sind der schlichteste Vertreter der Gattung. Ihre Orte, auch der Herkunftsraum, besitzen die Mängel, die man von Erwin Rohde bis Michail Bachtin dem griechischen Roman immer wieder vorgeworfen hat, am deutlichsten. Personen und Orte sind schematisch und schwach konturiert.16 Statt in Ephesos könnte der Beginn des Romans an jedem beliebigen anderen Ort spielen. Die Familien der Brautleute scheinen von freundlicher Wesensart zu sein, bleiben aber blass. Habrokomes und Anthia sind jung und schön, die Volksmenge beim Artemisfest ist reine Staffage, ein Haufen von Mündern, die die Schönheit der beiden Protagonisten zu preisen haben.17 Bachtins pauschale Charakterisierung der eindimensionalen Raumzeit im griechischen Roman lässt sich hier noch am ehesten begründen. Für die Betrachtung der Herkunftsräume sind die vier anderen wesentlich ergiebiger. Chariton eröffnet seinen Roman Kallirhoe mit dem Satz: Χαρίτων Ἀφροδισιεύς, Ἀθηναγόρου τοῦ ῥήτορος ὑπογραφεύς, πάθος ἐρωτικὸν ἐν Συρακούσαις γενόμενον διηγήσομαι. Ich, Chariton aus Aphrodisias, Sekretär des Rhetors Athenagoras, werde ein Liebesleid schildern, das in Syrakus begonnen hat.18

Im Stil eines Historiographen19 benennt der Autor sich selbst und den Gegenstand seines Werkes, der hier allein über den Herkunftsraum der beiden Protagonisten Chaireas und Kallirhoe genauer definiert wird.20 Im nächsten Satz wird der Roman zeitlich verortet:

15 Zur Einführung noch immer geeignet ist Holzberg 1986. Etwas ausführlicher und auf neuerem Stand sind die Beiträge von Reardon (Chariton), Kytzler (Xenophon), Hunter (Longos), Plepelits (Tatios) und Morgan (Heliodor) in: Schmeling 1996, 309−456. Sicher ist, dass Charitons Roman der früheste, Heliodors der späteste ist. Die relative Chronologie der mittleren wird teilweise nach dem Grad der Komplexität der Handlung und der Kunstfertigkeit der Darstellung erschlossen. 16 Vgl. Rohde 1914, 182. Schmeling 1980, 86: „Many scholars agree in calling Xenophon’s novel crude. I also, but not because the structure is weak. The novel is crude because the leading characters are weak (almost shadowy); the characters do not develop, grow or learn.“ Vgl. auch Kim 2008, 152. 17 König 2007, 8−13 hebt die Bedeutung von Sprache und Mündlichkeit bei Xenophon hervor. Dazu gehören natürlich auch die Äußerungen der Volksmenge beim Artemisfest zu Beginn des Romans. Ein engerer Bezug zum Raum des Romans oder speziell zum ephesischen Herkunftsraum lässt sich jedoch nicht herstellen. 18 Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser. 19 Vgl. Hunter 1994, 1068; Connors 2002, 14; Bartsch 1934; Smith 2007, 153; Tilg 2010, 217−18. 20 Chariton schließt damit die von späteren Autoren genutzte Möglichkeit der Trennung von

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Ἑρμοκράτης ὁ Συρακοσίων στρατηγός, οὗτος ὁ νικήσας Ἀθηναίους, εἶχε θυγατέρα Καλλιρόην τοὔνομα, θαυμαστόν τι χρῆμα παρθένου καὶ ἄγαλμα τῆς ὅλης Σικελίας.  Hermokrates, der Stratege der Syrakusaner (der, der die Athener besiegt hatte), hatte eine Tochter namens Kallirhoe, ein Prachtexemplar von einem Mädchen und ein Schmuckstück von ganz Sizilien.

Damit ist die Romanhandlung in eine Zeit verlegt, die etwa ein halbes Jahrtausend vor der mutmaßlichen Entstehungszeit liegt.21 Die Stadt Syrakus, in der alles seinen Anfang nimmt, wird sich der Leser nicht als eine hellenistische Stadt vorstellen, sondern als einen selbständigen Polisstaat, dessen führende Köpfe als selbständig handelnde Politiker und Feldherrn und dessen bauliche Einrichtungen als Repräsentationsbauten einer politisch selbständigen Entität besonderes Gewicht besitzen.22 Gleich zu Beginn der Handlung verlieben sich der schönste denkbare junge Mann und das schönste denkbare junge Mädchen ineinander. Ihre rasch sich kreuzenden Wege sind gender-spezifisch gewählt:23 Chaireas kommt vom Gymnasium, Kallirhoe ist mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Tempel der Aphrodite.24 Diese Zuordnung wird auch für die Schilderung der Sehnsucht der beiden Verliebten beibehalten: Kallirhoe härmt sich in ihrem Zimmer, die Verliebtheit des Chaireas zeigt sich darin, dass er nicht im Gymnasium erscheint.25 Die Heirat der beiden jungen Leute wird bald darauf von der Volksversammlung im Theater gefordert. Obwohl ihre Familien im Streit liegen, stimmt Hermokrates um des innerstädtischen Friedens willen zu. Die Besonderheit dieses Romaneinganges wird deutlich, wenn man ihn mit den Ephesiaka des Xenophon von Ephesos (hier ist der Ausgangspunkt der Handlung sogar titelgebend)26 vergleicht. Auch dort sind es die beiden schönsten jungen Menschen der Stadt Ephesos, die Eros füreinander bestimmt. Sie begegnen sich zufällig bei einem Artemisfest. Das anwesende Volk ist sich einig, dass Habrokomes der schönste Jüngling, Anthia das schönste Mädchen ist. Die äußerlichen Zeichen ihrer noch unerfüllten Liebe

Autor und Erzählerfigur definitiv aus. Vgl. Morgan 2003, 173. 21 Einen wichtigen Anhaltspunkt für eine Datierung des Romans vor der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts liefert Pers. 1, 134 („his mane edictum, post prandia Callirhoen do“). 22 Vgl. Saïd 1994, 222. Smith 2007, 51−64 betont die implizite Präsenz auch Athens im Stadtraum von Syrakus. 23 De Temmerman 2012 a, 489. 24 Vgl. Charito 1, 1, 5. 25 Vgl. de Temmerman 2012 a, 489; Charito 1, 1, 8; 10. 26 Zur Rekonstruktion des genaueren ursprünglichen Wortlautes des Titels vgl. Schmeling 1980, 16. Nach O’Sullivan 1995, 1 ist der Titel besser gesichert als Name und Herkunftsort des Verfassers.

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bemerkt man in Anthias Fall im Tempel, bei Habrokomes im Gymnasion. Beide Väter befragen nun das Apollonorakel von Kolophon nach der Ursache der rätselhaften Krankheit. Das Orakel sagt beiden Familien mit den gleichen Worten Leid und Irrfahrten voraus, woraufhin beschlossen wird, die Kinder sicherheitshalber erst einmal zu verheiraten. Dass sie bald darauf auf eine Seereise geschickt werden, ist angesichts des Orakelspruches weniger verständlich.27 Bei Chariton, der sich ja bereits in seinem ersten Satz als Historiograph präsentiert, bekommen alle topischen Elemente eine politische Komponente: Die Familien stehen einander nicht neutral gegenüber, sondern sind politische Gegner. Hermokrates (†407) ist eine historische Figur, deren von Thukydides und Xenophon bezeugte Würde28 auch auf Kallirhoe und ihren Mann abfärbt. Ihre Verbindung erfolgt auf Wunsch der Volksversammlung. Auch wenn nicht ausdrücklich gesagt wird, dass die Volksversammlung bei diesem Akt der Willensbekundung den inneren Frieden im Blick hat, bedeutet doch wahrscheinlich die Hochzeit das Ende der Feindschaft zwischen zwei bedeutenden syrakusanischen Familien. So wie in der Historiographie oftmals die Liebe der Illustration größerer politischer Zusammenhänge dient, so dient hier der – wenn auch grob gezeichnete – historischpolitische Kontext der Illustration der Liebe.29 Wie der Herkunftsraum der beiden Protagonisten ist auch der Abenteuerraum zumindest partiell ein historischer. Der letzte, der vor dem glücklichen Ende der Schönheit Kallirhoes verfallen wird, ist der persische König Artaxerxes II. (reg. 404–359); gegen ihn kämpft Chaireas auf Seiten der Ägypter wie der Athener Chabrias im Dienst des Pharaos Akoris im Jahr 380.30 Die Lebenszeit des Hermokrates und die Regierungszeit des Artaxerxes überschneiden sich nicht, die Einbettung der Handlung in den historischen Kontext ist also bewusst nicht ohne Bruch durchgeführt.31 Dennoch zeigt sich bereits im Herkunftsraum der Kallirhoe die Historiographie als das eine wichtige Modell des griechischen Romans. Auch das zweite, das Epos, hat im Syrakus des Romans seine Spuren hinterlassen.32 Urheber des Unheils sind bei Chariton die enttäuschten Freier der Kallirhoe, der Sohn des Tyrannen von Reggio und der Tyrann von Agrigent. Jener will Chaireas einfach töten, doch dieser ersinnt listi-

27 Vgl. Schmeling 1980, 84−85. 28 Vgl. Xen. HG 1, 1, 30−31; Thuc. 4, 48−64. 29 Die wenigen tatsächlich historisch fassbaren Elemente in der Beschreibung der Stadt Syrakus bei Chariton identifiziert Connors 2002, 15−16, 18−21. Connors 2008, 164–165 weist darauf hin, dass der Roman auch vor der Volksversammlung in Syrakus endet. Diese wird als spezifischer Ort innerhalb der Stadt Syrakus als Ausgangs- und Zielpunkt privilegiert. 30 Vgl. Diod. 15, 29; Kirchner 1899, 2018. 31 Vgl. Hunter 1994, 1057. 32 Allgemein zum Einfluss der homerischen Epen auf Chariton Ruiz-Montero 1994, 1017−18.

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gere Pläne, deren zweiter gelingt. Er heuert zwei Komplizen an. Der eine erzählt Chaireas vom angeblichen Ehebruch seiner jungen Frau, der zweite spielt kurz darauf den Liebhaber, den die zuvor bestochene Magd der Kallirhoe ins Haus lässt. Chaireas beobachtet den vermeintlichen Liebhaber, stürmt daraufhin ins Haus und verletzt die nichts ahnende Kallirhoe mit einem Tritt so schwer, dass sie tot scheint und begraben wird – so beginnen die Wirrnisse. Die Reaktion des Chaireas auf die Nachricht vom Ehebruch hatte Chariton mit einem Homerzitat geschildert (Il. 18, 22−24):33 Ὣς φάτο, τὸν δ’ ἄχεος νεφέλη ἐκάλυψε μέλαινα· ἀμφοτέρῃσι δὲ χερσὶν ἑλὼν κόνιν αἰθαλόεσσαν χεύατο κὰκ κεφαλῆς, χαρίεν δ’ ᾔσχυνε πρόσωπον· So sprach er; jenen aber bedeckte die düstere Wolke des Leides. Mit beiden Händen nahm er schwarzen Staub und streute ihn sich aufs Haupt, entstellte so sein schönes Gesicht.

Es ist die Reaktion Achills auf die Nachricht vom Tod des Patroklos. So wird zunächst der Held des Romans mit dem zornigen Haupthelden der Ilias in Verbindung gebracht. In etwas abgewandelter Form werden die Verse in der Odyssee zitiert:34 Odysseus trifft auf seinen Vater Laertes, der ihn für einen Fremden hält und nach dem Schicksal seines Sohnes fragt. Odysseus klärt seinen Vater zunächst nicht auf, stellt sich mit falschem Namen vor und sagt, er wisse nichts von Odysseus. Erst die in den fraglichen Versen beschriebene Reaktion der Trauer stimmt ihn um, und er gibt sich als Sohn zu erkennen. Nehmen wir diese Stelle als Prätext hinzu, ergeben sich als Parallelen im Roman erstens die Reaktion auf eine Lügenrede, zweitens die Ähnlichkeit des Herkunftsraumes des Chaireas mit der Heimat des Odysseus, in der die Begegnung zwischen ihm und Laertes sich abspielt und die bereits durch die Erwähnung der Freier bei Chariton evoziert wurde. Im letzten Buch der Odyssee wird Odysseus in Ithaka allmählich wieder heimisch, das Epos ist an sein Ziel gelangt, der Roman aber nimmt hier seinen Anfang. Syrakus wird sowohl als historischer wie als epischer Ort gezeichnet. Für Chariton ist das 5. Jahrhundert so weit entfernt wie die mutmaßliche Zeit des Trojanischen Krieges für Homer bzw. die Rhapsoden des 8. Jahrhunderts. Die histo-

33 Vgl. Esposito 2004. Insgesamt sind 27 Homerzitate über den Roman verteilt, vgl. Holzberg 1986, 57. 34 Od. 24, 315−317: Ὣς φάτο, τὸν δ’ ἄχεος νεφέλη ἐκάλυψε μέλαινα·/ ἀμφοτέρῃσι δὲ χερσὶν ἑλὼν κόνιν αἰθαλόεσσαν / χεύατο κὰκ κεφαλῆς πολιῆς, ἁδινὰ στεναχίζων. („So sprach er; jenen aber bedeckte die düstere Wolke des Leides. Mit beiden Händen nahm er schwarzen Staub und streute ihn sich aufs Haupt, bitterlich seufzend.“)

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rische Schärfe von Orten und Personen kann mit Leichtigkeit in ähnlicher Weise verwischt werden wie im Epos. Den bei Chariton nur fühlbaren, aber nicht explizit ausgestellten Kunstcharakter des Raumes haben die nachfolgenden Autoren bewusst betont.

3 Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon In Leukippe und Kleitophon beginnt der Erzähler bei seiner Ankunft in Sidon, wo er unter Weihgeschenken ein Gemälde sieht, das er ausführlich beschreibt.35 Es zeigt den Raub Europas durch den Stier – ihre Abreise aus Sidon.36 Land und Meer sind auf dem Bild zu sehen. An Land ein locus amoenus, ein einsamer Bauer, der einen Kanal gräbt, die Gespielinnen Europas am Strand. Auf dem Meer sehen wir Europa auf dem Stier wie auf einem Schiffe sitzen, um den Stier tanzen Delphine, von einem Eros wird er gezogen. Auf einen Stoßseufzer des Erzählers über die Macht des Eros hin tritt ein junger Mann heran und deutet an, auch er habe Erfahrung mit der Macht der Liebe. Der Erzähler nimmt ihn bei der Hand, führt ihn an einen klaren Bach inmitten eines Platanenhains und fordert ihn auf, seine Geschichte zu erzählen. Damit ist die Rahmenhandlung beendet. Sie wird am Ende des Romans nicht wieder aufgenommen.37 So ist Kleitophon als Ich-Erzähler etabliert. Er stamme aus Tyros, so berichtet er, und sei von seinem Vater schon seiner Halbschwester versprochen worden. Da kündigt ein Brief die Ankunft seiner Cousine Leukippe aus Byzantion an. Vater und Sohn eilen zum Strand und sehen sogleich die Reisegesellschaft landen (1, 4, 1−3): ἐν μέσοις δὲ ἦν γυνὴ μεγάλη καὶ πλουσία τῇ στολῇ. ὡς δὲ ἐνέτεινα τοὺς ὀφθαλμοὺς κατ’ αὐτήν, ἐν ἀριστερᾷ παρθένος ἐκφαίνεταί μοι καὶ καταστράπτει μου τοὺς ὀφθαλμοὺς τῷ προσώπῳ. τοιαύτην εἶδον ἐγώ ποτε ἐπὶ ταύρῳ γεγραμμένην Σελήνην […].

35 Abgesehen von den einleitenden Ekphraseis von Landschaftsmalerei bei Achilleus Tatios und Longos ist die wenig beachtete sog. Tafel des Kebes ein wichtiger Vertreter der symbolbeladenen und indirekten, d. h. über die Beschreibung einer bildlichen Darstellung laufenden Ortsekphrasis. Dazu vgl. Hafner 2013. 36 Das Sidon, in dem der Erzähler sich befindet und in dem die Rahmenhandlung beginnt, und das Sidon des Gemäldes sind gleichzeitig eines und verschieden: Beides ist Sidon, doch das eine ein ‚reales‘ bzw. als real beschriebenes, das andere ein gemaltes, bzw. als gemalt beschriebenes, vgl. de Temmerman 2012 c, 519. So wird der Kunstcharakter des gesamten Handlungsraumes betont. 37 Vgl. Harlan 1965, 95: „The picture-viewing scene is pure plot-machinery […].“

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In ihrer Mitte befand sich eine große Frau. Ihr Gewand verriet, dass sie wohlhabend war. Als ich meinen Blick auf sie richtete, zeigte sich mir zur linken Seite ein Mädchen und blendete mir durch ihr Antlitz die Augen. So hatte ich einst Selene auf dem Stier abgebildet gesehen.

Viel ist bereits über den eben skizzierten Romaneingang geschrieben worden. Unstrittig ist, dass er eine die Rezeption disponierende Funktion besitzt. Am weitesten geht dabei die Ansicht, dass jedes einzelne Element der Romanhandlung in seinem Beginn zu finden, das Bild also als Schlüssel zu allem Folgenden und Arsenal stark verdichteter Leitmotive zu verstehen sei.38 So wurde etwa diskutiert, ob Kleitophons Vergleich Leukippes mit Selene nicht – in Übereinstimmung mit einigen Handschriften – zu Europa geändert werden müsse, um die Parallelität noch deutlicher zu machen.39 Meines Erachtens dient der Romananfang hingegen nicht der leitmotivischen Vorbereitung der Handlung, sondern erstens der Einbettung des Romans in bekannte Traditionen der Mythologie und der Historiographie und zweitens der Etablierung einer dem Roman unterliegenden Theorie der Verknüpfung von Wahrnehmung und Liebesempfinden. Europa auf dem Stier war eines der beliebtesten Motive der hellenistischen Kunst.40 Moschos widmete ihrer Entführung ein ganzes Gedicht, worin wiederum das Schicksal Europas in der Ekphrasis ihres Blumenkorbes, auf dem Zeus und Io abgebildet sind, spiegelbildlich (Io als Kuh, Zeus in Menschengestalt) vorweggenommen wird.41 Mit dem Raub der Io in Argos durch phönizische Kaufleute und der phönizischen Prinzessin Europa durch Griechen hatte wiederum Herodot seine Historien begonnen42 und so ein halbmythisches Aition für die Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren (also den Einwohnern Asiens) gegeben.43 Die antiken Autoren sind sich nicht einig, ob Europa aus Sidon oder Tyros stammte und nennen bisweilen beide Städte nebeneinander als ihre Heimat.44 Sie ist also mit beiden Städten verbunden, die am Anfang des Leukippe-Romans stehen, dem Sidon der Rahmenhandlung und Tyros, der Heimat Kleitophons. Die Beschreibung Sidons, wie es auf dem Bild dargestellt

38 Vgl. v. a. Bartsch 1989. Kritik bei Morales 2004, 39 und von Möllendorff 2009, 152. Morales 2004, 48, negiert die integrative Kraft des Bildes. Es sei vielmehr ein Element der Divergenz. „It makes manifest the multiple narrative possibilities of the sign.“ 39 Vgl. Cueva 2006; von Möllendorff 2009, 150–151; Morales 2004, 38−44. 40 Vgl. Harlan 1965, 98−101. 41 Vgl. Mosch., Europa 37−62. 42 Vgl. Hdt. 1, 1−2. 43 Auf den Frauenraub als gemeinsames Thema zweier Kontinente spielt übrigens auch Chariton an, wenn er Kallirhoe sagen lässt (5, 5, 3): διήγημα καὶ τῆς Ἀσίας καὶ τῆς Εὐρώπης γέγονα („Ich bin zu einer Geschichte sowohl Asiens als auch Europas geworden.“) 44 Vgl. Escher 1907, 1291. Vgl. Ov. fast. 5, 605 („Tyria puella“), 610, 617 („Sidonis“).

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gewesen sein soll, als Landschaft, in der Land und Meer miteinander verwoben sind, korrespondiert mit der Beschreibung von Tyros in 2, 14, 2−3.45 Über Herodot knüpft der Roman an die Historiographie als wichtige Leitgattung an. Der mythische Frauenraub ist nicht nur Urgrund für bedeutende historische Ereignisse, sondern weist auch auf die kommende Romanhandlung voraus. Wie aber ist es der Umstand zu deuten, dass die Legende von Zeus und Europa gerade in Form der Ekphrasis eines Bildes berichtet wird? Erstens wird dadurch auf den fiktionalen und artifiziellen Charakter des Buches verwiesen und so ein gewisser Abstand zur Historiographie gewahrt. Ein zweiter Aspekt wird deutlich, wenn man den weiteren Verlauf der Rahmenhandlung in die Überlegung mit einbezieht. Vom Marktplatz aus gehen der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung und Kleitophon in ein Platanenwäldchen. Der Erzähler übernimmt dabei eine aktive Rolle. Er nimmt Kleitophon an der Hand, führt ihn an einen Platz dicht an einem klaren Bach und fordert ihn auf, sich zu setzen und zu erzählen. Dieser Teil des Romaneingangs ist nach dem Beginn des platonischen Phaidros gestaltet.46 Dort möchte Sokrates von Phaidros die Rede des Lysias über die Liebe hören. Sie kommen überein, am Flüsschen Ilissos entlangzuspazieren und sich ein geeignetes Plätzchen für die weitere Unterhaltung zu suchen. Phaidros deutet auf eine Platane in der Ferne. Auf dem Weg fragt er Sokrates, ob nicht an diesem Fluss einst Boreas die Oreithyia geraubt habe, an einem Ort, an dem es sehr wahrscheinlich sei, spielende Mädchen anzutreffen.47 Die Umgebung der Platane, unter der Phaidros und Sokrates sich schließlich niederlassen, wird von Sokrates

45 ἐρίζει δὲ περὶ ταύτης γῆ καὶ θάλασσα. […] καὶ γὰρ ἐν θαλάσσῃ κάθηται καὶ οὐκ ἀφῆκε τὴν γῆν· συνδεῖ γὰρ αὐτὴν πρὸς τὴν ἤπειρον στενὸς αὐχήν, καὶ ἔστιν ὥσπερ τῆς νήσου τράχηλος. οὐκ ἐρρίζωται δὲ κατὰ τῆς θαλάσσης, ἀλλὰ τὸ ὕδωρ ὑπορρεῖ κάτωθεν. ὑπόκειται δὲ πορθμὸς κάτωθεν ἰσθμῷ·καὶ γίνεται τὸ θέαμα καινόν, πόλις ἐν θαλάσσῃ καὶ νῆσος ἐν γῇ. („Um die Stadt streiten sich Erde und Meer. Sie liegt im Meer, hat aber die Verbindung zur Erde nicht gelöst. Denn mit dem Festland verbindet sie eine schmale Landzunge [αὐχήν heißt auch ‚Hals, Nacken‘, wie das folgende Wort τράχηλος], sie ist wie der Hals der Insel. Die Stadt ist unter dem Meer nicht fest verwurzelt, sondern das Wasser fließt unter ihr hindurch. Unterhalb der Landzunge liegt ein Hafen, und so entsteht ein neuartiger Anblick: eine Stadt im Meer und eine Insel auf dem Land“). Vgl. Guez 2005, 303. 46 Dies ist seit Längerem bekannt und in der Forschung unstrittig, vgl. den überblicksartigen Beitrag von Ni-Mheallaigh 2007. 47 Pl. Phdr. 229b: ΦΑΙ. Εἰπέ μοι, ὦ Σώκρατες, οὐκ ἐνθένδε μέντοι ποθὲν ἀπὸ τοῦ Ἰλισοῦ λέγεται ὁ Βορέας τὴν Ὠρείθυιαν ἁρπάσαι; ΣΩ. Λέγεται γάρ. ΦΑΙ. Ἆρ’ οὖν ἐνθένδε; χαρίεντα γοῦν καὶ καθαρὰ καὶ διαφανῆ τὰ ὑδάτια φαίνεται, καὶ ἐπιτήδεια κόραις παίζειν παρ’ αὐτά. Sokrates korrigiert Phaidros daraufhin, es habe sich um einen Platz etwas weiter flussabwärts gehandelt. Er ist (229de) außerdem nicht gewillt, weiter über diese im Mythos vorherrschende Form der Liebeserzählung zu sprechen.

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als vollendeter locus amoenus beschrieben.48 An diesem von Liebe geprägten und zur Liebe geeigneten Ort beginnt nun der erste Teil des Dialogs mit drei Reden über die Liebe. Die Bedeutung des weiteren Inhalts des Phaidros für Tatios wird unterschiedlich beurteilt.49 Gerade mit Blick auf den Anfang des Romans aber ist ein im Phaidros entwickeltes Konzept von herausragender Bedeutung, nämlich der Gedanke, die Liebe entstehe durch den Ausfluss der Schönheit von der geliebten Person in die Augen des Liebenden.50 Tatios erwähnt dieses Konzept an drei Stellen.51 Der wirklich und in gewisser Weise ‚richtig‘ Liebende liebt, Sokrates zufolge, in der geliebten Person die Idee der Schönheit selbst. Die große Vorliebe des Achilleus Tatios für ausführliche Ortsekphraseis zeigt, dass er dieses Prinzip von der eigentlichen Liebesthematik auf die Gesamtheit seines Romans überträgt. Der Gesichtssinn ist der stärkste von allen – also muss ihn auch ein Schriftsteller anzusprechen versuchen.52 Er ist der wichtigste für die Erzeugung von Liebe – ein Grund mehr für den Verfasser eines Liebesromans, quasi mimetisch über das Ansprechen der visuellen Phantasie im Leser ein Abbild der Liebe zu erzeugen, die die Protagonisten füreinander empfunden haben mochten. Schließlich

48 Pl. Phdr. 230bc. 49 Graverini 2010, 62−68 identifiziert über die längst erkannte Anspielung auf den Beginn des Phaidros hinaus recht detaillierte platonische Terminologie im Roman des Tatios. Vgl. auch Hunter 1994, 1069; von Möllendorff 2009, 154. 50 Pl. Phaidr. 251b. Die Schönheit kann durch die Augen des Liebenden auch wieder zum Geliebten zurückfließen und auch diesen mit Liebe infizieren (Pl. Phaidr. 255cd); vgl. Trapp 1990, 155. 51 Ach. Tat. 1, 4, 4 direkt bei der ersten Begegnung mit Leukippe: ὡς δὲ εἶδον, εὐθὺς ἀπωλώλειν· κάλλος γὰρ ὀξύτερον τιτρώσκει βέλους καὶ διὰ τῶν ὀφθαλμῶν εἰς τὴν ψυχὴν καταρρεῖ· ὀφθαλμὸς γὰρ ὁδὸς ἐρωτικῷ τραύματι. („Als ich sie sah, war ich sofort hinüber; denn die Schönheit verwundet schärfer als ein Geschoss, und sie fließt durch die Augen in die Seele. Denn das Auge ist der Weg für die Wunde der Liebe.“); Ach. Tat. 1, 9, 4: ὀφθαλμοὶ γὰρ ἀλλήλοις ἀντανακλώμενοι ἀπομάττουσιν ὡς ἐν κατόπτρῳ τῶν σωμάτων τὰ εἴδωλα· ἡ δὲ τοῦ κάλλους ἀπορροή, δι’ αὐτῶν εἰς τὴν ψυχὴν καταρρέουσα, ἔχει τινὰ μίξιν ἐν ἀποστάσει· („Denn die Augen, die einander reflektieren, bilden wie in einem Spiegel die Abbilder der Körper ab; dieser Ausfluss der Schönheit aber, der durch die Augen in die Seele fließt, verursacht eine Art von Vereinigung, selbst bei Abstand .“) Ach. Tat. 5, 13, 4: ἡ δὲ τῆς θέας ἡδονὴ διὰ τῶν ὀμμάτων εἰσρέουσα τοῖς στέρνοις ἐγκάθηται· ἕλκουσα δὲ τοῦ ἐρωμένου τὸ εἴδωλον ἀεί, ἐναπομάττεται τῷ τῆς ψυχῆς κατόπτρῳ καὶ ἀναπλάττει τὴν μορφήν· ἡ δὲ τοῦ κάλλους ἀπορροὴ δι’ ἀφανῶν ἀκτίνων ἐπὶ τὴν ἐρωτικὴν ἑλκομένη καρδίαν ἐναποσφραγίζει κάτω τὴν σκιάν. („Die Freude der Betrachtung strömt durch die Augen ein und setzt sich in der Brust fest; sie zieht das Bild des Geliebten stets mit sich, bildet es auf dem Spiegel der Seele ab und formt seine Gestalt nach. Der Fluss der Schönheit wird durch unsichtbare Strahlen zum liebenden Herz gezogen und prägt ihm dort unten ihr Schattenbild ein.“) 52 Morales 2004, ix nennt Leukippe und Kleitophon „profoundly ocularcentric“ und „a scopophiliac’s paradise“.

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kann der visuelle Eindruck ein erster Schritt zu wahrer Erkenntnis sein (von der Betrachtung des Geliebten über die Liebe der Schönheit zum Aufstieg zur Idee der Schönheit selbst). Im Falle des Romans handelt es sich nicht um Erkenntnis im philosophischen Sinne, sondern eher um das Verstehen der Motivation der Protagonisten und des Aufbaus der Handlung. So wird verständlich, weshalb Achilleus Tatios den Herkunftsraum begriffen als Herkunft der Helden, des Erzählers und mit ihm des Lesers in so komplizierter Weise aufgeteilt hat auf innerhalb der Romanfiktion ‚echte‘ Räume und den Kunstraum des Europa-Bildes. Der starke Gesichtssinn soll sofort durch die Beschreibung eines Bildes aktiviert werden und aktiviert bleiben, der Leser soll über das Bild die Bedeutung der Liebe als in der Geschichte der Welt grundlegende Triebfeder erkennen, Raub, Verlust und Wiedergewinn der Liebe über Land und Meer, Asien und Europa als entscheidendes Thema des Romans bereits vorausahnen. Nach diesem Prinzip wird auch der Ort gestaltet, an dem allmählich auch die Liebe Leukippes erwacht.53 Sie und ihre Familie sind im Haus des Vaters Kleitophons untergebracht. Eines Tages trifft Kleitophon sie im paradiesischen Garten des Hauses an. Bäume, Blumen, eine Quelle und die Vögel bieten ein perfektes Ambiente.54 Kleitophon, der die platonischen Prinzipien seines Schöpfers ebenfalls zu kennen scheint, lenkt den Blick Leukippes auf die wunderschönen Schwanzfedern eines Pfaus, die mit der Schönheit der Blumen wetteifern und mit ihnen eins zu sein scheinen,55 und hält eine kleine Rede über die Liebe unter Tieren, Pflanzen, ja sogar Gewässern (Alpheios und Arethusa). Leukippe betrachtet also die Schönheit des Gartens und des Pfaus und ist dadurch für Kleitophons Worte noch empfänglicher. Am Ende seiner Rede gibt sie zu erkennen, dass das Zuhören ihr Freude gemacht hat, und in den Augen Kleitophons ist sie ganz mit der Umgebung verschmolzen.56 Ihre Gestalt hat

53 Vgl. Billault 2005, 238. 54 Martin 2002, 151 hebt hervor, dass die Natur des Gartens als ein auch erotisch konnotiertes Geflecht und ‚Ineinander‘ von Pflanzen und Bäumen geschildert wird. Vgl. auch Zeitlin 2013, 68. 55 Ach. Tat. 1, 15, 8. Laplace 2007, 337 sieht den Pfau als Repräsentation Kleitophons selbst. Weitere mögliche allegorische Deutungen des Pfaus werden ebenfalls bei Laplace 2007, 353−356 diskutiert. 56 Ach. Tat. 1, 19, 1f. τὸ γὰρ τοῦ σώματος κάλλος αὐτῆς πρὸς τὰ τοῦ λειμῶνος ἤριζεν ἄνθη. ναρκίσσου μὲν τὸ πρόσωπον ἔστιλβε χροιάν, ῥόδον δὲ ἀνέτελλεν ἐκ τῆς παρειᾶς, ἴον δὲ ἡ τῶν ὀφθαλμῶν ἐμάρμαιρεν αὐγή, αἱ δὲ κόμαι βοστρυχούμεναι μᾶλλον εἱλίττοντο κιττοῦ· τοιοῦτος ἦν Λευκίππης ἐπὶ τῶν προσώπων ὁ λειμών. („Denn die Schönheit ihres Körpers wetteiferte mit den Blumen auf der Wiese. Ihr Gesicht erglänzte in der Farbe der Narzisse, eine Rose entspross ihrer Wange, der Glanz ihrer Augen erstrahlte veilchengleich, ihr lockiges Haar wand sich mehr als der Efeu. So war die Wiese auf Leukippes Gesicht.“)

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sich seinen Augen unauslöschlich eingedrückt, und man ahnt, dass nach dem im Phaidros postulierten Gesetz der Wechselseitigkeit des Liebesblickes57 seine Liebe nicht unerwidert bleiben wird. Führt man sich die Funktion der ersten, der Herkunfts-Räume in Leukippe und Kleitophon vor Augen, verliert die oft geäußerte Kritik an ihrer strukturellen Einbettung an Bedeutung. Dass weder die Rahmenhandlung noch Sidon noch die Schauplätze innerhalb des Ausgangspunktes Tyros am Ende des Romans wieder aufgegriffen werden, stört nur den Leser, der einen ringkompositionellen Aufbau erwartet. Sidon, das Europa-Bildnis, der Platanenhain und der Garten in Tyros machen den Geist des Lesers aufnahmebereit für die folgende Handlung. Dies ist der Zweck der genannten Herkunftsräume. Sie wollen kein Baustein eines symmetrischen Handlungsgefüges sein, sondern disponieren die Rezeption. Für die Protagonisten des Romans sind ihre visuellen Eindrücke von entscheidender Bedeutung. Um auch dem Leser diese Erfahrung zu ermöglichen, führt Achilleus Tatios gleich zu Beginn die Literatur so dicht wie möglich an die Malerei heran.

4 Longos, Daphnis und Chloe Als hätte auch er die Kritik an einer mangelhaften strukturellen Einbettung der Rahmenhandlung bei Tatios vernommen, führt Longos Ende und Anfang seines Romans zusammen. Was über die Beschreibung von Bildern und die Darstellung der Schönheit des Ursprungsraumes in Leukippe und Kleitophon gesagt worden ist, gilt gleichermaßen für Longos, doch schafft er zusätzlich eine strukturelle Symmetrie.58 Der Erzähler beginnt ebenfalls mit der Beschreibung eines Bildes, eines Weihgeschenkes, das er in einem Nymphenhain auf Lesbos gesehen habe (pr., 2): Γυναῖκες ἐπ’ αὐτῆς τίκτουσαι καὶ ἄλλαι σπαργάνοις κοσμοῦσαι, παιδία ἐκκείμενα, ποίμνια τρέφοντα, ποιμένες ἀναιρούμενοι, νέοι συντιθέμενοι, λῃστῶν καταδρομή, πολεμίων ἐμβολή. Πολλὰ ἄλλα καὶ πάντα ἐρωτικὰ ἰδόντα με καὶ θαυμάσαντα πόθος ἔσχεν ἀντιγράψαι τῇ γραφῇ·

57 Morales 2004, 29 sieht in der antiken Konzeption des Sehens als eines haptischen Vorganges, bei dem Betrachter und Objekt einander berühren, den zentralen Unterschied zur modernen Vorstellung vom visuellen Prozess. 58 Vgl. Alaux und Létoublon 2005, 58. Zur Vergleichbarkeit der beiden Romananfänge s. auch Morgan 2003, 174.

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 Felix Mundt Darauf sind zu sehen: gebärende Frauen, andere, die Säuglinge in Windeln legten; ausgesetzte Kinder; Tiere, die sie nährten; Hirten, die sie forttrugen; Liebesschwüre der Jugend; ein Streifzug von Räubern; ein feindlicher Einfall. Als ich dies und vieles andere sah und bewunderte, dass alles mit Liebe zu tun hatte, ergriff mich das Verlangen, es mit Hilfe der Schrift schreibend zu erwidern.

Alles auf dem Bild, so der Erzähler, sei voll von Liebe gewesen – nach der Lektüre von Achilleus Tatios und Platon wissen wir, wie das zu verstehen ist. Er sucht sich einen Erklärer des Bildes, dann beginnt der Roman, der ganz offensichtlich das berichtet, was auf dem Bild zu sehen ist. Schauplatz ist Lesbos, genauer: die Umgebung der Stadt Mytilene, die sich wie Sidon und Tyros bei Leukippe und Kleitophon durch ein Ineinandergreifen von Land und Meer auszeichnet.59 Die Stadt spielt im Fortgang der Erzählung kaum noch eine Rolle,60 und bis auf zwei kurze Schauplatzwechsel in die verfeindete Stadt Methymna (2, 19, 1−3; 3, 1, 2−5) beschränkt sich der gesamte Handlungsraum des Romans auf die wohlgestaltete Naturlandschaft von Lesbos.61 Zu Beginn des Romans werden Daphnis und Chloe, noch Säuglinge, von den Hirten Lamon und Dryas ausgesetzt und mit reichen Beigaben ausgestattet auf einer Weide bzw. in einer Nymphengrotte gefunden. Am Ende, als alle Abenteuer überstanden sind, die Hochzeit gefeiert wird und beide mit Hilfe der von den Ziehvätern aufbewahrten Beigaben von ihrer wahren edlen Abkunft erfahren haben, weihen sie aus Dankbarkeit den Nymphen Bilder.62 Auch wenn nicht explizit gesagt wird, dass das im Prolog beschriebene Bild darunter ist, liegt diese Vorstellung nahe, und so werden der Ort der ersten Auffindung Chloes, der Ort des guten Endes und der Ort der Rahmenhandlung miteinander verschränkt. Die Umgebung, in der die beiden Kinder aufwachsen, erfüllt eine ähnliche Funktion wie der Garten bei Achilleus Tatios (Longos 1, 9): Ἦρος ἦν ἀρχὴ καὶ πάντα ἤκμαζεν ἄνθη, τὰ ἐν δρυμοῖς, τὰ ἐν λειμῶσι καὶ ὅσα ὄρεια· βόμβος ἦν ἤδη μελιττῶν, ἦχος ὀρνίθων μουσικῶν, σκιρτήματα ποιμνίων ἀρτιγεννήτων· ἄρνες ἐσκίρτων

59 Longos 1, 1, 1: Πόλις ἐστὶ τῆς Λέσβου Μιτυλήνη, μεγάλη καὶ καλή· διείληπται γὰρ εὐρίποις ὑπεισρεούσης τῆς θαλάσσης, καὶ κεκόσμηται γεφύραις ξεστοῦ καὶ λευκοῦ λίθου. Νομίσαις οὐ πόλιν ὁρᾶν ἀλλὰ νῆσον. („Es gibt auf Lesbos eine Stadt namens Mitylene, groß und schön. Sie ist von Kanälen durchzogen, durch die das Meer hineinströmt und geschmückt von Brücken aus behauenem, hellem Stein. Du wirst glauben, nicht eine Stadt zu sehen, sondern eine Insel.“) Vgl. Said 1994, 229. Wie Mason 2006 feststellt, gibt es so gut wie keine Bezüge zum Bild der Insel Lesbos, das die frühen lyrischen Dichter geprägt haben. 60 Morgan 2012, 540 sieht ihre wichtigste Funktion darin, die Welt des Romans mit der realen Welt zu verknüpfen, „anchoring the story to a shared knowledge of actual geography“. 61 Vgl. Morgan 2012, 537. Das Schiff der Räuber, die Daphnis am Ende des ersten Buches kurzzeitig entführen, wird nicht zum Schauplatz. 62 Longos 4, 39, 2.

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ἐν τοῖς ὄρεσιν, ἐβόμβουν ἐν τοῖς λειμῶσιν αἱ μέλιτται, τὰς λόχμας κατῇδον ὄρνιθες. Τοσαύτης δὴ πάντα κατεχούσης εὐωρίας οἷ’ ἁπαλοὶ καὶ νέοι μιμηταὶ τῶν ἀκουομένων ἐγίνοντο καὶ βλεπομένων· ἀκούοντες μὲν τῶν ὀρνίθων ᾀδόντων ᾖδον, βλέποντες δὲ σκιρτῶντας τοὺς ἄρνας ἥλλοντο κοῦφα, καὶ τὰς μελίττας δὲ μιμούμενοι τὰ ἄνθη συνέλεγον. Es war Frühlingsanfang, und alle Blüten sprossen, die in den Wäldern, die auf den Wiesen, und die, die auf den Bergen wachsen. Schon war da das Summen der Bienen, der Schall der Singvögel, das Springen der eben geborenen Lämmer. Die Schafe tanzten in den Bergen, es summten auf den Weiden die Bienen, aus den Büschen sangen die Vögel. Und während solch heitere Stimmung alles umfing, wurden die zarten Kinder zu Nachahmern dessen, was sie hörten und sahen. Wenn sie die Vögel singen hörten, sangen sie; wenn sie die Schafe springen sahen, tanzten sie unbeschwert; auch die Bienen ahmten sie nach, indem sie Blumen sammelten.

Auch hier ist die Landschaft mehr als nur Kulisse für die erwachende Liebe von Daphnis und Chloe und mehr als ein in die äußere Welt gespiegeltes Wohlgefühl.63 Sie ist an der aufkeimenden Liebe unmittelbar beteiligt. Die Zuneigung der beiden Hirtenkinder Daphnis und Chloe zueinander erwächst aus der Nachahmung der im Frühling erwachenden Natur. So wie in der Raumkonzeption des Achilleus Tatios die platonische Theorie von der Verknüpfung der sinnlichen Wahrnehmung mit dem Aufstieg zur Betrachtung der Ideen das im Hintergrund wirkende, leitende Konzept ist, so ist es bei Longos das der Mimesis.64 Der Erzähler imitiert mit seiner Kunst ein Bild, das, wie sich am Ende zeigt, ein Abbild der zuvor von ihm beschriebenen Handlung ist, des Lebens der Protagonisten, die wiederum (möglicherweise) dieses Bild haben verfertigen und aufstellen lassen. Daphnis und Chloe zeigen sich wiederum als Nachahmer der Natur, die ihrerseits das Produkt literarischer Kunstfertigkeit ist.65 Wie Achilleus Tatios beschreibt auch Longos innerhalb der omnipräsenten pastoralen Idylle Gärten, in denen

63 Morgan 2012, 541 zeigt jedoch, dass der im Verlauf der Erzählung beschriebene Wechsel der Jahreszeiten dem Reifungsprozess der Protagonisten entspricht, die Natur also doch auch in gewisser Weise eine reflektierende Funktion trägt. 64 Zeitlin 1994, 153: „The narrator’s desire ushers us immediately into the whole legacy of mimetic theory he has inherited […].“ Vgl. von Möllendorff 2009, 160. Morgan 2003, 181 findet den Phaidros auch bei Longos wieder. 65 Zeitlin 1994, 154−155 leuchtet diesen natura-ars-Dualismus gründlich aus und bezieht den Leser mit ein: „If, by the premises of the novel, the children are doing what comes naturally, then when they engage in such pastoral activities as comparing each other to berries or myrtles (1.24), […] imitating the nightingale in their singing, or feeling the first pangs of love in the springtime of the flowers, then a curious set of contradictory processes is set in seesaw motion in the reader, one now gaining, now losing ascendancy: are these conventions possibly rooted in nature, or (quite the reverse) is our perception of nature merely convention?“

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die Lieblichkeit beinahe bis zum Unerträglichen gesteigert wird: der eine ist der Garten des alten Hirten Philetas, in dem dieser versuchte, den frisch gebadeten Eros selbst zu fangen (2, 3−7), der andere der Garten des Dionysiophanes, des (wie sich im Ende herausstellt) leiblichen Vaters des Daphnis (4, 2−3).66

5 Heliodor, Aithiopika In den zuvor untersuchten Texten wird der Herkunftsraum der Protagonisten entweder unmittelbar am Beginn der Erzählung oder doch auf den ersten Seiten vorgestellt. Im spätesten und in vielerlei Hinsicht elaboriertesten Roman, in Heliodors Aithiopika, sind die Chronologie der Geschichte und die der Erzählung deutlich unterschiedlich. Der Roman beginnt mitten im Geschehen; die Heimat der schönen Chariklea wird erst am Ende zum Schauplatz.67 Der Kunstcharakter des Romans und seines Handlungsraumes, den Longos und Achilleus Tatios durch ihre prominenten Ekphraseis so stark betont haben, muss nicht mehr hervorgehoben werden. Er ist einfach gegeben, wird vom Leser erwartet, und so kommt Heliodors virtuos gestaltete Eingangsszenerie ohne vordergründige metaliterarische Tricks aus. Ἡμέρας ἄρτι διαγελώσης καὶ ἡλίου τὰς ἀκρωρείας καταυγάζοντος, ἄνδρες ἐν ὅπλοις λῃστρικοῖς ὄρους ὑπερκύψαντες, ὃ δὴ κατ’ ἐκβολὰς τοῦ Νείλου καὶ στόμα τὸ καλούμενον Ἡρακλεωτικὸν ὑπερτείνει, μικρὸν ἐπιστάντες τὴν ὑποκειμένην θάλατταν ὀφθαλμοῖς ἐπήρχοντο καὶ τῷ πελάγει τὸ πρῶτον τὰς ὄψεις ἐπαφέντες, ὡς οὐδὲν ἄγρας λῃστρικῆς ἐπηγγέλλετο μὴ πλεόμενον, ἐπὶ τὸν πλησίον αἰγιαλὸν τῇ θέᾳ κατήγοντο. Καὶ ἦν τὰ ἐν αὐτῷ τοιάδε· Als gerade der Tag heiter anbrach und die Sonne die Bergrücken bestrahlte, blickten Männer, die wie Räuber bewaffnet waren, über die Hügellandschaft hinweg, soweit sie sich über den Nilausfluß und die sogenannte Heraklesmündung erstreckte, hielten kurz inne, musterten mit den Augen das unter ihnen liegende Meer, und nachdem sie zunächst ihre Blicke auf die offene See gerichtet hatten, wandten sie, da diese, frei von Schiffen, keine Beute versprach, ihre Aufmerksamkeit dem nahen Strand zu. Was dort war, sah so aus: […]68

66 Auch über diese wäre vieles zu sagen, das aber über das Thema des Herkunftsraumes weit hinausführen würde. Es sei verwiesen auf Zeitlin 1994, 157−163. Morgan 2012, 552−555 sieht in Philetas einen Verweis auf den gleichnamigen elegischen Dichter und deutet den Garten als Teil eines metaliterarischen Diskurses. 67 Morgan 2012, 557. 68 Hld. 1, 1f.

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Die Räuber sehen ein schwer beladenes Schiff, dessen Besatzung ermordet am Strand liegt, zwischen noch halb für ein Festmahl gedeckten Tischen. Sie nähern sich der Szenerie, da sehen sie auf einem Felsen ein wunderschönes, trauriges junges Mädchen sitzen, mit Lorbeer bekränzt, mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Es schaut auf einen schwer verletzten jungen Mann, der plötzlich aus seiner Ohnmacht erwacht und das Mädchen anspricht; und mit seinen Worten beginnt die Handlung. Vielleicht hätte Heliodor sein Eingangstableau ohne seine Vorgänger und ohne eine durch sie auf eine artifizielle Eingangsszene konditionierte Lesererwartung nicht in dieser schlichten und eindrucksvollen Form schreiben können. Hier wird kein klares Motto eröffnet, keine schlichte Land-Meer- oder Natur-Kunst-Polarität gesetzt, sondern der Leser bekommt wie die als Fokalisatoren dienenden Räuber eine rätselhafte Szene vor Augen gestellt, nach deren Auflösung es ihn drängen muss. Schlicht, aber kunstvoll werden alle drei Elemente der literarischen Ortsekphrasis der Reihe nach eingesetzt. Zuerst geht gewissermaßen das Licht an, dann kommt der Fokalisator, dann die Szenerie.69 Bei Achilleus Tatios stand hinter der Ekphrasis die platonische Theorie der Wahrnehmung, bei Longos das Konzept der Mimesis, bei Heliodor ist es das Theater.70 Über der Szene liegt die gleiche Ruhe, die sich einem Theaterzuschauer in dem Moment bietet, in dem er die Personenkonstellation auf der Bühne erfasst und bereits erste Schlüsse auf ihre Identität zu ziehen beginnt, die Aktion aber noch nicht eingesetzt hat. Die Räuber werden eingangs nicht als solche bezeichnet, sondern als „Männer, die wie Räuber bewaffnet sind“. Auch sie sind für den Betrachter Teil des Rätsels. Sind sie wirklich Räuber oder nur als solche kostümiert? Sind sie Zuschauer oder werden sie zu Akteuren? Ihnen bietet sich eine Szenerie dar, die „der Daimon“ für sie inszeniert und als θέατρον dargeboten hat. Sie sind in der Lage von Zuschauern, die die Szene nicht deuten können.71 Auch der Leser hat erst ab dem dritten von zehn Büchern die notwendigen Informationen, um die wesentlichen Züge von Herkunft und Verbindung des Protagonistenpaares Chariklea und Theagenes zu erahnen. Chariklea ist das in Delphi ausgesetzte Kind des äthiopischen Königspaares, das im Hause des Apollonpriesters

69 Zu den Grundfunktionen dieser Elementen in der Beschreibung von Orten vgl. Mundt 2015. 70 Vgl. Morgan 2012, 574; Montes Cala 1992; Marino 1990; Walden 1894; Doody 2013. 71 Hld. 1, 1, 6−7: Καὶ μυρίον εἶδος ὁ δαίμων ἐπὶ μικροῦ τοῦ χωρίου διεσκεύαστο […] καὶ τοιοῦτον θέατρον λῃσταῖς Αἰγυπτίοις ἐπιδείξας. Οἱ γὰρ δὴ κατὰ τὸ ὄρος θεωροὺς ἑαυτοὺς τῶνδε καθίσαντες οὐδὲ συνιέναι τὴν σκηνὴν ἐδύναντο; („Ein tausendfältiges Bild hatte der Daimon auf kleinem Raum inszeniert […] und den ägyptischen Räubern ein solches Schauspiel geboten. Denn diese hatten auf der Anhöhe die Position von Zuschauern angenommen und konnten die Szene doch nicht deuten“); vgl. Morgan 2012, 574.

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Charikles aufgezogen worden ist, Theagenes, ein Nachkomme des Achill,72 das Haupt einer änianischen Gesandtschaft, die an einer Zeremonie in Delphi teilgenommen hat. Diese Informationen erhält der Leser nicht aus dem Mund des Erzählers, sondern durch eine Romanfigur, den ägyptischen Priester Kalasiris.73 Der Ursprung ihrer Liebe liegt also in Delphi, bei einem kultischen Fest wie bei den älteren Romanen von Chariton und Xenophon. Die Entstehung dieser Liebe durch das Einwirken eines visuellen Eindrucks auf die Seele wird in ähnlicher Weise gleichsam naturwissenschaftlich reflektiert wie bei Achilleus Tatios.74 Die Heimat der Charikleia erreichen beide erst am Ende des Romans als Kriegsgefangene der Äthiopier. In letzter Sekunde, vor der geplanten Opferung der beiden, gibt sich Charikleia ihren Eltern zu erkennen. Die eigentliche Heimat Charikleias ist also die Endstation von story und fabula. Hier erst wird dem Leser und dem äthiopischen Volk, das gewissermaßen stellvertretend für ihn den rührenden Szenen der Wiedervereinigung Charikleias mit ihren Eltern und der Rettung des Theagenes beiwohnt, die verworrene Handlung klar, die die Götter, so wörtlich, „inszeniert“ haben.75 Die drei in den vorangegangenen Beispielen stets zumindest zusammenfallenden Orte der Herkunft der Helden, des Erwachens ihrer Liebe und des Beginns der Romanhandlung sind hier konsequent getrennt.

6 Fazit Diese schwierige und für den Rezipienten herausfordernde Konzeption kann der jüngste erhaltene Abenteuerroman deshalb durchhalten, weil die Konventionen des Genres bereits gefestigt sind. Der Leser erwartet zu Beginn des Romans eine Szenerie, die ihn in die wesentlichen, dem Roman zugrundeliegenden rezeptionsästhetischen Konzepte einführt. Er erwartet eine Begegnungsszene entweder in kultischem Kontext oder in einer idyllischen Landschaft. Er weiß, dass sich in den Orten, an

72 Vgl. Hld. 2, 34. 73 Kalasiris ist eine schillernde Figur, deren Funktion als wichtige Erzählerinstanz neben dem allwissenden Autor bereits einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Vgl. Morgan 2003, 173, mit weiterer Literatur. 74 Vgl. Hld. 3, 5, 4; 3, 7, 3. 75 Hld. 10, 38, 3 τὰ μὲν πλεῖστα τῶν λεγομένων οὐ συνιέντες, τὰ ὄντα δὲ ἐκ τῶν προγεγονότων ἐπὶ τῇ Χαρικλείᾳ συμβάλλοντες, ἢ τάχα καὶ ἐξ ὁρμῆς θείας ἣ σύμπαντα ταῦτα ἐσκηνογράφησεν εἰς ὑπόνοιαν τῶν ἀληθῶν ἐλθόντες. („Das meiste von dem, was gesprochen wurde, verstanden sie nicht, doch errieten sie den wahren Sachverhalt aus dem, was sich zuvor um Charikleia ereignet hatte, oder aber sie ahnten die Wahrheit aufgrund göttlichen Waltens, das all dies inszeniert hatte.“); vgl. 10, 16, 3 σκηνοποιΐα τῆς τύχης („Skenopoiie des Schicksals“).

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denen die Handlung beginnt, und in den Orten, aus denen die Helden stammen, die Konzeption des gesamten Werkes zu spiegeln hat. Diese Schlüsselfunktion fällt den beiden relevanten Herkunftsräumen deswegen zu, weil sie als Ausgangspunkt der Handlung und/oder der imaginären Geschichte auch dem Leser einen Fixpunkt und gewissermaßen eine Heimat bieten müssen, von der ausgehend er die weiteren Erzählstränge interpretieren kann. Der Leser eines mythologischen Epos’ oder einer Tragödie tritt in eine weitgehend bekannte Welt und einen vertrauten Figurenbestand ein, zumindest was die Hauptakteure betrifft. Der Leser eines Romans als einer relativ jungen Gattung mit größtenteils unbekannten Akteuren ist auf die Etablierung einer Ur-Origo bzw. mehrerer Origines angewiesen. Diese sind: 1. 2. 3.

Der erste Ort, der im Roman genannt wird, die Heimat der Helden und der Ort des Beginns ihrer Liebe.

Diese drei Orte können ganz oder teilweise zusammenfallen, müssen es aber nicht (eine Übersicht bietet die Tabelle im Anhang). Alle drei sind von Bedeutung für die ‚Idee hinter der Erzählung‘, für das erzählerische Konzept also, das dem Roman einen künstlerischen Mehrwert jenseits der unterhaltsamen Aneinanderreihung von Abenteuern verleiht. Bei Chariton ist es das ständige Wetteifern mit Historiographie und Epos, bei Achilleus Tatios die Rezeption platonischer Gedanken zu Sinneswahrnehmung und Liebe, bei Longos die Mimesis. Allein bei Xenophon ist die Angabe eines solchen Konzepts problematisch76 oder zumindest nur schwer mit dem Raum des Romans in Beziehung zu setzen.77 Was der älteren Forschung zum griechischen Roman als lose Aneinanderreihung von Wundergeschichten und einzelnen rhetorischen Prunkstücken erschienen war, folgt durchaus konsequent literarästhetischen Prinzipien, die sich freilich von denen des Epos’ und des Dramas unterscheiden. Zu deren Entdeckung hat die narratologische Raumforschung einen entscheidenden Beitrag geleistet, denn erst sie konnte die zahlreichen sorgfältig gearbeiteten ekphrastischen Partien würdigen und für die Interpretation nutzbar machen. Wer wiederum die drei oben identifizierten Herkunftsräume und ihr Verhältnis zueinander genau betrachtet und durchschaut hat, hält den Schlüssel zur Welt des griechischen Romans in Händen.

76 Die Beurteilung Xenophons wird allerdings durch die fortgesetzte Diskussion erschwert, ob der vorhandene Text nur die (notwendigerweise literarisch unvollkommene) Epitome eines längeren sei. 77 Zu Jason Königs These, die Betonung von Sprache und Mündlichkeit sei ein zentrales Motiv bei Xenophon, vgl. oben Anm. 17.

vor 62 n. Chr.

2. Jh.

Ende 2. Jh.

um 200

3. oder 4. Jh.

Chariton, Kallirhoe

Xenophon, Ephesiaka

Achilleus Tatios, Leukippe u. Kleitophon

Longos, Daphnis und Chloe

Heliodor, Aithiopika

Datierung

Lesbos

Ägypten, Strand

Lesbos / Mytilene

Meroe / Äthiopien (Charikleia) Thessalien (Theagenes)

Lesbos, Nymphenhain

Tyros

Ephesos

Ephesos

Tyros (Geburtsort der Leukippe: Byzantion)

Syrakus

Handlung beginnt in

Syrakus um 400 v. Chr.

Herkunftsort der Protagonisten

Markt und Hain in Sidon

Ort der Rahmenerzählung

Tab. 1: Initiations- und Herkunftsräume

Delphi, kultisches Fest

Lesbos, Nymphengrotte

Tyros, Garten

Ephesos, kultisches Fest

Syrakus, kultisches Fest

Liebe beginnt in

Meroe, Äthiopien

Lesbos

Tyros und Byzantion

Ephesos

Syrakus

Handlung endet in

Theater

Mimesis

Ekphrasis / Perzeption des Schönen

Aemulatio mit Historiographie und Epos

im Hintergrund wirksames Konzept

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Herkunftsräume im griechischen Liebesroman 

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Therese Fuhrer

Korinth – Rom – Madauros: Zur Semantik der Herkunftsräume in Apuleius’ Metamorphosen 1 Vorbemerkungen: Vom griechischen ‚Eselsroman‘ zu den lateinischen Metamorphosen Aus der Feder des römischen Rhetors und Philosophen Apuleius von Madauros (um 125 bis nach 180 n. Chr.) ist uns eine elf Bücher umfassende Erzählung in lateinischer Sprache überliefert, die wie Ovids Epos den Titel Metamorphosen trägt und auch unter dem Titel Asinus aureus („Der goldene Esel“) bekannt ist. Es handelt sich um eine Ich-Erzählung, die fast durchweg intern fokalisiert ist: Der Ich-Erzähler, ein junger Grieche aus Korinth namens Lucius, interessiert sich für Magie und reist deswegen nach Thessalien, das als Land der Hexen bekannt ist, um seine gefährliche Neugier zu befriedigen; durch einen Griff nach dem falschen Zaubermittelchen wird er in einen Esel verwandelt. In Eselsgestalt, aber weiterhin mit menschlichem Verstand ausgestattet, erlebt er eine Reihe von bisweilen frivolen Abenteuern. Er wird in der thessalischen Stadt Hypata von Räubern gestohlen, die ihn in die Berge schleppen, wechselt dann immer wieder den Besitzer und damit den Aufenthaltsort, wird meist schlecht behandelt, muss schwere Lasten tragen und Prügel einstecken. Aus der Esel-Perspektive kann Lucius unerkannt und deshalb oft ungestört Menschen aus allen sozialen Schichten in den unterschiedlichsten Situationen beobachten, bekommt mit, wie sie sich gegenseitig hintergehen und ermorden oder auch aufrichtig lieben, und erlebt ihre Freude, Trauer, Begierden, Scheinheiligkeit, Naivität usw. aus nächster Nähe. Er ist des Öfteren auch Zuhörer von Erzählungen, die, wie das ‚Märchen von Amor und Psyche‘, als Binnennovellen in die Lucius- bzw. Eselsgeschichte eingefügt sind. Schließlich gerät er in die Hände eines reichen Korinthers, der aus den ungewöhnlichen Fähigkeiten des Esels Kapital schlägt und ihn an eine nymphomanische Frau zur Ausübung sodomitischer Praktiken vermietet. Als Lucius im Amphitheater von Korinth, seiner Heimatstadt, eine mehrfache Mörderin zur Strafe öffentlich penetrieren soll, gelingt es ihm, in die nahe Hafenstadt Kenchreai zu fliehen. Dort erfährt er von der ägyptischen Göttin Isis, die ihm im Traum erscheint, dass er am nächsten Tag im Rahmen eines Kultfests Rosen als Antidot

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 Therese Fuhrer

fressen kann und in einen Menschen zurückverwandelt werden wird; die Rückverwandlung geht einher mit einer Weihe in die Mysterien der Isis, deren Priester er wird. Dieser Verwandlungsprozess, der mit einer weiteren Mysterienweihe und einer Initiation in den Osiris-Kult in Rom zum Abschluss kommt, wird als sakrale Läuterung von einer zügellosen Sinnlichkeit und falsch ausgerichteten Neugier inszeniert. Die Geschichte von der Verwandlung des Menschen Lucius in einen Esel, der eine Reihe von Abenteuern erlebt, ist in der antiken Literatur ein weiteres Mal überliefert: in einer kürzeren Fassung in griechischer Sprache mit dem Titel „Lukios oder der Esel“ (Loukios ê Onos, kurz: Onos), deren Autor unbekannt ist, die aber in der Überlieferung Apuleius’ Zeitgenossen Lukian von Samosata zugeschrieben wird. Diese Fassung enthält nur die Geschichte von der Reise des Lukios von Patrai nach Thessalien, der Verwandlung in einen Esel und den Abenteuern, die dieser auf dem Weg nach Thessalonike erlebt; dort sollte er seine sodomitischen Künste im Amphitheater vorführen, kann aber Rosen fressen und verwandelt sich vor aller Augen in den Menschen Lukios zurück. Es fehlen Prolog, Binnenerzählungen, Initiation in die Isis-Mysterien, Reise nach Rom und Weihe zum Osiris-Priester. Dass die beiden Texte miteinander ‚verwandt‘ sind, wird dadurch deutlich, dass man sie an mehreren Stellen gleichsam als bilinguale Ausgabe nebeneinander stellen kann.1 Hinzu kommt, dass beide Texte wahrscheinlich auf einen verlorenen griechischen ‚Eselsroman‘ mit dem Titel Metamorphosen eines Lukios von Patrai zurückgehen, den der Patriarch von Konstantinopel Photios im 9. Jh. n. Chr. erwähnt.2 Die meisten modernen Metamorphosen-Forscher/innen gehen wie Photios davon aus, dass die erhaltene griechische Fassung, der Onos, eine Kurzform der längeren Fassung des Lukios von Patrai darstellt, die Apuleius in seinen Metamorphosen ins Lateinische übertragen und um bestimmte Episoden erweitert hat.3 Der Vergleich der in beiden Fassungen enthaltenen Episoden zeigt, dass Apuleius’ Text die Erzählung immer wieder satirisch kommentiert, und da es unwahrscheinlich ist, dass der Verfasser der Kurzversion des Onos diese Elemente vollständig eliminiert hat, kann es als wahrscheinlich gelten, dass die satirische Prägung auf Apuleius zurückgeht.4 Neben den quantitativen

1 So bei van Thiel 1972. 2 Photios verfasste 838 oder 845 unter dem Titel Myriobiblon oder Bibliotheke Notizen zu seiner Lektüre von 386 antiken Prosaschriften. Da auch der Protagonist des Eselsromans Lukios heißt und aus Patrai stammt, hat Photios möglicherweise Autor und Ich-Erzähler in Eins gesetzt. Dazu van Thiel 1971, 2−9; Steinmetz 1982, 240−241. 3 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bzw. Zusätze beschreiben ausführlich van Thiel 1971, 9−21; Steinmetz 1982, 245−251; Mason 1994 und 1999. 4 Dazu Mason 1994, 1667 bzw. 1700 und Mason 1999, 223 (dort zu Antonio Mazzarinos Ausdruck

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und inhaltlichen Erweiterungen gegenüber den griechischen Metamorphosen ist in Apuleius’ Text also auch von einer veränderten Schreibweise und Textintention auszugehen.

2 Die Metamorphosen als Inszenierung einer Kultur-Topographie Im Folgenden soll nun nicht das Verfahren der Transformation einer griechischen Fassung in die lateinische Sprache interessieren.5 Vielmehr möchte ich zu zeigen versuchen, dass im Text der apuleischen Metamorphosen genau dieses Phänomen einer Literatur und Kultur ‚zweiten Grades‘6 sowohl auf einer abstrakten Ebene reflektiert als auch im Akt des Erzählens und in der Erzählhandlung durch die Person des Lucius figuriert wird. Der Ort, an dem eine solche metaliterarische Reflexion stattfindet, ist der Prolog der Metamorphosen (vgl. 1, 1).7 Hier informiert ein Sprecher in der ersten Person sowohl über seine eigene griechische Herkunft als auch über die griechische Tradition der literarischen Formen und Stoffe und begründet, warum die folgende Erzählung in lateinischer Sprache geschrieben ist. Zudem weist der Ich-Erzähler im Verlauf des Romans an mehreren Stellen auf die Übersetzungsleistung oder -notwendigkeit hin, die sich ergibt, wenn die Handlung im griechisch-sprachigen Raum verortet wird oder – umgekehrt – wenn die Griechisch sprechenden Figuren sich in lateinischsprachigen Kontexten bewegen.8 In der folgenden Analyse möchte ich die Aussagen über die geographische Herkunft des Prolog-Sprechers, dessen Identität zu Beginn der Erzählung mit derjenigen des erzählten und erzählenden Ichs (vgl. 1, 2, 1) und gegen Ende mit derjenigen

„apuleianità di Apuleio“); vgl. Greene 2008. 5 Zum Übersetzen als Aneignungstechnik der von griechischen Kulturstandards geleiteten römischen Literatur verweise ich auf McElduff 2013, 157–185, die allerdings auf Apuleius nicht eingeht. – Interessanterweise ist im Corpus der Apuleius zugeschriebenen Schriften eine lateinische Übersetzung des pseudo-aristotelischen griechischen Traktats De mundo überliefert, die sich jedoch als genuines Werk des Apuleius ausgibt; vgl. dazu Harrison 2008 [2000], 174–195, der von der Echtheit der Schrift ausgeht und sie als typisches Produkt von Apuleius’ bilingualem Schreiben versteht. 6 Nach Genettes Konzept der „littérature de second degré“ (1982). 7 Der Prolog gehört zu den meist-diskutierten Stellen der Metamorphosen; ihm ist ein eigener – bereits in zweiter Auflage erschienener – Companion gewidmet (Kahane und Laird 2005). 8 Vgl. 4, 32, 5−6; 9, 39, 3; 11, 14, 1; 11, 28, 6; die Stellen diskutiert Clarke 2005 [2001], 106−108.

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des empirischen Autors Apuleius verschmolzen wird (vgl. 11, 27, 9), und die ebenfalls in geographischen Termini gefassten Informationen über die Herkunft der Textformen und des Stoffs neu lesen: nämlich als Topographie der Literatur- und Kulturgeschichte und damit als Ausweis der Globalisierung von Wissen, wie sie für die römische Antike im Allgemeinen und für die Literaturproduktion im 2. Jh. n. Chr. im Besonderen charakteristisch ist.9 Nicht allein die Hinweise auf die ‚Herkunftsräume‘ von literarischen Werken und auf die Orte ihrer Genese im Prolog, sondern auch die in der Erzählung immanente Topographie lassen sich, so meine These, als Versuch verstehen, literarische und kulturelle Traditionen zu verorten und ihnen damit eine lokale und historische Identität zu verleihen. Apuleius entwirft damit ein antikes ‚Mapping der Literatur und Kultur‘.10 Die von Apuleius aufgeführten Orte sind dabei weniger wegen der geographischen Lage und ihrer Denotation als vielmehr wegen der ihnen eigenen Konnotationen von Bedeutung.11 Die gehäuften Georeferenzen machen den Text zu einem mit literatur- und kulturhistorischen Informationen aufgeladenen semantischen System. Die geographischen Orte, die durch ihre stabile Lage und historische Identität definiert sind, werden als Schauplätze literarisch modellierter Handlungen mit weiteren Bedeutungen versehen oder gänzlich neu semantisiert.12 Dabei kann sich ein Zusammenspiel ergeben zwischen der Paradigmatik der Konnotationen,

9 ‚Globalisierung‘ wird hier verstanden als Prozess, in dem politisch-nationale und kulturelle Grenzen obsolet werden oder zumindest kein Hindernis mehr bilden für den Transfer von Menschen, Wissen und Gütern; mit dem Phänomen verbunden sind einerseits Probleme der Orientierung und des Identitätsverlusts, andererseits auch Chancen der Öffnung, Modernisierung und Neuorientierung. Zum Phänomen der globalisierten Kultur in antoninischer Zeit vgl. die Beiträge von E. Bowie, G. Anderson, E. J. Kenney und D. A. Russell im Sammelband von Russell 1990; vgl. auch Sandy 1997; Bradley 2012. Zur Rolle der ‚Weltliteratur‘ und der Literatur-Übersetzung in globalisierten Kulturen vgl. Stockhammer 2009. 10 Die Formulierung nach Piatti 2008. Der Begriff des Mapping bezeichnet einerseits die Karte, auf der die „Geographie der Literatur“ erfasst wird, andererseits das mentale Modell, das „dem Raum in der erzählten Welt“ zugrunde liegt; dazu Huber u. a. 2012, 10−11. 11 Bei der Unterscheidung von Konnotaten und Denotaten orientiere ich mich an Hofmann 1997, der von Apuleius’ „Konnotationssemantik“ (S. 153, 163) spricht; gebräuchlicher ist die Begrifflichkeit einer „Semiotik der Konnotation“, nach Louis Hjelmslev und Roland Barthes; dazu Stierle 2012, 101−117. 12 Der Begriff der Semantisierung ist hier als linguistischer Terminus verwendet (vgl. Nünning 2009, 45−46), nicht im Sinn des von Jurij M. Lotmann entwickelten strukturalistischen Konzepts der Raumsemantik; zur Forschungsdiskussion vgl. Dennerlein 2011, 164−165. Vgl. auch Rose 2012, 42, der den ‚Ort‘ als Kategorie wieder stark machen will, da mit der konkreten Information, der Georeferenz, einem Text oder im konkreten Fall einer Erzählung ein Realitätsgehalt verliehen wird, mit dem in der fiktiven Handlung gearbeitet werden kann; mit Lusin 2007, 17−19 könnte man auch von einer ‚sekundären Modellierung‘ sprechen.

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die im kulturellen Gedächtnis oder in der literarischen Praxis den Orten und Räumen anhaften, und der Syntagmatik der Erzählung, in der die Denotate von Orten und Räumen – die Namen von Städten, Regionen, Ländern – mit weiteren Konnotaten aufgeladen werden, die die Konnotate des kulturellen Gedächtnisses oder der literarischen Praxis bestätigen, aber auch zur Diskussion stellen oder destruieren können. Meine Überlegungen gelten zunächst der Frage, inwiefern man bei einem antiken Autor des 2.  Jhs. n. Chr. überhaupt damit rechnen kann, dass er eine solche Semiotik der Konnotation von Räumen, insbesondere von Herkunftsräumen, benutzt, und inwiefern man davon ausgehen kann, dass ein Text auch vom antiken zeitgenössischen Publikum so gelesen wurde. In einem zweiten Schritt werde ich mit Rekurs auf ausgesuchte Stellen aus den Metamorphosen für die These argumentieren, dass sich der Text mit den Figurationen von PrologSprecher und erzähltem Ich und mit den oszillierenden Identitäten von Mensch und Tier, Schreibmaterial, Stil und literarischen Traditionen als Reflexionsraum seiner Zeit und Kultur ausweist und damit eine Art impliziter Literatur- und Kulturgeschichte schreibt.

3 Apuleius, der ‚Sophist‘ Dass die griechischen Metamorphosen verloren sind, ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass das Werk als Trivialliteratur gelesen und im Mittelalter deshalb höchstens noch in kulturellen Zentren wie Byzanz aufbewahrt wurde; jedenfalls teilen sie das Schicksal anderer antiker Texte, die gleichsam an der literarischen Tradition vorbei und unterhalb des Niveaus der ‚Hochliteratur‘ geschrieben sind.13 Dagegen ist die Überlieferung der Kurzfassung, des Onos, offenbar der antiken Zuschreibung an Lukian von Samosata zu verdanken; dass die lateinischen Metamorphosen erhalten sind, auf die Augustin mit dem (heute gängigeren) Titel Asinus aureus verweist, ist möglicherweise allein auf das Renommee des Rhetors und Philosophen Apuleius zurückzuführen.14 Allerdings hat die Tatsache, dass Apuleius den griechischen ‚Eselsroman‘ in die lateinische Sprache übertragen hat, seine Leser/innen immer wieder irritiert, auch bereits Augustin. Denn Apuleius von Madauros war ein professionel-

13 Dies betont Schreiner 2011. 14 Vgl. Aug. civ. 18, 18. Ob der Zusatz aureus auf die literarische Qualität, auf die Farbe des Fells des Esels oder auf irgendwelche mythischen Tiergestalten verweist, ist unklar; dazu Harrison 2008 [2000], 211, Anm. 1.

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ler Rhetorik-Lehrer und bekannter Redner, Autor einer virtuosen Selbstverteidigungsrede (Apologie), einer Sammlung von Musterreden (Florida) sowie einer Reihe von Schriften zu unterschiedlichen Aspekten der platonischen Lehre, auf die Augustin öfter verweist.15 Dass dieser Gelehrte auch einen frivolen Roman geschrieben hat, lässt sich entweder damit erklären, dass eine solche rhetorischphilosophisch-literarische Virtuosität für die Autoren des 2. Jhs. n. Chr. – der sogenannten ‚Zweiten Sophistik‘ – typisch ist, die ihre Werke allerdings fast ausschließlich in griechischer Sprache verfasst haben.16 Apuleius’ besondere Leistung wird demnach entweder darin gesehen, dass er einen bereits bekannten Stoff in einem kunstvollen Latein mit einem feinen Gewebe intertextueller Bezüge anreichert.17 Oder man versteht die Erzählung, die Apuleius mit der Amor und Psyche-Geschichte und der Initiation in den Isis- und Osiris-Kult ergänzt hat, als philosophische Allegorie und damit als Reflexion des Platonikers auf das Schicksal der menschlichen Seele in den ‚Niederungen‘ der Sinnenwelt.18 Es wurde aber auch immer wieder bemerkt, dass die philosophisch-allegorische Deutung dem frivolen und satirischen Ton nicht gerecht wird, der den Roman bis in die letzten Zeilen durchzieht, in denen sich der Ich-Erzähler als kahlgeschorener OsirisPriester zu erkennen gibt. Andererseits vermag eine Lektüre des Textes, die sich darauf beschränkt, das dichtgesponnene Netz literarischer Anspielungen, geistreicher Sprachwitze und Motivbezüge herauszuarbeiten, nicht das kulturkritische und analytische Potenzial des Romans zu erfassen. In der neueren Apuleius-Forschung, spätestens seit John Winklers erzählanalytischer Studie Auctor and Actor, liest man die Metamorphosen fast durchweg als einen Text, in den die divergierenden Verständnismöglichkeiten und Irritationen geradezu eingeschrieben sind.19 Im Anschluss an diese Interpretationstradition, in der vermehrt auch mit narratologischen Konzepten gearbeitet wird, möchte ich im Folgenden zeigen, dass Apuleius in den Metamorphosen ein kulturelles Phänomen ausstellt, das für die Literatur und Kultur der hohen Kaiserzeit insgesamt charakteristisch ist. Dadurch, dass sich der Text einerseits als „littérature de second degré“20 zu erkennen gibt und andererseits seinen Erzähler und seine Handlung in unterschiedlichen geographischen Räumen verortet, lassen sich die Metamorphosen auch als eine implizite Literatur- und Kulturgeschichte lesen: als

15 Ihre Echtheit wird teilweise angezweifelt; dazu Harrison 2008 [2000], 10−38, 136−209. 16 Dazu Harrison 2008 [2000]; Sandy 1997; Keulen u. a. 2015, 7–8. 17 So z. B. Harrison 2008 [2000]; Krabbe 2003; Kirichenko 2010. 18 Vgl. z. B. Wlosok 1999 [1969]; Münstermann 1995; Fletcher 2014. Dagegen Kirichenko 2008. 19 Winkler 1985 versteht die Metamorphosen als „detective story“ (S. 58 u. ö.). Vgl. dazu die Ausführungen von Graverini 2012, xi−xvi, bes. xii: „a deeply tangled knot“; xiii: „a protean work“. 20 Vgl. Anm. 6.

Zur Semantik der Herkunftsräume in Apuleius’ Metamorphosen 

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Literaturgeschichte insofern, als sie mit der Referenz auf die Vorlage und weitere Texttraditionen die Möglichkeiten von Literaturproduktion insgesamt kommentieren; als Kulturgeschichte deshalb, weil der apuleische Eselsroman, wie ich meine, die Praxis des Kulturtransfers diskutiert und kommentiert, im Besonderen die Versuche einer literarischen, religiösen, sozialen und politischen Amalgamierung griechischer und römischer oder, im umfassenderen Sinn, westlicher und östlicher Traditionen in einer ‚globalisierten‘ Welt.

4 Die Metamorphosen als implizite Literatur- und Kulturgeschichte 4.1 Der Prolog: ein ‚Mapping‘ von Herkunftsorten Eingeleitet wird die implizite Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung mit einem Paratext: Der Prolog der lateinischen Metamorphosen21 enthält eine Reihe von Informationen nicht allein zur geographischen Herkunft des schreibenden Ichs, sondern auch – und dies an erster Stelle – der erzählten Geschichten, des Schreibmaterials sowie des Schreibwerkzeugs (1, 1):22 (1) At ego tibi sermone isto Milesio varias fabulas conseram auresque tuas benivolas lepido susurro permulceam, modo si papyrum Aegyptiam argutia Nilotici calami inscriptam non spreveris inspicere, (2) figuras fortunasque hominum in alias imagines conversas et in se rursus mutuo nexu refectas ut mireris, exordior. (3) ‚Quis ille?‘ Paucis accipe. Hymettos Attica et Isthmos Ephyrea et Taenaros Spartiatica, glebae felices aeternum libris felicioribus conditae, mea vetus prosapia est. (4) Ibi linguam Atthidem primis pueritiae stipendiis merui. Mox in urbe Latia advena studiorum Quiritium indigenam sermonem aerumnabili labore nullo magistro praeeunte aggressus excolui. (5) En ecce praefamur veniam, siquid exotici ac forensis sermonis rudis locutor offendero. (6) Iam haec equidem ipsa vocis immutatio desultoriae

21 Der Prolog gilt deswegen als apuleisch, weil der Onos keine vergleichbaren Selbstaussagen des Erzähler-Ichs enthält. Auf die programmatische Funktion des Prologs wird in der Forschungsliteratur immer wieder hingewiesen; ich kann daher auf eine detaillierte Argumentation für die Plausibilität der Schlussfolgerungen verzichten und verweise auf Keulen 2007, 8−11 sowie den Sammelband von Kahane und Laird 2005 [2001]. 22 Der lateinische Text ist hier wie im Folgenden nach der kritischen Ausgabe von Zimmerman 2012 zitiert; die Übersetzung stützt sich im Wesentlichen auf Brandt 1958.

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 Therese Fuhrer scientiae stilo quem accessimus respondet. Fabulam Graecanicam incipimus. Lector intende: laetaberis.

(1) Nein, ich will dir hier in milesischem Stil einen bunten Kranz von Geschichten flechten und deine geneigten Ohren mit hübschem Kling-Klang kitzeln – falls du es nicht verschmähen solltest, einen Blick auf die Blätter aus Ägypten zu werfen, die ich mit feinem Nilrohr beschrieben habe –, (2) dass du dich über das Was und das Wie bei Leuten, die in fremde Gestalten verwandelt und andersherum wieder zu sich selbst zurückgebildet wurden, nur so wundern wirst. Ich beginne. (3) „Ja, wer ist denn das?“ Vernimm’s in Kürze: Hymettos in Attika, Isthmos bei Ephyra, Tänaros im Spartanerland, die herrlichen Fluren, in herrlicheren Büchern verewigt, – sie sind die Heimat meines Geschlechtes. (4) Dort habe ich als Kind in der attischen Sprache die ersten Sporen verdient. Danach habe ich in der lateinischen Stadt als Schüler von draußen in mühseliger Arbeit ohne Leitung eines Lehrers die heimische Redeweise der alten Römer in Angriff genommen und beherrschen gelernt. (5) Da, schaut, ich bitte im Voraus um Entschuldigung, wenn ich einmal in der fremdländischen Kunstsprache stümperhaft stolpere. (6) Nun passt gerade dieser Sprachenwechsel zu dem Zirkusreiterprogramm, das ich mir gesetzt habe: Es ist eine Geschichte nach dem Griechischen, die ich beginne. Leser, pass auf: Du wirst dein Vergnügen haben.

Der Text setzt ein mit einem voraussetzungsreichen at ego tibi,23 darauf folgt eine Fülle von geographischen Bezeichnungen.24 Die Junktur sermo Milesius (§ 1) enthält die erste Georeferenz: Die alte Stadt Milet an der kleinasiatischen Westküste gilt als Ursprungsort der ‚milesischen Geschichten‘ oder ‚Novellen‘. Der griechische Autor Aristides soll im 3. Jh. v. Chr. unter dem Titel Milesiaka eine Sammlung erotischer Erzählungen aus dem Bereich der Trivialliteratur zusammengestellt haben.25 Der Begriff der „milesischen Rede“, mit dem das SprecherIch dem angesprochenen Du die „bunten Geschichten in Folge erzählen will“ (varias fabulas conseram), soll offenbar Erwartungen auf frivole Geschichten in lockerer Folge und angenehme Unterhaltung evozieren (auresque tuas benivolas lepido susurro permulceam).26 Gemäß einer Information Ovids wurden Aris-

23 Damit wird eine Beziehung zwischen Sprecher-Ich und Lesepublikum etabliert, die mit dem einleitenden at auch sogleich eine vorausgegangene Kommunikation impliziert („[Du - mir] … Doch ich werde dir …“). Dazu Keulen 2007, 62−63; Graverini 2012, 2−10. 24 Zu den geographischen Informationen im Prolog und ihren kulturellen Kodierungen vgl. Clarke 2005 [2001]; Innes 2005 [2001]; Too 2005 [2001]; mit Bezug auf weitere ‚Räume‘: Harrison 2002; Graverini 2002; Zimmerman 2002 und 2005. 25 Milet wird in der Literaturgeschichtsschreibung oft als Herkunftsort des Autors genannt, ist jedoch allein auf den Schauplatz der Erzählungen zu beziehen; dazu Graverini 2012, 42−50; Harrison 1998. Zum Begriff der ‚Trivialliteratur‘ als Spezifikum der antoninischen Literatur vgl. Graverini und Keulen 2009, 204−214 („trivial pursuits“); vgl. dazu auch unten Anm. 71. 26 Keulen 2007, 64−65 weist darauf hin, dass das Adjektiv Milesius auch allein die Bedeutung

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tides’ Milesiaka in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. von dem römischen Historiker Sisenna ins Lateinische übertragen.27 Mit der Identifizierung der ‚Rede‘ als ‚milesisch‘ wird somit gleich zu Beginn auf die literarische Praxis des transkulturellen Schreibens und damit auf die von römischen Autoren immer wieder beanspruchte Leistung des Kulturtransfers Bezug genommen. Die Georeferenz ‚Milet‘ bzw. ‚milesisch‘ als Denotat der griechischen Stadt in Kleinasien wird zum Konnotat im Sinn von ‚frivol/erotisch‘ und ‚trivialliterarisch‘, dient aber auch zur Bezeichnung eines Texttyps, der aus dem griechischen Sprach- und Kulturraum übertragen wurde. Indem in der Folge auch dem Schreibmaterial eine bestimmte Herkunft zugeschrieben wird, erweitert sich der für den Text konstitutive geographische Raum. Das Angebot des Lesevergnügens wird von der Bereitwilligkeit des Lesers abhängig gemacht, sich den mit der Spitze (argutia) des nilotischen Rohrs beschriebenen ägyptischen Papyrus anzusehen (vgl. §  1). Der Begriff argutia fordert dazu auf, die geographische Bezeichnung des Herkunftsraums wiederum als literarhistorisches Konnotat zu verstehen: Die spitze Feder gilt als Metapher für die Poetologie des ausgefeilten Stils, des feinen Witzes und der gelehrten Anspielung, welche die Dichter-Gelehrten in dem an einem Nil-Arm gebauten ptolemäischen Alexandria geprägt und die römischen Dichter seit dem 1. Jh. v. Chr. sich zu eigen gemacht hatten. Das Konnotat der Begriffe ‚ägyptisch‘ und ‚nilotisch‘ ist somit ‚geistreich‘, ‚witzig‘, ‚gelehrt‘, ‚allusiv‘ usw.28 Mit dem Bezug auf Ägypten und den Nil wird der Charakter des Trivialen, den Milet dem Text gibt, gleichsam nobilitiert, allerdings nicht mit dem Etikett des hohen, sondern des feinen und ausgefeilten Stils. Nach einer sehr allgemein gehaltenen Umschreibung des Themas ‚Metamorphosen‘ (vgl. § 2) dienen die folgenden Ausführungen der Identifikation des Prolog-Sprecher-Ichs, die mit der Frage quis ille (§ 3) motiviert wird.29 Das atti-

von „fiktiv“ oder – in der substantivierten Form – „fiktive Erzählung“ haben kann; vgl. Graverini 2012, 49−50. Im Kontext der im Prolog gehäuft auftretenden Georeferenzen ist jedoch der Bezug auf die Stadt Milet kaum wegzudenken. 27 Vgl. Ov. trist. 2, 412−413: vertit Aristiden Sisenna, nec obfuit illi / historiae turpes inseruisse iocos. Dazu Harrison 1998, 65−66; Dowden 2005 [2001], 126−128. Der Rekurs auf Sisenna dient Ovid als Legitimierung und Nobilitierung seiner erotischen Dichtung. Sowohl das griechische Original wie auch die lateinische Version der milesischen Novellen sind verloren. 28 Dazu Keulen 2007, 68−71, der die Interpretationstradition zu dieser Stelle zusammenfasst. 29 Zum vieldiskutierten Problem der Identität des Fragenden vgl. den Forschungsüberblick bei Keulen 2007, 11−12. Nach Clark 2005 [2001] wird durch die nachfolgende geographische Verortung die Frage quis ille zwar nicht geklärt, doch wird der angesprochene Leser damit auf die Handlung vorbereitet, die den Romanhelden auf Reisen führt. Krabbe 2003, 55−90 deutet die Frage als

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sche Hymettos-Gebirge, der ephyreische Isthmos und das spartiatische Vorgebirge Tainaros sind seine „alte Heimat“ (mea vetus prosapia est). Der Raum der Herkunft des Sprechers ist durch drei Metonymien umschrieben, die für die drei Städte Athen, Korinth und Sparta stehen und so den geographischen Raum des klassischen Griechenland umfassen. Die gelehrten Umschreibungen assoziieren allein schon durch den Klang der griechischen Toponyme den hohen Stil der archaischen und klassischen griechischen Literatur, mithin von Epos, Lyrik und Tragödie.30 Die Städte werden weiter beschrieben als „herrliche Fluren in herrlicheren Büchern verewigt“ (glebae felices aeternum libris felicioribus conditae), mithin als Schauplätze oder Objekte berühmter Texte und damit als „kulturelle Sinnträger“.31 In diesem kulturell kodierten und auch nobilitierten Raum hat der Sprecher, so fährt der Text fort (vgl. § 4), „als Kind“ die „attische Sprache“ gelernt, die lateinische jedoch „als Fremder“ in Rom (in urbe Latia advena), und zwar „ohne Lehrer“ (nullo magistro praeeunte); damit seien mögliche sprachliche Unzulänglichkeiten zu entschuldigen, schreibt er doch in einer „fremden Sprache“ (exotici ac forensis sermonis rudis locutor, § 5).32 Nachdem so auch der Sprache des vorliegenden Textes ein Herkunftsraum zugewiesen worden ist, wird mit dem für den Sprachwechsel33 stehenden Bild des Kunstreiters (§ 6), der im Reiten bei vollem Galopp die Pferde wechselt, nochmals deutlich gemacht, dass der folgende Text sich nicht auf einen einzigen Kultur- und Sprachraum festlegen lässt, erzählt er doch keine „griechische“ (Graeca), sondern eine „von den Griechen stammende“ Geschichte, eine fabula Graecanica,34 in lateinischer Sprache und damit zumindest auf der linguistischen Ebene in romanisierter Form.

Vorverweis auf das gelehrte Spiel mit Identitäten, das den Prolog und den Roman durchzieht. Keulen 2007, 73−74 liest Quis ille, paucis accipe und versteht ille als elliptisches ille ego. 30 So Keulen 2007, 73; Innes 2005 [2001], 113−114. 31 Nach Nünning 2009, 48. 32 Zu forensis im Sinn von „ausländisch“ vgl. Harrison und Winterbottom 2005 [2001], 14; Keulen 2007, 85. 33 Keulen 2007, 88 weist darauf hin, dass vocis immutatio auch im Sinn von „Stil(ebenen)wechsel“ verstanden werden kann. 34 Georges s. v. Graeci, orum, C: „Graecanicus, a, um, von den Griechen stammend, -hergenommen, nach Art der Griechen (gemacht, getragen u. dgl.), u. in diesem Sinne = ‚griechisch‘“. Dazu Harrison und Winterbottom 2005 [2001], 15. Mason 1999, 218−219 bezieht den Ausdruck dagegen nicht im Besonderen auf die griechischen Metamorphosen; vgl. bes. 226: „The reader is more likely to expect pleasure if he thinks of a wide range of ‚Greek stories‘ rather than one specific tale“.

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4.2 Korinth, Thessalien, Madauros, Rom Der Prolog-Sprecher identifiziert sich also als Grieche, indem er sich in einer literarischen Trias von Städten verortet, die er allesamt als seine „Heimat“ bezeichnet. Mit dem Übergang zur Romanhandlung definiert der Ich-Sprecher, der später mit dem Namen Lucius angesprochen wird,35 seinen Herkunftsraum nochmals neu. Er stammt, wie später gesagt wird, zwar aus Korinth,36 doch führt er gleich zu Beginn der Erzählung seine materna origo auf eine Familie aus Thessalien zurück. Die Erzählung beginnt wie folgt (2, 1, 1): Thessaliam — nam et illic originis maternae nostrae fundamenta a Plutarcho illo inclito ac mox Sexto philosopho nepote eius prodita gloriam nobis faciunt — eam Thessaliam ex negotio petebam. Thessalien – denn auch dort hat unser Geschlecht mütterlicherseits mit dem berühmten Plutarch und dann dem Philosophen Sextus, seinem Neffen, einen Grund gelegt, der uns Ehre macht –, Thessalien war es, das ich in Geschäften aufsuchte.

Thessalien ist in der Literatur das Land der Magie und der Hexen,37 und vor diesem Hintergrund weckt der Hinweis auf die thessalische Herkunft über die maternale Linie bereits bestimmte Erwartungen.38 Thessalien sei auch der Herkunftsort des berühmten Plutarch und des Philosophen Sextus, auf deren Verwandtschaft sich der Ich-Erzähler beruft. Plutarch von Chaironeia (in Böotien39) gilt bereits zu seinen Lebzeiten und auch bei den Autoren des späteren 2. und des 3. Jhs. n. Chr. als einer der bekanntesten Gelehrten seiner Zeit.40 Mit seinem umfangreichen Corpus von Schriften zu Themen aus den Bereichen Philosophie, Religion, griechische und römische Geschichte sowie Politik und Verwaltung repräsentiert

35 Zum ersten Mal in 1, 24, 6 von seinem Kollegen Pythias aus der Studienzeit in Athen (1, 24, 5). 36 Vgl. 1, 22, 4; 2, 12, 3. Dazu van Mal-Maeder 2001, 209; Graverini 2012, 166−169. 37 Dass Thessalien für das römische Lesepublikum vor allem ein literarischer Raum und dabei ein „Ort von Magie und dämonischen Frauen“ war, stellt Bowersock 1965, 278−279 heraus. 38 Den Hinweis verdanke ich Maximilian Benz. 39 Dass Plutarch aus Böotien stammt, ist ein weiterer Aspekt des Umgangs mit Herkunftsräumen; dazu Harrison 2008 [2000], 215−217; van Mal-Maeder 2001, 83−84; Keulen 2007, 93−94. Die ‚Verwechslung‘ von Böotien und Thessalien (so van Thiel 1971, 34) kann als Fiktionalitätssignal gedeutet werden; dazu Keulen 2007, 262; Van der Stockt 2012, 170. 40 Vgl. Keulen 2007, 94: „Descent form Plutarch was something to boast of in the 2nd and 3rd centuries A.D. … Plutarch’s standing in Antonine culture may also be demonstrated by Gellius’ interest in him as a source of information and a teacher of morality“; so auch Bradley 2012, 219. – Vgl. auch 2, 3, 2, wo Lucius’ Tante auf die Verwandtschaft mit seiner Mutter über Plutarch hinweist (familia Plutarchi ambae prognatae sumus).

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er die Griechisch sprechende und schreibende gebildete Elite im römisch verwalteten Griechenland. Nicht zuletzt ist er Verfasser eines Dialogs über Mythos und Kult der ägyptischen Gottheiten Isis und Osiris, mit dem er einem offenbar aktuellen Interesse an der Herkunft der im römischen Reich längst etablierten ägyptischen Kulte entspricht, die gerade auch mit Magie und Zauber und dabei mit Thessalien in Verbindung gebracht werden.41 Plutarchs Neffe Sextus von Chaironeia ist als Lehrer des Kaisers Marc Aurel bekannt, und möglicherweise gehörte auch Apuleius zu seinen Schülern.42 Thessalien ist also nicht allein Ziel, sondern über die Verwandtschaft mit den beiden zwar böotischen, aber in Thessalien verorteten Philosophen und Gelehrten auch Herkunftsraum des Protagonisten Lucius, und wiederum wird die Landschaft mit den Verweisen auf kulturelle Traditionen auch kultur- und literarhistorisch konnotiert. Die drei Namen Thessalien, Plutarch und Sextus repräsentieren ein Interesse an Magie, Religion und Philosophie, das in der gebildeten römischen Gesellschaft weniger durch Autopsie, als vielmehr – oder sogar allein43 – durch die Lektüre von Büchern und Aneignung von Buchwissen befriedigt werden kann. Der Ich-Erzähler und Protagonist Lucius verortet sich somit von Anfang an in einem zwar mit Toponymen identifizierten, aber auch literarisch modellierten Raum.44 Nach seiner Verwandlung in einen Esel (vgl. 3, 24−25) wird die Handlung der folgenden Erzählung nicht geographisch verortet, bis er in seine Heimatstadt Korinth kommt (vgl. 10, 19, 1). Diese Stadt wird zunächst als Zentrum und Hochburg sexueller Perversionen gezeichnet. Lucius tritt als Esel mit einer Nymphomanin in einer Art ‚Peepshow‘ auf, kann sich aber einer öffentlichen Zurschaustellung sodomitischer Praktiken im Amphitheater durch Flucht entziehen. Er rettet sich an den Strand des korinthischen Isthmos, nach Kenchreai (vgl. 10, 35, 3), wo er am Fest zu Ehren der Isis wieder zum Menschen wird (vgl. 11, 13). Gemäß einer strengen Erzählökonomie wäre zu erwarten, dass der Herkunftsort des Romanhelden zum Raum sowohl der Rückverwandlung als auch der Erlösung und Läuterung werden würde, dass also die ‚alte‘ Heimatstadt Korinth ihren zurückgekehrten ‚Sohn‘ Lucius von der auf falsche Ziele ausgerichteten Neugierde befreit und damit zur ‚neuen‘ und wahren Heimat des Bekehrten

41 Dies bemerkt Bowersock 1965, 279 mit Verweis auf Plut. De defectu oraculorum 416 f und De Pythiae oraculis 400 b. Zur „Egyptomania“ in der römischen Kaiserzeit vgl. Bradley 2012, 221−222. 42 Vgl. dazu Dowden 1994, 428−429; Keulen 2007, 95. 43 Die genaue Lektüre der sogenannten ‚Quellen‘ lässt vermuten, dass der Ruf Thessaliens, das Land der Magie und der Hexen zu sein, ein literarisches Konstrukt ist; dazu Fuhrer 2015, bes. 91–94. 44 Im Sinn einer sekundären Modellierung; vgl. Anm. 12.

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wird, in der er fortan als keuscher Priester der Göttin Isis wirkt.45 Lucius’ Heimatstadt, in der seine Familie immer noch wohnt,46 ist jedoch bereits durch die vorausgehenden (frivolen) Erzählsequenzen nicht als Schauplatz einer glücklichen Heimkehr und Ort der moralischen Läuterung konnotiert. Auch die außerliterarischen Referenzen weisen Korinth anders aus; denn die zeitgleich mit Karthago von den Römern zerstörte und unter Caesar neu gegründete Stadt, die Hauptstadt der römischen Provinz Achaia und damit eine der wichtigsten Städte im römischen Griechenland, mit bedeutenden Kultstätten sowohl der römischen Venus als auch der bisweilen mit Venus gleichgesetzten Isis, ist bekannt als Stadt der Spiele in Theater und Arena, der Hetären, der fremden Kulte, von Luxus und Dekadenz.47 Der Ort seiner Herkunft kann den Protagonisten also nicht zur endgültigen Erlösung führen, sondern lässt ihn erneut scheitern, selbst im Prozess der kultischen Reinigung.48 Der neugierige und an sinnlichem Vergnügen interessierte Jüngling Lucius wird nun zum glühenden Verehrer einer ägyptischen Göttin und kehrt nicht zu seiner griechischen Familie zurück, sondern wird Priester einer orientalischen Kultgemeinschaft. Mit der Initiation in die Isis-Mysterien bindet er sich an eine religiöse Sekte, die ihn mit strikten Auflagen und finanziellen Verpflichtungen weiter umtreibt.49 Doch bereits der Prolog weist auf einen weiteren Raum voraus, in dem das schreibende und damit das erzählte Ich sich einer Serie weiterer Wandlungen, unter anderem dem im Prolog genannten „Sprachwechsel“ (1, 1, 6: vocis immutatio), unterziehen muss. Von seiner neuen Herrin Isis wird er aus der Heimatstadt ins ferne Rom entsandt, wo er ein Jahr in ihrer Kultgemeinschaft lebt und dazu gedrängt wird, sich auch in die Mysterien von Isis’ Brudergemahl Osiris einweihen zu lassen (vgl. 11, 26−27). Dabei begegnet er einem Priester namens Asinius Marcellus, der ihm in der vorangehenden Nacht im Traum erschienen war. Dieser

45 Diese Erwartung wird auch durch die zahlreichen Parallelen zur Odyssee und damit zum Nostos-Motiv geweckt; so Harrison 2002, 43; vgl. Graverini 2012, 167−168. 46 Lucius kehrt allerdings nur kurz in seinem Elternhaus ein (vgl. 11, 26, 1). 47 Dazu Graverini 2002 und 2012, 169−175; Zimmerman 2005; vgl. auch Zimmerman 2000, 18: „a kind of ‚Vanity Fair‘“. 48 Dies wird in der Apuleius-Forschung erst mit dem aufkommenden Interesse an der Semantisierung und Narratologie der Räume diskutiert. Neben den in Anm. 47 aufgeführten Arbeiten vgl. auch Harrison 2002; Innes 2005 [2001]. Von ‚Konversion‘ wird heute nicht mehr gesprochen; vgl. dazu Bradley 2012, 28−35. 49 Von servitium, servire und iugum voluntarium spricht der Isis-Priester in seiner Ansprache an Lucius nach der Verwandlung (11, 15); die finanziellen Aufwendungen werden immer wieder thematisiert (vgl. 11, 18, 3; 11, 20, 3; 11, 21, 4; 11, 22, 3; 11, 23, 1; 11, 24, 6; 11, 25, 7), insbesondere im Kontext der Weihe in den Osiris-Kult in Rom (vgl. 11, 28). Den Aspekt der ‚religiösen Versklavung‘ hebt zuletzt Bradley 2012, 205−211 hervor; vgl. auch Harrison 2012.

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Asinius, dessen Name an asinus (Esel) anklingt, wie der Text explizit macht (vgl. 11, 27, 7), identifiziert ihn als „Mann aus Madauros“ (Madaurensis), den Asinius gemäß einer im Traum erteilten Weisung weihen soll (11, 27, 9): Nam sibi visus est quiete proxima, dum magno deo coronas exaptat ‹et›, de eius ore, quo singulorum fata dictat, audisse mitti sibi Madaurensem, sed admodum pauperem, sui statim sua sacra deberet ministrare; nam et illi studiorum gloriam et ipsi grande compendium sua comparari providentia. Hatte ihm doch in der letzten Nacht geträumt, er habe dem großen Gott Kränze arrangiert und unterdessen aus seinem alle Lebensschicksale kündenden Mund vernommen, man schicke ihm einen übrigens ziemlich mittellosen Mann aus Madauros, dem er sofort seine Weihen erteilen solle; denn durch seine Obhut würde dem Betreffenden ebenso glänzende Belehrung wie ihm selbst gewaltiger Gewinn zuteil.

Die Weihe werde dem ‚Eselich‘ (Asinius)50 Gewinn, dem „Mann aus Madauros“ dagegen allein Ruhm verschaffen. In der Folge bemüht sich Lucius dennoch um Geld, indem er als Anwalt tätig ist und als Grieche Prozessreden in lateinischer Sprache verfasst (11, 28, 6). Der Verweis auf den Herkunftsort des empirischen Autors – Madauros im westlichen, lateinischsprachigen Nordafrika (heute Algerien) – kurz vor dem Ende der Geschichte, der weder von der erzählten Figur noch vom Erzähler kommentiert wird,51 hat die Apuleius-Forscher/innen immer wieder verwirrt, zumal der historische Apuleius ebenfalls als Redner tätig war und eine Priesterweihe empfangen hatte, wie er in der Apologie von sich sagt.52 Man hat deshalb die Metamorphosen als verschlüsselte Autobiographie lesen wollen.53 Der Verweis auf den Madaurensis wäre dann eine Sphragis, d. h. die Signatur des schreibenden Autors, wie sie in der antiken Literatur öfter am Ende eines Textes angebracht wird. In der Regel wird mit einer Sphragis jedoch die Fiktion aufgegeben, während hier die Figur des Lucius Gegenstand der fiktionalen Erzählung bleibt: Er, nun näher identifiziert

50 August Rode übersetzt Asinius Marcellus mit „Dürr-Esel“. 51 Dies hebt Harrison 2008 [2000], 248 hervor. 52 Vgl. apol. 55: sacrorum pleraque initia in Graecia participavi. Für eine Diskussion der Schlusspassage vgl. Tilg 2014, 133–148 und den Kommentar z. St. von Keulen u. a. 2015, 464–469 (vgl. ibid. 18–19). 53 Die Möglichkeiten bzw. Vorschläge der Deutung der Selbstreferenz stellt van der Paardt 1999 zusammen (Fehler des Autors, der Überlieferung, Absicht im Sinn einer weiteren Metamorphose des Autors zur von ihm erzählten Figur); vgl. zuletzt Harrison 2012; Smith 2012; Tilg 2014, 107–131. Eine biographistische Lektüre schlägt neuerdings wiederum Bradley 2012 vor, vgl. bes. 35−38.

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als „Mann aus Madauros“, wird zum Osiris-Priester geweiht,54 lässt sich den Kopf kahl scheren und wird in das Kollegium der Pastophoren aufgenommen, das, wie zum Schluss ebenfalls gesagt wird, unter Sulla (zu Beginn des 1. Jhs. v. Chr.) gegründet wurde (vgl. 11, 30, 5). Als nun gut verdienender Anwalt und Inhaber eines altehrwürdigen sakralen Amts lebt er fortan zufrieden in Rom, mit einer weithin erkennbaren Kopfglatze (11, 30, 5: non umbrato vel obtexto calvitio, sed obvio, gaudens obibam). Damit schließt das Werk. Wir erfahren ganz zuletzt, dass wir uns eigentlich den Ich-Sprecher von Anfang an als kahlköpfigen Oberpriester hätten vorstellen müssen oder können, der nichtsdestotrotz und ohne relativierenden auktorialen Kommentar ‚Milesische Novellen‘, also frivole und bisweilen pornographische Geschichten erzählt, die er als Mensch oder Esel Lucius entweder von anderen hört oder in denen er selbst auftritt. Er lebt, wie wir am Ende hören, in Rom, schreibt für ein römisches Publikum und deshalb in lateinischer Sprache. Rom wird damit zum Herkunftsort des vorliegenden Romans erklärt; denn aus der Relecture des Prologs ergibt sich, dass Rom der Ort ist, an dem die fabula Graecanica in einen lateinischen Text ‚verwandelt‘ wurde.55 Im Anschluss an die Relecture des Prologs lässt sich nun die Identifizierung der Romanfigur Lucius als Madaurensis in 11, 27, 9 doch auch als Referenz auf den Herkunftsort des extradiegetischen Erzählers und Verfassers des Buches verstehen. Die fiktive Figur Lucius ist – zumindest in der lateinischen Version der Metamorphosen – das Produkt des Apuleius von Madauros. Mit der Nennung des Toponyms werden der geographische Horizont und die Palette der Herkunftsräume auch des Textes erneut erweitert: Neben Griechenland (einschließlich Kleinasien), Ägypten und Rom ist nun ebenfalls das westliche Nordafrika in die literarische Topographie einbezogen. So kommt ein weiterer Kulturraum in den Blick, der in der globalisierten Welt des 2. Jhs. zunehmend an Bedeutung gewinnt, nicht zuletzt als Herkunftsraum zahlreicher Literaten.56

54 Er erhält die Anweisung, sein ihm in Korinth angelegtes Priestergewand im Tempel zu deponieren; daraufhin muss er sich einer weiteren – insgesamt also der dritten – Weihe unterziehen. 55 Dass das Publikum der lateinischen Metamorphosen römisch und konkret in Rom zu denken ist, betonen insbesondere Dowden 1994; Graverini 2002 und 2012, 180−193. Die Verlagerung der Heimat des Protagonisten Lucius nach Rom wird in der angelsächsischen Forschung als ‚Romecoming‘ bezeichnet, so Tilg 2014, 110–111; Keulen u. a. 2015, 31–32. 56 Die Daten und Fakten stellt Fontaine 1985 zusammen; zu Apuleius’ Kontext im Besonderen vgl. Tatum 1979, 105−134; Bradley 2012, 126−146; Graverini 2012, 193−197; zuletzt Lee u. a. 2014, 1–19.

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5 Figurationen eines Phänomens der Kultur- und Literaturgeschichte Von den zahlreichen Versuchen, die mehrfache Selbst-Verortung des Ich-Sprechers im Prolog und im ‚Epilog‘ der Metamorphosen zu deuten, hat bisher eine These von Stephen Harrison nur wenig Beachtung gefunden, mit der es ihm aber immerhin gelingt, die auffällig gehäuften Verweise auf Herkunftsorte widerspruchsfrei zu erklären. Harrison versteht den Prolog als Rede des personifizierten Buches, das sich dem Leser in Form einer Papyrusrolle präsentiert und das seinen Inhalt als literarische imitatio einer griechischen Vorlage ausweist.57 Gemäß dieser Interpretation ist nach dem Prolog ein Sprecherwechsel anzusetzen: Nach der Ich-Rede des Buches (vgl. 1, 1) folgt ab 1, 2 die Ich-Erzählung des Lucius, der an weiteren Stellen auf den schreibenden Autor des Buches verweist, jedoch auch als Tier eine personale Figur bleibt.58 Der Ich-Erzähler der Romanhandlung stammt also nicht, wie das Buch, gleichzeitig aus den drei Städten Korinth, Athen und Sparta, sondern aus Korinth und über Verwandte auch aus Thessalien; indem er sich am Ende als „Mann aus Madauros“ zu erkennen gibt, holt er – mit einer narrativen Metalepse – den extradiegetischen Erzähler und empirischen Autor des Buches in seine fiktionale Welt herein.59 Stephen Harrisons These wird in der Apuleius-Forschung allerdings kaum rezipiert, nicht zuletzt deswegen, weil mit der Vorstellung des sprechenden Buches und damit zweier unterschiedlicher Ich-Sprecher die Erzähllogik gestört wird.60 Doch ist die Annahme eines Prolog-Sprechers mit einer überpersonalen, nicht auf eine menschliche Figur beschränkten Identität durchaus erwägenswert. Ich möchte sogar weiter gehen als Harrison und auch das erzählte und erzählende Ich der Romanhandlung, den Menschen und Esel Lucius, als Figuration des literarischen Verfahrens interpretieren, das der empirische Autor im Text

57 Harrison 1990 und danach öfter, vgl. z. B. Harrison 2008 [2000], 217−218, 230; zuletzt Harrison 2012, 84−85. 58 Neben 11, 27 sind dies 2, 12, 5 und 4, 32, 6; dazu van der Paardt 1999, 245; Keulen u. a. 2015, 19–21. 59 So Harrison 2008 [2000], 230 mit Verweis auf Genette. 60 Harrisons These ist m. W. bisher nur von Nicolai 1999 und Graverini 2002, 65 mit Zustimmung aufgenommen worden. Die Ergebnisse der Forschung zu der Frage der Identität/en der Ich-personae fasst Keulen 2007, 11−14 zusammen; vgl. bes. 12: „This performance entails the rhetorical technique of impersonation: the ego will not only assume the persona of the protagonist Lucius, but will also impersonate the other characters who feature in his uariae fabulae, some of which are storytellers themselves“; vgl. zuletzt auch Keulen u. a. 2015, 14–19.

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ausstellt und das er gegen Ende der Erzählung mit seiner Signatur in Form der Nennung seines Herkunftsortes versieht. René Martin hat Apuleius als antiken Vorläufer von Umberto Eco bezeichnet, der alle in einem Text beschriebenen und genannten Dinge, Namen, Orte und Handlungen als Bedeutungsträger semantisiert und semantisierbar macht.61 Auf der Basis einer solchen Semiotik der Konnotationen62 lässt sich der wiederholte Rekurs auf Orte der Herkunft von Figuren, Texten und Schreibmaterial in den Metamorphosen als ein Schlüssel zum Verständnis zumindest einer Ebene des Romans verstehen. Das Ensemble der Orte umfasst und definiert insgesamt einen kulturellen Raum, in dem sich die griechische Literatur entwickelt hat, in dem sie um fremde, orientalische Elemente erweitert und in die römische Kultur und teilweise in die lateinische Sprache übertragen worden ist. Die Topographie der Herkunftsorte repräsentiert das in der römischen Literatur seit ihren Anfängen praktizierte Verfahren des Transfers von literarischen Texten und ihren poetologischen Konzepten und rhetorischen Strategien, ihrem Reservoir an Formen und Stoffen, ihren – philosophische, religiöse, politische, sozialkritische Fragen reflektierenden – Inhalten, die aus dem griechischen in den römischen Raum gelangt sind. Der kulturelle Transfer wird in der Zeit der antoninischen Kaiser im Rahmen der als ‚Zweite Sophistik‘ bezeichneten intellektuellen Strömung gleichsam professionalisiert, und Apuleius positioniert sich mit seinen Schriften in diesem Diskurs als „Latin sophist“.63 Die Figur des gebildeten, neugierigen und wissenshungrigen Griechen mit dem römischen Allerweltsnamen ‚Lucius‘, der in der griechischen Vorlage als Lukios bereits vorgegeben ist, repräsentiert einen Menschentypen, der diesen Diskurs der kulturellen Globalisierung geradezu inkorporiert, und der apuleische Prolog stellt diese Figuration der Kultur-Diagnose zu Beginn des Textes in der Ich-Rede des Prologsprechers vor. Die „Heimat“ (1, 1, 3) des Sprecher-Ichs, das in der Erzählung zum Lucius wird, ist nicht nur eine Stadt, sondern die Trias der literarisch semantisierten griechischen Städte Athen, Korinth und Sparta; Lucius stammt aber auch aus Thessalien, ist mit Philosophen aus Böotien verwandt, seine Geschichte wird nach alexandrinischen Stilprinzipien auf ägyptischem Papyrus aufgeschrieben, das Erzählmuster ist milesisch, das Priesterkollegium römisch, die Religion ägyptisch, und der Autor

61 Vgl. Martin 1993, 182: „Si je croyais à la métamorphose, je jurerais qu’Apulée s’est réincarné de nos jours dans Umberto Eco“. 62 S. Anm. 11. 63 So im Untertitel der Monographie von Harrison 2008 [2000].

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ist Afrikaner.64 Die Transformationsleistung dieses Autor-Ichs wird mit der Übertragung der Metamorphosen exemplarisch und auch symbolisch vorgeführt: Die Verwandlung des Menschen Lucius in einen Esel bzw. des Esels in einen Isis-Mysten und schließlich in einen Osiris-Priester gehen einher mit der Transformation eines griechischen in einen lateinischen und römischen Text. Die Metamorphosen können somit als „epideiktischer Roman“ gelten: als Text, der literatur- und kulturgeschichtlich relevante Phänomene ausstellt und der mit dem durch unterschiedliche kulturelle und literarische Traditionen erschlossenen Wissen in virtuoser Form arbeitet.65 Es bleibt die Frage, warum sich gerade der ‚Eselsroman‘ für die Inszenierung des Phänomens solcher Kultur-Metamorphosen eignen soll: Welche Möglichkeiten bietet eine Geschichte, in der ein Mensch in einen Esel verwandelt wird? Der Text gibt auf die Frage keine explizite Antwort, weist jedoch mit wiederholten Rekursen auf Gestalten und Motive aus verschiedenen Gattungen der antiken Literatur darauf hin, dass er als Ganzer als eine Art Paratext zu diesen gelesen werden kann oder soll: Neugierde, Magie, Tiermetamorphose, Intrigen, Gatten-/Vater-/Mutter-/Kindsmord, Erotik, philosophische, religiöse, mystische Erfahrungen – all das, was in den Metamorphosen verhandelt wird bzw. was die Figuren inszenieren oder repräsentieren, ist längst literarisch modelliert und Stoff der bekannten antiken Literatur, die das gebildete Lesepublikum der hohen Kaiserzeit kennt. Auch der Esel ist als literarische Figur bekannt: als Symbol für Duldsamkeit, Leid und Unglück, als Begleiter des Dionysos und seiner Satyrn und Mänaden, als heiliges Tier im Kult des ägyptischen Gottes Typhon, und nicht zuletzt ist ‚Esel‘ ein Schimpfwort mit derselben semantischen Konnotation wie in den meisten modernen Sprachen, in Sprichwörtern steht er auch für einen Menschen mit mangelhaftem Verstand für Musik und Literatur. Der vielzitierte „Esel, der die Leier hört“ (onos lyras akouōn)66 als Sinnbild für jemanden, der ein klangunempfindliches Gehör hat, ist zuerst belegt bei Menander; Varro schrieb eine menippeische Satire unter dem Titel Onos lyras. „Einem Esel eine Geschichte zu erzählen“ (onō mython legein bzw. asino fabulam narrare surdo)67 bedeutet, ein

64 Tatum 1979, 105 bezeichnet ihn als „African Socrates“; vgl. auch den Beitrag von Wytse Keulen bei Lee u. a. 2014, 129–153. 65 Zum Begriff der „epideictic novel“ vgl. Harrison 2008 [2000], 210 mit Anm. 3, mit Verweis auf Tatum 1979, 135 und Winkler 1985, 6. Vgl. auch bes. Graverini 2002 und Rosati 2003, 293: „un’ identità come metamorfosi“. 66 Men. Frg. 460 Körte; vgl. Lukian. adv. indoct. 4; Boeth. cons. 1, 4, 1 und 4, 3, 19; Epikt. diss. 4, 5, 21. Dazu Raepsaet 1998, 134. Vgl. auch Gell. 3, 16: asinus ad lyram (jemand eignet sich für etwas „wie der Esel zum Lautenschlagen“). 67 Zenob. 5, 42; Hor. epist. 2, 1, 199−200. Vgl. dazu auch Greene 2008, 178.

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unverständiges Publikum vor sich zu haben. Tatsächlich kann weder der Mensch Lucius noch der Esel, die beide eine Reihe von Abenteuern erleben und Geschichten hören, die Handlungs- und Erzählmuster, Figuren und Motive deuten; er bleibt damit trotz langer Ohren, die vieles aufnehmen können, taub und unverständig.68 Als Figur des jungen, wissbegierigen und sinnlichen Mannes, als in ein Tier verwandelter Mensch, als Konvertit und Priester ist er sowohl Teil der literarischen Tradition als auch ihr Rezipient, gleichsam sowohl ein Picaro, der sich mit seinem aus unterschiedlichen Kontexten zusammengetragenen Wissen durchs Leben schlägt, als auch ein Don Quichotte, der sich mit seinem angelesenen, literarischen Wissen eine Welt konstruiert, sich in seiner Vorstellung in sie ‚begibt‘ und immer wieder an der ‚Realität‘ scheitert. Auch der Prolog-Sprecher führt den „Leser“ (lector) zu einer solchen Lektüre hin, indem er ihn dazu auffordert, sich zu „wundern“ (ut mireris), und ihm verspricht, bei der Lektüre der aus dem Griechischen in die fremde Sprache übertragenen Geschichte „sein Vergnügen zu haben“ (lector, intende, laetaberis). Er macht dem lector kein Angebot, ihn an dem religiösen und kultischen Wissen teilhaben zu lassen, über das er als Isis- und Osiris-Priester, als der er ihm bei der Relecture erscheinen muss, ja eigentlich verfügt.69 Dem Leser bleibt damit die Möglichkeit, die Metamorphosen als Unterhaltungs- bzw. Trivialliteratur zu lesen und im „vergnügten“ Miterleben der Abenteuer mit Lucius zum ‚Esel‘ und am Schluss zum kahlköpfigen Anhänger einer orientalischen Kultgemeinschaft zu werden.70 Ob das Vergnügen auch ein ästhetisches und intellektuelles sein kann, lässt der Text des Prologs offen; allein die ausgefeilte Sprache, der hohe Stil und die Fülle an unterschiedlich konnotierten Begriffen verweisen auf weitere Möglichkeiten der Lektüre. Apuleius’ ‚Eselsroman‘ ist ein Text, der die Bedeutung von literarischem Bildungswissen und die Wechselwirkungen der Produktion und Rezeption von Literatur diskutiert, die sich zwar durch die griechischen Räume der Herkunft nobilitiert, die

68 Dies betont Hofmann 1997, 156–157: „Er ist eben einer, der nicht sieht und nicht begreift, ein schlechter Hermeneut“. 69 Die wiederholte Lektüre schreibt bereits Quintilian für ‚gute‘ Literatur vor (inst. 10, 1, 20: perlectus liber utique ex integro resumendus); dazu Hofmann 1997, 166–167 mit Anm. 86. 70 Ähnlich argumentieren Schmale 2004 und Kirichenko 2008. – Die Kahlheit, die am Ende prominent ausgestellt wird, kann als Symbol der Tölpelhaftigkeit und Komik verstanden werden; dazu Winkler 1985, 224–227. Wie Graverini 2012, 82−89 betont (vgl. Keulen u. a. 2015, 514), ist die Glatze allerdings gleichzeitig auch Kennzeichen des sokratischen Philosophen; der geschorene Kopf gilt als ernstzunehmender Ausweis der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft. Der Kahlkopf macht Lucius damit zu einer Art Kippfigur, die sowohl auf intellektuelle Schärfe wie auch auf Schlichtheit verweist.

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den Leser mit der Lektüre der Metamorphosen aber dazu bringt, einen Text zu lesen, der sich von Trivialliteratur auf den ersten Blick nicht unterscheidet. Die Erweiterung und demographische Heterogenisierung der Kulturräume, durch die sich ein in allen Sparten der Literatur gebildeter Leser nun bewegen kann, bringt per se keinen qualitativen Gewinn an Wissen. Wie der Esel wird auch der Leser zwar multiscius, aber der Sprung von der ‚Vielwisserei‘ der Bildung zu einer ‚verstehenden Lektüre‘ kann nur gelingen, wenn das kultur- und sozialkritische Potenzial dieses Textes erkannt wird.71

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71 Ähnlich, jedoch mit anderen Schlussfolgerungen, deutet den Aspekt des Trivialen Keulen 2009, 214: „Prepared by the programmatic statement in the prologue, the Roman reader becomes well aware that scorning this text as a trivial and obscene piece of fiction, a mere fabula, means failing his chance to prove his intellectual authority, and entails the risk of being exposed as a fool with thick ears by other more scrupulous readers“. Zur Inszenierung der Kritik an der ‚Vielwisserei‘ (der Figur des multiscius in der Gestalt des Lucius/des Esels) vgl. Graverini 2007.

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Julia Weitbrecht

Heterotope Herrschaftsräume in frühhöfischen Epen und ihren Bearbeitungen König Rother, Herzog Ernst B, D und G

1 Herkunfts- und Handlungsraum im König Rother Bi deme westeren mere saz ein kuninc der heiz Rother. in der stat zu Bare da lebete er zu ware mit vil grozen erin. (KR, V. 1–5)1 An der Küste des Adriatischen Meeres residierte ein König, der hieß Rother. In der Stadt Bari lebte er wahrhaftig in großem öffentlichen Ansehen.

Mit diesem Einsatz beginnt das frühhöfische Versepos König Rother, das aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts überliefert ist.2 Der Raum der Herkunft – Bari dient hier als Ortsangabe und das Römische Reich ist der Herrschaftsraum, der für diesen Text bestimmend ist – ist derjenige, von dem alles ausgeht und in dem alles wieder zusammenkommt. Herkunft erscheint dabei nicht nur als eine geographische Zuordnung, sondern vor allen Dingen als Kategorie der sozialen Zuschreibung. Der Herkunftsraum der feudaladligen Protagonisten dieser Texte verweist stets auf ihr Herrschaftsgebiet als diejenige Sphäre, in der sich ihre

1 Hier und im Folgenden wird aus dem König Rother (Sigle KR) mit Versangabe direkt im Text zitiert. 2 Zur gängigen Datierung des Rother um 1150/60 bzw. 1160/70 s. Schmitz 2002, 167, Anm. 1.

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Macht konzentriert.3 Mit der Bewegung durch den Raum bzw. in eine andere Herrschaftssphäre werden in diesen Texten zugleich auch Herrschafts- und Selbstverständigungsfragen verhandelt, denn Rother hat ein schwerwiegendes Problem, das in der mittelalterlichen Brautwerbungsepik immer wieder verhandelt wird: Ihm dienen zwar zahlreiche heren und kuninge (KR, V. 6−7), aber er ist noch ohne Nachkommen. Darum wird im Zuge der Beratung mit seinen Vasallen, wer als Braut in Frage käme, schon bald ein weiterer Herrschaftsraum eröffnet: Ich weiz, wizze Crist, berichtet ihm sein Getreuer Lupold: oster over se einis riken kuninges tochter vil her, da zo Constantinopole in der meren burge. (KR, V. 64–68) Bei Gott, ich weiß im Osten jenseits des Meeres von der vornehmen Tochter eines mächtigen Königs, dort in Konstantinopel, in der berühmten Stadt.

Die Oppositionen bi dem westeren mere und oster over se eröffnen ein dichotomes Raummodell, das durch die Grundelemente des Brautwerbungsschemas bestimmt ist, nach dem die dem Herrscher ebenbürtige Frau dem ExogamieGebot zufolge aus einer anderen Herrschaftssphäre stammen muss, weshalb weit entfernt vom eigenen Hof – uber mer – um sie geworben wird.4 Als Handlungsraum im Rother erscheint Konstantinopel, denn dorthin reist Rother, um durch List die Tochter Konstantins als Braut zu gewinnen, und dorthin muss er erneut zurückreisen, nachdem dieser seine Tochter von einem Spielmann hat rückentführen lassen. Am Ende stehen jedoch die Versöhnung mit Konstantin, die Rückkehr nach Bari und die Familiengründung (die namenlos bleibende Braut ist bereits auf der ersten Überfahrt von Rother schwanger geworden).5 Da am Beginn

3 Das wird in der historischen Semantik des mhd. Begriffes rîche deutlich: Dieser bezeichnet ebenso den Herrschaftsbereich wie den Herrscher und – als Abstraktum – seine Herrschaft. 4 Vgl. zum Rother Kiening 2003 [1998] und Stock 2002. Zum Brautwerbungsschema s. die Monographie von Schmid-Cadalbert 1985 sowie Ortmann und Ragotzky 1993; Strohschneider 1997 und Müller 2010. Zu den Möglichkeiten der Problematisierung bzw. Transzendierung des Schemas über die Kombination unterschiedlicher narrativer Motivierungen zuletzt Seidl 2013. 5 Auf den Erzählschluss des moniage, in dem sich Rother und seine Frau von der Welt in ein Kloster zurückziehen, kann ich hier nicht eingehen, vgl. dazu Biesterfeldt 2004a und 2004b.

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das im Herkunftsraum herrschende Defizit der fehlenden Nachfolge steht, ist die gemeinsame Rückkehr von Brautwerber und Braut final motiviert: Rothere unde sine man voren vroliche ingegen romesche riche her wider zu Bare uf den sant. […] die vrowe Pipinis genas an deme selven tage, do si quamen zo deme stade. (KR, V. 4758–4766) Rother und seine Vasallen segelten hochgestimmt dem römischen Reich entgegen, zurück an den Strand von Bari. […] Die Herrin kam mit Pippin nieder genau an jenem Tage, an dem sie am Ufer angelegt hatten.

Das Ziel der Reise und die Rückkehr in den Herkunftsraum, Ankunft und Niederkunft fallen zusammen. Die Nachfolge ist gesichert und mündet, über den Sohn Pippin, in die Karlsgenealogie. Das dichotome Raummodell transportiert im Rother zugleich eine Konfliktstruktur, in der es um weit mehr geht als um den Brauterwerb, und die er mit anderen zeitgenössischen Epen wie dem Herzog Ernst teilt,6 die feudale Herrschaft – ihre Konstituierung und Verstetigung, aber auch ihre Problematisierung und Modifikation – thematisieren: „Konstantinopel ist das Spielfeld, auf dem die Machtlegitimation des Westens […] gegenüber dem östlich-christlichen Reich […] und gegenüber den nicht-christlichen Machtträgern ausgehandelt wird.“7 Indem Bari und Konstantinopel, das weströmische und das byzantinische Reich aufeinander bezogen sind, werden über die dichotome Raumordnung feudale

6 Die problematische Gattungsbezeichnung „Spielmannsepik“ ist für die hier ausgewählten Texte ebenso zu vermeiden wie die unspezifischere Bezeichnung als „Brautwerbungsepik“, die den Herzog Ernst nur mittelbar betrifft. Heuristisch lassen sich die ausgewählten Texte als ‚frühhöfische‘, seit dem späten 12. Jh. überlieferte Epen fassen, die weder zum Korpus der arthurischen Literatur noch zur traditionellen Heldenepik zählen. Sie sind zweiteilig organisiert und verhandeln auf Herrschaft bezogene feudaladlige Problemstellungen. Vgl. zur Einordnung als „frühe[] Protagonistenromane[]“ Stock 2002, 73−74, 11−12 (zur Zweiteiligkeit), 230–243 (zum Rother). 7 Stock 2002, 245.

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Herrschaftskonflikte ausgehandelt und unterschiedliche Herrschaftsordnungen gegeneinander ausgespielt.8 Dabei bildet im König Rother der Herkunftsraum lediglich den Ausgangs- und Zielpunkt; der Weg in den Handlungsraum Konstantinopel erscheint unwichtig, auf die Reise wird keine weitere Beschreibung verwendet. Dieser Raum ist nicht fremd im Sinne von kategorial anders, es handelt sich lediglich um einen anderen Herrschaftsbereich, in dem sich Rother ebenso souverän zu bewegen weiß wie im Herkunftsraum. Er erobert Konstantinopel nicht, sondern demontiert in einer ausgeklügelten Mischung aus List und Gewaltandrohung die Macht Konstantins in dessen eigenem Herrschaftsbereich, den er dann aber mit seiner ‚Beute‘ wieder verlässt. Daher ist die Rückkehr in den Herkunftsraum konstitutiv dafür, dass sich der Protagonist als adliger Herrscher bewährt (hier im abgeschwächten Sinne einer Rückkehr in einen nicht mehr defizitären Zustand). Doch macht Rother sich den fremden Herrschaftsraum Konstantinopel auch zu eigen: In der sukzessiven Schwächung von Konstantins Herrschaft werden die Machtverhältnisse zwischen Ost und West neu austariert. Zuletzt wird die Zweiteilung wenn nicht aufgehoben, so doch auf der Herrschaftsebene nivelliert: die heren voren allesamt wider hein in ir lant. do reit der herre Constantin unde die riche koningin zo Constantinopole der maren burge. In ne rou sin tohter nicht, Rotheres ere was ime lief. (KR, V. 4749–4756) Die Herren alle segelten zurück in ihr Heimatland. Da ritt der Herr Konstantin

8 Schmid-Cadalbert 1985, 84 entwickelt eine dreiteilige Raumstruktur für die Brautwerbungsepik, da er das Meer als eigenen Handlungsraum auffasst, dessen Bedeutung aber gleichzeitig abschwächt: „Die Überfahrt über das Meer verläuft normalerweise ereignislos und wird mit wenigen Worten abgetan.“ Auch ist die von Stock 2002, 11–12 hervorgehobene Zweiteiligkeit der narrativen Organisation nicht mit dem hier zugrunde gelegten dichotomen Raummodell gleichzusetzen. Dieses ist über den Zusammenhang von Raum und Herrschaft durch eine grundsätzliche Spannung des Herkunftsraumes gegenüber einem zweiten Herrschaftsbereich (König Rother) bzw. gegenüber einer Sphäre der Fremde (Herzog Ernst) konstituiert. Beide können als Schauplätze im Sinne von Handlungsräumen fungieren, weitere (Herrschafts-)Sphären können als räumliche Gegebenheit Erwähnung finden (etwa Babylonien im Rother). Zur Terminologie vgl. Dennerlein 2011, 159−160.

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gemeinsam mit der mächtigen Königin nach Konstantinopel, in die sehr berühmte Stadt. Die Abreise seiner Tochter schmerzte ihn nicht, Rothers Ansehen war auch sein Anliegen geworden.

Jenseits der Brautwerbungsthematik liegen die Funktionalisierungsmöglichkeiten eines solchen Raummodells in Bezug auf feudaladlige Leitbilder somit darin, dass die Herrschaftssphären des Eigenen und des Fremden wechselseitig aufeinander zu beziehen, also heterotop organisiert sind: In der Bewegung durch die und über die Erfahrung einer gegenbildlichen Fremde werden Konflikte ausagiert, die im Herkunftsraum Angst einflößend oder destruktiv erscheinen und die in der Fremde durch Bewährungstaten oder Wissenserwerb kompensiert werden können.9 Dieser Aufbau erscheint für die narrative Konstitution von feudaler Herrschaft über die Abgrenzung nach außen ebenso von Bedeutung wie für die Konzeption des Helden und seine Bewährungsleistungen in seiner Bewegung zwischen den Sphären. Anders als etwa in den zeitgenössischen Alexanderbearbeitungen geht es dabei nicht um eine Expansion von Herrschaft und somit eine Erweiterung des Herrschaftsraumes,10 sondern um die Konstituierung, Verstetigung oder Re-Etablierung von Herrschaft in der eigenen Machtsphäre unter Bezugnahme auf eine diametrale Herrschaftssphäre, die qua Reise zum Möglichkeits- und Kompensationsraum wird.11 Insbesondere an meinem zweiten Beispiel, dem ebenfalls Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jh.s überlieferten Herzog Ernst,12 wird deutlich, dass die Sphäre des ‚Fremden‘ einen komplementären, aber eigengesetzlich konzipierten Raum bildet und sich damit von der den Hof umgebenden wilde des Artusromans unterscheidet, die weitgehend durch ihren Status als ‚Nicht-Hof‘ bestimmt ist.13 Die von Herzog Ernst bereisten Räume dagegen sind durch ein spezifisches

9 Ausführlicher zum Heterotopie-Begriff s. die Anmerkungen 31–36. 10 Auch wenn für den Straßburger Alexander die Rückkehr Alexanders als geläuterter, besserer Herrscher ebenfalls eine Rolle spielt. 11 Zum Möglichkeitsraum vgl. Stock 2002, zum Kompensationsraum im Sinne Foucaults s. u. Anm. 31. 12 Der etwas früher datierte Herzog Ernst (A) ist nur fragmentarisch überliefert, scheint aber in der Narration mit (B) übereinzustimmen. Zu den einzelnen Fassungen vgl. Behr 1979. 13 Vgl. Schulz 2012, 316. Ein Zusammenhang von Raum und Heldenkonzeption wird auch darin sichtbar, dass die Rückkehr in den Herkunftsraum im Artusroman keine Rolle spielt, sondern die Bewährung des Artusritters an seine Heimatlosigkeit bzw. die Erschließung neuer Herrschaftsräume gebunden ist (Störmer-Caysa 2007, 40 und 65).

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Verhältnis von geographischer Konkretheit und Andersweltlichkeit geprägt,14 das für die zeitgenössische Wahrnehmung und Konstruktion von ‚Orient‘ charakteristisch ist.15 Das wiederum ist relevant für die Selbstverständigung der Helden, also ihre Verortung im Herkunftsraum über den temporären Aufenthalt in dieser Fremde.16 Über die Frage nach der heterotopen Organisation der erzählten Räume möchte ich zum einen analysieren, in welcher Weise die beiden Sphären funktional aufeinander bezogen sind und was eine solche Raumordnung für das Erzählen von Herrschaft leistet, zum anderen aber im Sinne einer Historisierung raumnarratologischer Konzepte auch untersuchen, was sich im Laufe der Überlieferung daran verändert. Die hier behandelten Texte tragen zur Formierung feudal-höfischer Herrschaftskonzeptionen im 12. und 13. Jh. bei, fixieren diese aber nicht, sondern schreiben sie auch fort: So ist der Herzog Ernst in vielfältiger Form wieder- und weitererzählt worden, wobei das zugrundeliegende Raummodell unterschiedlich funktionalisiert wurde. Im Folgenden wird daher die heterotope Wechselbeziehung von Herkunfts- bzw. Herrschaftsraum und ‚fremdem‘ Kompensationsraum an der frühesten vollständig überlieferten Fassung des Herzog-Ernst-Stoffes, dem Herzog Ernst (B) entwickelt, um dann an zwei weiteren Beispielen, dem Kreuzzugsepos Herzog Ernst (D) und dem strophischen Heldenlied Herzog Ernst (G) zu zeigen, wie unterschiedlich sich dieses Verhältnis funktionalisieren lässt.17

14 Diese Raumkonfiguration wird in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst unterschiedlich wirksam – im Herzog Ernst (F), der deutschen Übertragung einer lateinischen Prosafassung (C), wird die Fremde nicht nur zum Resonanzraum des Eigenen, sondern die deutschen Ritter erscheinen selbst als Eindringlinge, wenn sich die Einäugigen von Arimaspi über das merkwürdige Aussehen der fremden Ritter (zwei Augen!) wundern: […] besahen Hertzog Ernst mit seinem Volck gar wol / vnd verwunderten sich sehr solcher Leut / Giengen hin vnd sagten das jrem Herren der Stad an / wie das Leut vor dem Thor weren mit zweien Augen. (Die Historie von Herzog Ernst 23, 10–14, 119). 15 Vgl. Craciun 2002/2003; Brall 1991; Szklenar 1966. 16 Hierin liegt bei allen Unterschieden in der Erzählform das Verbindende der ausgewählten Texte. Vgl. zur Gegenüberstellung von Variationstypus (Rother) und Kombinationstypus (Herzog Ernst) Stock 2002, 11−12. Zur Erzählstruktur der beiden Texte kann hier nur eine Auswahl an Literatur genannt werden. Vgl. zum Rother Fuchs-Jolie 2007; Fuchs-Jolie 2005 und Kiening 2003 [1998], zur Inszenierung der Innenräume am Hof Konstantins Stock 2011. Zum Herzog Ernst (B) siehe Stock 2002, 151–166; Andersen 2003; Stein 1997 und Kühnel 1979. 17 Ich verwende diese Begriffe zur Abgrenzung der einzelnen Bearbeitungen, nicht im Sinne belastbarer Gattungsbezeichnungen.

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2 Der Orient als Kompensationsraum im Herzog Ernst (B) Für die Analyse der Verknüpfung von Herkunftsraum und Fremde ist der Herzog Ernst (B) deshalb interessant, weil der Protagonist, anders als König Rother, sich den Raum gerade nicht virtuos zunutze macht und beherrscht. Das rührt aus der Ausgangssituation im Herkunftsraum her: Die dort entstandenen Konflikte versehen den Helden mit einer Ambivalenz, die nicht zuletzt in der Raumerfahrung auf seinen Reisen sichtbar wird. Obwohl sich die Abenteuer, die Herzog Ernst bestehen muss, im Orient abspielen, ist der Herkunftsraum deshalb von entscheidender konzeptioneller Bedeutung für die Raumordnung des Epos, denn hier wird das höfisch-feudale Referenzsystem modelliert, an dem sich die restliche Erzählung abarbeitet. Der Beginn des Herzog Ernst (B)18 entwirft einen homogenen Herrschaftsraum, das rîche, der sich weithin erstreckt,19 aber durch die allgemein verbindliche höfische zuht und das damit zusammenhängende Tugendsystem verbunden ist. Herrscherkompetenz wird in diesem Zusammenhang auch mit Wissen und Sprachkompetenz verbunden, denn Ernst wird in Griechenland (das ist hier wohl mit dem byzantinischen Reich gleichzusetzen) erzogen, dâ wurden im die liute erkant / von maniger hande wîsheit („wo er Gelehrte der verschiedenen Wissenschaften kennenlernte“; HEB, V. 74−75). Nachdem seine Mutter den Kaiser Otto geehelicht hat, wird seine Vorzugsstellung im rîche gefestigt: Dem recken was der keiser holt: / daz hete der helt vil wol verscholt / gein dem rîche und wider in („Diesem Mann war der Kaiser hold: / Das hatte der Held dem Reiche / und ihm gegenüber wohl verdient“; HEB, V. 628–630). Wie im König Rother ist es im Herzog Ernst (B) ebenfalls ein auf Herrschaft bezogenes Defizit, das die Flucht des Helden aus dem rîche veranlasst. Eine Intrige des Pfalzgrafen Heinrich führt dazu, dass das zunächst so harmonische Verhältnis Ernsts zu seinem Stiefvater erschüttert wird. Nach einem Angriff auf den Kaiser, bei dem Ernst Heinrich tötet, fährt er, um der weiteren Vernichtung seines Herzogtums zu entgehen, auf einen Kreuzzug. Dabei verschlägt ihn ein Sturm in eine unbekannte, exotische Welt voller Wundervölker und Mischwesen, mit denen er zahlreiche Abenteuer erlebt, bevor ihm die Rückkehr in den bekann-

18 Im Folgenden wird aus dem Herzog Ernst (B) (Sigle HEB) mit Versangabe direkt im Text zitiert. 19 des wart er wîten erkant / über manic künicrîche, HEB, V. 82−83 („Deshalb wurde er weithin bekannt / in vielen Königreichen“) – vil wîten, HEB, V. 91 – in allen diutschen rîchen, HEB, V. 143 – manic fürsten lant, HEB, V. 180.

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ten Raum (zunächst Môrlant [d.  i. Babylonien], dann das Heilige Land) gelingt und er schließlich wieder in den Herkunftsraum zurückkehren kann. Seine Abenteuer und insbesondere die von ihm mitgebrachten Exemplare der fremden Völker (seine ‚Beute‘) verschaffen ihm die Legitimierung, die für eine Versöhnung mit dem Kaiser notwendig ist. Am Ende unterwirft er sich in Bamberg seinem Stiefvater und wird voll rehabilitiert. Diese zyklische Bewegung Ernsts bewirkt seine Restitution, die, obwohl er zwischenzeitlich zu Ansehen kommt, erst nach seiner Rückkehr in den Raum der Herkunft wieder wirksam wird. Sein ‚Defizit‘ wird dadurch ausgeglichen, dass er sich im Orient mehrfach bewährt und die Fremde anschließend gewissermaßen mit zurückbringt. Die Verbindung der beiden Erzählräume bleibt an den Protagonisten gebunden, der exklusives Wissen über die Fremde in die eigene Sphäre zurückträgt. Das im Herkunftsraum entstandene Machtdefizit bedingt die Uneindeutigkeit des Protagonisten, die im Blick auf zeitgenössische Konzepte heroischer Ungebrochenheit sichtbar wird. Ernst muss aus dem rîche fliehen, es bleibt aber unklar, inwieweit er sich auch selbst falsch verhalten hat.20 Und die Frage, wie man sich – im Sinne des höfisch-ritterlichen Verhaltenskodex, der im Herkunftsraum gültig ist – richtig verhält, ist, je weiter sich Ernst vom zu Beginn so global gezeichneten Herkunftsraum entfernt, immer schwieriger zu beantworten, weil er durch seine Erziehung auf bestimmte Situationen eben doch nicht vorbereitet wurde. Im Reiseverlauf verlässt er sukzessive den geographisch greifbaren, christlich konnotierten Raum und die damit verbundenen Ordnungsstrukturen: Zunächst erreicht er geographisch entfernte, aber dennoch bekannte Wegstationen, von Ungarn gelangt er über die bulgarischen Wälder nach Konstantinopel. Diese Grenzbereiche stellen noch kein Problem dar, denn hier funktionieren die Regeln des höfischen Miteinanders so, wie Ernst sie beherrscht. Zunehmend versagen dann aber die vertrauten Verhaltensweisen; die Reise ist in steigendem Maße durch Kontingenzerfahrung und Desorientierung gekennzeichnet. Ernsts Bewährung besteht deshalb nicht zuletzt auch im Versuch der räumlichen Orientierung in der Fremde, die als Gegenbild zum Herkunftsraum gezeichnet wird. Unmittelbar nach der Abreise aus Konstantinopel verschlägt ein Seesturm ihn in einen Raum, der mit seinem Erfahrungswissen nicht mehr beherrschbar ist: Alle geo- oder topographischen Markierungen sind verschwunden. Die Reise führt in die von Mischwesen (halb Kranich, halb Mensch) bewohnte Stadt Grippîâ, über

20 Die Frage, ob Ernst sich schuldig dabei gemacht hat oder aber ausschließlich einer Intrige seines Konkurrenten Heinrich zum Opfer gefallen ist, beschäftigt die Forschung schon lange und ist nicht zuletzt auch für die Umarbeitung im Herzog Ernst (D) von Bedeutung. Vgl. Ebel 2000; Schulz 1998; Neudeck 1992.

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einen Magnetberg in das Nest eines Greifen und bringt Ernst und die ihm verbliebenen wenigen Gefährten schließlich auf einem Fluss, der durch einen Berg fließt, in das Land Arimaspî. In der Reihe dieser Abenteuer entfaltet sich eine als fremd und kontingent erfahrene Sphäre. Hier ist der Weg immer wieder durch geologische Formationen buchstäblich blockiert: der Mastenwald der im Lebermeer feststeckenden Schiffe, das Vogelnest der Greifen auf dem Felsen, der Fluss, der in der Felswand verschwindet – das alles verhindert eine ‚barrierefreie‘ Weiterreise und bedingt räumliche Ausgesetztheit und Ungewissheit. Der bereiste Raum ist jetzt auch stark emotional gestimmt durch die Empfindungen der Reisenden, ihre Ängste, ihre Gefühle der Isolation und Hoffnungslosigkeit. Auf dieser Passage durch die Fremde muss Ernst erst einmal lernen, das Fremde in Beziehung zum eigenen Referenzsystem zu setzen. Dass das im zunächst nicht durchschau- und lesbaren Raum des Orients nicht ganz einfach ist, zeigt sich insbesondere in der Stadt Grippîâ.21 Wie gefährlich es ist, sich nicht aus- und die Lage zu verkennen, wird etwa darin deutlich, dass Ernst die kranichköpfigen Bewohner Grippîâs aufgrund ihrer dünnen Hälse für ungefährlich hält. Er will deshalb die von den Wesen geraubte schöne juncfrouwen, die Tochter des Königs von Indîâ, mit herkömmlichen heroischen Mitteln befreien, doch die Auseinandersetzung endet in der Katastrophe. Die Schnäbler töten die Prinzessin, Ernst und seine Gefährten müssen unter großen Verlusten aus der Stadt fliehen. Diese Episode ultimativer Entfremdung und Zeichenverwirrung bildet den Tiefpunkt für den Herzog. Im weiteren Verlauf der Reise schwindet der Grad an Fremdheit, je besser Ernst den Raum zu beherrschen lernt und je besser sich dieser an den Herkunftsraum rückbinden lässt: Das Land Arimaspî liegt zwar auch im unbestimmten Irgendwo und wird von Einäugigen bewohnt, es weist aber vertraute feudal-höfische Herrschaftsstrukturen auf, so dass hier Ernsts Restitution ihren Anfang nehmen kann:22 Er wird der Vorzeige-Vasall des Königs von Arimaspî und bekämpft für ihn weitere Wundervölker, die das Land bedrohen. Arimaspî ist überdies auch (über Seeleute) mit der geographisch bekannten Welt verbunden, von hier aus ist Ernst überhaupt erst wieder in der Lage, die

21 Die präzise Gestaltung der Raumwahrnehmung in der Ankunftsszene in Grippîâ arbeitet Morsch 2003, 128 heraus. Er hebt damit auf die Veranschaulichung „adlige[r] Interaktionsnormen und ihres ordnungsstiftenden Zusammenhangs in der homologen Anderwelt des Orients“ ab. Seine Beobachtungen verweisen ebenso auf die Darstellung von Perzeptionsmodi des Fremden aus dem eigenen Referenzrahmen heraus; in dieser Episode wird also auch die Bedeutung des Herkunftsraumes für die Wahrnehmung der Fremde augenfällig. Vgl. dazu auch Stein 1997. 22 Hier wird auch die Frage der Sprachkompetenz wieder aufgenommen, denn Ernst versteht die Sprache der Kranichschnäbler nicht, erlernt aber innerhalb eines Jahres das Idiom der Arimaspîaner.

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Rückreise anzutreten.23 Dass Arimaspî dennoch auch Teil des fabulösen Orients ist, wird an seinen Bewohnern deutlich, insbesondere aber auch daran, dass die Seeleute aus Môrlant nicht freiwillig dorthin gekommen sind, sondern ebenso wie Ernst durch widrige Wetterverhältnisse: uns habe der wint geslagen her. / wir sîn gar ân unser ger / komen her in ditz lant („Der Wind trieb uns hierher. / Wir sind ganz gegen unsere Absicht / in dieses Land gekommen“; HEB, V. 5347–5349). Die Begriffsbildung vom „fabulösen Orient“ verwende ich im Gegensatz zum geographisch konkret verorteten „Kreuzzugsorient“,24 der gewissermaßen die Schwelle zum rîche bildet – der Kompensationsraum der Fremde ist selbst binnendifferenziert, er changiert zwischen Andersweltlichkeit (Grippîâ, partiell auch Arimaspî) und geographisch-historischer Greifbarkeit (Konstantinopel, Môrlant, Jerusalem, Akkon). Diese Teile sind in Bezug auf die Raum- und Fremdheitswahrnehmung des Reisenden jeweils unterschiedlich semantisiert,25 dabei aber immer an den Herkunftsraum rückgebunden: Als ritterlicher Held kann sich Ernst nur in Arimaspî bewähren, dessen Ordnungsvorstellungen den seinen, aus dem Herkunftsraum ‚mitgebrachten‘, entsprechen. Die zuvor im Reichsteil gezeigten Konfliktsituationen werden hier wieder aufgenommen und erneut durchgespielt, Ernst kann seine ritterlichen Defizite aus dem rîche durch beherztes und höfisches Verhalten kompensieren. Die Grundstruktur des Herzog Ernst (B) von Rahmen- bzw. Reichsteil und Binnen- bzw. Orientteil ist von der Forschung schon früh gesehen, ihre Verknüpfung ist aber recht unterschiedlich bewertet worden.26 Im Orientteil wird eine Fremde entworfen, die gegenbildlich zum eigenen Herrschaftsbereich gezeichnet wird: Gegenübergestellt werden geordnete und wilde, christliche und heidnische Räume, geographisch vertraute und orientalisch-exotische Räume. Allerdings gerät die gute und stabilisierende Herrschaft, die den Herkunftsraum konstituieren und nach außen absichern sollte, in eine Krise. Unordnung und Bedrohung werden in den fremden Raum projiziert, um hier durch die Bewährungstaten Ernsts sukzessive wieder in Ordnung gebracht zu werden.27 Während die ältere

23 Der Rückweg gestaltet sich ebenfalls als Reintegration, die sukzessive vom fremden in den lediglich geographisch entfernten, dabei aber bekannten Raum zurück ins rîche führt. Nachdem Ernst Arimaspî heimlich verlassen hat, gelangt er zuerst nach Môrlant, dann über Alexandria nach Jerusalem und von dort aus zurück ins rîche. Die freie Bewegung im Raum, die ihm aufgrund von fehlendem Raumwissen lange Jahre unmöglich war, ist wieder gewährleistet, sobald er bekannte Orte erreicht. 24 Vgl. Stock 2002, 190, Anm. 148; Szklenar 1966, 177. 25 Vgl. die Einleitung zu diesem Band, 1. 26 Vgl. Wehrli 1968; Kühnel 1979. 27 Gegenüber der Heldenepik bietet diese Reise eben auch den Ausweg aus dem heldenepisch-

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Forschung die ‚Reichsfabel‘ wegen ihrer historischen Bezüge präferiert und den Orientteil als billigen mittelalterlichen Exotismus abgetan hat, argumentierte bereits Uwe Meves überzeugend dafür, dass gerade „in der Verknüpfung von Reichs- und Reisegeschehen, von Geschichts- und Wunderwelt, von Gemeinschaft und Vereinzelung […] die maßgebliche Ursache [liegt], daß der Herzog Ernst ein breites Spektrum an Anknüpfungspunkten für verschiedene Interessensbereiche der Rezipienten zu bieten vermochte.“28 Diese „Polyfunktionalität“29 ist auch im Raummodell bzw. in der Einrichtung der Räume begründet: Die dem Herkunftsraum gegenübergestellten Erzählräume werden, als „sympathetisches und nachvollziehendes Raumverhältnis“,30 über die Bewegung und Bewährung des Helden miteinander verbunden, wodurch der Raum des Fremden funktional, als Kompensationsraum, auf den eigenen bezogen wird. Der Begriff des Kompensationsraumes bezieht sich auf den letzten der sechs Grundsätze des Heterotopie-Konzepts Michel Foucaults: Heterotopien bilden „einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. Das wäre dann keine illusorische, sondern eine kompensatorische Heterotopie […].“31 Die mediävistische Literaturwissenschaft hat aus diesem Konzept den wohl größten analytischen Gewinn für die Beschreibung von literarischen Anderswelten bzw. ihrer räumlichen und zeitlichen Anders-Ordnungen gezogen, wie sie insbesondere in der arthurischen Literatur begegnen. Auch in der Heldenepik hat Julia Zimmermann neben dem „außerhöfischen Raum, in dem die Regeln einer archaischen Welt gelten“,32 also der wilde, Heterotopien ausgemacht, die den „Raum des Zwergs“ „als ein[en] Außenraum in Szene [setzen], der […] das in einer kulturellen Ordnung eigentlich Ausgegrenzte innerhalb dieser Ordnung dennoch präsent hält.“33 Das bezieht sie auf die grundsätzliche Lokalisierbarkeit von ‚zwergischen Residuen‘ innerhalb der ‚eigenen‘ Herrschaftsbereiche Ortnits oder Dietrichs. Auch Stephan Fuchs-Jolie verwendet den Begriff in Bezug auf die andersweltlichen Elemente im Ortnit, die er metonymisch in einer stainwant repräsentiert sieht, an welcher der Held immer wieder anlangt: „Der Unglaube, die Barbarei,

tragischen Ausgang von nôt und arbeit, vgl. Neudeck 1992. 28 Meves 1976, 160−161. 29 Meves 1976, 81 u. ö. 30 Störmer-Caysa 2007, 64. 31 Foucault 2006, 326. Vgl. auch Foucault 1974, 20. 32 Zimmermann 2008, 197. 33 Zimmermann 2008, 216.

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das Wilde wohnen in der stainwant.“34 Er selbst bezeichnet aber diese stainwant auf der Grenze zur Wildnis auch als „Un-Ort“, an dem „Un-Ordnung“35 herrscht, und schwächt das heteron der Heterotopie so ab. In beiden genannten Fällen werden mit Hilfe des Heterotopie-Begriffs eher lokale als globale Phänomene der mittelalterlichen Erzählliteratur beschreibbar gemacht, die zuvor als Residuen archaischen, mythischen oder keltischen Erzählens betrachtet wurden. Ich möchte gegenüber diesen andersweltlichen Regionen und loci stärker auf das grundsätzlich ‚Gegen-räumliche‘, das ‚Andere‘ der Heterotopie abheben: Räume, die, sei es in idealisierender, verkehrender oder negierender Weise, auf eine Sphäre des ‚Eigenen‘ bezogen sind. Über dieses „Reflexionsverhältnis zu den Orten der gewöhnlichen Ordnung“,36 den relationalen Bezug zum ‚Anderen‘, lässt sich in den hier behandelten Texten dann auch das ‚Eigene‘, also der Herkunftsraum, deutlicher konturieren. Eine nach allen Grundsätzen Foucaults heterotope Konstitution (wenn es das überhaupt gibt) sehe ich in den von Herzog Ernst bereisten fremden Welten nicht repräsentiert – so finden sich hier etwa keine Heterochronien im Sinne zeitlicher Diskontinuitätserfahrungen, sondern wird vielmehr chronikalisch verzeichnet, wie lange Ernst sich in der Fremde aufhält. Auch erscheint die Fremde nicht als gänzlich abgeschlossen. Wir haben es in diesen Erzählungen mit literarischen, nicht ausschließlich sozialen Räumen zu tun, daher fungiert als Schließungssystem ein literarischer Topos, wie man ihn insbesondere auch aus dem griechischen Roman kennt:37 der Seesturm, der Ernsts Reise in den bekannten KreuzzugsOrient unterbricht und alle Ordnungen verwirbelt. Trotz dieser Einschränkungen denke ich, dass der Fokus auf die wechselseitige, funktionale Bezogenheit zweier unterschiedlicher Räume bzw. Herrschaftssphären sinnvoll ist, um die Konstitution und Bedeutung des Herkunftsraums gerade in seiner Wechselbeziehung zur ‚anderen‘ Sphäre, zur Fremde sichtbar zu machen. Aus dieser Perspektive wird das Potential eines solchen Raummodells für die Verhandlung von Herrschaftsfragen im Kontext höfischer Repräsentation deutlich, wie sie um 1200 virulent sind: Diese Wechselbeziehung wird im Herzog Ernst (B) in Bezug zu zeitgenössischen Herrschaftskonzepten und -konflikten gesetzt (insbesondere ist er als Exempel für den Machtkampf von Reichs- und Partikulargewalt gelesen worden), es wird also auf Aktualität abgehoben. Gleichzeitig wird diese über bestimmte Authentifizierungsstrategien zusätzlich konkret an die Herrschaft im rîche ange-

34 Fuchs-Jolie 2011, 54. 35 Fuchs-Jolie 2011, 57. 36 Schulz 2012, 318. 37 Vgl. den Beitrag von Felix Mundt in diesem Band.

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schlossen und abgesichert: Auch ein von Ernst aus dem Orient mitgebrachter Edelstein, der sogenannte Waise, dient als dinglicher Beweis für seine Reisen, da dieser Stein noch hiute (HEB, V. 4464) in der Kaiserkrone zu bewundern sei.38 Auf der Rezipientenebene wird so die Glaubhaftigkeit des Geschehens gewährleistet. Auf der Handlungsebene aber wird die Fremde an den Raum der Herkunft rückgebunden und dadurch erst erfahrbar gemacht: Die Bewährungstaten Ernsts im Orient müssen erst – durch Ernsts Erzählungen und die Authentifizierung der mitgebrachten Exemplare der Wundervölker – im Herkunftsraum beglaubigt werden. Diese Rückbindung kann nur über die Rückkehr in den Raum der Herkunft erfolgen. Im Vergleich mit dem Rother erscheint im Herzog Ernst (B) so auch das Verhältnis von Herkunftsraum und Raum der Fremde stärker markiert: Auch der Herkunfts- und eigene Herrschaftsraum fungiert als Handlungsraum, die hier erfolgende Herrschaftskrise führt zur Vertreibung des Helden, der sich dann im Kompensationsraum des Orients bewähren muss, um in den Herkunftsraum zurückkehren und restituiert werden zu können. Über Strategien der Authentifizierung und Aktualisierung werden seine Erlebnisse in der Fremde an den Herkunftsraum rückgebunden. Dieser dynamische Wechselbezug wird, wie ich im Folgenden zeigen möchte, in den Bearbeitungen des Herzog Ernst unterschiedlich funktionalisiert.

38 Dieser Waise kommt, außer in der lateinischen Prosafassung Herzog Ernst (Erf), in allen Fassungen vor (vgl. Gesta Ernesti ducis, 3), im Herzog Ernst (G) schließlich verdoppelt zu zwei lichtspendenden Karfunkelsteinen. – Mit all dem ist nichts über mögliche historische Vorlagen gesagt, die für den HEB immer wieder geltend gemacht worden sind (vgl. Sowinski, HEB, 411−412). Wenn Ereignisse auf die eigene Gegenwart, insbesondere die feudalen Konfliktstrukturen, bezogen werden, dann scheint die historische Distanz zum Erzählten nicht von Bedeutung zu sein: Wann der Waise nun genau nach Bamberg geraten ist, interessiert hier offenbar weniger als die Tatsache, dass Ernst ihn mitgebracht hat und man sich ‚noch heute‘ selbst davon überzeugen kann. Diese Aktualisierung kann aber wiederum rückwirkend historisiert werden: Im lateinischen Herzog Ernst (C) wie auch in dessen deutscher Rückübertragung Herzog Ernst (F) werden die potentiellen historischen Bezüge vereindeutigt und an historiographische Konventionen angepasst: Über eine detaillierte genealogische Bestimmung wird als der Stiefvater Ernsts Otto I. der Große festgeschrieben. Vgl. Die Historie von Herzog Ernst, 78.

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3 Der Kreuzzugs-Orient als Raum individueller spiritueller Bewährung im Herzog Ernst (D) Der nur einmal, in einer Gothaer Handschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts überlieferte Herzog Ernst (D)39 ist selten zum Gegenstand selbständiger literaturwissenschaftlicher Betrachtung geworden.40 Meist hat man sich für den Sprachstand41 und die Autorfrage interessiert.42 Mittlerweile herrscht weitgehend Konsens darüber, dass der Herzog Ernst (D) Ende des 13. Jahrhunderts zu datieren und im böhmischen Raum zu verorten ist, möglicherweise im Umfeld des Prager Hofes und Ulrichs von Etzenbach,43 es bestehen aber auch Hinweise auf eine Verbindung nach Oberfranken und Würzburg.44 Die möglichen Bezüge zu den Kreuzritterorden sind bloße Andeutungen geblieben, obwohl einiges dafür spricht.45 Für die Frage nach den Funktionalisierungen des heterotopen Raummodells ist der Herzog Ernst (D) besonders interessant, denn obwohl am Plot selbst kaum etwas verändert wird, werden hier entscheidende Umbesetzungen in Bezug auf das Raummodell und die daran gebundenen Herrschaftskonflikte sichtbar. Das betrifft zunächst den Konflikt selbst und die Motivation zur Abreise aus dem rîche. Die Intrige besteht auch hier darin, dass Ernst gegenüber dem Kaiser von dem Pfalzgrafen Heinrich verleumdet wird. Ernst wird jedoch, anders als im Herzog Ernst (B), gänzlich von der Schuldfrage entlastet, wie auch der Kaiser als aktiver

39 Die folgenden Überlegungen zum Herzog Ernst (D) gehen auf einen Aufenthalt an der Forschungsbibliothek Gotha im März 2013 zurück, der von der Fritz Thyssen Stiftung im Rahmen des Herzog-Ernst-Stipendienprogrammes großzügig unterstützt wurde. Mein Dank gilt den hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek und des Forschungszentrums Gotha. 40 Zum Herzog Ernst (D) vgl. Behr 1989; Kohlmayer 1980; Rosenfeld 1967 [1929]; Behr 1979, 15–19; Dörrich 2002, 124–132. 41 Der Herzog Ernst (D) sei „nach den Mustern höfischer Literatursprache des 13. Jahrhunderts gestaltet“, Rosenfeld, HED, IX. In der Einleitung zur ersten Edition von 1808 schreibt Heinrich von der Hagen: „[…] die Form ist schon sehr gebildet, wie in den besten Werken jener Zeit, und in der für größere erzählende Gedichte gewöhnlichen Versart.“ (Von der Hagen, Deutsche Gedichte des Mittelalters, XX). 42 Heinrich von Veldeke wird im Text genannt (vgl. HED, V. 2476), es handelt sich aber wohl nicht um eine Selbstnennung, wie man sie aus dem höfischen Roman kennt. Ein namenloser Epigone Wolframs von Eschenbach ist als Verfasser ebenso ins Spiel gebracht worden wie Ulrich von Etzenbach, auf den wörtliche Übereinstimmungen mit seinem Alexander verweisen. 43 Vgl. Klein 1985, 135, Anm. 69. Vgl. auch Meves 1976, 188–190; Behr 1977; Lecouteux 1981, 209– 217; Szklenar und Behr 1981, Sp. 1181−1182. 44 Vgl. Rühl 2004. 45 Vgl. Plate 1978.

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Antagonist gegenüber Heinrich in den Hintergrund tritt:46 Zunächst zweifelt der Kaiser auch an Heinrichs Wort (vgl. HED, V. 565–570),47 doch dann führt dieser einen Zeugen an (vgl. HED, V. 590−591), der seine Lügen über Ernsts Umsturzpläne bestätigt. Mit diesem – gegenüber dem sukzessiven Ausfall aller Instanzen feudaler Kommunikation, wie sie im Herzog Ernst (B) vorgeführt werden – erzählerisch recht simplen Mittel wird der gesamte Konflikt verschoben, denn die Unfähigkeit des Kaisers, guten Rat anzunehmen, die im Mittelpunkt von Herzog Ernst (B) steht, tritt völlig in den Hintergrund. Darin mag man eine stärkere Plausibilisierung des Konflikts sehen,48 damit geht gleichzeitig aber auch eine Schwächung der politischen Dimension einher, die für den Herzog Ernst (D) insgesamt entscheidend ist. Stattdessen wird ein Motiv eingeblendet, das auch die Bewährung im Raum betrifft: Ernst wird aufgrund der Intrige nicht sofort angegriffen oder in Acht genommen, ihm wird lediglich sein Richteramt, die voitîe, wieder aberkannt. Darauf reagiert er recht sportlich: ez was im liep, der helt gemeit frœlîchen hin ze lande reit: er ahte sîn niht umb ein ei, er hielt sich an den turnei. (HED, V. 677–680) Es war ihm gerade recht, der wackere Held ritt fröhlich über Land. Es kümmerte ihn nicht die Bohne, er hielt sich an das Turnieren.

Mit dieser arthurisch anmutenden Ausreise Ernsts entsteht ein Machtvakuum in seinem Herrschaftsbereich, das auf den außerhöfischen Handlungs- und Bewährungsraum des Artusromans verweist. Ernst ‚verrîtet‘ sich gewissermaßen wie Iwein,49 während Heinrich seine Länder überfällt. Hier wird also eine neue

46 Anders argumentieren Rosenfeld 1967 [1929] und Behr 1989, die den HED als dezidiert antikaiserliches bzw. antihabsburgisches Dokument lesen. 47 Hier und im Folgenden wird aus dem Herzog Ernst D (Sigle HED) mit Versangaben direkt im Text zitiert. Alle Übersetzungen stammen von mir. 48 Vgl. Behr 1979, 17. 49 Dieses intertextuelle Bewusstsein dessen, was einem arthurischen Ritter außerhalb seines Herkunftsraums widerfahren kann, wird später wieder aufgenommen, wenn Ernst die Gelegenheit zum Heidenkampf mit dem Argument, er habe sich schon lange genug verlegen, gerne annimmt: er sprach: „ich han mich hie verlegen / und lange niht ritterschaft gepflegen; / dâ wolde ich gerne nâch farn / und mînen dienest dâ niht sparn / durch prîs, swâ ich daz fünde, / dâ ich heil erwerben künde. („Er sprach: Ich habe mich hier verlegen / und lange nicht mehr die Ritterschaft

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Raumkonstellation eingespielt, die angedeutet bleibt, aber dennoch den Herkunftsraum (als Handlungsraum) modifiziert, indem der soziale Ort des Konflikts sich verschiebt. Es wird in diesem Kontext mehrfach darauf hingewiesen, dass Ernst âne iuwer schult (HED, V. 1103 u. ö.) die Huld des Kaisers verloren hat. Die aus den Intrigen Heinrichs resultierenden Aggressionen und Kriegshandlungen werden als für Ernst ganz unproblematisch dargestellt. Darüber, dass er Heinrich schließlich tötet, sagt er: mîn herre übel sich versan, daz er dem tœrehten man ie des volge hât getân. daz er mîn widerrede wolde hân und mîn unschult hæte vernomen, daz müeste uns nu beiden fromen. hæte er beredunge mir gegeben, sîn œheim möhte noch hiute leben. nu hât er uns beide verlorn. (HED, V. 1177–1185)50 Mein Herr hat schlecht entschieden, dass er jemals dem törichten Mann [d. i. Heinrich] darin beigestimmt hat. Wenn er mich angehört und von meiner Unschuld gehört hätte, hätte uns das jetzt beiden genützt. Hätte er mir die Gelegenheit zur Verteidigung gegeben, könnte sein Neffe noch heute leben. Nun hat er uns beide verloren.

Weil Ernst noch im Herkunftsraum derart mit sich im Reinen ist, ist seine Reise in den Orient auch nicht primär als Flucht vor dem Verlust ritterlicher êre motiviert. Im Gegenzug tritt mit der Fokussierung der (im Herzog Ernst [B] bereits angelegten) Kreuzzugsthematik die individuelle spirituelle Bewährung Ernsts in den Vor-

betrieben; / deshalb will ich gerne dorthin reisen / und meinen Ritterdienst dort nicht aufschieben / um des Ruhmes willen, wo immer ich etwas finde, / durch das ich Heil erwerben kann“; HED, V. 4443–4448). 50 Ganz anders motiviert Ernst im HEB seine Abreise: wir haben wider gote getân / daz wir im billîch müezen / ûf sîn hulde büezen, / daz er uns die schulde ruoche vergeben / her nâch, obe wirz geleben, / und wider heim ze lande komen. („Wir haben ja auch Gott zuwidergehandelt, / so daß wir ihm zu Recht / Buße leisten müssen, daß er uns / unsere Schuld vergebe und wir seine Huld gewinnen. / Wenn wir es erleben sollten / und danach wieder in dieses Land heimkehren können, […]“; HEB, V. 1818–1823).

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dergrund. Statt ritterlicher Schmach wird über den Passionsbezug, unschuldig Schuld auf sich zu nehmen, die Reise spirituell überformt: ob ir ez râtet alle und ez iu wol gevalle, ich mac imz rûmen âne schemen. über mer wil ich daz kriuze nehmen und suochen mines herren grap, der sich gar unschuldic gap durch mich schuldigen in den tôt, der bedenke mîn unverdiente nôt, die ich von dem keiser hân. (HED, V. 1652–1659) Wenn ihr mir alle dazu ratet und es euch wohlgefällt, kann ich ihm gegenüber das Feld räumen, ohne mich zu schämen. Ich will über das Meer auf einen Kreuzzug fahren und das Grab meines Herrn suchen, der sich gänzlich unschuldig für mich Schuldigen in den Tod begab, der gedenke meiner unverdienten Drangsal die ich durch den Kaiser erleide.

Diese Überblendung von Kreuzestod und Kreuznahme ist charakteristisch dafür, wie im Herzog Ernst (D) irdisches und heilgeschichtliches Geschehen aufeinander bezogen werden.51 Mit der Umkodierung der Reise zur geistlichen Pilgerfahrt wird entsprechend auch die fabulöse Fremde zum transzendenten Bewährungsraum, dem sich die Kreuzfahrer anheimgeben: dô si von dem stade stiezen, die edelen ritter jungen, und iren leisen sungen und sich gâben in daz ellende […] (HED, V. 1922–1925) als sie vom Ufer ablegten, die edlen jungen Ritter, und ihr Kreuzlied sangen und sich der Fremde ergaben […]

51 So auch, wenn Adelheid und Ernst bei ihrem Wiedersehen erst in ihrer affektiven Zuwendung zueinander, dann als mystische Zweiheit à la Maria/Jesus gezeichnet werden (vgl. HED, V. 5411–5418).

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Diese Verpflichtung auf den Kreuzzugsgedanken verschiebt die Reise Ernsts hin zur spirituellen Bußfahrt, die eben nicht eine konkrete feudale Verfehlung im Herkunftsraum wiedergutmachen, sondern primär dem Seelenheil dienen soll. Auch die Gestaltung der Fremde und Ernsts Positionierung darin verschieben sich: Während im Herzog Ernst (B) Ernst dem fabulösen Orient machtlos ausgesetzt ist, wird dies in (D) durch die Spiritualisierung der Reise wieder zurückgenommen: Auch im Herzog Ernst (D) widerfährt Ernst die Fremde, aber er ist aufgehoben in seiner Beziehung zu Gott. Als Ernst und seine Gefährten mit ihrem Schiff am Magnetberg stranden und dem Tod geweiht sind, erinnert Ernst an Jesu Opfertod und spricht: er duhte mich ein tôre wesen, der wolde hie für dort genesen. werden brüeder, weset vrô, got vater selber sprichet sô: in mînem hûse ist ein tac bezzer wan al die werlde mac. wir suln sîn vrô und gemeit, willic wesen des bereit (HED, V. 3291–3298) derjenige scheint mir ein Tor zu sein, der hier – statt jenseits – errettet werden will. Liebe Brüder, seid froh, Gott Vater selbst spricht: Ein Tag in meinem Haus ist besser als es die ganze Welt sein kann. Lasst uns froh und vergnügt sein, willig darauf vorbereitet sein.

Keine identitäre Verirrung und Verwirrung mehr, sondern eine mönchisch anmutende stabilitas in peregrinatione, in der Ernst gleichsam zum abbas, zum geistlichen Vater seiner brüeder wird. Liebevoll verbindet er nach der Flucht aus Grippîâ ihre Wunden, obwohl er selbe manige wunden hete  / der glîch er doch niergen tete / als ez im iht tæte wê („er hatte selbst zahlreiche Wunden / die er jedoch abtat, / als ob es ihm nicht wehtäte“; HED, V. 3155–3157). Die Reise dient Ernsts spiritueller Bewährung – nicht als recke, sondern als geistlicher Führer und später auch als Bekehrer. Diese Vereindeutigung der Fremde als Kontaktzone mit der Transzendenz wird in der erweiterten Ausgestaltung des ‚Kreuzzugsorients‘ noch deutlicher. Im Vergleich mit dem Herzog Ernst (B), der die bekannten und mit den Kreuzzügen verbundenen Stationen nur knapp erzählt, werden die

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Auseinandersetzungen mit den indischen Heiden im Herzog Ernst (D) betont und erweitert.52 Die Auseinandersetzung mit der gefahrvollen monströsen Fremde (Kranichschnäbler etc.) wird überlagert von der Bewährung in Auseinandersetzung mit den Heiden. Damit verlagert sich auch die Funktion der Fremde weg von einer kompensatorischen Dimension (da es ja nichts zu kompensieren gibt) hin zur spirituellen Bewährung als miles Christianus. Dabei fallen das konkrete Ziel und das ‚spirituelle‘ Ziel zusammen: Es ist das heilige Grab, das auch zuvor bereits mehrfach im Gebet angerufen wurde (vgl. HED, V. 2287–2249). Da die feudale Konfliktstruktur insgesamt in den Hintergrund getreten ist, stehen bei der (gleichwohl noch konstitutiven) Heimkehr Restitution und Rehabilitierung ebenfalls nicht mehr im Vordergrund. Während im Herzog Ernst (B) der Kaiser durch die Inszenierung eines rituellen Versöhnungsspektakels mit großer Öffentlichkeit in eine Situation gebracht wird, in der seine herrscherliche potestas massiv gestört wäre, würde er Ernst abweisen, spielt sich die Versöhnung im Herzog Ernst (D) auf einer emotional-spirituellen Ebene ab, die mehr vom christlichen Versöhnungsgedanken getragen ist als davon, dass eine tiefgreifende feudale Krise wieder geheilt werden muss.53 dô der bischof suoze predigte, manic herze sünden ledigte, daz manger zeher rêre gap durch manger sünden urhap. der bischof hat den keiser brâht ouch ze grôzer andâht. (HED, V. 5455–5460) als der Bischof wohlberedt predigte, wurde manches Herz von Sünden befreit, was zahlreiche Tränen niederfallen ließ, aus dem Urgrund zahlreicher Sünden. Der Bischof hatte auch den Kaiser in große Andächtigkeit versetzt.

Ernsts Erzählung der Erlebnisse aus dem Orient bleibt aus, die in (B) von so entscheidender Bedeutung für die Vermittlung von rîche und ellende ist. Stattdessen findet closure über das Kreuzfahrtsmotiv statt, das somit auch den Herkunftsraum viel stärker konturiert: Obwohl es was manges wîbes bete, / daz Ernst den kotzen von im tete / und daz er sich schære sînen bart („es war der Wunsch vieler

52 Vgl. Rühl 2002, 355. 53 Zum Vergleich der Rituale s. Dörrich 2002, 124–135.

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Damen, / dass Ernst das Pilgerkleid ablegte / und sich den Bart scherte“; HED, V. 5515–5517), will Ernst, bevor er die einfachen Kleider ablegt und sich rasiert, erst seine Kreuzfahrt rituell beenden: er sprach, daz er ê müeste gar ze dem werden münster komen, dâ er daz kriuze hæte genomen. diz wart geworben doch mit zuht. (HED, V. 5520–5523) er sprach, dass er vorher erst zu dem würdigen Münster zurückkehren müsse, in dem er das Kreuz genommen habe. Das war doch sittsam gehandelt.

Am Ende des Herzog Ernst (D) steht, wie zu Beginn, die Anrufung Gottes, die auch das Publikum miteinschließt. Auf Grundlage dieser umfassenden geistlichen Umbesetzung im Herzog Ernst (D) ist die vielfach angeführte These von seiner ‚Höfisierung‘ in Frage zu stellen.54 In Bezug auf die Verhandlungen feudaler Konfliktstrukturen ist er deutlicher noch als seine Vorlage einem christlichen Ritterideal verpflichtet.55 Diese Anverwandlung an ein vergeistlichtes Ritterideal, insbesondere auch in der Emotionalisierung der religiösen Kommunikation, verweist auf zeitgenössische Erzählformen im Kontext der Kreuzritterorden.56 Was die Raumregie betrifft, so wird, auch wenn die Sphären von Herkunftsraum und Fremde hier wechselseitig aufeinander bezogen bleiben und durch die Reisen des Herzogs miteinander verbunden sind, die kompensatorische Funktion auf eine spirituelle Ebene verschoben. Das hängt neben der Verschiebung des Konflikts auch mit der Verschiebung in der Binnenorganisation der fremden Sphäre zusammen, indem der Kreuzzugsorient stärker akzentuiert wird. Dass die Fremde als Aushandlungsort von Konflikten dient, die auf die eigene Herrschaftssphäre bezogen sind, ist damit nicht obsolet geworden; aber die Form der Bewährung – und damit auch die Konstitution beider Sphären – ändert sich im Zuge eines veränderten Ritterideals.57 Da mit der transzendenten eine äußerst

54 „Die Eigenkonzeption des ‚Herzog Ernst‘ D sollte uns jedenfalls zu neuer Beschäftigung anregen und uns nicht zufrieden sein lassen mit dem Prädikat ‚höfisch‘.“ (Plate 1978, 155). 55 Auch in der lateinischen Prosa Herzog Ernst (C) wird die Kreuzzugsthematik fokussiert, vgl. Behr 1979. 56 Wie sie u. a. auch den Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach auszeichnen. Man könnte das als erzähllogisches Argument für die Verfasserschaft Ulrichs anführen, wenn man denn die Autordebatte erneut aufrollen wollte. 57 Es gibt Ansätze einer Simultaneisierung der beiden Sphären, wie an einer Stelle sichtbar

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wirkmächtige zusätzliche Ebene ins Spiel kommt, erscheint die Kompensationsfunktion der irdischen Räume letztlich nur noch in ihrem Heilsbezug interessant.

4 Herrschaftserweiterung und heroische Beherrschung des Raumes im strophischen Herzog Ernst (G) Ein letztes Beispiel aus der Herzog-Ernst-Tradition soll schließlich noch verdeutlichen, wann die Möglichkeiten heterotop organisierter Erzählräume an ihre Grenzen kommen oder in bestimmten Kontexten nicht notwendig sind. Zu den wohl idiosynkratischsten Bearbeitungen des Stoffes gehört der Herzog Ernst (G),58 der in einer längeren, im 15. und 16. Jh. mehrfach gedruckten Fassung59 sowie in einer kürzeren aus dem Dresdener Heldenbuch (1472) überliefert ist.60 Hier wird die offenbar noch immer irritierende Geschichte von Ernsts Abenteuern kurzerhand zum regulären Heldenpreis in sangbarer Strophenform umgebildet: Auf der Flucht vor dem Kaiser (hier heißt er Friedrich) gelangen Ernst und sein getreuer Freund über die Donau nach Grippîâ, wo sie die indische Prinzessin vor den Kranichschnäblern erretten und zurück nach Indien bringen. Aus Dankbarkeit gewährt ihr Vater Ernst sein Reich und die Hand seiner Tochter. Zuletzt gelingt von ferne noch die Versöhnung mit dem Kaiser. Die Forschung hat dieses Happy End als Zeichen einer Trivialisierung des Versepos angesehen, welche die Narration an gängige Konventionen der späten Heldendichtung anpasst, wie sie u.  a. im Dresdener Heldenbuch kompiliert wurde. Diese Adaptation steht aber im Kontext einer umfassenden Inversion des Zusammenhanges von Raum und Bewährung, der für die Frage nach der Funktion des Herkunftsraums von Interesse ist.

wird, in der Adelheid einen Traum von Ernst hat: froun Adelheite der künigîn / gemüete moht wol swære sîn, / ob ir unsanfte troumte, / daz ir wîpheit ze sorgen zoumte / umb ihres lieben sunes nôt; / îr wîplich triuwe daz gebôt (HED, V. 3447–3452). Der Traum ist ein in der mittelalterlichen Literatur traditionelles Medium, um unterschiedliche Räume und Zeiten zu simultaneisieren. Hier wird zumindest angedeutet, dass die beiden Sphären auch auf anderen Ebenen als im Erleben des Protagonisten verbunden sind. 58 Die folgenden Überlegungen habe ich unter einem anderen thematischen Schwerpunkt auf dem 12. Pöchlarner Heldenliedgespräch (2012) bereits vorgestellt, vgl. Weitbrecht (im Druck). 59 Der Erstdruck erschien bei Hans Sporer (Bamberg 1493). Vgl. Koppitz 1980. 60 Zitate aus der Fassung des Dresdener Heldenbuches im Folgenden unter der Sigle DH, aus der Druckausgabe Das Lied von Herzog Ernst unter der Sigle HEG.

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Die grosso modo für alle epischen Bearbeitungen konstitutive Ordnung, innerhalb welcher der Herkunftsraum und der Kompensationsraum der Fremde wechselseitig aufeinander bezogen sind, wird nun in der Umarbeitung zum Lied völlig verändert. In Bezug auf die Reise wird das zyklische Erzählmodell des Epos, das auf Restitution durch Bewährung in der Fremde abhebt, durch ein lineares ersetzt: Über Ungarn und Griechenland gelangt Ernst nach Grippîâ, befreit dort die Prinzessin und kommt schließlich nach Indien, wo er heiratet und die Herrschaft übernimmt. Zu Anfang muss Ernst zwar ebenfalls fliehen, und das hat auch einen nicht ganz unwichtigen Grund, denn er hat versucht, den Kaiser zu vergiften. Dies stellt aber seine heroische Überlegenheit in keiner Weise in Frage – eher ist das Gegenteil der Fall: An die Stelle des Restitutionszwanges und der ambivalenten Darstellung des Helden in (B) treten ungebrochenes heroisches Auftreten und Machterweiterung. Die Passage durch die Fremde, die in den epischen Fassungen so viel Raum einnimmt, wird dabei auf die Flussfahrt durch den Berg reduziert, welche die beiden Recken direkt nach Grippîâ führt, das sich auf der anderen Seite des Berges befindet. Alle Episoden von ‚orientalischer‘ Fremdheit fehlen, wodurch Grippîâ einen gänzlich anderen Status innerhalb der Raumordnung des Liedes erhält. Nochmals zum Vergleich: Im Herzog Ernst (B) wird die Flussfahrt durch den Berg zunächst eher als geologisches Problem dargestellt, denn der Fluss verschwindet zwischen engen Felswänden in einem Loch und es gibt keine andere Möglichkeit, weiterzukommen. Dieses Abenteuer erhält durch die Platzierung am Ende der kontingenten Passage kurz vor Erreichen von Arimaspî symbolische Bedeutung und markiert eine Veränderung von Ernsts Status: Er kommt zurück ans Licht und hat seine Souveränität über den bereisten Raum wiedergewonnen. Im Herzog Ernst (G) dagegen bildet die Flussfahrt den Beginn aller Abenteuer. Sie wird damit, ähnlich dem Seesturm in (B) und (D), zum Übertritt in eine andere Sphäre, doch das Land auf der anderen Seite ist nicht im Sinne eines exotischen Kompensationsraumes auf den Herkunftsraum zu beziehen. Nach den erfolgreichen Kämpfen mit den sneblern gelangen die Reisenden – erneut über einen Fluss, diesmal oberirdisch – nach Indien. Diese Passage ist von Auseinandersetzungen mit Zwergen und Riesen geprägt, wie wir sie aus der Heldendichtung kennen und die den bereisten Raum als andersweltlich markieren,61 doch eine kompensatorische Funktion in Bezug auf Konflikte im Herkunftsraum besitzt

61 Vgl. zur u.  a. an keltische Erzähltraditionen anknüpfenden Konzeption der Ander(s)welt Störmer-Caysa 2007, 202–214 sowie Zimmermann 2008.

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dieser bereiste Raum nicht. Es eröffnet sich vielmehr ein zusammenhängender Raum, den sich Ernst sukzessive auch als Herrschaftsbereich erschließt. Das wird an der Positionierung Ernsts sichtbar: Von Beginn der Reise an ist er nicht hineingeworfen in eine Fremde, in die er eigentlich gar nicht reisen wollte und in der die Reisegruppe immer stärker dezimiert wird. Vielmehr wird der Raum in der stabil bleibenden Gemeinschaft von Ernst und einem einzelnen Gefährten offensiv betreten und erfahren. Grippîâ wie auch Indien erweisen sich als Bereiche eines Ordnungsraumes, in dem die gleichen Regeln gelten wie die Donau flussaufwärts: Dass Ernst sich der Situation immer gewachsen zeigt und niemals den Umständen oder geologischen Formationen ausgeliefert ist: Hertzog Ernst und seyn man – dye zwenn heren gar lobesan, die hoch gelobte geste – sie heten pede heltes mut. sie kauften ein schyff gar gut: beslugen das vil veste mit eyssenn und mit stahel hart. (DH, 8, 1–7; 318)62 Herzog Ernst und sein Gefährte – die beiden lobenswerten Herren, die hochgelobten Krieger – sie besaßen beide Heldenmut. Sie kauften ein sehr gutes Schiff: Beschlugen das sehr fest mit Eisen und hartem Stahl.

Somit wird auf der Reise nicht Ernsts Identität in Frage gestellt, es muss auch kein Heldentum restituiert oder irgendetwas kompensiert werden, vielmehr dient seine Ausfahrt letztlich dem Brauterwerb und der Vergrößerung seines Machtbereichs.63 Dabei machen die beiden Gefährten schlicht nichts falsch, und aus dieser abgewandelten Konstellation von Bewährung und Beherrschung des Raumes heraus kann auch die Rettung der iunckfraw zu keinem anderen als einem guten Ende kommen.

62 Hier und im Folgenden wird aus dem Dresdener Heldenbuch (Sigle DH) mit Versangabe direkt im Text zitiert. 63 Durch diese Brauterwerbshandlung ist schließlich auch der Herzog Ernst in der Brautwerbungsepik angekommen, eine Zuordnung, die immer wieder problematisiert wurde und als motivische Option im Herzog Ernst (B) im Todesmonolog der Königstochter lediglich angedeutet wird, vgl. dazu ausführlicher Weitbrecht (im Druck).

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Im Zentrum des Liedes steht somit nicht ein Ausloten der Bedeutung des Unbekannten und Fremden für das Eigene, um in den Herkunftsraum wieder aufgenommen zur werden, sondern stehen die heroische Bewährung im Gestus der Aneignung und letztlich Erweiterung des Herkunfts- zum globalen Herrschaftsraum. In dieser „utopische[n] und eschatologische[n] Machttotalität“64 des Liedes stellt die Versöhnung Ernsts mit dem Kaiser, weil er seinen Status längst wieder gewonnen oder vielmehr noch gesteigert hat, keine Restitution im Herkunftsraum dar und ist im Gegensatz zu den epischen Fassungen auch nicht räumlich kodiert. Ernst leitet zwar die Versöhnung ein, indem er dem Kaiser zwei im Berg gefundene Karfunkelsteine übersendet, doch bleibt eine persönliche Begegnung der beiden Kontrahenten im Rahmen eines rituell inszenierten Zusammentreffens aus: Lange nach Ernsts Situierung in Indien kommt über die Fernkommunikation alles recht undramatisch wieder in Ordnung. Zum guten Ende sind die Rückkehr in den und die Restitution im Herkunftsraum verzichtbar. Das hat mit der grundsätzlichen Umbesetzung von Raum und Bewährung zu tun und wirkt sich auch auf die Aktualisierungsstrategien aus, auf die der Herzog Ernst (G) ebenfalls verzichtet – mit der Verdoppelung des ‚Mitbringsels‘ aus Indien, den Karfunkelsteinen, entfällt schließlich auch der Bezug zur Kaiserkrone.65

64 Scheuer 2007, 102−103, Anm. 3. 65 Damit verschiebt sich die Form der Aktualisierung, ohne dass sie ganz entfällt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es sich im HEG bei Ernsts Stiefvater nicht um Kaiser Otto, sondern um Friedrich handelt. Aufgrund des anfangs erwähnten Verschwindens (Hier vor ein kaiser tugentleich, / gehaissen kaiser Fridereich / – als wir das horen sagen: / und es erging in kurtzer frist / und das er leider hie nit ist, / hortt man die seynen clagen; DH, 1, 1–6) geht Bartsch 1889, LXXXII davon aus, dass es sich dabei um Friedrich I. Barbarossa handelt. Hans Jürgen Scheuer machte mich darauf aufmerksam, dass mit dieser Umbesetzung auch die Verschiebung der Raumordnung zusammenhängt: Über die problematische Nachfolgefrage werden im Herzog Ernst jeweils feudale Herrschaftskonflikte verhandelt, doch handelt es sich beim HEB und mit Kaiser Otto um eine Gründungserzählung von feudaler Eintracht und von der Einsetzung der Reichskrone in direkter Nachfolge. Mit der Umbesetzung zu Kaiser Friedrich im HEG eröffnet sich dagegen eine heilsgeschichtliche und apokalyptische Herrschaftsdimension, in der die translatio lediglich vermittelt erfolgt. In der Übergabe der beiden (!) Karfunkelsteine liegt nun ein Versprechen der Vereinigung zweier zu einem friedlich geeinten Weltreich: Pey im so stund das romisch reich / in hohen eren fridsamleich, / vor kong und vor fursten; DH, 53, 1–3. Dabei sollte allerdings bedacht werden, dass die Übertragung der messianischen Idee eines ‚Friedenskaisers‘ von Friedrich II. auf Barbarossa erst durch die Humanisten erfolgte.

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5 Zusammenfassung Mit der heroischen Beherrschung des fremden Raumes, wie sie der Herzog Ernst in (G) an den Tag legt, sind wir in gewisser Weise wieder beim Heldenbild des König Rother angekommen – mit dem Unterschied, dass die kompensatorische Funktion des zweiteiligen Raummodells und mit ihr auch die Bedeutung des Herkunftsraumes im Herzog Ernst (G) geschwunden sind: Dieser bildet zwar den Ausgangspunkt der Reise, ist aber auf der diskursiven Ebene im Grunde nicht existent. Man könnte solche historischen Umbesetzungen, insbesondere in Bezug auf die heroisierende Umarbeitung in (G) im Stil der sangbaren Heldendichtung, schlicht als Gattungstransfers beschreiben: Bestimmte Gattungskonventionen und Heldenkonfigurationen erfordern kein zweiteiliges, heterotopes Raummodell, weshalb der Herzog Ernst den ‚neuen‘ Anforderungen angepasst wird. Im Rahmen der im vorliegenden Band zu erprobenden Möglichkeiten einer historischen Narratologie des Raumes erscheint es aber produktiver, diese Transformationen unter dem Aspekt zu betrachten, was die heterotope Raumordnung der frühen Epik, also im König Rother und Herzog Ernst (B), für das Erzählen von Herrschaft leistet und für welche Herrschaftskonzepte sie jeweils nutzbar gemacht werden. Wie sich gezeigt hat, sind die verhandelten Herrschaftskonflikte im König Rother und im Herzog Ernst (B) ganz auf das Ausagieren feudaler Konflikte und die (Re-)Konstituierung von Herrschaft bezogen, wofür man sich zur ‚Entlastung‘ des Herkunftsraumes der Sphäre der Fremde bedient. Die Möglichkeiten fortwährender Aktualisierung, die sich daraus eröffnen, werden im Herzog Ernst (D) insofern genutzt, als ein neues Leitbild zugrunde gelegt wird. Hier wird die kompensatorische Funktion eingeschränkt und die Reise als spiritueller Bewährungsprozess stärker auf die Transzendenz bezogen. Dadurch wird der bereiste Raum weiterhin über das Wahrnehmungsraster des Herkunftsraumes erlebt, das durch die Differenzierung in christliche und heidnische Räume bestimmt ist. Auch hier ist die geglückte Bewährung in der Fremde an die Rückkehr in den Herkunftsraum gekoppelt, doch ist diese nun spirituell kodiert und kommt erst mit Ernsts devestio im Münster zum Abschluss. Die kompensatorischen Möglichkeiten des zweiteiligen Raummodells werden schließlich im strophischen Herzog Ernst (G) geradezu stillgestellt, weil die raumbildende Herrschaftskonzeption auf Machterweiterung und nicht -erhaltung abzielt. Damit ist die feudale Thematik sicher nicht grundsätzlich obsolet geworden, aber das Interesse an der Fremde verschiebt sich stärker hin zum traditionellen Heldenmodell. Die – bei aller Stabilität auf der histoire-Ebene – recht unterschiedlich erzählten Reisen des Herzog Ernst verdeutlichen, dass sich die Erzählwelten der mittelalterlichen Epik – die Räume, die bereist werden, und das, was darin erlebt

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wird – vom Herkunftsraum aus konstituieren. Selbst im Bewusstsein der extrovertierten Heldendichtung lässt sich offenbar diese Bedeutung des Herkunftsraumes nicht ganz verleugnen: Auch der selbstbewusste Ernst der Fassung (G) kehrt, lange nach dem Tod des Kaisers und ganz ohne Restitutionszwang, wieder nach Deutschland zurück, den hier erstmals toponym bezeichneten Raum seiner Herkunft: er zoch her ausz wol in die lant und im gevil pas teutzsche land, wan in die heidenschefte[n] (DH, 51, 4–6; 328) er zog aus in die Länder – und es gefiel ihm besser in deutschen Landen als in der Heidenschaft.

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Dominik Hey

Dietrichs Bern Überlegungen zur mittelhochdeutschen Dietrichepik

1 Einführung „Unter ‚Dietrichepik‘ wird […] eine Gruppe erzählender Versdichtungen in mittelhochdeutscher Sprache verstanden, deren Held Dietrich von Bern ist.“1 Mit dieser, auf den ersten Blick scheinbar trivialen Feststellung, beginnt Joachim Heinzle seinen Einführungsband zur mittelhochdeutschen Dietrichepik, bevor er damit fortfährt, dass das, „[w]as da erzählt wird, […] zu einer gewaltigen mittel- und nordwesteuropäischen Stofftradition [gehört], der Dietrichsage, die neben der Nibelungensage den bedeutendsten Komplex der heroischen Überlieferung germanischer Herkunft, der germanischen Heldensage, darstellt.“2 Heinzle stellt an den Anfang seiner Erläuterungen zur Dietrichepik also genau jene Figur, der die gesamte Gattung ihren Namen zu verdanken hat: Dietrich von Bern. Dies wäre zunächst vielleicht auch nicht sonderlich bemerkenswert, wäre nicht Grundlage des literarischen Dietrichs eine historisch bezeugte Figur, über deren Leben und Wirken wir aus den Quellen3 außerordentlich gut unterrichtet sind: Theoderich der Große. Diese Besonderheit fällt vor allem im Vergleich mit dem zweiten großen Sagenkreis des Mittelalters, der Nibelungensage, auf. In dessen Zentrum steht eben gerade nicht eine einzelne, historisch belegte Figur, sondern vielmehr ein Kollektiv, so dass die Frage nach der Herkunft des Einzelnen gerade nicht in den Fokus der Erzählung rückt.4

1 Heinzle 1999, 1. 2 Heinzle 1999, 1; vgl. dazu Millet 2008, der anhand eines Liedes des Marner nachweisen kann, dass in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts das Interesse des Publikums an genau diesen beiden Stoffkreisen, dem Dietrichs und dem Siegfrieds bzw. der Nibelungen, wohl am größten war (3–4). Vgl. auch Curschmann 1989, der sogar soweit geht, eine „Rivalität der Sagenkreise“ (389) zu postulieren. Diese Rivalität wird im Rosengarten ebenso wie in der Rabenschlacht auch auf Figuren- und Handlungsebene dargestellt, kommt es doch in beiden Texten zum Kampf zwischen Siegfried und Dietrich (vgl. RG[A], Str. 322–365; RS, Str. 635–682). 3 Vgl. Marold 1988; Heinzle 1999, 2–10; Kragl 2007. 4 Dies zeigt sich beispielsweise im Umfang der Erzählungen von der Herkunft, die sich zu Beginn der Texte finden. Während dies für Dietrich in aller Ausführlichkeit dargestellt wird (siehe

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Im Hinblick auf diese besondere Spezifik der Dietrichepik5 werde ich daher zunächst aufzeigen, welches Spannungsverhältnis sich gerade angesichts der Herkunft und der damit verbundenen Legitimation von Herrschaft ergibt, wenn man den literarischen Dietrich vor dem Hintergrund des historischen Theoderich zu verstehen versucht. Ausgehend von Überlegungen zur historischen Dietrichepik6 schließt sich daran die Frage an, welche Varianten der Herkunft die Texte vorstellen. Dabei wird es einerseits um die rein räumlich-geographische Herkunft Dietrichs aus Bern gehen, andererseits aber zwingt die Lektüre von Dietrichs Flucht geradehin dazu, zunächst nach der genealogischen Herkunft Dietrichs zu fragen. In einem abschließenden dritten Teil soll dann ein vergleichender Blick auf die ‚aventiurehafte‘ Dietrichepik geworfen werden. Dort wird zu zeigen sein, dass es zwischen den beiden Subgattungen im Hinblick auf die hier behandelte Fragestellung Differenzen gibt, deren Signifikanz für das Verhältnis Dietrichs zu Bern, dem Raum seiner Herkunft, nicht zu übersehen ist. Wird Bern nämlich in den historischen Dietrichepen7 als zentraler Schauplatz8 der Handlung eingeführt und gilt Dietrichs Streben somit vor allem der Verteidigung seines Herkunftsraums, wird der Berner Hof in den ‚aventiurehaften‘ Texten9 zum topischen Ausgangspunkt der Aventiure stilisiert, der in seiner Funktion geradezu dem Artushof gleicht. Das Ausreiten und Verlassen des Hofes möchte ich dabei im Sinne Lotmans als das Überschreiten einer Grenze verstehen, stellt doch das Verlassen Berns einen Übertritt über die Grenze zwischen dem Höfischen und dem NichtHöfischen dar, der als Auslöser von Dietrichs Aventiuren zu gelten hat. Bern also hat – so wird zu zeigen sein – in den ‚aventiurehaften‘ Texten eine vollkommen andere Funktion innerhalb der erzählten Welt als in den Texten der historischen Dietrichepik.

unten), bleiben die Informationen über Siegfried, Hagen, Gunther usw. im Nibelungenlied spärlich und lassen sich nur weit verstreut über den Text finden. Vgl. zur Rolle des Kollektivs in der Heldenepik auch Weddige 2006, 239 sowie Müller 2005, 94–96. 5 Vgl. dazu auch Müller 2005, 17–39, der an den Anfang seiner Einführung zum Nibelungenlied eben gerade keine Figur, sondern „Geschichte“ (17) und „Sagenerinnerung“ (28) stellt. 6 Vgl. zur Unterscheidung von historischen und ‚aventiurehaften‘ Dietrichepen Heinzle 1978, 10. 7 Zu den historischen Dietrichepen zähle ich, der gängigen Definition folgend, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod. 8 Vgl. Dennerlein 2009, 13–14. 9 Als ‚aventiurehafte‘ Dietrichepen werden nach gängiger Auffassung die Texte Goldemar, Eckenlied, Sigenot, Virginal, Laurin, Rosengarten und der Wunderer zusammengefasst. Vgl. Heinzle 1999, x.

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2 Abstammung und Nachfolge – Dietrichs genealogische Herkunft Während nur für wenige andere literarische Helden des Mittelalters überhaupt historische Quellen nachweisbar sind,10 verfügen wir für Theoderich über eine breite, vor allem in Chroniken bezeugte Quellenlage. Theoderich (ca. 451–526 n. Chr.) gehört – und damit reiht sich die Dietrichepik in die Gattungstradition der deutschen Heldenepik11 ein – zum Personal der Völkerwanderungszeit. Aufgrund politischer Umwälzungen im Reich gingen die Ostgoten damals ein Föderatenverhältnis mit Ostrom ein, zu dessen Sicherung Theoderich von seinem Vater für ein Jahrzehnt (459–469/70 n. Chr.) als Geisel nach Byzanz gegeben wurde. Nach seiner Rückkehr regierte Theoderich zunächst an der Seite seines Vaters Thiudimer, bevor er nach dessen Tod Alleinherrscher wurde. 488 n. Chr. konnte Theoderich dann mit dem oströmischen Kaiser Zenon I. eine Übereinkunft aushandeln, die ihm die Herrschaft über Italien zusicherte. Dort herrschte jedoch zu diesem Zeitpunkt noch der ehemalige Feldherr Odoaker, der den letzten weströmischen Kaiser Romulus abgesetzt hatte. Theoderich zog daher mit großer Heeresmacht nach Oberitalien und konnte Odoaker in mehreren Schlachten besiegen. Trotz eines Vertrages, der beiden eine gemeinsame Herrschaft zusicherte, erschlug Theoderich noch im selben Jahr (493 n. Chr.) Odoaker und wurde damit zum alleinigen Herrscher über Italien. Dies wurde im Folgenden nicht nur von Kaiser Zenon I., sondern auch von seinem Sohn Anastasius I. anerkannt. Theoderichs Herrschaftsanspruch war dahingehend legitimiert.12 Betrachtet man zusammenfassend die historische Situation, die sich aus den Quellen rekonstruieren lässt, so zeigt sich, dass Theoderich eine aktive Eroberungspolitik betrieben hat, an deren Ende die – zumindest vorerst13 – gesicherte Herrschaft über Italien stand. Dass er dabei auch vor – damals durchaus üblichen – politisch motivierten Morden nicht zurückschreckte, untermauert lediglich sein ausgeprägtes Machtbewusstsein und unterstreicht seinen damit verbundenen Herrschaftsanspruch. Untersucht man dagegen die Darstellung in der

10 Vgl. dazu bspw. die Versuche, die Sagentradition der Kudrun zu rekonstruieren (vgl. Schmitt 2002, 9). 11 Vgl. Millet 2008, 4–5. 12 Vgl. zum gesamten Abschnitt Marold 1988, 153–158; Heinzle 1999, 3 sowie Knefelkamp 2003, 29–31. 13 Aufgrund der nicht geklärten Nachfolge wurde Italien nach zwanzigjährigem Krieg letztendlich oströmische Provinz. Vgl. Heinzle 1999, 4.

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mittelhochdeutschen Dietrichepik, so wird deutlich, dass vom historischen Kern der Fabel nicht viel übrig geblieben ist.14 Schon in der ersten Überschrift des Buches von Bern15 werden Dietrich und sein Vorgänger16 Dietwart als kuͣnig in roͣmischem lanndt bezeichnet. Entgegen der historischen Tatsache, dass erst Theoderich Italien erobert hat, suggeriert Dietrichs Flucht eine Kontinuität im Amt des römischen Königs, die mindestens bis zu Dietwart zurückreicht. So heißt es zu Beginn der Erzählung: Dietwart, so hiess er, dem dienet fuͣr aigen die roͣmischen lanndt, und muͦst im warten alles sambt schon mit gewalte. (DF, V. 8–11) Dietwart, so hieß er, der hatte die römischen Länder als sein dienstverpflichtetes Eigentum und alle mussten ihm bereitwillig mit ihrer ganzen Macht aufwarten.17

Dietwart wird jedoch gerade nicht als Spitzenahn18 eines Geschlechts vorgestellt, sondern reiht sich vielmehr – so behauptet es zumindest der Text – in eine lange Reihe von Vorgängern und Vorfahren ein, unter denen er allerdings eine herausgehobene Position einnimmt: Er lept so herrleiche, daz man im sprach des pesten von freunden und von gesten,

14 Freilich gibt es derartige Assimilationen und Reduktionen auch in anderen Texten und Textgattungen, doch scheint mir die Dietrichepik deshalb ein besonderer Fall zu sein, weil wir, wie oben dargestellt, über Dietrich respektive Theoderich außerordentlich gut informiert sind. Während sich in der Nibelungensage schon früh unterschiedliche Einzelsagen überlagern (vgl. Müller 2005, 17–21), lässt sich bei Dietrich/Theoderich in der Historiographie noch bis ins zwölfte Jahrhundert hinein der historische Kern der Überlieferung erkennen (vgl. Heinzle 1999, 18–23). Die Frage, wie es angesichts der parallelen, historiographischen Überlieferung dennoch zu einer derartigen Umformung in den volkssprachlichen Epen kommen konnte, bleibt daher umso unerklärlicher und hebt den besonderen Status der Dietrichepen innerhalb der heldenepischen Dichtung des Mittelalters hervor. 15 So der Titel, den der Text selbst nennt (vgl. DF, V. 10106). 16 Zur Unterscheidung von Vorgänger und Vorfahre vgl. Kellner 1999. Kellner sieht den Vorfahren in der Blutslinie, d.  h. genealogisch, mit seinem Nachfahren verbunden, während der Vorgänger und sein Nachfolger durch Amtssukzession miteinander verbunden sind. Vgl. dazu auch Haug 1979, 117; Lienert 2010, 128 sowie Kropik 2008, 227, die jeweils zwischen Ahnen und (Amts-)Vorgängern unterscheiden. 17 Die Übersetzungen stammen alle vom Verfasser. 18 Vgl. Kellner 2004, 30.

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in seinen pluͣennden tugenden. Was man unns ye von jugenden ye gesaget mere, des was der erbere ein gimme und ein adamant, davon er weiten was erkannt. Er lebt in rainen pluͣenden tagen, als wir die weysen horen sagen, so gar on alle schannde. Frid was in seinem lannde, und tet auch nuͦn das peste, waz er ze tugenden weste, dartzuͦ was seines hertzen ger. Es lebet hoher kunig niemer so herlich noch so schone. Er warb nach preyses lone noch mer dann ye kuͣnig getete. (DF, V. 16–35) Er lebte so vorbildlich, dass ihm in der Blüte seiner Vortrefflichkeit von Freunden und Fremden nur das Beste nachgesagt wurde. In allem, was man uns jemals von jungen Menschen gesagt hat, war der Ruhmreiche ein Edelstein und ein Diamant. Deswegen war er weithin bekannt. Er lebte in der Zeit vollkommener Blüte, wie wir es die Weisen berichten hören, völlig ohne jede Schande. Friede herrschte in seinem Land und er tat nur das Beste. Sein Herz strebte nach allem, was er als Vortrefflichkeit kannte. Es lebte nie wieder ein mächtiger König derart herrlich oder anständig. Er strebte noch mehr nach Ruhm, als es jemals ein anderer König getan hat.

„Auf diese Weise bleibt“, so Beate Kellner, „sowohl die Frage nach der Gründung von Herrschaft ausgespart wie auch das Problem des Ursprungs einer Genealogie.“19 Dietwart verkörpert zwar den „Prototyp eines idealen Herrschers“,20 wird jedoch „nicht als Eroberer eines fremden Landes dargestellt, sondern als bereits angestammter Herrscher in seinem Reich, als König in Rœmisch lant“.21 Dabei verweist im Besonderen die bereits angesprochene Überschrift ausdrücklich auf die Kontinuität der Herrschaft: Von Dietwart, kuͣnig in roͣmischem lanndt, und daranch von seinem sun Perner Diettrich […]. (DF, Titel; „Von Dietwart, König des römischen Lands, und anschließend von seinem Sohn, Dietrich von Bern“) Es stehen also an prominenter Stelle zu Beginn der Erzäh-

19 Kellner 1999, 48. 20 Kellner 1999, 48; vgl. dazu Kropik 2008, die die Darstellung in Dietrichs Flucht als „ein Ideal vorbildlicher Herrschaft“ (240) sieht und dies sowohl in der Vorgeschichte wie in den weiteren Erzählungen von Dietrich realisiert findet. 21 Kellner 1999, 48.

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lung zwei römische Herrscher, deren Bedeutung für die Geschicke des Reiches gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dietwart ist derjenige, von dem die Herrschaft kommt. Freilich ohne dass der Text jedoch erzählen würde, woher er seine Legitimation als König erhält. Dietrich dagegen wird der Held sein, dessen Kampfeskraft und politisches Geschick letztendlich über Wohl und Wehe des römischen Reiches entscheiden, denn er wird es sein, der gegenüber seinem ungetrewen vetter („illoyalem Onkel“) Ermrich die Herrschaft über Italien verteidigen muss. Es zeigt sich also schon zu Beginn von Dietrichs Flucht, wie stark die Geschichten über Dietrich von Bern von den historischen Fakten abweichen.22 Während Theoderich die Herrschaft über Italien gewaltsam errungen hat, wird Dietrich in eine Ahnenreihe eingeordnet, deren Herrschaftsanspruch im Text unhinterfragt vorausgesetzt wird. Gerade die ausführliche Vorgeschichte (vgl. DF, V. 1–2521) illustriert dies anschaulich.23 So nimmt die Dietwarterzählung nur deshalb zu Beginn des Epos derart breiten Raum ein, weil der artusgleiche König (vgl. DF, V. 106 und 131)24 im Interesse der Herrschaftssicherung zunächst um eine Braut werben muss.25 Schemagemäß gelingt dies auch und Dietwart kann erfolgreich um König Ladiners Tochter Mynne werben.26 Das Paar residiert in Dietwarts angestammtem Herrschaftsgebiet und Dietwart zeugt vierundvierzig Kinder (vgl. DF, V. 1878), von denen letztendlich alle sterben bis auf seinen Sohn Sigher (vgl. DF, V. 1879–1889). Dieser tritt, als einziger überlebender Nachfahre, die Nachfolge

22 Dabei konnte die Forschung bis heute nicht klären, wie es zu diesen Transformationsprozessen kam: „Rätselhaft bleibt indes die Hauptsache: wie es zur Verwandlung der historischen Eroberung Italiens durch Theoderich in die Vertreibung Dietrichs aus Italien kommen konnte.“ (Heinzle 1999, 6) Vgl. dazu Kragl 2007; Marold 1988, 162–180; Wagner 1980 sowie grundlegend Haug 1971. 23 Vgl. zum Folgenden Kropik 2008, die nach Sichtung der Forschung insgesamt drei Funktionen der genealogischen Vorgeschichte identifiziert: „Erstens dient sie [die Vorgeschichte, D. H.] offensichtlich dazu, der ‚heroisch-tragische[n] Gegenwart der Dietrichhandlung‘ die ‚Vorzeit der Dietrichahnen als eine […] quasimythische[] Utopie in höfischer Stilisierung‘ gegenüberzustellen. […] Die zweite Funktion der Vorgeschichte ist die ‚dynastische[] Legitimation des Helden‘. […] Aus den bereits genannten lässt sich drittens eine Funktion der Vorgeschichte ableiten, die man als ‚Historisierung der Dietrichsage‘ bezeichnen könnte.“ (223–224) Für die folgende Analyse sollen vor allem die ersten beiden Aspekte in den Vordergrund gestellt werden. Zur Funktion der Historisierung vgl. im Detail ebenfalls Kropik 2008. 24 Vgl. hierzu Haug 1979, 122. 25 Vgl. hierzu und im Folgenden Rollnik-Manke 2000, 159–166. 26 Vgl. Kellner 1999, 47 sowie grundlegend zum Brautwerbungsschema Schmid-Cadalbert 1985.

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seines Vaters an. Von seinen zahlreichen Nachkommen wiederum überlebt lediglich sein Sohn Ortnit.27 Mit Sighers Sohn Ortnit jedoch wird die übereinstimmende Reihe der Ahnen und Amtsvorgänger unterbrochen. Ortnit, dessen Brautwerbung nur mit großem Aufwand erfolgreich verläuft, versagt als Herrscher und wird von einem Drachen gefressen, noch bevor er für einen Nachfahren und damit für einen Nachfolger sorgen konnte. Die Erzählung jedoch kommt hier nur vermeintlich an eine „Nullstelle“.28 Denn Wolfdietrich, der von Kriechen in romisch lannd (DF, V. 2262; „von Griechenland ins römische Land“) kommt, gelingt es, Ortnit zu rächen, den Drachen zu töten und Ortnits Frau zu heiraten. Während also die Reihe der Nachfahren mit Ortnit erlischt, kann durch die Heirat Wolfdietrichs mit Ortnits Frau die Reihe der Nachfolger fortgesetzt werden, Wolfdietrich wird römischer König (vgl. DF, V. 2282–2293). Dass dies keinen Bruch in der Amtssukzession darstellt, sondern dass Wolfdietrich durch die Ehe mit Liebgart und den gewonnenen Drachenkampf29 rechtmäßiger Herrscher über das römische Reich ist, macht der Text implizit auch dadurch deutlich, dass sein Leben in allen relevanten Punkten dem bisherigen Schema folgt: erfolgreiche Brautwerbung, zahlreiche Nachkommen, Tod aller Nachkommen bis auf den einen Erben, problemlose Übergabe der Herrschaft. Wolfdietrich also reiht sich lückenlos in die Reihe der römischen Könige ein,30 das Schema der erfolgreichen Brautwerbung wird fortgesetzt und „[d]urch [die] Dezimierung auf je nur einen Erben wird ein reibungsloser Generationenübergang garantiert.“31 Die Ahnenreihe setzt sich so bis zu Wolfdietrichs Enkelsohn Amelung fort. Dann jedoch, und dies ist der Ausgangspunkt aller Erzählungen der historischen Dietrichepik, überleben drei von Amelungs Söhnen: Diether, Ermrich und Dietmar. Konnte das Reich bisher jeweils an den einen Erben übergeben werden, erfolgt nun erstmals eine Teilung (vgl. DF, V. 2426–2431). Diese Reichsteilung stellt jedoch nicht nur eine politische Zäsur dar, sondern markiert auch eine zeitliche Grenze. Während die Zeit von Dietwart bis zu Amelung als geradezu paradiesische Urzeit dargestellt wird und so „den Charak-

27 Vgl. zur mehrfachen Wiederholung als Kompositionsprinzip von Dietrichs Flucht Kropik 2008, 225–228, 253–254. 28 Kellner 1999, 48. 29 Auch hier ordnet sich Wolfdietrich nahtlos in die Reihe der römischen Könige ein, musste doch auch Dietwart den Kampf gegen einen Drachen bestehen, um seine Brautwerbung erfolgreich zum Abschluss bringen zu können (vgl. DF, V. 1536–1680). 30 Vgl. Kellner 1999, 49, 55–56. 31 Kellner 1999, 52.

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ter einer in die Vorzeit projizierten Utopie an[nimmt]“,32 kommt mit Ermrich, dem Erben Amelungs und Onkel Dietrichs, das Böse in die Welt: Untriuwe ist von im [Ermrich, D.H.] in diu rich | leider alreste chomen (DF, V. 3513–3514; „Er war der erste, der leider die Treulosigkeit in die Reiche brachte.“). Ermrich also kann, so macht es der Erzählerkommentar deutlich, keinesfalls der legitime Nachfolger auf dem römischen Thron sein und auch Diether wird vom Text nicht als solcher inszeniert.33 Zudem wird nur für Dietmar das bisher vorgestellte Werbungsschema der römischen Könige auserzählt: Er erwirbt eine Frau und zeugt mit ihr zwei Söhne, wobei einer von ihnen Dietrich von Bern ist, der in der Nachfolge seines Vaters das Amt des römischen Königs erben wird.34 Zusammenfassend also lässt sich festhalten, dass Dietrich – im Gegensatz zum historischen Theoderich – als angestammter Herrscher über Bern und Oberitalien vorgestellt wird. Mit einem Rückblick auf Dietwart beginnend suggeriert der Text eine Sukzession im Amt des römischen Königs, die bis weit in die „Idealität der Vorzeit“35 zurückreicht und deren Ursprünge im Dunklen bleiben. Sowohl Dietwart, von dem aus die Erzählung ihren Anfang nimmt, wie auch Dietrich, sind legitime Nachfolger auf dem römischen Thron. Der genealogische Bruch, den der Übergang von Ortnit auf Wolfdietrich36 darstellt, wird dabei verwischt und von der fortdauernden Sukzession im Amt überlagert. Präsentiert wird vom Text also zunächst in aller Ausführlichkeit Dietrichs genealogische Herkunft. Auch wenn am Anfang der Erzählung Dietwart steht, so läuft doch alles auf Dietrich hinaus, seine Legitimation ist der Zweck der Vorgeschichte. Die Abstammung aus dem Geschlecht der römischen Könige wirkt daher für den jungen Dietrich zunächst auch identitätsstiftend, sie legitimiert seinen Anspruch auf die römische Krone und wird damit, vor allem in der Auseinandersetzung mit Ermrich, zum zentralen Merkmal von Dietrichs Herkunft.

32 Haug 1979, 120. 33 Vgl. dazu auch DF, V. 2432–2447: Ermrich erhält Pullen, Galaber und Wernhers marche als Erbteil, Diether bekommt Brisache und Bern daz lant (oder beyern lant, die Handschriften weisen hier unterschiedliche Lesarten auf, gemeint sein kann aber auf keinen Fall die Stadt Bern, die erst von Dietmar erbaut wird; vgl. DF, V. 2498–2502), Dietmar erhält Lamparten, Ysterich, Friul, das Intal und eben romisch erde. 34 Die zuvor als Problem dargestellte Reichsteilung wird in dieser Generation nicht thematisiert, Dietrich ist alleiniger Erbe der römischen Krone. 35 Haug 1979, 122. 36 Durch den Namensbestandteil diet wird vielmehr deutlich gemacht wird, dass Wolfdietrich der eigentliche, der wahre Nachfolger Dietwarts ist. Vgl. Kellner 1999, 55.

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3 Dietrich und Bern im Buch von Bern Dietmars erstgeborenes Kind – Dietrich – wird vom Erzähler jedoch zunächst nicht namentlich vorgestellt. Vielmehr ist im Text von de[m] Bernere37 die Rede, der mit maniger manheit elleu diu wunder hat bejeit, da von man singet unde seit, wand er leit michel arbeit. (DF, V. 2488–2491) der mit großer Tapferkeit all die Wundertaten vollbracht hat, von denen man singt und spricht, weil er große Mühsal zu erleiden hatte.

Dietrich wird also bereits bei seiner ersten Vorstellung im Text gerade nicht bei seinem Namen oder in seiner Funktion als Erbe der römischen Krone genannt, sondern als der Berner in die Handlung eingeführt. Während also zuvor durch die lange Vorgeschichte die Abstammung, d.  h. die genealogische Herkunft im Mittelpunkt stand, zeigt sich in dieser ersten Nennung, wie Dietrich aufs engste auch mit seiner räumlich-geographischen Herkunft verbunden ist. Dabei fällt auf, dass Bern, das oberitalienische Verona, nicht der angestammte Herrschaftssitz der römischen Könige ist.38 Vielmehr wurde Bern erst von Dietrichs Vater erbaut: Doch sagt uns ein mære, swie milte Dietmar wære, idoch bowete er Berne und was da alle zit vil gerne unz an sines endes zil. (DF, V. 2498–2502) Doch erzählt man uns, dass Dietmar, großzügig wie er war, derjenige war, der Bern erbaut hat. Und da war er jederzeit sehr gerne bis an sein Lebensende.

Während Dietrich also sonst stets in der langen Tradition seiner Vorgänger und Vorfahren dargestellt wird, ist die Bezeichnung als der Berner überhaupt erst möglich, nachdem sein Vater Bern erbaut hat. Es zeigt sich also, dass gerade die Bezeichnung Dietrichs als Dietrich von Bern oder der Berner kein Relikt der weit

37 Vgl. Curschmann 1979, 364. 38 Herrschaftssitz der weströmischen Könige war, nach der Teilung des Reiches, zuvor neben Mailand unter anderem Ravenna (mhd. Raben) gewesen, in dem auch der historische Theoderich residierte. Vgl. dazu Knefelkamp 2003, 29–30. In Dietrichs Flucht wie in der Rabenschlacht gibt es allerdings keine Hinweise darauf, wo die römischen Könige vor Dietrich residierten.

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entrückten Vergangenheit ist. Während alle römischen Könige gleichermaßen als Glieder einer langen Ahnenreihe dargestellt werden, wird Dietrich herausgehoben und zum Helden von Bern stilisiert. In Bern verdichtet sich somit seine genealogische Position, die Stadt wird als Raum der genealogischen und räumlichen Herkunft zum Alleinstellungsmerkmal Dietrichs. Denn erst als Dietrich von Bern wird er zum personalen und Bern zum räumlichen Zentrum einer eigenen epischen Welt, welcher wir in all jenen Texten begegnen, die wir heute als Dietrichepik zusammenfassen. Diese These möchte ich im Folgenden auch an den Bezeichnungen belegen, die für Dietrich in den Texten der historischen Dietrichepik verwendet werden. Untersucht man diese, so fällt zunächst die Vielzahl von Bezeichnungen auf. Zunächst wird Dietrich ganz einfach bei seinem Namen genannt. Zählt man die entsprechenden Textbelege, so dominieren diese Bezeichnungen mit 211 Nennungen in Dietrichs Flucht bzw. 133 in der Rabenschlacht.39 Jede dritte Nennung also erfolgt bei seinem Namen. Am zweithäufigsten jedoch wird die Bezeichnung der Berner verwendet, die sich in Dietrichs Flucht 119 Mal bzw. 106 Mal in der Rabenschlacht findet. Deutlich weniger Belege finden sich für weitere Bezeichnungen, die mit Bern zusammenhängen: der von Bern,40 her von Bern,41 Vogt von Bern.42 Die wenigsten Belege dagegen finden sich für Bezeichnungen – und dies scheint mir eine wichtige Beobachtung zu sein –, die mit Dietrichs Status als König des römischen Reiches zusammenhängen: her in romisch riche, chunich von Rome, chunich von romisch rich, chunich von romisch lant u. a. m. lassen sich nur 31 Mal in Dietrichs Flucht und 26 Mal in der Rabenschlacht zählen. Bedenkt man dabei, wie ausführlich zuvor seine Abstammung aus dem Geschlecht der römischen Könige dargestellt wurde,43 so verwundert es doch, dass Dietrich vorwiegend mit Bern und eben nicht mit dem römischen Reich in Verbindung gebracht wird. Ich sehe in diesen Bezeichnungen einen Beleg dafür, dass, wie Elisabeth Lienert es formuliert, „Vorstellungen von Räumen und Raumstrukturen […] bekanntlich auch durch die Herkunft von Protagonisten geprägt werden […].“44 Denn dies gilt, wie ich meine, im Besonderen auch und gerade für Dietrich selbst.

39 Ich zähle nach der Ausgabe Lienert und Beck 2003 bzw. Lienert und Wolter 2005. 40 44 Belege in Dietrichs Flucht, 22 in der Rabenschlacht. 41 23 Belege in Dietrichs Flucht, 9 in der Rabenschlacht. 42 25 Belege in Dietrichs Flucht, 52 in der Rabenschlacht. 43 Die Darstellung der Vorgeschichte umfasst rund 2500 Verse, was etwa einem Viertel des gesamten Textes von Dietrichs Flucht entspricht. Vgl. dazu Rollnik-Manke 2000, 125. 44 Lienert 2010, 125.

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Die Herkunftsangabe, die in den Bezeichnungen Dietrich von Bern, der von Bern oder der Berner mitschwingt, prägt ganz nachhaltig die Vorstellung der epischen Welt und die Bedeutung Berns als Schauplatz innerhalb dieser. Dabei verstehe ich Schauplatz, hier Katrin Dennerlein folgend, als denjenigen Raum, in dem „die Origo, das raumzeitliche und personale Orientierungszentrum, verortet wird.“45 Denn genau das ist Bern in den Fluchtepen, es ist das raumzeitliche und personale Orientierungszentrum, dort wird „die Erzählung von Handlung […] lokalisiert“,46 Bern wird „nach den Regeln der erzählten Welt zur faktischen Umgebung eines Ereignisses“.47 Der Berner Hof ist derjenige Ort, an dem Dietrich residiert, der also sein Machtzentrum darstellt, und den es gegenüber den Feinden zu verteidigen gilt. Und auch wenn vor Mailand, Bologna und um Raben, d. h. um Ravenna gekämpft wird, so bleibt Bern dabei dennoch stets das Zentrum der epischen Welt und die Erzählung wird stets auf Bern hin perspektiviert. So ist es einerseits „Ort erlittener Gefahr und sich formierenden Widerstands“,48 andererseits laufen dort die Fäden der Handlung immer wieder zusammen und die Stadt selbst wird zum Schauplatz wichtiger Ereignisse. In Bern hält Dietrich sich auf, als Ermrich einen Boten zu ihm schickt, um ihm den Krieg zu erklären (vgl. DF, V. 2670–2672), dort werden die Truppen versammelt, um den Angriff Ermrichs abzuwehren (vgl. DF, V. 3037–3043), nach dem Sieg über Ermrich werden die Geiseln zurück nach Bern geführt (vgl. DF, V. 3575–3584). Die Eroberung Berns ist daher konsequenterweise auch Ermrichs primäres Ziel (vgl. DF, V. 2885–2887: Ermrich swͦ r einen eit, / daz er nimmer wold ouf gehan, / od im wuͦrd Bern undertan; „Ermrich schwor einen Eid, dass er niemals aufgeben würde, es sei denn, Bern würde ihm untertan“), stellt es doch den Schlüssel zur Macht Dietrichs dar. Sein Onkel fordert die Stadt im Austausch für Geiseln, die er auf Seiten Dietrichs nehmen konnte: Wil Dietrich loͤsen iwer leben [das der Geiseln, D. H.], so muͦz er mir fuͤr war geben allez, daz er ie gewan, und die minen sleht ouz lan. Beidiu Gart und Meilan, Berne und Raben muͦz ich han, Boͤle und ouch Ysterreich, Lanpparten gewaltichlich,

45 Dennerlein 2011, 160. 46 Dennerlein 2011, 160. 47 Dennerlein 2009, 132. 48 Lienert 2010, 125.

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romisch erde hie und da, daz muͦz er mir lazen sa. (DF, V. 3874–3883). Wenn Dietrich euch lebend auslösen will, so muss er mir wahrlich alles geben, was er besitzt und die Meinen zuverlässig herausgeben. Sowohl Garda als auch Mailand, Bern (Verona) und Raben (Ravenna) muss ich in meiner Gewalt haben, Pulan und auch Istrien, die mächtige Lombardei, die römische Erde hier wie dort, das alles muss er mir sofort überlassen.

Ein Bote überbringt die Nachricht Ermrichs und Dietrich berät mit den verbliebenen Lehnsmännern über diese Forderungen. Letztendlich stellt Dietrich das Leben der Geiseln über seinen Herrschaftsanspruch und gibt Ermrichs Forderungen nach. Als Ermrich daraufhin nach Bern kommt und die Übergabe der Stadt fordert, bittet Dietrich ein letztes Mal weinend um Nachsicht: Als der furste uf daz gras von dem ors gestanden was, do gie er vil chlageliche fur den chunich Ermriche mit nazen ougen truͦb und rot. Daz houpt er do nider bot Ermriche ouf die fuͤze. Er sprach: „Gedenche, veter suͤze, daz ich bin iwers bruder chint, daz mine sinne chranch sint. Nu tuͦ an mir din ere, ich wil nimmer mere wider dine hulde iht begen. Ruche dines zornes ab gesten!“[…] Weinde sprach her Dietrich: „Herre veter Ermrich, hab dir elliu mineu lant, dar uber ich herre bin genant, daz du mir Berne ruchest lan, unz ich gewachse zeinem man. (DF, V. 4220–4253) Als der Fürst vom Pferd abgesessen hatte und auf dem Gras stand, da trat er laut klagend, mit nassen, getrübten und geröteten Augen, vor den König Ermrich. Er warf sich mit dem Gesicht Ermrich zu Füßen. Er sagte: „Denk daran, lieber Onkel, dass ich das Kind eures Bruders bin und dass ich noch unerfahren bin. Nun beweise an mir deine Ehre, ich werde niemals mehr irgendetwas gegen deinen Willen tun. Entschließe dich dazu, von deinem Zorn abzulassen!“ […] Weinend sprach Herr Dietrich: „Herr und Onkel Ermrich, nimm dir alle meine Ländereien, über die ich zum Herrscher benannt bin, aber bitte überlasse mir Bern, bis ich zu einem Mann herangewachsen bin.“

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Ermrich aber, der sich der Bedeutung Berns für Dietrich bewusst ist, reagiert deutlich ablehnend auf diese Bitte:49 […] git man mir hiute Berne niht, so gelobe, daz dir geschiht, we von minen handen in allen dinen landen […]. (DF, V. 4240–4243) Übergibt man mir heute Bern nicht, so glaube mir, dass dir von meinen Händen in allen deinen Ländern Leid zugefügt wird.

Dem Berner bleibt nun keine Möglichkeit mehr, als mit allen Männern, Frauen und Kindern Bern zu verlassen und zu Etzel ins Exil zu gehen. Mit dieser erstmaligen Vertreibung aus Bern aber beginnt der Teufelskreis, der die Erzählstruktur des Buches von Bern prägt: Vertreibung – Exil bei Etzel – Rückkehr nach Italien – glückloser Sieg – Exil usw.50 Letztlich kann Dietrich sowohl Bern wie auch die anderen italienischen Städte zurückerobern, doch bleiben seine Erfolge am Ende Pyrrhussiege, kann Ermrich doch nicht vernichtend geschlagen werden und Dietrich verliert in den Schlachten zahlreiche tapfere Männer. Dieser Kreislauf aus glücklosem Sieg, Exil und erneuter Schlacht bleibt dabei zumindest theoretisch beliebig wiederholbar und findet in der Rabenschlacht lediglich einen vorläufigen Höhepunkt. Der Gang ins Exil aber ist aufs engste verbunden mit der räumlichen Struktur in Dietrichs Flucht und der Rabenschlacht. Zentrale Schauplätze der Epen sind Bern und Oberitalien, für Dietrich also der Raum seiner – genealogischen wie geographischen – Herkunft. Betrachtet man nochmals, wie Dietrich in der Mehrzahl der Fälle im Text bezeichnet wird, nämlich als Dietrich von Bern, der Berner oder der von Bern, mutet dies geradezu paradox an. Dietrich, dessen Name in den mittelalterlichen Texten auf engste mit seiner Herkunft verbunden ist, ja dessen Herkunft im Fall der Bezeichnung als der Berner sogar den eigenen Namen substituiert, wird aus Bern vertrieben zum Heimatlosen, der die Flucht zu den Hunnen, zu Etzel antreten muss. Für die historische Dietrichepik lässt sich also festhalten, dass der Namenszusatz von Bern weit über eine reine Herkunftsangabe hinausgeht. Bern bzw.

49 Vgl. dazu Kropik 2008, 238–239. 50 Vgl. zur Struktur der Dietrichepen Lienert 2010, 103–120, hier bes. 104; Haug 1979, der vom „Sich-im-Kreise-Drehen“ (119) der Handlung spricht sowie Curschmann 1976, der den Text ausgehend vom „Wechsel der Schauplätze“ (359) strukturiert und damit die räumliche Organisation der epischen Welt betont.

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Oberitalien ist, so zumindest stellt es der Text dar, Dietrichs angestammtes Herrschaftsgebiet, er steht in einer langen Tradition von Vorfahren und Vorgängern. Wird Dietrich nun in seinem eigenen Erbland und noch dazu von seinem eigenen Onkel angegriffen, dann geht es nicht nur darum, das Land oder die Stadt Bern zu verteidigen, sondern vielmehr darum, die eigene Identität zu bewahren. Denn Dietrich, und nur Dietrich, ist der Berner und eben nicht sein Onkel Ermrich.51 Ermrich kann und darf also, und dies führt der Text durch Ermrichs zahlreiche Niederlagen vor, Dietrichs Stellung nicht einnehmen. Dietrichs Herkunft prägt somit die gesamte Erzählstruktur der Fluchtepen. Bern ist dabei Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Hier residiert Dietrich zu Beginn der Erzählung, hier sammelt er sein Heer, hierhin kehrt er siegreich zurück. Und gerade deshalb ist der Verlust Berns der größte Schaden, den Ermrich Dietrich zufügen kann, ist Bern doch geradezu zum Synonym für Dietrich geworden. In Bern manifestiert sich seine Identität, ohne Bern ist Dietrich nur noch der Vertriebene, der Hilfe in der Fremde suchen muss.

4 Dietrich und Bern in der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik Völlig anders nun stellt sich die Situation in den Texten der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik dar. Während Bern in den Fluchtepen nicht nur Herkunftsangabe, sondern auch Handlungsschauplatz ist, übernimmt es in der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik eine Funktion, die der des Artushofs analog ist. Der Hof ist dort zwar Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung, an ihm ist die Handlung jedoch nur temporär situiert, bevor die Perspektive zum (wilden) walt als dem eigentlichen Raum der Handlung52 wechselt. Betrachtet man zunächst die Virginal, die handlungschronologisch am Anfang der Erzählungen um Dietrich steht, erzählt sie doch von seinem erstem Abenteuer,53 fällt auf, dass Bern hier genau als ein solcher Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung dargestellt wird.54 Nach einer kurzen Vorgeschichte beginnt

51 Dies wird auch daran nochmals deutlich, dass Bern erst von Dietrichs Vater Dietmar erbaut wurde. Dietrichs Onkel Ermrich also kann aus seinem Erbanspruch heraus, der sich letztlich nur auf das gemeinsame Erbe Dietmars, Ermrichs und Diethers beziehen kann, keinerlei legitime Ansprüche auf Bern erheben. 52 Vgl. Millet 2008, 332. 53 So der Werktitel noch in der Ausgabe von Franz Stark [Wiener Virginal V12]. 54 Kragl 2007 spricht in diesem Zusammenhang von der „Basis“ (95), von der aus Dietrich agiert.

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die Erzählung damit, dass Dietrich in Bern mit Damen zusammensitzt und diese ihn bitten, von Aventiure55 zu erzählen (V10, Str. 7). Dietrich muss daraufhin schamerôt zugeben, daz ime kein âventiure / bî sînen zîten was bekant (V10, Str. 8, 3–8, 4; „dass er bis dahin in seinem ganzen Leben noch keiner Aventiure begegnet war“). Die Situation erinnert also zunächst an arthurische Erzählmuster: Ritter erzählen im Beisein der Damen von ihren Heldentaten.56 Auch die Virginal setzt mit einem solchen Erzählanfang ein. Während jedoch die Artusritter von ihren zahlreichen Heldentaten zu berichten wissen, bleibt Dietrich dies verwehrt, hat der junge Mann bisher doch noch keine Aventiure erlebt. Er wendet sich daraufhin an seinen Meister Hildebrant und erzählt diesem von dem peinlichen Vorfall mit den Damen. Hildebrant verspricht Dietrich, ihm Aventiure zu zeigen und berichtet von einem Heiden, der in Dietrichs Reich sein Unwesen treibt. Dietrich und Hildebrant rüsten sich daraufhin für die Abenteuer, die sie im wilden walt erwarten.57 Den Wald verstehe ich hier im Sinne Katrin Dennerleins als einen semantisch aufgeladenen Raum, der als klassisches Raummodell des arthurischen Erzählens über „eine Konfiguration von Rauminformationen [verfügt], die aus zwei Komponenten besteht: zum einen aus Wissen über die materielle Ausprägung, zum anderen aus Wissen über typische Ereignisabfolgen, die gegebenenfalls auch mit bestimmten Figuren und/oder Figurentypen bzw. Handlungsrollen verknüpft sein können.“58 Die typischen Ereignisabfolgen sind dabei diejenigen, die uns aus den Artusromanen geläufig sind: der Wald ist der „Âventiureraum“,59 dort kann sich der Ritter beweisen und êre gewinnen.60 Dietrich also lässt Bern in der Obhut eines burger êren rîche (V10, Str. 12, 3; „überaus ehrenhaften Bürgers“) zurück und reitet mit Hildebrant aus Bern fort. Er verlässt damit seine gewohnte, höfische Umgebung und begibt sich in das

55 Vgl. zur Aventiure Schnyder 2006 sowie Strohschneider 2006. 56 Vgl. Strohschneider 2006, 378, 380. 57 Vgl. Zimmermann 2007, 216–217. 58 Dennerlein 2011, 162. 59 Zimmermann 2007, 219. 60 Vgl. Schnyder 2008, die den Wald als denjenigen Raum beschreibt, in den „die Artusritter reiten, wenn sie âventiure suchen“, (124) und die den Wald dort beginnen lässt, „wo der Umkreis des in einer Burganlage zentrierten Hofes aufhört“ (124). Die Merkmale, die Schnyder für den Wald der Artusromane anführt („unbekannte, unwegsame Dunkelheit“ [125], Lebensraum für „Gestalten einer imaginären Anderswelt (Riesen, Zwerge, Drachen)“ [125], der Wald als „Raum der Ordnungs-, Zeit- und Weglosigkeit“ [126] und als „Raum für zufällige, unvorhersehbare Begegnungen“ [130]) gelten meines Erachtens im vollen Umfang auch für den Wald in der Virginal, in dem rund um die Burg Mûter Riesen leben, in dem das Zwergenvolk der Virginal beheimatet ist und in dem Dietrich und seine Männer den Kampf gegen Drachen zu bestehen haben.

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Chaos und die Ungewissheit des wilden Waldes. Oder anders gesagt: „Der Held […] begibt sich […] von einem Innenraum kultureller Ordnung in einen kulturelle Unordnung symbolisierenden Außenraum“,61 wie Julia Zimmermann in Anlehnung an Lotman formuliert. Die Grenze zwischen Bern, dem Innenraum, und dem Wald, dem kulturellen Außenraum, die hier zwar nicht expliziert wird, die aber vom Rezipienten zwingend mitgedacht werden muss, wird doch Dietrichs Ausreiten aus Bern fast schon zu sehr betont (vgl. V10, Str. 14, 1; 15, 2; 19, 1), erscheint mir als eine solche Grenze, die, nach Lotman, „zwei disjunkte Teilräume“62 voneinander trennt. Die beiden Teilräume sind dabei jene beiden Räume, die als das Höfische und das Nicht-Höfische63 bezeichnet werden können. Gerade hinsichtlich dieser Opposition erfüllen die Räume eines der Merkmale, die Lotman in diesem Zusammenhang angibt: „[D]ie innere Struktur der beiden Teile [muss] verschieden [sein]“.64 Dabei zeigt sich aber auch, dass die Grenze, und damit wird auch das zweite Definitionsmerkmal erfüllt, nicht beliebig zu überschreiten ist – nicht nur, dass kein Mitglied der außerhöfischen Sphäre nach Bern hinein kann, sondern auch, dass es lediglich Dietrich und Hildebrant möglich ist, die Grenze von Bern her zu überschreiten.65 Die Grenze zeigt sich damit als „unter normalen Bedingungen impermeabel […], [erweist] sich für den die Handlung tragenden Helden [jedoch] als permeabel.“66 Mit dem Übertritt über genau jene Grenze also wird die weitere Erzählung der Virginal in Gang gesetzt. Der Text nämlich erzählt im Folgenden, wie Dietrich im wilden walt siegreich gegen Heiden, Riesen und Drachen kämpft und schlussendlich als erfahrener Aventiureritter an den Berner Hof zurückkehren wird. Das Verlassen Berns hat also genau zu dem Ergebnis geführt, das zu Beginn intendiert war: Dietrich hat auf seinem Aventiureritt Ruhm und Anerkennung gewonnen und kann zukünftig den Damen von seinen Heldentaten berichten. Dabei möchte ich den Fokus im Folgenden nochmals dezidiert auf Bern und seine Relevanz für die Erzählung richten. Nach zahllosen erfolgreichen Kämpfen

61 Zimmermann 2007, 198. 62 Lotman 1993, 327. Vgl. aus mediävistischer Perspektive zu Lotman Störmer-Caysa 2007, 39–40 und Schulz 2012 sowie als Beispiele für die Anwendung Lotmans auf mittelalterliche Texte Simon 1990 und Malcher 2009. 63 Vgl. Schulz 2012, 293. 64 Lotman 1993, 327. 65 Wenn Hildebrant später mit den Lehnsmännern Dietrichs aus Bern aufbricht, um Dietrich zu befreien, so zeigt sich auch hier, dass es eben genau diesen ‚Katalysator‘ Hildebrant benötigt, damit auch die Vasallen Dietrichs die Grenze überschreiten können. Hildebrant muss selbst nach Bern reiten und kann nicht, wie nach Ungarn, einen Boten schicken. 66 Lotman 2006, 542.

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im Wald verirrt Dietrich sich und wird in Folge dessen auf der Burg Mûter von Nitger und seinen Riesen gefangen gesetzt. Als das Fehlen Dietrichs am Hof der Zwergenkönigin Virginal bemerkt wird und die Gefangennahme Dietrichs sich bestätigt, will Hildebrant Hilfe holen, um Dietrich zu befreien. Dazu schickt er einerseits einen Boten nach Ungarn, um dort Hilfe zu erbitten, reitet andererseits aber selbst nach Bern, um dort die helfe der Lehnsmänner Dietrichs zu organisieren. Erst hier blendet die Erzählung, nach mehr als 570 Strophen, wieder nach Bern. Hildebrant wird in Bern freudig empfangen, haben doch die Berner schon um das Leben ihres Herrn gefürchtet: diu guote stat ze Berne lîdet kumber, ungemach: sô leit in allen nie geschach, sî sæhen den herren gerne. (V10, Str. 594, 3–594, 6) Die gute Stadt Bern ist von Kummer und Sorge bedrückt: solches Leid geschah ihnen allen nie zuvor, sie sähen ihren Herren gern wieder.

Auf die Frage nach de[m] jungen Dieterîch, / de[m] vürsten dâ von Berne (V10, Str. 599, 2–599, 3; „dem jungen Dietrich, dem Fürsten dort aus Bern“) erzählt Hildebrant von den Ereignissen im Wald. Daraufhin rüsten sich die tapfersten Helden Berns für die Fahrt zu Virginal, um von dort aus zusammen mit den ungarischen Unterstützern Dietrich zu befreien. Es zeigt sich also, dass Bern auch hier, ebenso wie zu Beginn der Erzählung, nur vorübergehend Schauplatz der Handlung wird. Die Stadt ist lediglich Anlaufpunkt für Hildebrant, um von dort aus die Lehnsmänner Dietrichs zu mobilisieren und sie schnellstmöglich zu Virginal zu führen. Gerade auch dadurch, dass zusätzlich Hilfe aus Ungarn angefordert wird, scheint es fast beliebig, wo Hildebrant Dietrichs Männer antrifft und diese zur Befreiung ihres Herren sammelt. Vorrangiges Ziel ist die Befreiung Dietrichs und eben nicht die Darstellung der Ereignisse in Bern, diese bleiben notwendiges Mittel zum Zweck. Während in den Fluchtepen Bern zentraler Schauplatz der Erzählung ist, zeigt sich in der Virginal, wie wenig davon in den Texten der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik zu finden ist.67 Die Bezeichnungen Dietrichs als der Berner oder der von Bern, die sich in der Virginal ebenso finden wie in Dietrichs Flucht und der Rabenschlacht, zeugen zwar davon, dass der Name noch immer aufs engste mit seiner Herkunft verbunden ist, doch fehlt der Erzählung fast jeder Bezug auf

67 Zur Problematik der Datierung und Chronologie der Texte und Subgattungen vgl. Heinzle 1978, 39–51.

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Bern als Ort der Handlung, Bern ist nicht mehr „das raumzeitliche und personale Orientierungszentrum“.68 Aber auch Dietrichs genealogische und räumliche Herkunft, die in den historischen Dietrichepen noch zentrales Merkmal seiner Identität war und von der in aller Ausführlichkeit berichtet wurde, verliert damit an Bedeutung, seine Herkunft wird marginalisiert. Im Fokus des Interesses steht jetzt vielmehr die Bewährung in der Aventiure, durch sie gewinnt Dietrich seine Identität – jedoch primär als Ritter und nicht als römischer König. Von besonderem Interesse erscheint mir in diesem Zusammenhang das Ende der Virginal. Die bisher vorgestellten Beobachtungen beziehen sich durchwegs auf die Fassung der Heidelberger Virginal V10. Kurz vor deren Ende, ab Strophe 1056, rückt Bern plötzlich und unerwartet wieder in den Fokus der Erzählung: Aus Bern erscheint der Bote Ruolant am Hof der Virginal. Er berichtet, dass die Stadt belagert werde und man in Bern davon ausgehe, Dietrich sei auf der Aventiurefahrt gestorben: man wil die stat beligen. daz ist dem vogte komen vür. ich bin geriten ûf der spür. ich mags iu niht verswîgen: ez ist daz mære übr al daz lant, mîn herre sî erslagen. dar umb sô bin ich ûz gesant. (V10, Str. 1059, 3–1059, 9) Man will die Stadt belagern. Das ist dem Vogt zu Ohren gekommen. Ich bin (ihnen) auf der Spur nachgeritten. Ich kann es euch ich nicht verschweigen: überall im Land wird behauptet, mein Herr sei erschlagen. Deshalb bin ich ausgesandt worden.

Ruolant überbringt zudem die Nachricht, dass, sollte Dietrich nicht innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Bern zurückkehren, schad unde schande i[m] dô geschiht (V10, Str. 1060, 13; „(dass) ihm dort Schaden und Schande widerfahren“). Dietrich unterbricht daraufhin das Fest bei Virginal, schickt Ruolant mit der Nachricht zurück nach Bern, dass er lebe, und lässt in Jeraspunt die Abreise vorbereiten. Die Hochzeit mit Virginal allerdings, auf die die gesamte Erzählung zusteuert,69 wird nicht gefeiert und Dietrich kehrt zurück nach Bern. Dort ange-

68 Dennerlein 2011, 160. 69 Dies scheint mir ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass man berechtigterweise von arthurischen Erzählschemata in der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik sprechen darf. Denn der Gewinn einer Ehefrau ist – wenn auch nicht intendiertes Ziel – doch häufige Konsequenz der ritterlichen Aventiurefahrt. Vgl. dazu Weddige 2006, 196–203.

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kommen wird er von den Bernern freudig empfangen und nimmt letztlich unangefochten seine Position in Bern wieder ein. Dies scheint insofern eine bemerkenswerte Wendung gegenüber der übrigen Erzählung zu sein, als Bern dadurch plötzlich wieder zum Schauplatz der Erzählung wird und seine Rolle als Zentrum der erzählten Welt zurückgewinnt, während dieser zuvor in das Zwergenreich der Virginal verschoben worden war. Denn dieses ist das Ziel von Dietrichs Verlangen, während er auf Mûter gefangen ist, von dort aus wird seine Befreiung organisiert, dorthin kehrt er mit seinen Befreiern zurück. Allein die Möglichkeit, Bern könnte angegriffen und erobert werden, veranlasst Dietrich jedoch auf alle Ehre und Annehmlichkeiten bei Virginal zu verzichten und die Reise zurück nach Bern anzutreten. Würde die Erzählung hier, wie in den 1055 Strophen zuvor, das arthurische Erzählmuster konsequent forterzählen, so stünde am Ende zwar auch die Rückkehr nach Bern, dies jedoch an der Seite seiner Braut und lediglich, um den zyklischen Erzählstrang von Auszug und Wiederkehr zu vollenden. Dass dieser Bruch im arthurischen Erzählschema bereits von den zeitgenössischen Bearbeitern des Textes gesehen wurde, zeigen die Dresdner und die Wiener Fassungen der Virginal. Beide erzählen eine ähnliche Geschichte, wie sie die Heidelberger Fassung vorgibt, unterscheiden sich aber gerade auch im Schluss ganz erheblich. So wird in beiden Fassungen die in der Erzählstruktur angelegte Ehe zwischen Dietrich und Virginal auch vollzogen. Die Wiener Fassung berichtet ganz ausführlich von den Hochzeitsfeierlichkeiten, bevor mit der Rückkehr nach Bern die Handlung in gerade einmal vier Strophen zum Ende gebracht wird, die Dresdner Fassung reduziert den Bericht von der Rückkehr sogar auf nur noch zwei Strophen.70 Es zeigt sich also, dass die Heidelberger Fassung, ähnlich den Texten der historischen Dietrichepik, gerade am Ende Bern wieder stärker in den Fokus rückt. Mit der Ankunft Ruolants bei Virginal wird Bern sowohl in der Wahrnehmung der Figuren wie auch auf Rezipientenebene wieder präsent und durch Dietrichs

70 Die These, dass die Wiener und Dresdner Fassungen als Antwort auf die Heidelberger Fassung verstanden werden können, stützt sich im Wesentlichen auf die Überlieferung. Die Heidelberger Fassung V10 ist in der Handschrift Cpg 324 (UB Heidelberg) überliefert, die auf 1440 datiert wird. Die Dresdner Fassung V11 ist im Dresdner Heldenbuch überliefert, das auf 1480/90 datiert wird, und das neben der Virginal auch das Eckenlied, den Rosengarten, den Sigenot sowie den Laurin und den Wunderer enthält und damit eine der umfangreichsten Sammlungen ‚aventiurehafter‘ Dietrichepik aus dem 15. Jahrhundert darstellt. Die Wiener Virginal V12 ist vollständig nur in Linhart Scheubles Heldenbuch (ÖNB Cod. 15478) überliefert, das ebenfalls auf die Zeit um 1480/90 datiert wird. Bei allen drei Überlieferungszeugen handelt es sich je um die einzig vollständig erhaltene Überlieferung der jeweiligen Fassung. Vgl. Heinzle 1999, 111, 135–136.

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Rückkehr nach Bern wird dieses abermals zum Schauplatz der Handlung. Dabei zeigt sich auffällig, dass die voreilige Rückkehr in den (geographischen) Raum der Herkunft ausschließlich bedingt ist durch dessen Bedrohung. Dies fällt umso mehr im Vergleich mit den Wiener und Dresdner Fassungen auf, in denen Bern gerade nicht von außen bedroht wird. Dietrich hat in diesen Fassungen also keine Veranlassung, übereilt nach Bern zurückzukehren, und die Ehe mit Virginal kann dem arthurischen Erzählschema71 folgend geschlossen werden. Erst in einer Bedrohungssituation also erinnert sich Dietrich an die Bedeutung Berns. Er stellt den Schutz der Stadt über sein persönliches Glück und die Situation erinnert damit wenigstens am Ende der Heidelberger Virginal wieder an jene, wie wir sie auch in den Texten der historischen Dietrichepik kennengelernt haben: Bern wird wieder zum Mittelpunkt der erzählten Welt und die Verteidigung der Stadt zum Handlungsmovens für Dietrich. Die Beobachtung, dass Bern in der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik, ähnlich wie der Artushof in den höfischen Romanen, nur noch Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung ist, nicht aber mehr zentraler Schauplatz, lässt sich neben der Virginal noch an anderen Texten der Subgattung belegen.72 So befinden wir uns im Rosengarten A73 zu Beginn der Erzählung zwar bei Kriemhild in Worms, doch können die Strophen 1–26 insgesamt als Vorgeschichte betrachtet werden, bevor dann Dietrich in Bern die Einladung Kriemhilds erhält, sich im Kampf mit dem rheinisch-nibelungischen Personal zu messen, womit die Erzählung von Dietrich erst ihren eigentlichen Anfang nimmt. Nach längerem Zögern und erheblichen Bedenken nehmen die Berner Helden die Herausforderung an, reiten nach Worms und kehren, nachdem sie sich in 12 Einzelkämpfen als siegreich erwiesen haben,

71 Vgl. Millet 2008: „Damit erfüllen sie [die Wiener und die Dresdner Fassung, D. H.] […] auch die Erwartungen des ritterlichen Modells; seine [Dietrichs, D.  H.] negative Haltung gegenüber dem Frauendienst muss dann als Ausdruck von Unreife angesehen werden“ (342). 72 Die Argumentation beruht hier auf strukturellen Gemeinsamkeiten Berns und des Artushofs in den untersuchten Texten. Weiterführend wäre hier sicherlich auch ein Vergleich im Hinblick auf die Idealität der beiden Zentren der jeweiligen epischen Welt. Die dazu notwendige Lektüre der hier vorgestellten Texte, wie auch derjenigen Texte, die die Idealität des Artushofes offensichtlich in Frage stellen (ich denke hier zunächst an Wolframs von Eschenbach Parzival), kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags jedoch nicht geleistet werden. 73 Ich beziehe mich in meinen folgenden Ausführungen auf den Rosengarten A.

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nach Bern zurück. Hier wie auch im Goldemar,74 im Sigenot,75 im Eckenlied76 sowie im Laurin77 bleibt die Handlung in Bern nur noch schmückender Erzählrahmen und als Handlungsschauplatz ist die Stadt nur noch zu Beginn und am Ende der Erzählung relevant. Während der langen Phase der Aventiure wird die Region um Bern, also der wilde walt, bzw. Kriemhilds Rosengarten, zur Ereignisregion,78 in dessen Umfeld die Handlung angesiedelt ist.

74 Ähnliches lässt sich auch in den wenigen erhaltenen Strophen des Goldemar belegen. Dass Dietrich Bern verlässt, muss dort nicht einmal mehr expliziert werden, es genügt der Hinweis darauf, dass Dietrich nicht mehr in Bern ist: Her Dieterîch von Berne reit: / die rehten strâze er dicke vermeit. / dô kêrte er gên der wilde. (G, Str. 3, 1–3, 3; „Herr Dietrich von Bern ritt los, wobei er die befestigten Straßen zumeist vermied. Da schlug er sich in die Wildnis“). Vgl. dazu Millet 2008, 335–337. 75 Auch im Sigenot wird Dietrichs Ausfahrt nur noch als bereits geschehen vorausgesetzt (vgl. äSn, Str. 1, 8–1, 9: er [Dietrich, D. H.] reit dick eine ûz Berne / durch mengen ungevüegen tan; „Häufig ritt er alleine von Bern aus durch so manchen wilden Wald“) und die gesamte Handlung wird im Wald verortet, wobei am Ende die Rückkehr nach Bern steht (vgl. äSn, Str. 44, 1–44, 3: Hie mite schieden si von dan, / her Dietrich und der wîse man, / hin gên der stat ze Berne. „Damit gingen sie von dort weg, Herr Dietrich und der erfahrene Mann, in Richtung der Stadt Bern.“) 76 Die Erzählung setzt hier (ich beziehe mich auf das Eckenlied E2) zwar nicht bei Dietrich in Bern an, sondern perspektiviert vom Riesen Ecke her, doch bleibt die Raumstruktur grundsätzlich dieselbe. Schauplatz der Handlung ist nicht Bern, wo Ecke Dietrich vermutet (dies übrigens ein Hinweis darauf, dass Dietrich auch innerhalb der Texte nicht nur dem Namen nach aufs engste mit Bern verbunden ist), sondern der Tiroler Wald. Bern also wird nur während Eckes Auftritt dort zum Schauplatz, bevor die Erzählung einmal mehr im Wald angesiedelt ist und auch nicht von einer Rückkehr Dietrichs nach Bern berichtet. Anders im Dresdner Eckenlied E7 und in der Druckfassung E1, wo die zyklische Struktur vollendet wird und Dietrich sich auf den Weg zurück nach Bern begibt. 77 Ich beziehe mich auf die Ältere Vulgat-Fassung A. Diese setzt in Bern ein (Czu Berne was geseßen / eyn degen so vormeßen / der waz geheysen Dytherich. [L(A), V. 1–3] „In Bern lebte ein überaus tapferer Kämpfer, der hieß Dietrich“), von wo aus Dietrich ausreitet, um Aventiure zu finden (Iz riten dy prisere / durch hovelich mere. / Daz eyne waz her Dytherich, / eyn forste lobelich, / daz andere waz der snelle / her Wetich, sin geselle. [L(A) V. 85–90] „Die Berühmten ritten aus, um am Hof die Nachricht zu verbreiten. Der eine war Herr Dietrich, ein lobenswerter Fürst, der andere war der starke Herr Wetich, sein Gefährte“), und wohin er erfolgreich zurückkehrt. Eine bemerkenswerte Ergänzung findet sich in der sog. Walberan-Fassung. Nachdem Laurin als Gefangener mit nach Bern reisen musste, wird die Erzählung nun in Bern fortgesetzt. Dorthin schickt Laurins Vetter Truppen, um diesen zu befreien. Die anschließende Handlung ist dann in Italien angesiedelt, Bern wird plötzlich einer Bedrohung ausgesetzt. Nur durch Laurins Eingreifen kann ein Angriff der orientalischen Zwerge auf Bern verhindert werden und die Einzelkämpfe, die über Laurins Schicksal entscheiden sollen, werden vor den Stadtmauern ausgetragen. Vgl. dazu Millet 2008, 358 sowie Wetzel 2003/2004. 78 Vgl. dazu Dennerlein 2009, 125, wobei der Wald in diesem Fall wohl auch als Bewegungsbereich verstanden werden kann, setzt man voraus, dass er aus einzelnen Räumen besteht und erst

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Dabei scheint mir in der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik zu gelten, und dies zeigt die vergleichende Lektüre der Texte, dass mit dem Verlassen Berns immer eine Grenze überschritten wird, die ich, wie am Beispiel der Virginal dargelegt, im Sinne Lotmans verstehen möchte. Der Held der Erzählung, Dietrich von Bern, verlässt seine ihm vertraute, geordnete Umgebung und begibt sich auf Aventiurefahrt. Das Übertreten dieser Grenze also setzt einen Erzählmechanismus in Gang, der dem der Artusromane nicht fern ist. Verlässt Dietrich Bern, so kann man, ähnlich wie dies seit Hartmanns Erec auch für alle Artusritter gilt, davon ausgehen, dass Dietrich Aventiure findet und dass er sich im Kampf mit Heiden, Riesen, Zwergen oder Drachen beweisen kann. Bern ist nicht länger Schauplatz innerhalb der Erzählung, wenn man den Schauplatz als den Raum definiert, in dem „die Erzählung von Handlung […] lokalisiert [ist]“,79 der „nach den Regeln der erzählten Welt zur faktischen Umgebung eines Ereignisses […] [wird].“80 Damit verliert Bern aber auch seine Bedeutung als Raum der Herkunft. Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr die Abstammung Dietrichs oder seine geographische Herkunft, sondern seine Bewährung in der Aventiure. Dietrich rückt damit aber in die Nähe der Artusritter. Denn so wie Erec, Iwein oder auch Parzival81 sich nicht über ihren Raum der Herkunft definieren, so tut dies auch Dietrich nicht. Zwar ist er noch der von Bern, doch ist dieses Epitheton nur noch schmückendes Beiwerk und hat seine identitätsstiftende Wirkung sowie seine Funktion als Handlungsmovens verloren.

5 Fazit Im Gegensatz zum Bern der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepen ist die oberitalienische Stadt in der historischen Dietrichepik gerade nicht durch eine Grenze von der restlichen erzählten Welt getrennt. Bern und Oberitalien erscheinen vielmehr als ein Kontinuum, ganz Oberitalien wird zur Ereignisregion der Schlachtepen. Dabei behält Bern jedoch seine zentrale Funktion als räumlich-struktureller Mittelpunkt der Erzählung. Ohne Bewegung aus Bern heraus wird hier Handlung initiiert, besteht diese doch im Wesentlichen aus einer Reaktion auf das, was durch Ermrich von außen droht. Im Gegensatz zur actio der ‚aventiurehaften‘ Texte, die Dietrich durch seine aktive Bewegung aus Bern heraus auslöst, wird Handlung

durch Dietrichs Ritt hindurch zu einem zusammenhängenden Ganzen wird. 79 Dennerlein 2011, 160. 80 Dennerlein 2009, 132. 81 Vgl. dazu den Beitrag von Franziska Hammer in diesem Band.

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in den historischen Texten als reactio auf Ermrichs Provokationen dargestellt. Dies jedoch hat zur Folge, dass Bern, wie am Beispiel der Virginal ausführlich dargelegt, verlassen werden muss, um die Handlung in Gang zu setzen, denn nur außerhalb Berns kann Dietrich Aventiure finden. Die Bedeutung Berns als der Raum, in dem sich Dietrichs genealogische wie geographische Herkunft verdichtet, wird marginalisiert. Bern ist nicht länger zentraler Schauplatz und Dietrichs Herkunft rückt damit in den Hintergrund. Es bleibt letztendlich zweitrangig, von wo Dietrich auszieht, um Aventiure zu suchen, wichtig ist, dass er diese findet und damit seinen Ruhm als tapferer Held begründen bzw. festigen kann.82 Dies gilt im Besonderen auch für Dietrichs genealogische Herkunft, die im Buch von Bern in aller Ausführlichkeit herausgestellt wird, in den ‚aventiurehaften‘ Texten jedoch völlig fehlt. Dietrich wird als scheinbar immerwährender Herrscher von Bern dargestellt, dessen Machtansprüche völlig unhinterfragt vorausgesetzt werden.83 Während also die räumlich-geographische Herkunft Dietrichs zumindest teilweise noch thematisiert wird und sich auch in seiner Bezeichnung als der Berner widerspiegelt, wird seine genealogische Herkunft gerade nicht mehr problematisiert. Und doch bleiben diese beiden Textgruppen, historische Dietrichepik auf der einen, ‚aventiurehafte‘ auf der anderen Seite, gerade durch die Figur Dietrichs von Bern aufs engste miteinander verbunden. Er ist der missing link, durch ihn werden diese beiden, in vielerlei Hinsicht heterogenen Subgattungen zusammengehalten. Dabei wäre Dietrich in den ‚aventiurehaften‘ Epen durchaus ersetzbar. Denn das Schema von Auszug, Bewährung in der Aventiure und Wiederkehr ist so unikal nicht. Der Berner aber ist einzigartig und er bleibt, als Dietrich von Bern, der alleinige Nexus zwischen konkret-räumlichen, figurenspezifischen, handlungsstrukturellen und zeitlichen Aspekten.

82 In diesem Punkt scheint es, bei aller zuvor herausgestellten Gemeinsamkeit, eine deutliche Differenz zum arthurischen Erzählen zu geben: Denn der Ruhm der arthurischen Helden begründet sich ja gerade in ihrem Verhältnis zum epischen, strukturellen und semantischem Zentrum – dem Artushof. 83 Dietrich rückt damit in eine funktionale Nähe zu Artus oder Etzel, die ebenfalls als unangefochtene Herrscher in ihren jeweiligen Herrschaftsgebieten dargestellt werden. Vgl. dazu Kragl 2007, 72, 97 sowie Millet 2008, 328–329. Damit nimmt Dietrich eine bemerkenswert ambivalente Position im höfischen Sozialgefüge ein: Einerseits ist er immerwährender Herrscher wie Artus, andererseits jedoch muss er sich in der Aventiure beweisen wie die Artusritter. Die einzelnen Texte der ‚aventiurehaften‘ Dietrichepik finden mit dieser Konstellation ihren jeweils eigenen Umgang und rücken teils die eine (artusgleicher Herrscher), teils die andere Position (Bewährung in der Aventiure) in den Vordergrund, freilich ohne eine Antwort darauf zu geben, woher sich sein Herrschaftsanspruch überhaupt legitimiert.

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Franziska Hammer

wer oder wannen ist diz kint, des site sô rehte schœne sint? Die räumliche Multiplikation der Herkunft im höfischen Roman am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan

1 Primärer und sekundärer Herkunftsraum Oft ist das erste, was wir vom Helden in mittelalterlichen Erzählungen erfahren, seine Herkunft.1 Diese Herkunft drückt sich jedoch weniger in einer geographischen bzw. räumlichen Zuordnung aus, sondern ist in erster Linie genealogisch definiert. Sie manifestiert sich in den häufig der eigentlichen Handlung vorgeschalteten Vorgeschichten der Eltern; mitunter wird die Haupthandlung sogar bis zur Geschichte der Großelterngeneration zurückverfolgt. Diese umfassende genealogische Einbettung des Helden ist eine der ältesten Erzählstrategien überhaupt, man denke an die Genealogien des Alten Testaments, bei Homer, Vergil oder in anderen Heldendichtungen.2 Dabei geht es nicht nur darum, festvererbte Beziehungen für das Publikum sichtbar zu machen und das verwandtschaftliche Bezugsnetz der gesamten Romanhandlung aufzuspannen; in der Genealogie ist bereits der art3 des Helden, mittelhochdeutsch für die ererbte Prägung und Bestimmung, festgelegt. Auch und gerade für den höfischen Roman des

1 Das Zitat im Titel stammt aus Gottfrieds von Straßburg Tristan, V. 2753–2754. 2 Vgl. Grosse 1979, 291. 3 Etymologisch ist art zurückzuführen auf ern (ackern, pflügen). BMZ 1963, Bd. 1, 50: „Die eigentliche bedeutung des wortes ist wohl der grund und boden aus welchem etwas aufwächst, dann die von dem boden dem entsprossenen mitgetheilte eigenthümliche natur und beschaffenheit; hieraus entwickelt sich die tropische bedeutung herkunft, art“ [Hervorhebungen im Original]. Das mittelhochdeutsche Wort art kann demzufolge 1. als „ackerbau, sowie dessen erträgnis, land“ übersetzt werden oder 2. als „herkunft, abkunft“ sowie „angeborne eigentümlichkeit, natur; beschaffenheit, art“ (Lexer 1992, Bd. 1, Sp. 98). Zu art als Naturalisierung von Ethos: Müller 2007. Zum Verhältnis von Natur und Art: Schwietering 1961/1962.

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Mittelalters gilt folglich der Grundsatz: Was jemand ist, bestimmt sich aus dem Geschlecht, in das er hineingeboren wird.4 Da wir es in der mittelalterlichen Literatur fast ausnahmslos mit adligen Helden zu tun haben, impliziert die genealogische Herkunft wiederum eine Verknüpfung mit geographisch benannten Herrschaftsgebieten und damit eine Affinität zum konkreten Raum der Herkunft. So stellt sich Herkunft zunächst als eine Überblendung von genealogischem und geographischem Herkunftsraum dar.5 Oftmals jedoch scheint die Unterbrechung dieser Bindung an den genealogisch bestimmten Raum der Herkunft für den mittelalterlichen Roman konstitutiv zu sein, so dass der Beginn der eigentlichen Geschichte durch eine mehr oder weniger gewaltsame Versetzung des Helden vom primären, genealogischen Herkunftsraum in einen sekundären Raum der Herkunft markiert ist. Jan-Dirk Müller begründet diesen Bruch mit dem Paradoxon von genealogischer Verstetigung und exzeptionellem Anfang, das sich besonders am exorbitanten Helden zeigt: Die dynastische Ordnung scheint am Ende zu sein, bevor sie ereignishaft erneuert wird.6 Julia Weitbrecht beobachtet, dass diese Problemstellung in unterschiedlichen Räumen erzählt und ausgehandelt wird, mithin auf spatiale Konstellationen appliziert wird.7 Die dynastische Erneuerung erfordert somit einen temporären Bruch mit dem primären, genealogischen Raum. Es überrascht nicht, dass der sekundäre Raum der Herkunft, in dem sich der jugendliche Held nach seiner Versetzung wiederfindet, dem primären Herkunftsraum der genealogischen und allgemein gesellschaftlichen Einbettung in seiner sozialen Isolation geradezu entgegengesetzt erscheint. Dieser Gegensatz drückt sich häufig über die semantische Opposition von höfischer Kultiviertheit und wegloser Wildnis aus. Mit der Ablösung vom primären Herkunftsraum geht eine Ablösung des Helden von seinem art einher,8 welche ihn auf je spezifische Weise neu definiert, gleichzeitig aber gerade die genealogische Prägung allererst zum Vorschein

4 Vgl. Müller 2007, 46. 5 Vgl. Brinker-von der Heyde 2011, 326. 6 Vgl. Müller 2007, 73. Claudia Brincker-von der Heyde zeigt, wie zeitgenössische genealogische Stemmata das Konkurrenzproblem der Urverwandtschaft des Menschen und der Exklusivität eines Geschlechts durch die Verschränkung von adelig repräsentativer Genealogie mit biblischer Ikonographie zu lösen suchen. Vgl. Brinker-von der Heyde 2011, 330–331. 7 Vgl. Weitbrecht 2012, 286. 8 Jan-Dirk Müller verwendet in diesem Kontext den Begriff ,Ent-artung‘ als neutrale Bezeichnung der Negation bzw. der vorübergehenden Entkoppelung des Helden von art in seiner mittelhochdeutschen Bedeutung als genealogische Prägung des Helden. Vgl. Müller 2007, 54. ,Entartung‘ bedeutet zudem immer auch ,Enträumlichung‘, denn ohne genealogische Rückbindung kann es in der literarischen Welt des Mittelalters auch keine räumliche Anbindung geben.

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bringen kann. In dieser Nullpunktsituation muss sich der de-locierte Held seine soziale Position aus eigener Kraft wieder erkämpfen, zumeist ohne sich seiner genealogischen Herkunft bewusst zu sein.9 Hierbei entfalten sich die ererbten Tugenden, und der Held gewinnt sukzessive seine Identität. Julia Weitbrecht beschreibt den Helden vor diesem Hintergrund als „transgressive Figur im Spannungsfeld von genealogischer Kulturkonstruktion und heroischer Exorbitanz“,10 dessen Exorbitanz gerade im Zuge von Kindheitsgeschichten über das Aufwachsen außerhalb der höfischen Sphäre narrativ erzeugt und prozessualisiert wird.11 Es ist der sekundäre Herkunftsraum, aus dem der Held schließlich die topologische Grenze im Sinne Jurij M. Lotmans überschreitet, wenn er sich auf den Weg an einen fremden Hof macht.12 Dabei bricht der jugendliche Held nicht vom Normbereich ins Unbekannte oder in einen Kompensationsraum auf;13 er kehrt vielmehr in diesen zurück – denn der angestrebte Hof sollte ihm zumeist qua seiner genealogischen Herkunft eigentlich nicht fremd sein.14 In Bezug auf die Frage nach der Herkunft des Helden ergibt sich damit strukturell eine Verdoppelung, die sich gerade auch auf der Ebene der Raumdarstellung nachvollziehen lässt und die für den Fortgang der Handlung von grundlegender Bedeutung zu sein scheint. Denn aus der Perspektive der höfischen Gesellschaft ist es gerade nicht der primäre, sondern der sekundäre Herkunftsraum, von welchem aus der Protagonist die Bühne betritt. Die gesellschaftliche Anbindung bleibt daher zunächst prekär, so dass der Held sich als genealogischer ,Nobody‘ gewissermaßen anonym bewähren muss. Erst mit der endgültigen Aufklärung seiner genealogischen Bezüge, ergänzt durch die außerordentliche Performanz

9 Natürlich kann es eine eigentliche Nullpunktsituation nicht geben, da der Held sich auch nach seiner Versetzung immer innerhalb bestimmter diskursiver Formationen bewegt. Mit der Konstruktion des sekundären Herkunftsraums inszenieren die Texte allerdings einen voraussetzungslosen Neuanfang – eine zweite Geburt. 10 Weitbrecht 2012, 284. 11 Vgl. Weitbrecht 2012, 283. Julia Weitbrecht betont dabei, dass der Held trotz dieser Konstitution in der Transgression stets auf die höfische Sphäre bezogen bleibt und deshalb auch immer wieder in sie zurückkehrt (vgl. 285). 12 Vgl. Lotman 1972, 338–339. 13 Siehe dazu den Beitrag von Julia Weitbrecht in diesem Band. 14 Und doch ist es diese ,Rückkehr‘, welche die Handlung im Sinne des ,to make the hero going‘ konstituiert. Der Übergang vom sekundären in den primären Herkunftsraum ist in Bezug auf das Lotman’sche Schema der Überschreitung einer vom Text gesetzten Grenze also eine ,umgekehrte‘ Grenzüberschreitung.

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des jugendlichen Helden am eigentlich nicht fremden Hof, kann die gesellschaftliche Reintegration abgeschlossen werden.15 Dieser Weg des heranwachsenden Helden lässt sich als sukzessive Bewegung chronologisch gliedern. Gunhild und Uwe Pörksen haben in ihrem Aufsatz „Die ,Geburt‘ des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters“16 herausgearbeitet, dass mittelalterliche Kindheitsdarstellungen nicht nur unter dem Motiv der Vorwegnahme bzw. Präfiguration späterer Tugenden vergleichbar sind, sondern darüber hinaus eine ganze Reihe von textübergreifenden Motiven und festen Stationen aufweisen, die sich zu einem Muster zusammensetzen lassen. Als die elf typischen Stationen der ,Geburt‘ des Helden benennen Gunhild und Uwe Pörksen seine hohe Abkunft (1), seine ungewöhnliche Zeugung (2), eine Form der Weissagung, die auf die spätere Laufbahn des Helden verweist (3), seine verborgene Geburt (4), die frühe Verwaisung (5), Gefahren, denen das Kind ausgesetzt ist (6) und die darauffolgende wunderbare Rettung (7), sein ungemäßes Aufwachsen (8), die frühe Offenbarung von Tugenden und  / oder Untugenden (9), schließlich das erste Hervortreten (10) verbunden mit der Namensnennung und der Offenbarung seiner Herkunft (11).17 Mithilfe dieser topischen Stationen inszenieren mittelalterliche Texte in ihren enfances das künftige Heldentum ihrer Protagonisten.18 Was dabei bislang unbeachtet blieb, ist der Umstand, dass dieser chronologischen Ordnung in der Regel eine Raumordnung entspricht, die durch das Nebeneinander von primärem und sekundärem Herkunftsraum gekennzeichnet ist, denn, so die These, die jeweils

15 Die genealogische Aufklärung ist oftmals mit der Namensnennung verknüpft, welche die Anonymität des Helden wortwörtlich aufhebt. Der Abschluss der Reintegration kann wie bei Gottfrieds von Straßburg Tristan durch die Schwertleite markiert sein. 16 Pörksen und Pörksen 1980. 17 Vgl. Pörksen und Pörksen 1980, 268–269. Nach den Recherchen von Gunhild und Uwe Pörksen fällt keine mittelalterliche Kindheitsdarstellung aus diesem Muster, wobei sie darauf hinweisen, dass die Stationen ein variables Muster ergeben, d. h. einzelne Stationen können modifiziert auftreten, mehrere können wegfallen (vgl. Pörksen und Pörksen 1980, 263, 269). 18 Zur Stellung und Bedeutung der enfances in der altfranzösischen Epik siehe Wolfzettel 1973 und 1974. Julia Weitbrecht stellt fest, dass es sich bei den „Erzählungen von der außergewöhnlichen Zeugung, Geburt und/oder Kindheit des Helden“ um eine „spezifisch hochmittelalterliche Darstellungsform im Rahmen einer Tendenz zur Biographisierung“ handelt (Weitbrecht 2012, 283). Gleichwohl ist die Art und Weise, die Kindheit von Heroen darzustellen keine mittelalterliche Besonderheit, sondern scheint ein universelles mythologisches Muster zu sein (vgl. Pörksen und Pörksen 1980, 274). Gunhild und Uwe Pörksen führen zahlreiche Beispiele aus verschiedenen Kulturkreisen und Zeiten an. Besonders viele Beispiele bietet die griechische Heroen- und Göttermythologie. Im Mittelalter dürfte die Kindheit Jesu am bekanntesten gewesen sein, die alle herausgearbeiteten Stationen aufweist.

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spezifische Exzeptionalität des mittelalterlichen Helden und seiner Geschichte wird über eine räumliche Verdoppelung der Herkunft und ihre Konsequenzen für den Handlungsverlauf initiiert und inszeniert. Die Multiplikation von Herkunft, die sich aus der Konstruktion von primärem und sekundärem Herkunftsraum ergibt, eröffnet dabei ein weitreichendes narratives Potential für die mittelalterlichen Autoren: Sie konstituiert komplexe Heldenfiguren, die mitunter geradezu gespalten erscheinen, eben weil man sie im wörtlichen Sinne nicht eindeutig verorten kann.19 Herkunft kann vor diesem Hintergrund als genealogisches Begründungsmuster bzw. als Rechtfertigungsstruktur diskursiv werden.20 Betrachtet man die Heldenwerdung aus räumlicher Perspektive, so lassen sich die einzelnen Stationen nach Gunhild und Uwe Pörksen jeweils einem primären und einem sekundären Herkunftsraum zuordnen: 21 Der primäre, genealogisch bestimmte Raum wird im Handlungsverlauf im Zuge der Stationen der hohen Abkunft (1), der ungewöhnlichen Zeugung (2), der verborgenen Geburt (4) und der frühen Verwaisung (5) entworfen. Dieser Raum ist nach verwandtschaftlichen Relationen organisiert und konstituiert sich daher weniger in der konkret-anschaulichen Darstellung. Der Tod des Vaters bzw. der Eltern leitet eine räumliche Zäsur ein: Der primäre Raum der Herkunft verliert seine Verbindlichkeit. Die Stationen der Gefahren (6) und der darauffolgenden wunderbaren Rettung (7) umfassen die gewaltsame Versetzung, also die Ablösung vom primären Herkunftsraum und begründen damit den sekundären Raum der Herkunft. Dieser erscheint als Negation höfischer Kultur. Im Zentrum steht die Isolation des Helden, die auf der Ebene der Raumdarstellung häufig durch eine raue Naturhaftigkeit markiert wird, so dass der Ausschluss aus der Gesellschaft mit einem Leben außerhalb der höfischen Sphäre verbunden wird. Das ungemäße Aufwachsen (8) geht somit einher mit einer räumlichen Negation des

19 Pörksen und Pörksen begründen die mittelalterlichen Kindheitsdarstellungen gerade umgekehrt, wenn sie vermuten, dass diese als nachträglich ergänzte Erklärungen der Außergewöhnlichkeit des Helden dienen. Sein außerordentlicher Ursprung erkläre die Überdimensionalität des Helden, mit der er in die normale Welt einbricht (vgl. Pörksen und Pörksen 1980, S. 275–276). Diese Beobachtung ist sicherlich richtig, gerade hinsichtlich des Befunds, dass viele Kindheitsgeschichten oft nachträgliche, sekundäre Zusätze sind. Gleichwohl kann man, so meine ich, von einer Wechselwirkung der Kindheitsgeschichten und dem späteren Handlungsverlauf bzw. der Figurenentwicklung ausgehen. 20 Zu Genealogie im Mittelalter und Verwandtschaft als kultureller Konstruktion siehe grundlegend Kellner 2004. 21 Bei den folgenden Ausführungen richtet sich der Blick primär auf die Textauswahl von Gunhild und Uwe Pörksen. Die Überlegungen zu primärem und sekundärem Herkunftsraum beziehen sich auf Kindheitsdarstellungen, haben also hinsichtlich mittelalterlicher Literatur nur für jene Texte Gültigkeit, die enfances beinhalten.

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art des Helden. Zugleich schlägt hier im Sinne des Geblütsadels einmal mehr der ererbte art des Helden durch und kann im Dickicht des wilden Waldes umso heller strahlen: Der Held offenbart seine Tugenden (9). Mit dem ersten Hervortreten (10) betritt der Held wieder den genealogischen, primären Raum – oft ohne diesen jedoch zu kennen und wiederum erkannt zu werden. Seine genealogische Identität ist überschrieben durch den sekundären Raum der Herkunft. Der strukturellen Anlage nach schließt sich der Kreis mit der Verkündigung seines Namens und damit der Offenbarung seiner genealogischen Zugehörigkeit zu diesem Raum (11). Die sich aus diesem Schema ergebende doppelte Herkunft des Helden scheint mir in historischer Perspektive in ihrer Produktivität und Faszination als narratives Formativ22 über jede wie auch immer zu definierende Epochenschwelle oder Modernitätsschwelle hinweg konstant zu sein. Somit ließe sich die räumliche Konstitution von Herkunft über einen primären und einen sekundären Herkunftsraum als Kontinuität des Erzählens von einem außergewöhnlichen Helden betrachten: von Achill bis zu Harry Potter. Die Konsequenzen der Entkoppelung des Helden von seiner genealogischen Herkunft und damit der Multiplikation seiner Herkunft werden jedoch von den einzelnen Texten zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich auserzählt und problematisiert. Selbst in Texten derselben Zeit können sich gravierende Unterschiede zeigen. Ich möchte dies an zwei Beispielen der höfischen Literatur verdeutlichen, in denen Herkunft und Bestimmung über den gesamten Text thematisch sind und welche in diesem Punkt sogar explizit aufeinander Bezug nehmen: Wolframs von Eschenbach Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan. Bei meiner Analyse der Darstellung der Herkunftsräume gehe ich in erster Linie von den narratologischen Kategorien Ansgar Nünnings und Katrin Dennerleins aus.23 Im Zentrum steht dabei die Frage, wie primärer und sekundärer Herkunftsraum an sich und in ihrem Verhältnis zueinander konstituiert und inszeniert werden. Einerseits verweist die dichotome Konzeption als Gegensatzpaar Kultur vs. Natur auf eine lange Tradition topischer Verwendungsweisen, andererseits wird der Topos der ungezähmten, wilden Natur aufgebrochen, indem dieser Raum zum zweiten Herkunftsraum des Protagonisten wird, der mit seinem genealogisch ererbten art die Kultur in die Natur trägt und sich zugleich in seinem

22 Unter einem narrativen Formativ verstehe ich in Anlehnung an die linguistische Terminologie eine generative Minimalstruktur, aus der mithilfe vorstrukturierter Konstruktionsprinzipien verschiedene narrative Konstellationen generiert werden können. 23 Vgl. Nünning 2009; Dennerlein 2009.

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zweiten naturhaften Ursprung gegenüber der Kultur soweit entfremdet, dass er bei seiner Rückkehr nicht erkannt wird, sich teilweise sogar selbst nicht kennt.

2 Räume der Herkunft in Wolframs von Eschenbach Parzival 2.1 Primärer Herkunftsraum Der primäre Raum der Herkunft Parzivals ist mit Schloss Kanvolais in Wâleis24 konkret lokalisiert und wird zugleich überlagert bzw. historisch vertieft durch eine fünf Generationen umfassende Vorgeschichte.25 In ihr entwirft der Text anhand der weitausgreifenden Reisebewegungen Gahmurets einen fast schon globalen Makroraum, welcher sich zwischen dem europäischen, christlichen Abendland und dem von Heiden bevölkerten Orient aufspannt. Gahmurets Orientreise stellt sich im Text nicht als räumlich ausgestalteter sukzessiver Übergang dar; die Geographie des Orients wird vielmehr durch auktoriale Nennung zahlreicher realweltlich referentialisierbarer Länder- und Städtenamen vermittelt.26 Hartmut Kugler konstatiert, dass sich die genannten geographischen Sachinformationen nirgends zu einer geschlossenen Descriptio zusammenfügen.27 Der Orient

24 Wâleis ist realweltlich referentialisierbar und bezieht sich auf Wales (afrz. Gales). Kanvoleis wird im Text als Hauptstadt von Wâleis eingeführt und ist nicht nachweisbar; vgl. dazu den Stellenkommentar von Eberhard Nellmann 2006, 488–489. 25 Der umfassende Ausbau der Verwandtschaftsverhältnisse im Parzival ist ein zentrales Charakteristikum der Poetik Wolframs und gilt als eine der bedeutendsten Änderungen Wolframs gegenüber der Vorlage von Chrétien. Wolfram hat dabei der mütterlichen Verwandtschaft Parzivals eine väterliche Verwandtschaft gegenübergestellt, indem er die meisten Personen, mit denen Perceval zusammentrifft und die nicht seiner mütterlichen Verwandtschaft angehören, zu Parzivals Verwandten väterlicherseits gemacht hat. Gerade durch die Vorgeschichte um Gahmuret verlagert sich das Gewicht zunächst stark auf die väterliche Verwandtschaft und damit auf die genealogische Verknüpfung mit der Artussippe; vgl. Bumke 2004, 172. 26 Der Aktionsradius Gahmurets reicht dabei – zu Wasser und zu Land – vom äußersten Westen der islamischen Welt (Marokko) bis weit in den Osten (Arabien, Persîâ); vgl. Nellmann 2006, 464–465. 27 Vgl. Kugler 1990, 118.

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konstituiert sich in dieser Unverbundenheit der Raumelemente als Inselraum.28 Die Verknüpfung von Orient und Okzident stellt sich mithin nicht geographisch, sondern vielmehr genealogisch über die Vermählung Gahmurets mit der dunkelhäutigen, heidnischen Königin Belacane und über die Geburt ihres gemeinsamen, zwiegefärbten Sohnes Feirefiz her.29 Nach seiner Rückkehr durchquert Gahmuret Westeuropa zu Pferde bis nach Wâleis, wo er im Turnierkampf Herzeloyde, die Schwester des Gralskönigs und ihre beiden Länder Wâleis und Norgâls30 erringt. Nachdem Gahmuret auf einer weiteren Fahrt in den Orient stirbt, wird kurz darauf Parzival geboren – der Rezipient kann hier nur durch Inferenzen auf Herzeloydes Herrschaftssitz Kanvoleis in Wâleis als Geburtsort schließen (108, 30; 112, 3). Gahmurets Orientreisen lassen sich als paradigmatisch für die Raumdarstellung Wolframs lesen: Der Text quillt geradezu über von Benennungen sowohl realweltlich referentialisierbarer wie auch fiktiver, teilweise intertextuell referentialisierbarer Länder,31 welche unverbunden nebeneinander stehen und in der Summe keinen kontinuierlichen Raum erzeugen. Der geographische Makroraum markiert jedoch nicht die primäre Raumordnung der Parzival-Handlung. Diese konstituiert sich nicht über die Nennung von Ortsnamen oder erzählte Reisebewegungen, sondern über verwandtschaftliche Relationen, die ein umfassendes genealogisches Bezugsnetz erzeugen. Claudia Brincker-von der Heyde beobachtet dabei das „Bestreben Wolframs, alle Figuren verwandtschaftlich miteinander so zu verknüpfen, dass der gesamte orbis terrarum weitgehend mit nur einer einzigen großen Familie besetzt wird.“32 So ist die Fremde eigentlich nie wirklich

28 Der Inselraum ist durch die fehlende Verknüpfung der Raumelemente charakterisiert; auch gibt es keine Fixpunkte, auf die hin die anderen Elemente angeordnet und mit denen sie verbunden werden (vgl. Dennerlein 2009, 191: Unterscheidung der vier Raumtypen Inselraum, Fixpunktraum, elastischer Wegeraum und nicht-elastischer Wegeraum nach Lynch 1960). Erst das fiktive Zazamanc, Reich der heidnischen, dunkelhäutigen Königin Belacane, wird als Ereignisraum der Handlung detaillierter ausgestaltet. Eine Lokalisierung Zazamancs gibt der Text nicht, zentrales Merkmal ist seine maximale Alterität bei gleichzeitig vollendeter höfischer Etikette. 29 In der Parzival-Handlung kann, mit Hartmut Kugler, Feirefiz als „Gravitationszentrum“ gesehen werden, „von dem aus und auf das hin die über den Roman verteilten Hinweise auf Orientalisches sich zu einem filigranen Muster zusammenschließen“ (Kugler 1990, 119). 30 Norgâls ist realweltlich lokalisierbar und bezieht sich auf Nordwales (afrz. Norgalles). Kingrivâls ist als Hauptstadt von Norgâls eingeführt und nicht als realer Ort nachweisbar; vgl. Nellmann 2006, 488, 509. 31 So lassen sich in den Ortsbezeichnungen nicht nur Bezüge zu anderen Texten der Artusepik, sondern z.  B. auch zum Nibelungenlied nachweisen (Azagouc und Zazamanc); vgl. Nellmann 2006, 465, 472. 32 Brinker-von der Heyde 2011, 336.

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fremd, sie erscheint vielmehr als eine exotisierte höfische Welt und man kann auf dem entferntesten Meer auf einen alten Bekannten und meist auch zumindest entfernten Verwandten treffen.33 Demgegenüber haben Figuren, die nicht an verwandtschaftlichen Verhältnissen teilhaben, keinen Ort.34 Das „Weltgewebe“35 des Parzival konstituiert sich mithin nicht über geographische Koordinaten, sondern über „die manigfaltigen genealogischen Beziehungen“.36 Im Zentrum dieser genealogischen Geographie steht auf der einen Seite die Artussippe, der Gahmuret entstammt, und auf der anderen Seite die Gralsfamilie, welcher Herzeloyde als Schwester des Gralskönigs Anfortas zugeordnet ist. Genealogie, die für gewöhnlich zeitlich in Erscheinung tritt, dargestellt meist in Form von Berichten,37 wird jedoch mit Artushof und Gralsburg als konkret zu erreichende Ziele ‚in den Raum abgebildet‘ – art als solcher manifestiert sich hier räumlich. Parzivals genealogische Herkunft, seine Bestimmung mütterlicherseits und väterlicherseits, treten damit als zwei unterschiedliche Räume in Erscheinung. Artushof und Gralsburg fungieren dabei als mehr oder weniger virtuelle Fixpunkte38 des primären, genealogisch bestimmten Herkunftsraums: Beide zeichnen sich durch ihre räumliche Instabilität aus und bilden doch zugleich

33 Eindrucksvolles Beispiel ist das Aufeinandertreffen Gahmurets und Vridebrants auf dem Meer (58, 3–58, 20). Kugler beobachtet die betonte Zufälligkeit dieser „,ortlosen‘ Begegnung der beiden Schiffe auf hoher See“ (Kugler 1990, 142). Im weiteren Textverlauf trifft Parzival immer wieder an entlegenen Orten auf Verwandte, wie z. B. seine Cousine Sigune (138, 9–142, 2 bzw. 249, 11–255, 30) oder auch seinen Halbbruder Feirefiz (735, 5–754, 28). 34 Als Beispiel für Figuren, die außerhalb der genealogischen Geographie von Gralsfamilie und Artussippe stehen und damit ortlos bleiben, wären zu nennen: Vridebrant, der Vetter des Königs Isenhart von Azagouc, der Zazamanc belagert, und Lähelin, der Bruder von Orilus und Cunneware, der Parzivals Erbländer besetzt. 35 Bertau 1973, 780. 36 Kugler 1990, 126. 37 Beispielsweise, wenn Gahmuret seinem ungeborenen Sohn Feirefiz in einem Brief detailliert Auskunft über dessen Herkunft gibt: wizzen sol der sun mîn, / sîn an der hiez Gandîn: / der lac an rîterschefte tôt. / des vater leit die selben nôt: / der was geheizen Addanz: / sîn schilt beleip vil selten ganz. / der was von arde ein Bertûn: / er und Utepandragûn / wâren zweier bruoder kint, / die bêde alhie geschriben sint. / daz was einer, Lazaliez: / Brickus der ander hiez. / der zweier vatr hiez Mazadân. / den fuort ein feie in Feimurgân: / diu hiez Terdelaschoye: / er was ir herzen boye. / von in zwein kom geslehte mîn, / daz immer mêr gît liehten schîn. / ieslîcher sider krône truoc, / und heten werdekeit genuoc (56, 5–56, 24). 38 Der Eindruck der Virtualität verstärkt sich, indem Artushof und Gralsburg als räumliche Repräsentationen der Bestimmung Parzivals bereits früh und permanent als richtungsweisende Ziele wirksam sind, auf der Ebene des discours aber erst verhältnismäßig spät und selten als tatsächliche Ereignisregionen der Handlung in Erscheinung treten. Zu Virtualität bzw. virtuellen Räumen in der mittelalterlichen Literatur: Vavra 2005; Schlechtweg-Jahn 2005; Morsch 2011.

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die grundlegenden Fluchtpunkte aller Bewegungen des Helden, in welchem sich beide Geschlechter – Artussippe und Gralsfamilie – verbinden. Im ersten Zirkel der Parzivalhandlung dominiert zunächst der Artushof, welcher für die väterliche Prägung des Helden zum Artusritter steht. Die Gralsburg aber bildet mit Parzivals mütterlich ererbter Bestimmung zum Gralskönig den eigentlichen Zielpunkt der Handlung. Dabei weisen die Darstellungen von Artushof und Gralsburg per se zunächst keine Hierarchisierung auf.39 Beide Räume erscheinen in ihrer Ordnung gleichermaßen als gestört und erlösungsbedürftig.40 Allein aus der Perspektive des art und der alternativlosen Notwendigkeit der Übernahme des Gralskönigstums durch den Protagonisten als letzten männlichen Nachkommen des Titurelgeschlechts offenbart sich die Gralsburg sukzessive im Handlungsverlauf als übergeordnete Bestimmung Parzivals.41 Vor dem Hintergrund der genealogischen Prägung fungieren sowohl Artushof wie auch Gralsburg im Sinne räumlicher Repräsentationen seines art als primärer Herkunftsraum Parzivals. Kanvolais bzw. Wâleis hingegen spielen als konkreter primärer Raum der Herkunft keine Rolle im weiteren Handlungsverlauf; Parzival wird nie wieder dorthin zurückkehren.

39 Die Frage nach dem Verhältnis von Artuswelt und Gralswelt steht im Zentrum eines umfassenden Forschungsdiskurses. Die Positionen gehen dabei im Wesentlichen entweder von einem dualistischen, einem gradualistischen oder einem typologisch-heilsgeschichtlichen Interpretationsmodell und damit grundsätzlich immer von einem hierarchischen Verhältnis beider Entwürfe aus. Eine detaillierte Analyse des Verhältnisses von Artuswelt und Gralswelt bietet Pratelidis 1994. Er zeigt, dass sich beide Bereiche in ihren Grundstrukturen nicht wesentlich voneinander unterscheiden – in seiner Darstellung von Artushof und Gralsburg problematisiere Wolfram die gesellschaftliche Wirklichkeit, indem er sie vom Ideal der Entwürfe konsequent abhebe. Wolfram gehe es letztlich gar nicht um den Vergleich beider Bereiche, weder um eine Abwertung der Artussphäre noch um eine utopische Idealisierung der Gralssphäre, vielmehr würden beide Bereiche in ihrer jeweiligen Ambivalenz einander bedingen. Vgl. Pratelidis 1994, 227–228. 40 Zur Erlösungsbedürftigkeit von Artus- und Gralsgesellschaft vgl. Bumke 2004, 183–185. 41 Gleichwohl bleiben mütterliche wie väterliche Prägung in Parzivals Handlungen wirksam, wenn er auf seiner Gralssuche, die über die Artuswelt hinausgeht, dem arthurischen Ethos verhaftet bleibt (vgl. Pratelidis 1994, 215). Pratelidis stellt fest: „Parzivals Artusrittertum stellt somit kein Hindernis auf seinem Weg zum Gral dar, im Gegenteil, es ist offenbar ein Teil seiner Bewährungsprobe. Im Grunde wird Parzival als vollendeter Artusritter zum Gral berufen“ (Pratelidis 1994, 223).

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2.2 Versetzung Die Trauer Herzeloydes um den im Kampf gefallenen Gahmuret ist der Auslöser für Parzivals Versetzung in einen sekundären Herkunftsraum. Herzeloyde lässt ihre drei Länder – Anschouwe, Wâleis und Norgâls – zurück und flieht mit ihrem Sohn in den Wald bzw. die Einöde Soltâne, um dort ein entbehrungsreiches Leben fernab der höfischen Gesellschaft zu führen.42 Im Zentrum der Darstellung steht nicht der räumliche Übergang, welcher nur kurz vom Erzähler berichtet wird, sondern das Leid der Witwe, das sie von des hoves vreude ausschließt: ein nebel was ir diu sunne: / si vlôch der werlde wunne (117, 3–117, 4: „Ein Nebel war ihr die Sonne, sie floh die Freuden dieser Welt“). Die räumliche Distanzierung vom Hof liest sich somit als Konsequenz einer ohnehin durch die Trauer ausgelösten Isolation von der höfischen Gesellschaft, deren höchstes Gut der hôhe muot und die vreude ist: sich zôch diu frouwe jâmers balt / ûz ir lande in einen walt, / zer waste in Soltâne (117, 7–117, 9: „Die edle Frau zog sich voller Trauer aus ihrem Land in einen Wald, in die öde Wildnis von Soltâne zurück“).43 Zudem fürchtet Herzeloyde, nach Gahmuret auch Parzival im ritterlichen Kampf zu verlieren: man barg in vor ritterschaft (112, 19: „man verbarg ihn vor der ritterlichen Welt“). Mit der Flucht in den Wald verwehrt sie ihrem Sohn ein seinem Stand gemäßes Aufwachsen am Hof, eine höfisch-ritterliche Erziehung, was der Erzähler explizit als Betrug kommentiert: der knappe alsus verborgen wart / zer waste in Soltâne erzogn, / an küneclîcher fuore betrogn (117, 30–118, 2: „So wurde der Knabe, verborgen im wilden Wald von Soltâne, erzogen, um königliche Lebensweise betrogen“). Parzival wird jedoch nicht nur räumlich, sondern auch genealogisch isoliert, indem seine Mutter ihm seinen Namen vorenthält: Er soll sein ritterliches Erbe als Sohn Gahmurets nicht antreten und ihr bon fîz, scher fîz, bêâ fîz (113, 4: „Bon fils, cher fils, beau fils“) bleiben.

42 In Chrétiens Le Conte du Graal setzt der Text direkt mit dem Waldleben, also Percevals Jugend im sekundären Herkunftsraum, ein. Die Versetzung wird ausschließlich im Bericht der Mutter thematisch: Chevaliers estre deüssiez, / Biaus filz […] (V. 412–413: „Ihr hättet ein Ritter sein müssen, lieber Sohn“). 43 waste entspricht im Perceval Chrétiens gaste (V. 75) und kann mit „wilder Wald“ übersetzt werden. Das mittelhochdeutsche Substantiv waste ist möglicherweise eine Neuschöpfung Wolframs und meint wohl „Einöde“ bzw. „unkultiviertes Land“. Der Ortsname Soltâne leitet sich aus dem evtl. missverstandenen altfranzösischen Adjektiv soutainne/soltaine her, was soviel wie „einsam“ bedeutet; vgl. Nellmann 2006, 518–519.

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2.3 Sekundärer Herkunftsraum Soltâne bezeichnet eine menschenferne Gegend in Wâleis und wird vom Text nicht näher lokalisiert; dieser Ort erscheint vielmehr wie ein blinder Fleck der genealogischen Geographie. Die Einöde hat, wie der Erzähler betont, nichts gemein mit einer lieblichen Lichtung: Herzeloyde zieht sich dorthin zurück niht durch bluomen ûf der plâne (117, 10: „nicht wegen der Blumen auf der Wiese“), sondern durch flühtesal (117, 14: „in Sicherheit“). In seiner Darstellung Soltânes grenzt sich Wolfram damit explizit gegen Chrétien ab, der den Landsitz der Mutter als locus amoenus skizziert.44 Das Leben im Wald ist mühsam – die Einöde muss urbar gemacht, der Wildnis Lebensraum durch harte Arbeit abgerungen werden.45 Der Raum selbst ist dabei zunächst kaum konkret ausgestaltet: Im Zentrum der Darstellung steht die mühsame Kultivierung der unkultivierten Einöde, deren zentrales Merkmal ihre Isolation und damit die Distanz zur ritterlichen Sphäre ist. Dem mühsamen Leben der Erwachsenen steht das unbeschwerte Aufwachsen Parzivals gegenüber, der im morgendlichen Bad im Fluss fast mit der Natur zu verschmelzen scheint.46 In der Perspektivierung Parzivals ist der Wald nicht entsprechend der topischen Tradition als Raum der Alteritätserfahrung dargestellt, sondern als natürlicher Lebensraum. Im Gespräch mit Sigûne wird er Soltâne als dâ heime (140, 8) bezeichnen. Der primäre Herkunftsraum scheint damit durch den sekundären Herkunftsraum überschrieben zu sein, wie es Herzeloydes Ziel war. Doch auch oder gerade fernab der ritterlichen Welt, schlägt Parzivals art, sein ererbter Drang nach ritterlicher Existenz durch, wenn er mit selbstgefertigten Waffen im Wald auf die Jagd geht. Er bringt allerhand Wild zur Strecke und so vergeht Jahr um Jahr – die geraffte erzählte Zeit wird vom Erzähler durch den Wechsel der Jahreszeiten markiert.47 Parzivals Jagdaktivitäten lassen sich hier als

44 Ce fu au tans qu’abre florissent, / Fuellent boschage, pré verdissent / Et cil oisel en lor latin / Doucemant chantent au matin / Et tote riens de joie anflame […] (V. 69–73: „Es war zur Zeit, da die Bäume blühen, die Wälder sich belauben, die Wiesen grünen, und die Vögel am Morgen lieblich in ihrer Sprache singen, und jedes Wesen vor Freude aufflammt“). Diese Abweichung ist deshalb bemerkenswert, weil Percevals Aufwachsen im Wald bei Chrétien nicht durch eine freie Entscheidung der Mutter, sondern durch den sozialen Abstieg des Vaters begründet ist. Wolfram gestaltet die Passage ,umgekehrt‘: Die freie Entscheidung der Mutter führt den sozialen Abstieg Parzivals mit der genealogischen Isolation erst herbei. 45 Immer wieder verweist der Text auf die mühsame Feldarbeit, die Kultivierung der unkultivierten Einöde: liute, die bî ir dâ sint, / müezen bûwn und riuten (117, 16–117, 17) oder si begunden saen, dar nâch egen, / ir gart ob starken ohsen wegen (124, 29–124, 30). 46 Vgl. 118, 11–118, 14. 47 Vgl. 120, 5.

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ein Substitut der ihm zukommenden ritterlichen Ausbildung lesen. Der sekundäre Herkunftsraum ist vor dem Hintergrund seiner genealogischen Bestimmung also in erster Linie ein Raum der Defizienz.48 Als Parzival eines Tages an einem Hang pirscht, hört er Hufschlag. Der Hufschlag kündigt vier Ritter an, die Soltâne auf der Suche nach einer entführten Dame durchreiten. Mit den Rittern bricht die gemiedene Ritterwelt in den sekundären Herkunftsraum ein und konstituiert eine neue Raumordnung, in deren Zentrum der Artushof steht – eine Ordnung also, die den überschriebenen primären Herkunftsraum reinstalliert. Zudem erkennen die Ritter Parzival als Teil dieser Ordnung, wenn sie sagen: ir mugt wol sîn von ritters art (123, 11: „Ihr könnt gewiss ritterlicher Herkunft sein“). Parzival kennt von nun an nur noch ein Ziel; auch die Klagen seiner Mutter können ihn nicht aufhalten.49 Bevor er am nächsten Morgen zum Artushof aufbricht, gibt Herzeloyde ihm die berühmten Ratschläge: Er solle dunkle Furten meiden, jeden grüßen, Belehrungen eines weisen Mannes annehmen und Frauen küssen. Anschließend klärt sie ihn über sein Erbe auf: Er sei Herrscher über Wâleis und Norgâls, die jedoch beide von Lähelin erobert wurden. Herzeloydes Offenbarung bezieht sich jedoch nur auf die konkreten Erbländer, sie deckt weder Parzivals Namen noch seine genealogische Herkunft auf.50 Parzivals Kompass des Geblütsadels aber hat längst in Richtung Artushof ausgeschlagen: Er scheint schon kaum noch zuzuhören, schwört Rache an Lähelin und macht sich auf den Weg, ohne zu bemerken, dass seine Mutter sterbend zu Boden sinkt. Soltâne ist, so lässt sich zusammenfassen, als sekundärer Herkunftsraum durch räumliche Konkreta wie Bäume, Hänge, Lichtungen, Fluss und Bach skizziert; von Behausungen erfahren wir nichts aus dem Text. Mit der Fokussierung der Defizienz in der mühsamen Feldarbeit, der inadäquaten Kleidung und den primitiven Waffen Parzivals wird Soltâne dem primären Herkunftsraum gegenüber nicht nur synchron, sondern auch diachron als unhöfisch semantisiert im Sinne einer Primitivstufe des Kulturationsprozesses, der mit dem Aufwachsen

48 Ausgeklammert habe ich hier die Vogelepisode, die mit der Mitleidsthematik die zentrale Problematik des Textes präfiguriert. In diesem Kontext erscheint Soltâne nicht als Bereich der Defizienz, sondern als Bereich von Parzivals erwachender Sensitivität. 49 Ein letztes Mal versucht Herzeloyde, Parzivals Wiedereintritt in den primären Herkunftsraum zu verhindern, indem sie seinen art durch Torenkleider verdeckt (126, 25–126, 29). 50 Insbesondere der genealogische Bezug zur Gralssippe bleibt hier im Dunkeln. Die Ausführungen Herzeloydes weisen Parzival zunächst nur einen Platz in der ritterlichen Artuswelt qua ererbtem Besitz zu.

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und letztendlich mit dem Aufbruch Parzivals in den primären Herkunftsraum verschaltet und erst mit der Ausbildung bei Gurnemanz abgeschlossen sein wird.51 Mit dem Aufbruch und der daraus resultierenden Isolation des Helden tritt der konkrete Raum stärker hervor: Der Erzähler berichtet, wie Parzival in einem Wald auf einen beschatteten Bach trifft. Eingedenk des Ratschlags seiner Mutter, dunkle Furten zu meiden, scheut er den Übergang und reitet den ganzen Tag entlang des Bachs.52 Er verbringt eine letzte Nacht im Wald und findet am darauffolgenden Morgen eine klare Furt, die ihn ans andere Ufer führt. Mit dem Bach überschreitet Parzival die topologische Grenze zwischen sekundärem und primärem Herkunftsraum: Er tritt, ohne es zu wissen, in das umfassende Bezugsnetz genealogischer Beziehungen und die arthurische Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten ein.53 Seine Handlungen haben von nun an Konsequenzen und seine umfassende Unwissenheit und mangelnde höfische Bildung, die aus der Versetzung in den sekundären Herkunftsraum resultieren, zeigen sich hier als ungeschickte tumpheit. Diese tumpheit, nach außen repräsentiert durch die Torenkleidung, ist das Erbe und die Prägung, die Parzival aus dem sekundären Raum der Herkunft mitbringt; sie steht im scharfen Gegensatz zu seinem art, determiniert durch den primären Raum der Herkunft, welcher sich in Parzivals Drang nach ritterlicher Existenz, vor allem aber in seiner außerordentlichen Schönheit zeigt. Diese doppelte Prägung äußert sich fortan in Parzivals törichten Handlungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite in den bewundernden Reaktionen auf seine Erscheinung.

2.4 Übergang und Wiedereintritt in den primären Herkunftsraum Auf der Lichtung am anderen Ufer steht ein prunkvolles Zelt. Der Erzähler hebt seine Geräumigkeit und die kostbare Ausstattung hervor. Das Zelt ist ein zentrales Raumelement des gesamten Romans und konstituiert immer einen tempo-

51 Zum Zusammenhang von Raum und Kulturation vgl. Höfner 1982, 311. 52 Diese Episode liest sich als erste Fehlleitung durch die wörtliche Übernahme der Lehren Herzeloydes – der Held scheut eine Gefahr, die keine ist. 53 Als weiteres Signal der Überschreitung lässt sich der Name des Waldes lesen: Parzival ist nun nicht länger in Soltâne, sondern er reitet auf den fôrest in Brizljân zu (129, 6). Dieser Name ist nicht der Vorlage von Chrétien entnommen; Wolfram hat ihn wahrscheinlich aus Hartmanns von Aue Iwein entlehnt. Nellmann bemerkt dazu: „Der Name soll wohl signalisieren, dass Parzival jetzt âventiure-Land betritt“ (Nellmann 2006, 525).

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rären Miniatur-Hof, an dem die höfischen Regeln gelten54: Parzival ist mit der Überquerung des Bachs in der höfischen Welt angekommen und begeht prompt seinen ersten Fehler, indem er die im Zelt schlafende Jeschute, eingedenk der Lehren seiner Mutter, küsst und sie damit in tiefes Leid stürzt. Der Erzähler nutzt die Gelegenheit, Parzivals keusche Dreistigkeit den Fähigkeiten des Minneritters Gahmuret kontrastiv gegenüberzustellen55 – die genealogische Linie, so zeigt sich in dieser Szene, ist nicht ungebrochen.56 Unbekümmert reitet er weiter und grüßt jeden, der seinen Weg kreuzt – die zunehmende Zivilisation kontrastiert deutlich mit der Waldeinsamkeit Soltânes: Anders als in Soltâne kann man in diesem Wald auf Leute treffen, meist sogar Verwandte. Und so begegnet Parzival an einem Hang seiner ihm unbekannten Cousine Sigune. Sofort erkennt sie Parzival als den Sohn ihrer Tante Herzeloyde und trägt nun nach, was seine Mutter ihm versagte: Sie offenbart ihm seinen Namen und identifiziert ihn als Sohn Gahmurets.57 Mit der Namensnennung und der Identifizierung des Vaters ist die genealogische Angliederung Parzivals eingeleitet; die entscheidende genealogische Vertiefung hinsichtlich Artussippe und Gralsfamilie aber fehlt nach wie vor – der gesamte Text bezieht seine Spannung aus eben jener sukzessiven Offenbarung der genealogischen Zusammenhänge und der sich daraus ergebenden Bestimmung Parzivals. Nach dem Abschied von Sigûne erreicht Parzival jene Straße, die ihn zum Fischer und schließlich an den Artushof nach Nantes58 führt. Die Dynamik beschleunigt sich dabei zunehmend, wird jedoch von zwei Erzählerkommentaren unterbrochen. Im ersten Kommentar stellt der Text die intertextuelle Referenz seiner Räumlichkeit aus, wenn Wolfram sich in seinem Erzählerkommentar an Hartmann von Aue wendet und darum bittet, man möge Parzival am Artushof gut

54 Explizit auch 27, 16–17, wo der Erzähler das haushohe Prunkzelt Isenharts mit einem palas, dem Hauptbau der mittelalterlichen Burg, vergleicht: daz als ein palas  / dort stêt, (daz ist ein hôch gezelt […] ). Zum Zelt in der höfischen Dichtung: Stock 2008. 55 Der Erzähler kommentiert das Geschehen: het er gelernt sîns vater site, / die werdeclîche im wonte mite, / diu bukel wære gehurtet baz, / da diu herzoginne al eine saz (139, 15–139, 18). 56 Vgl. Linden 2007, 95. 57 deiswâr du heizest Parzivâl. / der nam ist rehte enmitten durch. / […] / dîn vater was ein Anschevîn: / ein Wâleis von der muoter dîn / bistu geborn von Kanvoleiz. / die rehten wârheit ich des weiz. / du bis och künec ze Norgâls: / in der houbetstat ze Kingrivâls / sol dîn houbet krône tragen (140, 16–141, 1). 58 Nantes ist zwar realweltlich nachweisbar, aber die Lokalisierung des Artushofs in Nantes bleibt rätselhaft, da die bisherige Parzival-Handlung auf der britischen Insel lokalisiert wurde. Möglicherweise nahm Wolfram an, Nantes läge auf der britischen Insel; vgl. Nellmann 2006, 532.

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aufnehmen.59 Die Texte teilen sich die matière und damit den Artushof als Raum – das Personal der unterschiedlichen Autoren hat sich hier zu vertragen. Bevor Parzival den Artushof jedoch erreicht, unterbricht der Erzähler erneut den Spannungsbogen und verweist auf Parzivals armselige Ausstattung und seine mangelnde höfische Erziehung: in zôch nehein Curvenâl: / er kunde kurtôsîe niht, / als ungevarnem man geschiht (144, 20–144, 22: „Ihn hat kein Curvenâl erzogen: Er wusste nichts von höfischem Verhalten, so wie es jedem ergeht, der noch nicht herumgekommen ist“). Mit diesem minimalen intertextuellen Verweis steht Parzivals erster Auftritt am Artushof von Beginn an im Kontrast zu Tristans triumphalem Einzug am Markehof.60 Man könnte soweit gehen, zu sagen, dass der Kommentar sein Scheitern vorwegnehme, welches, so expliziert der Text, nicht in seinem art, sondern in seiner mangelnden höfischen Erziehung begründet liege. Der Artushof konstituiert sich im Folgenden weniger als konkreter Raum, sondern stellt sich nur über die höfische massenîe her, die vor allem akustisch durch schalle in Erscheinung tritt. Die Aufmerksamkeit des Hofes manifestiert sich hingegen räumlich: Parzival wird nach seiner Ankunft sofort bedrängt: schiere wart umb in gedranc (147, 15: „Man drängte sich sofort um ihn“). Das Gedränge steigert sich schließlich fast bis zur Rauferei: der knappe unbetwungen 61 / wart harte vil gedrungen, / gehurtet her unde dar (148, 19–148, 21: „Der unbekümmerte Knabe wurde äußerst dicht bedrängt, hin und her geschubst“).62 Auslöser dieser Aufmerksamkeit ist weniger Parzivals unbeholfener Gruß als vielmehr sein Anblick: Seine Schönheit bewirkt das Gedränge, das ihn wiederum vor den König Artus eskortiert. Auch Artus bemerkt Parzivals Schönheit – äußerliches Zeugnis seines art – und sichert ihm zu, ihn am darauffolgenden Tag ritterlich auszurüsten. Aber Parzival will sich nicht gedulden, er fordert die Rüstung Ithers, den er vor Nantes traf, und untermauert seinen Anspruch genealogisch. Erstmals artikuliert Par-

59 mîn hêr Hartman von Ouwe, / frou Ginovêr iwer frouwe / und iwer hêrre der künc Artûs, / den kumt ein mîn gast ze hûs (143, 21–143, 24). 60 Der Verweis bezieht sich wahrscheinlich auf Eilharts Tristrant. Anhaltspunkt bietet die Schreibung des Namens von Tristans Erzieher: Curvenâl; vgl. Nellmann 2006, 534. 61 unbetwungen kann sowohl als „unbedrängt“ und „frei“ im räumlichen Sinne wie auch als unbekümmert im Sinne von „ohne kummer u. sorge“ übersetzt werden (vgl. Lexer 1992, Bd. 2, Sp. 1769). Da der Kontext gerade das Gedränge am Artushof in den Mittelpunkt dieser Szene stellt, erscheint mir „unbekümmert“ hier treffender. Allerdings ist keineswegs auszuschließen, dass Wolfram hier nicht mit der Polysemie von unbetwungen spielt, wenn er Parzival unbekümmerten Mutes und vollkommen frei, also ohne dass ihn jemand daran hindern würde, zu Artus gelangen lässt. 62 Pratelidis beobachtet im Gedränge „ein Charakteristikum des arturischen [sic] Hoflebens“ bei Wolfram. Es gehöre zur „Lebensatmosphäre des Artushofs“ und sei „Ausdruck höfischer Vitalität“ (Pratelidis 1994, 82).

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zival hier selbst seine königliche Abstammung, von der man ihm nur erzählte, die er aber bis dahin selbst nie gelebt hat: mac mir des harnasch werden niht, / ine ruoch wer küneges gâbe giht. / sô gît mir aber diu muoter mîn: / ich waen doch diust ein künegîn (149, 29–150, 2: „Wenn ich die Rüstung dessen nicht bekomme, so kümmert es mich nicht, wer mir eine Königsgabe verspricht. Dann gibt [sie] mir meine Mutter: Ich meine doch, die ist eine Königin“). Auch auf dem Kampfplatz vor Nantes untermauert Parzival seinen genealogischen Anspruch auf die Rüstung Ithers, die er mit der Ritterwerdung gleichsetzt.63 In Parzivals Vermutung, Ither sei vielleicht Lähelin, spielt der Text auf das ererbte Rachemotiv aus dem primären Herkunftsraum an.64 Indem Parzival Ither mit seinem gabylôt65 tötet, erringt er nicht nur einen höchst unritterlichen Sieg, der allen arthurischen Ritteridealen widerspricht und den Artushof in eine tiefe Krise stürzt,66 er macht sich darüber hinaus unbewusst des Verwandtenmords schuldig.67 Die Verschuldung setzt sich im Rüstungsraub fort, der sich wie die Kontrafaktur einer Investitur liest: Unbeholfen legt Parzival die Rüstung des toten Ither an. Im Glauben, derart ausgestattet nun ein Ritter zu sein, reitet Parzival davon.68 Die Rüstung über dem Narrenkleid illustriert jedoch

63 ‚ich getar wol dienen swaz ich sol: / […] / ine wil niht langer sîn ein kneht, / ich sol schildes ambet hân‘ (154, 19–154, 23). 64 ,du maht wol wesen Lähelîn,  / von dem mir klaget diu muoter mîn‘ (154, 25–154, 26). Zum Rachemotiv im Parzival vgl. Wolfzettel 1974, 9: „Die Vaterrache ist bis auf das Restmotiv des Kampfes mit dem Roten Ritter getilgt […]. Bei Wolfram ist Orilus, dessen Frau Jeschute der junge Parzival in die Arme drückt, der Bruder des Roten Ritters, so daß der Liebesakt als Vergeltungsakt erscheint“. 65 Der gabylôt ist ein kurzer Wurfspieß, den Parzival sich selbst in Soltâne angefertigt hat, er ist als Jagdwaffe bezeugt, im ritterlichen Kampf jedoch nicht zulässig; vgl. Nellmann 2006, 520. 66 Die Frage nach einer Mitschuld der Artuswelt am Tod Ithers wurde in der Forschung breit diskutiert. Pratelidis stellt dazu fest, dass es Wolfram nicht um Schuldzuweisung geht, vielmehr beobachtet Pratelidis in der Ither-Episode eine „Fallstudie eines ritterlichen Konflikts“, dem immer eine gefährliche, unkontrollierbare Eigendynamik eignet (Pratelidis 1994, 207). 67 Die Problematik des gegenseitigen Nichterkennens von Verwandten in der ritterlichen Auseinandersetzung nimmt eine zentrale Stellung bei Wolfram ein und wird in mehreren Szenen durchgespielt. Dahinter steht nicht nur die jeweils konkrete Sippe, sondern Wolframs Grundgedanke einer Menschheitsverwandtschaft. Sowohl die Tötung Ithers als auch der drohende Kampf mit Gawan und Feirefiz stehen damit in einem typologischen Verhältnis zur Ermordung Abels durch Kain (vgl. dazu Bumke 2004, 175–176). 68 Klaus Ridder betrachtet die Ither-Episode als Schlüsselszene in Bezug auf die Problematik kultureller Integration bei Wolfram. Parzival verdingliche die ihm fremde Kultur und hoffe, durch die Inbesitznahme bestimmter Objekte, wie der Rüstung Ithers, Teil der Gemeinschaft zu werden – dabei sei der materielle Wert nicht entscheidend, sondern es gehe um die Teilhabe an einer kulturellen Identität (vgl. Ridder 2007, 273–274, 276).

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die liminale Phase Parzivals, in der die Prägungen beider Herkunftsräume gleichermaßen wirksam sind. Als Parzival noch am selben Abend die Burg Gurnemanz’ erreicht, scheint es ihm, als würden ihre Türme wie Pflanzen aus dem Boden sprießen. Er hält sie für die Saat des Artus – zugleich weckt der pflanzenähnliche Anblick seine Erinnerung an Soltâne: mîner muoter volc niht pûwen kan. / jane wehset niht sô lanc ir sât, / swaz sir in dem walde hât (162, 2–162, 4: „Das Gefolge meiner Mutter kann nicht anbauen. Wahrlich, ihre Saat wächst nicht so lang, was auch immer sie bei sich in dem Wald hat“). Noch einmal ist die Überlagerung der verschiedenen Herkunftsräume Parzivals dargestellt – diesmal in der Wahrnehmung des Protagonisten. Diese Überlagerung wird jedoch im Folgenden durch den Erzähler aufgelöst und eindeutig als höfischer Raum markiert: Fehlte es der Darstellung des Artushofs an konkreten Baulichkeiten, so faltet der Erzähler hier nun detailliert die Architektur der Burg Grâharz aus. In wenigen Versen liegen damit ganz verschiedene Formen der Raumdarstellung beieinander: Die personale Perspektive Parzivals auf die sprießenden Türme, der ‚panoramische‘ Blick des auktorialen Erzählers sowie die erzählte Bewegung, die Parzival schließlich bis zum Burgherrn Gurnemanz unter der Linde führt.69 Zur Ankündigung des Gastes lässt Gurnemanz einen Sperber mit einem Glöckchen hinauf zur Burg fliegen. Die sprießenden Türme, der Flug des Sperbers, das Geleit hinauf zur Burg – der Text legt das Gewicht ganz auf die Vertikale und unterstreicht damit die kultivierte Erhabenheit der Burg. Im Inneren der Burg angelangt, beginnt nun ein umfassender Wandlungsprozess, im Zuge dessen Parzival seine sekundäre Prägung ablegt – zunächst im wörtlichen Sinne: Man nimmt ihm die Rüstung ab und entdeckt mit Erschrecken die Torenkleider darunter. Zugleich erkennt man seine Schönheit, die von höchster Abkunft zeugt. Die detaillierte Schilderung des aufwändigen Bades in Rosenblüten liest sich als Kontrast zum schlichten Bad im Fluss Soltânes. Ebenso ausführlich widmet sich der Erzähler der neuen Kleidung Parzivals, die – anders als die Narrenkleider – nun nicht mehr im Kontrast zu seiner primären Herkunft stehen, sondern ihn äußerlich als höfischen Ritter ausweisen. Mit dem schrittweisen Abbau der Prägungen des sekundären Herkunftsraums rückt die primäre Prägung durch den art wieder ins Zentrum: ir tragt geschickede unde schîn, / ir mugt wol volkes hêrre sîn. / ist hôch und hoeht sich iwer art, / lât iweren willen des bewart […] (170, 21–170, 24: „Ihr seid von edler Gestalt und euch umgibt ein Glanz, Ihr könnt gewiss ein großer Herrscher sein.70 Wenn Eure Her-

69 Vgl. 161, 23–162, 14. 70 An dieser Stelle ist der schîn, der Glanz Parzivals, im Sinne des splendor imperii äußerliches Zeichen seiner adeligen Abstammung und Herrschaftsfähigkeit bzw. seiner ererbten Bestimmung

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kunft hoch ist und euer Adel noch höher werden soll, so haltet euch an Folgendes […]“). Parzivals art ist der Ausgangspunkt für die Ausbildung bei Gurnemanz: Eben weil er hoher Abkunft ist, bedarf er der Lektionen zu Religion, ritterlichen Tugenden und dem Umgang mit Frauen sowie praktischer Übungen zum ritterlichen Kampf. Als Gurnemanz schließlich erfährt, was vor Nantes geschah, beklagt er Ither und weist Parzival nun dessen ritterliche Identität zu: Von nun an ist Parzival der Rote Ritter (170, 6). Auf Grâharz vollzieht sich damit strukturell, was in anderen Texten mit der Schwertleite des jungen Ritters vollendet wird.71 Die Identifizierung als Roter Ritter markiert einerseits die Reintegration Parzivals in die ritterliche Artuswelt seines Vaters, andererseits verweist sie zurück auf die massive Schuld, die mit dem Wiedereintritt in den primären Herkunftsraum verbunden ist und die ihm fortan mit der Rüstung Ithers auch körperlich anhaftet. Die Reintegration bleibt damit zunächst ambivalent, denn sie betrifft vorerst nur die Artussippe und ist zudem schuldbeladen. Parzival bricht, innerlich und äußerlich nun ein Ritter âne tumpheit und in Gahmuretes art, ins ritterliche Abenteuer auf.72 Die erneute Schwellensituation wird einmal mehr markiert durch einen wildtosenden Fluss – am anderen Ufer wartet seine zukünftige Frau Condwiramurs in der belagerten Stadt Pelrapeire auf ihn. Den Abschluss der Phase ritterlicher Bewährung bildet die Aufnahme Parzivals in die Tafelrunde, gleichzeitig kommt es mit dem Versagen auf der Gralsburg zu einer erneuten Verschuldung, welche, wie die Tötung Ithers, zurückzuführen ist auf Parzivals mangelndes Regelwissen und genealogisches Bewusstsein, das sich aus dem Spannungsverhältnis von primärem und sekundärem Herkunftsraum ergibt. Die Verschuldung Parzivals führt sowohl im Artus- wie auch im Gralsbereich zu einer erneuten Desintegration und einer damit einhergehenden

und Auserwähltheit zur Gralsherrschaft (vgl. Gerok-Reiter 2001, Anm. 50). Claudia Brinker-von der Heyde bemerkt zu 170, 21–22: „Bei Parzival schwächt die fehlende höfische Sozialisation den liehten schîn der eigentlichen Herkunft zunächst ab, ein (An-)Schein von Herrschaftsfähigkeit bleibt aber erhalten“ (Brinker-von der Heyde 2008, 101). 71 Tatsächlich erhält Perceval bei Chrétien von Gornemanz die Schwertleite (V. 1624–1638). Bei Wolfram vollzieht sich die Ritterwerdung gestaffelt mit dem Anlegen der Rüstung Ithers nach dem Kampf und der nachfolgenden Ausbildung bei Gurnemanz bis zur Aufnahme in die Tafelrunde durch König Artus. 72 Dannen schiet sus Parzivâl. / ritters site und ritters mâl / sîn lîp mit zühten fuorte, / […] / sît er tumpheit âne wart, / done wolt in Gahmuretes art / denkens niht erlâzen nâch der schoenen Lîâzen (179, 13–179, 26). Die Begegnung mit Liaze markiert das Ende der Jugend Parzivals.

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umfassenden räumlichen Desorientierung,73 welche erst mit seiner genealogischen Einordnung in die Gralssippe und der Offenbarung seiner ererbten Bestimmung zum Gralskönig aufgehoben werden. Erst die genealogische Verortung in Artus- und Gralssippe ermöglicht Parzival die zielgerichtete Bewegung im konkreten Raum, denn sie liefert die notwendigen Koordinaten, die den primären Herkunftsraum bei Wolfram bestimmen.

3 Räume der Herkunft in Gottfrieds von Straßburg Tristan 3.1 Primärer Herkunftsraum Tristans konkreten primären Herkunftsraum zu bestimmen, erfordert ebenfalls einen Blick auf die Vorgeschichte, in der der Hof König Markes in Cornwall als geographischer Fixpunkt der Handlung installiert wird: Der junge Riwalin, Herrscher Parmeniens, reist nach Cornwall an den Hof Tintajêl.74 Dort verlieben sich Riwalin und Blanscheflur ineinander, leben diese Liebe aber verborgen. Als Blanscheflur schwanger ist, beschließen sie, wiederum heimlich in Riwalins Herkunftsland Parmenien zu fliehen. Dort wird die heimliche Liebe und das ungeborene Kind mit einer öffentlichen Hochzeit legitimiert, bevor Riwalin sich im Kampf eine tödliche Wunde zuzieht und stirbt. Blanscheflur verstirbt aus Trauer, im Sterben gebiert sie den gemeinsamen Sohn Tristan, der im weiteren Verlauf der Handlung an den Markehof ,zurückkehren‘ wird, welcher ihm vom Erzähler in der Folge mehrmals als ze hûse (V. 3379), also Heimat, zugeschrieben wird. Der Hof König Markes in Cornwall bildet mithin das räumliche Zentrum, auf das sich alle anderen räumlichen Elemente hin ordnen, die untereinander jedoch nicht in einer festen, relationalen Struktur miteinander verbunden sind und

73 Parzival steht damit in scharfem Kontrast zu Gawan, der sich zielgerichtet bewegt und seine Ziele immer erreicht. Parzival hingegen irrt umher und gelangt immer wieder dorthin, wo er vorher schon war. Dazu Bumke: „In dieser räumlichen Bewegung spiegelt sich die innere Bewegung des Helden, der auf dem Weg zurück zu seiner Mutter, zu seinem mütterlichen Erbe, zu sich selbst ist“ (Bumke 2004, 202). 74 Tintajêl ist zurückzuführen auf den Ort Tintagel, der an der Westküste Cornwalls liegt. Tintagel gilt auch als Geburtsort König Artus’ (vgl. den Stellenkommentar von Rüdiger Krohn 2005, 44).

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somit jeweils für sich nur eine punktuelle Verortung zulassen.75 Auf der Ebene der Rauminformationen erschließt der Text somit keine kontinuierliche geographische Folie; die räumlichen Gegebenheiten des Makroraums lassen sich vielmehr unter dem Raumtyp des Fixpunktraums76 fassen. Während Parmenien im Zuge verschiedener Seefahrten nur relational im Hinblick auf Cornwall verortet wird und sich zudem mit keiner bestimmten realweltlichen Landschaft identifizieren lässt, wird der Herrschaftssitz Markes in Cornwall in ein umfassendes geographisches Bezugsnetz eingebettet. Analog zu dieser zentralen Position im geographischen Makroraum ist der Markehof zugleich das genealogische Zentrum des Textes: Hier leben Tristans Mutter Blanscheflur und sein Onkel Marke, hier finden Tristans Eltern zueinander, hier wird der Protagonist gezeugt und hierhin wird er nach dem Tod seiner Eltern ,zurückkehren‘. Jedoch kann man in diesem Fall tatsächlich von einer Rückkehr im Sinne einer Kreisstruktur sprechen? Der eigentliche Geburtsort Tristans ist Riwalins Schloss Canoêl in Parmenien.77 Tristans Zeugung in Cornwall und seine Geburt in Parmenien initiieren damit eine Aufspaltung des primären Herkunftsraums.78

75 Der geographische Makroraum des Tristanromans Gottfrieds spannt sich im nordwestlichen Europa auf. Er setzt sich sowohl aus realgeographisch referentialisierbaren Räumen, wie Cornwall und Irland, als auch phantastisch-fiktiven Räumen, wie Parmenien und Arundel, zusammen, die unterschiedlich präzise verortet werden können. Gleichzeitig implizieren die geographischen Angaben eine zeitliche Situierung der Handlung: Dabei transportieren die Ortsangaben nicht nur die Verhältnisse der Zeitschicht um 1200, sondern auch die im Stoff enthaltenen historischen und mythischen Reste. Tristanroman wie auch Artusstoff spielen in der Zeit der sächsischen Landnahme im 4. Jh. Mit der Darstellung Nordwesteuropas konserviert der Text die Zeit des Untergangs des weströmischen Reichs und die Endphase der Völkerwanderung (vgl. Störmer-Caysa 2007, 45–46). Diese unterschiedlichen Schichten der Historizität prägen die heterogene geographische Raumdarstellung und lassen diese punktuell und damit diskontinuierlich erscheinen. 76 Der Fixpunktraum definiert sich über das Vorhandensein von Fixpunkten, auf die hin die anderen räumlichen Elemente angeordnet und mit denen sie verbunden werden. Die Elemente werden aber nicht untereinander verbunden. Zur Unterscheidung der vier Raumtypen Inselraum, Fixpunktraum, elastischer Wegeraum und nicht-elastischer Wegeraum vgl. oben Anm. 28. 77 Parmenîe ist wahrscheinlich eine Verschreibung für Armenia oder Ermenia, welche in der Saga und im Sir Tristrem als Heimatland Riwalins benannt werden. Gemeint ist die Bretagne oder ein Nachbarland (vgl. Krohn 2005, 37). Die Bezeichnung des Schlosses Canoêl findet sich nur bei Gottfried und geht wahrscheinlich auf die bretonische Ortschaft Canuel zurück; vgl. Krohn 2005, 58–59. 78 Diese Aufspaltung manifestiert sich im Text bereits in der Vorgeschichte anhand widersprüchlicher Zuweisungen von heim und ze landen bezogen auf Parmenien und Cornwall (V. 1141, 1423, 1536, 1585, 2132).

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Wenn der primäre Herkunftsraum sich nach genealogischer Herkunft und räumlicher Anbindung des Helden bestimmt, erscheint Parmenien in dieser Funktion von Beginn an als defizitär: Analog zur geographischen Verortung Parmeniens, bleibt auch die soziale und genealogische Verortung Riwalins im Text eigenartig unterbestimmt: Tristans Vater ist weder König noch Fürst. Der Erzähler überspielt diese Tatsache zwar, indem er ihn als Königen und Fürsten ebenbürtig beschreibt, doch sein Status als Herrscher Parmeniens bleibt fragwürdig.79 Er wird auch nicht in eine weiterreichende Genealogie eingebettet, wie etwa Gahmuret, und hat seinen Landbesitz nicht geerbt, sondern seinem Lehnsherrn kriegerisch abgestritten. Zudem spielt der Text im Kampf gegen Morgan das Bastard-Motiv an, wenn dieser Tristans legitime Abstammung von Riwalin anzweifelt.80 Der primäre Herkunftsraum, so lässt sich zusammenfassen, konstituiert sich mit Parmenien auf der einen und Cornwall auf der anderen Seite als ein Bezugssystem zweier Höfe (Tintajêl und Canoêl), welches sich, wie im Parzival, als verräumlichte Genealogie beschreiben lässt. Der konkrete Raum kommt dabei selten zur Darstellung; er wird meist durch erzählte Handlungen bzw. höfische Zeremonielle erzeugt und muss durch Inferenzen vom Rezipienten erschlossen werden. Was im folgenden Handlungsverlauf wie eine sukzessive Verschiebung des genealogischen Zentrums von Parmenien nach Cornwall erscheint, ist tatsächlich eine konsequente Parallelführung: Von Beginn an installiert der Text beide Räume als konkreten Herkunftsraum Tristans. Diese Spaltung des primären Herkunftsraums zieht weitere Spaltungsprozesse nach sich: Beiden Räumen korrespondiert jeweils eine Vaterfigur (Riwalin bzw. Rual auf der einen Seite und Marke auf der anderen) und mit beiden Räumen verbindet sich eine ererbte Verpflichtung, der Tristan in zwei Kämpfen (gegen Morgan und Morold) nachkommen muss. Schließlich fordern beide Räume die Präsenz Tristans als Herrscher bzw. im Falle Markes als dessen Nachfolger, was zur Spaltung Tristans selbst führt.81 Diese Spaltungsprozesse und Doppelungen aber sind von vorneherein räumlich

79 Ein hêrre in Parmenîe was, / der jâre ein kint, als ich ez las: / der was, als uns diu wârheit / an sîner âventiure seit, / wol an gebürte künege genôz, / an lande vürsten ebengrôz (V. 245–250). Dieselbe Strategie des Erzählers kann man in Bezug auf die Zieheltern Tristans Rual und Floraete beobachten (V. 1795–1817). 80 Zum Bastardmotiv im Tristan Wolfzettel 1974, 11. 81 Der Erzähler bewertet diese Teilung eindeutig negativ: sich selben teilete er inzwei / gelîche und ebene alse ein ei / […] / swer nû die teile nie vernam, / die man an ganzem lîbe hât, / dem sage ich, wie diu teile ergât: / dâ’n hât nieman zwîvel an, / zwô sache enmachen einen man, / ich meine lîp, ich meine guot. / […] / sô muoz ie guot unde lîp / mit gemeinlîchen sachen / einen ganzen namen machen; / und werdent s’aber gescheiden, / sô’n ist niht an in beiden (V. 5687–5712).

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in der ersten Aufspaltung des primären Herkunftsraums angelegt, welche sich einer eindeutigen Zuordnung Tristans im Sinne der Herkunft entgegenstellt. Trägt der primäre Herkunftsraum mit der Paarkonstellation von Mutter und Vater potentiell immer schon eine Spaltung in sich, so wird diese im Tristan im Zuge der Geburt des Protagonisten ,auf dem Meer‘ explizit ausgestellt und über die Vervielfältigung der Vaterfigur wesentlich verstärkt.

3.2 Versetzung Anders als im Parzival lässt sich im Tristan nun eine gestaffelte Versetzung beobachten, im Zuge derer Tristan seine ohnehin von Beginn an prekäre Anbindung an den primären Herkunftsraum schrittweise verliert: Mit dem Tod der Eltern kommt es zu einer ersten Versetzung des Helden: Rual, der treue Marschall Riwalins, beschließt, das Waisenkind Tristan zu verbergen, öffentlich seinen Tod zu verkünden und es nach fingierter Schwangerschaft seiner Frau Floraete als seinen eigenen Sohn auszugeben. Die Namensgebung unterbindet absichtlich den Bezug zu Riwalin.82 Tristan ist zwar nach wie vor in seinem primären Herkunftsraum, ohne aber den ihm gemäß seines art zukommenden sozialen Ort einzunehmen und ohne sich dessen bewusst zu sein; er ist – ebenso wie Parzival in Soltâne – genealogisch entfremdet. Anders als Herzeloyde lässt Rual Tristan eine außerordentliche Ausbildung zukommen, die ihn zwar zeitweise ins Ausland führt, abschließend aber in Parmenien endet, um ihn hier auf seine herrscherlichen Pflichten vorzubereiten. Eine zweite Versetzung führt nun zum radikalen Bruch mit dem primären Raum der Herkunft und ist im Text markiert durch die Entführung Tristans: Als Tristan vierzehn Jahre alt ist, wird er aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten und umfassenden Bildung von norwegischen Kaufleuten entführt. Ein Seesturm zwingt sie jedoch, Tristan an der Küste Cornwalls auszusetzen.83 Der

82 Der Erzähler kommentiert die Namensgebung detailliert. Dabei wird deutlich, dass der Name nicht auf den art im Sinne der genealogischen Herkunft, sondern auf Tristans Geschichte, sein maere bzw. sein lebene verweist: von triste Tristan was sîn nam. / der name was ime gevallesam / und alle wîs gebære; / daz kiesen an dem mære: / […] / diz mære, der daz ie gelas, / der erkennet sich wol, daz der nam / dem lebene was gehellesam: / er was rehte alse er hiez ein man / und hiez rehte alse er was: Tristan (V. 2003–2022). 83 In seiner Darstellung des Seesturms verbindet Gottfried mehrere Motive: den Seesturm selbst, die Irrfahrt auf dem Meer und die Ruhe nach dem Sturm bzw. das Verschlagenwerden an eine unbekannte Küste. Mit den wilden winden, dem sturmwetere, dem wilden sê und den tobenden ünden greift Gottfried auf topische Versatzstücke zur Darstellung eines Seesturms zurück.

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Seesturm, vom Text explizit als göttliche Fügung bezeichnet, steht dabei ganz im Dienst der finalen Motivierung des Geschehens, das Tristan nach Cornwall an den Markehof und damit zurück in den primären Herkunftsraum genealogischer Anbindung führen soll, die er in Parmenien mit dem Tod seiner Eltern verloren hat.84

3.3 Sekundärer Herkunftsraum An der rauhen Küste Cornwalls ist Tristan jedoch zunächst vollkommen auf sich gestellt und wird vom Text nun erstmals als der ellende (V. 2483, 2487) bezeichnet – der Fremde und Heimatlose.85 Im Anruf Gottes ist die Umgebung Tristans als erzählte Raumwahrnehmung dargestellt. Dem Rezipienten präsentiert sich die weglose Einöde dabei als Wahrnehmungsbereich der Figur: nu warte ich allenthalben mîn und sihe niht lebendes umbe mich. dise grôze wilde die vürhte ich: swar ich mîn ougen wende, dâ ist mir der werlde ein ende; swâ ich mich hin gekêre, dâ’n sihe ich ie nimêre niuwan ein toup gevilde und wüeste unde wilde, wilde velse und wilden sê. (V. 2500–2509) Ich schaue mich hier nach allen Seiten um und erblicke keine lebende Seele. Ich habe Angst vor dieser gewaltigen Wildnis: wohin ich schaue, scheint mir dies das Ende der Welt zu sein, wohin ich mich wende, da sehe ich nichts und wieder nichts

84 So bemerkt Ingrid Hahn: „Die eigentliche Bedeutung des Sturmtopos erschöpft sich nicht im Faktischen; vielmehr hat das Unwetter für den programmgemäßen Ablauf des Handlungsgeschehens zu sorgen“ (Hahn 1963, 18). Wieweit Gottfried die räumliche Kulisse in Bezug auf die Handlung funktionalisiert, wird im späteren Handlungsverlauf deutlich, wenn das Seesturmmotiv wieder aufgegriffen und von Tristan selbst produktiv gemacht wird. In der Darstellung seiner angeblichen Seenot vor der Küste Irlands nutzt Tristan dieselben topischen Motive wie der Erzähler, um die Irrfahrt auf dem Meer zu beschreiben (V. 7596–7606). Dazu Hammer 2010. 85 Vgl. Krohn 2005, 67: „ellende […] war der, der in einem anderen Lande, in der Fremde und außerhalb der angeborenen Rechtsgemeinschaft leben musste“.

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als ödes Land, als Wüste und Wildnis, als zerklüftete Felsen und das wilde Meer.

Mithilfe weniger Raumdetails wird die neue Umgebung markiert,86 wobei Gottfried gegenüber seinen Vorläufern den lebensfeindlichen und menschenfernen Aspekt verschärft, indem er die nähere Charakterisierung als unwegsame, felsige Einöde (wüeste unde wilde; V. 2508) ergänzt. Der Akzent liegt damit deutlich auf der Vereinsamung des Protagonisten: Im Zentrum steht die Loslösung aus allen sozialen Bindungen und so ist auch seine erste flehentliche Bitte, dass Gott ihm den Weg zu Menschen weisen möge. Auf der Suche nach Lebenszeichen bleibt der Wahrnehmungsbereich zunächst horizontal beschränkt. Die Dramatik der bedrohlichen Situation steigert sich mit der einsetzenden Dämmerung, die eine Orientierung zusätzlich erschwert. Tristan fürchtet sich vor wilden Tieren und wähnt sich verloren, sollte er in diesem Wald übernachten müssen.87 Schließlich öffnet sich sein Blick in eine vertikale Wahrnehmung: nu sihe ich, daz hie bî mir stât hôher velse und berge vil: ich waene, ich ûf ir einen wil climmen, ob ich iemer mac, und sehen, die wîle ich hân den tac, ob keiner slahte bû hie sî eintweder verre oder nâhen bî, dâ ich liute vinde (V. 2522–2529) Ich sehe hier unmittelbar vor mir überall hohe Felsen und Berge: ich denke, ich werde einen von ihnen hochklettern, wenn ich das vermag, und sehen, solange ich noch Tageslicht habe, ob es da nicht in der Nähe oder in der Ferne irgendein Gebäude gibt, wo ich Leute treffe.

86 In seiner Darstellung der schroffen Küste Cornwalls greift Gottfried analog zum Seesturm auf festgeprägte Formeln zur Bezeichnung menschenferner Wildnis zurück. 87 Rainer Gruenter sieht in dieser Darstellung der räumlichen Außenwelt den seelischen Zustand des Verlassenen gespiegelt (vgl. Gruenter 1962, 257–258). Raumdarstellung und Figureninneres durchdringen einander in der angstvollen Beschreibung des wahrgenommenen Raumes Tristans. Zur Angst im Tristan: Gerok-Reiter 2009.

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Diese vertikale Verschiebung der Blickachse markiert die augenblickliche Dynamisierung des Geschehens und konstituiert den Raum nun als Bewegungsbereich Tristans: Sus stuont er ûf und kêrte dan. roc unde mantel hæte er an von einem pfelle, der was rîch und an gewürhte wunderlîch: […] den mantel want er in ein und leite in ûf sîn ahselbein und streich ûf gein der wilde durch walt und durch gevilde. (V. 2533–2562) So erhob er sich und machte sich auf. Er trug einen Rock und einen Mantel aus prächtigem Brokat, wunderbar gewoben: […] den Mantel rollte er zusammen und legte ihn sich über die Schulter und stieg flink über Halden und durch Gehölz in die wilde Höhe empor.

Die Verschränkung der höfischen Kleidung und der regressiven Fortbewegung Tristans illustriert – ähnlich wie die Ritterrüstung über den Torenkleidern Parzivals – die Kollision der unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten von primärem und sekundärem Herkunftsraum. Hier deutet sich eine Negation von art an, ausgelöst durch die gewaltsame Versetzung vom primären in einen sekundären Herkunftsraum. In dieser Situation absoluter Isolation bestimmt der Held sich erstmals selbst. Die Nullpunktsituation Tristans manifestiert sich in der anfänglichen Weglosigkeit des sekundären Herkunftsraums, die Tristan jedoch produktiv wendet: er’n hæte weder wec noch pfat, / wan alse er selbe getrat (V. 2563–2564: „Es gab da weder Weg noch Pfad außer denen, die er selber trat“). Mittels seiner Bewegung produziert Tristan seinen Weg: mit sînen vüezen weget’er, mit sînen handen steget’er: er reit sîn arme und sîniu bein. über stoc und über stein wider berc er allez clam, unz er ûf eine hœhe kam. (V. 2565–2570) Indem er mit den Füßen einen Weg bahnte und mit den Händen Durchgänge freimachte, arbeitete er sich mit Armen und Beinen voran.

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So kletterte er über Stock und Stein beharrlich nach oben, bis er eine Anhöhe erreichte.

Der Text gestaltet die Bergbesteigung als eigenmächtige Raumerschließung bzw. Raumproduktion und zeigt damit erstmals Tristans außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit. Auf dem Berg angekommen, präsentiert sich dem Rezipienten kein ‚panoramischer‘ Blick; im Zentrum der Darstellung steht weiterhin die Beschaffenheit des Weges, welche die Zivilisation stufenweise ankündigt: Tristan entdeckt einen engen, überwucherten Pfad, der schon bald in eine breite, schöne Straße mündet, welche ihn über verschiedene Stationen zum Hof seines Onkels Marke führen wird.88 Die Küste Cornwalls wird als sekundärer Herkunftsraum, anders als der primäre Herkunftsraum, durch zahlreiche räumliche Konkreta wie toup gevilde, wüeste, wilde velse und wilder sê benannt, die ihn als topischen Gegensatz zum kultivierten, höfischen Raum charakterisierten. Auf der Darstellungsebene wird die Isolation des Helden akzentuiert, indem der Erzähler vollkommen zurücktritt. Der Raum spannt sich als menschenleerer, bedrohlicher Wahrnehmungsbereich einer vor Angst gelähmten Figur auf. Er erscheint in dieser internen Fokalisierung und der statischen Position der Wahrnehmungsinstanz zunächst in jeder Hinsicht bedrückend – der jugendliche Held ist von Wildnis umgeben. Erst die vertikale Verschiebung der Blickachse beendet die Schockstarre des Protagonisten:89 In der erzählten Bewegung eröffnet sich jetzt ein zunehmend strukturierter Sprossraum.90

88 Die Nähe der zivilisierten höfischen Welt signalisiert sich häufig durch eine viel benutzte, gut ausgebaute Straße als Gegenstück zum einsamen, engen, unausgebauten, oft ansteigenden Pfad, der den Weg in die zivilisationsferne Wildnis, den beschwerlichen, aber lohnenden Âventiure-Weg ankündigt. Dazu Harms 1970, 262: „Einmal wird die Enge des Weges, einmal die starke Benutzung zur Charakterisierung der Gegensätzlichkeit der zwei Wege herangezogen, was beides in den entsprechenden Matthäusversen und danach auch in der Y-Tradition vorgeprägt ist.“ Zur Funktion der verschiedenen Wegformen: Trachsler 1979, 74–82. 89 Vgl. V. 2522–2529. 90 Uta Störmer-Caysa vergleicht den Sprossraum mit einem Teppich, der sich unter der Aventiure ausbreitet und wieder mit ihr einrollt. Der Sprossraum ist als das Gegenteil einer objektiven Landschaft zu bestimmen; die Raumelemente sind nicht der Handlung vorgängig und stabil, sondern „schnellen […] bei Bedarf plötzlich aus dem Text“. Dabei sind es die „wichtigen Figuren, die diese Art der räumlichen Knospung anregen“ (vgl. Störmer-Caysa 2007, 70–75).

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Als sekundäre Prägung lässt sich Tristans Anpassungsfähigkeit fassen – sein list,91 der im folgenden Handlungsverlauf nicht nur sein modus operandi in unwägbaren bzw. gefährlichen Situationen ist, sondern die Tristanfigur im Kern charakterisiert und auf die Isoldehandlung vorausweist. Der sekundäre Herkunftsraum ist damit, anders als im Parzival, nicht als defizitär, sondern im Sinne der spezifischen Prägung Tristans als überaus produktiv semantisiert. Denn nur, wenn der primäre Herkunftsraum als normsetzendes Zentrum installiert wird, wie etwa Artushof und Gralsburg im Parzival, kann der sekundäre Herkunftsraum demgegenüber als defizitär erscheinen. Im Tristan hingegen tritt an die Stelle des normsetzenden Zentrums der Protagonist selbst. Die genealogische und konkret-räumliche De-Locierung beschneidet Tristan daher keineswegs in seiner Handlungsfähigkeit: Tristan ist nicht orientierungslos, er orientiert vielmehr den Raum auf sich. Hierin lässt sich eine charakteristische Strategie der Tristanfigur erkennen: Tristan bestimmt die Regeln. In der Nullpunktsituation der Versetzung in einen sekundären Herkunftsraum konstituiert sich Tristan nicht gemäß einem ererbten art, der sich gegen alle Widerstände durchsetzt (wie etwa Parzival), sondern entwickelt eine Eigenmächtigkeit, die sich gegen den art wenden kann und wird: Er verweigert im weiteren Handlungsverlauf nicht nur sein väterliches Erbe in Parmenien, sondern wendet sich im Zuge der Isoldenhandlung auch gegen seinen Onkel. Die Bergbesteigung wird daher nicht als Sieg des art über eine vorübergehende Verwilderung inszeniert, vielmehr offenbart sie den list Tristans als produktiv-pragmatische Strategie der Anpassung, welche sich in einer raffinierten ,Selbstproduktion‘ fortsetzt.

3.4 Übergang und Wiedereintritt in den primären Herkunftsraum Tristans Weg an den Hof seines Onkels Marke steht ganz im Zeichen dieses list bzw. der Selbstproduktion. Als Tristan auf zwei Pilger trifft, gibt er sich als ortsansässiger Jägersmann aus, der vom Wege abgekommen sei und deshalb den Anschluss an die Jagdgesellschaft verloren habe. Als ein Fremder in der Fremde inszeniert Tristan sich als Teil der fremden Ordnung: ,von disem lande ich bürtic bin‘ (V. 2696: „ich stamme aus diesem Land“). Tristan selbst schreibt sich damit

91 Im weiteren Textverlauf wird Tristan immer wieder als listec beschrieben. Das mittelhochdeutsche list ist in erster Linie als „weisheit, klugheit, schlauheit“ zu übersetzen, kann aber auch die betrügerische List in der neuhochdeutschen Bedeutung meinen (vgl. BMZ 1963, Bd. 1, 1010–1011; Lexer 1992, Bd. 1, Sp. 1936).

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den sekundären als primären Herkunftsraum zu – er entfremdet sich damit selbst aktiv von seinem art. Der Geschichte vom verirrten Jägersmann folgen nun weitere: Als Tristan mit den Pilgern tatsächlich auf eine Jagdgesellschaft König Markes trifft, gibt er vor, seine verlorene Jagdgesellschaft gefunden zu haben, und fügt sich durch seine Könnerschaft sofort nahtlos in diese ein. Man beginnt sich zu fragen, woher der junge gast (V. 2830) sei: ir iegelîch begunde entwerfen sîniu mære, von welhem lande er wære und wie er dâ hin wære komen. (V. 3084–3087) [Da] machte sich jeder seine Gedanken darüber, aus welchem Land der Junge stammen und wie er hierhergekommen sein könnte.

Gerade im entwerfen verschiedener Herkunftsgeschichten deutet sich einmal mehr die Produzierbarkeit von Herkunft an. Erneut nach seiner Herkunft befragt, erfindet Tristan abermals eine Geschichte: Er sei das Kind eines Kaufmannes aus Parmenien und absichtlich aus Neugier seinem Vater davongelaufen. Hier nennt Tristan nun zwar Parmenien als primären Herkunftsraum, verschleiert aber seinen genealogischen Bezug. Gerade dieser wird daraufhin von den Jägern angesichts seiner hervorragenden Erziehung hinterfragt und bezweifelt. Tristans fingierte Herkunftsgeschichten initiieren eine aktive Lösung vom primären Herkunftsraum, indem sie jede Identifizierung unterlaufen: Diese jeweils situative Herkunftsproduktion erstreckt sich über den gesamten weiteren Textverlauf und macht die Diskursivität von Herkunft immer wieder auf der Handlungsebene explizit.92 Die Ankunft der Jagdgesellschaft am Markehof markiert schließlich den endgültigen Wiedereintritt in den primären Herkunftsraum und ist als glanzvolle Prozession mit dem lindenbekränzten Tristan an der Spitze inszeniert.93 Als er auf Marke trifft, erkennt Tristan seinen Blutsverwandten,94 ohne ihn doch eigentlich zu kennen und der Erzähler konstatiert: Nu Tristan der ist ze hûse komen / unwizzende, alse ir habet vernomen,  / und wânde doch ellende sîn (V. 3379–3381: „So

92 Vgl. Tristans Herkunftsberichte im Zuge der ersten und zweiten Irlandfahrt (V. 7559–7606, 8796–8869). 93 Zur Inszenierung von Tristans Ankunft am Hof Markes: Gerok-Reiter und Hammer 2015. 94 nu Tristan den künic sehen began, / er begunde im wol gevallen / vor den andern allen; / sîn herze in sunder ûz erlas, / wan er von sînem bluote was: / diu natiure zôch in dar (V. 3240–3245).

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ist Tristan, wie Ihr gehört habt, ohne es zu wissen, heimgekommen und glaubte doch, in der Fremde zu sein“). Hier deutet sich eine Kreisstruktur an, die im Text jedoch letztlich unerfüllt bleibt: Tristan ist rehte komen hin heim (V. 3839) und bleibt doch der heinlîche gast (V. 3461), der ellende (V. 3742), der lantlôse (V. 5868) – diese Bezeichnungen als vertrauter Fremdling verbalisieren Tristans problematisches Verhältnis, seine Distanz zum primären Herkunftsraum im Sinne einer Ablösung und umfassenden Entfremdung. Auch die Aufdeckung der Verwandtschaftsverhältnisse kann diese Entfremdung nicht aufheben: Auf der Suche nach Tristan erreicht sein Ziehvater Rual den Markehof und berichtet vom Tod der Eltern Tristans, von seiner Geburt und wie er sich seiner annahm. Wo sich genealogische Herkunft als wiedererlangte Verortung im primären Herkunftsraum vereindeutigen sollte – wie bei Parzival, der sich fortan lautstark auf seine legitimierende Herkunft beruft, – scheint sie sich für Tristan im Gewirr der Väter aufzulösen: ich hœre mînen vater sagen, mîn vater der sî lange erslagen. hie mite verzîhet er sich mîn; sus muoz ich âne vater sîn, zweier vetere, die ich gewunnen hân. â vater unde vaterwân, wie sît ir mir alsus benomen! (V. 4367–4373) Ich erfahre von meinem Vater, daß man meinen Vater vor langer Zeit erschlagen hat. Damit ist er für mich verloren, und so bin ich denn vaterlos bei zwei Vätern, die ich einmal hatte. Ach, Vater und Hoffnung auf einen Vater, so seid Ihr mir beide genommen!

Die Aufdeckung der Verwandtschaftsverhältnisse führt somit nicht, wie bei Parzival, zu einer Überwindung der sekundären Prägung und einer fortschreitenden, dauerhaften Reintegration in den primären Herkunftsraum. Tristan selbst unterwandert diese Reintegration immer wieder durch aktive Negierung seines art, indem er fiktive primäre Herkunftsräume produziert. Darin schreibt sich eine genealogische und auch räumliche Entfremdung fort, die strukturell bereits mit der Spaltung des primären Herkunftsraums und der sequentiellen Versetzung eingeleitet wurde. Die Schwertleite, welche Tristans Jugend abschließt, markiert damit nicht die Reintegration des Helden im primären Herkunftsraum und besiegelt auch nicht eine wiedererlangte genealogisch bestimmte Identität. Tristan steht viel-

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mehr erneut am Nullpunkt: Er lehnt Riwalins Erbe, die Herrschaft in Parmenien, ab und kappt damit endgültig die Verbindung zu Parmenien als primärem Herkunftsraum. Tristan bezieht seine Identität im weiteren Textverlauf, anders als Parzival, nicht im Rückbezug auf seine Genealogie und eine damit ererbte Herrschaftsbestimmung – in dieser Hinsicht bleibt Tristan ein Held ohne Vater, ohne Land und ohne Aufgabe. Seine Bestimmung liegt nicht in seinem art und der Rückbindung an den primären Herkunftsraum begründet, sondern in der späteren kompromisslosen Ausrichtung auf Isolde, die sich gerade gegen jenen primären Herkunftsraum stellt und ihn zu feindlichem Gebiet werden lässt – mit der Beziehung zu Isolde wendet er sich als direkter Konkurrent schließlich auch gegen Marke, seinen Wahlvater. Gleichwohl verweist die Tristanminne auf eine elterliche Prägung: die Liebe Blanscheflurs und Riwalins, die in ihrer anfänglichen Illegitimität, ihrer großen Kraft und ihrem bitteren Ende parallele Züge aufweist und als erbeminne (V. 19179) im Sinne eines genealogisch begründeten Konzepts das Schicksal von Tristan und Isolde als zwangsläufig erscheinen lässt.95 Die Frage nach der genealogischen Determination der Tristanminne ist wesentlicher Bestandteil der Forschungsdebatte zum Verhältnis der Elterngeschichte und der Tristanhandlung, das meist typologisch aufgefasst wird.96 Hinter der Frage steht zugleich die Problematik der Bewertung der zahlreichen Wiederholungen, die sich einerseits als zentrale Organisationsform des Textes Gottfrieds beobachten lassen, andererseits im scharfen Gegensatz zum Anspruch unverwechselbarer Singularität der Tristanminne zu stehen scheinen.97 Susanne Köbele zeigt, dass Gottfried in seinem Text zwei grundsätzlich verschiedene Relationierungsmodelle vereint: „ein analogisches und, darüber hinausgreifend, ein einheitszentriertes“.98 So steht die Tristanminne einerseits in einem kontinuierlichen Verhältnis zur Vorgeschichte der Eltern, andererseits steht sie als „Unableitbares“, „inkommensurables Drittes“, als „Totalität der Richtungen“ außerhalb von Raum und Zeit und außerhalb gestufter Sinnzusammenhänge im Sinne einer Typologie.99 Ich lese die Überdeterminierung der Tristanminne

95 Vgl. Flecken-Büttner 2011, 195. Susanne Flecken-Büttner gibt zu bedenken, dass die Liebeshandlung durch die Vorgeschichte der Eltern determiniert anmutet, der Text diesen Deutungen allerdings nicht den Status eindeutiger und sicherer Erklärungen gibt. Sie arbeitet als Differenzkriterium der Tristanhandlung gegenüber der Vorgeschichte den künstlerischen Zugang zur Welt heraus, der sich m. E. durchaus mit dem list-Begriff fassen ließe. 96 Vgl. Tomasek 2007, 96–98. Zur Typologie im Tristan: Wolf 1974; Keuchen 1975. 97 Vgl. Köbele 2002, 97. 98 Köbele 2002, 102. 99 Köbele 2002, 114, 102.

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durch Elterngeschichte, Minnetrank und die qualitative Zuordnung Tristans und Isoldes als Ausweis dieser Exzeptionalität, die die genealogische Disposition überschreitet, auch und gerade in ihren Folgen für die Gemeinschaft im Sinne der Negation von Integration und genealogischer Verstetigung. Die Liebe Riwalins und Blanscheflurs hingegen ist mit der nachträglichen Heirat ein integrierbares Konzept und erfordert keinen Bruch mit der Genealogie, sondern führt diese fruchtbar weiter. So weist die Tristanminne auf der einen Seite einen genealogischen Bezug auf, auf der anderen Seite impliziert eben gerade diese Prägung den endgültigen Bruch mit dem primären Raum der Herkunft.100 Das Konzept der Vererbung ist in den Parallelen von Elterngeschichte und Tristanhandlung angespielt, gleichwohl unterscheidet sich das Gottfried’sche Minnekonzept eklatant von einem streng genealogischen Konzept wie dem der innerhalb der Mazadan-Sippe vererbten Minneanfälligkeit im Parzival: Tristan wird in der Liebe zu Isolde gâr verkêret (V. 12019) und ist fortan nicht mehr der, als der er geboren wurde.101 Die Reintegration in den primären Herkunftsraum muss also, final betrachtet, scheitern, denn die Tristanfigur bestimmt sich nicht über ererbte Prägung, Genealogie und Herrschaft, sondern über eine Liebe, die als radikaler Neuanfang quer zur Genealogie steht und die eben jenen list erfordert, den man als sekundäre, eigenständige Prägung Tristans fassen kann. Betrachtet man über die Handlungsebene hinaus den Prolog, steht auch das Konzept der edelen herzen im Kontext einer umfassenden Ablösung bzw. Negierung des primären Herkunftsraums: edel als adlig bestimmt sich hier nicht mehr nach der genealogischen Herkunft, sondern wird gebunden an den richtigen Umgang mit der Liebe und von dort aus neu bestimmt.102 Schon vor diesem Hintergrund kann es im Tristan nicht um genealogische Restitution gehen.

100 Dazu bemerkt Gerok-Reiter 2009, Anm. 37: „Die genealogische Konstellation nicht als Ursache, sondern als Komplikationsverstärkung späterer Illegitimität ist […] als Spezifikum von Gottfrieds Tristan anzusehen.“ 101 Dass die Liebe bei Gottfried immer mit einem radikalen Bruch mit allem Vorherigen einhergeht, wird bereits in der Elterngeschichte deutlich, wenn der Erzähler Riwalins Verwandlung durch die Liebe zu Blanscheflur beschreibt: wan er greif in ein ander leben; / ein niuwe leben wart ime gegeben: / er verwandelte dâ mite / al sîne sinne und sîne site / und wart mitalle ein ander man (V. 937–941). 102 Vgl. V. 45–240.

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4 Die räumliche Multiplikation der Herkunft als narratives Formativ Die Textanalyse hat gezeigt, dass primärer und sekundärer Herkunftsraum auf paradigmatischer und syntagmatischer Ebene als relativ stabiles Konzept betrachtet werden können: Der primäre Herkunftsraum bestimmt sich über den genealogischen Bezug des Helden und wird in der höfischen Welt verortet. Mit der Paarkonstellation von Mutter und Vater trägt der primäre Herkunftsraum immer eine potentielle Spaltung in sich, die stärker oder schwächer thematisiert werden kann – sowohl Parzival wie auch Tristan entwickeln unter anderem über diese Spaltung die Komplexität ihres Figurenentwurfs, wobei die Problematik der Doppelung ererbter Ansprüche ganz unterschiedlich aufgelöst wird. Eine weitere literarische Strategie zur Inszenierung von Außergewöhnlichkeit ist die Versetzung des Helden: Diese geschieht meist unbewusst in einem frühen Lebensstadium und ist in erster Linie durch die Passivität des Helden bestimmt. Der Tod der Eltern bzw. eines Elternteils initiiert den Bruch mit dem primären Herkunftsraum. Der Held findet sich wieder in einem sekundären Raum der Herkunft, der in erster Linie durch seine Isolation charakterisiert ist – er schneidet einen blinden Fleck in die genealogische Geographie. In dieser Nullpunktsituation kann sich einerseits der ererbte art des Helden offenbaren, andererseits eine sekundäre, genealogieunabhängige Prägung manifestieren. Mit dem aktiven Aufbruch aus dem sekundären Herkunftsraum überschreitet der Held eine topologische Grenze, die häufig konkret räumlich markiert ist und betritt damit wieder den primären Herkunftsraum. Diese ,Rückkehr‘ bezieht sich dabei immer auf den genealogischen und nicht den konkreten primären Raum der Herkunft: Der Held tritt wieder ein in das genealogische Bezugsnetz. Seine Identifizierung verortet ihn schließlich in diesem Bezugsnetz – sowohl Parzivals wie auch Tristans Rückkehr bezieht sich auf einen ihnen fremden Hof, der ihnen qua ihrer genealogischen Herkunft nicht fremd sein sollte. Wâleis und Parmenien verlieren mit dem Tod der Eltern ihren Wert als primärer Raum der Herkunft, welcher sich im weiteren Textverlauf nunmehr über die Relationen der verbliebenen Verwandten konstituiert. Die Analyse hat darüber hinaus erwiesen, dass primärer und sekundärer Herkunftsraum sich nicht auf den topischen Gegensatz von Natur und Kultur reduzieren lassen: So ist die Einöde Soltânes doch grundverschieden von der Wildnis Cornwalls, genauso scheint Parmenien mit der Aufhebung der genealogischen Anbindung bereits Merkmale eines sekundären Herkunftsraums zu haben. Es empfiehlt sich daher, primären und sekundären Herkunftsraum weniger an der Opposition ‚Wildnis vs. höfischer Raum‘ festzumachen, sondern sie vielmehr von ihren Grenzen her bzw. durch die Grenzüberschreitungen des Helden zu bestim-

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men. Der sekundäre Herkunftsraum ist dann anzusetzen mit der unbewussten, passiven Versetzung des Helden, die die genealogische Anbindung unterbricht und meist auch mit einer konkret räumlichen Versetzung einhergeht – bei Parzival verlaufen räumliche und genealogische Versetzung synchron, bei Tristan hingegen vollziehen sich räumliche und genealogische Versetzung in einem gestaffelten Prozess beginnend mit der Adoption über die Entführung bis zur Aussetzung an der Küste Cornwalls. Der sekundäre Herkunftsraum endet mit dem Aufbruch des Helden aus der Isolation und der aktiven Überschreitung der topologischen Grenze. Dabei verlässt der Held nicht den Normbereich, er betritt ihn vielmehr von der anderen Seite. Im Zuge dieser Grenzüberschreitung tritt der Raum in beiden Texten markant in Erscheinung: Die Transgression manifestiert sich als ein aktives Arbeiten mit dem konkreten Raum, wenn Parzival das Wasser durchschreitet und Tristan den Berg erklimmt. Der jugendliche Held macht sich auf den Weg, seine eigene Geschichte zu betreten. Hinsichtlich der Ereignisbezogenheit von primärem und sekundärem Herkunftsraum waren bei beiden Texten auf der diskursiven Ebene der Darstellung Parallelen zu beobachten. Deutliche Unterschiede zeigten sich jedoch in der jeweiligen Semantisierung von primärem und sekundärem Herkunftsraum. Gerade im Hinblick auf die Prägung des Helden und der damit verbundenen Konsequenzen für den weiteren Handlungsverlauf können primärer und sekundärer Herkunftsraum vollkommen unterschiedlich besetzt werden: Soltâne behindert Parzivals art und prägt seine tumpheit, die als ,Verwilderung‘ in der Ausbildung bei Gurnemanz überwunden werden muss. Der sekundäre Herkunftsraum wird hier semantisiert als Raum der Defizienz, der Behinderung und des Betrugs. Cornwalls Wildnis ist hingegen als experimenteller Raum der Selbstproduktion semantisiert – in der Bergbesteigung überwindet Tristan die lebensbedrohliche Situation und entwickelt als eigenständige Prägung jenen list, welcher sich in der Ausrichtung auf Isolde gegen den art wenden wird.103 Die Texte zeigen, wie produktiv die Multiplikation der Herkunft ist. Im Falle Parzivals gelingt die Reintegration: Seine genealogische Entfremdung kann überwunden und die Gralsgesellschaft schließlich erneuert werden. Tristan aber bleibt der sich permanent selbst Entfremdende: Immer wieder bricht er auf, immer wieder erfindet er neue Herkunftsgeschichten. Aus genealogischer Sicht steht am Ende die gescheiterte Integration und der Untergang eines Geschlechts

103 Wenn man, mit Schwietering, Parzivals tumpheit positiv im Sinne eines Schutzmechanismus’ als unverbildete Natürlichkeit und „Treue zum art“ auffasst, dann erscheint der list Tristans geradezu kontrastiv und in engem Bezug zu seiner Untreue gegenüber seiner Herkunft und seinen Verwandten (vgl. Schwietering 1961/1962, 137).

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– gleichzeitig wird Tristans Identität mit der genealogischen Ablösung frei und besetzbar für Isolde als neue Bestimmung. Blickt man auf den weiteren Handlungsverlauf, eröffnen beide Texte analog zu den Räumen der Herkunft als Ausgangspunkt des Helden einen Raum der Bestimmung des Helden: Gralsburg und Minnegrotte. Vor dem Horizont von primärem und sekundärem Herkunftsraum trägt der Raum der Bestimmung in seiner hochgradigen Semantisierung als Werteallegorie transzendente Züge eines dritten Raums, welcher nicht nur oder gar nicht auf Verstetigung im Sinne genealogischer Kontinuität zielt, sondern etwas Neues abbildet.104 Der Raum der Bestimmung kann sich einerseits als Verstetigung des primären Herkunftsraums erweisen – wie bei Parzival –, er kann aber andererseits quer zum primären Herkunftsraum stehen – wie bei Tristan. Während die Gralsburg als Raum der Bestimmung exzeptionellen Anfang und dynastische Verstetigung harmonisiert, verweist die Minnegrotte in ihrem heterotopen Charakter105 auf die Tristanminne, die in ihrer ,mythischen‘106 Exzeptionalität losgelöst ist von jedem genealogischen Begründungszusammenhang und damit letztendlich auch ortlos und kinderlos bleiben muss. Die räumliche Multiplikation der Herkunft als Zusammenspiel von primärer und sekundärer Herkunft inszeniert mit der doppelten Prägung nicht nur die spezifische Exzeptionalität des Helden, sondern konstituiert somit auch einen genealogieunabhängigen Lizenzraum: Der sekundäre Herkunftsraum eröffnet als Inszenierung einer Nullpunktsituation ein diskursives Potential, oder, mit Lotman gesagt, ein „revolutionäres“107 Moment: Von hier aus können die Normen des primären Herkunftsraums hinterfragt werden; hier können problematische Helden wachsen, welche den primären Herkunftsraum mit ihrer doppelten Prägung überragen. Ein über Ausgrenzung konstituiertes Heldentum bleibt in der

104 Gunhild und Uwe Pörksen bemerken diesbezüglich: „[D]ie bisherige Welt wird erweitert um eine neue Dimension […] die Geburt des Helden bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit“ (Pörksen und Pörksen 1980, 282). – Analog würde ich hier auch die Konstitution eines neuen Raums ansetzen. 105 Gerade die komplexen Öffnungs- und Schließmechanismen der Minnegrotte ermöglichen den Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Heterotopie als ,verwirklichter Utopie‘ (vgl. Foucault 2005). 106 ,Mythisch‘ verwende ich hier in Anlehnung an Jan-Dirk Müller im Sinne einer „geschichtsfernen und zugleich geschichtsübergreifenden Jederzeitigkeit“, die „menschlichen Ordnungen und geschichtlicher Zeit enthoben“ ist (Müller 2002, 390f.). Auch Susanne Köbele verweist auf diese „Zeit außerhalb von Zeit“, eine „,Immer schon‘-Schicht“ in Gottfrieds Tristan (Köbele 2002, 102, 107). 107 Lotman 1972, 339.

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Reintegration jedoch fast immer problematisch, wie Julia Weitbrecht in Bezug auf die Heldenepik beobachtet.108 Auch in Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan steht die Frage im Zentrum, ob eine Reintegration des Helden in den primären Herkunftsraum und damit die genealogische Verstetigung möglich oder durch einen unumkehrbaren Bruch bzw. Entfremdung unmöglich ist. Ist Letzteres der Fall, wird Herkunft diskursiv, im Sinne von herstellbar, und zu einer Möglichkeit der Darstellung von ,eigenständiger Entwicklung‘ – wie bei Tristan.109 Beide Texte nutzen somit das Irritationspotential, welches sich aus der Spannung von primärem und sekundärem Herkunftsraum ergibt. Die Palette der Kombinationsmöglichkeiten ist dabei sehr breit und reicht von einem gleichberechtigten, unproblematischen Nebeneinander, der Überlagerung beider Räume über die Überschreibung bis hin zur Aufhebung des primären Herkunftsraums. Dabei kann sich das diskursive Potential der Multiplikation der Herkunft mit der jeweils spezifischen semantischen Aufladung von primärem und sekundärem Herkunftsraum auf kulturell und gesellschaftlich virulente Problemstellungen beziehen.110 Wenn man das Konzept von primärem und sekundärem Herkunftsraum als Formativ111 des Erzählens von außergewöhnlichen Helden betrachtet, liegt die Spezifik der mittelalterlichen Texte im Umgang mit diesem Konzept wohl in der Diskursivierung von Genealogie, welche als Rechtfertigungsstruktur und Begründungsmuster mit dem Aufbrechen der Kreisstruktur von Versetzung und Reintegration infrage gestellt wird. Wird die Genealogie, nach Sandra Linden, in der mittelalterlichen Literatur zum „ordo narrandi im Ringen um die Darstellung menschlicher Innerlichkeit“, indem sie die Möglichkeit bietet, „einen Protagonisten über flankierende, mit ihm verwandte Personen zu beschreiben“, so eröffnet gerade auch ihre Negation über die Konstruktion eines genealogieunabhängigen, sekundären Herkunftsraums „einen Spielraum für Reflexionen über personale Identität“.112

108 Vgl. Weitbrecht 2012, 309. 109 Die mit primärem und sekundärem Herkunftsraum einhergehende Spaltung der handlungstragenden Figur eröffnet nach Horst Wenzel eine Möglichkeit mittelalterlicher Literatur, personalen Wandel darzustellen, im Sinne eines Austauschvorgangs oder einer Steigerung von personalen Möglichkeiten, die den Helden jeweils auf neue Weise definieren (vgl. Wenzel 1988, 232). Zu individualisierenden Tendenzen im Tristan vgl. unter anderen Vorzeichen auch GerokReiter 2006, 148–196. 110 Parallel zur Diskursivierung von Herkunft auf der Handlungsebene eröffnet sich mit dem Entwurf einer sekundären, alternativen Herkunft auf poetologischer Ebene die Möglichkeit der Diskussion von Erzählnormen, also der Frage, wie Herkunft erzählt werden kann. 111 Zum Begriff ,Formativ‘ vgl. oben Anm. 22. 112 Linden 2007, 89–90.

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Markus Stock

Herkunftsraum und Identität: Heterotopien der Herkunft im mittelhochdeutschen Roman Lanzelet, Tristan, Parzival, Trojanerkrieg

1 Her-Kommen und die Hauptfigur im mittelhochdeutschen Roman Die Herkunftsräume der Hauptfiguren spielen in vielen mittelhochdeutschen höfischen Romanen zwar oft eine wichtige symbolische Rolle, sind aber als Handlungsräume meist nicht entscheidend. Oft lassen die Protagonisten ihre Herkunftsräume schnell hinter sich. Die Helden kommen, einem mythisch-märchenhaften Grundmodell entsprechend, gleichsam erst in Bewegung zu sich.1 Gelegentlich spielt der Herkunftsraum in der Erinnerung, im Rückblicken eine Rolle, aber vielfach kehren die Figuren nicht einmal zu ihrem Geburtsland oder Ausgangspunkt zurück. Da der Auszug der Protagonisten und ihr Ankommen auf einer kategorial und stadial anderen Ebene (die oft durch einen anderen Ort auch räumlich symbolisiert wird) so stark betont wird,2 scheint der Herkunftsraum von nachgeordneter Bedeutung, sowohl was die Erzählweise als auch was die Sinnstiftung solcher Texte angeht. Gleichzeitig aber lässt sich beobachten, dass aufgrund der dominant genealogischen Ordnung mittelalterlichen Erzählens im Handlungsverlauf die Herkunft der Protagonisten und der mit ihr verbundene Raum virulent bleiben, und sei es nur, wie etwa im Parzival Wolframs von Eschenbach, in Anspielungen auf die Erbländer des Protagonisten. Wie genau gestaltet sich das Verhältnis von erzähltem Raum (als Handlungsraum) zu einem im Verlauf der Erzählung eingesetzten ‚Topos‘ des Rückblickens, der vor allem als Chiffre für Herkommen dient, aber keine Räumlichkeit im Sinne eines spatial frame im Sinne von Marie-Laure Ryan aufweist, d. h. nicht als Umge-

1 Vgl. grundsätzlich Störmer-Caysa 2007; Morsch 2011; Schulz 2012. Zur Choreographie höfischer Körper im mittelhochdeutschen Roman Lechtermann 2005. 2 Grundsätzlich dazu Lotman 1972.

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bung von Ereignissen der erzählten Welt dient, obwohl er als räumliches Konstituens vorausgesetzt wird?3 Welche Auswirkungen hat es, wenn dem Protagonisten auf seinem Weg Repräsentationen des Herkunftsraums (symbolisch, materiell, aber auch magisch-real) begegnen, und wie wird dies narrativ bewerkstelligt? Welche Rolle spielt das displacement der Helden in Ersatzräume, in denen sie ihrer Herkunft und damit Bestimmung entzogen werden sollen? Welche Funktion haben die erzählerisch und argumentativ untergewichteten Herkunftsräume für die Sinnkonstitution der Texte? Man kann solche Fragen stellen, ohne einen betont positiven oder ideologisch aufgeladenen Begriff von Heimat oder einen räumlich gedachten Begriff von Herkunft vorauszusetzen: Beide emphatischen Begriffe treffen vielleicht ohnehin für den mittelhochdeutschen Roman nicht zu. Daran bindet sich aber eine für das Thema dieses Bandes entscheidende Frage: Ist für den mittelhochdeutschen Roman das Territorium der Herkunft wichtig, oder nur ein räumlich kaum gebundenes Konzept von art und erbe, eines Herkommens, das sich genealogisch, aber nicht territorial begründet, also Herrschaft und Herkommen nicht an ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Gegend als fundierender politischer Entität bindet? Territoriale Gebundenheit des adligen Selbstverständnisses scheint jedenfalls in diesen Romanen nicht entscheidend. Dies mag überraschen, wurde doch zum Beispiel von R. Howard Bloch die territoriale Reorganisierung des Hochadels in Relation mit der altfranzösischen Literatur als eine kulturelle Grundchiffre des Hochmittelalters identifiziert.4 In einem sehr grundsätzlichen, teilweise spekulativen und daher auch tendentiell angreifbaren Versuch dekonstruierte Bloch die hochmittelalterliche französische Adelsgesellschaft und beschrieb eine aristokratische Kultur, die sich im 12. Jahrhundert im Rahmen eines neuen Verständnisses von Genealogie radikal reorganisierte. Dementsprechend spielte die symbolische Produktion von Herkunft, die biopolitics of lineage, eine grosse Rolle. Auch der Herkunftsraum kam bei Bloch in den Blick, vor allem als aristokratischer Eigenraum im Rahmen einer Umstellung der symbolischen Ökonomie adliger Macht auf abgrenzbaren Landbesitz und zentrale Familiensitze. Gerade diese Umstellung, wenn sie sich überhaupt auf deutsche Verhältnisse übertragen ließe, wird aber in den hier gewählten deutschen Beispieltexten nicht gestaltet: Eine solche auf Orte und Räume bezogene Zeichenhaftigkeit von Herkunftskonstruktionen findet sich dort nicht. Daher bleibt Herkunft in diesen Texten, anders als im teleologischen Modell Blochs, weitgehend von Räumlichkeit abgekoppelt.

3 Ryan 2014, Absatz 6. 4 Vgl. Bloch 1984, 70–87.

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Ebenso signifikant ist, dass Herkunftsräume in diesen Romanen als krisenhaft semantisiert sind. Der Protagonist muss sie verlassen, um der Krise in Bewegung zu entgehen oder sie in Bewegung zu überwinden. Dies ist ein Grund, warum das Weggehen der Protagonisten, und daher die dominante Weg- und Aventiurestruktur des Erzählens, so eng mit Fragen der Identität der Protagonisten und mit Identitätskrisen verbunden sind. Diese Identitätsfragen sind an Familie und Herkunft gebunden sind, wie es in der mittelalterlichen aristokratischen genealogischen Logik angemessen ist. Herkunftsräume spielen dabei aber meist nur als verschobene eine Rolle, als Ersatzräume oft fabulöser Natur. Dies ist aber nicht als Dekonstruktion des genealogischen Prinzips zu lesen; vielmehr stellen die Texte die diskursive Gemachtheit von Herkommen aus: als angeborener art, als thematisiertes erbe. Die Bewegung der Protagonisten, ihr ‚Vollzug‘ des Raumes, um einen Begriff Hugo Kuhns aufzugreifen, ist also entscheidend.5 Begreift man aber den Raum des höfischen Romans als von Figuren solcherart ‚vollzogen‘, dann läßt sich dessen Narratologie nur als enger Konnex zwischen Figur, Figurenhandlung und Raum beschreiben. Dieser Zusammenhang zwischen Figurenbewegung und Räumlichkeit macht es auch notwendig, neben dem erzählten Raum auch die anderen fundamentalen Elemente der Erzählwelterzeugung in die Analyse einzubeziehen.6 So sollte die Erzeugung einer Storyworld im Sinne David Hermans im Mittelpunkt stehen, also die untrennbare Einheit von Raum, Zeit und Figur. Sehr grundsätzlich haben dies die Narratologien von Katrin Dennerlein für den Raum und Fotis Jannidis für die Figur aufgegriffen,7 und Überlegungen zur Figur in ihrer Position in einem narratologischen Modell, das heißt, zum Verhältnis von Figur, setting und Handlungsabfolgen, gehören zu den Kernproblemen narratologischer Modelle. Bei Fludernik ist die Figur methodischer Angelpunkt eines dynamisierten Schauplatzbegriffs: Die Ebene der Geschichte wird in den meisten Erzähltheorien einmal axiomatisch als Kombination von Schauplatz (setting) und Charakteren (actants) dargestellt. Paradoxerweise sind so die Basiselemente traditioneller Geschichte nur existenziell, daher statisch veranlagt. Charaktere und Setting figurieren im Erzähltext meist als Beschreibungspassagen. Erst durch Handlungsabfolgen – durch die Handlungen der Figuren – entsteht die zeitliche Grundkonstellation. So unterscheidet Chatman auf der story-Ebene zwischen events und

5 Zu spatial practice als performativem Vollzug des Raumes Stock und Vöhringer 2014 aufbauend auf de Certeau 1988 und Kuhn 1959. 6 Zum Raum-Zeit-Konnex in kulturwissenschaftlicher Perspektive Noyes 2014; grundlegend immer noch Bachtin 2008. 7 Vgl. Dennerlein 2009; Jannidis 2004.

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existents. Sieht man Charaktere allerdings als prototypisch menschlich an, dann kann man ihre Handlungen als Teil ihrer existenziellen Befindlichkeit erfassen und auch den Schauplatz dynamisch sehen, nämlich als Umwelt, die Ereignisse und Entwicklungen, die von außen auf die Protagonisten einwirken, inkludiert.8

Derart dynamisiert, wird der erzählte Raum als performativ vollzogener Raum gefasst und Figurenhandlung und Raumgestaltung werden eng aufeinander bezogen. Für eine historische Narratologie stellt sich nun die Aufgabe, solch grundsätzliche Fragen nach dem erzählerisch Möglichen an konkreten Beispielen zu historisieren.9 Die Analyse einer dynamischen Semantisierung des Raums durch Figuren in der Zeit – eben das, was Hugo Kuhn bereits 1949 mit dem Begriff des „Vollzugs“ fasste,10 – könnte eine solche Historisierung der Narratologie leiten. Relevant scheint hier besonders die Spannung zwischen Raumvollzug im Aventiureweg und dem Ausgangsort des Helden zu sein, die in allen zu besprechenden Romanen auffällig ist. Dies gilt vor allem dort, wo Protagonisten eine problematische Elternvor- oder Kindheitsgeschichte haben, was für die männlichen Hauptfiguren im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven (um 1200), im Parzival Wolframs von Eschenbach, im Tristan Gottfrieds von Straßburg (beide aus dem frühen 13. Jh.) und für Achill in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (aus dem späteren 13. Jh.) gilt.

2 Lanzelet vom See – und sein erbe Die Wegstruktur von Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet (um 1200) führt den Prot-agonisten auf einem Weg mit verwirrend vielen Stationen weg von seinem Herkunftsraum. Als Handlungsraum spielt dieser so gut wie keine Rolle. Gleichzeitig aber sind die Herkunft und auch der Raum der Herkunft entscheidend für die Identitätskonstitution des Protagonisten in diesem Roman. Der Name des Protagonisten, Lanzelet de Lac (der allerdings erst spät zum ersten Mal fällt: V. 5092), deutet hierbei auf ein für den Text zentrales Problem. Der den Herkunftsort bezeichnende Beiname verweist nicht auf den Raum der Geburt und frühen

8 Fludernik 2006, 41. Fludernik benutzt Seymour Chatmans Unterscheidung von existents und events. Existents bezeichnen bei Seymour Chatman die da-seienden, statischen Elemente einer Geschichte, events die handlungs- und damit letztlich zeiterzeugenden dynamisierenden Elemente der Geschichte; vgl. Chatman 1978, 44–145. 9 Vgl. Störmer-Caysa 2007; Schulz 2012. 10 Zitiert nach dem Wiederabdruck des Artikels; Kuhn 1959.

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Kindheit, ein Land, das Genewis genannt wird, sondern auf das Feenreich, in das der Protagonist als Säugling entführt wird. Dies ist keine Besonderheit, sondern eher die Regel, sobald in höfischen Romanen frühe Kindheitsgeschichten erzählt werden. Die Helden werden oft in früher Kindheit in andere Räume entführt, von der Mutter dorthin verbracht oder auch ausgesetzt und dorthin verschlagen. Aus seinem eigentlichen Herkunftsland, Genewis, wird Lanzelet als Säugling in einer Krisensituation entführt. Während eines Aufstands gegen Lanzelets Vater, den schlechten König Pant, wird dieser getötet. Die Mutter gerät, den kleinen Lanzelet auf dem Arm, in eine bedrängte Situation, aus der Lanzelet durch das Eingreifen einer in einem Nebelschwall auftauchenden Feenkönigin gerettet wird. Sie bringt ihn zu einer amönen Insel, einer uneinnehmbaren Stadt mit Häusern, die mit Edelsteinen von besonderer Kraft besetzt sind: Die Wirkung der Steine schenkt allen, die auch nur einen Tag anwesend sind, immerwährende Freude (vgl. V. 234–240). Von den zehntausend dort lebenden Damen lernt Lanzelet gutes Benehmen, Musizieren und Singen; und da er darum bittet, werden ihm fabulöse merwunder (V. 278; „Meerwunder“) als Lehrer zugeordnet, die ihn allerlei Kampf- und Jagdfertigkeiten lehren. Was sie ihn nicht lehren (können?), ist turnieren unde rîten (V. 305; „turnieren und reiten“); dies aber will der nun Fünfzehnjährige lernen und deshalb die Insel verlassen. Ein Problem und eine Quelle der Schande ist, dass Lanzelet seinen Namen nicht weiß und seine Verwandten nicht kennt. Die Feenkönigin verweigert ihm diese Information: Seinen Namen würde er erst erfahren, wenn er den besten aller Ritter besiegt habe, Iweret von der Burg Dodone. Dies ist der Ausgangspunkt für einen Aventiureweg, der Lanzelet zum (Artus-)Ritter macht und auf dem er seinen Namen ‚erwirbt‘. So schafft der Vollzug des Weges Identität und erzeugt aristokratische Valenz: „Namenssuche und Ritterwerdung gehen Hand in Hand“.11 Gleichzeitig ist der Weg auch erfolgreiche Suche nach der richtigen Liebespartnerin. Es ist die Bewegungsführung im Makro- wie im Mikrobereich, die diese Semantisierungen zumindest zum Teil leitet. Dies ist nicht nur hier, sondern für den gesamten Text zu beobachten. Lanzelet erfährt seinen Namen als Gabe der Feenkönigin, die ihm nach dem Sieg über Iweret, in der Romanmitte (vgl. V. 4661–4929), eine Botin schickt: Diese Botin verrät ihm seinen eigenen Namen, seine Herkunft und informiert ihn auch darüber, dass Genewîs sein reht erbe (V. 4711; „rechtmäßiges Erbe“) ist. Sie übergibt ihm ein in einem Schrein aufbewahrtes wunderbares Zelt, das – entferntes Echo seines Ursprungsraumes – jedem, der das Glück hat, eine vart („Ausflug“, „Gang“) ins Zelt hinein zu machen (vgl. V. 4768),12 ewigwährende Gesundheit

11 Kragl 2009, 538. Dort auch die Diskussion der weiteren Literatur. 12 Dies ist wohl eher gemeint als die von Kragl gewählte Übersetzung („[…] dass er darin her-

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schenke. Zusätzlich erscheine ihm auch in einem im Zelt angebrachten Spiegel nicht sein eigenes Spiegelbild, sondern das Gesicht des ihn am meisten liebenden Menschen (vgl. V. 4771). Herkunft und wunderbare Eigenschaften weisen das Zelt als Stellvertretung des Feenlandes aus.13 Im Zelt und seinem Spiegel erkennen Lanzelet und seine Partnerin Iblis sich gegenseitig als am meisten liebende Menschen (vgl. V. 4918–4923). So wird nicht nur die Enthüllung des Namens, sondern auch der Ort, an dem die Liebenden einander erkennen, als Gabe der Fee semantisiert. Dies geschieht durch die räumliche Vertretung des Zelts im wiewohl amön gestimmten und wunderlîchen (vgl. V. 4746–4759), eigentlich sonst aber nicht dem Feenland zugeordneten Bereich. Das Zelt wird als Objekt und als Ort narrativ weiter herausgehoben durch eine die Handlung unterbrechende ausladende Beschreibung. Es ist dies die auffälligste ekphrastische Unterbrechung im ganzen ereignisreichen Handlungsverlaufs des Romans. Das Zelt bietet aber nicht nur ein Echo des Herkunftsraums. Es ist, als herausgehobene, künstlich geschaffene Heterotopie,14 Repräsentation, ja magische Präsentation dieses entfernten Raumes. In dieser Weise nimmt das Zelt besondere narrative und raumsemantische Funktion an, wie es sich oft für Zelte im mittelhochdeutschen Roman beobachten lässt.15 Das liegt an einem wichtigen Charakteristikum dieser Zelte, die nicht nur einen Teil des Raumes aus dem Umgebungsraum ausschließen und begehbar sind: Sie können gleichzeitig Handlungsraum und elaboriertes Zeichen sein, und daher in sich selbst und in ihrer raumsemantischen Funktion Bedeutung erzeugen. Sie haben auch Schauseiten, innen und außen, deren visuelle Information und Pracht die kulturelle Valenz des Innenraumes und die Bedeutung, die der im Zelt vertretene Raum oder der Wirt des Zeltes hat oder beansprucht. Diese Schauseiten und Inschriften werden für Lanzelets Zelt ausführlich beschrieben. Nach dem Besuch dieses transformativen Zelts wird Lanzelet von anderen und vom Erzähler nicht nur mit seinem Namen angesprochen, sondern oft bekommt er jetzt auch den Zusatz de oder (je nach Handschrift) du Lac. Dies geschah schon vorher, bloß ohne seinen Namen, als eine Art Erkennungsmerkmal: ritter oder degen von dem Sê (V. 569, 2294, 2475).16 Im später im Roman gebrauchten Lanzelet de Lac wird die Verbindung zur anderweltlichen Sphäre benannt, obwohl sie

umgehen konnte […]“). 13 Es wurde mehrmals beobachtet, dass die Identität Lanzelets von den weiblichen Sphären her bestimmt wird; vgl. Pérennec 1979, 41−42; Schmid 1992; Schulz 2007, 433−434. 14 Vgl. Foucault 2005. 15 Vgl. Stock 2008. 16 Vgl. Kragl 2009, 548.

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selbst im weiteren keine Rolle mehr spielen wird.17 Stattdessen erinnert sich Lanzelet nach weiteren Abenteuern als Artusritter an sein eigenes Erbland Genewîs (vgl. V. 8051), das er mit militärischer Drohung und Verhandlung gewinnt18 und in das er als Herrscher einzieht. Erst jetzt bekommt er einen weiteren, dieses Mal den wirklichen Herkunfts-Namen hinzu: der junge künic von Genewîs (V. 8440). Dass er allerdings weiterhin auch als Lanzelet de Lac angesprochen wird, zeigt, dass hier Räume der Herkunft akkumuliert werden. Am Ende residiert Lanzelet in Dodone,19 der Burg des besiegten besten Ritters, ohne aber den Beinamen de Lac zu verlieren, und bleibt auch König von Genewîs. So vereinigt Lanzelet sowohl räumlich-additiv als auch nominelladditiv die Erfolge seines Weges. Anders als in anderen Texten der Zeit ist diese Anhäufung von Eigenorten kein Problem, erzeugt keine Ambivalenzen, sondern ist addierter Ausweis eines erfolgreichen aristokratischen Werdegangs: Ein optimistisches und positives Modell einer Akkumulation von Bezügen auf intradiegetisch erinnerte Orte sowie von tatsächlich erzählten Räumen, die für die Identitätsstiftung bedeutsam sind.

3 Wâleis, Norgâls – und Parmenîe Ist das Territorium der Herkunft wichtig, oder nur ein räumlich kaum gebundenes Konzept von art und erbe? Parzival und Tristan geben in diesem Zusammenhang ambivalente Antworten.20 Da diese Fragen für diese Texte schon viel Aufmerksamkeit erhalten haben und in einem weiteren Beitrag in diesem Band besprochen werden, gehe ich hier nur kursorisch auf sie ein, weder in der Absicht noch in der Hoffnung, ihren Komplexitäten (räumlicher und anderer Natur) gerecht zu werden. Zunächst zum Helden des Romans Wolframs von Eschenbach, Parzival, der gerade geboren, von seiner Mutter in ein Territorium gebracht wird, das ander-

17 Eine seltsame Auffälligkeit ist, dass Lanzelet vor der Erkennungsszene in der Romanmitte von dem Se genannt, die Orte seiner Abenteuer aber durchgehend französisierte Namen haben, während er danach de Lac heißt, aber die Orte seiner Abenteuer haben deutsche Namen. Diesen Chiasmus, der auf die Herkunftssprache des Erzählmaterials und den Übersetzungsvorgang verweist, weiß ich nicht recht zu deuten. 18 Vgl. Kragl 2009, 550–551. 19 Selbst Dodone wird dann als sein Erbe bezeichnet, obwohl das nicht stimmt, vgl. V. 8935– 8937: Der hof erschal in diu lant /daz Lanzelet, der wîgant, / an sîn erbe solte. Siehe Kragl 2009. 20 Vgl. ausführlicher den Beitrag von Franziska Hammer in diesem Band; dort auch weitere Literatur.

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räumliche Züge trägt. Die Frage nach Parzivals Herkunftraum erscheint selbst als ambivalent, weil seine Mutter ihn aus seinen Erbländern und aus der Sphäre der Ritterhandlung herausnimmt, um zu verhindern, dass er, wie sein Vater, als kämpfender Ritter getötet wird. Begreift man das Figur-Raum-Verhältnis des Artusromans als eines, in dem Figuren sich bewegend den narrativen Raum ‚vollziehen‘, dann ist Soltane eine markierte Abweichung. Am Beginn dieses Einschnitts steht Herzeloydes Aufgabe der Herrschaft in ihren drei Ländern Wâleis, Norgâls und Anschouwe, in denen sie zur „Fremden“ wird (116, 28–30: frou Herzeloyd diu rîche / ir drîer lande wart ein gast: / si truoc der freuden mangels last; „die mächtige Herrin Herzeloyde wurde in ihren drei Ländern eine Fremde: Sie trug die Last des Freudemangels“). Aus ihrem lant zieht sie in einen walt (117, 7), in die waste Soltâne („das Ödland Soltane“), wo Parzival erzogen wird (118, 1). So ist Soltane, das Gebiet fernab der Ritterwelt, eine narrative Pause nach den zwei tumultreichen ersten Büchern, welche das Reise-, Kampf-, Liebes- und Turnierleben von Parzivals Vater Gahmuret zum Inhalt haben. Der Protagonist (und mit ihm das Publikum), sind von der ‚Welt‘ abgetrennt, so legt es der Text nahe, sekludiert in einem Anderraum, dessen Konstruiert- und Andersheit dem Publikum (nicht aber dem törichten Protagonisten) deutlich ist. Zwar sieht man den jungen Parzival sich bewegen (immerfort), aber er tut dies physisch in den räumlichen und gleichzeitig intellektuell in den semantisch-evaluativen Grenzen Soltanes. Entscheidende Interaktionen des Jungen beziehen sich auf Bewegung und Sich-Bewegendes. So bereiten ihm die freien Vögel Soltanes einen unbestimmten Schmerz. Entscheidend aber wird die Begegnung mit den Soltane durchquerenden Artusrittern, eine Begegnung, die burlesk-epiphanische Züge trägt. Diese Passagen markieren Schritte hin zu einer ersten Selbstentdeckung des Protagonisten, der ausziehen will, um ein Ritter zu werden. Genau an diesem Punkt verkompliziert die Mutter die Territorialität von Parzivals Herkunft, indem sie ihm erzählt, dass er eigentlich Länder besaß, Wâleis und Norgâls, die ihm in der Zwischenzeit von einem Feind genommen worden waren. Es ist das erste Mal, dass für Parzival, wenngleich verlorener, Territorialbesitz behauptet wird (128, 6: diu solten dienen dîner hant; „die sollten deiner Hand untertan sein“). Diese Länder, in denen Parzival nie war, existieren zwar im story space,21 dienen aber nie als story frames, als Schauplatz der Handlung, ja gewinnen niemals örtliche oder territoriale Schärfe und bleiben lediglich Spielmarke in einer der vielen ökonomisch-spielerischen Logiken, die den Parzivalroman durchziehen. Der Text bietet

21 Ryan 2014, Absatz 8: „the space relevant to the plot, as mapped by the actions and thoughts of the characters. It consists of all the spatial frames plus all the locations mentioned by the text that are not the scene of actually occurring events.“

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so die Möglichkeit eines Raumes, in dem Parzival ererbte Herrschaft ausüben könnte, doch diese Möglichkeit wird abgewiesen, denn Parzival wird nie dorthin kommen und die Länder nie zurückerhalten. Es ist, als ob der Text vom Beginn der Haupthandlung an danach strebt, deutlich zu machen, dass es nicht der Ausgangs-, sondern der Endpunkt, Terre de Salvaesche, der Gralsbereich, ist, der für Parzival signifikant ist. Die Gralsburg ist hierbei ebenfalls eine Art Ursprung. Sie beherbergt oder unterstützt die wichtigsten Vertreter der mütterlichen Familienseite Parzivals, und in diesem Sinne, ‚kehrt‘ Parzival zu einem Ort ‚zurück‘, von dem er nicht ausgegangen war: Herkunft ist hier eher zuokunft (das „Kommen“ und „Zukommen“) als Rückkehr und Rückblicken. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg folgt einer ähnlichen Logik, die hier aber noch stärker mit Ambivalenz und Dilemma durchsetzt ist. Tristan wird aus seinem Herkunftsland Parmenîe, das im Vergleich zu anderen erzählten Orten weder quantitativ noch qualitativ eine besondere Gewichtung erhält, als Kind entführt und gerät an den Hof seines Onkels, Marke. Tristans Pflegevater Rual verwaltet Tristans eigenes Land vor und nach der Entführung. Nachdem Rual ihn wiedergefunden hat, kehrt Tristan, nun zum Ritter geschlagen, nach Parmenîe zurück, um die Herrschaft anzutreten. Dies bleibt Intermezzo. Tristan selbst nennt den Zeitraum seiner aktiven Herrschaftsausübung unmange tage (V. 5770; „wenige Tage“), und nachdem Tristan den Hauptfeind seines Landes, Morgan, erschlagen hat, gibt er Parmenîe dauerhaft an Rual als Erblehen ab (vgl. V. 5755– 5811). So vollzieht Tristan räumlich die temporäre Annahme seiner Herrschaft im Herkunftsland sowie deren markiertes Aufgeben (V. 5849: er vuor von lande; er „verließ das Land“). Von hier an spielt Parmenîe keine Rolle mehr, und über den gesamten weiteren Handlungsverlauf hinweg zeigt Tristan kein Interesse an der Rückkehr in sein Herkunftsland. Der Text markiert diese Loslösung emphatisch, indem er Tristan direkt nach seiner Abfahrt als lantlôse (V. 5868) bezeichnet: Der Protagonist ist ein Tristan Ohneland. Wieder ist die Tendenz sichtbar, dass die Emphase auf das Vorausschauen auf das Ziel gelegt wird und nicht auf ein Rückblicken auf den Herkunftsraum. Gegen Ende des Fragments nehmen drei unterschiedliche Orte zumindest teilweise den Charakter solcher Zielräume an. Wie der Beginn ist aber auch dieses Ende von Dilemmata durchsetzt. Der eine Raum, der als eine Art Heimkehr, oder besser Einkehr, für die Liebenden Tristan und Isolde dienen könnte, die Minnegrotte, bleibt nur temporärer Zufluchtsort und ist selbst durchaus ambivalent beschrieben;22 der Ort der Familie, der Hof von Tristans Onkel Marke, ist geprägt von der doppelten Logik des Betrugs; und Karke, wo Tristan eine zweite Isolde

22 Vgl. Müller 2007, 302−304.

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findet, ist bestimmt von Tristans Sehnsucht, woanders zu sein. Hier endet das Fragment, und in seinen ausgefransten Enden zeigt sich das Dilemma als Grundfigur von Gottfrieds Tristan auch räumlich.

4 Achill: Ein zeitweilig ‚verlegter‘ Held Konrads von Würzburg Werke verraten so genaue Kenntnisse der vorgängigen höfischen Literatur, dass es kaum überraschen mag, wenn sie deutliche Erinnerungsspuren und explizite prätextuelle Verweise auf andere mittelhochdeutsche Romane aufweisen. Dies gilt auch für sein unvollendetes opus magnum, den Trojanerkrieg: Einige Elemente in der Gestaltung und Raumsemantisierung der Herkunftsgeschichte Achills zeigen Parallelen zu den oben besprochenen Texten. Was die narrative Raumgestaltung und -semantisierung betrifft, ist einer der prägenden Eindrücke bei der Lektüre des Trojanerkriegs, dass er in der Breite beginnt: in einer gleich im Prolog programmatisch angekündigten Breite von Parallelhandlungen und einer Vielzahl von Handlungsorten.23 Im späteren Romanteil dann wird die Vielzahl der Orte weitgehend aufgegeben, indem die handelnden Figuren von diesen Orten und aus diesen Handlungen heraus an ein Ziel, Troja, kommen. (Achill, um den es hier vor allem gehen soll, kommt als letzter und nach diversen, jeweils stark semantisierten Stationen von seinem Herkunftsort zu diesem Zielort.) In Troja werden die Handlungsfäden zusammengeführt, finden Figuren ihr Ziel in Kampf- und Liebesbegehren. Sie finden dort vermutlich auch in den meisten Fällen ihr Ende, so kann man annehmen, ohne dass das Fragment, sieht man einmal von Hercules und Patroklus ab, überhaupt bis zum Tod der wichtigen Figuren kommt. Konrads Trojanerkrieg hat keinen Protagonisten, keine einzelne Hauptfigur. Ähnlich unproduktiv wie etwa im Nibelungenlied ist auch hier die Frage nach der einen Hauptfigur (Paris? Hector? Helena? Achill?). Die Tatsache, dass es weitere auserzählte und poetisch wie poetologisch relevante Nebenhandlungen gibt, in denen andere Figuren den Status der Hauptfiguren annehmen (Jason und Medea, Hercules und sein in intradiegetischem Erzählen nachgereichter Tod), verstärkt den Eindruck eines Erzählens, das sich komplexem Weltgeschehen über eine

23 Dies ist teilweise auch dem Gebrauch einer Vielzahl von Quellen geschuldet; vgl. Lienert 1996.

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Vielzahl von Teilbiographien nähert. Dies erst schafft dem weltgeschichtlichen Ereignis die Tiefe, die Konrad im Prolog programmatisch anstrebt.24 Trotz der extensiven Einbeziehung von antiken Göttern ist dies eine geographisch-ideologisch nicht-hierarchisierte Welt: So findet die erste größere Zusammenkunft vieler wichtiger Figuren, das Hoffest Jupiters, der als der hübsche got (V. 813; „der höfische Gott“) bezeichnet wird, zur Hochzeit von Têtis etwas unbestimmt in dem lande, also irgendwo in Griechenland statt (V. 808−809). Es ist eine Welt, in der Götter Menschen sind, allerdings begabt mit einer weiten Palette an magischen Fähigkeiten. Anders als in den antiken Texten aber ist dieses erste Fest der einzige größere Anlass für Interaktionen zwischen Menschen und Göttern; sieht man einmal von Têtis ab, bleibt der Einfluss der Götter nach dem Parisurteil eher gering. Das Fest hat große Bedeutung für den Fortgang der Handlung: Auf diesem Fest werden mit der Hochzeit der Eltern Achills und dem Parisurteil die zwei entscheidenden Handlungsstränge initiiert, an deren Ende der Trojanerkrieg steht. Der Seher Prôtheus bringt es auf den Punkt: sich hât zuo dirre hôchgezît / ein kriec erhaben und ein zorn, / dâ von sîn jugent wirt verlorn / und sîn hôher lebetage (V. 4594–4597; „an diesem Festtag hat ein Konflikt und Ärger begonnen, dessentwegen seine [Achills] Jugend und sein wertvolles Leben vernichtet werden“). Mit der Zeugung Achills und der Anwesenheit Hectors beginnt hier auch der Weg der beiden Hauptheroen durch den Text.25 Achills Schicksal legt der Seherspruch bei der Hochzeit schon vor dessen Zeugung fest: Prôtheus weste künfteclîchiu dinc (V. 4549; „wusste von zukünftigen Dingen“) und gibt eine der Bewegungsrichtung des Textes vor: Will er überleben, dann darf Achill nicht nach Troja kommen (V. 4606–4616). Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bewegungen durch die erzählte Geographie im ersten Teil des Textes sind auf diesen Spruch zurückzuführen. Auch Hector wird sterben: Mehrere Erzählervorausdeutungen machen dies deutlich. Es ist die Optionalität des Seherspruchs, die einen Teil der Motivationen des ersten Teils auslösen, da Têtis, Achills Mutter, die Erfüllung dieses Spruchs verhindern will: diu frouwe rîch von hôher art / begunde in allen enden  / dar ûf ir sinne wenden, / daz er ze Troye kœme niht (V. 5812–5815; „die mächtige, hochgeborene Dame begann mit allen Mitteln ihren Verstand darauf zu wenden, dass er nicht nach Troia käme“). Têtis gibt Achill in die Wildnis zum halbwilden Schyron, si wolte in dar ûf ziehen,  / daz er mit strîtes listen  / sich möhte dâ gefristen  / vor schedelicher

24 Zu seinem Prologprogramm bes. Lienert 1996, 17–29; Kellner 2006, 246–261. 25 Achill hat neben Paris die tiefste Vorgeschichte aller Männer, die vor Troia kämpfen. Auch Hector spielt vom Anfang des großen Romanfragments an eine wichtige Rolle, bleibt aber eher statisch der hervorragende Held, ohne eigene Liebesgeschichte und ohne Konflikte.

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vreise (V. 4818–4821; „sie wollte in so erziehen, dass er mit Kampfkunst sich vor Schaden und Schrecken retten könnte“). Durch die Einführung des halbwilden Erziehers und des wilden Landes am wilden Meer wird der Raum als liminale Sphäre semantisiert. Schyron läßt Achill eine Erziehung angedeihen, die ebenso wie er auf der Grenze zwischen animalischer Konditionierung und höfischer Erziehung steht, eine Ausbildung in Kampftechniken, und nachgeordnet auch in höfischen Praktiken. Teil dieser Erziehung ist der Kampf gegen wilde Tiere; dies schließt einen Drachenkampf ein. Der Text zeigt hier, konventionelle Schemata aufrufend, Achills Formung zum exorbitanten Heros und außergewöhnlichen Kämpfer.26 Gleichzeitig ist es Verkehrung der Erziehung, da Annäherung an die Natur ihr Ziel ist;27 und es ist Verwirklichung dessen, was man den art Achills nennen könnte.28 Erst nach der langen Jason-Medea-Erzählung und der ersten Zerstörung Trojas und dem Wiederaufbau, dem erniuwen, der Stadt, also fast 8000 Verse später, stehen Achill und seine Mutter wieder im Fokus der Erzählung. Achills Leben bleibt in der bereits vor seiner Zeugung gestifteten Verbindung mit Troja, deren Wiederaufbau seine eigene Bedrohung reaktualisiert. Têtis, Achills Mutter, arbeitet dieser Zielrichtung entgegen,29 und die Raumgestaltung deutet diese (scheinbare) Optionalität der Richtung auch an: So rekapituliert Têtis in einem Katalog, wohin man Achill bringen könnte, damit er nicht in die Kampfhandlungen vor Troia hineingezogen wird. Abgebildet ist also in der Textgeographie eine Fülle von Möglichkeiten in der griechischen Inselwelt, die aber allesamt verworfen werden. Die Mutter schließlich wählt den Ort, an dem man den männlich konnotierten Held am wenigsten suchen würde. Sie bringt ihn aus dem menschlich-zivilisatorisch marginalen Raum von Peleon, Schyrons Reich, in den geschlechtlich marginalen Raum von Scyros, in dem Männer so gut wie keine Rolle spielen.30 Achill selbst hat dabei keine Mitsprache. Im Schlaf transferiert seine Mutter ihn in eine Blase und läßt ihn dann unter Wasser an seinen Bestim-

26 Der Zusammenhang zwischen Erziehung, Raum und Herkunft verdient nähere Beachtung. Unter Umständen ist Achills Erziehung auch im Kontext eines adligen Erziehungsmodells zu sehen, das Erziehung gerade nicht im Herkunftsraum, sondern an anderen Höfen favorisiert; vgl. dazu für die mittelhochdeutsche Literatur Schultz 1995, 79−91. 27 Vgl. Friedrich 2007, 118; Müller 2007, 60. 28 Vgl. Müller 2007, 59–62. 29 In diesem Sinne kann man Achills Weg mit Cormeau 1979 wirklich als fatal zu verstehen; vgl. aber Worstbrock 1996. Siehe auch Hasebrink 2002 zu Ästhetisierung, Narrativität und Fatalität im Trojanerkrieg, und die Diskussion dieser Fragen bei Bleumer 2010. 30 Dies ist eine deutliche, wenn auch wohl nicht als Rezeptionszeugnis zu lesende, Parallele zur oben besprochenen Fraueninsel im Lanzelet.

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mungsort transportieren. Der unterwegs Erwachende weiß nicht, wer er ist und befragt sich selbst (V. 14094: bin ich Achilles oder niht? „bin ich Achilles oder nicht?“).31 Achill denkt kurz an Alexander den Großen und seine im Mittelalter weit verbreitete Unterwasserfahrt, um dann von seiner Mutter in einer Art schöpferischem Akt zur Jungfrau Jocundille gebildet zu werden, mit Mädchenkleidung und entsprechendem, nur unvollkommen ausgebildeten Gebaren.32 Wieder also wird deutlich: Der eigentliche Herkunftsraum spielt kaum eine Rolle; stattdessen treten stark semantisierte Anderräume ein, die auf der Ebene der Figurengestaltung bedeutungsstiftend sind, im Sinne einer direkten Prägung der Figur auf der Handlungsebene: Achill lernt bei Schyron ja wirklich kämpfen, genau wie er im Frauenland wenigstens teilweise (und trotz Frauenkleidung markiert un-queer) in Liebessemantik und -praxis eingeführt wird. Diese Räume bleiben aber Stationen: Achills vorbestimmter Weg zum großen Schlachtfeld läßt ihn nicht lange in der markiert weiblichen Gegenposition bleiben. Nach der Landung der Griechen vor Troja wird bereits in den ersten Kämpfen deutlich, dass die Griechen gegenüber den Trojanern im Nachteil sind, da Hector körperlich überwältigend ist. Die Griechen, so Ulixes, brauchen einen helt / des lîbes sô gar ûz erwelt / […] / daz er mit manheit überkome / den ellent-rîchen Hectoren (V. 27037–41; „einen Helden von so ausgewählter Körperkraft, dass er durch seine Männlichkeit den starken Hector überwinde“). Man denkt an Achill, dessen Aufenthaltsort durch den Seher Calcas identifiziert wird. Ulixes und Dyomedes fahren als Kaufleute nach Scyros (es ist dies die einzige Passage, an der die Handlung sich nach der Landung der Griechen noch einmal von Troia wegbewegt). Am Gebaren erkennt Ulixes eine, die unvröuweclichen tete (V. 27757; „sich undamenhaft verhielt“). Als er dem König des Landes im Beisein Achills / Jocundilles vom Kampf vor Troja berichtet, fällt Achill fast die Frauenborte aus den Haaren, aber seine Freundin Deidamia macht sie wieder fest. Ulixes legt Waren aus: Frauendinge, aber auch Rüstungsutensilien: Als Achill sich diesen zuwendet, entbrennt er in Kampfeszorn, und ein schilt spiegelt ihm sein Gesicht wieder (V. 28369). Die zweite Identitätsbefragung folgt: bin ich der küene Achilles,  / den Schyron erzogen hât, / wes trage ich denne wîbes wât (V. 28376–78; „Wenn ich der mutige Achill bin, den Schyron erzogen hat, warum trage ich dann Frauenkleidung?“). Es ist nicht irgendein Spiegel, in dem sich Achill sieht: Der Zusammenstoß der Ich-Identifikationen ist deswegen so vehement, folgenreich und unumkehrbar,

31 Achills Frage ist mehr als nur der Tatsache geschuldet, dass er nicht weiß, wo er ist. Im Vergleich mit Iwein stellt Müller 2007, 238–245 die Szene bei Konrad etwas unter den Scheffel. 32 Zum Cross-Dressing in dieser Szene siehe Moshövel 2009. Der Name Jocundille, nur bei Konrad belegt, ist sicherlich spaßhaft gemeint.

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da hier der Spiegel selbst, der Schild, Attribut des primär identifikatorischen Ichs ist, gleichzeitig aber die von der Mutter geschaffene Verhüllung (wât) reflektiert. Zu erinnern ist hier, dass Konrad poietische Verben einsetzte, um zu beschreiben, wie Têtis ihren Sohn zur Frau gebildet (V. 14972 und 15321; „gemacht“) und nâch frouwelicher wîpheit geschepfet (V. 14958–59; „erschaffen nach dem Vorbild hochgeborener Weiblichkeit“) hat. Dass es ebenfalls Têtis’ Impuls war, die ihm die erste, kämpferisch-männlich-animalische Erziehung angedeihen ließ, bleibt hier verborgen. Entscheidend ist der visuelle Selbsteindruck. Dies passt ganz zur Signatur des Textes, der, wie zuletzt von Hartmut Bleumer herausgestellt wurde, an der sprachlichen Erzeugung dominanter visueller Eindrücke arbeitet.33 Im Glanz der Abwehrwaffe (glanz von golde fîn, V. 28369; „Glanz von feinem Gold“) sieht er sich selbst wider glesten (V. 28371; „widerstrahlen“). Es ist diese Selbstreflexion des strahlenden Körpers im Glanz des Kampfgeräts, die Achills – und Hectors – Schicksal besiegelt. Achills Zu-Sich-Kommen, das in Mädchenkleidern unter Mädchen suspendiert war, drückt sich wenig später auf dem trojanischen Schlachtfeld aus. Aus den marginalen Positionen kommt er auf den Schauplatz seiner Selbstwerdung als Kämpfer. Auf diesem Schauplatz glänzt er, so wie er sich selbst im Schild gesehen hat, und findet seinen Widerpart im ebenso glänzenden Hector.34 Hier findet er auch seinen Tod, und wieder ist der Zielraum, der Raum des Werdens, entscheidender als der Raum der Herkunft, der zurückbleibt.

5 Identität und Herkunftsraum Es zeigt sich, dass die Identität des Protagonisten in einer spannungsreichen Beziehung zwischen Herkunftsraum, alternativen Räumen und dem Weg des Protagonisten ausgehandelt wird. In diesem Sinne sind Räume der Herkunft bedeutsam. So ist es für die Sinnstiftung der behandelten Texte wichtig, ob und wie Räume der Herkunft in die Identitätskonstitution der Protagonisten einbezogen werden. Während der Lanzelet ein optimistisches und positives Modell einer Akkumulation von Raumbezügen aufbaut, bieten die anderen untersuchten Texte auffällige Modellierungen einer Problematisierung von Herkunftsräumen, die einhergehen mit Problematisierungen von Identität, Erziehung und Herkommen. Dabei zeigen einige der Romane eine markierte Unsicherheit und

33 Vgl. Bleumer 2010. 34 Zum Glanz und der „Mechanik des glanzvollen Untergang“ in Konrads Trojanerkrieg vgl. Schulz 2008, S. 455–497.

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Ambivalenz der Zuordnung eines Herkunftsraum zu den Protagonisten. Diese Unsicherheiten und Ambivalenzen ziehen sich durch die Romane und haben wesentlichen Teil an ihren Problemstellungen. In allen Fällen sind es Vollzüge von Figurenbewegungen, über die die angesprochenen Identitätsfragen verhandelt werden. Bewegung der Protagonisten durch die Erzählwelt und Identität sind eng gekoppelt. Dabei ist es von Bedeutung, ob diese Bewegungen autonom oder heteronom sind. Zum Beispiel entscheidet Tristan sich selbst dazu, lantlôse zu sein, und unterstreicht dies durch sein Verlassen von Parmenîe. Parzivals und Achills Bewegungen dagegen sind, jedenfalls zu Beginn, heteronom motiviert. Heterotope Ordnungen spielen eine auffällige Rolle in den analysierten Herkunftsraumkonstellationen. Gleichzeitig sollte man festhalten: Es sind nicht die Herkunftsräume heterotop, sondern die diese ablösenden und Ambivalenzen auslösenden Ersatzräume (Schyrons wildes Land und die auffällig weiblich, aber überwiegend nicht mütterlich konnotierten Länder Soltane, Scyros und das Feenreich vom Sê). Der heterotope Charakter dieser Ersatzräume hat sinnstiftende Funktion. Als Räume, „die vollkommen anders sind als die übrigen[,] Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen“,35 bieten sie Gegenräume, in denen zentrale Elemente der Sozialisierung der Protagonisten radikal verändert werden. In allen Fällen haben diese heterotopen Ordnungen ein negatives, dialektisches oder zumindest modifizierendes Verhältnis zur Position Herkunft. In diesem Sinne markieren sie nicht nur die mythische Grundierung der Exorbitanz des Protagonisten, sondern auch spielerische Ersatzpositionen zum oft als krisenhaft wahrgenommenen genealogischen Ursprung und Herkunftsraum.

35 Foucault 2005, 10.

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Coralie Rippl

Raum der Herkunft, Ort des Erzählens Zum Phänomen der anderweltlichen Herkunft im Roman der Frühen Neuzeit

1 Genealogie und Räume der Herkunft in den Melusine-Romanen Skandalon und zeitloses Faszinosum der Geschichte von Melusine und Reymund ist die Verflechtung von menschlicher Genealogie mit dämonischem Ursprung (Erzählschema der Mahrtenehe). Der verarmte Grafensohn Reymund heiratet die Fee Melusine, die ihm zehn Söhne schenkt und dank ihres übermenschlichen Potentials die Gründung eines erfolgreichen Geschlechts mit eigenem Stammsitz, dem nach ihr benannten Schloss Lusinÿen (13, 7),1 und rundum kultiviertem Herrschaftsbereich ermöglicht. Bedingung all dieses Erfolgs ist die Einhaltung eines Sichttabus durch Reymund, der die Herkunft seiner Frau nicht kennt: Samstags darf er Melusine nicht sehen. Als er eines Samstags seinen Schwur bricht und Melusine im Bad beobachtet, erkennt er ihre dämonische Natur, denn dem schoͤn weiplich pilde des Oberkörpers kontrastiert, als Reymund vom Nabel aus abwärts blickt, ein vngeheẅrer blausilbriger Schlangenschwanz (97, 16–22). Dieser Tabubruch hat zunächst noch keine Auswirkungen, erst als Reymund das Geheimnis ihrer tierisch-menschlichen Doppelgestalt öffentlich macht, verlässt ihn Melusine, womit ein Glückswechsel für die gesamte Linie verbunden ist. Dem über Prolepsen bis in die Enkelgeneration hinein erzählten kometenhaften Aufstieg des Geschlechts kontrastiert nun das nurmehr rein menschliche Ausgeliefertsein an Schicksale wie Krankheit und Tod, woran sich die Zerstückelung des Herrschaftsraums durch Erbteilung anschließt. Ich konzentriere mich in meiner Analyse der Melusine-Romane auf die frühneuhochdeutsche Prosabearbeitung Thürings von Ringoltingen (1456), der sehr nah an seiner französischen Vorlage, Coudrettes versifiziertem Roman de

1 Im Folgenden zitiert wird die Ausgabe Müller 1990, 9–176. Die Seiten- und Zeilenangabe erfolgt jeweils direkt nach dem Zitat in Klammern. Vgl. dazu auch die Ausgaben Schneider 1958, Roloff 1991 und Schnyder 2006 sowie einschlägig zur Überlieferung Rautenberg u. a. 2013.

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Mélusine ou Histoire de Lusignan (um 1400)2 entlang erzählt.3 Auf Coudrette sowie eine frühere französische Prosafassung des Stoffes durch Jean d’Arras (1392/93)4 werde ich punktuell eingehen, wo dies für meine Argumentation von Belang ist.5 Bei den Melusine-Romanen sind trotz eines großen Forschungsinteresses am Thema genealogischer Herkunft die zahlreichen im Text inszenierten konkreten Herkunftsräume bisher weniger in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der Themenstellung des Bandes gemäß möchte ich nun den Raum der Herkunft der Protagonisten in der Melusine entlang narratologischer Fragen untersuchen, d. h. mich wird der konkrete Raum der erzählten Welt sowie die narrative Erzeugung dieses Raums interessieren. Besonders im Mittelpunkt stehen sollen dabei die Fragen nach der Relevanz des Herkunftsraums als Schauplatz, Ereignisregion oder erwähnte räumliche Gegebenheit,6 nach den Darstellungstechniken des erzählten Raums allgemein und insbesondere des Herkunftsraums, sowie nach dem Anschluss des Herkunftsraums und seiner Gestaltung an Gattungstraditionen. Wesentliche Anregungen verdanke ich den Arbeiten von Hildegard E. Keller und Christian Kiening, die die besonderen raumzeitlichen Implikationen der Genealogie bereits vielschichtig in den Blick nehmen. Keller tut dies sozialhistorisch kontextualisierend, indem sie die chronologische ‚Vertikalisierung‘ der Erzählstruktur bei Coudrette und Thüring in ihrer Ausrichtung nach ‚oben‘ (Söhne und Enkel = Zukunft der Familie) als genealogisches Narrativ (Stammbaum) und damit Spiegelung einer sich im Zuge des aufsteigenden Bürgertums verändernden Sozialhierarchie deutet.7 Kiening argumentiert stärker poetologisch und zeigt anhand der Höhlenszene, in der Geffroy die Geschichte seines mütterlichen Herkommens erfährt, die Vielfalt raumzeitlicher Ungeschiedenheiten, Paradoxien und Spiegelungen, die vormodernes Erzählen hier anhand des genealogischen Themas durchspielt.8 Die der Melusinegeschichte zugrundeliegende „Matrix genealogischen Denkens“ sei dabei von einem „doppelten

2 Roach 1982. 3 Vgl. zum Verhältnis vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Poetik des Wiedererzählens (Worstbrock 1999) Drittenbass 2011. 4 Stouff 1932. 5 Jean d’Arras ist nicht die Vorlage Coudrettes, man geht von einer gemeinsamen Vorlage der beiden französischen Texte aus. Das Verhältnis der drei Texte – des Jean d’Arras, des Coudrette und Thürings von Ringoltingen – zueinander ist in der Forschung gut aufgearbeitet und dokumentiert, vgl. grundlegend den Kommentar der Ausgabe von Müller 1990 sowie den ausführlichen Vergleich der Texte von Coudrette und Thüring durch Pinto-Mathieu 1990. 6 Begrifflichkeiten nach Dennerlein 2009 und Dennerlein 2011. 7 Vgl. Keller 2005. 8 Vgl. Kiening 2005.

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Prinzip“ geprägt, nämlich „Verknüpfung herzustellen und Übertragung zu ermöglichen.“ [Hervorhebungen im Original] 9 Kiening weist damit auf ein zentrales poetologisches Moment der Melusine-Romane hin, das bei Keller weniger Beachtung findet: Die zeiträumliche Ordnung des Textes ist auf der histoire- wie auf der discours-Ebene äußerst komplex, Linearität nur ein Aspekt davon. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse werde ich zunächst dem nachgehen, was sich bei der Lektüre der Melusine-Romane auf die Herkunftsräume hin als ein dichtes Netz von Vor- und Rückverweisen darstellt, eine Art der Kohärenzerzeugung, die Herkunft und Genealogie anders zu akzentuieren scheint, als das bisher in der Forschung – meist von der Ahnfrau Melusine her – gesehen wurde. Die Herkunftsräume sind dabei, so möchte ich als These formulieren, weniger ‚an sich‘ von Interesse – und das wird sich auch anhand der Art ihrer narrativen Erzeugung nachweisen lassen –, als vielmehr immer Bedeutungsträger mit festem funktionalen Bezug zu den Figuren, die aus ihnen herstammen. Dieser Bezug ist einer des Verweisens (symbolisch, metonymisch), der die Herkunftsräume der Figuren und deren werthafte Besetzung10 präsent hält, ohne sie konkret zu thematisieren.

2 Reymunds Herkunftsraum: Formen metonymischer Raumreferenz Wenn dem Thema des Bandes gemäß nach dem Raum der Herkunft des Protagonisten gefragt wird, so dürfte ich für die Melusine eigentlich nicht mit Reymund beginnen, denn: Melusines ‚Überschuß aus der Anderwelt‘ konkretisiert sich sowohl physisch in ihrer enormen Fruchtbarkeit, der Nachkommenschaft von zehn Söhnen, wie auch kulturell, in ihrem Reichtum und der korrespondierenden Bautätigkeit. Genealogie und Ökonomie werden im Verlauf des Romans durchgängig parallelisiert, beider Fundus scheint grenzenlos zu sein, in jedem Falle übersteigen sie das gewöhnliche menschliche Maß. Melusine, die Ahnfrau, ist die mächtige Herrscherin, neben welcher der Mann an ihrer Seite, Raymond, zu verblassen droht.11

9 Kiening 2005, 10. 10 Zur Semantisierung von Räumen im Kontext der Arbeiten von Lotman 1993 vgl. die Einleitung dieses Bandes, S. 14–15. 11 Kellner 2004, 426.

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Trotzdem haben Coudrette und Thüring eine ganz wesentliche Umstellung in der Erzählchronologie vorgenommen: Während Jean d’Arras matrilinear chronologisch mit der Geschichte der ersten Generation – Melusines Eltern Helmas und Presine – beginnt, setzen Coudrette und Thüring patrilinear mit Reymunds Vater ein. Der Anfang der Geschichte fällt zusammen mit dem Herkommen des männlichen Protagonisten. Welche Rolle spielt dabei der Raum? Reymunds Herkunftsraum wird schon bei seiner ersten Erwähnung als naturhaft besetzter eingeführt: Nun was in dem lannde zuͦ Poitiers vil grosser waͤld und hoͤlczer / besunder hieß ein wald der kürps forst / in dem selben forst was gesessen ein graff der was genannt der Graff vom forst (14, 10–13). Der Graf vom Forst ist Reymunds leiblicher Vater, der im Gegensatz zu seinem vorher eingeführten Vetter, dem Grafen Emmerich von Poitier, nicht über seine Person als Herrscher, sondern über seinen Herrschaftsraum, den Wald, charakterisiert wird, so sehr, dass sogar sein Name lediglich aus der Herkunftsbezeichnung besteht. Der Wald ist in der höfischen Literatur des Mittelalters immer ein von Unbestimmtheit und Fremdheit geprägter Gegenraum zum kultivierten Bereich des Hofes, konkret-räumlich wie semantisch stehen Natur und unkontrollierbare wilde gegen Kultur und Domestizierung. Dass diese werthafte Besetzung noch bei Thüring fortgeschrieben wird, zeigt bereits die Armut des Grafen vom Forst, der die kultivierte, mit Reichtum gesegnete Lebensart des Grafen Emmerich kontrastiv gegenübergestellt wird (vgl. 14). Natürlich ist der Graf vom Forst kein ‚Wilder‘, sondern trotz Armut und seiner ‚Beladenheit‘ mit vielen Kindern ein weÿser redlicher herre (14, 15), das wird mehrfach betont. Man kann das Engagement und die Sorgsamkeit, mit denen hier gegen einen unausgesprochenen Verdacht anerzählt wird, als Bestätigung für die implizit geltende werthafte Besetzung von Natur- vs. Kulturraum deuten. Bereits an dieser frühen Stelle wird der Herkunftsraum Reymunds und damit auch die Figur initial markiert. Graf Emmerich adoptiert, um seinen armen Vetter zu entlasten, den jüngsten Sohn des Grafen vom Forst: Reymund. Während dies zuo poitiers (15, 3), also im kultivierten Herrschafts- und Heimatraum des Grafen Emmerich, anlässlich eines großen dreitägigen Festes – das Fest ist die Kür höfischer Kultur – stattfindet, wird gleich nach dem Ende des Festes und Abschied des Grafen vom Forst die Ereignisregion ausgedehnt auf den Bereich der wilde. Auf einer Jagd verirren sich Graf Emmerich und Reymund im Wald, und zwar nicht in irgendeinem Wald: vnd hieß dises der walde von Columpier (17, 12). Der Wald Columpier – bei Coudrette Forest de Coulombiers12 –, das ist faktisch Reymunds Herkunftsraum.13

12 Coudrette (Roach 1982), V. 179. 13 Auch wenn Thüring die Ortsangabe mit kürps forst (14, 12) einmal falsch ins Deutsche übersetzt und das zweite Mal den französischen Namen übernimmt. Bei Coudrette ist die Ortsangabe

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Jetzt wird also Reymunds Herkunftsraum zur Ereignisregion der Jagd, einer wiederum typisch höfischen Beschäftigung, die in ihrem Verhältnis zur Natur gleichwohl ambivalent ist, weil sie als Kulturhandlung das Risiko des Kontrollverlusts birgt, denn der Jäger muss sich hinauswagen in den gefährlichen Bereich der Wildnis, dem seine Beute angehört. Das wilde schweÿn (17, 6), das der Graf und die Seinen nicht erjagen können und das stattdessen viele der Jagdhunde tötet (vgl. 17, 14–15), repräsentiert denn auch genau jene tödliche Bedrohung durch das Unkontrollierbare. Es zieht die Jagdgesellschaft tief in den Wald hinein (vgl. 17, 8), wobei Reymund und der Graf die Gruppe verlieren, sodass sie nachts beÿ dem monscheÿn in dem wald irre vnd wegloß (18, 8–9) umherreiten.14 Die Anzeichen des locus terribilis (Wildnis, Nacht, Verlorenheit) verdichten sich auf diese Weise in einem als Bewegungsbereich konturierten Raum, der gleich darauf zum konkreten Schauplatz für Graf Emmerichs Tod wird. in dem da horten sÿ beÿd durch das holcz ettwas her brechen Reÿmund der begreiff schnelle sein schwert  / des geleichen der graff seinen spieß  / so kumpt dort her ein groß schweÿn klepffen mit seinen zenen / vnd schoͤmet veintlich […] Der graff zuckte den spieß vnd lieff das schweÿn an vnd gab jm einen stich / vnd traff es nit recht / das jm das schweÿn den spieß abschluͦg / vnd auch in auff die erden nider warff Reÿmund der zucht seines herren spieß vnd wolt das schwey�n treffen / von grossem vngefell so faͤlt er das jm der stich abwy�schet / vnd stieß den spieß seinem herren vnd vettern tÿeff in seinen leÿb Er erzückte wider vnd stach das schwey�n zuͦ recht vnd falte es / da mit kert er sich vmb vnd kam zuͦ seinem herren vnd vettern / den fand er ÿecz so schnell in tods noͤtten ligen vnd verscheiden. (19, 19–20, 10)

Mit dem folgenreichen Unfall (das groß vngefelle, 20, 13) macht die Raumregie den Wald als Reymunds angestammten Herkunftsraum auch zum Schauplatz seines Einstiegs in die genealogische Linie, der untrennbar mit seiner Blutschuld verbunden ist.15 Dank Melusine wird die Tat äußerlich unentdeckt bleiben, die Schuld aber wird von Reymund noch an Ort und Stelle als existentiell vernichtend erkannt: vnd verfluͦcht seÿ die stund in der ich empfangen ward oder ÿe an

beide Male identisch. Vgl. den Stellenkommentar von Müller 1990, 1045, der annimmt, Thüring habe das französische colombier „Taubenschlag“ als cocombre „Kürbis“ gelesen. 14 Vgl. die initialisierende Eberjagd im Partonopier Konrads von Würzburg (Bartsch 1970 [1871], V. 324–688), die zwar zunächst positiv verläuft, Partonopier aber ebenfalls im Wald verloren gehen lässt, was die Begegnung mit der Fee (Schiffsreise ins Reich Meliurs) motiviert. Später eröffnet Meliur Partonopier, dass sie seinem Onkel die Jagdidee zu diesem Zweck eingegeben habe (V. 1866–1873). 15 Vgl. Kellner 2004, 451–452, die den Konnex von Schuld und Gewalt am Ursprung der Familie zeigt und in diesem Zusammenhang vom ‚Vatermord‘ spricht. Liebertz-Grün 1990, 231, zweifelt am ‚Unfall‘ und bezeichnet den Vorfall, bei dem Reymund zudem den Onkel mit dessen eigener Waffe tötet, als „Freudschen Verstecher“.

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die welt kam / wann ich dise getat gegen gott nymmer kan noch mag gebuͤssen (21, 20–21). Zehn Söhne haben Melusine und Reymund, acht von ihnen sind im Gesicht gezeichnet durch morphologische Abnormitäten: So hat etwa der Älteste, Uriens, ein missgestaltetes Gesicht mit breitem Mund, verschiedenfarbigen Augen und großen, langen Ohren. Der dritte Sohn, Gyot, hat ein Muttermal in der Form einer Löwenklaue an der Backe, struppiges Haar, lange, scharfe Nägel und ist insgesamt graussamlich gestalt (49, 4). Geffroy, der sechste Sohn, der ward genant Gefroÿ mit dem zan / der hett einen zan der jm als ein eber zan verr ausser dem mund gieng Der selb was auß der massen starck und wolmügent seins leÿbs Vnd fremder wunderlicher vnd wilder sÿnnen ward vnd noch vil mer denn keiner seiner bruͤder volbrachte (50, 1–6).

Beate Kellner interpretiert die Male der Kinder als „ambivalente Signaturen dämonischer Herkunft“,16 wobei besonders die Tierzeichen für die Vermischung von Mensch und Dämon signifikant seien: „das Wolfshaar, der Eberzahn und die Löwentatze“.17 Gerade das abnorme Merkmal Geffroys aber macht erst Thüring zu einem tierischen Zeichen, bei Jean d’Arras und bei Coudrette ist nur von einem aus dem Mund herausragenden Zahn die Rede.18 Der Sohn, der den anderen gegenüber als exzeptionell hervorgehoben wird, wird über den Eberzahn an den Herkunftsraum seines Vaters und das blutschuldige Ereignis darin rückgebunden: Thüring verdeutlicht den Verweis auf das wilde schweÿn noch durch den Zusatz, dass Geffroy wilde sÿnne (vgl. 50, 5) hat,19 das heißt, dieser trägt das Geschick seines Vaters im Gesicht.20 Und nicht nur im Gesicht, denn

16 Kellner 2004, 444: „In den Nachkommen der Fee scheint die Grenze zwischen Mensch und Dämon, zwischen Mensch und Tier verwischt. Die Spur der dämonischen Schlangenfrau zeichnet sich in den Körpern der Söhne ab, in ihnen wird das manifest, was es theologisch und naturkundlich eigentlich nicht geben darf, eben jene Vermischung von Menschen mit Dämonen oder Tieren.“ 17 Kellner 2004, 444. 18 Vgl. Jean d’Arras: Lystoire nous dit que, la viif e annee enfanta Melusigne le vj e filz, qui ot a nom Gieffroy. Et apporta sur terre une dent qui lui yssoit hors de la bouche plus d'un pousse, etfu nommez Gieffroy au Grant Dent (Stouff 1932, 80). Coudrette: Puis porta Geffroy au Grant Dent; / Une dent en la bouche avoit / Qui grandement dehors yssoit (Roach 1982, V. 1446–1448). 19 Bei Coudrette ist nur von wunderlichen Taten die Rede, Roach 1982, V. 1449–1450: Moult fu fort et moult perilleux / [Et en tous ses fais merveilleux.]. 20 Dass die Zeichen der Söhne als ‚Erzählprogramm‘ für ihr Geschick und das ihrer Linie gelesen werden können, zeigt Uta Störmer-Caysa 1999, 254–255, die ihnen allegorische Bedeutung zuschreibt, womit für die gezeichneten Brüder Horribels (dessen Bösartigkeit von Anfang an außer

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wie Reymunds Herkunftsraum schon das Tierisch-Wilde zum Merkmal hat, so zeigt sich nun das Unkontrollierbare auch als Teil von Geffroys Wesen, der als einziger der Söhne auffällig häufig mit Tiervergleichen belegt wird.21 In dem Moment, als Geffroy mit dem gleichzeitigen Eintreffen zweier Botschaften – der Nachricht, sein Bruder Freymund sei zuhause Mönch geworden, und dem Hilferuf des bedrohten Norheme22 – die Wahl zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten hat, ist er der Dreh- und Angelpunkt für die Richtung der Geschichte, das Schicksal der ganzen Familie: Norheme bedeutet den Aufstieg des Geschlechts und Weg nach vorn im Sinne der älteren Brüder als Möglichkeit der ritterlichen Hilfstat und Erweiterung des Herrschaftsraums,23 Geffroy aber wählt den unheilvollen Weg zurück und ermordet seinen Bruder und 100 Mönche, indem er aus Zorn das Kloster Malliers anzündet. Dies verursacht den öffentlichen Tabubruch Reymunds und das Verschwinden Melusines, damit den Glückswechsel für das ganze Geschlecht. Entscheidend ist nun, wie dieser Umschlagspunkt erzählt ist, denn wieder wird der schäumende und die Zähne fletschende wilde Eber aufgerufen: Do nun geffroÿ verstuͦnd das fraÿmund sein pruͦder in ein geÿstlich leben gangen vnd ein münch worden was / do wart er von zoren pleich vnd grymmig vnd schaumete als ein wildes schwein (107, 12–15), wenig später heißt es: vnd er begund gar ser zornig werden vnd von grymmikeit sein zen in einander peissen (108, 19–21). Dieser Wesenszug des Unkontrollierbaren ist eben nicht mit dem dämonischen Herkommen der Mutter verknüpft, sondern der Text referiert immer, wenn er sich zeigt, auf den Herkunftsraum des Vaters und das, was sich darin ereignet hat.24

Frage steht) „die Spannung zwischen unheilverkündendem Aussehen und hervorragender Bewährung“ (255) inszeniert sei. Dabei muss sie selbst die Einschränkung machen, dass dies eben für Geffroy problematisch ist: „Seine [= Horribels, C. R.] Brüder stellen die Verbindung von seltsamem Zeichen und jenseitiger Dämonie in Frage, sie schreiben sich eine Vita, in der das Zeichen positive Bedeutung gewinnt oder doch, in Geffroys Fall, in seiner negativen Aussage zumindest neutralisiert wird.“ (259) Ich denke, dass die Differenzierungen von Mensch und Dämon/Ordnung und Unordnung bei Thüring zunehmend komplexer und verschwommener werden. So ist es beispielsweise vor allem Melusine, die als Ordnungsstifterin auftritt, während Reymund in seinem unkontrollierten Zorn alles zerstört (vgl. an dieser Stelle die Didaxe des Erzählers, nicht im Zorn zu sprechen, 114, 1–9). 21 Geffroy ist z. B. starck als ein leo (148, 8), und als er das Kloster von Malliers wieder aufbauen lässt, sagt man von ihm: der wolff ist zuͦ einem scheflin worden (153, 2). 22 Das lande Norheme das do leit in dem künigkreich Norwegen (105, 24–25). 23 Vgl. 105, 27–31. 24 Auch ist es Reymund, von dem erzählt wird, er habe die Kontrolle über Geffroy verloren (92, 1–3). Der Eber steht in der christlichen Ikonographie für den Kontrollverlust, insofern er hier als Begleittier der Todsünde ira auftritt, vgl. Braunfels 1972, 135. Interessant ist dabei, dass die Ambivalenz der Ebersymbolik, die Zips 1972 für den Tristan beschreibt, auch für Geffroys Figur

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Während die Zeichnung der erfolgreichen Söhne wie Uriens, Gyot, Anthoni und Reinhart zur Auszeichnung ihrer besonders noblen Taten und damit ihrer Kultiviertheit im Sinne des höfisch-ritterlichen Ethos wird,25 ist Geffroys Zeichnung ein Kainsmal,26 das an die Blutschuld des Vaters rückgebunden wird und diese mit Geffroys eigenen Taten aktualisiert: Aus dem unabsichtlichen Totschlag des Verwandten wird der absichtsvolle Brudermord. Durch das Verbrechen und die Schuld Geffroys wird Reymund auch die eigene Schuld wieder neu: Do gieng er in ein kamer dar jnn beschloß er sich / vnd klagte do gar ser sein herczenley�de vnd iamer vmb das groß übel / so geffroÿ hat an dem closter vnd seinem pruͦder vnd auch an allen münchen begangen die do in dem closter waren die verprant er. vnd vieng do an vnd klagete das übel. so er selbs am grafen von Poy�tiers seinem vettern begangen hett. (112, 23–29)27

Was meine Textbeispiele klarmachen sollten: Ein Geflecht von Verweisen (ein Konnotationsnetz, das über Vergleiche, metaphorische oder metonymische Übertragungen und die Wiederholung von Schlüsselbegriffen funktioniert) schafft eine eigene, an den Herkunftsraum des Protagonisten (Wald, wilde) rückgebundene Struktur,28 die der Aufstiegsgeschichte des Geschlechts bei aller Orientierung nach oben das Scheitern bereits einschreibt und damit eine spezifische Form der Kohärenz ausbildet. Dieses poetologische Verfahren scheint mir demjenigen

gilt: Die Konnotationen der ‚Wildheit‘ und der Stärke kennzeichnen Geffroy als Heros, dieser lebt das Potential in die positive (Held) wie negative Richtung (Rasender, Verwandtenmörder) hin aus, wobei die negative Seite eng an die Figur des Vaters Reymund und dessen Herkunftsraum geknüpft ist. 25 Zur ‚gezeichneten‘ Familie als einer ‚ausgezeichneten‘ vgl. Mühlherr 1993, 26. 26 Vgl. Kellner 2004, 449–451. 27 Geffroy als ‚heimlicher Protagonist‘ (Keller 2005, 219) ist wie ein Alter Ego seines Vaters Reymund. 28 Diese spezifische Form von Raumreferentialisierung scheint mir über den von Katrin Dennerlein ausgearbeiteten Begriff der ‚Inferenz‘ hinauszugehen und auch in die von ihr beschriebenen Formen übertragener Bedeutung von Raum (Dennerlein 2011, 162–163) nicht eindeutig einzureihen zu sein. Dennerlein kategorisiert in erster Linie narrative Techniken, die konkreten Raum in der Vorstellung des Rezipienten erzeugen, ohne dabei „raumreferentielle Ausdrücke“ zu verwenden, vgl. Dennerlein 2009, 197–198, sowie Dennerlein 2011, 158–165; 159. Mir geht es dagegen um Verweisstrukturen, die einen einmal konkret dargestellten Raum sofort symbolisch aufladen und diese Bedeutung auf zweiter Ebene wieder aufrufen, wobei die Referenztechnik selbst als räumliche, nämlich metonymisch an der Oberflächenstruktur des Textes funktionierende beschrieben werden kann. Raum als bloße Kulisse, der also in seiner Konkretheit bestehen bliebe (ohne sofort mit symbolischer Bedeutung aufgeladen zu werden), gibt es in den von mir untersuchten Texten nicht.

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ähnlich, das Armin Schulz für die Erzählung vom Busant beschrieben hat.29 Hier werde laut Schulz über das Umschlagen von Metaphorik und eigentlicher Rede eine Kohärenz an der Textoberfläche erzeugt, z.  B. im Falle des Protagonisten, dem Königssohn aus Engellant, der als engel bezeichnet wird. Später wird intradiegetisch von den Figuren die Vermutung geäußert, die Königstochter – die sich heimlich vom Protagonisten entführen ließ – sei von einem engel entführt worden. Hier ‚kippt‘, so Schulz, die metaphorische in die eigentliche Rede:30 Eine eigene Form der Kohärenz entsteht, also ein ‚roter Faden‘, der auf der Ebene des Erzählens, nicht auf der des Erzählten generiert wird, denn er wird nur durch das Wie des Erzählens, also durch Sprache und Bezeichnung hergestellt. Interessant ist, dass diese an der Textoberfläche zu lokalisierende Kohärenzstiftung im Busant vom Herkunftsraum des Protagonisten und dessen werthafter Besetzung (hier in Form des etymologischen Wortspiels) ausgeht – genauso wie in der Melusine. Schulz sieht durch diese Logik der kontiguitären Verknüpfung auf der Diskursebene eine Handlungslogik (also Kausalzusammenhänge der Handlung, die wir nach heutigem Verständnis als ausschlaggebend werten würden für das Vorhandensein von Textkohärenz) „suspendiert“.31 Ich frage mich, ob man tatsächlich soweit gehen muss, ein ‚entweder … oder …‘ anzunehmen? Vielleicht können auch beide ‚Logiken‘ nebeneinander auftreten? Gerade für die Melusine scheint mir das der Fall zu sein: Die genealogische Linie, die die Erzählung vielschichtig, aber auch in ihren Vor- und Rückgriffen eben immer linear strukturiert, wie Keller unter dem prägnanten Schlagwort der „Vertikale[n] als Erzählformel“32 herausgearbeitet hat, ist ein eminent zeitlich kodiertes Modell logischer Verknüpfung der Handlung als Nacheinander (davor/danach, Grund/Folge). Dem entgegen steht die räumlich kodierte Fortschreibung der an den Herkunftsraum Reymunds gekoppelten Schuld, weil das Netz der Verweise einerseits vom Herkunftsraum der männlichen Hauptfigur ausgeht, andererseits selbst ‚räumlich‘, nämlich als Nebeneinander an der Textoberfläche funktioniert, das die Zeitebenen zusammenführt: Im Eberzahn Geffroys erscheint das wilde Schwein, in seinem Mord am Bruder der Verwandtenmord Reymunds etc.33 Dies ist ein zyklisches Zeitmodell

29 Vgl. Schulz 2000. 30 Vgl. Schulz 2000, 436–437. 31 Schulz 2000, 493. Vgl. Schulz’ weitere Studien zum ‚metonymischen Erzählen‘, Haferland und Schulz 2010 sowie Schulz 2012, 333–343. 32 Keller 2005. 33 Kellner 2004, 462 weist zwar auf den besonderen Zusammenhang zwischen Geffroy und Reymund hin, sieht hier aber vor allem das ‚Dämonische‘ der Mutter durchschlagen: „Gerade das Geschick Geoffroys zeigt, wie die dämonische Kraft in ihrer Tierhaftigkeit durchschlagen und

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der ‚Wieder-Holung‘, das das Eine im Anderen sichtbar macht, vergegenwärtigt,34 sodass Zyklik (Ursprung immer wieder mit aufgerufen, Nebeneinander) und Vertikale (Fortschritt, Nacheinander) sich als zwei konkurrierende Erzählformeln zeigen, die die Melusine prägen. Als Zwischenergebnis ist zunächst Folgendes festzuhalten: Man könnte bis hierher sagen, Thüring betreibe Raumerzeugung im Bereich des Mikroraumes der Handlung mit minimalem narrativen Aufwand, die Darstellung des konkreten Herkunftsraumes zeigt kaum eine ausführlichere Beschreibung des die Figuren umgebenden Raumes, meist nur die punktuelle Nennung einzelner Objekte (Wald, Feuer). Der konkrete Herkunftsraum selbst ist also weniger von Interesse, stattdessen wird er für die Figur funktionalisiert:35 Es werden nur wenige Informationen zu Reymunds Herkunftsraum explizit gegeben, deren werthafte Besetzung aber eindeutig an das dichotome Raummodell des höfischen Romans anschließt (Natur vs. Kultur) und dadurch die initiale Schuld präsent hält. Thüring verstärkt damit ein Verweisnetz auf der discours-Ebene bzw. stellt es selbst erst her (Eberzahn), das den Herkunftsraum erstens mit symbolischer Bedeutung für die aus ihm herstammenden Figuren auflädt und ihn damit zur Determinanten für die Figuren macht, zweitens in auffallender Weise mit einem zeitlichen Aspekt verknüpft, der als zyklische Struktur das genealogische Prinzip der Übertragung ausstellt.

sich negativ entladen kann. Abstrakter formuliert erklärt das Dämonische insofern die auch im Spätmittelalter nicht immer domestizierbaren, sondern sich archaisch bahnbrechenden Formen adlig heroischer Gewalt.“ 34 Vgl. Czerwinski 1993. 35 Die Betrachtung des Himmels und der Gestirne durch den Grafen Emmerich unterstreicht dies noch, denn es geht hier nicht um ‚Naturbeobachtung‘, sondern um Astronomie, die nach mittelalterlichem Verständnis das einschloss, was wir heute unter Astrologie verstehen: Als guͦtter Astronomus (18, 13–14) orientiert sich der Graf anhand der Sterne nicht geographisch, sondern liest aus ihnen die Zukunft – seine Prophezeiung, umfassender Erfolg für denjenigen, der jetzt seinen Herrn tötet, wird sich in Reymund sogleich konkretisieren. Was hier deutlich wird, ist eine das mittelalterliche Raumverständnis prägende kosmologische Entsprechung von Gestirn- und Weltlauf: Der Mensch findet seinen Weg in den Sternen vorgeschrieben, umgekehrt wird seine ‚Umwelt‘ nicht an sich wahrgenommen, sondern trägt eine Bedeutung, die auf den Menschen hin ausgelegt wird.

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3 Melusines Herkunftsraum: Der Blick nach innen und zurück Wo kommt Melusine her? Bei Jean d’Arras, der seine Erzählung matrilinear beginnt, ist ihr Herkunftsraum deutlich eine andere Welt, nämlich Avalon, nommé l’Ille Perdue.36 Avalon ist die Insel, auf die König Artus entrückt wurde, eine Feeninsel.37 Dorthin geht Melusines Mutter Presine nach dem Tabubruch ihres Mannes, König Helmas von Albanie (Schottland), und zieht ihre drei Töchter groß, deren jüngste Melusine ist. Dieser Herkunftsraum ist auch Ereignisraum, denn hier beschließen die Schwestern, den Vater aus Rache in den Berg Brumbloremllion in Norhonbelande (Northumberland, die nördlichste englische Grafschaft an der Grenze zu Schottland) einzuschließen.38 Es ist dieser geographisch zu lokalisierende Ort der Rachehandlung, ein Berg in Northumberland, der bei Coudrette und Thüring unter dem Namen Avalon firmiert. 39 Von einem Feenreich ist keine Rede mehr.40 Während für Reymund ein Herkunftsraum noch vor seinem ersten Auftritt konkret modelliert wird, ist Melusines Erscheinen auf der Bühne der Erzählung ein plötzliches und unangekündigtes: Sie steht auf einmal da. Ihr Erscheinungsort aber ist alles andere als zufällig zu nennen, auf ihn möchte ich zunächst das Interesse fokussieren. Reymund erleidet nach dem Jagdunfall einen totalen räumlichen und zeitlichen Orientierungsverlust: das ich nit kund wissen ob ich tod oder lebendig was / wann ich was also von mir selbs kommen das ich nit weste was

36 Jean d’Arras (Stouff 1932), 10–11. Kein Mensch kann, auch wenn er schon da gewesen ist, dorthin zurückkehren, außer par aventure. 37 Vgl. Müller 1990, 1042. 38 Jean d’Arras (Stouff 1932), 11. 39 Vgl. Coudrette (Roach 1982), V. 4411, 5047, 5277. Thüring macht aus Coudrettes Norhombelande kurzerhand Norheme, das do leit in dem künigkreich Norwegen (105, 24–25); offenbar hat er mit dem Namen nichts anfangen können, so Müller 1990, 1071. Der perg Awelon begegnet u. a. 138, 3 und 143, 2 (Kapitelüberschriften) sowie 139, 8 und 146, 31. 40 Bei Thüring in der Vorrede lesen wir gar, Melusine sei auß dem berg Awalon kommen […] / der selb berg ley�t in franckreÿch (11, 3–4). Der ‚fremde‘ Klang des Namens Avalon wird mit dem des bekannten Nachbarlands Frankreich kaschiert, und wenn das Bemühen, der Protagonistin Melusine eine diesseits verortbare Herkunft anzudichten, hier auch allzu aufgesetzt ist – schließlich liegt der Berg Awelon in der Erzählung dann in Norheme (Norwegen) und nicht in Frankreich –, so ist doch bereits ein Erzählprogramm zu erkennen: Melusines anderweltlicher Herkunftsraum ist ausgespart, stattdessen wird sich um Ersatz bemüht, und diesen bieten die Orte, an denen Melusine die für ihre Geschichte wichtigen Handlungen vollzieht (so z. B. die Berghöhle).

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ich tett oder wo ich was (23, 12–14). In diesem Zustand erreicht er einen Brunnen genant der turst brunn (22, 4–5), neben diesem steht Melusine. Warum steht Melusine ausgerechnet bei einem Brunnen? Vergleicht man hier wiederum mit Thürings Vorgängern Jean d’Arras und Coudrette, so fällt auf, dass Jean d’Arras die Quelle bzw. den Brunnen41 als Erscheinungsort für Feen schlechthin zeigt. Die magische Vorstellung vom Wasser als Element des Übergangs, als einer Grenze zwischen den ‚Welten‘, die zugleich trennt und verbindet, ist hier noch deutlich wirksam. Schon der König Elinas (Helmas) findet die Fee Presine an einer Quelle (une moult belle fontaine), als ihn bei der Jagd großer Durst überfällt.42 Dieses Ereignis scheint mit aufgerufen, wenn Remondin (Reymund) auf Melusigne trifft, wieder an einer Quelle, die diesmal den Namen ‚Durstquelle‘ trägt und aufgrund außergewöhnlicher Vorkommnisse auch als ‚Feenquelle‘ bekannt ist.43 Zudem kennzeichnet sie ihre abgeschiedene Lage in einer wilden Schlucht, umgeben von Felsen und Wald, als Sonderort, Mitternacht und Mondschein indizieren die Sonderzeit.44 Diese räumlichen und zeitlichen Kennzeichen des Ortes als eines Grenzbereichs zwischen dieser Welt und einer anderen laden ihn mythisch auf.45 Sie sind bei Coudrette bereits ausgespart, dennoch wird der Name und die anderweltliche Konnotation übernommen, indem erzählerauktorial die Entstehung der Quelle auf das Wirken von Feen zurückgeführt wird.46 Bei Thüring ist der turst brunn zunächst wie selbstverständlich in die Topographie der ‚bekannten‘ Welt der Geschichte integriert. Reymunds zielloses Herumirren

41 Das französische fontaine kann, wie das mhd. brunne, beides heißen, aus dem Kontext scheint jedoch zumindest bei Jean d’Arras zu erhellen, dass hier eine natürliche Wasserquelle ohne menschliche Befestigung in der Wildnis vorgestellt ist. Dass bei Thüring im Zuge der Relativierung mythischer Elemente auch die Wasserquelle durch menschliche Befestigung kultiviert ist, zeigt etwa der Holzschnitt des Erstdrucks von 1474 (München BSB, Inc. c.a. 295), der eine holztrogartige Einfassung der Quelle darstellt, vgl. die Abbildung bei Müller 1990, 22. 42 Jean d’Arras (Stouff 1932), 6. 43 Jean d’Arras (Stouff 1932), 23: Et arriva sur une fontaine nommee la Fontaine de Soif, et aucuns la nommerent la Fontaine Faee, pour ce que mainte aventure y est avenue du temps passé et avenoit de jour en jour. („Und er kam zu einer Quelle, der sogenannten ‚Quelle des Durstes‘, und einige nannten sie ‚die Feenquelle‘, weil in der Vergangenheit so manches außergewöhnliche Erlebnis sich dort ereignet hat und sich von Tag zu Tag noch ereignet.“ Übers. C. R.) 44 Jean d’Arras (Stouff 1932), 23: Et chevaucha tant que la nuit le prist et que il fu myenuit. […] Et estoit la fontaine en un fier et merveilleux desrubaux, et avoit grans rochiers au dessus et belle praierie au long de la valee, oultre la haulte forest. Et la lune luisoit clere. („Und er ritt so lange, dass die Nacht hereinbrach und es Mitternacht wurde. […] Die Quelle lag in einer mächtigen und wilden Schlucht, große Felsen über ihr und schönes Grünland das Tal entlang, jenseits der tiefe Wald. Und der Mond leuchtete hell.“ Übers. C. R.) 45 Vgl. zur Mythizität von Sonderraum und Sonderzeit Schulz 2012, 310–321. 46 Coudrette (Roach 1982), V. 485–486: La Fontaine de Soif jolye / Qu’on dist qui vient de fayerie.

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in der Wildnis führt ihn also zu einem Ort, der erzählerauktorial als bekannter und zu lokalisierender Punkt der fiktiven Welt ausgegeben wird. Dass es sich hier um einen Ander-Ort handelt, erfahren wir erst im Nachhinein aus der Figurenperspektive des neuen Grafen Bertram von Poitiers: Er habe gehört, man habe dort schon oft fremder wunder vnd abenteẅr (33, 5–7) gesehen. Obwohl es der Handlungschronologie gemäß Nacht sein muss, wird darauf nicht hingewiesen, und es entsteht der Eindruck, die Szene am Brunnen spiele sich tagsüber ab (22–27). Die mythischen Konnotationen sind also weitgehend zurückgenommen, indem sie auf Andeutungen reduziert und als ein Hörensagen in die Figurenperspektive verlegt werden.47 Zu erklären ist diese das Mythische an der Oberfläche relativierende Bearbeitungstendenz sicherlich mit der Inanspruchnahme Melusines als Ahnherrin christlicher Adelsgeschlechter bei Coudrette und Thüring,48 woraus sich eben jene Spannung zwischen Zeichnung und Auszeichnung (Dämonie und Potential) des Geschlechts ergibt. Schon in der Brunnenszene betont Melusine ihre Rechtgläubigkeit und beweist sie mit dem Aufsagen des Glaubensbekenntnisses (25, 3–10). Das Anderweltliche ihrer Herkunft wird jedoch weniger getilgt als vielmehr sublimiert, unter die Oberfläche und ins Innere gerückt. Indem Thüring den Ort des Brunnens und dessen seltsam tautologischen Namen als ‚realgeographisch‘ übernimmt, wächst gerade dem Raum eine symbolische Bedeutung im Hinblick auf Melusines anderweltliches Wesen zu, das von der Textoberfläche der Handlung mehr und mehr verbannt wird. Der Brunnen verweist nun bereits auf ihre wahre Identität als merfey�in (Wasserfee).49 Er hat wie Melusine einen oberen, sichtbaren und einen unteren, unsichtbaren Teil. Als Vertikale führt er

47 So weiß etwa Reymund beim Anblick der wunderschönen Melusine trotz ihrer adeliche[n] gestalt (22, 6–7) zunächst nicht, ob das ein gespenst oder fraw waͤr (23, 1). 48 Vgl. Müller 1990, 1025. Coudrette dichtet für die Herren von Parthenay, sein Auftraggeber ist Guillaume VII. Larchevêque (Abschluss des Werks zw. 1401–1405, vermutl. vor 1403), Thüring für den Markgrafen Rudolf von Hochberg, Graf von Neuchâtel (Abschluss 1456), vgl. Müller 1990, 1020–1021. 49 Coudrette gibt in seiner Vorrede lediglich die Information, die Stammmutter Melusine sei eine Fee gewesen (Roach 1982, V. 75–76). Thüring dagegen teilt schon in der Vorrede alle wichtigen Informationen zu Melusine mit: Bereits im ersten Satz heißt es, sie sei ein merfaÿm gewesen und alle samstag von dem nabel hin vnder ein grosser langer würm / dann sÿ ein halbe gespenste was (11, 2–6). Eine Strategie der Informationsvergabe vorab, die sich auch in den ständigen auktorialen Vorhersagen und Warnungen abzeichnet. Die aus solcher Informiertheit resultierende Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das ‚Wie‘ des Erzählens betont Thüring selbst, wenn er in der Vorrede im Folgenden die Fragen des Rezipienten antizipiert, deren erste lautet: Wie aber sich die genant Melusina erzeÿgte am ersten […] werdent ir alles hernach hoͤren auff das kürczest (12, 19–23). Damit ist die Brunnenszene explizit markiert.

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ins Erdinnere und damit raumsemantisch zurück in der Zeit. Es wird hier ein Prinzip der Blicklenkung sichtbar, das alle zentralen Szenen um die Herkunft Melusines regiert: der Blick nach innen, auf ein verborgenes Geheimnis, das auf den Ursprung verweist. Die Tautologie des Namens ‚Durstbrunnen‘ steht nun – aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst – in ihrer Analogie von Problem und Lösung für das Verhältnis von Reymund und Melusine: Wie der Brunnen den Durst löscht, hilft Melusine Reymund aus seiner Notlage, sie zeigt dem Raumlosen, dem der eigene Herkunftsraum unzugänglich geworden ist, einen Weg auf, sich eine neue Herrschaft zu gründen. Genaugenommen ist die Problem-LösungAnalogie eine wechselseitige, denn für Melusine ist die Verbindung mit Reymund die Möglichkeit, ihren Fluch abzulegen und zur Sterblichen zu werden.50 Melusine und Reymund sind also zwei, die ihre Herkunftsräume verloren haben, sie sind buchstäblich ohne Raum, wie ihr Aufeinandertreffen im ‚Niemandsland‘ zeigt, dessen einzige erzählte räumliche Gegebenheit der Durstbrunnen ist. Was sich nun, nach dem Bündnis der beiden, anschließt, ist die Konstituierung eines neuen Herkunftsraums als Ausgangspunkt für das eigene Geschlecht. Äußerst interessant scheint mir dabei das Verfahren der ‚Raumerschließung‘ durch Ausdehnung von einem Punkt aus, auf dessen Beschreibung großer Wert gelegt wird. Melusine weist Reymund an, vom neuen Grafen Bertram ein Lehen zu fordern, nämlich so viel Land, wie er in eine Hirschhaut einschließen könne (27, 1–3).51 Das Ganze müsse als hie an diser stat vnd bey� disem brunnen (26, 29–27, 1) stattfinden, und so wird es dann auch gemacht: Zwei Unbekannte nehmen die in feine Riemen geschnittene Hirschhaut, die steckten einen pfal auff ein ort in die erden  / vnd bunden das ein ortt des langen hirß riemen an den pfal vnd vmbzugen da den velß vnd den vorgenanten turst brunnen / vnd gar ein michle weÿte des tals darunder auff den bach hin der da floß (32, 3–7).52

Das Abstecken des Besitzes vollzieht sich rund um den Durstbrunnen, dieser bildet gewissermaßen das ‚Zentrum‘ des neuen Herrschaftsraums.53 Er sym-

50 Dies erfahren wir aus der beschrifteten Steintafel von Melusines Mutter Presine, die Geffroy in der Berghöhle am Grab des Königs Helmas (Melusines Vater) findet (139, 24–140, 2), dazu siehe unten. 51 Das ist dieselbe List, mit der Dido in Vergils Aeneis das Land zur Gründung Karthagos erwirbt (1, 368), vgl. Eneasroman (Kartschoke 2004), V. 313–337. 52 Auch hier ist die Spannung zwischen der Wirkung anderweltlicher Mächte und der rationalen Erklärung durch List spürbar. 53 Der Erstdruck-Holzschnitt zu diesem Kapitel stellt es genau so dar: Abgebildet sind die Männer, die mit dem Riemen aus Hirschhaut vom Brunnen in ihrer Mitte ausgehen, vgl. Müller 1990, 32.

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bolisiert, dass der Aufstieg des Geschlechts, jene Vertikale der genealogischen Erfolgsgeschichte (Keller), die scheinbar hier gründet und kontinuierlichen Fortschritt bedeutet, nach innen-unten (räumlich) und in die Vergangenheit (zeitlich) verlängerbar ist, also einen Ursprung vor dem Ursprung verbirgt. Die Befreiungs- und Eroberungsaventiuren der Söhne und Enkel zeichnen in Zeitschichten genau jene räumliche Bewegung der Ausweitung des Herrschaftsraums nach, die hier in nuce vorgezeichnet ist. Und auch der Blick nach innen und zurück, durch den Brunnen angedeutet, wird auf der Handlungsebene realisiert. Analog dem Aufbau des neuen Herkunftsraums aus einem bekannten Außen- und einem unbekannten Innenraum, gibt es in der Burg Lusinÿen, die Melusine erbaut und nach ihrem Namen benennt (45−46), eine Kammer, die Reymund nicht betreten darf: Sie dient Melusine zuͦ irer heÿmlikeÿt (96, 31) und ist mit einer eisernen Tür verschlossen (97, 1); immer samstags hält sich Melusine hier auf. Im Innersten des weiten Herrschaftsraums gibt es also diesen ‚blinden Fleck‘ der Unkenntnis für Reymund, der hier konkret räumliche Gestalt erhält. Als Reymund eines Samstags entgegen seines gelüb vnd eide (95, 31) das Tabu bricht und ‚wissen‘ will, macht er mit dem Schwert ein Loch in die Tür und sieht Melusine im Bad: […] sÿ was von dem nabel auff auß dermassen vnd vnaußsprechlich ein schoͤn weiplich pilde von leÿb vnd von angesicht vnseglichen schoͤn  / Aber von dem nabel hinab do was sy ein grosser langer veÿntlicher vnd vngeheẅrer wurmes schwancz von ploer lasur mit weisser silberin varbe. vnd darunder silberin troͤpfflin gesprenget vnder eÿnander. als dann ein schlang gemeingklich gestalt ist. (97, 16–22)

Nur bei Thüring ist der Nabel das zentrale Element der descriptio Melusines. Während Jean d’Arras und Coudrette Reymund von oben nach unten schauen lassen, damit die Beschreibungsrichtung gemäß mittelalterlicher Poetik a capite ad calcem verläuft,54 blickt Reymund bei Thüring nicht nur als erstes auf den Nabel Melusines, sondern auch explizit vom Nabel aus nach oben und nach

54 Zwar ist auch bei Jean d’Arras (Stouff 1932), 242, der Nabel prominent als Trennungslinie der beiden Körperhälften, aber die Beschreibungs- und damit Blickrichtung geht von oben nach unten: […] et [Remond] voit Melusigne en la cuve, qui estoit jusques au nombril en figure de femme et pignoit ses cheveulx, et du nombril en aval estoit en forme de la queue d’un serpent, […]. („und Remond sah Melusine im Bad, die bis zum Bauchnabel die Figur einer Frau hatte und ihre Haare wusch, und vom Bauchnabel aus abwärts hatte sie die Form eines Schlangenschwanzes“; Übers. C. R.). Bei Coudrette (Roach 1982), V. 3065–3076, ein ähnlicher Befund: Jusqu’au nombril la voit si blanche / Comme la nege sur la branche, / […] Maiz queue ot dessoubz de serpent, / […]. („Bis zum Bauchnabel sah er sie so weiß sein wie Schnee auf einem Ast, […] aber darunter hatte sie einen Schlangenschwanz“; Übers. C. R.)

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unten. Der Nabel, selbst rund geformt, impliziert bei Thüring eine kreisförmige Lenkung des Blicks und er steht damit ganz im Zeichen einer zyklischen Erzählstruktur: Er ist das Signum der Herkunft, des Ursprungs, und verweist hier insofern gleichermaßen auf Melusines noch immer verborgene Familiengeschichte wie auf die genealogisch fragwürdige Identität der Söhne Reymunds. Reymunds Blick ins abgeschlossene Innerste seines Hauses enthüllt die weibliche Badekammer als ‚Heterotopie‘.55 Es zeichnet sich damit eine topologische Umbesetzung von Raumsemantik ab, die gerade für die Frühe Neuzeit spezifisch ist: Das Fremde und Unheimliche, hier die anderweltliche Herkunft der Ehefrau, ist nicht mehr draußen, in der Ferne verortet (Aventiure), sondern drinnen, im Haus, also in der Nähe des ‚eigensten‘ Lebensbereichs. Auf diese Art wird das ‚Heimliche‘ im ursprünglichen Sinne, nämlich das, was zum Heim gehört und deshalb vertraut ist,56 in sein Gegenteil verkehrt: Das Unwägbare, das Unheimliche bedroht die Protagonisten im frühneuzeitlichen Erzählen deshalb auf eine virulentere Art und Weise als etwa jene des höfischen Romans, weil es jetzt nicht mehr von Außen kommt, sondern von Anfang an unerkannt im Innersten sitzt und die Identität der Figuren von dort her implodieren lässt. Reymunds Blick ist ein Blick in die ‚andere Welt‘ und damit zugleich in eine andere Zeit: Das samstägliche Baderitual kaschiert die Unbedingtheit einer zyklischen ‚Heterochronie‘, nämlich der Verwandlung des Schlangenleibs. Wie der Brunnen die Verknüpfung von Raum und Zeit bereits andeutete, so wird sie hier evident in der Zyklik des mythischen Verwandlungszwangs, der Reymund mit dem Blick durch die Tür auf das ‚Jetzt‘ zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen lässt.57 Was für den männlichen Protagonisten Reymund bereits deutlich wurde, gilt auch für die Protagonistin: Das Moment der Zyklik bindet Melusine an den Herkunftsraum (Wasser, Anderwelt) zurück und steht damit quer zur genealogischen Fortschrittsteleologie.

55 Vgl. Foucault 1993. Die Überlegungen Foucaults zur Heterotopie scheinen mir hier trotz ihrer Ahistorizität auf einer abstrakten Ebene interpretatorisch fruchtbar zu machen zu sein, weil sie erkennen lassen, dass die Heterotopie, durch ihre Lage mitten in der Gesellschaft und doch abgeschlossen von dieser, immer von der Gesellschaft her gedacht und konstituiert ist, insofern deren spezifische soziale Strukturen spiegelt. Zur Verwendung des Begriffs der ‚Heterotopie‘ aus mediävistischer Perspektive außerdem Schulz 2012. 56 Vgl. Lexer 1 (1872), 1217, s. v. heimelich, heimlich, heinlich. 57 Die Verschränkung der drei Zeitebenen wurde bei der ersten Begegnung mit Melusine am Brunnen außerdem evident durch Melusines Wissen über Reymunds Vergangenheit und seine Zukunft, die sie vielschichtig auf das ‚Jetzt‘ des beiderseitigen Zusammentreffens bezieht, vgl. 23, 28–27, 22.

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4 ‚Mise en abyme‘: Im Herkunftsraum vom Herkunftsraum erzählen Ich möchte Geffroys Fund der mütterlichen Familiengeschichte in der Berghöhle in diesem Sinne als Höhepunkt des Aufeinandertreffens von Zyklik und Vertikale lesen, da nun dem Fruchtbarwerden des prekären Herkunftsraums als ‚Generator‘ neuer Herkunftsräume, die sich bis in die Enkelgeneration hinein multiplizieren, die Restitution des verlorenen Herkunftsraums gegenübergestellt wird. Es steht zu vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen der bisher aufgezeigten Konstellation und dem Auftreten komplexer Erzähltechniken wie der ‚Erzählung in der Erzählung‘ oder der ‚Mise en abyme‘ gibt, dass ein verlorener oder beschädigter Herkunftsraum in der Poetik der Frühen Neuzeit als Erzählgenerator fungiert. In doppelter Hinsicht: Denn nicht nur das Erzählen dreht sich um das neu Entwerfen und Restituieren eines Herkunftsraums, sondern auch das erzählte Erzählen. Die Frage nach der Situativität des ‚Erzählens im Erzählen‘ ist hier zudem interessant, weil die zentrale – eine große Menge an Erzählzeit wie an erzählter Zeit umfassende – Metadiegese in der Melusine in einem Herkunftsraum situiert ist, der damit von der ‚Ereignisregion‘ zum ‚Erzählraum‘ wird.58 Kurz zur Situation: Geffroy trifft in Norheme ein, das unter der Schreckensherrschaft des Riesen Grymmolt leidet. Dieser lebt auf einem Berg, wo Geffroy ihn zum Kampf stellt, schwer verwundet kann sich der Riese jedoch durch ein Felsloch ins Innere des Berges flüchten. Geffroy verfolgt ihn und findet im Bergesinneren eine Höhle, die zur Grabkammer des Königs Helmas wurde, als seine drei Töchter Melusine, Meliora und Palantine ihn aus Rache für seinen Tabubruch ihrer Mutter Presine gegenüber darin einschlossen – denn er hatte Presine entgegen seines Schwurs im Kindbett besucht. Nach seinem Tod hat Presine sich an ihren Töchtern gerächt, indem sie sie mit unterschiedlichen Flüchen belegte, und sie hat Helmas in dieser Höhle ein Grabmal errichtet. All dies liest Geffroy als in der Ich-Erzählung Presines. Sie steht auf einer Tafel geschrieben, welche Teil des Grabmals des Königs Helmas ist: Zu Füßen seiner steinernen Liegefigur befindet sich ein gehawen frawenpilde (138, 7), das die Tafel in Händen hält. Die poetologische Raffinesse dieser Szene als ‚Mise en abyme‘ ist bereits hinreichend gezeigt worden.59 Sie ist auch vom Aspekt des Herkunftsraums her betrachtet ausschlaggebend, denn das Land von Melusines Vater, Geffroys

58 Unter dem Begriff des ‚Erzählraums‘ verstehe ich nach Dennerlein 2009, 126–127 einen erzählten Raum, in dem auf einer zweiten Ebene wiederum erzählt wird. 59 Kiening 2005; Keller 2005.

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Großvater, wird mit ihr zum Schauplatz. Aus der vermeintlichen Ereignisregion einer erneuten Herrschaftsnahme wird der Schauplatz für eine Erzählung vom Herkunftsraum selbst, der paradoxerweise ‚bis ins Unendliche‘ entzogen bleibt, so weit Geffroy sich ihm auch annähert. Tatsächlich wird mit Presines Ich-Erzählung und den zahlreichen Deiktika60 „das raumzeitliche und personale Orientierungszentrum“61 hier verortet, in einer Grabkammer, die in einer tiefen Höhle liegt, die in einem Berg liegt, der im Land von Melusines Vater steht. Der Text inszeniert sich damit kunstvoll selbst als „Ort des Geheimnisses“62 und führt vor, was er selbst macht: Im Erzählen vom Herkunftsraum Herkunft stiften (Keller), aber eben nicht, indem ein konkreter Herkunftsraum fassbar würde, sondern indem dieser immer weiter in ein räumliches Innen und ein zeitliches Vorher versetzt, immer mehr entzogen wird. Durch das Mittel der Metadiegese wird der Höhlenraum zu einem ‚Erzählraum‘ und die Erzählung zweiter Ordnung ist nun der ‚Ort‘, an dem der verlorene anderweltliche Herkunftsraum sozusagen als Fluchtpunkt all seiner Ersetzungen und ihrer symbolischen Verweisstruktur aufscheint, jedoch nur in einer Andeutung Presines zu ihrem Verbleib nach dem Verlassen des Königs Helmas: vnd also schied ich von im vnd fuͦrt mein toͤchter mit mir dohin. vnd es west mein gemahel noch ny�emandt nit wo ich oder die toͤchter ÿe bekamen. (138, 19–139, 3) Anhand der Höhlenszene werden die wesentlichen Aspekte des Erzählens vom Herkunftsraum in der Melusine abschließend deutlich: (1) die Entdeckung des Innenraums, (2) die Determiniertheit der Figuren vom Herkunftsraum her (Motivation von vorn), (3) die Ungeschiedenheiten von Raum und Zeit. (1) Was die beiden vorher analysierten Szenen – Reymunds Begegnung mit Melusine und sein Erblicken ihrer wahren Gestalt durch das Loch in der Tür – im Bezug auf die symbolische Funktion des Raumes beobachten ließen, verdichtet sich jetzt: Der Innenraum als Ort des Geheimnisses wird von Geffroy erkundet – worin sich eine Steigerung der drei hier vorgestellten Schlüsselszenen unter dem Aspekt der Wahrnehmung von Innenraum festhalten lässt, von der Andeutung über den Blick hinein bis hin zum Betreten. Diese ‚Entdeckung des Innenraums‘ gilt nicht nur auf der Handlungsebene für die Figur Geffroy, sondern genauso für den Text, denn im Vergleich zu einem eher punktuell und ohne großen Beschrei-

60 Vgl. 138, 8: Dises ist der durchleüchtig vnd großmechtig künig Helmas […] der hie begraben leit. 139, 7: so hie gegenwertig leit; 139, 15–18: do bestettiget ich in vnder disen stein so hie gegenwertig steet / Vnd ich ließ dieses grab also machen vnd darauff sein gestalt hawen Darumb das die / die dise tafel ansehen oder lesen sein ingedenck weren. 61 Dennerlein 2011, 160. 62 Kiening 2005, 3.

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bungsaufwand, meist erzählerauktorial erzeugten Außenraum, werden nun verschiedene narrative Darstellungstechniken verwendet wie figural-fokalisierte Raumwahrnehmung, Beschreibung, Kommentar und Metadiegese.63 Genau wird aus der Figurenperspektive beschrieben, wie Geffroy das Loch im Felsen sucht, ins finstere Bergesinnere gelangt und sich dort vorantastet: DO suͦchet er das loch so lang vnd vil piß das er es vande […] vnd ließ sich an seiner glene [Lanze, C. R.] vnder sich in den vinstern vngeheẅren velsen / vnd do er hinab kam / do nam er sein glen beÿ dem einen ende eisenshalb vnd suͦchte allenthalben ob er moͤcht den risen vinden. […] do er vand einen schein des tages do nam er sein glen fuͤr sich / vnd tastete mit der glene piß das er ein schoͤne kamer vand. dieselb in den velsen gehawen was vnd nit mer dann ein thuͤr hette / vnd also beschawet er die kamer vnd den reichtum so dar jnnen was. (137, 1–23)

Die descriptio des Kammerinneren und des Grabmals schließt sich direkt an (137, 24–138, 8) und behält im Modus der Annäherung von außen nach innen, vom Gesamteindruck zu den Details, die Perspektive des sich dem Grabmal nähernden Geffroy bei:64 Es was auch auff dem erhaben kosparlichen vnd schoͤnen grabe gehawen von Calcedonien [aus Chalcedon, C. R.]65 ein künig gewoppenet vnd gekroͤnet also ligende vnd was dabeÿ zuͦ desselben künigs fuͤssen ein gehawen frawenpilde / das hett ein tafel in den henden dar jnnen stuͦnd geschriben. (138, 4–8)

Die Schrift der Tafel resp. Erzählung der Presine folgt direkt darauf, so als würde Geffroy sie in diesem Moment lesen. Die Blickrichtung nach innen wird in dieser Szene also beibehalten, die narrativen Mittel der Raumdarstellung gestalten einen – für den Rezipienten im Verbund mit der Figur – schrittweise zu entdeckenden Innenraum, dessen Objekte eine Spur legen für einen Weg immer noch weiter nach innen, zum Geheimnis der Herkunft. Dieser Weg wird dann aber einer sein, der nicht im Raum, sondern nur in der Zeit beschritten werden kann: im Modus der Erzählung.

63 Terminologie vgl. Nünning 2009, 45–46. 64 Einzig der erklärende Zusatz nach der Erwähnung kostbarer Edelsteine, mit welchen das Grab geziert ist, dann der edeln stein auch gar vil wuͦchssen in demselben perg (137, 29–30), könnte als auktorialer Erzählerkommentar aufgefasst werden, wobei Geffroy dies auf seinem Weg zur Grabkammer im Lichtschein auch gesehen haben kann. 65 In mittelalterlichen Beschreibungen ist der Chalcedon meist als bleicher, trüber Stein charakterisiert, ein „Halbedelstein von milchig-weißen oder grauen Tönen“ (Müller 1990, 1077).

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(2) Nicht zufällig ist es Geffroy, dessen „biographische Linie […] die Einheit der Handlung stiftet“.66 Gerade an ihm zeigt sich die Determiniertheit der Figuren durch ihre Herkunft, in doppelter Weise: Geffroys Weg führt immer zurück, weil über ihn die problematische Herkunft von Vater und Mutter verhandelt wird. Es ist dieser Sohn, der die symbolische Konnotation des Herkunftsraums des Vaters einlöst und damit dessen Ursprungsschuld im zweifachen Sinn wiederholt, indem er sie gleichzeitig präsent hält und durch den Brudermord steigert. Geffroy entscheidet sich gegen den Aufbruch zur aventiure im fernen Norheme, damit gegen die Vertikale, und kehrt stattdessen in den Raum der Herkunft zurück, eine Kreisbewegung, die erzählstrukturell aufs Engste mit anderen zyklischen Verläufen wie der Entdeckung von Melusines wahrem Wesen und Reymunds Tabubruch verknüpft ist, letzteren sogar motiviert.67 Als Geffroy nun nach Norheme fährt, wird deutlich, dass es sich dabei nur um eine scheinbare Handlungsalternative gehandelt hatte, denn auch sein größtes (und letztes) Abenteuer führt ihn ‚zurück‘: In der Fremde findet er das Eigenste, nämlich die Wurzeln seines Geschlechts und damit die eigene Identität.68 Evident ist damit zugleich, dass der Befund prekärer Herkunftsräume im frühneuzeitlichen Erzählen mit einer Identitätsproblematik der Figuren zusammenhängt. Diese wissen nicht, woher sie kommen, insofern auch nicht, wer sie sind (Geffroy),69 oder ihre Herkunft ist

66 Mühlherr 1993, 15. 67 Die Handlungsstränge werden vom Erzähler zunehmend komplexer verstrickt, sodass Reymunds Tabubruch und Melusines Abschied mit Geffroys Abenteuer in Norheme nicht nur erzählstrukturell eng verschränkt (Anachronien der Erzählzeit), sondern auch als sich teilweise gleichzeitig ereignende Handlung (erzählte Zeit) suggeriert werden. Dem Boten aus Norheme befiehlt Geffroy vor seinem Aufbruch zum Kloster Malliers, zu warten, bis er wieder zurückkomme (107, 28–108, 5), was es dem Erzähler ermöglicht, den Handlungsstrang von Geffroys Norheme-Aventiure und den von Reymunds Tabubruch als gleichzeitiges Geschehen darzustellen: Die Schiffsreise wird genutzt, um Geffroys Handlungsstrang stillzustellen und den von Reymund und Melusine einzufügen: 110, 15–111, 10 (Ablegen des Schiffs und Fahrt über das Meer Richtung Norheme) und 127, 6–10 (Anknüpfung an die bereits erwähnte Schifffahrt und Anlegen in Norheme). 68 Es ist nur logisch, dass Geffroy keine Nachkommen hat. Er setzt die Vertikale der Genealogie nicht fort. Das Herrschaftsangebot der Landesherren von Norheme als Belohnung für die Befreiung von den Riesen lehnt er ab (105, 30–106, 5), womit er sich deutlich von der Strategie seiner Brüder absetzt. Als klar wird, dass ihm als Erben des Königs Helmas das Land sowieso zusteht, nimmt er die Herrschaft zwar an, überträgt sie aber sofort wieder den Landesherren und kehrt nach Hause zurück (145, 17–146, 6). Dort angekommen, tritt er ein weiteres Mal als Mittler der Zyklik auf: Durch Geffroys Mord an seinem Onkel, Reymunds Bruder (147–148), nimmt der Sohn Reymund des Vaters Reymund nicht gelebte Rolle als Erbe der Grafschaft vom Forst ein: Die Ersetzung ausgerechnet durch den Gleichnamigen relativiert einen genealogischen Fortschritt. 69 Kiening 2005, 15 weist darauf hin, dass bei Geffroys Kämpfen jeweils „Fragen nach seiner Identität und Herkunft sichtbar [machen], daß es um mehr geht als nur heroische Bewährung.“

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so problematisch, dass sie sie verbergen und sich eine neue Identität zulegen müssen (Melusine, Reymund). (3) Es wurde bereits deutlich, dass Raum, vor allem der anderweltliche Herkunftsraum, in der Melusine eminent zeitlich besetzt ist, dass neben einer genealogischen Chrono-Logik eine vom Herkunftsraum ausgehende Topo-Logik den Text strukturiert. Die Beobachtung von Überblendungen oder Ungeschiedenheiten von Zeit und Raum war dabei bereits an für den Handlungsverlauf zentralen Szenen zu machen, wobei diese gerade in ihrer Blicklenkung nach innen stets weiterverweisen. Die Grabkammer in der Berghöhle als ‚Zeitenraum‘ (Kiening) steht gewissermaßen am Beginn  / Ende dieser räumlichen Schachtelung. Der Berg Awelon ist wie der Durstbrunnen eine Anhäufung von Zeitschichten und wie der Brunnen öffnet der Berg in Form einer Höhle – jenes vinster loch (134, 5) im Felsen – den Weg hinab, also zurück in der Zeit, und ins Verborgene. Während Reymund (und mit ihm der Leser) vorerst nur einen Blick ins ‚Heterotop‘ erhaschen konnte, befindet sich Geffroy mitten darin70 und erfährt, die ‚Erzählung in der Erzählung‘ lesend, die Überblendung der Zeitschichten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am eigenen Leib, indem Presines steinerne Figur neben ihm steht, ihre Ich-Stimme zu ihm spricht, und er selbst Teil der Erzählung ist.71

Dem ist hinzuzufügen, dass Geffroy bezeichnenderweise und im Gegensatz zu seinen Brüdern auf diese Fragen nicht mit der Angabe seines Geschlechts und seiner Herkunft antwortet, sondern nur mit seinem Eigennamen: Jch pin geffroÿ mit dem zan (102, 27–28). 70 Zur Höhle als ‚Heterotop‘ Kiening 2005, 17–18. 71 In die Höhle, so spricht Presine ‚durch die steinerne Tafel‘, hat kein mensch mügen kommen Es were dann desselbigen geschlechtes von mir Oder von meinen toͤchtern herkommen (139, 18– 20). Die Zukunft Geffroys und seines Geschlechts ist präsent durch die Erwähnung der beiden Schwestern Melusines und ihrer Flüche, die jeweils Abenteuer darstellen: Mit ihnen beschäftigt sich der letzte Großteil des Textes, insofern sind hier – auf discours-Ebene – die zukünftigen, zu erzählenden Sujets der Geschichte verankert. Das Abenteuer des zweiten Fluchs der Schwester Meliora will Gyss, der Sohn Gyots bestehen, scheitert aber daran, was den Niedergang seines Königreichs zur Folge hat. Das Abenteuer der Schwester Palantine will Geffroy im Alter selbst bestehen, wird aber krank und stirbt. Zukunft und Vergangenheit sind hier nicht nur über die verwandtschaftlichen Relationen von Rettern und zu Rettenden (Großtante und Tante) überblendet, sondern auch durch die zyklische Struktur der Abenteuer, die nur scheinbar Chancen auf genealogischen Fortschritt sind, eigentlich aber das Ende einläuten.

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5 Vom Unheimlichwerden des Heimlichen: Ergebnisse und Ausblick Für die Interpretation der Melusine Thürings ist es mir zunächst wichtig, festzuhalten, dass gerade die Untersuchung des Herkunftsraums des männlichen Protagonisten Reymund ein neues Bild ergibt: Das prekäre Moment der Herkunft hat man bisher immer an der Figur Melusine und ihrer anderweltlichen Abstammung festgemacht – gerade Thüring aber gewichtet die Herkunft des männlichen Protagonisten Reymund als ebenso prekär. Wie Beate Kellner anhand der Stofftradition gezeigt hat, verschwimmt im Laufe der Wiedererzählungen die Grenze zwischen Menschen- und Dämonenwelt zunehmend:72 Thüring scheint sie noch weiter zu verwischen, indem er Reymunds Identitätsproblem (Schuld) und sein verhängnisvolles Charakterproblem (Zorn) metonymisch an dessen Herkunftsraum bindet und den Sohn Geffroy auf diese Weise von väterlicher Seite ‚erben‘ lässt, was die Peripetie der gesamten Familiengeschichte verursacht. Die Determiniertheit der Hauptfiguren und der gesamten Nachkommenschaft durch ihre Herkunft wird damit sichtbar.73 Sie zeigt sich nicht nur in der Motivation zur ständigen räumlichen Neugründung oder Eroberung (Hirschhaut, Eroberungs-

72 Vgl. Kellner 2004. Pafenberg 1995 geht den moralischen Differenzierungen des Geister- und Menschenbildes bei Thüring nach und macht darauf aufmerksam, dass Melusines Zorn über den Tabubruch ihres Vaters Helmas (139, 9–11) einerseits eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, andererseits den ‚Entmenschlichungsprozess‘ Melusines anstößt, indem ihre Rache am Vater wiederum den Fluch der Mutter als Rache nach sich zieht: Die Melusine sei auch „die Geschichte vom Kampf des leidenschaftlichen Menschen, seinen Willen zu beherrschen. Siegt die Tugend temperantia, so hat der Mensch Hoffnung auf Glückseligkeit.“ (270–271) Während Melusine nach ihrem Zornausbruch eine im christlichen Glauben vorbildliche Fee wird, können Reymund und Geffroy ihren Zorn nicht kontrollieren. 73 Friedrich 2011, 134–135 erklärt „die Spannung rivalisierender Determinationen“, in die der Mensch in Thürings Melusine gestellt werde, überzeugend mit dem Eindringen des zeitgenössischen Diskurses „über die Wirkkräfte des Schicksals“ in den frühneuzeitlichen Prosaroman. Inwieweit man solche neuzeitlichen Konzepte weiterhin „an die Providenz rückgekoppelt“ sieht (136), hängt für Thürings Melusine sicherlich entscheidend von der Beurteilung des Augustinusexempels (95, 4–27) ab. M.  E. wird das Wuchern ‚rivalisierender Determinationen‘ durch providentielle Sinngebungsstrategien (Augustinusexempel, Geffroy als ‚Erlöserfigur‘) nur teilweise begrenzt, zumal letztere selbst nicht eindeutig sind: So befremdet etwa, dass das Exempel nicht nur Kontingenz als Providenz, sondern genauso gut Providenz als Kontingenz erscheinen lassen, die beiden Größen also gegeneinander ausspielen kann. Diese Ambivalenz wird durch die narratologischen Analysen von Drittenbass 2011, 313 bestätigt, welche zeigen, dass bei Thüring Geffroys Verbrechen am Kloster Malliers, also jenes für den Glückswechsel des Geschlechts entscheidende Moment der Peripetie (vgl. 109, 14–19) bis zum Schluss über die Analepsen aktuell gehalten wird.

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abenteuer der Söhne und Enkel). Die Motivation ‚von vorn‘, also vom Herkunftsraum her, zeigt sich in den zyklischen Strukturen, die – räumlich und zeitlich – die Figuren immer wieder zum Herkunftsraum zurückführen (Geffroys Weg zum Kloster Malliers und nach Norheme etc.).74 Sichtbar wurde dies u. a. anhand der Darstellung von Raum in den Schlüsselszenen zu Melusines anderweltlicher Herkunft, denn Raum oder räumliche Gegebenheiten sind hier immer mit zeitlicher Bedeutung aufgeladen – Zeit und Raum gehen ineinander über. Melusines anderweltlicher Herkunftsraum wird damit nie konkret, er wird über die Erzählung zweiter Ordnung und ihre Situierung ins räumliche und zeitliche Innerste gerückt. Für Melusine ersetzt der diesseitig und geographisch-historisch lokalisierbare neugeschaffene Herrschafts- den anderweltlichen Herkunftsraum, letzterer bleibt als dunkles Geheimnis, das nur der Blick ins Innerste lüften kann, aber stets präsent. Im Sinne eines doppelten genealogischen Prinzips der Verknüpfung und Übertragung setzt vor allem Thürings Melusine zwei Erzählformeln um: die Vertikale der genealogischen Erfolgsgeschichte und die Zyklik einer Rückgebundenheit an den Ursprung, die über den konkreten (Herkunfts-)Raum auserzählt wird. Einige der in den Analysen gemachten Beobachtungen scheinen mir für die narrative Darstellung von Raum im Roman der Frühen Neuzeit generell spezifisch zu sein, zumindest könnte man sie ebenso am Fortunatus machen: Festhalten lässt sich zunächst der Eindruck von Konstanz, denn Raum ist – ähnlich wie im höfischen Roman75 – auch im frühneuzeitlichen Erzählen in der Hauptsache eine Funktion der Figuren. Bei aller Aufladung der Texte mit der Wahrnehmung einer realiter in ihrer Weite, den fernen Ländern und Kontinenten erfahrbaren Welt, dem Einfließen von zeitgenössischen Reiserouten in den Fortunatus etwa, ist die

74 Diese Art der Determiniertheit habe ich in Bezug auf Lugowski 1976 [1932] mit dem Begriff der ‚Motivation von vorn‘ gefasst, weil mir hier deutlich zu werden scheint, dass diese Texte eben nicht als ‚mythische Analoga‘ funktionieren, insofern auch eine ‚Motivation von hinten‘ durch eine Vielzahl querschießender, alternativer Motivationslinien gestört wird: Eine dieser Linien ist die menschlich-schuldhafte Verstrickung in Leidenschaften wie den Zorn, die vor allem Reymunds Schicksal (aber auch Melusines) an entscheidenden Stellen determiniert und im Sohn Geffroy wieder erscheint, durch ihn für das Schicksal der ganzen Familie virulent wird. Dieser Befund lässt sich mit den stärker abstrahierenden Überlegungen von Huber 2004 abgleichen, der von einem mythischen Erzählschema der ‚gestörten Mahrtenehe‘ ausgeht. Er sieht in einer solchen „Verlagerung von äußeren, substantiell und material vorgegebenen Ordnungen der Welt und der Gesellschaft auf innere Vorgänge hin“ (264) eine „Rationalisierung älterer Denkformen“, die eine „postmythische Logik“ hervorbringe (265). 75 Vgl. Störmer-Caysa 2007.

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Raumdarstellung von mimetischen Ansprüchen weit entfernt.76 Sie transportiert werthafte Besetzungen aus der literarischen Tradition (wilde, Anderwelt) und ist symbolhaft aufgeladen. Die Dynamisierung von Innen- und Außenverhältnissen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten77 bringt allerdings eine wesentliche Verschiebung in der Darstellung und Wahrnehmung von Raum mit sich. Eine narrative Entdeckung des Innenraums nämlich, der zunehmend darstellungswürdig und sogar zum Schauplatz wird für Ereignisse, die für die Existenz und Identität der Figuren entscheidend sind: So offenbart der Blick nach innen in der Melusine immer den prekären Ursprung. Im Fortunatus ließe sich etwa die Hieronymus Roberti-Episode anführen, in dessen Haus der Mörder Andrean die Leiche seines Opfers ins prifet wirft (vgl. 415). Es ist genauso unappetitlich wie makaber: Der Abort als abgelegener, als heimlicher Ort wird zum Schauplatz der Handlung, als das schreckliche Geheimnis tief im Inneren des Hauses entdeckt wird (vgl. 419), das die ganze Hausgemeinschaft das Leben kostet. Paradigmatisch zeigt diese Episode, dass das Geld im Fortunatus alle Lebensbereiche unterwandert.78 Es ist in Form des Geldsäckels die ständig durch Verlust gefährdete Grundlage von Fortunatus’ Identität. Dabei kommt er auf seinen Reisen unbehelligt durch die fernsten Länder, so etwa bis Constantinopel das ain grosse stat ist (450). Die Gefahr für Fortunatus lauert nicht etwa in den Weiten der fremden Stadt. Die Fremdheit des Ortes ist kein Thema und wird nicht zum Ereignis, dafür erleben wir eine Art ‚Kammerspiel‘, bei dem der Innenraum des Gastzimmers von Fortunatus’ Reisegruppe im narrativen Fokus steht: Der Gastwirt hat einen geheimen Zugang zur Kammer und stiehlt den Geldsäckel – als nichts darin ist, wirft er ihn achtlos unter ein Bett, wo man ihn nach einigem Hin und Her auch wieder findet. Durch dieses kleine Bubenstück in den ‚eigenen vier Wänden‘ aber wird Fortunatus’ gesamte Existenz in ihren Grundfesten erschüttert.79

76 Vgl. zum Fortunatus Jahn 1993; Czerwinski 1993. Im Kontext der Studien von Dünne 2011 zur Spezifik der ‚kartographischen Imagination‘ in der Frühen Neuzeit wären aber sicherlich auch die Dynamiken literarischer Raumimaginationen im frühneuzeitlichen Prosaroman neu zu erfassen und weiter auszudifferenzieren. 77 Vgl. Stolz 2008. 78 Vgl. Braun 2001. 79 Bezeichnend ist die Beschreibung seiner Reaktion auf den Verlust: Er wird ohnmächtig vnd lag glich sam er tod waͤr (452). Er braucht noch den ganzen restlichen Tag, um sich von dem Schrecken zu erholen, und bereut an dieser Stelle seine Wahl bei der Glücksfee: Fortunatus redett gar onmechtigklich vnd sprach / wer das guͦt verlürt / der verlürt die vernunfft / Weißhait waͤr zu erwoͤlen für reichtumb / stercke / gesunthait / schoͤne / langes leben / das mag man kaim stelen / vnd darmit swig er (453).

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Dies scheint mir symptomatisch für die Raumwahrnehmung, die der Roman der Frühen Neuzeit vermittelt: Es hat eine semantische Umbesetzung von Innen- und Außenraum stattgefunden, nicht mehr im Außen liegt die Bedrohung, das Unbekannte, das Unkontrollierbare, sondern im Inneren, sogar im Innersten. Damit soll nicht behauptet werden, dass der Konnex von Innenraum und Identität etwas kategorial Neues wäre, dieser ist sicherlich auch aus dem hochmittelalterlichen Erzählen geläufig (Parzival, Gregorius). Was diesen Konnex in den hier untersuchten Texten jedoch spezifisch werden lässt, scheint mir eine bestimmte Art der Verschränkung von zentralen Sinngebungsmustern des höfischen Erzählens zu sein, nämlich von Abenteuer (aventiure) und Genealogie (art): Während aventiure und art im höfischen Erzählen des hohen Mittelalters produktive Konzepte sind, die Protagonisten über die aventiure zur eigenen Identität finden80 und letztlich von einer Versöhnung mit der eigenen Genealogie und einem produktiven Einreihen in dieselbe mit positivem Ausgang gesprochen werden kann (Parzival wird Gralskönig, mit Gregorius’ Papsttum wird seine weltliche Genealogie transzendiert und in einer göttlichen aufgehoben),81 erzählen die Melusine wie der Fortunatus Verfallsgeschichten. Schuldhafte Verstrickung, Niedergang und Tod stehen am Ende.82 Die aventiure verliert ihre Fähigkeit, als Erzählstruk-

80 Vgl. die Beiträge von Franziska Hammer und Markus Stock in diesem Band. 81 Vgl. Strohschneider 2000. 82 Das Ende des Textes markiert im Fortunatus auch das Ende der genealogischen Linie, die Söhne Ampedo und Andolosia sterben ohne Nachkommen. Das Melusinengeschlecht stirbt zwar nicht aus, doch folgt auf die Blütezeit der Abstieg durch Krankheit, Tod und Erbteilung, wie Melusine das bei ihrem Abschied geweissagt hatte (117, 23–26). Das abschließende Aufzählen der von Melusine abstammenden Geschlechter und der von ihr erbauten Schlösser hat bei Thüring eine deutliche Belegfunktion weniger für den Erfolg der Dynastie als vielmehr für die warheit (176, 13) der erzählten hÿstori, die deshalb als den Artusgeschichten überlegen dargestellt wird. Der Epilog kann als ‚Zeigeraum‘ analog zur Höhle gelesen werden, in der durch Geffroy die Familiengeschichte aktualisiert wird: Der Erzähler zeigt und benennt die Jetzt-‚Zeugen‘ der Geschichte (175, 24–176, 19), deren Aktualisierbarkeit verbürgt ihre Wahrheit.

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tur ‚Sinn‘ zu generieren83 und die Identitäten der Figuren sind immer schon ‚auf Sand gebaut‘, weil eben das, was als bekannt geglaubt wird – als Chiffre dafür steht das eigene Heim –, im Innersten etwas die eigene Existenz (und ihr genealogisches Fortwirken) zutiefst Bedrohendes birgt, das die Figuren früher oder später einholt. Einer Außenwelt, die sukzessive erschließbar und damit benennbar wird, deren Feindlichkeit und Fremdheit genauso spielend gemeistert werden können (Heiden- und Riesenkämpfe in der Melusine) wie ihre räumliche Ausdehnung bewältigt wird (Weltreisen und Wunschhütlein im Fortunatus), und die deshalb mit auffallend geringem narrativen Aufwand bedacht ist,84 kontrastiert eine dunkle und geheimnisvolle Innenwelt, der die Texte zunehmendes narratives Interesse entgegenbringen: Terra incognita – das ist nicht der Außenraum, sondern der eigene Herkunftsraum, die eigene Identität.

83 Vgl. Wyss 2002, 392–393. Die aventiuren der beiden Schwestern Melusines sind ein überdeutliches Beispiel hierfür, vor allem die so seltsam kontext- und funktionslose Erzählung von einem Ritter der Tafelrunde, der versucht, Palantine zu erlösen, die den Schatz ihres Vaters auf dem mit Drachen besetzten Berg Arrogon (165, 14) hüten muss: Dieser Ritter, vorgestellt als her Tristans angeborner freünd (166, 23), kämpft sich tapfer Ungeheuer für Ungeheuer nach oben, was ausführlich erzählt wird (167, 21–169, 23), nur, um dann – es braucht gerade mal einen lapidaren Halbsatz – doch von einem Drachen gefressen zu werden: […] vnd verschlant den Ritter gancz vnd gar (169, 25–26). Bei Coudrette (Roach 1982), V. 6481–6487 wird der Ritter gar qu’un pasté fait en un four, wie ein Pastetchen aus dem Backofen, vom Drachen verschluckt. Als Geffroy dieses Abenteuer bestehen will, stirbt er vor Antritt einfach sang- und klanglos. Beide Schwestern Melusines bleiben unerlöst, die aventiuren unbestanden. 84 Man vergleiche die Erzählung der Weltreisen im Fortunatus, die über weite Strecken summarisch mittels Namedroppings von Länder- und Städtenamen funktioniert: 447–449, 463, 489–490.

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Zum Phänomen der anderweltlichen Herkunft im Roman der Frühen Neuzeit 

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Erik Schilling

Addio, monti Zur dynamischen Semantisierung des Raumes in Alessandro Manzonis I promessi sposi

1 Einleitung Einen Beitrag zu Alessandro Manzonis I promessi sposi mit Addio, monti zu betiteln, erscheint auf den ersten Blick, als würde man eine Studie zu Vergils Aeneis Arma virumque cano oder einen Essay zu Goethes Faust „Habe nun, ach“ nennen. Und doch gibt es gute Gründe, einmal mehr von Lucias hymnischen Abschiedsworten an die heimischen Berge auszugehen, wenn die Gestaltung des Raumes, insbesondere des Herkunftsraumes, in Manzonis historischem Roman ausgelotet werden soll. Diese Gründe sind primär inhaltlicher Natur und werden im Hauptteil meines Beitrags zu der These gebündelt, dass der Raum der Promessi sposi als dynamisch semantisiert beschrieben werden kann. Zuvor aber möchte ich einleitend an die beiden weiteren Dimensionen einer narratologischen Untersuchung von Herkunftsräumen anknüpfen, die Maximilian Benz und Katrin Dennerlein neben der inhaltlichen skizzieren: die poetologische und die rezeptionsdisponierende Funktion.1 Der literarische Ort, an dem diese Funktionen vorbereitet werden, ist die Handschriftenfiktion, die Manzoni seinem Roman voranstellt. Nach einem einleitenden Abschnitt, der in schwerfälligem, vorgeblich originalem Lombardisch des siebzehnten Jahrhunderts verfasst ist, schaltet sich der fiktive Herausgeber ein und beschwert sich über die sprachlichen Unzulänglichkeiten des Textes:

1 Vgl. Abschnitt V der Einleitung zu diesem Band.

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Idiotismi lombardi a iosa, frasi della lingua adoperate a sproposito, grammatica arbitraria, periodi sgangherati. E poi, qualche eleganza spagnola seminata qua e là; e poi, ch’è peggio, ne’ luoghi più terribili o più pictosi della storia, a ogni occasione d’eccitar maraviglia, o di far pensare […], costui non manca mai di metterci di quella sua così fatta del proemio. (PS 1995, 6–7) 2 Lombardische Eigenheiten zuhauf, falsch gebrauchte Wendungen der Hochsprache, willkürliche Grammatik, ungefüger Satzbau. Dazu hin und wieder spanische Floskeln; und was noch schlimmer ist, an den schrecklichsten oder rührendsten Stellen, immer wenn sich eine Gelegenheit bietet, den Leser zu verblüffen oder zum Nachdenken zu bringen […], da versäumt es der Autor nie, uns Proben von der Sorte zu geben, die wir aus seiner Vorrede kennen. (PS 2000, 9)

Da der Herausgeber die – angeblich aufgefundene – Geschichte jedoch trotz der konstatierten Defizite molto bella (PS 1995, 7) [„wunderschön“] (PS 2000, 10) findet, gibt er vor, sie sprachlich bereinigen und in dieser Form dem Leser präsentieren zu wollen. Im Zuge einer captatio benevolentiae, die mit einem ironischen Augenzwinkern versehen ist, distanziert sich der Herausgeber so von der erzählten Geschichte. Ohne deren Verortung in einem historischen und geographischen Herkunftsraum – ohne dessen funktionales Dispositionspotential also – wäre ihm dies nicht in der praktizierten Weise möglich. Auch die Einstimmung des Lesers auf die Geschichte erfolgt im Zuge dieser Verortung. Mit seiner Vorrede ‚schafft‘ Manzoni sich seinen Leser, er legt die ‚Spielregeln‘ der Lektüre fest. Zu gleichen Teilen werden Authentizität und Distanz postuliert, der Herausgeber übernimmt Verantwortung für seinen Text und weist diese zurück. Nur ein Leser, der sich auf die entsprechenden Ambiguitäten einlässt und selbst seinen Weg durch die Fiktion zu finden bereit ist, wird zu den – wie Manzoni ebenfalls ironisch behauptet – venticinque lettori (PS 1995, 25) [„fünfundzwanzig Lesern“] (PS 2000, 30) gehören, die die Geschichte gutheißen und ihr bis zum Ende folgen. Der Herkunftsraum, dem die Geschichte entstammt, prägt sie folglich gleich doppelt: durch seine poetologischen Implikationen und durch die Form der Rezeption, die er verlangt. Dass diese beiden Funktionen des Herkunftsraumes sich zudem nicht auf die Handschriftenfiktion beschränken, deutet Umberto Eco in seinen Ausführungen zu den Promessi sposi an, wenn er die Eröffnungsszene des ersten Kapitels folgendermaßen versteht: „Der Anfang der Promessi sposi ist keine Übung in Landschaftsbeschreibung; er ist eine Art und Weise, den Leser

2 Zitiert wird hier und im Folgenden nach Manzoni 1995 [1840]. Verweise auf diese Ausgabe werden mit der Sigle PS 1995 vorgenommen. Zitate aus der deutschen Übersetzung folgen der Ausgabe Manzoni 2000 [1840]. Verweise auf diese Ausgabe werden mit der Sigle PS 2000 vorgenommen.

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auf die Lektüre eines Buches vorzubereiten, dessen Hauptheld jemand ist, der von hoch oben auf das Weltgeschehen herabblickt.“3 Wenn, wie Ecos Deutung zeigt, auch die Landschaftsbeschreibung des ersten Kapitels von einer rezeptionsdisponierenden Funktion hergeleitet werden kann, wird deutlich, dass diese sich über die Vorgeschichte hinaus in die eigentliche Romanhandlung fortsetzt. Um die dortigen Funktionalisierungen des Raumes adäquat verfolgen zu können, sei knapp der Handlungsverlauf umrissen, unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Gegebenheiten:4 Renzo und Lucia, die titelgebenden Brautleute, wollen am Ort ihrer Kindheit und Jugend (einem Dorf in der Nähe von Lecco am Lago di Como) heiraten, doch Don Rodrigo, ein mächtiger Feudalherr, der Lucia begehrt, zwingt den Pfarrer, die Hochzeit nicht zu vollziehen. Auf Rat eines befreundeten Priesters verlassen die Liebenden ihren Herkunftsraum und trennen sich auf der Flucht. Im ‚Raum des Abenteuers‘5 rund um Mailand, den sie nun betreten, überstehen sie jeweils eine Reihe von Gefahren. Lucia muss sich den Nachstellungen des ‚Innominato‘ widersetzen, der sie auf seine Burg entführen lässt. Kaum in Sicherheit, erkrankt sie an der Pest. Renzo wird unterdessen bezichtigt, der Aufrührer der Hungerunruhen in Mailand im Jahre 1628 zu sein. Er wird verfolgt, kann sich aber auf venezianisches Territorium retten, ehe er nach Mailand zurückkehrt und dort auf Lucia trifft. Sie ist von der Pest genesen, Don Rodrigo hingegen der Seuche zum Opfer gefallen. Der Weg ist somit frei für die Liebenden: Renzo und Lucia heiraten, ziehen in die Nähe von Bergamo und verbringen dort ein glückliches Leben. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine räumliche Gestaltung, die derjenigen des antiken Romans, etwa der Aithiopika Heliodors, nicht unähnlich ist:6 Auf eine glückliche Phase in einem Herkunftsraum folgt eine Zeit des Abenteuers mit zahlreichen Ortswechseln und schließlich die Rettung in eine neue Heimat. Die entscheidende, ‚sujetbildende‘7 Grenze in den Promessi sposi stellt jeweils die Adda dar, der Fluss, den Renzo und Lucia nicht nur bei ihrer ersten Flucht überqueren, sondern der – als Grenze zwischen mailändischem und venezianischem Herrschaftsgebiet – auch für Renzo bei dessen Flucht aus Mailand sowie für die beiden nach ihrer Wiedervereinigung den Aufbruch in einen Raum kennzeich-

3 Eco 1994, 98. 4 Der Begriff ist orientiert an Dennerlein 2009, 237. Zur Raumstruktur des Romans vgl. Forni 1980; Marchese 1986; Godt 1998 und Ferri 2007. 5 Der Begriff orientiert sich an den Ausführungen Michail Bachtins zum griechischen Roman der Antike. Vgl. Bachtin 1989, 9–38. 6 Vgl. dazu Küpper 1994, 123–152 sowie die Ausführungen unten in Abschnitt 4. 7 Der Begriff ‚sujetbildend‘ wird, wie unten im Detail auszuführen ist, im Anschluss an Lotman 1972 verwendet.

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net, in dem andere Gesetze herrschen als im vorherigen. Doch die räumlichen Gegebenheiten sind komplexer als eine Einteilung in drei Schauplätze (Lecco – Mailand – Bergamo) mit der jeweiligen Grenze des Flusses es erwarten lässt, weil ihre Semantisierung sich beständig ändert. Für eine textnahe Argumentation verfahre ich im Folgenden in vier Schritten. Erstens wird die in Ausschnitten bereits umrissene Gestaltung des Raumes im Detail betrachtet. Zweitens möchte ich untersuchen, wie der Herkunftsraum dargestellt wird, ob etwa Techniken wie Beschreibung oder Kommentar zum Einsatz kommen. Drittens werde ich erörtern, inwieweit die Auswahl des Herkunftsraumes und seine Gestaltung an Gattungstraditionen anschließen. Diese Traditionslinie ist viertens im Hinblick auf ihre Relevanz für Manzonis Roman zu beschreiben, womit insbesondere die Frage nach der Funktion des Herkunftsraumes in den Blick rückt. Abschließend möchte ich knapp die Frage aufwerfen, ob ein Leser vorausgesetzt wird, der aus demselben Herkunftsraum stammt wie die Figuren des Romans.

2 Zur Gestaltung des Herkunftsraumes Der Herkunftsraum in den Promessi sposi ist nicht nur sehr klar umrissen, seine Bedeutung ist zudem daran zu ermessen, dass sich eine umfangreiche Passage am Anfang des ersten Kapitels seiner Darstellung widmet und dabei schon in den ersten Sätzen die räumlichen Gegebenheiten präsentiert, die später für den Handlungsverlauf zentral werden: Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un promontorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte: e il ponte, che ivi congiunge le due rive, par che renda ancor più sensibile all’occhio questa trasformazione, e segni il punto in cui il lago cessa, e l’Adda ricomincia, per ripigliar poi nome di lago dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni. (PS 1995, 9) Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet, um zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten lauter Buchten und Busen zu bilden, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, verengt sich beinahe mit einem Schlag, um Lauf und Gestalt eines Flusses anzunehmen, gesäumt von einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstrich auf der anderen Seite; und die Brücke, die hier die beiden Ufer verbindet, scheint dem Auge diese Verwandlung noch sinnfälliger zu machen und die Stelle zu bezeichnen, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt, die jedoch bald darauf wieder den Namen See annimmt, wo die erneut auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben, sich in neuen Buchten und Busen auszubreiten und zu verlaufen. (PS 2000, 13)

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In diesen und den folgenden Zeilen bewegt sich die Perspektive des auktorialen Erzählers zwischen dem makro- und dem mikroskopischen Blick auf den Herkunftsraum, dem die beiden Protagonisten entstammen.8 Die räumliche Szenerie der zitierten Sätze wird ergänzt um eine Beschreibung der Berge, eine knappe Charakteristik Leccos als dem Hauptort und eine Fokussierung auf die erste auftretende Figur des Romans, den Pfarrer, der Renzo und Lucia am folgenden Tag trauen soll. Fabian Lampart fasst diesen Gang der Erzählung überzeugend als eine Serie von Konkretisierungen, über die „sprachliche und ideologische Natur“ hin zur „Dimension der Handlung“.9 Da dies über „[r]äumliche und zeitliche Bestimmungen“10 erfolgt, ist eine ganze Reihe an Informationen zum Herkunftsraum nicht nur explizit gegeben, sondern bereits semantisiert.11 Für den kenntnisreichen (Zweit-)Leser des Romans sind diese Gegebenheiten mit Bedeutung aufgeladen: Dass die Adda als das topographische Element des Textes, das später immer wieder den Übergang von einem Schauplatz zum nächsten kennzeichnet, bereits hier eingeführt wird, verweist auf ihre Relevanz für den Handlungsgang. Auch ist über die detaillierte Schilderung ihres Verlaufs zwischen Ausdehnung und Verengung sowie der damit verbundenen Trennung und Verbindung der beiden Ufer mit ihren unterschiedlichen landschaftlichen Charakteristika ein Vorverweis auf den Verlauf der Handlung angelegt, der für die Protagonisten ebenfalls von einem Wechsel zwischen bedrückender Enge und befreiender Weite gekennzeichnet sein wird.12 Die Adda als Grenze zwischen den Schauplätzen des Herkunfts-, des Abenteuer- und des Ankunftsraumes ist aber nicht nur eine topographische, sondern auch eine narratologische Grenze

8 Godt identifiziert zwei Funktionen, dieser Passage: The description fulfills two conventional functions of Romantic landscape description, the first […] that of setting attitude and tone, and the second that of establishing the spaces through which the action of the novel will move (Godt 1998, 1). Während sich die zweite von selbst versteht, ist die erste nicht auszuschließen, doch in ihrer literaturwissenschaftlichen ‚Greifbarkeit‘ fraglich. 9 Lampart 2002, 330. 10 Lampart 2002, 330. 11 Dass diese Semantisierung kein Zufall, sondern Ausdruck eines poetologischen Programms ist, hat ebenfalls Lampart herausgearbeitet: „Manzonis erstes Kapitel führt also von der Aufspannung der Raum- und Zeitdimension des Romans zur ersten Illustration seines poetologischen Programms. Einer der wichtigsten Charaktere der ‚kleinen‘ Geschichte von den versprochenen Brautleuten wird mit der Gewalt und Ungerechtigkeit der Geschichte konfrontiert und steht damit zugleich synekdochisch für die Gesamtbefindlichkeit der Unterdrückten. Diesseitiges Handeln aber, so deutet der Roman symbolisch an, ist immer sündhaft und Entscheidungen sind fragwürdig“ (Lampart 2002, 339). 12 Wie detailliert Manzoni dies erarbeitet und gestaltet, zeigt der Vergleich zwischen der frühen Fassung Fermo e Lucia und den späteren Promessi sposi, den Godt 1998, 5–17 anstellt.

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im Sinne Jurij Lotmans: „Sie teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit.“13 Unüberschreitbar ist sie zwar nicht in einem physischen Sinne wie bei Lotman die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Doch sie ist insofern eine narratologische Grenze, als sie den Unterschied zwischen sujetlos und sujethaltig markiert, weil zusammen mit dem Übertritt Renzos und Lucias in die Welt außerhalb ihres Herkunftsraumes dessen Gesetze und Normen infrage gestellt und mit denen der umgebenden Welt konfrontiert werden:14 Der sujethaltige Text wird auf der Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation. Die Welt ist in Lebende und Tote eingeteilt und eine unüberschreitbare Linie trennt die beiden Teile. Der sujethaltige Text behält dieses Verbot für alle Figuren bei, führt aber eine Figur (oder eine Gruppe) ein, die ihm nicht unterliegt […]. Die Bewegung des Sujets, das Ereignis ist die Überwindung jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt ist.15

Auch die weiteren Überschreitungen der Adda sind dadurch geprägt, dass sie auf eine Veränderung der geltenden Normen abzielen. Dies trifft auf Renzos Flucht aus dem mailändischen Raum zu, als er sich den dort geltenden Gesetzen durch sein Ausweichen auf das benachbarte Territorium entzieht, aber auch für die umgekehrte Bewegung, als er trotz der drohenden Gefahren nach Mailand zurückkehrt, um Lucia zu retten, obwohl er damit das nunmehr geltende ‚Gesetz‘ seiner persönlichen Sicherheit aufhebt. Als Gegenstück zum Herkunftsraum der Kapitel 1–8 sind die ‚Irrfahrten‘ anzusehen,16 die Renzo und Lucia im Raum des Abenteuers (und der Historie) durchleiden, ehe sie im Bergamaskischen eine neue Heimat finden, den ‚Ankunftsraum‘, der dem Herkunftsraum in Teilen ähnelt. Tentativ kann man die Bewegungen der Protagonisten mit Pier Massimo Forni somit als eine Art Bildungsreise verstehen,17 doch vernachlässigt diese Deutung die Kluft, die zwischen dem Herkunftsraum und dem Raum des Abenteuers besteht und deren Überschreitung existentielle, lebensbedrohliche Herausforderungen für die beiden Liebenden bedingt.18 In den Herkunftsraum zurückkehren können Renzo und Lucia nicht.

13 Lotman 1972, 327. 14 Zu Lotman, dessen Raumkonzept hier nur in Ansätzen dargestellt werden kann, vgl. die sehr erhellenden Ausführungen von Frank 2009. 15 Lotman 1972, 338. 16 Als ‚odysseischen Teil‘ der Promessi sposi fasst Raimondi 1974, 173 die Episoden in und um Mailand auf. 17 Forni 1980, 49 spricht von viaggio come autopedagogia, come iniziatica scoperta del mondo, come gusto di andare e di vedere. 18 Aus diesem Grund ist Lampart zuzustimmen, wenn er von einem „‚rudimentären‘ Bildungs-

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Es handelt sich nicht um das Konzept des Bildungsromans, das die Protagonisten „zum Ausgleich mit der gegebenen Welt“19 führt und sie abschließend in den Herkunftsraum integriert, sondern um den Bruch mit einer solchen Versöhnung. In sein Heimatdorf kehrt Renzo nach den überstandenen Abenteuern zunächst ganz kurz und alleine zurück,20 dann einmal mit Lucia, aber gleich nach der Heirat ziehen sie in die Nähe von Bergamo, um dort eine neue Heimat zu etablieren.

3 Zur Darstellung des Herkunftsraumes Die Darstellung des Herkunftsraumes ist der Erzählperspektive angepasst. Für die oben zitierte einleitende Passage gilt dies insofern, als die Darstellung der Perspektive des auktorialen Erzählers unterliegt. Sie ist in weiten Teilen beschreibend, wird aber an einigen Stellen von Kommentaren unterbrochen, die auf die Semantisierung des Raumes für den künftigen Handlungsverlauf vorausweisen. Dass etwa die Verbindung der beiden Ufer mit der Zusammenführung der unterschiedlichen räumlichen Bedingungen „dem Auge diese Verwandlung noch sinnfälliger zu machen“21 scheint, kann als Kommentar des Erzählers im Hinblick auf das glückliche Ende des Romans gelesen werden, als Vorwegnahme des späteren Ergebnisses, dass Renzo und Lucia die Bedingungen der verschiedenen Schauplätze durchlaufen haben werden und diese in ihrer jeweiligen Entwicklung zusammenführen können. Doch Kommentare wie dieser sind selten und entsprechen nicht der Distanz, die der auktoriale Erzähler durch die dem Text vorgeschaltete Handschriftenfiktion beansprucht.22 Die Ausführungen des Erzählers lassen sich daher in wesentlichen Aspekten mit den Kriterien erfassen, die Werner Wolf für die Identifikation einer ‚Beschreibung‘ aufstellt: Über ihre referential function bezeichnet die Beschreibung zunächst Phänomene innerhalb der erzählten Welt. In ihrer representational function erzeugt sie zudem Repräsentanten, die dem Leser eine Vorstellung dieser Phänomene ermöglichen. Mit ihrer pseudo-objectivizing function schließlich bietet sie Informationen, die nur

roman“ (Lampart 2002, 351) spricht. Er begründet dies zu Recht auch mit der Beobachtung, dass Lucias „Verhaltensmuster und die von ihr repräsentierte Position“ statisch bleiben (Lampart 2002, 357). 19 Jacobs 1997, 231. 20 Zu Relevanz und Deutung dieser Episode vgl. Saccone 2008. 21 Vgl. die oben zitierte Passage. 22 Diese Distanz wird nur in Passagen gebrochen, die von historischen Ereignissen berichten, nicht aber bei der Wiedergabe der Geschichte der beiden Liebenden.

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scheinbar objektiv sind.23 Während sich alle drei Funktionen einer Beschreibung im ersten Kapitel des Romans nachweisen lassen, wird die Zahl beschreibender Passagen stark verringert, sobald der Schauplatz zu demjenigen der ‚mittleren Helden‘ Renzo und Lucia wechselt. So ist etwa die Darstellung des Herkunftsraumes in Lucias berühmtem Addio, monti, ihrem Abschied von den heimischen Bergen während der Überfahrt über die Adda, ganz anders gestaltet als die Beschreibung im ersten Kapitel, die denselben Schauplatz narrativ gefasst hatte. Die Substitution der auktorialen Perspektive durch die Figurenperspektive Lucias hat eine Darstellung zur Folge, die in ihrer Semantisierung nicht nur der weitgehend neutralen Perspektive des Anfangs entgegengestellt ist, sondern in ihrem hymnischen Ton auch angesichts der schrecklichen Ereignisse, die in den vorangegangenen Kapiteln für den Herkunftsraum geschildert wurden, subjektiv-idealisierend erscheint:24 Addio, monti sorgenti dall’acque, ed elevati al cielo; cime inuguali, note a chi è cresciuto tra voi, e impresse nella sua mente, non meno che lo sia l’aspetto de’ suoi più familiari; torrenti, de’ quali distingue lo scroscio, come il suono delle voci domestiche; ville sparse e biancheggianti sul pendio, come branchi di pecore pascenti; addio! Quanto è tristo il passo di chi, cresciuto tra voi, se ne allontana! Alla fantasia di quello stesso che se ne parte volontariamente, tratto dalla speranza di fare altrove fortuna, si disabbelliscono, in quel momento, i sogni della ricchezza; egli si maraviglia d’essersi potuto risolvere, e tornerebbe allora indietro, se non pensasse che, un giorno, tornerà dovizioso. Quanto più s’avanza nel piano, il suo occhio si ritira, disgustato e stanco, da quell’ampiezza uniforme; l’aria gli par gravosa e morta; s’inoltra mesto e disattento nelle città tumultuose; le case aggiunte a case, le strade che sboccano nelle strade, pare che gli levino il respiro; e davanti agli edifizi ammirati dallo straniero, pensa, con desiderio inquieto, al campicello del suo paese, alla casuccia a cui ha già messi gli occhi addosso, da gran tempo, e che comprerà, tornando ricco a’ suoi monti. (PS 1995, 163)

Ade, ihr Berge, die ihr aus den Wassern aufragt und euch zum Himmel erhebt; ihr ungleichmäßig gezackten Gipfel, vertraut dem unter euch Aufgewachsenen und seinen Sinnen eingeprägt wie der Anblick seiner Nächsten; ihr Wildbäche, deren Rauschen er unterscheiden kann wie den Klang der heimischen Stimmen; ihr verstreuten Dörfer, weiß an den Hängen wie Herden weidender Schafe, ade! Wie traurig ist der Gang des unter euch Aufgewachsenen, der sich von euch entfernt! Selbst für den, der aus freien Stücken in die Ferne aufbricht, gelockt von der Hoffnung, sein Glück anderswo zu versuchen, verblassen in diesem Moment die Träume von Reichtum; er wundert sich über seinen Entschluß und würde auf

23 Vgl. zu einer detaillierten Darlegung der Begrifflichkeiten Wolf 2007, 15–18. 24 Damit ist auch zu erklären, warum Lucias Worte „weniger mit den möglichen Gedanken eines Bauernmädchens zu tun“ haben „als mit den Konventionen elegischer Rede- und Empfindungsformen, in der ein verlorener Naturzustand und ein unerreichbares Ideal kontrastiert werden“ (Lampart 2002, 343).

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der Stelle umkehren, dächte er nicht, eines Tages als reicher Mann heimzukehren. Je weiter er in die Ebene vordringt, desto mehr zieht sein Auge sich angewidert und müde zurück aus jener eintönigen Weite. Die Luft kommt ihm drückend und leblos vor. Trübsinnig und zerstreut geht er durch die lärmenden Städte. Die Häuser, die sich an Häuser reihen, die Straßen, die in Straßen münden, scheinen ihm den Atem zu nehmen, und vor den prächtigen Bauten, die der Fremde bewundert, denkt er sehnsuchtsvoll an das kleine Stück Land bei seinem Dorf, an das kleine Haus, auf das er schon lange ein Auge geworfen hat und das er kaufen wird, wenn er reich zurückgekehrt ist in seine Berge. (PS 2000, 184)

Insbesondere der letzte Aspekt der Beschreibungs-Trias von Wolf, die pseudoobjectivizing function, ist hier nicht mehr gegeben: Während in der Einleitungspassage des Romans der Blick des Erzählers aus der Vogelperspektive die gesamte Landschaft auf einmal gefasst hatte, sieht Lucia hier von einem niedrigen Standpunkt zu den aufragenden Bergen empor. Sie wendet sich mit einer Apostrophe direkt an die Natur, sie verbindet topographische Aspekte der Heimat mit ihrer persönlichen Vergangenheit. Auch durch die eingestreuten Interjektionen, die Projektion der räumlichen Gegebenheiten auf die emotionalen Befindlichkeiten der Figur sowie den Kontext der Passage, der Leser wie Figuren zu einer semantischen Neubesetzung des Herkunftsraumes führt, wird deutlich, wie stark sich der objektiv identische Raum des Addio, monti in der subjektiven Wahrnehmung von dem des ersten Kapitels unterscheidet.25 In Teilen relativiert wird das Subjektive erst im letzten Satz des Kapitels, in dem sich der Erzähler zu Wort meldet und Lucias Gedanken als exemplarisch für die der gesamten Gruppe einordnet: Di tal genere, se non tali appunto, erano i pensieri di Lucia, e poco diversi i pensieri degli altri due pellegrini, mentre la barca gli andava avvicinando alla riva destra dell’Adda. (PS 1995, 164) [„Von solcher Art, wenn nicht ebendiese, waren Lucias Gedanken, und nicht viel anders waren die ihrer beiden Mitreisenden, während das Boot sich dem rechten Ufer der Adda näherte.“] (PS 2000, 185) Das Addio, monti steht damit für einen Wechsel stehen, den der Roman aufgrund der Bindung der Raumwahrnehmung an die Figurenperspektive für die Darstellung des Raumes vollzieht. Beschreibende Abschnitte lassen sich zwar zunächst finden, doch sie treten sukzessive zurück. Eine Ausnahme dazu ist nur für die Passagen zu konstatieren, in denen die Protagonisten direkt mit historischen Ereignissen konfrontiert sind.26 Sofern man den Begriff ‚Beschreibung‘ nicht in einem umfassenden, auch das Subjektive betreffenden Sinne verwenden

25 Wie sehr die Darstellung des Herkunftsraumes durch die Figurenperspektive geprägt ist, zeigt auch die Beschreibung des Gartens, als Renzo nach seiner Flucht erstmalig in das Heimatdorf zurückkehrt. Zu der Garten-Episode vgl. Hösle 1975, 37. 26 Ein Beispiel hierfür ist Renzos Besuch im Mailänder Pestlazarett.

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möchte, ist daher von einer indirekten Proportionalität von beschreibenden Passagen und dem Erleben der Figuren gewidmeten Abschnitten auszugehen.

4 Zur Gattungstradition des Herkunftsraumes Die Gattungstradition des Herkunftsraumes leitet sich für die Promessi sposi von Liebes- und Abenteuerromanen der (Spät-)Antike her, insbesondere von Heliodors Aithiopika.27 Sie erstreckt sich auf weitere Quellen und Referenztexte wie Miguel de Cervantes’ Los trabajos de Persiles y Sigismunda und reicht über verschiedene Stufen des Rezeptionsprozesses bis in die Gegenwart, etwa hin zu Umberto Ecos Il nome della rosa.28 Zentral für die Verortung in dieser Gattungstradition ist die Semantisierung des Raumes, wie Manzoni sie teils von seinen literarischen Vorgängern übernimmt und teils entscheidend modifiziert. Joachim Küpper fasst die literarische Referenz primär über das Erzählschema, das sowohl Heliodors Aithiopika als auch den Promessi sposi zugrunde liege: Die wesentliche Übereinstimmung besteht auf der Ebene des Sujets (Verfolgung und Trennung von zwei Liebenden, Irrfahrten und glückliches Ende) sowie auf der Ebene des Sujetaufbaus. Die Makrostruktur ist episodisch, zugleich steigernd. Das Verknüpfungsprinzip ist nicht kausal, es folgt dem Muster des unerwarteten Umschlags ins Gegenteil.29

Beiden Texten sei zudem eine abschließende ‚metaphysische Wendung‘ gemein, die die vorangegangenen Irrfahrten ex post als Zeichen göttlicher Providenz erscheinen lasse, wobei Küpper dies für Manzoni in Teilen infrage stellt. Dieses Fragezeichen hinter einer Annahme, die in der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte der Promessi sposi lange Zeit communis opinio war,30 begründet er ebenfalls mit der Gattungstradition, mit dem Verweis auf Cervantes. Von dieser intertextuellen Referenz ausgehend postuliert er, dass „die topische Manuskript-

27 Vgl. Küpper 1994, 128–137. 28 Für eine Untersuchung der Erzähltradition, in der sich die Promessi sposi situieren, vgl. v. a. Küpper 1994 bzw. Küpper 2002. Zu Ecos Bezugnahme auf Manzoni vgl. Schilling 2012. 29 Küpper 1994, 131. 30 Belege dafür bei Küpper 1994, 122, Fn. 8–10. Zu einer heilsgeschichtlichen Deutung des Romans ausgehend von der Biographie Manzonis vgl. Lampart 2002, 299–305, v. a. 301, der erörtert, „daß die katholische Moral Leben und Denken Manzonis […] bestimmend durchwirkte und seiner intellektuellen Entwicklung eine Stringenz verlieh, die bei aller schon implizit angelegten Anfechtbarkeit so etwas wie sein Markenzeichen gegenüber den vielschichtig-polyzentrischen Lebens-Poetiken anderer italienischer Romantiker wie Foscolo oder Leopardi darstellt.“

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fiktion [bei Manzoni] kein Verfahren der Authentifizierung, vielmehr der Desolidarisierung des Erzählers“31 sei. Der Text schreibe sich über dieses Verfahren zwar einerseits in die Gattungstradition der Liebes- und Abenteuerromane ein, distanziere sich aber andererseits davon, weil seine historiographischen Passagen das populäre Gattungsmuster unterbrächen. Somit unterstütze die teils gebrochene Gattungsreferenz die „Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie“,32 die Küpper als zentral für Manzonis Roman ansieht. Anders als viele seiner Referenztexte geht Manzoni nicht von einer statischen Raumstruktur aus, in der einem bestimmten Herkunftsraum ein Raum der Fremde und des Abenteuers gegenübergestellt wird, in dem die Protagonisten sich bewähren müssen, ehe sie in ihren Herkunftsbereich zurückkehren oder in einen funktionsäquivalenten weiteren Raum gelangen können. Stattdessen verschiebt sich die Semantik des Raumes zusammen mit der Bewegung der Protagonisten. Bei Manzoni gibt es keinen statischen Herkunftsraum, weil der Aspekt der Herkunft und damit verbundene Assoziationen wie ‚Heimat‘, ‚Vertrautheit‘, ‚Geborgenheit‘ als Eigenschaften oder als Projektion einer bestimmten Perspektive an die erlebenden Figuren gekoppelt sind, nicht aber an eine unveränderliche räumliche Gegebenheit. An die Stelle einer einfachen Dichotomie von Herkunftsraum und Fremde tritt das Konzept eines dynamisch semantisierten Raumes.

5 Zur Funktion des Herkunftsraumes Die strukturelle Raumgestaltung der Promessi sposi ist bedingt durch die inhaltlichen Relationen, die Manzoni für die Räume des Individuellen (Lecco), des Zeitgeschichtlich-Kollektiven (Mailand) und des Überzeitlich-Transzendenten (Bergamo) entwickelt. Aus der Gestaltung des Raumes mit der sujetbildenden Grenze der Adda ergibt sich eine Dreiecksbewegung, die die Liebenden vollziehen. Für eine differenziertere Charakterisierung der Funktion dieser drei Räume unter Berücksichtigung der Dimensionen ‚Individuum‘, ‚Zeitgeschichte‘ und ‚Heilsgeschichte‘ soll Marie-Laure Ryans Terminologie für die Beschreibung von Räumen aufgegriffen werden.33 Ryan unterscheidet fünf Raumtypen in fiktionalen Texten. Dazu untergliedert sie die Umgebung, in der sich die Figuren befinden und bewegen (narrative space) in (a) die unmittelbare Umgebung erzählter

31 Küpper 1994, 133. 32 So der Titel von Küppers Beitrag. 33 Vgl. Ryan 2009, 421–425.

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Ereignisse (spatial frames), (b) die sozio-historische Umgebung der Handlung (setting), (c) den gesamten Raum, der für den Plot relevant ist (story space), (d) die Ergänzung des story space aus der Imagination des Lesers auf der Basis seines kulturellen Wissens (narrative world) sowie (e) die zeitlich-räumliche Welt des Textes und ihre Ergänzungen aus der Imagination der Figuren (narrative universe). Für die Promessi sposi ist diese Terminologie insofern aufschlussreich, als alle fünf Raumtypen in ihrem Zusammenwirken und in ihren Überschneidungen die Komplexität der Raumkonzeption bedingen, die ihrerseits das Oszillieren des Romans zwischen den Themenkomplexen ‚Individuum‘, ‚Historie‘ und ‚Religion‘ sowie die ironische Brechung aller damit zusammenhängenden Ideologien begründet. Als spatial frame ist zunächst der Herkunftsraum rings um Lecco zu nennen. Dieser wird nach der Flucht der Protagonisten ergänzt um die soziohistorische Umgebung, das setting, für das entscheidende Informationen nachgereicht werden, als die ‚mittleren Helden‘ auf Ereignisse aus dem Kontext der ‚großen Geschichte‘ treffen. Ergänzt um die beiden Schauplätze (spatial frames) um und in Mailand bzw. Bergamo ergeben die erwähnten räumlichen Gegebenheiten den story space mit seiner charakteristischen Dreiecksstruktur.34 Als narrative universe ist für die Promessi sposi der Bezug auf die Heilsgeschichte zu erwähnen, die – primär durch die Perspektive Lucias – das Geschehen um eine sinnstiftende Dimension erweitert und damit sowohl dem Raum des Individuums als auch dem Raum des Abenteuers einen imaginären, doch höchst relevanten dritten Raum entgegenstellt. Alle Unwägbarkeiten des realen Raumes können – figur- und perspektivgebunden – in diesem dritten Raum zu einem sinnreichen Ganzen zusammengeführt werden. Die narrative world schließlich bedingt mit den Ergänzungen des Lesers die historisch-kulturelle Einbettung der Räume und ihrer Funktionen. Auf der Grundlage dieser narratologisch-strukturellen Ausführungen können die Funktionen beschrieben werden, die die Räume der Promessi sposi in ihren unterschiedlichen Semantisierungen für die Figurenperspektiven haben. Das Dorf in der Nähe von Lecco büßt durch die Ereignisse, die Renzo und Lucia an ihrer Hochzeit hindern, seinen Status als positiv besetzter Herkunftsraum ein. Das

34 Luigi G. Ferri unterteilt den Roman in weitere Ebenen, wobei die zusätzlichen für die hier vorliegende Argumentation nicht relevant und daher verzichtbar sind. Neben Lecco und Umgebung erwähnt er den Weg von Lecco nach Mailand, die Stadt Mailand selbst, den Weg Renzos auf seiner Flucht sowie die Gegend um Bergamo auf venezianischem Territorium (vgl. Ferri 2007, 201). Ferris Ausführungen können die Lektüre des vorliegenden Beitrags insofern ergänzen, als er besonderen Wert auf die Untersuchung der Räume in und um Mailand legt, die hier weniger im Fokus stehen.

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„Eindringen der Geschichte in einen ursprünglich unhistorischen, idyllischen oder wenigstens subjektiv idyll-ähnlichen Zustand“35 beendet diesen abrupt. Lucias Addio, monti ist der letzte, verzweifelte Versuch, ihre Identität weiterhin in diesem Herkunftsraum zu verorten und sie dem scheinbar entfremdenden Leben in der Stadt gegenüberzustellen. Doch mit der Überquerung des Flusses verliert das Dorf seine Bedeutung. Dort wird zwar noch geheiratet; die Protagonisten ziehen jedoch sofort in ein Dorf in der Nähe von Bergamo. Während des Handlungsverlaufes bildet Bergamo einen Kontrastort zu dem Raum des Abenteuers rund um Mailand. Dort kann Renzo zur Ruhe kommen, als er verfolgt wird. Die Entscheidung der Liebenden, dorthin zu ziehen, ist daher weniger durch eine bestimmte Semantisierung dieses Raumes motiviert, als vielmehr durch die Rolle, die er (aber potentiell auch jeder andere Raum, der Renzo Zuflucht bieten würde) spielt. Die Semantisierung Mailands schließlich wechselt, entsprechend der Funktion als Raum des Abenteuers, je nach Handlungsverlauf und Figurenwahrnehmung. Während Renzo Mailand immer im Ausnahmezustand begegnet (zuerst politische Unruhen, dann die Pest) und ihn dies vor immer neue Bewährungsproben stellt (politische Verfolgung, Verdacht ein ‚Salber‘ zu sein), ist Mailand für Lucia ein Zufluchtsort. Die Figuren sind somit „imstande, sich von der Bindung an Orte zu lösen und im Zuge [eines] Erfahrungsprozesses eine neue persönliche Zentrumsbildung zu vollziehen“,36 d. h. einen neuen Raum als ‚Herkunftsraum‘ zu gestalten. Küpper hat dargelegt, wie der Roman insofern mit einer ironischen Distanz versehen ist, als er nicht nur bis zu seinem glücklichen Ende erzählt wird, sondern sich in einer ausführlichen Reihung alltäglicher ‚Banalitäten‘ darüber hinaus erstreckt.37 Die Fiktion kann nicht dahin zurückkehren, von wo sie ausgegangen ist – weder lokal noch inhaltlich. Zu schwer wiegen die sujetbildenden Überschreitungen räumlicher Grenzen, die Renzo und Lucia jeweils mit der Überquerung der Adda vollziehen. Auch die historische Ebene ist nicht frei von Ironisierun-

35 Lampart 2002, 331. 36 Huss und von Möllendorff 2010, 23. 37 Vgl. Küpper 1994, 136–137.

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gen.38 Schien es zunächst, als könne zwar der Herkunftsraum keine Sinnhaftigkeit der ‚kleinen‘ Geschichte garantieren, der Kontakt zu der ‚großen‘ Geschichte allerdings einen Teil des Sinns für die erlebenden Figuren restituieren, wird so deutlich, warum auch die Historie (und damit der Raum des Abenteuers) keinen adäquaten Ersatz für den erlittenen Verlust bietet. Manzonis Roman bietet keine „Deutung der ‚großen‘, der politischen Geschichte“.39 Neben dem Herkunftsraum ist auch der Raum des Abenteuers – und folglich der gesamte story space – in seiner Bedeutung in Frage gestellt. Was nach dem Verlust des Individuellen und der Historie scheinbar bleibt, ist die heilsgeschichtliche Komponente, die narratologisch dem narrative universe zuzurechnen ist. Doch auch diese ist durch eine ironische Brechung unter den Vorbehalt begrenzter Gültigkeit gestellt.40 Nicht nur geschieht die ‚Bekehrung‘ des Innominato allzu günstig und rechtzeitig, auch ist dem glücklichen Ende „alle distanzierende Erhabenheit genommen“, so dass nicht die Perspektive einer heilsgeschichtlichen Erlösung, sondern das „Niveau eines banalen Alltags“41 den Romanschluss bestimmt. Lampart macht darauf aufmerksam, dass „das gute Ende keineswegs die Dichotomie zwischen einer sinnvoll-heilsgeschichtlichen und chaotisch-diesseitigen Geschichte auf[löst], in der der Einzelne wehrlos den Veränderungen und Umwälzungen der Wirklichkeit ausgeliefert ist.“42 An dieser textimmanenten Tatsache muss jeder Versuch einer ideologischen Vereinnahmung des Romans scheitern.43

38 „Das Konzept des ‚mittleren Helden‘, der von den geschichtlichen Ereignissen erfaßt, eher, mitgerissen wird, reinterpretiert Manzoni durch die Figur eines obskuren jungen Mannes vom Lande, der zu epochemachender Bedeutung in einem authentischen Szenario aufsteigt, als Urheber der Mailänder Unruhen des Jahres 1628 erscheint […] – eine Konstruktion, der infolge historischer Überfrachtung des Fiktiven jede Glaubwürdigkeit abgeht“ (Küpper 1994, 125). Dies gelte, obwohl sie nicht nur durch die beschriebene räumliche Abgrenzung, sondern auch durch die Identifikation des Erzählers mit ihr „auf der Ebene des Weltmodells einen Gegenentwurf zu der Renzo-Lucia-Handlung“ (Küpper 1994, 138) darstelle. Diese Beobachtung ergänzt die Untersuchungen, die sich mit den Promessi sposi als historischem Roman beschäftigen um ein wichtiges Detail. Zur Rolle der Historie in Manzonis Roman vgl. etwa Lampart 2002 und Santovetti 2011. 39 Lampart 2002, 295. 40 So im Ansatz auch Pupino 2006, 77: La Provvidenza sarà una potenza misteriosa e ineffabile, che anzi si astiene dalla realtà e dalla storia, dalla grande come dalla piccola, dalla collettiva come dalle tante individuali. 41 Beide Zitate Küpper 1994, 137. 42 Lampart 2002, 378. 43 Lampart folgert zu Recht: „Die conclusio des Romans ist weniger Versicherung der daraus hervorgehenden Lehre als ironisch-distanzierte Perspektivierung“ (Lampart 2002, 379).

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Trotz aller Fragilität und Ironie sind es daher die Figuren Renzo und Lucia, deren je spezifische, mit der des auktorialen Erzählers konkurrierende Wahrnehmung zu einer dynamischen Semantisierung des Raumes führt. In einem Text, der weder einer idyllischen noch einer geschichtlichen noch einer transzendenten Weltanschauung das uneingeschränkte Vorrecht einräumt, ist die Perspektivität der Protagonisten – entscheidend bedingt durch deren Raumwahrnehmung – der Fixpunkt der Lektüre. Der Blick der beiden Liebenden auf die Welt, die sie umgibt, sowie die Enttäuschungen, Anpassungen und Veränderungen dieses Blicks sind das fiktionale Angebot, das Manzoni seinen Lesern macht. Dass dieses in Teilen unter einem ironischen Vorbehalt steht, muss seine Gültigkeit nicht schmälern, da die beanspruchte Gültigkeit eine im Kleinen, im subjektiven Erleben ist. Narratologisch gesehen ist die Raumwahrnehmung der Protagonisten das zentrale Element, das die beschränkt gültige Perspektivität zum Ausdruck bringt – und damit ist die wesentliche Position bezeichnet, die Manzonis Promessi sposi in einer Reihe von Fallstudien zur Narratologie des Raumes einnehmen können.

6 Zum Rezeptionspotential des Herkunftsraumes Eine Untersuchung der diachronen Entwicklung der Leserperspektive kann Aufschluss darüber geben, ob es bestimmte Erzählformeln gibt, die konstant bleiben bzw. in welchen Punkten sie sich ändern.44 Zudem ermöglicht sie die Frage, ob der Roman einen Leser voraussetzt, der aus dem erzählten Herkunftsraum stammt. Beides soll schlaglichtartig anhand der Manzoni-Leser Goethe und Eco untersucht werden. Goethe hat den Roman schon am 15. Juli 1827 von Manzoni zugesandt bekommen.45 Drei Tage später befindet er sich mitten in der Lektüre des ersten Bandes und preist ihn gegenüber Eckermann: Ich habe Ihnen zu verkündigen […], daß Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Lokalitäten und dergleichen, gegen die großen inneren Eigenschaften um kein Haar zurücksteht.46

44 Vgl. dazu Fludernik 2003, 333. 45 So schildert es Eckerman in seinen Gesprächen mit Goethe (Eckermann 1999, 255). 46 Eckermann 1999, 257 (18. Juli 1827).

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Er betont, dass er Manzonis Text mit Walter Scotts Waverley vergleichen müsse, und hebt vier Aspekte hervor, die er besonders bemerkenswert findet.47 Dazu zählen die Gabe des Historikers, die katholische Prägung sowie die persönliche Erfahrung revolutionärer Umstürze, die Manzoni als Schriftsteller auszeichneten. Besonders aber lobt Goethe den Schauplatz, die reizende[] Gegend am Comer See […], deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennet. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werkes, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Lokalität.48

Anscheinend ist – so illustriert es Goethes Manzoni-Lektüre – gerade kein Leser aus demselben Herkunftsraum erforderlich, weil der Schauplatz so detailliert beschrieben wird, dass auch ein Leser, der nicht mit den geographischen Gegebenheiten vertraut ist, sich ein Bild von ihm machen kann. Dies ist auch insofern bemerkenswert, als selbst der zeitgenössische, gar im Herkunftsraum der Figuren lebende Leser durch die historische Differenz nicht umhin kann, die Alterität zwischen seiner Lebenswelt und der des Romans zu bemerken. Dass die von Goethe gerühmte „Deutlichkeit“ der Darstellung im Umkehrschluss gerade auch dazu dient, sich von einer eindeutigen Aussage zu distanzieren und stattdessen auf das ironische Moment aufmerksam macht, mit dem in den Promessi sposi alle Handlungsebenen aufgeladen sind, bemerkt der Manzoni-Leser Umberto Eco in dem Abschnitt seiner Harvard-Vorlesungen,49 auf den oben bereits verwiesen wurde.50 Wenn die Promessi sposi „eine Welt des schönen Scheins“ entwerfen und damit Affinitäten aufweisen „zu einer Moderne, die sich von ihren totalisierenden Projekten distanziert hat“,51 dann liegt darin eine strukturelle (freilich anachronistische) Nähe zu Jean-François Lyotard und dessen Rede vom Verlust der grands récits, der die Postmoderne von der Moderne unterscheide.52 Ohne den Begriff der Postmoderne überstrapazieren zu wollen53 ist doch die Vermutung nicht zu gewagt, dass besonders der ironische Verzicht

47 Zu einer ausführlichen Darstellung von Goethes Reaktion auf Manzonis Roman vgl. Blank 1988, 105–114 und Girardi 1989, 26–31. 48 Eckermann 1999, 260 (21. Juli 1827). 49 Vgl. Eco 1994. 50 Für eine differenzierte Betrachtung von Ecos Manzoni-Lektüre vgl. Lampart 2002, 332–336. 51 Küpper 1994, 152. 52 Vgl. Lyotard 1986. 53 Ansonsten würde die Postmoderne, wie bei Eco 1984 ironisch bemerkt, als Beschreibungsinstrument literarischer Texte bald bei Homer ankommen.

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auf das eine gültige Modell einer individualistischen, geschichtsphilosophischen oder religiösen Weltanschauung Eco gereizt haben mag, seinen ersten Roman in vielerlei Hinsicht an das große Vorbild anzulehnen. Dass die Handschriftenfiktion zu Beginn von Il nome della rosa einen solchen (ebenfalls poetologischen und rezeptionsdisponierenden) Bezug darstellt, ist offensichtlich; anknüpfend daran könnte für künftige Untersuchungen die Frage relevant sein, ob auch die räumliche Gestaltung von Ecos Roman an Manzoni angelehnt ist und seine Protagonisten Adso und Guglielmo die Räume, in denen sie sich bewegen, ebenso dynamisch semantisieren wie Renzo und Lucia die ihren.

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Sebastian Wilde

„Wo gehn wir denn hin?“ „Immer nach Hause“ Zu Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums in Friedrich von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen So genau das Erzählverfahren in Friedrich von Hardenbergs Fragment gebliebenem und 1802 postum veröffentlichtem Roman Heinrich von Ofterdingen ausgeleuchtet ist, so gründlich die Kompositionsprinzipien im Kontext der Poetik und Philosophie des Autors und in der Gattungsgeschichte des Romans verortet wurden – eine Analyse der Raumstruktur, ihrer Funktion und Bedeutung wurde bisher vernachlässigt.1 Der folgende Beitrag versucht, diese Lücke zu schließen und richtet dabei besondere Aufmerksamkeit auf den Herkunftsraum des Helden Heinrich im ersten Teil des Romans. Der unvollendete zweite Teil wird in der Analyse vorerst ausgeklammert und im abschließenden Abschnitt gesondert behandelt. Zum einen, weil seine Unabgeschlossenheit nur bedingt Rückschlüsse auf die (räumliche) Struktur zulässt, zum anderen, weil sich in ihm eine im Vergleich zum ersten Teil modifizierte Konzeption des Herkunftsraums präsentiert. Der mit dem Begriff des Herkunftsraums sich ergebende Zusammenhang zwischen der räumlichen Strukturierung und der Bewegung Heinrichs schließt an die in der Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv diskutierte Frage an, ob Hardenbergs Ofterdingen ein Bildungsroman ist. Beiträge, deren analytisches Interesse – im Anschluss an Oskar Walzels2 bis heute grundlegende formgeschichtliche Studie – der Struktur des Romans gilt, halten den Begriff des Bildungsromans zur Beschreibung des Ofterdingen für unbrauchbar. Besonders starke Kritik an diesem Begriff übt Manfred Engel:3 Ihm zufolge gehe es in diesem frühromantischen Roman (im Gegensatz zu seinen Vorgängern der Aufklärung) gerade nicht um das (empiristischen Argumentationsschemata entsprechende) determinierende Zusammenspiel von Held und Umwelt im Rahmen eines individuellen Bildungsgangs, sondern um die Herausbildung eines transzendentalen

1 Einen Überblick über Hauptlinien der Ofterdingen-Forschung bietet Uerlings 1991, 398–418. Den Raum im Ofterdingen untersuchen Grießmann 1955, Hartmann 1974 und Gallant 1978. Korpás 2009 beschränkt sich auf imaginative Räume. 2 Walzel 1915/1919. 3 Vgl. Engel 1993, 1–14, 444–496; vgl. auch Schulz 1964, 144 und Uerlings 1998, 182–183. Als Alternative führt Engel den durchaus plausiblen Begriff des Transzendentalromans ein.

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Bewusstseins – eines Bewusstseins, dessen Fundament die nach-kantische Transzendentalphilosophie bilde und das auf die Vermittlung von absoluter Einheit und Vielfalt ausgerichtet sei.4 Und so greife Hardenbergs Ofterdingen auch nicht auf den pragmatisch-kausalen Nexus einer Individualgeschichte zurück. Vielmehr arbeite er u. a. mit Kontrast- und Ähnlichkeitsbeziehungen verschiedener Figurenreihen, mit Korrespondenzen zwischen Träumen, intra- und extradiegetischen Erzählungen oder mit narrativen Zusammenhängen, die durch Metaphern, Motive und Symbole hergestellt werden. Mit seiner Gesamtkomposition erzeuge der Roman ein Sinnganzes, das sich wie ein Schleier über die histoire lege und einen höheren Allzusammenhang andeute – andeute wohlgemerkt, nicht darstelle. Im Ofterdingen liege der Akzent auf der Form und nicht auf der Geschichte des Romans. Auf welcher Ebene der literarischen Kommunikation sich das transzendentale Bewusstsein allerdings einstellen soll, wird in Engels Ausführung nicht immer deutlich. Seine Betonung der Gesamtkomposition des Romans und seine Kritik am Begriff des Bildungsromans samt der damit verbundenen Betonung der Individualgeschichte legen nahe, dass es sich dabei in erster Linie um das transzendentale Bewusstsein eines impliziten Lesers handelt, der den Roman in all seinen subtilen Bezügen überblickt, oder das eines impliziten Autors, nicht aber das Bewusstsein individueller Figuren auf der Ebene der histoire. Doch verortet Engel das transzendentale Bewusstsein auch auf Figurenebene, indem er die These vertritt, dass Heinrich zu keinem Zeitpunkt des Romans „eine einseitige und daher korrekturbedürftige“5 Position beziehe, sich die Welt also von Beginn an nach transzendentalphilosophischen Prinzipien erschließe.6 So wichtig und ertragreich die formgeschichtlichen Studien für die philosophie- und gattungsgeschichtliche Einordnung des Ofterdingen sind – die mit Nachdruck betonte Abkehr von den bildenden Individualgeschichten des Aufklärungsromans hat meines Erachtens dazu geführt, dass die histoire des Ofterdingen zu sehr aus dem Fokus geraten ist bzw. dass Einsichten in die Form, d.h. die Gesamtkomposition des Romans und dessen daraus abgeleitete poetologische Normen vorschnell auf die histoire-Ebene und damit auf die Figur Heinrich rückprojiziert wurden: Weil der Roman in seiner transzendentalen Gesamtkompo-

4 Im Anschluss an Kant bezeichnet der Begriff „transzendental“ die Erkenntnismöglichkeiten des Subjekts (Kant, Kritik der reinen Vernunft, 63). 5 Engel 1993, 474. 6 Vgl. auch Engel 1993, 461, Anm. 40 und 480. Andernorts relativiert Engel seine These zwar, kommt aber im Grunde zum gleichen Ergebnis: „[B]ei Heinrich schließlich kann von einer ausdrücklichen Korrektur […] kaum mehr die Rede sein“ (Engel 1994, 490).

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sition das narrative Modell des Bildungsromans unterlaufe – so ließe sich u.a. Engels Position zugespitzt zusammenfassen –, könne auch der Held auf der histoire-Ebene keinen Bildungsweg beschreiten. Ziel des Beitrags ist es, eben jene Ebene der histoire, das heißt den linearen Gang der erzählten Geschichte stärker in den Blick zu nehmen, erstens um Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums zu analysieren, zweitens aber auch, um die Frage nach der Bildung Heinrichs noch einmal zu stellen. Vorausgeschickt seien dabei folgende Thesen: Zu Beginn des Romans bezieht Heinrich durchaus eine korrekturbedürftige Position: Er neigt zur vermögenspsychologischen Einseitigkeit. Was ist damit gemeint? Das oben erwähnte transzendentale Bewusstsein sieht eine Vermittlung der geistigen Vermögen Gefühl und Reflexion vor. Erst im durch die Einbildungskraft vermittelten produktiven Zusammenspiel ist (nach Hardenberg) eine adäquate, transzendentale Anschauung der Welt möglich.7 Dieses vermittelnde Zusammenspiel wird als ein prinzipiell unabschließbares Wechselverhältnis vorgestellt. Eben diese Vermittlung vollzieht sich aber zu Beginn des Romans gerade nicht, sie wird erst mit Heinrichs Reise nach Augsburg angestoßen. Im Unterschied zu Engel gehe ich also davon aus, dass Heinrich einen Bildungsweg durchläuft. Zugleich ist aber im Anschluss an Engel zu betonen, dass dieser Bildungsweg nicht in empirisch nachweisbare Erfolge mündet, sondern eben der Herausbildung eines transzendentalen Bewusstseins folgt – eines Bewusstseins, das auf der Ebene der Gesamtkomposition immer schon symbolisch vermittelt sein mag, das Heinrich im linearen Gang der histoire aber erst sukzessive erlangt. Die zweite These hängt damit unmittelbar zusammen: Die Raumstruktur des Romans spielt bei der vermögenspsychologischen Vermittlung eine entscheidende Rolle, da sie sich auf der Ebene der histoire in räumlicher Hinsicht konkretisiert. Es soll gezeigt werden, dass analog zum unabschließbaren Wechselspiel der Vermögen auch die räumliche Vermittlung nicht abschließbar ist, was sich wiederum auf den Bildungsweg Heinrichs auswirkt: Ein räumlich konkretisiertes telos der Bildung gibt es für ihn nicht.

7 Vgl. Uerlings 2004.

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1 Der Figurenkonflikt des Herkunftsraums Heinrich wächst im thüringischen Eisenach auf, im Haus seiner Eltern (der „Stube“8). In der Rahmenerzählung ist die Stube ausschließlicher Schauplatz des ersten Kapitels, bildet demnach den Raum der erzählten Geschichte, „der zur faktischen Umgebung eines Ereignisses wird und in dem die Origo verortet ist.“9 Von hier aus macht er sich am Anfang des zweiten Kapitels zusammen mit seiner Mutter nach Augsburg auf, zu Heinrichs Großvater, dem alten Schwaning. In die Familienkonstellation des Eisenacher Elternhauses wird der Leser gleich mit dem ersten Satz des Romans eingeführt: „Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes“ (HvO 195). Dass der Herkunftsraum von Beginn an unmittelbar mit einer spezifischen Figurenkonstellation verbunden ist, Informationen über genuin räumliche Details demgegenüber jedoch nur äußerst sparsam vergeben werden, ist folgenreich für die Semantisierung des Herkunftsraums, ergibt sie sich doch somit in erster Linie über die Beziehungen der Figuren untereinander. Der Frage nach der Bedeutung des Herkunftsraums in Hardenbergs Roman geht so die Frage nach der Figurenkonstellation voraus. Im ersten Kapitel dominiert das Verhältnis Heinrichs zu seinem Vater, das sich vor allem im berühmten Gespräch über die jeweilige Auffassung von Träumen äußert. In der Forschung wird das Verhältnis meist wie folgt gedeutet: Der Vater dient als Kontrastfigur, der die Position Heinrichs deutlich hervortreten lässt. Er ist ein Philister,10 also jemand, der sich in der Erklärung der Welt allein von Kriterien des Verstands leiten lässt. Für ihn sind „Träume […] Schäume“ (HvO 198), was zunächst einmal heißt, dass sie seiner Meinung nach „ihre Funktion verloren haben, übernatürliche Zusammenhänge zu offenbaren“11: „In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr Statt“ (HvO 198) – das ist aufklärerische Metaphysikkritik in nuce. Darüber hinaus steht die väterliche Ablehnung der Träume aber auch im Kontext der Diskussionen über den anthropologischen Wert der Phantasie. Engel hat überzeugend nachgewiesen, wie vertraut Hardenberg mit den Traumtheorien seiner Zeit war.12 Als Philister spricht der Vater der Phantasie die produktive Funktion ab und bildet dabei eben

8 Schriften I, 195. Im Folgenden mit der Sigle HvO und Seitenzahl direkt im Text zitiert. 9 Dennerlein 2009, 240. 10 Vgl. Engel 1997, 168. 11 Engel 1997, 168. 12 Vgl. dazu grundlegend Engel 1997 und, in allgemeinerer Darstellung, Engel 1998.

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die Kontrastfolie für die Trauminterpretation Heinrichs. Zweifelsohne zeigen sich im Vater überdeutlich Züge einer spätaufklärerischen Position des Empirismus. Doch hat, wie mir scheint, Hardenbergs bisweilen ins Karikaturhafte entgleitende Zeichnung der Vaterfigur dazu geführt, ihre Funktion vorschnell ausschließlich in der Markierung einer Weltanschauung zu sehen, von der sich Heinrichs Position abgrenze und mit der der frühromantische Autor Hardenberg dem Leser ein positives Modell der Welterschließung anbiete. Übersehen wird, dass auch Heinrich zur weltanschaulichen Einseitigkeit neigt, nicht so deutlich wie sein Vater, doch in ausreichendem Maße, um Engels These, er sei an keiner Stelle des Romans eine korrekturbedürftige Figur, zu relativieren. Blickt man zunächst auf das Traumgespräch selbst, fallen vor allem die Metaphern auf, die Heinrich in seiner Apologie verwendet: Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantasie, wo sie alle Bilder des Lebens durcheinanderwirft, und die beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen durch ein fröhliches Kinderspiel unterbricht. (HvO 199)

Engel zeigt mit seiner kulturhistorischen Verortung des Traum-Gesprächs, dass Heinrichs Apologie (teilweise) noch im Zeichen spätaufklärerischer Versuche steht, die Eigenständigkeit der Seele mit ihrer Phantasie gegenüber dem Körper aufzuwerten.13 Für Engel ist es jedoch [e]rstaunlich […], daß im Ofterdingen zwei in der aufklärerischen Traumtheorie selbstverständlich verbundene Elemente in Oppositionen zueinander treten: Der durch empirische Umstände – Körperempfindungen, Tagesreste und konstitutionelle Eigenheit – bedingte Traum, von dem die Eltern reden, steht gegen das von Heinrich konstatierte freie und eigengesetzliche Spiel der Einbildungskraft.14

Engel versteht Heinrichs Apologie als ein positives Theorieangebot Hardenbergs, als ein „Kabinettstück romantischer Traumdichtung“,15 das sich von der väterlichen spätaufklärerischen Defizittheorie des Traums klar abgrenze. Dabei öffnet Engels Erstaunen über die Trennung zwischen einer empiriegebundenen Traumtheorie und einer Auffassung vom Traum als autonomem Spiel der Phantasie aber auch den Blick auf Heinrichs einseitige und korrekturbedürftige Position, die er

13 Vgl. Engel 1997, 160–161. 14 Engel 1997, 161. 15 Engel 1997, 161.

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gerade durch die strikte Trennung von Leben und Traum zugunsten des freien Phantasiespiels bezieht. Verdeutlichen lässt sich dies mit Hardenbergs Traumtheorie selbst, darüber hinaus aber auch mit seiner Romantisierungstheorie, die eine Analogie zur Traumtheorie aufweist: Die ideale Form des Träumens ist für Hardenberg ein „[w]aches Träumen“,16 ein „Träumen und Nichtträumen zugleich“,17 bei dem Verstand und Phantasie, „Bewußtsein und bewußtlose Spontaneität“18 produktiv aufeinander bezogen und damit vermittelt werden – ebenso wie im Akt des Romantisierens: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“.19 Das Gewöhnliche, das bezeichnenderweise fast wörtlich in Heinrichs vorgetragener Auffassung von Träumen anklingt, bildet hier einen unerlässlichen Bezugspunkt der geistigen Operation des Romantisierens. Das umfasst auch die Empirie der Wirklichkeit bzw. die lebensweltlichen Bezüge der Gesellschaft.20 Im Vergleich dazu plädiert Heinrich ganz im Gegensatz aber für die Abkehr von der „Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens“, vollzieht also die Vermittlung von Phantasie und Verstand gerade nicht. Komplementär zu den philisterhaften Zügen des Vaters neigt er in seiner Traumapologie zur Abkehr von lebensweltlichen Bezügen, zur schwärmerischen Weltentrückung.21 Heinrichs Interpretation des Traums steht damit klar im Zeichen einer Dissoziation. Bemerkenswert ist hierbei, dass das über die Figurenkonstellation eingespielte Vermittlungsproblem von Beginn an auch in räumlichen Kategorien präsentiert wird, zunächst im uneigentlichen, metaphorischen, dann aber auch im eigentlichen Sinn. Gleich zu Beginn des Romans, noch bevor Heinrich eigentlich zu träumen anfängt, fasst er sein Sinnieren über die blaue Blume in das Bild eines Weltenwechsels: „[E]s ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen gekümmert“ (HvO 195). Der Traum von der blauen

16 Schriften III, 89. 17 Schriften III, 63. 18 Engel 1997, 164. 19 Schriften II, 545. 20  Vgl. Stockinger 2003, 101. 21  Zwar spricht Herbert Uerlings davon, dass „Privatheit und Intimität bis hin zur Abgeschiedenheit und Weltferne […] Heinrichs Leben im ersten Teil [kennzeichnen]“, doch bezieht er dies auf die Lebensverhältnisse der Familie Ofterdingen allgemein und rückt beides in den Kontext romantischer Geselligkeitskonzeptionen. Eine Korrekturbedürftigkeit Heinrichs leitet er daraus nicht ab (Uerlings 1991, 403).

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Blume und der damit verbundenen Phantasietätigkeit setzt – so legt es die Metapher nahe – einen imaginären Raumwechsel voraus.22 Heinrich ‚verlässt‘ die ihm bekannte Welt und ‚betritt‘ eine andere, in der offenbar Dinge dominieren, die in der ersten keine Geltung finden: Rausch, Ergriffenheit, Tänze, erotische Ekstasen, nie gesehene Bilder, unendliche Fluten der Leidenschaft, das Gegenteil also von Verstand, Regelmäßigkeit, fester Alltagsordnung. Dieser imaginierte Raumwechsel korrespondiert mit Heinrichs später formulierten Traumapologie: Um das enthemmte Spiel der Phantasie zu ermöglichen, muss er sich komplett abkehren von der prosaischen Regelmäßigkeit des Lebens, muss eine „Schutzwehr“ gegen sie errichten. Wenige Absätze später, unmittelbar im Anschluss an Heinrichs Traum, wird das Problem der Vermittlung von Verstand und Phantasie, Traum und Wirklichkeit im ganz wörtlich zu verstehenden Sinne als Raumproblem dargestellt. Zwar gibt der Text keine weiteren Informationen über die konkrete Strukturierung der elterlichen Stube, doch lässt der folgende mürrische Morgengruß, mit dem sich der Vater an Heinrich wendet, einige Schlussfolgerungen zu: „Du Langschläfer, sagte der Vater, wie lange sitze ich schon hier, und feile. Ich habe deinetwegen nichts hämmern dürfen; die Mutter wollte den lieben Sohn schlafen lassen. Aufs Frühstück habe ich auch warten müssen“ (HvO 197). Anscheinend lässt die Raumaufteilung des Elternhauses es nicht zu, dass Heinrich seinen Träumen zur gleichen Zeit nachgehen kann wie der Vater seiner Handwerksarbeit. Die Gegenüberstellung von Phantasie und Verstand im Traumgespräch wird damit durch die räumliche Ausgestaltung der elterlichen Stube und der daraus resultierenden Nutzungsmöglichkeiten verstärkt. Mit dem anhand der Figurenkonstellation präsentierten unvermittelten Nebeneinander von Phantasie und Verstand reiht sich Hardenbergs Ofterdingen ein in die Artikulation eines epochenspezifischen Problembewusstseins, das in kulturgeschichtlichen Studien der Zeit verbunden wird mit dem, was die Soziologie als funktionalen Ausdifferenzierungsprozess der modernen Gesellschaft bezeichnet. Als Beispiel seien Friedrich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zitiert. Das anthropologische Problem leitet sich hier unmittelbar aus dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ab: Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite erweiterte Erfahrungen und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung

22 Den Begriff des Raums verwende ich im Anschluss an Katrin Dennerlein: „Räume sind Objekte der erzählten Welt, die eine Unterscheidung von innen und außen aufweisen und die nach den Regeln der erzählten Welt zur Umgebung mindestens einer Figur werden oder werden können“ (Dennerlein 2011, 158).

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der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand verteilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren Grenzen sie jetzt anfingen mit Mißtrauen und Eifersucht zu bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit der Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen.23

Vor dem Hintergrund des Gesagten – so lässt sich bis hierhin festhalten – trägt der über die Figurenkonstellation präsentierte Konflikt maßgeblich zur Semantisierung des Herkunftsraums bei. Zuspitzend könnte man sagen: In der elterlichen Stube findet der von Schiller beklagte ausdifferenzierte Staat der Moderne seinen symbolischen Ausdruck. Daraus folgen jedoch nicht nur Probleme mit gesellschaftlicher (Schwierigkeiten der Identitätsbildung24) und anthropologischer Tragweite. Auch die Kunst ist davon betroffen, womit das Vermittlungsproblem zu einem poetologischen wird. Im ersten Kapitel ist der Vater die Künstlerfigur, nicht Heinrich, der ja bisher nur „Anlage zum Dichter“ (HvO 208) hat. Als reine Handwerkskunst steht die väterliche Kunst jedoch ganz im Zeichen der Regel- und Zweckmäßigkeit und damit nicht zuletzt auch im Zeichen des ökonomischen Nutzens. In seiner für die Konzeption des eigenen Romans eminent wichtigen Auseinandersetzung mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre25 beklagt Hardenberg bekanntlich, dass dort die „Oeconomische Natur […] die Wahre – Übrig bleibende“26 sei. Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird deutlich, dass Hardenberg seinen Ofterdingen dort beginnen lässt, wo Goethes Roman seiner Meinung nach aufhört: beim Sieg des Verstandes über die Kunst. Doch auch hier ist der Vater nicht einfach ein karikierter und implizit kritisierter Pappkamerad, sondern bildet (analog zum Traumgespräch) ein poetologisches Komplement. Der Argumentation vorgreifend, sei hier schon auf das Gespräch zwischen Heinrich und Klingsohr im achten Kapitel hingewiesen, in dem der Lehrer dem Schüler eine Kunst nahelegt, die sich gerade durch Rückbindung der Phantasie an die verstandesgeleitete handwerkliche Technik und den Stoff der Empirie auszeichnet, um nicht gänzlich die Lebensbezüge der Wirklichkeit zu verfehlen und abzugleiten ins „Unsinnliche, Übermä-

23 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 583. 24 Vgl. etwa Eibl 1995. 25 Vgl. dazu überblicksartig: Uerlings 1991, 444–449; Uerlings 1998, 179–188; zu den MeisterStudien von 1797 detailliert Mähl 1963. 26 Schriften III, 646.

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ßige“ (HvO 285).27 Phantasie steht hier mit der Berücksichtigung der empirischen Verhältnisse und einer Reflexion, die empirische Mannigfaltigkeit zu einer „leichtfaßliche Ordnung“ (HvO 286) zusammenhält, in einem dialektischen Verhältnis.

2 Der Herkunftsraum, sein topografisches Korrelat und der ordo inversus Mit der Reise vom nördlichen Eisenach ins südlich gelegene Augsburg wird das zunächst über die Kontrastierung der Figuren dargestellte Problem der Unvermitteltheit komplementärer geistiger Vermögen zusätzlich in ein räumliches Vermittlungsproblem überführt. Augsburg präsentiert sich als ein Ort der Sinnlichkeit, der Leidenschaft, mannigfaltiger Eindrücke. Hier gibt es ein Festgelage, hier tanzt, hier verliebt sich Heinrich. Das Leben in Augsburg ist das genaue Gegenteil des geregelten Alltags von Heinrichs Vater. So sieht es auch Schwaning, wenn er zu Klingsohr über Heinrichs Vater sagt: „Eine gewisse Freysinnigkeit fehlte ihm. Es hätte mehr aus ihm werden können, als ein fleißiger und fertiger Künstler“ (HvO 271). Kurz darauf fängt er an, mit „lauter Stimme“ ein Lied über die von den Eltern unterdrückten (sexuellen) Leidenschaften der Jugend zu singen – ein Lied, das den anwesenden Mädchen die Schamesröte ins Gesicht treibt (vgl. HvO 272–274). In einer für den Roman typischen Korrespondenz von Rahmen- und Binnenerzählung reflektiert das Lied Heinrichs Situation im ersten Kapitel: Angesichts einer Welt, in der – metaphorisch gesprochen – sich niemand „um Blumen bekümmert“ (HvO 195), in der die Ordnung des ‚eingetakteten‘ Alltags28 die ‚Tanzbewegung‘ der Leidenschaft nicht

27 Ich deute die Poetik Klingsohrs im Gegensatz zu Engel (Engel 1993, 474) somit nicht als rein empiriegebunden und auch nicht als inkompatibel mit der Poetik des Autors Hardenberg, so wie sie bspw. im oben zitierten Romantisierungsfragment sich ausdrückt. Denn bei Klingsohrs Akzentuierung der Erfahrungswelt muss meiner Meinung nach beachtet werden, dass Heinrich zu diesem Zeitpunkt zum anderen Extrem neigt, Klingsohr mit seiner Überbetonung des poetologischen Komplements des Empiriebezugs also ein didaktisches Ziel verfolgt (Klingsohr bezeichnet Heinrich als „Lehrling“ [HvO 285]). Dass Klingohrs Poetik durchaus mit der Hardenbergs kompatibel ist, zeigt eine Formulierung, die meines Erachtens deutliche Anklänge an Hardenbergs Romantisierungsfragment erkennen lässt: „[D]as Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern“ (HvO 286). Vgl. zu dieser Deutung von Klingsohrs Poetik auch Uerlings 2004 und Bomski 2014, 154. 28 Die „Wanduhr“ in der elterlichen Stube, von der es gleich im ersten Satz – und damit an äußerst prominenter Stelle – heißt, dass sie ihren „einförmigen Takt“ schlage (HvO 195), lässt sich als symbolische Veranschaulichung der verstandesgeordneten „Regelmäßigkeit und Gewöhn-

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zulässt,29 sei der Traum die einzige Möglichkeit, Leidenschaften zu kanalisieren: „Was bleibt einem armen Kinde / Außer süßen Träumen noch?“ (HvO 273). Demgegenüber wirkt das Festgelage in Augsburg, auf dem Schwaning sein Lied vorträgt, als verkehre sich hier die Phantasiewelt aus Heinrichs Traum in die Wirklichkeit: Hier kann er tanzen, hier glaubt er, in Mathilde das Gesicht der blauen Blume wiederzusehen.30 Im Zusammenspiel von Lied und Rahmenerzählung wirkt es, als setze Schwaning (analog zum unvermittelten Gegenüber von Phantasie und Verstand im ersten Kapitel) der verstandesgeleiteten, die sinnlichen Bedürfnisse einschränkenden Kontrolle des Menschen polemisch eine „Rehabilitation der Sinnlichkeit“31 entgegen. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass Schwaning das vermögenspsychologische Spannungsverhältnis als Generationenkonflikt darstellt: „Allem was die Eltern sprechen, / Widerspricht das volle Herz. / Die verbotne Frucht zu brechen / Fühlen wir der Sehnsucht Schmerz; / […] Wird denn nie das Blatt sich wenden, / Und das Reich der Alten enden?“ (HvO 272– 274). Die Entsprechung von Phantasie und Sinnlichkeit wird schließlich auch in einem Gespräch zwischen Heinrich und Klingsohr betont, in dem Heinrich die so noch nie erlebte „schöpferische und gediegene Heiterkeit“ der Festgemeinschaft mit seiner „innere[n] Fantasie“ (HvO 279) vergleicht.32 Da nun die Figuren, über die der Roman das vermögenspsychologische Vermittlungsproblem zunächst ins Spiel bringt, auf der Ebene der histoire an einen Raum gebunden sind, ist die Frage nach der Vermittlung dieser Vermögen immer auch eine Frage nach der räumlichen Vermittlung. Festzuhalten ist dabei, dass Sinnlichkeit und Phantasie, repräsentiert durch Schwaning und Heinrich, der durch den Vater repräsentierten anthropologischen Kategorie des Verstandes im nördlichen Eisenach gegenüberstehen.33 Über welche narrativen Verfahren die

lichkeit“ der elterlichen Lebenswelt deuten. 29 Kurz bevor sich Heinrich „allmählich in süßen Fantasien [verlor] und entschlummerte“, denkt er: „Sonst tanzte ich gern; jetzt denke ich lieber nach der Musik“ (HvO 196). 30 „Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht […]“ (HvO 277). 31 Vgl. Kondylis 2002, 19. 32 Zu diesem für den Ofterdingen typischen narrativen Verfahren vgl. Engel 1993, 475–477. 33 Am Rande sei hier erwähnt, dass Hardenberg mit dieser Semantisierung räumlicher Relationen (vgl. Lotman 1973, 327–347) anschließt an zeitgenössische, auf antike Modelle zurückgehende klimatheoretische Stereotype, wonach in der nördlichen Kältezone der Verstand, in der südlichen Hitzezone hingegen die Sinnlichkeit dominiert (vgl. dazu überblicksartig Fink 1987). Die topografische Konkretisierung dieser Zonen – das zeigt die Rezeptionsgeschichte – hängt u. a. mit spezifischen kulturpolitischen Interessen zusammen. Dass die in der Regel über mehrere Länder sich erstreckende Differenzierung der Zonen im ersten Teil des Romans fast gänzlich ins mittelalterliche Deutschland hineinverlagert wird (Rom wird lediglich kurz angesprochen),

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zunächst in einem Spannungsverhältnis stehenden Vermögen in ein produktives Vermittlungsverhältnis gesetzt werden, soll sich im Folgenden zeigen. Im Kontext des Augsburger Fests ist es Klingsohr, der im mit Heinrich geführten poetologischen Gespräch einen impliziten vermittelnden Bezug zur Vaterfigur im Norden herstellt. Nachdem Heinrich das festliche Bacchanal, an dessen Ende er sich vorstellt, sich „in Musik auf[zu]lösen“ (HvO 277), erlebt hat, „erhitzt“ (HvO 278) ins Bett gegangen ist und von Mathilde und der ewigen Vereinigung mit ihr geträumt hat (HvO 278f.), wendet sich Klingsohr am nächsten Morgen mit folgender Ermahnung an ihn: „Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich, und der Dichter wird wenig Wunder thun können, wenn er selbst über Wunder erstaunt“ (HvO 281). – Wie lässt sich das verstehen? Im Allgemeinen Brouillon führt Hardenberg als Problem für „Aberglaube und Irrthum aller Zeiten“ die „Verwechselung des Symbols mit dem Symbolisirten“34 an, den Glauben also, dass das, was nur eine regulative Idee sein kann, tatsächlich erfahrbar ist. Ein Wunder ist ein sich naturgesetzlichen Erklärungen entziehendes Phänomen, eine Unmöglichkeit also in der menschlichen Erfahrungswelt, die nach Naturgesetzen verläuft. Wer dennoch daran glaubt, so Klingsohr, löst sich von der Empirie der Wirklichkeit und gleitet ab ins „Übersinnliche, Übermäßige“ (HvO 285).35 Wenn der Dichter hingegen Begeisterung und Phantasie in ein produktives Zusammenspiel mit dem Verstand bringt, kann er mit seiner Dichtung „Wunder tun“, weil er (auf welche subtile Art auch immer) den Konstruktionscharakter des dargestellten Wunderbaren selbst mit darstellt, das Dargestellte also relativiert – das ist romantische Ironie in Reinform.36 Diese transzendentalpoetische Unterweisung wirkt nun auf Heinrich als Korrektiv, da er im Kontext des Fests offensichtlich stark zur Begeisterung neigte, analog zu seiner Phantasietrunkenheit im ersten Kapitel. Dass auch in Augsburg nicht mehr viel fehlte zur Verwechslung von Symbol und Symbolisiertem, von der

hängt mit dem Interesse der Frühromantiker an einer Aufwertung des Mittelalters zusammen (vgl. Kasperowski 1994) und kann wohl auch als polemische, anti-klassizistische Spitze gegenüber den in der Folge Winckelmanns unternommenen Versuchen verstanden werden, künstlerische und kulturelle Normen aus der klimatischen Idealität südlich der Alpen abzuleiten. 34 Schriften III, 397. Auch Klingsohr erwähnt im Kontext des Gesprächs den Aberglauben (vgl. HvO 281). Kant bestimmt den Aberglauben als größtes aller Vorurteile des Verstandes: „das größte unter allen [Vorurteilen, S. W.] ist, sich die Naturregeln, welche der Verstand ihr [der Vernunft, S. W.] durch ihr eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt, als sich nicht unterworfen vorzustellen“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, 226). 35 Dass gerade darin ein nach wie vor hartnäckig sich haltendes Romantikklischee besteht, darauf weist Matthias Löwe hin (Löwe 2013). 36 Zur romantischen Ironie vgl. etwa Frank 1989.

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Idee einer absolut vereinigenden Liebe und Mathilde, zeigt sich darin, dass das etwa vom Spätromantiker Eichendorff so raffiniert eingesetzte Ironiesignal des Konjunktivs in genau jener Situation, in der Heinrich über den Zusammenhang der blauen Blume und Mathilde nachdenkt, fehlt: „Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mit entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht“ (HvO 277, Hervorhebung S. W.). Dass sich mit Klingsohrs Transzendentalpoetik ganz praktische Folgen für die Kunstausübung verbinden, zeigt der Fortgang des Gesprächs – Klingsohr sagt: „Die Poesie will vorzüglich […] als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu seyn“ (HvO 282), und später: „Für den Dichter ist die Poesie an beschränkte Werkzeuge gebunden, und eben dadurch wird sie zur Kunst“ (HvO 286). Damit bezeichnet er zunächst metaphorisch die mediale Seite der Kunst, die Begrenztheit der Sprache etwa, bezieht sich aber auch auf die ganz wörtlich zu verstehende handwerkliche Seite der Kunst. Zweimal verweist Klingsohr damit implizit auf Heinrichs Vater und den Raum im Norden: indem er das geistige Vermögen des Verstandes betont und indem er anmahnt, die damit korrespondierende handwerkliche Seite der Kunst (so wie sie vom Vater ausgeführt wird) zu beachten. Zu einer expliziten Vermittlung vom Herkunftsraum Eisenach und seinem südlichen Korrelat Augsburg kommt es über die von den Romanfiguren vollzogenen Bewegungen. Dabei fällt auf, dass Heinrichs Reise nach Süden eine Wiederholung der von seinem Vater als junger Mann unternommenen Reise ist, von der man im ersten Kapitel erfährt (vgl. HvO 200–202): Er reist zunächst nach Rom, bricht von dort, nachdem er wie Heinrich von einer Blume geträumt hat, „von heftiger Liebe bewegt“ (HvO 202) nach Augsburg zu Heinrichs Mutter auf, um sich später mit ihr in Eisenach niederzulassen, zuvor mit ihr aber noch ihren Sohn zu zeugen.37 Das Detail der Zeugung ist wichtig, weil die aus transzendentalpoetischen Gründen angestrebte vermögenspsychologische Vermittlung im Ofterdingen, die als räumliche Vermittlung vorgestellt wird, aus familiengenealogischer Perspektive in Heinrich bereits angelegt ist – angelegt wohlgemerkt, noch nicht vollzogen. Die Vermittlung setzt ein transzendentalpoetisches Bewusstsein voraus, die poetologischen Gespräche mit Klingsohr sind die Grundlage für dessen Herausbildung. Konkret hat dies ein Bewegungsmodell zur Folge, das sich in der Familiengenealogie bereits andeutet, mit der von der Mutter initiierten Reise angestoßen wurde, von Heinrich selbst aber fortgesetzt werden muss. Herbert Uerlings’

37 Auf die Verbindung entgegengesetzter Räume mittels einer wiederholten Bewegung entlang einer abstrakten Achse macht schon Gallant 1978 aufmerksam, beschränkt sich aber auf die strukturale Beschreibung. Nachgezeichnet werden dort auch Analogien zwischen Rahmenerzählung und Binnengeschichten.

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lapidare Feststellung, dass Hardenbergs Ofterdingen wohl „der einzige Roman der Weltliteratur [ist], in dem der Held ständig von seiner Mutter begleitet wird“,38 findet in der familiengenealogischen Vermittlung der Räume eine transzendentale Begründung. Daraus lässt sich auch eine implizite Kritik an der ‚Unbeweglichkeit‘ der familiären Gemeinschaftsstruktur des ersten Kapitels ableiten: Nach seinen Reisen ist der Vater ,angekommen‘ und hat sich mit seiner Familie häuslich eingerichtet. Indem mit Beginn des zweiten Kapitels die Bewegung entlang der Nord-Süd-Achse wiederholt wird, setzt der Roman auf der Ebene der histoire der erstarrten Familienstruktur eine Re-Dynamisierung entgegen. Man mag einwenden, dass damit das im ersten Kapitel von Heinrichs Eltern verwendete empiristische Argumentationsmuster wiederholt wird, dass Heinrichs Bildung also von äußeren, räumlich bedingten Faktoren abhängt. Tatsächlich ist es aber sinnvoll, hier von einer symbolischen Veranschaulichung sowohl des vermögenspsychologischen Vermittlungsproblems als auch seiner Lösung zu sprechen – einer Veranschaulichung, die in der Darstellung auf die Figurenkonstellation, aber eben auch auf räumliche Strukturen zurückgreift. Dass mit der Reise die Vermittlung noch nicht vollzogen, das telos nicht erreicht ist, sondern vielmehr eine fortdauernde Bewegung zwischen Norden und Süden notwendig ist, lässt sich kontextualisierend mit Hardenbergs Konzept des ordo inversus erhellen, einer Denkfigur, mit der er – in Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie Fichtes – die Grenzen menschlicher Erkenntnis auslotet.39 Allgemein bedeutet ordo inversus zunächst „die Bewegung eines Ausgehens von einem Ausgangspunkt, das sich im Zuge eines Zurückkehrens wieder mit ihm verknüpft.“40 In der spezifischen Verwendung Hardenbergs ist damit der Versuch des Ich gemeint, eine im ‚Ausgang‘ (etwa im Kontext sinnlicher Eindrücke und im Spiel der Phantasie) gefühlte absolute Einheit im Zuge einer reflexiven Rückwendung zur Erkenntnis zu bringen. Hardenberg geht von der Wortbedeutung von ‚Reflexion‘ aus: Reflektiert das Ich auf das Gefühl, dann erhält es ein spiegelverkehrtes Bild vom vorher gefühlten Absoluten, eben einen ordo inversus, eine verkehrte Ordnung. Bleibt es bei dieser ersten Reflexion stehen, unterliegt es einer Täuschung, denn wie das Spiegelbild nicht das Gespiegelte selbst ist, so ist auch das reflektierte Absolute nicht mit dem Absolutem identisch – es kann also

38 Uerlings 1991, 403. 39 Vgl. grundlegend Frank 1989, 248–261 und Frank 1998, 816–821; zum ideengeschichtlichen Werdegang des ordo inversus (mit besonderer Berücksichtigung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts) vgl. Danneberg 2010. 40 Danneberg 2010, 93.

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nicht zur Erkenntnis gebracht, sondern nur gefühlt werden. An diesem Punkt der Erkenntnis des Nicht-Wissens bleibt das Ich stehen.41 So wie Verstandestätigkeit und Gefühl in andauerndem Wechselverhältnis stehen, so muss auch die Vermittlung der beiden Räume in einer ganz wörtlich zu verstehenden Bewegung andauernd vermittelt werden. Die Unabschließbarkeit der Bewegung entspricht dabei der unmöglichen Gleichzeitigkeit von Verstandestätigkeit und Gefühl. Wird der ordo inversus in der Forschung im Sinne einer „Bestimmung des Selbstbewusstseins als Zeitlichkeit“42 gedeutet, so lässt sich hier ergänzend von einer Verräumlichung dieses Konzepts sprechen. Die philosophische Denkfigur des ordo inversus konkretisiert sich hier in einem für die Ebene der histoire bestimmenden Bewegungsmodell des Helden; die von Hardenberg im Kontext seiner theoretischen Reflexionen verwendete metaphorische Formulierung einer „Hin und her Direction“43 lässt sich mit Blick auf die histoire-Ebene des Ofterdingen so auch ganz wörtlich verstehen. Reflektiert wird diese unabschließbare Bewegung schließlich im Märchen Klingsohrs. Dass dieses Märchen unter anderem eine Synthese differenter geistiger Vermögen darstellt, ist bekannt. Franziska Bomski verwendet dafür die treffende Formulierung der „vermögenspsychologischen Utopie“,44 wobei sie mit dem Begriff der Utopie markiert, dass die im Märchen vollzogene Synthese für die Figuren auf extradiegetischer Ebene nur eine regulative Idee sein, nur im unendlichen Wechsel vollzogen werden kann.45 Um die Deutung des Märchens für sich soll es hier jedoch nicht gehen, vielmehr um die Korrespondenz zwischen Rahmen- und Binnenerzählung. Wichtig dafür ist die Beobachtung, dass in Klingsohrs Märchen das welterlösende utopische Reich Arcturs, in dem Freya und Eros, Frieden und Liebe in der Hochzeit vereint werden, im Norden liegt. Nach Norden weist auch (einer Kompassnadel entsprechend) das „eiserne[] Stäbchen“ (HvO 294), das der Vater zunächst dem Schreiber überreicht (vgl. HvO 294). Neben der damit einhergehenden mythologischen Bedeutung des Nordens46 lässt sich dieser deiktische Verweis auch mit dem Handlungsverlauf auf der Ebene der Rah-

41 Dass das gefühlte Absolute reflexiv nicht einholbar ist, entspricht Dannebergs grundsätzlicher Beobachtung, dass der ordo inversus im 18. Jahrhundert zerbricht: „Das, was geschieht, ist, daß Bestandteile des ordo inversus nicht mehr so gesehen werden (können), daß sie sich gemeinsam in einen (geschlossenen) ordo inversus fügen.“ (Danneberg 2010, 104.) 42 Uerlings 2004, 24, Hervorhebung S. W.; vgl. auch Frank 1989, 262– 286 und Stockinger 2003, 99; mit Blick auf die Idee des goldenen Zeitalters vgl. Mähl 1994. 43 Schriften II, 117. 44 Bomski 2014, 155. 45 Zum Utopie-Begriff bei Novalis vgl. Löwe 2012, 261–393. 46 Vgl. Bohrer 1961.

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menerzählung in Verbindung bringen, womit Klingsohr (analog zu seiner Poetik) der sinnlichkeitstrunkenen Festgemeinschaft gegenüber auf das mit dem nördlichen Eisenach verbundene Verstandesprinzip verweist. Doch bleibt es nicht dabei. Denn nachdem sich im Märchen das eiserne Stäbchen nach Norden ausgerichtet hat, nimmt Ginnistan (die Phantasie) es in die Hand, biegt es und gibt ihm die „Gestalt einer Schlange […], die sich nun plötzlich in den Schwanz b[eißt]“ (HvO 294). Darin lässt sich einerseits das alchimistische Symbol der für das utopische Reich Arcturs geltenden Ewigkeit wiedererkennen, darüber hinaus aber auch eine Hindeutung auf die konzeptionelle Vermittlung der beiden Räume Augsburg und Eisenach.47 Die Kreisform des eisernen Stäbchens symbolisiert die Vermittlung der beiden räumlich repräsentierten geistigen Vermögen.

3 Transzendierung des Herkunftsraums Mit dem Fragment gebliebenen zweiten Teil des Romans – so die These – modifizieren sich Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums und seine Relationen zu anderen Räumen. Hat der Herkunftsraum im ersten Teil (im Zusammenspiel mit den Figuren) eine symbolische Repräsentationsfunktion im Rahmen einer nach vermögenspsychologischen Prinzipien semantisierten Raumstruktur, so wird er im zweiten Teil zum Symbol des Absoluten transzendiert. „Wo gehn wir denn hin?“ – Diese Frage richtet Heinrich an ein „junges Mädchen“, das ihn kurz darauf zum Arzt Sylvester führt. Die viel zitierte Antwort, die Heinrich daraufhin erhält, veranschaulicht die Transzendierung des Herkunftsraum vielleicht am besten: Wohin sie gingen? – „Immer nach Hause“ (HvO 325). Was ist damit gemeint? Als Symbol des Absoluten wird der Herkunftsraum zur Utopie, zu einem Ort, der die raumzeitlichen Grenzen übersteigt und in der Erfahrungswelt nicht realisiert werden kann. Er wird zur regulativen Idee und hat damit eine handlungsleitende Funktion für denjenigen, der sich darauf bezieht, für den Romanhelden Heinrich also. Wenn der so verstandene Herkunftsraum aber kein im Diesseits der Figurenwelt erreichbarer Ort ist, so kann Heinrich, dem jener als Ziel stets vor Augen steht, auch nie dort ankommen. Das Prinzip der ganz wörtlich zu verstehenden Bewegung des Helden (er fragt: „Wo gehn wir

47 Die Nähe dieser Textpassage zum Konzept des ordo inversus zeigt sich darin, dass das aus dem Bereich der Alchemie stammende Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange eine der vielen gestalterischen Konkretisierungen des ordo inversus ist (vgl. Danneberg 2010, 94).

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denn hin?“) als transzendentale Voraussetzung des Dichtens findet hier einen gesteigerten Ausdruck. Verbindet sich mit dem ersten Teil ein zyklisches Bewegungsmodell innerhalb eines mit Eisenach und Augsburg klar abgesteckten räumlichen Rahmens, so weitet sich (folgt man Ludwig Tiecks Fortsetzungsbericht) der Bewegungskreis des zweiten Teils über die ganze Welt aus, umfasst darüber hinaus sogar das „Sonnenreich“.48 Und ruft man sich hier die Kritik Hardenbergs an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre in Erinnerung, zeigt sich, dass es gerade die prinzipielle Unabschließbarkeit von Heinrichs Entwicklungsgang ist, die er dem (aus seiner Perspektive) gesellschaftlich-ökonomischen ,Angekommensein‘ Wilhelms entgegensetzt. Andeutungen für diese Transzendierung des Herkunftsraums lassen sich schon im ersten Teil finden. Im fünften Kapitel verabschiedet der Einsiedler Heinrich mit den Worten: „Wenn euer Auge fest am Himmel haftet, so werdet ihr nie den Weg zu eurer Heymat verlieren“ (HvO 266). Und als Heinrich sich zu Beginn des zweiten Kapitels auf die Reise nach Augsburg macht, heißt es: Die Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu. (HvO 205)

Einerseits lässt sich in diesem Zitat das zyklische Bewegungsmodell erkennen: Die Reise führt zurück zum konkreten thüringischen Raum der Herkunft. Andererseits wird aber auch die „Weltgegend“ selbst als „Vaterland“ imaginiert: Wenn der Herkunftsraum ein Absolutes ist, dann kann jeder Punkt der Welt zum räumlichen Symbol dieses Absoluten werden. Darin zeigt sich, dass das modifizierte Konzept des Herkunftsraums im zweiten Teil auf eben jener oben im Kontext von Klingsohrs Poetik skizzierten transzendentalphilosophischen Denkfigur aufbaut: Endliches und Unendliches stehen in einem dialektischen Verhältnis – „Wir suchen überall

48 Schriften I, 369. In Tiecks Fortsetzungsbericht fällt auf, dass die raumzeitlich immer weiter ausgreifende synthetisierende Bewegung Heinrichs bis zuletzt nicht zu einem Ende kommt. Dies zeigt, dass Hardenberg mit seinem Roman (hätte er weiter daran arbeiten können) in ein narratives Dilemma geraten wäre: Indem bereits zu Beginn des zweiten Teils Heinrichs Entwicklung auf einen Herkunftsraum als ein utopisches Absolutes ausrichtet wird, lässt sich der Roman auf der Ebene der histoire nicht abschließen. Zu einem Ende hätte er wohl nur mit einem abschließenden Binnentext kommen können, der seinerseits (auf intradiegetischer Ebene) die abschließende Synthese thematisiert (wie im Gedicht „Die Vermählung der Jahreszeiten“, von dem Tieck sagt, dass mit ihm „das ganze Werk beschlossen werden [sollte]“ [Schriften I, 369]).

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das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“,49 heißt es im berühmten ersten Blüthenstaub-Fragment Hardenbergs. Und so lässt sich auch beobachten, dass die Transzendierung nicht zu einer Auflösung des konkreten Herkunftsraums führt, Herkunft vielmehr doppelt codiert ist: in der eben zitierten Passage, in der „Vaterland“ das thüringische Eisenach und die „Weltgegend“ zugleich bezeichnet, wie auch im zu Beginn dieses Abschnitts zitierten Dialog, dem folgender Wortwechsel vorausgeht: „Ich habe ja meinen Vater in Eysenach?“ „Du hast mehr Eltern“ (HvO 325). Das Nebeneinander von transzendiertem und konkretem Herkunftsraum sorgt dafür, dass bei allen Synthese- und Verabsolutierungstendenzen die mit dem ersten Romanteil eingeführte empirische Raumstruktur sichtbar bleibt – ebenso wie die empirische Familienstruktur, die – das deutet sich im Zitat an – im zweiten Teil ebenso transzendiert wird.

4 Resümee Der Beitrag wollte zeigen, dass das auf die Vermittlung von Einheit und Vielfalt ausgerichtete transzendentale Bewusstsein, das sich Engel zufolge auf der Ebene der Gesamtkomposition jederzeit einstelle, auf der Ebene der histoire erst sukzessive entwickelt wird – und zwar in der Bildung Heinrichs. So unerlässlich es ist, bei der Frage nach dem Erzählverfahren von Hardenbergs Ofterdingen auf das Zusammenspiel von Rahmenerzählung, Binnentexten, Träumen, Symbolen, Motiven, Metaphern etc. und die damit einhergehende ‚Aufhebung‘ der histoire im Zusammenhang der Gesamtkomposition hinzuweisen, so wichtig ist es auch, die histoire, d.h. den linearen Gang der Geschichte selbst und damit die Frage nach dem Bildungsweg Heinrichs nicht vorschnell zugunsten einer Betonung der symbolischen Form des Romanganzen aufzugeben. Die Analyse von Funktion und Bedeutung des Herkunftsraums sollte dies verdeutlichen. Das epochenspezifische Problem der vermögenspsychologischen Vermittlung von Phantasie und Verstand bildet den Ausgangskonflikt des Ofterdingen. Dargestellt wird es im ersten Kapitel anhand der Figurenkonstellation, verstärkt durch die räumlichen Eigenschaften der elterlichen Stube. Mit Heinrichs Reise nach Augsburg wird das Problem der vermögenspsychologischen Unvermitteltheit in ein räumliches Vermittlungsproblem überführt. Im Zusammenspiel mit den Figuren kommt dem Herkunftsraum hierbei eine symbolische Repräsenta-

49 Schriften II, 413.

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tionsfunktion zu: Eisenach, der Ort des Vaters, repräsentiert die Verstandestätigkeit, das räumliche Korrelat Augsburg Phantasie und Sinnlichkeit. Heinrich, der im Laufe seines Bildungswegs, vor allem in den Gesprächen mit Klingsohr, ein transzendentales Bewusstsein entwickelt, dessen Resultat die vermögenspsychologische Vermittlung ist, stellt den Vermittler dieser beiden Räume dar – und zwar sowohl aus genealogischer Perspektive (seine Mutter kommt aus Augsburg, sein Vater aus Eisenach), als auch mit Blick auf seinen Bewegungskreis, der in verschiedener Weise als ein zyklischer, unabschließbarer angedeutet wird. Die Unabschließbarkeit der Bewegung entspricht dabei dem anhand von Hardenbergs Denkfigur des ordo inversus dargestellten unendlichen Wechselverhältnis zwischen Gefühl und Reflexion. Mit dem Übergang zum zweiten Teil des Romans modifiziert sich das Konzept des Herkunftsraums. Er repräsentiert nun nicht mehr ein vermögenspsychologisches Komplement, sondern eine absolute Einheit. Er wird zur raumzeitlich nicht realisierbaren Utopie und dient Heinrich als regulative Idee. Da er diesen transzendierten Herkunftsraum auf der Ebene der histoire nicht erreichen kann, ist sein Weg im zweiten Teil ebenso wenig abschließbar wie im ersten, jede Station ist nur vorläufig. Dass es sich hierbei um ein für die histoire entscheidendes Charakteristikum handelt, zeigt Hardenbergs Auseinandersetzung mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Nach anfänglicher hymnischer Verehrung („Göthe ist jezt der wahre Statthalter des poëtischen Geistes auf Erden“50) distanziert sich Hardenberg später vom Roman: „Wilhelm Meisters Lehrjahre, oder die Wallfahrt nach dem Adelsdiplom“51 lautet die berühmte polemische Formel. Ob es (mit Walzel gesprochen) Hardenberg „darum zu tun [war]“, sich mit dieser schroffen Abkehr „von den Lehrjahren zu befreien, die wie Alpdruck auf ihm lagen“,52 sei dahingestellt. Entscheidend ist jedenfalls, dass Hardenberg mit seiner Kritik den Bildungsweg seines Helden positiv absetzen kann, wobei es ihm vor allem darauf ankommt, das Wilhelm unterstellte ,Angekommensein‘ (in den ökonomischen Sphären des Adels) bei Heinrichs Bildungsweg zu vermeiden – eine für die histoire zentrale konzeptionelle Überlegung, die sich bereits in einem Brief an Caroline Schlegel vom 27. Februar 1799 andeutet: „Das Wort Lehrjahre ist falsch – es drückt ein bestimmtes Wohin aus.“53 Indem Hardenberg im zweiten Teil des Ofterdingen

50 Schriften II, 466. 51 Schriften III, 646. 52 Walzel fährt fort: „Denn das ist ja das Entscheidende angesichts aller Angriffsworte Hardenbergs: ob er recht hatte oder nicht, ist fast ganz gleichgültig neben der Tatsache, daß er sich von den Lehrjahren freimachen mußte, wenn er selbst etwas wie den Ofterdingen schaffen sollte.“ (Walzel 1915/1919, 415.) 53 Schriften IV, 281.

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die Frage nach dem Wohin auf eine Utopie ausrichtet, setzt er Heinrich in eine unendliche Bewegung – er ist immer unterwegs, immer nach Hause.54

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Schelling)“. ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses. Hg. Simone de Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marco Gisi. Heidelberg: Winter, 2010. 93–137. Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes. Berlin und New York: de Gruyter, 2009. Dennerlein, Katrin: Art. „Raum“. Handbuch Erzählliteratur. Hg. Matías Martínez. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2011. 158–165. Eibl, Karl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt am M. und Leipzig: Insel, 1995. Engel, Manfred: Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 1993. Engel, Manfred: „Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethezeit“. Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 1994. 469–498. Engel, Manfred: „‚Träumen und Nichtträumen zugleich‘. Novalis’ Theorie und Poetik des Traumes zwischen Aufklärung und Frühromantik“. Novalis und die Wissenschaften. Hg. Herbert Uerlings. Tübingen: Max Niemeyer. 143–168. Engel, Manfred: „Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis Wissen und Literatur“. Scientia Poetica 2 (1998): 97–128. Fink, Gonthier-Louis: „Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive“. Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hg. Gerhard Sauder. Hamburg: Felix Meiner, 1987. 156–176. Frank, Manfred: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt am M.: Suhrkamp, 1989. Frank, Manfred: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am M.: Suhrkamp, 2 1998. Gallant, Christel: Der Raum in Novalis’ dichterischem Werk. Bern u. a.: Peter Lang, 1978. Grießmann, Helmut: Die Raumgestaltung in Friedrich von Hardenbergs „Heinrich von Ofterdingen“ und Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“. Bonn: Dissertation, 1955. Hartmann, Heribert: Zur Aktualität der Raum-Zeit-Auffassung des Novalis. Bonn: Dissertation, 1974. Kasperowski, Ira: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis. Tübingen: Max Niemeyer, 1994. Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg: Felix Meiner, 2002. Korpás, Andreas: „Die Konzeption imaginativer Räume bei Friedrich von Hardenberg (Novalis) am Beispiel des Heinrich von Ofterdingen“. Gelebte Milieus und virtuelle Räume. Der Raum in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Hg. Klára Berzeviczy, Zsuzsa Bognár und Péter Lőkös. Berlin: Frank & Timme, 2009. 173–190. Löwe, Matthias: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin und Boston: Walter de Gruyter, 2012. Löwe, Matthias: „Romantische Skepsis bei Novalis, E. T. A. Hoffmann und Eichendorff“. „Wir sind keine Skeptiker, denn wir wissen“. Skeptische und antiskeptische Diskurse der Revolutionsepoche 1770 bis 1850. Hg. Cornelia Ilbrig und Sikander Singh. Hannover: Wehrhahn, 2013. 263–284. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. mit einem Nachwort und einem Register von Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. Mähl, Hans-Joachim: „Novalis’ Wilhelm-Meister-Studien des Jahres 1797“. Neophilologus 47 (1963): 286–305.

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Fabian Lampart

Herkunftsräume im historischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts Der historische Roman als „differenzierte Gattung“1: Mit dieser Formel verweist Hans Vilmar Geppert auf den Variations- und Variantenreichtum des Genres. Der historische Roman biete „in seinen von Anfang an vielfältigen Formen“2 eine Diversität an erzählerischen Möglichkeiten. Geppert zufolge können diese diachron immer wieder aktualisiert oder variiert und deshalb gerade auch an historischen Romanen um 1800, in denen das Genre neu konstituiert wird, besonders markant herausgearbeitet werden.3 Aus diesem Grund werden meine Vorschläge die Arten der Erzeugung von Herkunftsräumen in historischen Romanen zunächst mit Blick auf solche frühen Fälle entwickeln. Es geht darum, zu zeigen, mit welchen narrativen Strategien Räume als Teile einer geschichtlich determinierten Wirklichkeit erzeugt werden. Um das zu verdeutlichen, wird auch die Funktionalisierung der Herkunftsräume im gesamten Romankontext angedeutet. Auf dieser Basis möchte ich dann spätere Texte anschließen, die man als Varianten oder bewusste Variationen eines Gattungsmodells betrachten kann, das sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts konstituiert hat. Der Bezug auf dieses Modell kann explizit, mit Bezug auf als autoritativ betrachtete Vorläufertexte, reflektiert werden, aber auch über Auffassungen spezifischer Eigenschaften dessen, was die Autoren unter dem historischen Roman verstehen, in den Texten identifizierbar sein. Diesem Versuch, diachron Arten der Erzeugung von Herkunftsräumen in historischen Romanen zu identifizieren, liegt die Überlegung zugrunde, dass man sich „der Vielfalt der Gattung angemessen nur von den je einmaligen Werken her nähern“4 kann. Sucht man nach einer charakteristischen Qualität von Herkunftsräumen in historischen Romanen, scheint die wichtigste Herausforderung darin zu bestehen, Räumlichkeit und Geschichte aufeinander zu beziehen. Narrativ vollzogen werden kann diese Operation, indem man die Art der zeitlichen Semantisierung dieser Räume bestimmt. Räume können als ‚geschichtsfern‘ markiert werden, indem sie mit naturhaften oder mythischen Zeitvorstellungen verschränkt werden. Wenn andererseits Aspekte kultureller, politischer oder sozialer Verzeit-

1 Geppert 2009, 5. 2 Geppert 2009, 5. 3 In diese Richtung argumentiert neben Geppert 2009 auch Schilling 2012. 4 Geppert 2009, 6.

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lichung in räumlichen Konfigurationen narrativ gestaltet werden, erscheinen Räume als stärker historisch semantisiert. Zwischen diesen Polen – Historisierung und Enthistorisierung – möchte ich, nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Raumdarstellung im historischen Roman, die in der Regel eng mit Problemen der Figurendarstellung verbunden ist (1), verschiedene Begrifflichkeiten für die Erzeugung der Herkunftsräume vorschlagen. Oftmals wird in historischen Romanen von ahistorischen oder zumindest geschichtsfernen Herkunftsräumen ausgegangen (2). Die radikale Konfrontation mit der Geschichte oder ihren Auswirkungen beim Verlassen der Herkunftsräume scheint geradezu zum erzählerischen Inventar des Genres historischer Roman zu gehören und eine zentrale Strategie der narrativen Produktion von Herkunftsräumen zu sein. Eine Variante dieser Konfrontation ist die historische Semantisierung zunächst als geschichtsfern präsentierter Räume (3), eine weitere das Erlernen der Wahrnehmung geschichtlicher Räume durch die Protagonisten (4). Diese Varianten der narrativen Darstellung von Räumen beziehen sich auch auf literarische Traditionen der Raumdarstellung, die am Ende dieser Ausführungen resümiert werden (5).

1 Vorüberlegungen: Raum und Figur im historischen Roman Wenn man von historischen Romanen spricht, denkt man zunächst nicht an den Raum, sondern an die Kategorie der geschichtlichen Zeit. Tatsächlich kann man die Differenzierungen von Zeitkonzepten und Zeitwahrnehmungen als zentrale Charakteristika dieses Genres sehen. Bei der Neukonstitution des historischen Romans um und nach 1800 wird das besonders gut erkennbar. Analog zur verstärkten Wahrnehmung historisch-politischer Veränderungen im achtzehnten Jahrhundert – diagnostiziert in Kosellecks begriffsgeschichtlicher Prägung vom Kollektivsingular Geschichte5 – kann man in historischen Romanen nach 1800 verstärkt die Darstellung und Reflexion von Geschichte als eigener Zeitdimension beobachten, die von subjektiv-individualgeschichtlichen oder naturhaft-zyklischen Zeitkonzepten deutlich abgesetzt und von den Protagonisten der Texte als eigener Problemzusammenhang wahrgenommen wird. So wird das Nebeneinander nicht vermittelter und potentiell konfligierender Zeitdimensionen in historischen Romanen um 1800 narrativ reflektiert. Oft werden

5 Vgl. Koselleck 1979; auch Brunner u. a. 1975.

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dabei Figuren aus dem Horizont traditioneller, miteinander harmonierender Zeitdimensionen – individuell, naturhaft, idyllisch, mythisch – isoliert oder sogar gewaltsam herausgerissen und mit einer geschichtlichen Zeit konfrontiert, die man mit Vico als ‚von den Menschen gemacht‘ (questo mondo civile egli certamente è stato fatto dagli uomini 6) charakterisieren kann und in der natürliche Zeitkonzepte problematisiert werden, deren Verbindlichkeit sich nicht zuletzt bei der Stabilisierung sozialer Ordnungen zeigt. Ein charakteristisches Merkmal vieler, auch schon früher historischer Romane ist es, dass die Protagonisten – die ‚mittleren‘ Helden, wenn man das zumindest in dieser Hinsicht nach wie vor produktive Konzept von Lukács7 aufgreifen will – geschichtliche Zeit als etwas wahrnehmen, was ihre soziale Realität verändert, politisch-historisch determiniert und somit überhaupt erst als eigenen Bereich der Realität kognitiv wahrnehmbar und rationalisierbar werden lässt. Immer wieder wurde betont, dass im Fall des historischen Romans die für fiktionale Texte grundlegende Spannung zwischen fiktionaler und faktualer Rede in besonderer Weise prägend ist. Geppert spricht von der „produktive[n] Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs“, wobei „jeder seinerseits zu vielen Formen fähig“8 sei, Nünning entfaltet diese konstitutive Spannung in „[s]kalierendeDifferenzierungen von fünf Typen des historischen Romans“,9 „die von der Selektionsstruktur historischer Romane, ihrem dominanten Zeitbezug, den Ebenen und Formen der Geschichtsvermittlung sowie dem jeweiligen Verhältnis eines fiktionalen Geschichtsmodells zum Wissen der Historiographie ausgeht“.10 Grundsätzlich gehören fiktionale Texte sowohl einer realen als auch einer imaginären Kommunikationssituation an, was zur Folge hat, dass sie „je nach Sichtweise aus real-inauthentischen oder aus imaginär-authentischen Sätzen“11 bestehen. Für den historischen Roman bedeutet das, dass die Darstellung historischer Fakten durch die Ausgangssituation der fiktionalen Rede in Frage gestellt, problematisiert oder auch subvertiert werden kann – freilich je nach der Art der Gestaltung dieser Differenz aus fiktionaler Rede und faktualen Aussagen.12 Die Spannung zwischen historischem und fiktionalem Diskurs ist also ein grundsätzliches, generisches Merkmal historischer Romane, das narrativ betont oder auch abgeschwächt und überspielt werden kann. Geppert deutete in Der „andere“ historische Roman (1976) noch an,

6 Vico 1993 [1744], 232. 7 Vgl. Lukács 1955 [1937], 26. 8 Beide Zitate Geppert 2009, 3. 9 Nünning 1995a, 256. 10 Nünning 1995a, 257. 11 Martínez und Scheffel 2000, 18. 12 Vgl. Lampart 2009.

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dass man die narrative Gestaltung dieser Spannung als eine Art Komplexitätskriterium für historische Romane verstehen könne. Es gebe Texte, die den Hiatus zwischen Fiktion und Historie produktiv akzentuierten, und andere, deren Poetik eher auf die Verschmelzung von Fiktionalität und Faktualität hin angelegt sei.13 Das wurde oft als Plädoyer für eine dichotome Romantypologie mit Tendenz zu literarischer Wertung gelesen und entsprechend kritisiert.14 Geppert verstand das Konzept des ‚anderen‘ historischen Romans wohl in erster Linie als Alternative zu einem Modell der Gattungsgeschichte als Monogenese, das in der Nachfolge von Lukács Scotts Waverley zum „normbildende[n] Einzelwerk“15 erhoben hatte. Die gleichwohl implizierte Wertungsperspektive hat er später deutlich relativiert, allerdings ohne die Spannung zwischen fiktionalem und historischem Diskurs16 als konstitutives generisches Merkmal historischer Romane aufzugeben. Vielmehr betont er verschiedentlich, dass die produktive Differenz von Fiktion und Historie auch in „eindeutig für den Massen- und Verkaufserfolg geschriebene[n]“17 Texten im Sinne einer pluralen Poetik erzählerisch effektiv eingesetzt würde.18 Aufgabe einer literaturwissenschaftlichen Gattungsforschung muss es allerdings sein, entsprechende Verfahrensweisen gerade auch in Texten zu untersuchen, die explizit populäre Erzählformen aufgreifen. Insofern sind die Möglichkeiten der Problematisierung der Spannung zwischen historischem und fiktionalem Diskurs durch die Leser ganz unterschiedlich gelagert. Die Geschehniszentriertheit des historischen Romans19 kann Fragen nach dem Status geschichtlicher Fakten aufwerfen, vorstellbar sind aber auch Schreibstrategien, in denen die historischen Fakten so in die Fiktionserzählung eingebettet sind, dass eine bestimmte Deutung eines Geschichtsverlaufs besonders markiert wird. Die Aktivierung der für den historischen Roman konstitutiven Spannung scheint jedenfalls eher an der Art der Kombination von Fiktion und Historie als an den Voraussetzungen auf Seiten der Leser zu liegen. Auch die gegenwärtig zu beobachtende Konjunktur kontrafaktischer Romane20 zeigt, dass man sich nur hinreichend plakative Beispiele vorstellen muss, um eine Refle-

13 Vgl. Geppert 1976, 36. 14 Wichtige Aspekte dieser Diskussion bei Aust 1994, 44–46. 15 Gymnich 2010, 136. 16 Vgl. Geppert 2009. 17 Geppert 2009, 168. 18 Zum Beispiel Ken Folletts The Pillars of the Earth (1990 [1989]; vgl. Geppert 2009, 3) oder Dan Browns The Da Vinci Code (2003; vgl. Geppert 2009, 389–394). 19 Vgl. Aust 1994, 2. 20 Widmann 2009 (nochmals Widmann 2012) plädiert dafür, kontrafaktische Romane als historische Romane zu sehen. Zur Konjunktur des Kontrafaktischen vgl. Birke u. a. 2012.

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xion über die historischen Voraussetzungen und damit über die im fiktionalen Text thematisierten historischen Elemente fast automatisch in Gang zu setzen. Ein Beispiel für einen solchen Text wäre Robert Harris’ Fatherland (1992). Die Spannung zwischen durch die Alternativgeschichte verfremdeten historischen Elementen eines nationalsozialistischen Deutschlands und der Realgeschichte kann gar nicht rezipiert werden, ohne dass fortwährend Wissen über den realgeschichtlichen Verlauf aufgerufen wird. In der Forschung wird die Dimension des Raums meist dieser Prämisse einer grundlegenden generischen Spannung zwischen fiktionalen und historischen Diskursen untergeordnet. Im historischen Roman kann auf der Basis der narrativ-fiktionalen Geschichtsdarstellung eine Reflexion von Geschichte oder geschichtlichen Sinnangeboten stattfinden bzw. eine Pluralität von Geschichtsentwürfen oder -möglichkeiten vorgeführt werden. Geppert spricht deshalb von einer „differenzierten Gattung“,21 Nünning fasst diese Reflexionsqualitäten mit dem Konzept der historischen Metafiktion, das er besonders in Romanen seit etwa 1950 identifiziert.22 So wichtig es ist, auf diese „Differenzierung des narrativen Repertoires“23 in der Erzählliteratur des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts hinzuweisen, so lohnend ist es, entsprechende Ansätze schon an den ersten Entwürfen des Genres um 1800 zu beobachten.24 Die Möglichkeiten und Spielräume narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellungen sind hier zumindest angelegt; im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts werden sie manchmal mehr, manchmal weniger prägnant variiert oder fallweise auch entwickelt und späterhin immer wieder aufgegriffen. Diese differenzierte und vielstimmige Gattungsgeschichte, die letztlich als Teil der Geschichte des Romans seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gesehen werden kann, ist nicht mit Konzepten einer teleologischen oder organologischen Entwicklung zu fassen.25 Dennoch ist es sinnvoll, die Herausbildung des historischen Romans zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts funktionsgeschichtlich zu beschreiben26 und, wie

21 Geppert 2009, 1–7. 22 Vgl. Nünning 1995a. 23 Lampart 2002, 27. 24 Vgl. Geppert 2009; Lampart 2002. 25 Vgl. Gymnich 2010, 133–134. 26 Zum funktionsgeschichtlichen Ansatz vgl. Zapf 2005 und Zapf 2008. Zapf entwickelt ein Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie, in dem drei Funktionsweisen eine Rolle spielen, die sich auch gattungshistorisch anwenden lassen (resümiert bei Gymnich 2010, 132). Die erste Verfahrensweise bezieht sich auf die „Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten und Widersprüche dominanter Systeme zivilisatorischer Macht“ (Zapf 2005, 67) in literarischen Texten; die zweite ist eine „gegendiskursive Inszenierung dessen, was im kulturellen

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oben angedeutet, als eine Art kulturkritischen Metadiskurs zu verstehen, in dem die mentalitätsgeschichtlich zu beobachtende Problematisierung von Geschichte als eigener Wahrnehmungsdimension aufgenommen wird. Aber bereits in dieser ersten Phase der Entwicklung des Genres ist sein differenzierter und hybrider Charakter zu markant erkennbar, als dass man von einer historischen Ausgestaltung bestimmter Eigenschaften sprechen könnte. Auch strukturalistische Ansätze einer Gattungsgrammatik greifen zu kurz,27 denn es wäre andererseits problematisch, die Qualitäten von historischen Romanen als ein geschlossenes System von Eigenschaften zu bestimmen, die nicht immer wieder auch radikal verändert werden könnten.28 Für den historischen Roman festhalten kann man allenfalls, dass neben die diachrone Perspektivierung der Fortschreibungen des wirkmächtigen und normbildenden Textmodells,29 das im neunzehnten Jahrhundert durch die Romane Walter Scotts bezeichnet wird, im zwanzigsten Jahrhundert auch immer stärker gezielte Versuche treten, das bereits bei Scott selbst plurale Gattungsmodell30 explizit zu variieren, von den mehr oder weniger wirkmächtigen Varianten, die von Scott unabhängig entstanden sind, abgesehen.31 Dabei sind verschiedenste Arten von Bezugnahmen zu beobachten. In meinen Überlegungen stehen intertextuelle Markierungen, die auf andere und frühere Gattungsmodelle zurückverweisen, im Mittelpunkt. Aber natürlich spielen für eine Gattungsgeschichte des

Repräsentationssystem marginalisiert, vernachlässigt oder unterdrückt ist“ (Zapf 2005, 69); und der dritte Funktionsaspekt „lässt sich beschreiben als „Reintegration des Verdrängten mit dem kulturellen Realitätssystem, durch das Literatur zur ständigen Erneuerung des kulturellen Zentrums von dessen Rändern her beiträgt“ (Zapf 2005, 71). Alle drei Aspekte lassen sich für die Analyse der Neuformierung des historischen Romans um und nach 1800 einsetzen. Nicht nur die Wahrnehmung einer geschichtlichen Dimension – neben natürlichen Zeitrhythmen – kann hier erfasst werden, sondern auch die damit verbundene Marginalisierung und Wiederaufwertung von Alternativen, nicht nur historisch nicht realisierten, sondern auch anderen – archaischnatürlichen – Möglichkeiten des Umgangs mit dem Problem der Zeit. Anschließen lassen sich Überlegungen zu den ahistorischen Herkunftsräumen (vgl. Abschnitt 2), wie zur Aktivierung des idyllischen Chronotopos gerade in historischen Romanen (vgl. Abschnitte 3 und 5) sowie zur Differenzierung bestimmter kulturell determinierter Wahrnehmungsweisen von Räumen (Abschnitt 4). 27 Vgl. Gymnich 2010, 134. 28 Günter Mühlberger und Kurt Habitzel (Habitzel und Mühlberger 1997) legten für die Erstellung einer Datenbank zum deutschsprachigen historischen Roman folgendes Minimalkriterium fest: „A historical novel is a work of prose fiction of at least 150 pages, set, for the most part, in a time before the authors birth.“ (6). 29 Vgl. Gymnich 152. 30 Vgl. Geppert 2009, 53–63. 31 Vgl. Lampart 2002.

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historischen Romans auch andere Arten einer rezeptionsgeschichtlichen Zuordnung eine Rolle. Die Kategorisierung als historischer Roman erfolgt nicht zuletzt durch Autoren, die immer wieder die Gattungszuschreibung durch poetologische Selbsterklärungen steuern und diskutieren, durch zeitgenössische Kritik und Theorie, aber auch durch alle Arten von Rezeptionszeugnissen sowie durch eine klassifizierende Literaturwissenschaft, die v. a. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige wirkmächtige Texte hervorbringt.32 Anliegen dieser Ausführungen ist es, die Funktion des Raums in historischen Romanen zumindest auch punktuell in diachroner Perspektive anzudeuten. Gerade mit Blick auf die Herkunftsräume scheint dieses Vorgehen produktiv, denn hier sind gezielte Verweise auf eine Gattungstradition in den Texten in der Regel gut erkennbar. Ich versuche die Bezüge zur Gattungstradition mit Blick auf normbildende Texte wie Scotts Waverley und Manzonis Promessi sposi zu konkretisieren. Räume in historischen Romanen sind in der Regel zeitlich semantisiert. Das Neben- und Gegeneinander von Zeitmodellen konkretisiert sich in Figuren, ideologischen Positionen, Aktionen, aber eben auch in den Raumordnungen. Und auch in historischen Romanen werden Räume bestimmt und geprägt von Grenzen, die meist mehr oder weniger ausgeprägt auf die Konfrontation antagonistischer politischer Lager oder kultureller Traditionen verweisen. In Scotts Waverley-Romanen spielt der Gegensatz zwischen dem zivilisiert-progressiven England und einem halb fortschrittsorientierten, halb archaischen Schottland eine wichtige Rolle.33 Die Highlands rücken dabei in die Funktion eines archaischen Alternativraums, in dem kulturelle Traditionen noch eine wichtige Rolle spielen, aber andererseits eine Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse, die Scott durchaus als eine Folge der Modernisierung Schottlands sah, auch bis zu einem gewissen Grad behindern. Eine andere exemplarische Ausgestaltung eines geschichtsfernen Raums, in dem ein nicht gestörter Einklang zwischen individueller und natürlicher Zeit thematisiert und problematisiert wird, findet man im Herkunftsraum der Dorfwelt in den ersten Kapiteln von Alessandro Manzonis I Promessi sposi.34 Literarisch gesehen werden rudimentäre Umrisse eines Idylls eindeutig historisch geprägten Räumen, vor allem der Stadt Mailand und der Lombardei, gegenübergestellt – was letztlich zu einem ‚Roman ohne Idyll‘ führt, wie die Titelformel der nach

32 Vgl. Aust 1994, 38–51. 33 Scott 1986 [1814]; vgl. Geppert 2009, 53–63. 34 Manzoni 1971 [1840].

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wie vor richtungsweisenden Untersuchungen Ezio Raimondis veranschaulicht.35 Zudem gibt es in historischen Romanen Räume, die man versuchsweise als Heterotopien bezeichnen könnte. Foucault charakterisiert Heterotopien als „tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen […] all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“.36 Als Beispiel für einen solchen Raum lässt sich die Burg des Innominato in den Promessi sposi anführen. Hier wird das Funktionieren der korrupten, von Machteliten und ihrem klientelistischen Anhang aus Kleinverbrechern beherrschten Gesellschaft zunächst in der Gestalt des regional mächtigsten Verbrecher-Fürsten konzentriert, – freilich auch durch die dann folgende Bekehrung in Frage gestellt. Auch die verschiedenen Varianten der Kronenburg in Achim von Arnims Kronenwächtern37 könnte man hier anführen. Die utopisch verklärte Kronenburg, die nur in Erzählungen oder in den Märchenteilen des Romans vorkommt, stellt einen zur tatsächlichen Geschichte alternativen Raum dar, wogegen die verkommene Burg Hohenstock eine reaktionäre Variante des zur Handlungszeit historisch überholten Rittertums repräsentiert.38 In beiden Fällen ist der zentrale Gedanke von Foucaults Heterotopie-Konzept insofern fruchtbar, als hier historisch differente, im Verhältnis zu den anderen in der erzählten Welt dominanten Systemen kompensatorische Modelle kulturell-politischer Ordnung in verräumlichter Form gestaltet werden.39 Die Heterotopien wären ein Mittel, um die geschichtliche Determinierung der Herkunftsräume, die in den Texten sukzessive hergestellt wird, deutlicher erkennbar werden zu lassen. Auch für Räume in Sebalds Texten wurde das Heterotopie-Konzept diskutiert. Claudia Öhlschläger analysiert in Austerlitz (2001) nicht nur Räume als „Topographien der Gewalt“,40 sondern setzt das Heterotopie-Konzept, das sie mit Marc Augés Begrifflichkeit der Nicht-Orte verknüpft, für die Analyse des Textes ein. Nicht-Orte sind demnach „Orte des Durchgangs, Orte des flüchtigen Aufenthalts, der zufälligen Begegnung, Räume des Transitorischen“.41 Sebalds Nicht-Orte werden nach Öhlschläger mit „eine[r] Signatur des Verbindlichen“42 versehen. Insofern sagen Sebalds Räume als „andere Räume“ im Sinne Foucaults „etwas über ihre Funktion in der Gesellschaft aus“, indem sie „das Eingeschlos-

35 Vgl. Raimondi 1974. 36 Foucault 2006 [1967], 320. 37 Arnim 1989 [1817]. 38 Vgl. Lampart 2002, 230–232. 39 Vgl. Foucault 2006 [1967], bes. 326–327. 40 Öhlschläger 2006, 111–126. 41 Öhlschläger 2006, 138. 42 Öhlschläger 2006, 139.

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sene am Ort des Ausgeschlossenen“43 zeigen. Öhlschläger geht hierbei vor allem auf den Brüsseler Justizpalast und die Pariser Nationalbibliothek ein, aber die Analyse lässt sich auch auf die Bahnhöfe und Wartesäle beziehen – Räume, in denen in Austerlitz eine Individualisierung und Personalisierung zunächst nur baugeschichtlicher Erinnerungen vollzogen wird. Beim historischen Roman hat man es also mit einer Differenziertheit der Raumentwürfe zu tun. Auch die Herkunftsräume im historischen Roman sind nur verständlich, wenn man sie als Teil der in den Texten narrativ vorgeführten Diskussion verschiedener historischer Möglichkeiten versteht und analysiert. Auch bei den Figuren und Figurenkonstellationen ist der historische Roman geprägt von der Darstellung einer plural verstandenen, zeitlich-geschichtlichen Wirklichkeit. Oft werden einzelne Figuren mit bestimmten Zeitkonzeptionen über Analogiebildungen verknüpft, die sie dann repräsentieren und innerhalb deren Wissenshorizont sie sich entwickeln. Erzählerisch besonders produktiv wird dieses Neben- und Gegeneinander verschiedener Zeitmodelle in den Protagonisten. Ein Vorteil von Lukács’ Begriff des ‚mittleren Helden‘ liegt möglicherweise darin, dass er gezielt ‚flach‘ gestaltete Charaktere umschreiben kann.44 Diese können aufgrund der relativen psychologischen Einfachheit als Projektionsmedien für Erfahrungen dienen oder diese jedenfalls ohne kognitive oder ideologische Vorprägungen und ohne Ablenkung durch ein zu prägnantes Vorwissen verarbeiten. Deshalb kann ein ‚mittlerer Held‘ Probleme und Brüche der pluralen Zeiterfahrung sowohl auf der Ebene des Raumes als auch in Bezug auf die anderen Figuren als Repräsentant durchlaufen. Auch die damit verbundenen Konflikte können erzählerisch in diesen Figuren ausgestaltet werden. Walter Scotts Waverley steht aufgrund seiner Familiengeschichte politisch zwischen englandtreuen Tories und schottisch-national orientierten Whigs, ist aber vor allem aufgrund einer eher diffusen Erziehung auf dem Landgut seines zurückgezogen lebenden Onkels so unwissend, dass er die Räume der schottischen Lowlands und der archaischen Highlands zunächst ohne ein ausgeprägtes Verständnis für deren geschichtlich-politische Determinierungen durchlaufen und wahrnehmen kann. Das bedeutet auch: sein Wahrnehmen und Beobachten ist von einer gewissen Naivität geprägt. Diese Ausgangslage ist ein wichtiges erzählerisches Instrument der narrativen Konfiguration überaus heterogener Problemlagen und damit ein weiterer Aspekt der Differenzierungs- und Diskussionsfähigkeit des historischen Romans.

43 Alle drei Zitate Öhlschläger 2006, 139. 44 Vgl. Forster 1990 [1927], 73–81.

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Bisher wurden eher grundsätzliche Fragen der zeitlichen Semantisierung von Räumen in historischen Romanen diskutiert und auf den engen Zusammenhang mit der Figurendarstellung im historischen Roman bezogen. Diese Vorüberlegungen sind erforderlich, um nun die Räume zu untersuchen, aus denen die Protagonisten stammen. Bis zu einem gewissen Grad erfordert das auch einen Blick auf die Räume, in denen sie sich später bewegen – allein schon deshalb, weil die Herkunftsräume in den Romanen in der Regel die Funktion haben, die Protagonisten mit bestimmten distinkten Merkmalen zu versehen und sie für die Wahrnehmung der historisch semantisierten Räume vorzubereiten. Diese Eigenschaften laufen auf eine gewisse charakterliche Unbestimmtheit und Offenheit hinaus. Das gattungsgeschichtlich berühmteste Beispiel dafür ist Waverley, der als Protagonist im Roman denkbar blass gezeichnet ist und fast bis zum Ende des Romans wenig vorausschauend denkt und handelt, dafür aber umso besser mit verschiedenen politischen Parteiungen und Lagern in Kontakt treten kann. Am Ende des dritten Kapitels wird darauf hingewiesen, wie wenig Welterfahrung seine auf umfassender Lektüre beruhende Erziehung ihm vermitteln konnte: And yet, knowing much that is known but to few, Edward Waverley might justly be considered as ignorant, since he knew little of what adds dignity to man, and qualifies him to support and adorn an elevated situation in society.45 Und obgleich er viel wußte, was nur wenigen bekannt ist, konnte man Edward Waverley mit Fug und Recht als dumm bezeichnen, denn er wußte wenig von dem, was dem Menschen Würde verleiht und ihn befähigt, eine führende Stellung in der Gesellschaft ehrenvoll zu bekleiden.

Weder die politischen noch die gesellschaftlichen Grundlagen seiner Herkunft reflektiert Waverley. Insofern müsste man das ursprünglich soziologisch gedachte Konzept von Lukács’ ‚mittlerem Helden‘ erweitern.46 Der ,mittlere Held‘ wäre dann eine „die Empfindungsqualitäten der Romanleser repräsentier[ende]“47 Wahrnehmungsinstanz, ein charakterlich relativ unbestimmter, rollenpsychologisch noch flexibler Charakter, der erst im Laufe des Romans die Probleme der Geschichte am eigenen Leib erfahren und begreifen kann. Der Herkunftsraum scheint zentral für die Konstitution dieser Art von Protagonisten in historischen Romanen zu sein, denn über ihn werden Figuren mit jenen Eigenschaften versehen, die dann im Roman die Wahrnehmung, die Entdeckung und die reflektie-

45 Scott 1986 [1814], 14; Übersetzung: Scott 1982, 26. 46 Vgl. Aust 1994, 42–43. 47 Iser 1994 [1972], 161.

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rende Problematisierung oder Differenzierung der Geschichte erst ermöglichen. Umgekehrt tragen auch die Figuren zur Semantisierung der Herkunftsräume bei, da einige ihrer Erfahrungen und Handlungen in diesen und nicht in anderen Räumen verortet sind. Herkunftsräume und Figuren determinieren sich also wechselseitig. Im Verlauf der Erzählung wird dann die Entwicklung zu einem Charakter durchlaufen, der die Qualitäten bestimmter historischer Zeiten wahrnehmen kann und lernt, sich zu ihnen pragmatisch und problembewusst zu verhalten. Insofern werden die Protagonisten gegenüber ihrer ursprünglichen Ausstattung als Figur im jeweiligen Herkunftsraum später noch weiter profiliert. Im Extremfall verlieren die Protagonisten nach der Rückkehr in den Herkunftsraum (oder in einen diesem ähnlichen Raum) am Ende des Romans wieder diese Reflexionsfähigkeit. Renzos Katalog am Ende der Promessi sposi, in dem lediglich aufgezählt wird, wie er die Fehler, die aus einzelnen Ereignissen resultieren, vermeiden kann, aber keine Lehre aus der gesamten Geschichte gezogen wird,48 ist eine bemerkenswerte Verstärkung der Reflexionsschwäche des ‚mittleren Helden‘.

2 Ahistorische oder geschichtsferne Herkunftsräume Waverley ist der Protagonist des ersten historischen Romans von Walter Scott. Als junger englischer Adliger kommt er im Jahr 1744 als Soldat nach Schottland, und dort, zunächst in den Lowlands und dann in den archaischen Highlands, begreift er, dass die seit 1707 bestehende politische Union zwischen Schottland und England noch lange nicht praktisch verwirklicht ist. 1745 gerät er in den zweiten Jakobitenaufstand, in dem der letzte Stuart-Prinz versuchte, den englischen Thron vom Haus Hannover zurückzuerobern. Die in England minoritären Anhänger des nicht mehr herrschenden Königshauses der Stuarts, die Jakobiten, werden von der schottischen Unabhängigkeitspartei unterstützt. Der junge Waverley lernt einige ihrer Vertreter auf seiner Reise durch Schottland kennen, auch weil er seinerseits aus einem politisch gespaltenen Haus stammt. Sein Vater ist auf der Seite des neuen Königshauses und macht eine politische Karriere, sein Onkel, Sir Everard, ist ein alter Stuart-Anhänger. Dieser Sir Everard, das wird in den ersten Kapiteln des Romans eher skizziert als erzählt, hat sich nach dem Scheitern seiner politischen Überzeugungen auf sein englisches Familiengut zurückgezogen, um dort die historisch-politischen Veränderungen, die er

48 Vgl. Manzoni 2000, 854; Manzoni 1971 [1840], Bd. I, 901–902.

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nicht verhindern konnte, so gut als möglich zu ignorieren. Er zieht sich vor der Geschichte in einen Raum zurück, der von aktuellen geschichtlichen Ereignissen abgeschottet wird. In diesem geschichtsfernen Raum wächst der Held eines der wichtigsten historischen Romane auf. Angelehnt an Modelle des Entwicklungs- oder Bildungsromans wird in den ersten Kapiteln49 Waverleys Jugend erzählt. Ein Akzent liegt auf den Fehlentwicklungen seiner Erziehung. Im dritten und vierten Kapitel finden sich Beispiele für eine Tendenz zu einer empfindsamen Innerlichkeit, der Edward aufgrund eklektisch-subjektivistischer Lektüren und der abgeschiedenen Lebensweise auf dem Landgut fast unvermeidlich ausgesetzt ist. Die Wahrnehmung der politisch geprägten Außenwelt, in der sein Vater agiert, wird in dieser hermetischen Welt des Protagonisten durch mündlich überlieferte Familienlegenden ersetzt und verdrängt. Waverley gerät in eine eigene Wirklichkeit der romantisierend ausgerichteten ‚imagination‘. Aufgrund seiner abgeschotteten Erziehung ist es ihm kaum möglich, ein pragmatisch anwendbares Wissen zu erwerben. Seine Erfahrungen sind auf einen subjektiven und unveränderten Raum beschränkt, auch seine ungeordnete und selektive Lektüre kann ihn kaum angemessen auf die Bewältigung komplexer Problemzusammenhänge oder Situationen vorbereiten. Dieses Modell eines Herkunftsraums, der von Berührungen mit der Geschichte hermetisch abgeriegelt wird und aus dem historische Markierungen sogar getilgt werden, ist für den historischen Roman zentral. Es lässt sich in verschiedensten historischen Romanen immer wieder beobachten, offenbar, weil gerade im Kontrast mit einem weitgehend enthistorisierten Ambiente Geschichtlichkeit umso prägnanter erzählt werden kann. Man kann das mit Blick auf eine relativ aktuelle Variation dieses Modells verdeutlichen, die sich in Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara (1995) findet. Hintergrund dieses als Alternativweltgeschichte angelegten Textes ist ein im Zweiten Weltkrieg besiegtes Deutschland bzw. Österreich – der Roman ist stärker auf den Kontext der österreichischen Nachkriegsgeschichte bezogen –, das einige Parallelen zum Mythos des sogenannten Morgenthau-Plans aufweist. Der Moment der Alternation, an dem der uns bekannte faktische Geschichtsverlauf in den kontrafaktischen übergeht, ist das Ende des Zweiten Weltkriegs. Darauf folgen Abbau und Zerstörung der technischen Infrastrukturen. Was zunächst wie die Geschichte einer De-Industrialisierung, De-Modernisierung und Archaisierung anmutet, ist aus Sicht des Protagonisten Bering, der sich lange nur im Ort Moor im alpinen Hochgebirge aufhält, vor allem eine Enthistorisierung. Er wächst in einem Raum auf, aus dem bis auf gezielt gepflegte Erinnerungen an die nationalsozialistische Menschen-

49 Vgl. Scott 1986 [1814], 5–24.

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vernichtung fast alle Zeichen der neueren Geschichte von den Siegern gelöscht werden. Geschichte als politisch- historische Veränderung wird getilgt und vom Protagonisten zusehends als etwas wahrgenommen, das vor der eigenen Biographie liegt oder nur in bestimmten selektierten und ritualisierten Segmenten einer theatralischen Erinnerungspraxis erahnbar bleibt. Und gerade damit wird das Modell von Scotts Waverley und vielen analog konstruierten historischen Romanen variiert. Aber während bei Scott der Protagonist aus einem weitgehend ahistorischen Raum in Geschichtsräume entlassen und mit ihnen konfrontiert wird, wird der zunächst historisch konnotierte Herkunftsraum Berings in Morbus Kitahara sukzessive enthistorisiert und aus der Geschichte herausgenommen. Ähnlichkeiten zwischen der Intentionalität im Enthistorisierungsakt sind erkennbar – die Geschichtspolitik auf Sir Everards Landsitz ist, wenn auch in viel geringerem Ausmaß, von Selektionsregeln geprägt, die denen der Sieger in Morbus Kitahara vergleichbar sind. Vor allem zeigt die Umkehrung und intensivierende Amplifizierung der räumlichen Enthistorisierungsstrategie in Morbus Kitahara, dass Ransmayr in seinem Roman die Geschichte nicht nur, wie es zunächst scheint, durch eine alternative Variante ersetzt, sondern auch sukzessive tilgt und ausstreicht. Am Ende wird im Roman jede historische Zeit – mit ihren unterschiedlichen Rhythmen von Fortschritt und Rückschritt – relativiert, ja aufgehoben. Bereits die Augenkrankheit, an der Bering leidet und die den Titel des Romans liefert, unterstreicht diese Tendenz zur Eliminierung von historischem Sinn. Morbus Kitahara bezeichnet eine zunehmende Trübung des Sehfeldes,50 die auch stellvertretend für die immer mehr eingeschränkte Sicht des Protagonisten auf die Wirklichkeit steht und amplifiziert als Erzählprogramm des Romans verstanden werden kann. Als gegen Ende des Romans die Handlung nach Brasilien verlagert wird, das für den Protagonisten und seine Freunde ein Sehnsuchtsort ist, wiederholen sich dort die bedrückenden Konstellationen des Herkunftsraums. Während für die Figuren Brasilien zu einer Gegenwelt von Moor wird,51 scheint der Ort Pantano – von Ambras mit ‚Moor‘ übersetzt52 – nur eine andere Version der bedrückenden Atmosphäre des Herkunftsraums zu sein. Auch die Ilha do Cão, die Hundeinsel, auf der die Handlung des Romans endet, erinnert an die Villa Flora in Moor, wo Ambras lebte, der von den Dorfbewohnern als Hundekönig bezeichnet wurde. Diese Wiederholung des Herkunftsraums im vermeintlichen Gegenraum wird im Roman dadurch unterstrichen, dass auf der Hundeinsel die menschlichen und geschichtlichen Spuren immer mehr von der

50 Vgl. Ransmayr 1997, 213–21. 51 Vgl. Ransmayr 1995, 400. 52 Vgl. Ransmayr 1995, 402.

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Natur überlagert und schließlich von dieser zurückerobert werden. Die bereits im prologartigen ersten Kapitel beschriebene Verwüstung der Hundeinsel endet mit der Klassifizierung des Kartographen: „Deserto. Unbewohnt.“53 So unterschiedlich die Texte sind: Die Wahrnehmung und das Verständnis der erzählten Welt wird, wie bei Scott, entlang der Biographie des Protagonisten Bering vermittelt. Bering wächst auf in einer Nachkriegswirklichkeit, in der für die Besiegten Geschichte vor allem das ist, was vor Kriegsende stattfand und in theatralischen und gerade deshalb ihrer Erinnerungsfunktion an den Holocaust beraubten Ritualen der Konzentrationslagerhaft kollektiv aufrechterhalten werden soll. Ansonsten wird Geschichte immer mehr reduziert auf die verfallenden, vermodernden und verschwindenden Relikte aus der Welt vor der Archaisierung und Renaturalisierung. Die Wirklichkeit im Roman nimmt damit immer mehr den Charakter einer Welt nach dem Ende der Geschichte an. Auf einer Zugfahrt durch das deindustrialisierte Deutschland gegen Ende des Romans wird diese Enthistorisierung, wie immer aus Sicht des Protagonisten, besonders sinnfällig: „Nürnberg las Bering auf einem von schwarzem Gestrüpp überwucherten Stellwerk, hinter dem aber kein Bahnhof und keine Stadt, sondern wieder nur die Steppe lag.“54 Die Figur Bering kann damit nichts verbinden, ihr Wissenshorizont wird gerade durch den Gegensatz zu dem des Lesers markiert – für den ‚Nürnberg‘ natürlich ein Bündel historisch besetzter Merkmale einschließt. Gerade ein Raum, der sich besonders gut dafür eignet, geschichtliches Wissen aufzurufen, wird in der erzählten Welt des Romans bis auf den Namen getilgt. Erwähnt wird nicht der Erinnerungsort Nürnberg. Vielmehr wird die Auslöschung dieses Erinnerungsorts narrativ inszeniert. Nur der Name ‚Nürnberg‘ bleibt als Zeichen erhalten, das für den Protagonisten bereits jede Bedeutung verloren hat und nur noch für einen Leser, der die narrative Konstitution dieses kontrafaktischen Raums auf die tatsächliche, kollektiv verbindliche Nachkriegsgeschichte zurückführen kann, auf die Geschichte verweist. Die Nennung des Ortsnamens Nürnberg kann beim Leser Elemente der Geschichte Nürnbergs als Erinnerungsort aufrufen.55 Zu denken wäre an die Kaiserburg als Ort der Reichstage, eine Tradition, die von den Nationalsozialisten mit dem Bau des Reichsparteitagsgeländes fortgeführt werden sollte, zudem ist Nürnberg auch die Stadt der Kriegsverbrecherprozesse – die im Gegensatz zu Ransmayrs alternativem Geschichtsentwurf eine andere Art des Umgangs mit dem deutschen Zivilisationsbruch darstellen als der, der im Roman durch die radikale Entmodernisierung und die Sühneprozessionen

53 Ransmayr 1995, 408. 54 Ransmayr 1995, 399. 55 Zum Bezugsrahmen von Nürnberg als Erinnerungsort vgl. Kosfeld 2001.

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inszeniert wird. Der bereits zu Beginn des Romans sukzessive enthistorisierte Herkunftsraum Berings – der Ort Moor im alpinen Hochgebirge – wird nach und nach auf die gesamte österreichisch-deutsche Wirklichkeit und durch die Verlagerung auf die Insel vor der Küste Brasiliens schließlich sogar auf die gesamte Welt ausgedehnt. Über diese Amplifikationsfigur wird der Herkunftsraum in ein postmodern-apokalyptisches Programm integriert, das Ransmayr bereits in Die letzte Welt (1988) entfaltet hatte: die geschichtliche Wirklichkeit wird von der Natur überwuchert und in der Folge der Narration gewissermaßen getilgt.56 Auch in W. G. Sebalds Austerlitz (2001) findet sich eine Variante des enthistorisierten Herkunftsraums. Im Roman geht es um die Entdeckung der lange verdrängten individuellen Geschichte des Protagonisten, die Teil der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Der Roman zielt auf die Entdeckung des ursprünglichen Herkunftsraums, die mit der Rekonstruktion der traumatischen individuellen Geschichte verbunden ist. Der junge Austerlitz wird als jüdisches Kind aus Prag 1939 mit einem Kindertransport nach England gebracht und so vor dem Holocaust gerettet. Er wächst bei einem Predigerpaar in Wales auf. Als Kind ist ihm seine Lebensgeschichte nicht bewusst, sie wird verdrängt in einer „Befangenheit mir selbst gegenüber“,57 und erst Jahre später thematisiert er die Entdeckung in den Gesprächen mit dem Erzähler und bringt sie „in eine halbwegs ordentliche Reihenfolge“.58 Insofern ist in der erzählten Ereignisfolge für Austerlitz zunächst das Pfarrhaus in Wales bzw. der Ort Bala der Herkunftsraum. Er wird dann freilich im Zuge der biographischen Aufdeckungs- und Rekonstruktionsgeschichte durch Prag als zweiten und ursprünglichen Herkunftsraum ersetzt. Die Kargheit des Pfarrhauses und die Kindheit und Jugend in Bala sind eine Variante des ahistorischen Herkunftsraums im historischen Roman. Der junge Austerlitz sucht bereits in diesem Raum nach quasi-geschichtlichen Markierungen. Dafür zieht er Elemente heran, die ihm zur Verfügung stehen, nämlich biblisch-mythische Merkmale, in denen er mündliche Überlieferungen aus der kollektiven Erinnerung einzelner Dorfbewohner mit mythologisch-religiösen Bildern aus seiner Bibel- Lektüre verknüpft. Beispiele sind die Flutkatastrophe in Llanwddyn als Sintflut,59 die Verortung einer Illustration aus seiner Kinderbibel in der ihm bekannten walisischen Landschaft.60 Durch solche Signale wird der Dorfraum für den Protagonisten mit einer mythisch und heilsgeschichtlich auf-

56 Vgl. Schmitz-Emans 2004. 57 Sebald 2003 [2001], 69. 58 Sebald 2003 [2001], 69. 59 Vgl. Sebald 2003 [2001], 79. 60 Vgl. Sebald 2003 [2001], 84–88.

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geladenen Vergangenheit assoziierbar. Die Entdeckung eines historischen und geschichtlichen Herkunftsraums erfolgt dann in der erinnernden Rekonstruktion des verdrängten Herkunftsraums, die dem gesamten Roman zugrunde liegt. Erst nach dem Krieg – vorher konnte er sich „[e]ine Welt außerhalb von Wales […] nicht denken“61 – konzentriert sich Austerlitz’ Interesse auf architektonische und baugeschichtliche Forschungen, also auf die Geschichte vor der eigenen Biographie. Der Ansatzpunkt für die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte liegt in dem für Austerlitz selbst lange nicht rational begründbaren Interesse an Bahnhöfen. In der langen Sequenz der erinnernden Annäherung an die Liverpool Street Station, die schließlich in der Entdeckung des Ladies Waiting Room kulminiert, in dem Austerlitz als Kind in England ankam, wird die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Herkunftsräume vorbereitet (worauf im nächsten Abschnitt eingegangen wird). Vorläufig kann man festhalten, dass Herkunftsräume ein narratives Muster darstellen, in dem die für den historischen Roman spezifische Verknüpfung von historisch-faktualen mit fiktionalen Elementen bis zu einem gewissen Grad verschoben wird. Die historischen Elemente – ob nun politische, soziale oder kulturelle Aspekte im Vordergrund stehen – werden relativiert oder getilgt zugunsten eines intensiveren Blicks auf die Protagonisten. Offenbar deshalb werden bei der narrativen Gestaltung der Herkunftsräume literarische Darstellungsstrategien aktiviert, bei denen das Verhältnis von Zeit und Raum im Mittelpunkt steht. Hier kann man Bachtins Chronotopos-Konzept produktiv einsetzen. Besonders der Aspekt des idyllischen Chronotopos als einer spezifischen Art der räumlichen Gestaltung von Zeitlichkeit, die sich „strikt auf einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens“ wie „Liebe, Geburt, Tod, Ehe, Arbeit, Essen und Trinken“62 konzentriert, wäre hier erwägenswert. Denn die Ferne des Herkunftsraums von historisch-politischen Zeitrhythmen wird unter Aktivierung des narrativen Inventars des Idylls gestaltet – so bei Scott oder bei Manzoni; Reste dieser Konventionen lassen sich bis in historisch-fiktionale Erzählungen der Gegenwartsliteratur verfolgen. Zudem ist zu bemerken, dass die singulären Herkunftsräume, die sich in den Texten des neunzehnten Jahrhunderts finden, im Zuge der individuellen Historisierung kollektiv semantisierter, sozialer Räume pluralisiert werden. Austerlitz sucht in den Herkunftsräumen Ansätze für eine individuelle Geschichte – im Gegensatz zu Waverley und anderen Protagonisten historischer Romane des neunzehnten Jahrhunderts, die

61 Sebald 2003 [2001], 88. 62 Beide Zitate Bachtin 2008, 161.

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historische Räume als gegebene und kollektiv bedingte Realität begreifen, mit der sie nach dem Verlassen ihrer Herkunftsräume konfrontiert sind.

3 Zur historischen Semantisierung von Herkunftsräumen Deshalb müssen nun in einem weiteren Schritt die Möglichkeiten der historischen Semantisierung von Herkunftsräumen skizziert werden. Waverleys Herkunftsraum, das Landgut des Onkels Sir Everard, Waverley-Honour, wird im Text auf verschiedene Weise funktionalisiert. Es ist ein Schauplatz mit eigener Geschichte, an dem sich verschiedene Ereigniszusammenhänge überlagern. Neben der oben dargestellten, vor allem für die Perspektive des Protagonisten determinierenden Markierung als ahistorischer Raum spielt die axiologische Semantisierung eine Rolle, denn der Raum wird in den ersten Kapiteln, die Kindheit und Jugend des jungen Waverley umfassen, parallel auch politisch-historisch semantisiert. Allerdings ist diese Dimension für den dadurch entscheidend geprägten Protagonisten vorderhand nicht wahrnehmbar. Die historisch-politische Semantisierung wird nachgeliefert, indem der in der Wahrnehmungswelt des Protagonisten ahistorische Raum in rückwirkender Differenzierung der politischen Geschichte eingeschrieben wird. Der retrospektive Hauptteil des zweiten Kapitels referiert die Vorgänge, die schließlich dazu führen, dass „der kleine Edward […] die Erlaubnis [erhielt], den größten Teil des Jahres auf Schloß Waverley zu verbringen“.63 Die erste Etappe dieses Vorgangs bildet die ausschließlich über politische Differenzen motivierte Abneigung zwischen Vater und Onkel, womit die Parteikämpfe im England der ersten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts aufgegriffen werden. Dass das Motiv des Politischen den großen Rückblick unmittelbar eröffnet – „Unterschiedliche politische Anschauungen“64 – ist charakteristisch. Nicht Muster einer individuellen Biographie oder zentrale Charakterzüge der Figuren stehen im Vordergrund. Vielmehr werden gerade am Anfang des Romans Figuren und Raumordnungen thesenhaft aus den politischen Konstellationen der Zeit deduziert. Die Unvereinbarkeit von Sir Everards Tory-Standpunkt und Richard Waverleys Versuchen, in der Whig-Regierung einen Platz einzunehmen, wird zur Motivation für die

63 Scott 1982, 20; Scott 1986 [1814], 11: little Edward was permitted to pass the greater part of the year at the Hall. 64 Scott 1982, 11; Scott 1986 [1814], 6: A difference in political opinions.

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Aufnahme des jungen Edward in die Erbfolge. Der Raum des Landguts wird zur Domäne des politisch rückschrittlichen Sir Everard. Indem sein Neffe Edward von ihm aufgezogen wird, wird seine Biographie in dieses System integriert. Während der Raum aus Sicht des jungen Waverley ahistorisch ist, wird er als – wenn auch geschichtsferner – Teil einer politisch-historischen Wirklichkeit markiert, als Raum einer gescheiterten Oppositionsbewegung, die bis zu ihrer nächsten politischen Chance Geschichte in ihren privaten Räumen suspendiert hat. Semantische Überlagerungsstrategien der Raumwahrnehmung, bei denen die Perspektiven verschiedener Figuren oder auch unterschiedliche Wissensstände derselben Figuren gegeneinander geführt werden, gehören zum Repertoire der Raumdarstellung im historischen Roman. In den Promessi sposi wird das Dorf, das für die Protagonisten von Anfang an ein Raum zyklisch-naturhafter Lebensgestaltung ist – Hochzeit als zu erreichendes nächstes Handlungsziel, aber eben auch als Lebensrealität –, von den historisch-sozialen Gegebenheiten der Geschichte überlagert und bei der Flucht der beiden Verlobten als idyllischer Raum verabschiedet (vgl. die Überlegungen im fünften Abschnitt). Die Möglichkeit, den idyllischen Herkunftsraum auch als geschichtlichen Raum zu verstehen, wird in der Textlogik jedoch schon viel früher installiert, nämlich bereits in der berühmten Landschaftsbeschreibung im ersten Kapitel. Im späteren poetologischen Essay Del romanzo storico, in dem die Problematik von Historie und Fiktion diskutiert wird, analogisiert Manzoni Topographie und Geographie mit Erfindung und Geschichte.65 Im Detailreichtum der topographischen Karte sieht er eine Spiegelung der Erfindung, in der geographischen eine Analogie zur Faktizität der Geschichtsschreibung. Eine poetologische Anwendung dieser kartographischen Rückprojektion auf das Nebeneinander von fiktionalen und faktualen Diskursen im historischen Roman schlug Umberto Eco vor.66 Eco zufolge sind etwa die ersten zwanzig Zeilen vom Wechselspiel der beiden Kategorien bestimmt. Nach dem Rundblick über den See wird eine Brücke erwähnt, die zunächst im Fernblick betrachteten Berggipfel werden abgelöst von einer detaillierten Ansicht der Küste. An einem gewissen Punkt allerdings sei die topographische Dimension erreicht, die nun den Raum näher bestimmt, in dem

65 Vgl. Manzoni 1990 [1850], 198−199. 66 Vgl. Eco 1994, 87–90.

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sich später das Romanpersonal bewegen wird.67 Die geographisch erfassbare Welt entspricht nach Eco der durch überlieferte Dokumente gesicherten Historie, die topographisch ausgestaltete dagegen der Fiktion, in der die Lücken der Historie durch wahrscheinlichkeitsgetreue Einfügungen ergänzt werden. Folgt man dieser Gleichung, dann ist in der Landschaftsbeschreibung die Differenz von Historiographie und fiktiver Handlung ablesbar, die Manzoni im Roman immer wieder durch montierende Einschübe von historiographischen Passagen oder ganzen Kapiteln gezielt markiert und zugleich in den Bewegungen der fiktiven Figuren in der faktischen Geschichte narrativ gestaltet.68 Eco weist auch auf die Aspekte horizontaler und vertikaler Dynamik der Darstellung hin. Aus der anfänglichen Bewegung von oben nach unten, die bald ergänzt wird durch ein vertikales Umherschweifen, ließe sich nach Eco eine religiös-ideologische Konnotierung der Standpunkte ableiten. Eco meint damit das Hinabsinken des Orientierungszentrums, das zunächst eher an eine über dem Handlungsraum angesiedelte, auktorial-göttliche Perspektive erinnert, allerdings noch im ersten Satz, explizit markiert mit der Erwähnung der „Brücke, die hier die beiden Ufer verbindet“,69 in die menschliche Welt verlagert wird. Nun wird auch das „Auge“ eines menschlichen Beobachters erwähnt, dem diese „Verwandlung“ der noch naturnahen See- und Gebirgs- in eine besiedelte Flusslandschaft „noch sinnfälliger“70 gemacht werden müsse – im Original sogar noch dezidierter auf die sinnliche Wahrnehmung bezogen: che renda ancor più sensibile all’occhio questa trasformazione.71 Nun kann der imaginierte Betrachter Einzelheiten der Natur unterscheiden,72 vor allem aber werden die Aussichtspunkte und Blicklinien nun fortwährend verschoben. Der göttliche Geograph wird als Schöpfer dem menschlichen Gestalter des Raums gegenübergestellt, der sich in seiner transzendental-topographischen Welt als Akteur bewegen muss. Raimondi hat gegen Ecos markante Hervorhebung des im Text tatsächlich sehr zügig relativierten auktorialen Blicks Einspruch erhoben, weil er die gesamte

67 Il lembo estremo, tagliato dalle foci de’ torrenti, è quasi tutto ghiaia e ciottoloni; il resto, campi e vigne, sparse di terre, di ville, di casali; in qualche parte boschi, che si prolungano su per la montagna. Manzoni 1971 [1840], Bd. I, 10; „Der unterste Streifen, der von den Mündungen der Wildbäche durchschnitten wird, besteht fast gänzlich aus Kies und Geröll; der Rest aus Feldern und Weinbergen mit verstreuten Landgütern, Villen und Gehöften; an manchen Stellen auch Wäldern, die sich den Berg hinaufziehen.“ (Manzoni 2000, 14). 68 Grundlegend analysiert wird dieses Wechselspiel bei Küpper 1994. 69 Manzoni 2000, 13; Manzoni 1971 [1840], 9: il ponte, che ivi coniunge le due rive. 70 Alle drei Ztiate Manzoni 2000, 13. 71 Manzoni 1971 [1840], 9. 72 Vgl. Eco 1994, 88.

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Eingangspassage von einer deskriptiven Logik der Blicke und Perspektivwechsel beherrscht sieht, die eine irdisch-menschliche Sicht simulierten. Dominant sei dabei nicht der Blick eines göttlichen Schöpfers, sondern die pluralen, nach Orientierung suchenden, immer wieder die Standpunkte verändernden Blicke der Menschen beherrschten die Blickregie in der Eingangspassage.73 Insofern ist die narrative Gestaltung des Romanraums bereits ein Versuch, sich in der menschlich-geschichtlichen Welt zu orientieren. Die Origo als „raumzeitliche[s] und personale[s] Orientierungszentrum“74 wird also in der erzählten Landschaft mehrfach verortet. Eine göttlich-auktoriale Perspektive, die über der topographischen Welt steht, kann man bestenfalls in der ersten Hälfte der langen Eingangsperiode verorten.75 Im Text wird das ganz explizit erläutert, indem die ständig wechselnden Blickwinkel nicht nur thematisiert werden, sondern auch die narrative Präsentation der Landschaft organisieren. […] e da qui la vista spazia per prospetti piú o meno estesi, ma ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi, secondo che i diversi punti piglian piú o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda. […] Il luogo stesso da dove contemplate que’ vari spettacoli, vi fa spettacolo da ogni parte […]. (Manzoni 1971 [1840], 10–11) „[…] und dann schweift der Blick durch mehr oder minder ausgedehnte, aber stets abwechslungsreiche und immer Neues bietende Aussichten, je nachdem, ob die verschiedenen Aussichtspunkte etwas mehr oder weniger von der weiten Szenerie zu erfassen erlauben und ob der eine oder andere Teil hervorsticht oder zurücktritt, aufragt oder verschwindet. […] Der Ort selbst, von dem aus man dieses mannigfaltige Schauspiel betrachten kann, bietet rundum ein eigenes Schauspiel […].“ (Manzoni 2000, 14–15).

Allerdings kann man Ecos dichotomer Semantisierung der Raumbeschreibung darin folgen, dass dieser durch und durch diesseitige und historische Raum dennoch mit Zeichen religiöser Orientierung versehen ist, eine Konstellation, die nochmals prominent in Erinnerung gerufen wird, als Don Abbondio den beiden Banditen begegnet, womit zugleich die Handlung des Romans beginnt. Die Szenerie des Scheidewegs ist bereits als Motiv religiös konnotiert. Zudem wird sie durch den Bildstock mit Höllen- und Fegefeuer-Motiven auf dem Weg des betenden Don Abbondio auch religiös lesbar gemacht.76 Unmittelbar flankiert ist sie im

73 Vgl. Raimondi 2008, 171–173. 74 Dennerlein 2011, 160; vgl. Dennerlein 2009, 127–132. 75 Von „Jener Arm“ bis „auf der anderen Seite“ (beide Zitate Manzoni 2000, 13) bzw. von Quel ramo bis dall’altra parte (beide Zitate Manzoni 1971 [1840], 9). 76 Vgl. Manzoni 1971 [1840], 12–13; Manzoni 2000, 16.

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Text aber wiederum von einer denkbar radikalen Historisierung, die durch einen mehrseitigen Exkurs aus einmontierten Dokumenten zum damaligen Bandenwesen in der Lombardei erzeugt wird.77 Der genregeschichtliche Hintergrund dieser gezielt eingesetzten Darstellungsstrategien des Handlungs- und Herkunftsraums ist eines der von Walter Scott installierten Modelle der Raumerzeugung – in diesem Fall die Eingangspassage von Ivanhoe.78 Während bei Scott der Akzent ganz auf der Historisierung der gleichfalls geographisch-topographisch dominierten Raumpräsentation liegt, findet man dieses Modell bei Manzoni variiert und erweitert. Die menschlich-irdische Welt wird mit Konturen religiöser Raummodelle überblendet, die Beschreibungsmodi des Geographischen und des Topographischen werden historisch und religiös konnotiert. Die von Eco bemerkte Semantisierung der im ersten Satz erkennbaren Nullfokalisierung wird im Text schnell von Verfahren der Pluralisierung und Relativierung der Wahrnehmungsstandpunkte abgelöst. Die historische Perspektive überwiegt, allerdings bleiben im Text Hinweise auf eine Perspektive göttlicher Überschau erhalten – freilich nur zeichenhaft, als offene Fragen und Angebote zur Sinnstiftung. In die räumliche Gestaltung des Herkunftsraums der Protagonisten werden so auch Spuren der heilsgeschichtlichen Deutungsmodelle verlagert, die bereits dort mit historischen und politisch-sozialen Deutungsmodellen konfrontiert und damit insgesamt differenziert werden. Diese Konfrontation durchzieht als thematische Problemlinie den gesamten Roman. Eine solche differenzierende Problematisierung der historischen Semantisierung des Raums ist auch in Wilhelm Raabes Odfeld (1888) zentral. Das Kloster Amelungsborn wäre als Handlungsort ein klassischer Rückzugsraum von der Geschichte. Im Gegenteil wird die Geschichte des Klosters und des Odfeldes sogar in eine historische, mythische und sogar naturgeschichtliche Vergangenheit verlängert – eine Strategie der polyvalenten Historisierung des Handlungsraums, die im gesamten Text, durch Kommentare und Anspielungen des Erzählers und des Protagonisten, des Magisters Buchius, fortgeführt wird. Der historische Handlungsraum, in dem sich die Besetzung des Klosters durch die Franzosen als kurze Episode im Siebenjährigen Krieg abspielt, wird transhistorisch erweitert (dazu mehr im vierten Abschnitt). Herkunftsräume werden also in der Regel mehrfach semantisiert. Während sie aus Sicht der Protagonisten, die aus diesen Herkunftsräumen ihren Weg in geschichtliche Räume antreten, als ahistorisch erscheinen, können sie in den Texten parallel auch mit anderen Zeitmodellen korreliert werden. Das sind meist

77 Vgl. Manzoni 1971 [1840], 13–18; Manzoni 2000, 17–21. 78 Scott 1994 [1819], 7.

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Konzepte historischer Zeit, aber es können auch andere, etwa mythische oder naturhafte Zeitkonzepte aufgerufen werden.

4 Zum Erlernen der Wahrnehmung geschichtlicher Räume Zuletzt muss die Frage behandelt werden, wie die zunächst ohne historischpolitisches Bewusstsein agierenden Protagonisten die Geschichtlichkeit von Räumen erlernen oder überhaupt begreifen können. Dieser Aspekt scheint trotz der immer auch latent historischen Dimension der für die Protagonisten ahistorischen oder geschichtsfernen Herkunftsräume mit dem Akt ihres Verlassens, also mit der Überschreitung der Grenze zu anderen Räumen gekoppelt zu sein.79 Zur Gestaltung von Räumen in historischen Romanen gehört auch die Wahrnehmung der geschichtlichen Determiniertheit von Räumen. Auch hierfür gibt es in Scotts Waverley einen Musterfall, nämlich Waverleys erste Wahrnehmungen des schottischen Lowland-Dorfs Tully Veolan. Die Passage stellt seine erste Konfrontation mit einem Raum dar, nachdem er das Gut seines Onkels verlassen hat. Erstmals werden Parameter der Raumwahrnehmung durch den Protagonisten entworfen. Nach der Jugend im ahistorischen Herkunftsraum steht nun die Wahrnehmung geschichtlich-sozialer Determiniertheit im Mittelpunkt. Zugleich ist das eine Reflexion des kulturellen Vorwissens, über das der Protagonist verfügt. Erzählerisch wird das bewerkstelligt, indem die Beobachtungen des durch das Dorf reitenden Waverley in Nullfokalisierung kommentiert und so die stellenweise intern fokalisierten und als begrenzt markierten Wahrnehmungen Waverleys80 um das historisch-kulturelle Wissen des Erzählers erweitert werden. In den ersten beiden Abschnitten werden Waverleys Beobachtungen beim Einzug in Tully Veolan thematisiert. Wahrnehmungszentrum ist der auf dem Pferd sitzende Waverley. Der Gesamteindruck ist beherrscht vom Elend und von der Armut des „Dorf[s], oder richtiger d[es] Dörfchen[s]“81 und seiner Bewohner. Waverley sieht „gänzlich verwahrloste[ ]“82 Häuser, „fast unbekleidete Kinder“83 und schließlich Straßenhunde. Thematisiert wird das unmittelbar sichtbare

79 Vgl. Lotman 1993. 80 Vgl. Scott 1986 [1814], 32–36. 81 Scott 1982, 55; Scott 1986 [1814], 32: straggling village, or rather hamlet. 82 Scott 1982, 55; Scott 1986 [1814], 32: miserable in the extreme. 83 Scott 1982, 55; Scott 1986 [1814], 32: children almost in a primitive state of nakedness.

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soziale Elend in interner Fokalisierung, dann aber in einer erzählerischen Digression abgeschwächt: Die Beobachtungen des Protagonisten werden in ihrem begrenzten Wissenshorizont markiert durch Parallelisierung mit denen eines französischen Schottland-Reisenden, der als eine Art Ersatz-Instanz fungiert. Waverley wird vom Erzähler als Vertreter zivilisiert-fortschrittlicher Länder präsentiert, der einen kulturell und geschichtlich fremden Raum erkundet. Zugleich jedoch artikuliert die Hervorhebung des Reisenden als eingeschobener Instanz auch die Differenz zwischen gleichsam ethnologischen Detailbeobachtungen und den möglichen Wahrnehmungen Waverleys. Denn der kann zwar gleichfalls sehen, unausgesprochen bleibt aber, welche Gedanken und Folgerungen er daraus entwickelt. Differenziert wird die Wahrnehmung Waverleys im folgenden Abschnitt, in dem durch mehrfache Wechsel der möglichen Wahrnehmungs- bzw. Erzählperspektiven und ihrer impliziten Wertungen geradezu eine Miniatur des ideologischen Romanverlaufs entsteht. Zunächst beobachtet Waverley die Bewegungen der ärmlichen Dorfbewohner. Alte Männer, „mit krummem Rücken und triefenden Augen“,84 schauen dem Fremden nach, und Dorfmädchen kommen in archaischer Manier vom Brunnen – sozusagen als assoziativer Köder, der Waverleys bislang ungefiltert realistischen Beobachtungsstil mit seinem literarisch geprägten Vorwissen abgleicht.85 Die Mädchen verändern die Wahrnehmung des sozialen Elends: Waverley assoziiert mit dem schottischen Dorf ein als ‚romantic‘ konnotiertes Sinnbild des historisch Anderen, das er sich durch seine Wahrnehmung sinnlich erschließt. In seiner als romanzenhaft konnotierten Vorstellungswelt erscheinen die Mädchen als malerische Motive – „Wer Sinn für Schönheit besaß, konnte die schmucke Tracht der Mädchen und das Ebenmaß ihrer Glieder nicht übersehen.“86 Diese Wahrnehmungen werden dann abgelöst von der Perspektive des zivilisierten „echten Engländer[s]“.87 Vor diesem kulturell bedingten Wahrnehmungshorizont des reisenden Engländers scheint das soziale Elend in der Trägheit und einer gewissen intellektuellen Dumpfheit der Bewohner begründet, die zivilisatorischen und ökonomischen Fortschritt behindert. In den letzten Sätzen seiner assoziativen Überlegungen zum Dorf wird sein ‚blasser‘ und unsicherer Charakter erzählstrategisch eingesetzt:

84 Scott 1982, 56; Scott 1986 [1814], 33: bent as much by toil as years. 85 Vgl. Scott 1986 [1814], 33. 86 Scott 1982, 57; Scott 1986 [1814], 33: Nor could a lover of the picturesque have challenged either the elegance of their costume, or the symmetry oft heir shape […]. 87 Scott 1982, 57; Scott 1986 [1814], 33: mere Englishman.

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„Derartige Gedanken gingen Waverley durch den Kopf, während er langsam durch die holprige, steinige Straße von Tully-Veolan ritt […].“88 Die charakterliche Unbestimmtheit befähigt ihn, politisch-kulturelle Prägungen und Determinationen zu relativieren und so auch die Fremdheit der schottischen Realität bis zu einem gewissen Grad wahrzunehmen und für Erklärungsansätze zu präparieren.89 Festhalten lässt sich also: Waverleys Wahrnehmung des Dorfes und der Bewohner von Tully-Veolan wird im Verlauf der Passage differenziert. Die unmittelbare Erstwahrnehmung des sozialen Elends – stellenweise präsentiert in interner Fokalisierung – wird überlagert von kulturell vorgeprägten Stereotypen des Romantisch-Pittoresken, um dann in ökonomisch-pragmatische Betrachtungen überzugehen, die letztlich eine Beurteilung der historischen Bedingtheit des Raums ermöglichen. All das wird durch eine nullfokalisierende Erzählerinstanz vermittelt. Vergleichbare Situationen differenzierender Wahrnehmungen – oft von subjektiven zu kulturell determinierten Prägungen – gehören zum Repertoire der Raumdarstellung des historischen Romans. Stets geht es darum, die geschichtliche Determination eines Raums mit anderen Wahrnehmungsweisen zu verknüpfen. In Raabes Odfeld kann man eine Erweiterung dieser bei Scott, aber etwa auch bei Manzoni oder bei Arnim ganz am kognitiven Horizont der Protagonisten ausgerichteten sukzessiven Wahrnehmung der Geschichtlichkeit von Räumen verfolgen. Denn hier findet nicht nur eine hochgradig historische Semantisierung des Handlungsraums statt, der zugleich der Herkunftsraum des Protagonisten ist. Die enzyklopädische Auflistung der Historie des Raums führt auch zu einer Pluralisierung der Geschichtlichkeit, die man ebenso als Relativierung wie als Intensivierung verstehen kann. Das Odfeld ist nicht nur der Schauplatz einer Schlacht im Siebenjährigen Krieg, sondern wird von der ersten Seite des Romans an, zunächst, wie bei Manzoni, vom Erzähler mit verschiedensten historischen Bezügen und Deutungsansätzen erklärt;90 im Text dominiert das gleichfalls relativierte apokalyptische Modell.91 Im weiteren Verlauf übernimmt der Magister Buchius als wichtigster Protagonist diese Funktion. Er verfügt über die Fähigkeit, „Raum und Zeit, und damit auch die Historie, zu transzendieren, ohne sie zu negieren“.92 Das Odfeld ist aktueller Handlungsraum, wird aber zugleich als

88 Scott 1982, 57–58; Scott 1986 [1814], 33: Some such thoughts crossed Waverley’s mind as he passed slowly through the rugged and flinty street of Tully-Veolan. 89 Vgl. Scott 1986 [1814], 33. Vgl. dazu auch Lampart 2002, 113–116. 90 Vgl. Raabe 1995 [1888], 5–6. 91 Vgl. Detering 1990, 178–197, bes. 193. 92 Geppert 2009, 145.

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transhistorischer Geschichtsraum präsentiert, der bereits antike Schlachten sah, und sodann als Raum der Konfrontation von Naturkräften – vor allem die Rabenschlacht über dem Odfeld spielt hier eine Rolle – mythisch-naturhaft gedeutet. So werden im Raum plurale Zeitkonzepte durch narratoriale Hinweise und figurale Kommentare des Magisters Buchius verknüpft. Er äußert sich zum Wundercharakter der Rabenschlacht, wird dabei aber von der Erzählerstimme flankiert. Das Erlernen einer geschichtlichen Raum-Wahrnehmung wird im Odfeld pluralisiert. Der Magister kennt nicht nur den topographischen Raum, sondern verfügt auch über eine Vielzahl von Deutungsangeboten, die er allesamt während des gesamten Romans mit seinen Beobachtungen verknüpft. Seine [des Magisters; F. L.] Aufmerksamkeit war ganz allein auf diese mirakulöse Schlacht der Raben, der Vögel Wodans, über Wodans Felde, über dem Odfelde, gerichtet. Mit erhobenen Armen und Stock focht er die Schlacht mit. In seinem gelehrten Gehirn drehte es sich im Tummel wie dort in den Lüften dem Mons Fugleri zu. Armin und Germanicus, Sachse und Franke, die Liga und der Schwed, sie lagen sich, in einen Knäuel verbissen, wiederum im Haar im Gau Tilithi, dem Ithgau, und der Magister Noah Buchius […] hatte so lange das Leben gehabt, um dieses Portentums mit eigenen Augen und bei vollen, klaren übrigen Sinnen teilhaftig zu werden und die Anwendung daraus zu ziehen für den eben vorhandenen Tag und die gegenwärtigen schreckens- und sorgenvollen Zeitläufte.93

Im Odfeld wird auf diese Weise die Funktion des Protagonisten variiert. Waverley und seine Nachfolger müssen die Wahrnehmung geschichtlicher Spuren in den Räumen durch die Konfrontation des Herkunftsraums mit zeitlich-historischen Veränderungen erst erlernen. Der historistisch geprägte Magister begreift die geschichtliche Determiniertheit des Odfelds von Anfang an als „Walstätte weltgeschichtlicher Katzbalgereien“94 so gut, wie sonst nur der Erzähler. Aber ganz im Sinne eines ‚produktiven Historismus’95 entsteht daraus ein Bewusstsein für die spezifische historische Bedingtheit des konkreten Raumes, der ihn als „Hier und Jetzt“96 verbindlich werden lässt und es den Figuren ermöglicht, sich auf ihrer Flucht durch das Odfeld zu orientieren. Auch in Austerlitz findet sich die für die Romantradition des neunzehnten Jahrhunderts charakteristische historisierende Erweiterung der Raumwahrnehmung: Austerlitz ist zunächst, aufgrund der Verdrängung seiner Biographie, auf eine historische Wahrnehmungsweise fokussiert, die sich zu seiner biographischen Geschichtserfahrung vorzeitig verhält und so eine Verbindung historischen

93 Raabe 1995 [1888], 28. 94 Raabe 1995 [1888], 6. 95 Vgl. Baßler u. a. 1996, 25. 96 Geppert 2009, 146.

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Wissens mit eigener historischer Erfahrung zunächst verhindert: Die Katastrophengeschichte von Holocaust und Krieg ist für Austerlitz tabuisiert. Das differenzierende Element räumlicher Wahrnehmung liegt in der Verknüpfung architektur- und baugeschichtlicher Details mit der eigenen Biographie.97 Eine der Szenen, in denen es exemplifiziert wird, ist die Beschreibung der Erinnerungen, die ihn im Ladies Waiting Room des Bahnhofs von Liverpool Street „ankamen“98; die Wortwahl unterstreicht, dass die subjektive Geschichte mit dem Raum verbunden ist und kognitiv erfasst werden muss. Es ist der Moment, in dem Austerlitz beginnt, die bislang historische, und zwar primär architekturgeschichtliche Raumwahrnehmung mit seiner subjektiven Geschichte zu verbinden: Erinnerungen wie diese waren es, die mich ankamen in dem aufgelassenen Ladies Waiting Room des Bahnhofs von Liverpool Street, Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im andern verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die ich in dem staubgrauen Licht zu erkennen glaubte, sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit.99

Austerlitz’ baugeschichtliche Wahrnehmung personalisiert sich von diesem Erinnerungsmoment an sukzessive. Auf seiner Entdeckungsreise nach Prag und Theresienstadt rekonstruiert er seine traumatische Vergangenheit als Teil der kollektiven Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.100 Vergleicht man diese Poetik der Rekonstruktion von Erinnerung mit der Art, wie Waverley erstmals einen historisch geprägten Raum erkundet, dann wird deutlich, dass sie eine Fortführung des narrativen Musters für die Erkundung historischer Räume ist, die in der Geschichte des Genres historischer Roman eine lange Tradition haben – eine Tradition, die etwa im Odfeld durch Magister Buchius repräsentiert wird, der über ein weitläufiges kulturelles Gedächtnis verfügt. Freilich: Während in Waverley noch eine ethnographisch vorgeprägte Erkundung der historischsozialen Probleme der Räume stattfindet und im Odfeld eine kritisch-produktive Reflexion empirisch-historistischer Erkenntnismodi vorherrscht, wird in Auster-

97 Zur Bahnhofsmanie vgl. Tennstedt 2007, 216–226; zur Verräumlichung der Erinnerung Fuchs 2004, 47–54. 98 Sebald 2003 [2001], 200. 99 Sebald 2003 [2001], 200–201. 100 Detailliert wird das rekonstruiert bei Schütte 2011, 177–219, bes. 205–218.

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litz die traumatisch-individuelle Geschichte ganz unmittelbar mit der ‚großen‘ Geschichte enggeführt. Aber auch das geschieht, indem die Ent- und Rehistorisierung von Herkunftsräumen erzählerisch produktiv gemacht wird.

5 Herkunftsräume im Kontext literarischer Traditionen der Raumdarstellung Die Semantisierung der Herkunftsräume erfolgt also auch über Modelle und Traditionen literarischer Raumdarstellung. Ihre Konventionen werden in die von der spezifischen Auseinandersetzung mit der Geschichte geprägten historischen Romane integriert. Insofern ist es naheliegend, am Ende dieser Überlegungen zu versuchen, die komplexe Darstellung von Herkunftsräumen zwischen Enthistorisierung, Geschichtsferne und Historisierung mit Bezug auf narrativ konventionalisierte Muster der Raumdarstellung zu resümieren. Das wichtigste Modell, das bei der narrativen Gestaltung der Herkunftsräume aufgerufen wird, ist die aus der Tradition des Bildungs- oder Entwicklungsromans stammende Figuration des meist mit der Kindheit und Jugend der Heldinnen oder Helden verbundenen, gegenüber der sozialen oder historischen Realität der Außenwelt relativ abgeschotteten Raums. Installiert wird dieses Modell in Scotts Waverley, finden kann man es bis zum walisischen Dorf und dem kargen Pfarrhaus, in dem der junge Austerlitz aufwächst. Gerade in Austerlitz ist die Tradition englischer Bildungsromane des neunzehnten Jahrhunderts besonders markant.101 Erweitert wird dieses Modell eines geschichtsfernen Raums in der produktiven Fortschreibung der literarischen Tradition des Idylls, die man eingängig in Manzonis Promessi sposi beobachten kann. Auch hier verlassen die beiden Protagonisten, die ‚versprochenen Brautleute‘, den Herkunftsraum der zunächst außergeschichtlich wahrgenommenen Dorfwelt und werden dann auf verschiedenen Wegen in die Geschichte geführt. Entscheidend für die Funktionalisierung der Idyllen-Tradition im historischen Roman ist Lucias literarisch stilisierter Abschiedsmonolog am Ende des achten Kapitels. Dieser Monolog bricht gezielt mit der bislang beim Personal des Romans angewendeten niederen Stilebene. Lucias Abschied hat weniger mit den möglichen Gedanken eines Bauernmädchens zu tun als mit den Konventionen elegischer Rede- und Empfindungsformen, in denen ein verlorener Naturzustand und das unerreichbare Ideal eines paradiesisch-idyllischen Raums kontrastiert werden – ganz im Sinne von

101 Vgl. Geppert 2009, 339.

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Schillers kontrastierend eingeführter Bestimmung von Elegie und Idylle in Über naive und sentimentalische Dichtung.102 Addio, monti sorgenti dall’acque, ed elevati al cielo; cime inuguali, note a chi è cresciuto tra voi, e impresse nella sua mente, non meno che lo sia l’aspetto de’ suoi più familiari; torrenti, de’ quali distingue lo scroscio, come il suono delle voci domestiche; ville sparse e bianchegganti sul pendío, come branchi di pecore pascenti; addio!103

Ade, ihr Berge, die ihr aus den Wassern aufragt und euch zum Himmel erhebt; ihr ungleichmäßig gezackten Gipfel, vertraut dem unter Euch Aufgewachsenen und seinen Sinnen eingeprägt wie der Anblick seiner Nächsten; ihr Wildbäche, deren Rauschen er unterscheiden kann wie den Klang der heimischen Stimmen; ihr verstreuten Dörfer, weiß an den Hängen wie Herden weidender Schafe, ade!

Deutlich hörbar sind auch die Anklänge an Johannas Abschiedsmonolog am Ende des Vorspiels von Schillers Jungfrau von Orleans.104 Durch die Kontrastwirkung des elegischen Duktus in Lucias Rede – der Erzähler reflektiert dessen verfremdende Unwahrscheinlichkeit am Ende der Passage105 – mit ihrer sozialen Stellung wird die symbolische Bedeutung der Flucht in Analogie zu Johannas Auszug in die geschichtliche Welt kommentiert. Lucias Abschiedsmonolog markiert das Hinaustreten aus einem Raum, dem in ihrer Perspektivierung die Eigenschaften eines nunmehr verlorenen Idylls zugeschrieben werden. Indem die Flucht Lucias aus dem Dorf mit dem Muster des Idylls überkreuzt wird, wird das Erzählmuster des Idylls für den Romanraum funktionalisiert. Die Idylle in den Promessi sposi ist ein kontrafaktischer, bereits zerstörter Zustand, der das Geschehen in der geschichtlichen Welt profiliert. In den Passagen, die im Dorf angesiedelt sind, werden Qualitäten der Idylle zur Ausstattung des Raums genutzt – etwa die für die Protagonisten am Anfang einzig denkbare Rhythmik eines gewöhnlichen Lebens, dessen nächste Station die geplante Heirat ist. Daran schließen sich Interpretationen von Manzonis Roman als Suche nach dem ‚verlorenen Idyll‘ an.106 Diese selektive Übertragung bestimmter Merkmale des Idylls kann man mit Bachtins historischer Romantypologie107 erläutern. Bei Bachtin fungiert die

102 Vgl. Schiller 2004 [1795/96], 728. 103 Manzoni 1971 [1840], 191; Übersetzung: Manzoni 2000, 184. 104 Schiller 2004 [1802], 700–702. 105 Vgl. Manzoni 1971 [1840], 193. 106 Vgl. Raimondi 1974. 107 Vgl. Bachtin 2008.

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Idylle als einer der grundlegenden Chronotopoi. Unter Chronotopos versteht Bachtin ein Muster, in dem die Verschränkung von Raum- und Zeitdimension in der Erzählung konkretisiert wird,108 also in etwa das vollzogen wird, was ich als Varianten der Semantisierung von Raumordnungen durch historisch-politische Konstellationen bezeichnet habe. Bachtin spricht vom „idyllischen Typ der Wiederherstellung des vorzeitlichen Komplexes und der Folklorezeit“.109 Vor allem Züge der „Idylle der ländlichen und […] der handwerklichen Arbeit sowie der Familienidylle“110 spielen bei Manzoni eine Rolle, allerdings vor allem insofern, als sie im Roman als verhindert und verloren auftauchen. Modifiziert werden solche narrativen Muster durch intertextuelle Verweisstrukturen, die den Räumen weitere Eigenschaften hinzufügen können. Diese Art der Erzeugung eines religiös konnotierten Raums findet sich auch bei Manzoni Durch den Bildstock mit Inferno- und Purgatorio-Motiven auf Don Abbondios Weg wird die Landschaft, in der sich die Figuren bewegen, gleich zu Beginn auch mit einem religiösen Deutungsangebot versehen.111 In Ransmayrs postmodernsynkretistischem Roman Morbus Kitahara werden solche religiösen Zeichen eingesetzt und zugleich zurückgenommen. Im Roman ist eine eigentümliche Häufung intertextueller Verweise auf Dantes Commedia unverkennbar, zugleich aber gehört es zur eigentümlichen Poetik der Auslöschung kultureller Spuren in Morbus Kitahara, dass diese durch Überschreibungen im Text gleichsam wieder verwischt werden. Achim Hölter hat diese Dante-Verweise zusammengestellt, die als einzelne plausibel, aber erst durch die Zusammenschau so auffällig werden, dass der Bezug zur postzivilisatorischen und posthistorischen Welt des Romans zwingend wird.112 Der Steinbruch in der Nähe von Moor, der Außenposten eines Konzentrationslagers war, wird in der kontrafaktischen Nachkriegswirklichkeit des Romans

108 „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos.“ (Bachtin 2008, 7–8). Allerdings überschneidet sich diese Verwendung des Chronotopos als erzähltheoretische Kategorie bei Bachtin mit anderen Verwendungsweisen; vgl. das Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke (Bachtin 2008, 201–242, bes. 204–207). 109 Bachtin 2008, 160. 110 Bachtin 2008, 160. 111 Vgl. Manzoni 1971 [1840], 12–13. 112 Vgl. Hölter 2001, 138–141.

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zu einem Buße- und Sühne-Ort, an dem die Bewohner von Moor die Leiden der Häftlinge nachspielen müssen. Dieses Sühnekonzept, das freilich im Roman ganz explizit als theatralische Inszenierung geschildert wird, zitiert und persifliert die Logik des ‚contrappasso‘, der Strafsystematik im Dante’schen Inferno, wonach Gleiches mit Gleichem vergolten wird.113 Freilich handelt es sich um eine zum fragwürdigen Erinnerungsritual gewordene Form der Bestrafung. Sie verstärkt indes die punktuelle Anlehnung des Roman-Raums an Dantes Inferno, die auch durch andere intertextuelle Verweise fortgeführt wird. So korrespondiert der Steinbruch als Sühne-Raum mit Dantes Inferno. Die übergroßen Lettern, die Major Elliot im Steinbruch anbringen lässt – „HIER LIEGEN / ELFTAUSENDNEUNHUNDERTDREIUNDSIEBZIG TOTE / ERSCHLAGEN / VON DEN EINGEBORENEN DIESES LANDES / WILLKOMMEN IN MOOR“114 , sind kein Zitat, aber doch ein Echo auf die berühmte Gedenk-Inschrift am Eingang zum Inferno: LASCIATE OGNI SPREANZA, VOI CH’ENTRATE. („LASST JEDE HOFFNUNG FAHREN, WENN IHR EINGETRETEN.“)115 Verstärkt wird dieses Echo über Anlehnungen wie die analoge Kapitelzahl – der Roman umfasst 34 Kapitel, Dantes Inferno 34 Gesänge – und weitere Bezüge. So werden im Roman die „Terrassen des Steinbruchs nur als helle, ungeheure Stufen, die aus den Wolken ans Ufer hinabführten“116 geschildert. Das erinnert an die Topographien von Dantes Jenseits, die Durs Grünbein an „Lavahalden […], Gebirgspässe und Serpentinen“ denken ließen, an „Alpenlandschaften“ und eine „Hochgebirgsexpedition über Felsenpfade“.117 Die alternativgeschichtliche Nachkriegswelt wird durch diese Zitat-Ästhetik konnotativ erweitert. Die Verdichtung von Dante-Zitaten verweist aber auch auf das Problem der literarischen Reflexion der nationalsozialistischen Vergangenheit. Das Dante’sche Inferno als immer wieder aktivierte Metapher für eine literarische Annäherung des Holocaust wird in Morbus Kitahara angedeutet, aber nicht ausgeführt. Die Hinweise bleiben Zitate, die mit anderen Zitaten korrespondieren, im Roman aber nicht zu einem kulturellen Verweissystem verbunden werden. Die Anspielungen auf die Topographie von Dantes Commedia verweisen auf die Möglichkeit, dass auch in diesem Roman „die Assoziationskette Auschwitz – Hölle – Dante“118 aktiviert werden könnte. Das Motiv wird aber mit der Frage konfrontiert, ob in der „prämodernen Welt des Hochlands“ nicht zugleich „die Möglichkeiten,

113 Vgl. für eine kurze Erläuterung Prill 1999, 137. 114 Ransmayr 1995, 33. 115 Dante 1988, Inf. III, 34/35. 116 Ransmayr 1995, 32. 117 Alle drei Zitate Grünbein 2009, 37, 38. 118 Hölter 2002, 99.

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so etwas wie Geschichte überhaupt noch wahrzunehmen, […] fehlen“.119 Entsprechend verliert sich die Reflexion über die dem Dante’schen Inferno nachgestellte Bestrafungslogik in der zunehmenden Zivilisationsferne von Moor. Die Möglichkeit, den Raum mythisch zu verstehen, wird eingeführt, dann aber, ähnlich wie der Erinnerungsort Nürnberg, als kulturelles Substrat wieder durchgestrichen. Mit Hilfe solcher narrativer Verfahren werden Herkunftsräume in den Texten eingeführt, ausgestaltet und variiert. Herkunftsräume in historischen Romanen sind von besonderer Bedeutung, weil in ihnen die Protagonisten erst mit den Merkmalen, dem Wissen und den kognitiven Fähigkeiten ausgestattet werden, die sie dann zur Wahrnehmung und Verarbeitung der geschichtlichen Dimension von Räumen befähigen. Deshalb kann man eine Tendenz konstatieren, die Herkunftsräume in den Texten zunächst zumindest aus der Perspektive der Protagonisten als ahistorisch oder geschichtsfern zu gestalten. Dennoch werden Herkunftsräume meist auch historisch semantisiert und man kann festhalten, dass sich die verschiedenen Semantisierungen in der Regel überlagern oder je nach Perspektive oder Erkenntnisstand der Figuren changieren. Wenn ein Herkunftsraum aus der Sicht eines Protagonisten als ahistorisch oder geschichtsfern semantisiert ist, kann er aus Sicht anderer Figuren mit den Qualitäten eines historisch-politischen Raums ausgestattet werden, andernfalls werden solche Möglichkeiten zumindest auf Textebene angedeutet. So kann die Untersuchung des Verhältnisses von Figuren und ihren Herkunftsräumen dazu beitragen, das Problem der Wahrnehmung von Räuymen durch Figuren zu präzisieren – besonders durch die Frage, ob und wie in historischen Romanen die Wahrnehmung einer spezifischen Historizität von Räumen gestaltet werden kann.

119 Beide Zitate Niekerk 1997, 169.

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Christine A. Knoop

Ausgangspunkte neu erzählen Der Raum der Herkunft in Jean Genets Journal du Voleur Jean Genet hatte die längste Zeit seines Lebens keine feste Adresse. Auch als er schon lange kein Landstreicher und Sträfling mehr war, sondern ein angesehener Autor, lehnte er es ab, sesshaft zu werden. Stattdessen wohnte er in kleinen Hotels und befand sich oft auf Reisen; als offizielle Anschrift gab er, sogar auf seinen Ausweispapieren, 5, Rue Sébastien-Bottin in Paris an – die Adresse des Verlagshauses Gallimard.1 Diese Verweigerungshaltung war einem tiefen Bedürfnis nach Mobilität2 sowie offenbar einer starken Faszination für räumliche Individualität und Varianz geschuldet, die er auch in seinem literarischen Werk zu beschreiben nicht müde wurde. Die einzig feste Adresse, die von ihm bekannt ist, führt an den Ort, an dem er aufgewachsen ist: Alligny-en-Morvan im Massif Central.3 Während die Relevanz biographischer Informationen über den empirischen Autor bekanntlich nicht immer sicher zu bestimmen ist, lässt sich ihre Bedeutung für die Lektüre von Genets Romanen nicht von der Hand weisen. Nicht nur sind sie stark autobiographisch gefärbt, ganz besonders das 1949 erschienene Journal du Voleur (Tagebuch des Diebes), sondern sie entwerfen konkrete Räume, die die Raumerfahrung des Autors widerspiegeln und mit Sinn versehen: Die Texte verweben die vom Autor Genet erlebten Räume tief mit seinem literarischen Programm und tragen dadurch zur Entstehung eines distinkten Autorbildes bei; der Mensch Genet wird durch die Literarisierung seiner Erfahrung (auch seiner

1 Vgl. Fichte und Genet 1992, 12. 2 Fichte und Genet 1992, 13. 3 Genauere Angaben zu den Orten von Genets Kindheit finden sich in Lydie Dattas’ extrem stilisiertem, in Bezug auf Räume aber äußerst akkuraten Portrait Genets (Dattas 2006, 9–78). Siehe auch: Moraly 1988, v. a. 18–26, 32–33, 155.

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Raumerfahrung) einerseits zum Autor,4 der die mit Hilfe der Literatur entworfene Persönlichkeit auch in der realen Öffentlichkeit zur Schau trägt, und andererseits zur fiktiven Figur – ein Werdegang, den Genet zum Thema des Romans Journal du Voleur macht. Im vorliegenden Beitrag möchte ich mit Rückgriff auf die in Katrin Dennerleins Narratologie des Raumes entwickelte Terminologie darstellen, welche Rolle der Herkunftsraum des Protagonisten im Roman Journal du Voleur spielt, wie er als konkreter Raum im Text erzeugt wird, welche Bedeutung er für das poetische Programm Genets entfaltet und wie er die anderen, im Text dargestellten Räume (primär das nur kurz erwähnte Berlin der Nazizeit) bedingt, aber gleichzeitig auch durch diese hervorgebracht wird.

1 Raum bei Jean Genet: Zur Forschung Die Darstellung von Raum spielt in Genets Werk eine kaum zu überschätzende Rolle – sowohl auf der Ebene der künstlerischen Verfasstheit seiner Texte als auch auf der Ebene seines literarischen Selbst- und Literaturverständnisses. Raum wird im buchstäblichen und im übertragenen Sinne relevant: Fast jede Raummetapher hat zugleich eine konkrete Funktion innerhalb der histoire; und jeder scheinbar ‚nur‘ den Blick lenkende und einen Rahmen für die Handlung schaffende konkrete Raum hat gleichzeitig eine sprachbildliche (metaphorische, symbolische oder metonymische) Funktion. Die Bedeutung von Raum im Werk Genets ist an der Forschung natürlich nicht unbemerkt vorübergegangen; diese lässt aber in der Regel den konkreten Raum weitgehend außer Acht. Eine Ausnahme bildet Urs Urbans Studie Der Raum des Anderen und Andere Räume (2007), obwohl auch Urban die Betrachtung konkreter Räume letztlich einer Interpretation des Raumes als Symbol für kulturelle und personale Identität sowie als Möglichkeit des Verhaltens gegenüber dem entweder ausgegrenzten oder einge-

4 Die Vorstellung der gegenseitigen, gleichzeitigen Erschaffung von Autorsubjekt und Sprache ist eine Konzeption, die Genet mit anderen Autoren der frankophonen Literatur des langen zwanzigsten Jahrhunderts (z. B. Proust, Gide, Cocteau, Blanchot und Kundera) verbindet. Zur Logik dieser Konzeption und ihrer philosophischen Fundierung im Werk Hegels siehe Blanchot 1949, 293–331. Blanchot selbst misst Raumerfahrung und -darstellung im Kontext der Erschaffung von Autor und Text eine große Bedeutung bei; der konkret entworfene Raum wird bei ihm inszeniert als eine Entscheidung für eine bestimmte Perspektive, auf der die Entstehung von Text und Autor (mit) basiert.

Der Raum der Herkunft in Jean Genets Journal du Voleur 

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schlossenen ,Anderen‘ unterordnet.5 Urbans Fokus liegt auf einer Verbindung von Raumanalysen mit einer Betrachtung von Sexualität in den Texten Genets.6 Andere Ansätze stellen heraus, wie die Verwendung von Raummetaphorik die Beschreibung von Emotionen, interpersonellen Beziehungen und Mentalitäten bestimmt7 und diskutieren die Flüchtigkeit und Inkohärenz von Raum- und Zeitkonzepten bei Genet,8 vernachlässigen aber zumeist eine genaue Beschreibung konkreter Räume. Auffallend ist auch, dass Journal du Voleur, also derjenige Roman Genets, der vielleicht die größte Anzahl an Räumen und Orten konkret aufruft und beschreibt, im Kontext der Raumdiskussion am wenigsten beleuchtet worden ist. Dies mag damit zu tun haben, dass der Roman in größerem Umfang als autobiographisch gilt als die anderen Romane Genets, weswegen auch die Räume eher als real denn als ausdeutbare literarische Entitäten verhandelt werden9 – als Räume also, die wenig Entfaltungsmöglichkeit für Interpretation zu bieten scheinen.10 Dies ist indes eine Lesart des Journal du Voleur, die bereits von JeanPaul Sartre in Frage gestellt wurde, der die These vertrat, Genets Romane seien alle gleichermaßen autobiographisch geprägt: Genet se voit partout; les surfaces les plus mates lui renvoient son image […]. („Genet sieht sich überall selbst; die trübsten Oberflächen spiegeln ihm sein Abbild wider […].“)11 Dies tue der Fiktionalität indes keinen Abbruch: [… Dans tous ses romans,] Genet fait apparaître une foule grouillante et touffue qui nous intrigue, nous transporte, et se change en Genet sous le regard de Genet. („[… In all seinen Romanen] bringt Genet eine wimmelnde, dichte Menge zum Vorschein, die unsere Neugier weckt, uns hinreißt

5 Urban 2007. Ähnliche, jedoch im Detail weniger ausdifferenzierte Ansätze finden sich u. a. bei El Basri 1999; Frese Witt 1985 und 1989. 6 Urban stützt sich dabei auf eine Studie Jacob Stockingers: Stockinger (1987) stellt heraus, dass die Räume bei Genet stets Räume der Alterität seien, die sich als Rückzugsräume von der heteronormativen Ordnung verstünden, bleibt eine genaue Analyse der Texträume aber schuldig. 7 Siehe z. B. Israel 1971, 33–34. 8 Siehe z. B. Barber 2004, 15, 57, 62–64. 9 Siehe z. B. Robinson 1999; Schrader 1999. Oliver Lubrich (2004a, 2004b) entzieht sich dieser Debatte, indem er den Namen der Figur Genet stets in einfache Anführungszeichen setzt; sein Umgang mit Zeit- und Raumdarstellung deutet aber dennoch auf eine eher autobiographisch gefärbte Lesart hin. 10 In einzelnen Fällen werden die konkreten Räume sogar schlicht für zweitrangig erklärt. Vgl. z. B. Barber 2004, 62: Barber stellt die These auf, alle Raum- und Zeitdarstellungen des Textes seien der inneren Reise, der Reise ins Ich des Protagonisten untergeordnet – eine Lesart, der entgegenzuhalten wäre, dass diese beiden Reisen sich gerade auch im Hinblick auf die Raumdarstellungen stark unterscheiden. 11 Sartre 1949, 5. Übers. d. Verf.

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und sich unter dem Blick Genets in Genet verwandelt.“)12 Auch der Ich-Erzähler des Journal du Voleur scheint die These von der Verschmelzung von Fiktion und Autobiographie zu stützen, wenn er erklärt: [L]e poète épuise le monde. Mais il s’en propose un autre ce ne peut être que de sa propre réflexion. („[D]er Poet schöpft die Welt aus. Aber wenn er eine andere vorschlägt, kann es nur durch seine eigene Reflexion geschehen.“) 13 Gerade die Raumdarstellungen in Genets Romanen verraten eine ständige Auseinandersetzung mit Orten der eigenen Biographie, sei es die Strafanstalt in Mettray im Journal du Voleur, die ebenfalls in Miracle de la Rose vorkommt, das Gefängnis im besetzten Paris der Nazizeit in Notre-Dame-des-Fleurs oder die Hafenlokale in Querelle de Brest. Diese Räume könnten, zumindest vordergründig, im Sinne Barbara Piattis als „stark“ gewertet werden, was bedeutet, dass sie auf reale Räume verweisen, „es wenige Fälle von Modifikationen, Änderungen, Camouflagen innerhalb dieses Georaumes gibt“ und der Großteil des Textes „topographisch exakt verankert ist“.14 Der vom Autor bewohnte bzw. bereiste Raum und der Handlungsraum decken sich zumeist.15 Während aber die Räume in der Regel kaum oder nicht explizit von der realweltlichen Topographie abweichen, enthalten sie eine große Zahl von Unbestimmtheiten. Sowohl die Bewegung des Protagonisten im Raum als auch die einzelnen Räume sind teilweise nur so flüchtig beschrieben, dass eine Abgleichung mit einem realen Georaum sich nur begrenzt anbietet. Dazu kommt, dass viele Innenräume (Hotelzimmer, Bars, Urinale, Zollhäuschen) beschrieben werden, bei denen es letztlich weder relevant ist noch sich exakt feststellen lässt, ob

12 Sartre 1949, 5. Übers. d. Verf. 13 Genet 1949, 139; Genet 2001, 187. Zur Verwendung der deutschen Übersetzung von Gerhard Hock im vorliegenden Aufsatz sei Folgendes angemerkt: Jean Genet verband mit seinem zweiten deutschen Verlag nach Rowohlt, dem Merlin-Verlag, ein ganz besonderes Verhältnis. Dessen Leiter, Andreas J. Meyer, verteidigte nicht nur die deutsche Ausgabe von Genets als pornographisch verschrienem Roman Notre-Dame-des-Fleurs erfolgreich vor Gericht gegen die Zensur (Lorenz 2009, 94–103), sondern arbeitete auch bei der Entstehung der deutschen Ausgaben eng mit dem Autor zusammen. Mit Rücksicht auf diese Zusammenarbeit wird hier die neueste vom Merlin-Verlag in Auftrag gegebene Übersetzung zitiert (Genet 2001), die zwar nach Genets Tod entstanden ist, sich aber genau an der Erstausgabe und an Genets in Zusammenarbeit mit Meyer entworfenen Vorgaben orientiert und durch eine editorische Notiz von Friedrich Flemming sowie ein Nachwort zur Editionsgeschichte ergänzt ist. Stellen, an denen ich die Hock-Übersetzung für inhaltlich strittig erachte, sind jeweils mit entsprechenden Fußnoten versehen. Alle weiteren Verweise auf das Original (Sigle JdV) und die Hock-Übersetzung (Sigle TdD) stehen fortan in Klammern direkt im Text. 14 Piatti 2008, 226. 15 Piatti 2008, 67.

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es sie jemals in genau dieser Form gegeben hat.16 Gleichzeitig ist die konkrete Raumdarstellung stets so stark stilisiert und mit metaphorischer, symbolischer oder metonymischer Bedeutung aufgeladen, dass auch in den Fällen, in denen historisch verbürgte, topographisch exakt verankerte Ereignisse aus dem Leben Genets berichtet werden, nicht von einer realitätsgetreuen, sondern eher von einer fiktionalen Darstellung auszugehen ist.17 Die Räume im Journal du Voleur haben also keinen höheren Realitätsanspruch bzw. bilden keinen engeren Interpretationsrahmen als die der anderen Romane – ganz abgesehen davon, dass auch direkte Verweise auf realweltliche Zusammenhänge nicht grundsätzlich weniger interpretationswürdig sind als andere. Anders als die zahlreichen Arbeiten, die zwar Raumdarstellungen bei Genet erörtern, aber Journal du Voleur tendenziell eher vernachlässigen, setzen sich zwei Analysen von Oliver Lubrich mit dem Ausgangspunkt der Reise, Frankreich, und der Suche des Protagonisten nach einem Gegenpol zu seinem Herkunftsland auseinander; Lubrich identifiziert Nazideutschland als den ultimativen Gegenraum im Roman.18 Seine Studien untersuchen en détail die im Text verhandelten Räume, differenzieren aber nicht zwischen dem Status unterschiedlicher Raumtypen: So werden z.  B. konkrete Räume wie Märkte, Bars, Bordelle oder auch das Berlin der Nazizeit als Äquivalente zu Raummetaphern und den imaginierten Räumen gehandelt, die u. a. in den Exotismus-Vorstellungen des IchErzählers aufgerufen werden.19 Tatsächlich sind die konkreten Räume in Genets Journal du Voleur schwer zu beschreiben. Dies liegt einerseits daran, dass zwar viele Räume v. a. durch Toponymika (Breslau, Berlin, Paris, Barcelona etc.) und Gattungsbezeichnungen (Bar, Markt, Friedhof etc.) aufgerufen, diese aber nicht näher beschrieben werden; außerdem wird die Bewegung zwischen den Räumen

16 Diese Innenräume könnten im Sinne Earl Miners (1990, 150) als „common places“ bezeichnet werden, also als Räume, die nicht benannt werden und daher etwaigen realweltlichen Entsprechungen nicht eindeutig zuzuordnen, aber auch nicht notwendigerweise fiktiv sind. 17 Das Verständnis des Textes beruht also auf der Beziehung zwischen den zwei Analyseniveaus von histoire und discours, während die Beziehung zwischen autobiographischer Korrektheit und histoire letztlich ohne Bedeutung bleibt – bei Dorrit Cohn (1999) ein zentrales Kriterium für Fiktionalität. Im Sinne Thomas Pavels (1975, 165–166) ließe sich außerdem argumentieren, dass ein Text, dessen historisch verbürgte Elemente sich mit fiktionalen überlagern, insgesamt als autonom von der Realität zu werten ist, auch wenn er inhaltlich darauf aufbaut und auf die realitätsbezogenen Assoziationen des Lesers angewiesen ist. Nach Piattis Systematik lassen sich diese Räume also trotz ihrer realweltlichen Gegenstücke am Ehesten als „transformierte“ Räume betrachten, die eine Mittelstellung zwischen Realitätsbezug und Fiktion einnehmen (Piatti 2008, 136–138). 18 Vgl. Lubrich 2004a, 2004b. 19 Lubrich 2004b, 259–260.

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häufig nicht explizit nachvollzogen. In manchen Fällen sind diese direktionalen Verläufe zwar eindeutig (z. B. Je vins à pied de Breslau à Berlin (JdV, 143) („Ich war zu Fuß von Breslau nach Berlin gekommen“; TdD, 138), doch gerade in Bezug auf die Herkunft des Ich-Erzählers bleiben die Übergänge oft auffallend unklar. Eine Füllung dieser ‚Leerstellen‘ auf der Basis von Weltwissen funktioniert häufig, aber nicht immer: Einige unter ihnen erweisen sich als permanente Unbestimmtheiten. Außerdem werden Toponymika auch verwendet, um durch den Verweis auf konkrete Räume das Innenleben des Protagonisten zu verdeutlichen, z. B. wenn er von seinem ,inneren Spanien‘ spricht (Cette contrée en moi que j’ai nommée l’Espagne; JdV, 306). Diese geographischen Zuschreibungen der Seele, die im Roman bereisten Räumen ähneln, aber nicht ihr direktes Abbild sind, machen es schwer, zwischen konkreten Handlungsräumen, imaginierten und metaphorischen Räumen zu unterscheiden – umso mehr, als die damit verbundenen Begriffe (z. B. l’Espagne) ohne nähere Erläuterung je nach Kontext in einer oder beiden Bedeutungen verwendet werden können. In ihren narratologischen Überlegungen zum Raum identifiziert Katrin Dennerlein eine Reihe von Mitteln, mit Hilfe derer Raum im Erzähltext beschrieben werden kann;20 unter diesen Mitteln sind für die Räume im Journal du Voleur neben den eben erwähnten Toponymika und Gattungsbezeichnungen auch Eigennamen, Deiktika und Präpositionalphrasen relevant. Zusätzlich zu solch klaren Verweisen werden die Räume bei Genet aber ebenso häufig über Inferenzen zweiter Ordnung entworfen. Damit ist Folgendes gemeint: Dennerlein stellt fest, dass es auch Formen der Erzeugung von Raum gibt, „bei denen keine raumreferentiellen Ausdrücke zu finden sind“.21 Solche Räume können durch bestimmte Figuren und ihre Rollenidentität, durch die Nennung von Ereignissen und Handlungen, die konventionell räumlich verortet sind, und durch metonymische Schlüsse erzeugt werden.22 Bei Genet ist dieses Inferenzsystem oft noch um eine Stufe erweitert: Ereignisse und Handlungen verweisen häufig auf konkrete Räume, die ihrerseits in einer narrativen Beziehung zu anderen Räumen stehen, so dass letztere über die Inferenz auf erstere quasi mit beschrieben werden. Mit Hilfe von Angaben zu einer räumlichen Gegebenheit wird also eine andere charakterisiert. Ein solches Beispiel in Bezug auf den Herkunftsraum soll später im Aufsatz anhand des Gegensatzpaares Paris–Berlin erörtert werden. Schließlich tritt häufig ein Phänomen auf, das Dennerlein als „metonymische Bedeutung des

20 Vgl. Dennerlein 2011, 159. 21 Dennerlein 2009, 97–98. 22 Dennerlein 2009, 98.

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Raumes“ fasst, d. h. dass ein Raum entworfen wird, der auf andere, nicht-räumliche Elemente der erzählten Welt verweist. Dies ist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, gerade beim Herkunftsraum häufig der Fall.23

2 Die Räume der Herkunft Journal du Voleur beschreibt aus einer autodiegetischen Perspektive die Reise der Figur Jean Genet – eines Landstreichers, Diebes und Gelegenheitsprostituierten – durch das Europa der Nachkriegszeit, durch Italien, Spanien, Albanien, Serbien, Polen, die Tschechoslowakei, Österreich, Deutschland und Belgien. Die Reiseroute ist scheinbar zufällig gewählt, einerseits geprägt von Neugier, Abenteuerlust und dem Bedürfnis, sich so weit wie möglich von Frankreich zu entfernen, und andererseits gesteuert durch kurzfristige, pragmatische Entscheidungen. Gleichzeitig ist die Reise immer auch eine Flucht vor polizeilicher Verfolgung und bürgerlichen Normierungsansprüchen, die die Identität des Diebes bedrohen und ein regelkonformes Sozialverhalten von ihm fordern. Als konkrete räumliche Ausgangspunkte der Reise können drei verschiedene Orte gelten, die alle nur in der Rückschau betrachtet werden: der Geburtsort des Protagonisten; die Region, in der ihn seine Pflegefamilie aufgezogen hat; und die Jugendstrafanstalt in Mettray, in der er zum Dieb geworden ist. Jeder dieser Orte wird manchmal gleichsam als pars pro toto für das Land Frankreich verhandelt, hat aber jeweils auch eigene Bedeutung. Außerdem können alle drei sowohl als räumliche als auch als logische Ausgangspunkte der Reise interpretiert werden, insbesondere weil ihre konkrete Beschreibung äußerst vage bleibt. Die daraus resultierende Interpretationsfreiheit macht sich der Ich-Erzähler besonders in Bezug auf seinen Geburtsort in aller Offenheit zunutze, z. B. wenn er sagt: Sans me croire né magnifiquement, l’indécision de mon origine me permettait de l’interpréter. (JdV, 97) („Zwar glaubte ich nicht, daß ich von prächtiger Geburt wäre, doch die Ungewißheit meiner Herkunft ermöglichte mir, sie mir auszumalen“; TdD, 93)

2.1 Paris Als Geburtsort des Protagonisten wird im Text die Entbindungsklinik in der Rue d’Assas Nummer 22 in Paris benannt (JdV, 48). Dieser Ort spielt innerhalb des

23 Dennerlein 2011, 163.

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Romans zumindest vordergründig kaum eine Rolle, da der Erzähler dort nicht aufgewachsen ist und auch keine Erinnerung daran hat. Erst als Volljähriger erhält er einen Ausweis, auf dem sein Geburtsort verzeichnet ist, und macht sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Der Versuch, mehr über seine Herkunft herauszufinden als nur eine Adresse, scheitert jedoch: J’étais venu au monde au 22 de la rue d’Assas. Je saurai donc quelques renseignements sur mon origine, me dis-je, et je me rendis rue d’Assas. Le 22 était occupé par la Maternité. On refusa de me renseigner. (JdV, 48)

Ich bin zur Welt gekommen im Hause Nummer 22 der rue d’Assas. „Ich werde also ein paar Auskünfte über meine Entstehung bekommen“, sagte ich mir und begab mich in die rue d’Assas. In der Nummer 22 befand sich die Entbindungsanstalt. Man verweigerte mir jede Auskunft. (TdD, 45)

22, Rue d’Assas bleibt ein Ort, über den es möglicherweise einiges zu wissen, an dem es aber nichts zu erfahren gibt, da der Protagonist, wie es scheint, bereits an der Rezeption scheitert. Er wird buchstäblich und metaphorisch ausgeschlossen: nicht nur aus einem Raum, der ihm unzugänglich bleibt, sondern auch aus seiner eigenen Geschichte. Augenscheinlich akzeptiert er diesen Ausschluss, denn an keiner weiteren Stelle des Romans wird auf die Rue d’Assas verwiesen. Der Leser wird also zunächst mit einer klaren Raumreferenz konfrontiert, die scheinbar ohne handlungsrelevanten Inhalt bleibt – wenn der Ich-Erzähler selbst kein Wissen über den Ort hat und ihn nicht betreten kann, welche Rolle kann er dann für den Roman spielen? Räumliche Bedeutung für die Reise, die im Roman dargestellt wird, hat 22, Rue d’Assas aber dennoch. Zum einen ist die Klinik der Ort, an dem der Protagonist zur Welt gekommen ist, und sie bindet ihn dadurch in den größeren urbanen Zusammenhang ein. Der Raum Paris ist nicht nur der Beginn seines Lebens, sondern auch der seiner Reise, und sein Verhalten verrät, dass auch er selbst ihn als Ausgangspunkt auffasst: Obwohl er in der Provinz aufgewachsen ist, versteht er sich als Einwohner von Paris (JdV, 36) und verwendet ein für die Hauptstadt typisches Argot (u. a. bezeichnet er sich selbst mit dem charakteristischen Begriff gouape (JdV, 20; „Taugenichts“).24 Die Verweise auf Paris verschaffen ihm offen-

24 Während die deutsche Übersetzung un langage de gouape einfach in „Gaunersprache“ (TdD, 17) überträgt, verweist die englische Übersetzung von Frenchtmann auf die Herkunft des Begriffs: „the language of a Paris hustler“ (Genet 2004, 19).

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bar Glaubwürdigkeit unter den Dieben und Betrügern der europäischen Kleinstädte, durch die seine Reise führt. Zum anderen liegt die reale Rue d’Assas im Zentrum von Paris, genauer gesagt, im 6. Arrondissement (Luxembourg), also in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Académie des Beaux-Arts, der Académie Française und den großen Künstlercafés Les Deux Magots und Café de Flore, die später (während Genet als Landstreicher durch Europa zog) u. a. von der Gruppe um Sartre und de Beauvoir frequentiert wurden. Es ist dieses Arrondissement, das von vielen Zeitgenossen Genets (nicht aber von ihm selbst) als Künstlerparadies gefeiert wird, aus dem im Roman der Protagonist erst als Kind und dann als junger Mann ausgeschlossen wird und das ihm am Ende der Reise, wenn er selbst zum Autor geworden ist, wohl genauso offenstehen wird wie der Rest des eleganten Paris.25 Seine Reise könnte dementsprechend (zumindest räumlich, nicht aber in Bezug auf die Chronologie der Erzählung) als Kreisbewegung gelesen werden;26 trotz der betonten Inkohärenz der Reisedarstellung, der Verweigerung chronologischen Erzählens und der ständigen Re-Formulierung und Re-Semantisierung des Erlebten ergibt sich also eine regelmäßige räumliche Struktur. Der Ausgangs- und der Endpunkt liegen beide in Paris, und beide bleiben unpersönlich: eine Entbindungsstation und ein (allerdings luxuriöses) Hotelzimmer (JdV, 100). Auch ist Paris eine der wenigen Städte des Romans, deren Zentrum überhaupt relevant wird. Neben dem Geburtsort des Erzählers in der Rue d’Assas werden beispielsweise der Boulevard Haussmann (JdV, 242), die Champs Elysées (JdV, 15, 278, 284), die Rue des Couronnes (JdV, 115), Montmartre (JdV, 116, 264, 266, 278) und der Friedhof in Montparnasse (JdV, 255) genannt, also mitten in der Stadt gelegene Orte. Die räumliche Verbindung der einzelnen Orte untereinander spielt im Roman allerdings nur in Form einer direkten Opposition von Innen- und Außenbezirken (z.  B. ChampsElysées versus Saint-Ouen [JdV, 278]) eine Rolle. Beim Aufenthalt des Protagonisten im Ausland dagegen haben die Zentren in der Regel keine vergleichbare Relevanz: In Spanien wird die Hauptstadt Madrid gar nicht erwähnt27 – der Ich-Erzähler beschreibt stattdessen einen Aufenthalt

25 Vgl. Genet 1949, 100. 26 Vgl. dazu auch Ette 2001, 63–70; Lubrich 2004b, 254. Gegen die These einer vollkommenen Kreisbewegung, bei der nicht nur Anfang und Ende übereinstimmen, spricht indes, dass der Erzähler Haken schlägt. Er reist zwischenzeitlich nach Frankreich zurück (Genet 1949, 102) sowie mehrmals nach Italien (JdV, 56, 103, 126, 131). 27 Oliver Lubrich (2004b, 255) schreibt dazu: „Während bereits die Ausreise, aus der Perspektive der Heimat betrachtet, als eine Bewegung an die Peripherie zu verstehen ist, entsprechen die Bewegungen innerhalb Spaniens den Versuchen, es dabei nicht zu belassen, sondern sich gewissermaßen an der Peripherie der Peripherie zu verorten.“

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in den Randgebieten Barcelonas (z. B. JdV, 18–19, 34, 39, 184) und in der Küstenregion Katalonien (JdV, 18); in der Tschechoslowakei hält er sich in Brünn (JdV, 104), nicht aber in Prag auf; in seiner Zeit in Belgien vernachlässigt er Brüssel; und in Polen reist er nach Breslau (JdV, 138), nicht aber nach Warschau. Eine Ausnahme bildet indes Deutschland: Der Protagonist begibt sich hier direkt ins Zentrum und berichtet u. a. von seinen Erlebnissen Unter den Linden (JdV, 138). Oliver Lubrich, dessen Studie auf eben dieser Darstellungsdifferenz aufbaut, vertritt die These, dass das Zentrum Berlins als direkter Gegenraum zum Frankreich Genets entworfen werde. Er liest das Journal du Voleur als ständigen Versuch des Protagonisten, den idealen räumlichen Gegenentwurf zur ungeliebten Heimat Frankreich und seinem Zentrum Paris zu finden, der sich zunächst im Aufsuchen von Randgebieten niederschlage und schließlich im Aufenthalt in Nazideutschland gipfele.28 Diese These ist in der Tat naheliegend und lässt sich direkt auf eine Gegenüberstellung von Paris und Berlin zuspitzen. Das Berlin der Nazizeit wird als das Zentrum dargestellt, von dem die Unterdrückung Frankreichs im Allgemeinen und die symbolträchtige Unterwerfung der Stadt Paris im Besonderen ausgeht; jede der beiden Hauptstädte steht damit stellvertretend für die jeweilige Nation und die dazugehörigen Räume. Das Paris des Journal du Voleur wird dargestellt als ein Ort, mit dem der Erzähler sehr vertraut ist. Obwohl er Frankreich gegenüber eine ambivalente Haltung an den Tag legt,29 gedenkt er sich dort niederzulassen und sein Wissen zu nutzen, um zu stehlen:30 Je choisis la France par un souci de profondeur. Je la connaissais assez pour être sûr d’accorder

28 Lubrich 2004b, 260. Bei dem Versuch, die „Topographie der Entfremdung, welche […] das Projekt [eines] negativen Selbstentwurfs lokalisiert“, zu klassifizieren, identifiziert Lubrich zehn verschiedene Gegenraum- Modelle. All diese Modelle, so seine These, scheiterten – der Protagonist schaffe es nicht, den idealen Gegenraum zu entwerfen. Der erfolglose Versuch, Nazideutschland, den politischen Feind Frankreichs, als Gegenraum zu inszenieren, bilde den Zenit der misslungenen Opposition des Protagonisten gegen sein eigenes Land. 29 Er spricht einerseits von seinem Ekel für Frankreich, den er allerdings nicht als Hass verstanden wissen will: Il ne comprenait pas mon dégoût – non ma haine – pour la France […]. (JdV, 34) („Meinen Ekel vor Frankreich – ich sage nicht Haß – begriff er nicht […]; TdD, 30). Andererseits betont er seine Wurzeln im französischen Boden (JdV, 48) und seine Loyalität zur französischen Sprache (vgl. z. B. JdV, 128); außerdem sieht er durchaus den (politischen) Nutzen, den er im Falle einer Verhaftung im europäischen Ausland aus seiner Herkunft ziehen kann: Aimais-je la France? Son éclat me nimbait alors. (JdV, 129) („Liebte ich Frankreich? Sein Glanz verschaffte mir damals einen Nimbus“; TdD, 125). 30 Mit dieser Inszenierung des urbanen Raumes Paris als ideales Habitat des Diebes reiht sich der Ich-Erzähler in eine lange Folge von Romanfiguren ein. Zur Verbindung von Habitat und Identitätskonzeption, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, siehe: Bourdieu 1972; Bachelard 1978.

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au vol toute mon attention […]. (JdV, 128) („Ich wählte Frankreich aus einem Verlangen nach Tiefe. Ich kannte es ausreichend, um sicher zu sein, daß ich dem Diebstahl meine ganze Aufmerksamkeit […] schenken würde […]“; TdD, 124).31 Dabei plant er, seine Aktivitäten auf Paris zu beschränken (restraign[er] à Paris seul mon activité; JdV, 128). Berlin wird zum Gegenteil von Paris, als der Erzähler bemerkt, dass die Logik des Diebstahls, für die ihm Paris wie gemacht zu sein scheint, in Berlin scheitert: A l’Europe entière l’Allemagne inspirait la terreur, elle était devenue, surtout à mes yeux, le symbole de la cruauté. Déjà elle était dehors la loi. Même Unter den Linden j’avais le sentiment de me promener dans un camp organisé par des bandits. […] J’étais ému d’être libre au milieu d’un peuple entier mis à l’index. Sans doute y volais-je comme ailleurs mais j’en éprouvais une sorte de gêne […]. C’est un peuple de voleurs, sentais-je en moi-même. Si je vole je n’accomplis aucune action singulière et qui puisse me réaliser mieux: j’obéis à l’ordre habituel. Je ne le détruis pas. Je ne commets pas de mal, je ne dérange rien. Le scandale est impossible. Je vole à vide. […] A Berlin je choisis pour vivre la prostitution. (JdV, 138–139) Deutschland flößte ganz Europa Schrecken ein, es war, vor allem in meinen Augen, zum Inbegriff der Grausamkeit geworden. Schon war es ausgestoßen. Selbst Unter den Linden hatte ich das Gefühl, durch ein von Banditen angelegtes Lager zu spazieren. […] Es wühlte mich auf, frei zu sein mitten in einem geächteten Volk. Sicher stahl ich auch dort wie anderswo, aber ich empfand dabei eine Art Verlegenheit […]. „Dies ist ein Volk von Dieben“, fühlte ich. Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes, wodurch ich mich auszeichnen könnte: Ich gehorche nur der allgemeinen Ordnung. Ich zerstöre sie nicht. Ich störe nicht. Der Skandal ist unmöglich. Ich stehle ins Leere. […] In Berlin wählte ich, um zu leben, die Prostitution. (TdD, 134)

Diese berühmte Passage lässt eine Reihe von Inferenzen zweiter Ordnung auf den Herkunftsraum zu. Erstens ist das dargestellte Berlin augenscheinlich eines, dessen aus der Norm gefallene Sozialstruktur überall fühlbar ist. Der Protagonist erwartet im Zentrum Berlins offenbar noch eine normative moralische Ordnung im Sinne des übrigen Europa; doch selbst im Herzen der Stadt scheint diese Ordnung zerstört zu sein. Die Erkenntnis des Erzählers, dass im Berlin der Nazizeit auch in der Innenstadt das Gesicht des Verbrechens (wenn auch nicht vorrangig in Form von Diebstahl) allgegenwärtig ist, kann als Gemeinplatz gelten; doch die Tatsache, dass dies den Protagonisten überrascht und beschämt (JdV, 139), lässt den Rückschluss zu, dass im einzigen anderen Stadtzentrum, das er

31 Auch sein persönliches Netzwerk ist dabei von Bedeutung: Dans chaque ville importante de France, je connais au moins un voleur avec qui j’ai travaillé […]. (JdV, 285) („In jeder größeren Stadt Frankreichs kenne ich wenigstens einen Dieb, mit dem ich zusammengearbeitet […] habe“; TdD, 278).

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erwähnt, nämlich dem von Paris, Verbrechen eher eine Ausnahme sind und sofort bekämpft werden. Andere Stellen im Roman stützen diese These: So berichtet der Protagonist von einer Verhaftung am Boulevard Haussmann (JdV, 242), einer Verfolgung durch die Polizei in der Rue des Couronnes (JdV, 115) und einem Freund, der seine illegalen Aktivitäten aus der Innenstadt (Champs-Elysées und Montmartre) in die nördliche Vorstadt (Saint-Ouen) verlegen musste (JdV, 278). Gerade diese Unsicherheit ist es allerdings, die das Zentrum von Paris für den Ich-Erzähler so interessant macht: Ein Ort, an dem kriminelle Tätigkeiten so beharrlich verfolgt werden, dass sie Seltenheitswert gewinnen, macht sie im Erfolgsfall umso bewundernswerter und manifestiert den Sonderstatus des Kriminellen. Hier wird also ein sehr stilisierter, topographisch exakter aber dennoch wenig realitätsgetreuer Herkunftsraum entworfen, der sowohl ein räumliches als auch ein damit korrelierendes moralisches Innen und Außen hat. Während die Innenstadt als funktionierendes System normativer Ordnung gilt, findet sich der Raum, der für (kriminelle) Außenseiter vorgesehen ist, nicht nur moralisch, sondern auch räumlich am äußeren Rand, nämlich in der Peripherie. Im dargestellten Berlin ist dagegen das Gegenteil der Fall: Das Zentrum ist zum Banditenlager geworden und die Welt der Kriminalität mit der der Bürgerlichkeit verschmolzen. Zweitens erfahren wir aber, dass der Protagonist, irritiert davon, dass Diebstahl in Berlin keine Individualität gewährleistet und nicht Rebellion, sondern vielmehr die Konvention repräsentiert, dazu übergeht, seinen Lebensunterhalt mit Prostitution zu verdienen. Auch dies kann als Inferenz auf den Herkunftsraum gedeutet werden: Während in Berlin Verbrechen normkonform sind, bleibt Prostitution offenbar auch hier jenseits der Norm, was man daraus schließen kann, dass sie den Protagonisten nicht beschämt, sondern nur langweilt (JdV, 139). In Paris dagegen besteht der ultimative Verstoß gegen die bürgerliche Ordnung im Stadtzentrum nicht etwa in Prostitution (auch wenn sie streng reguliert ist; JdV, 300), sondern in Diebstahl (JdV, 128); diese Information verrät, dass im Zentrum von Paris Prostitution etabliert ist, und relativiert bzw. erweitert dadurch das vorab entworfene Bild einer strengen bürgerlichen Norm. Entsprechend hat der Protagonist auch kein Interesse daran, sich in Paris zu prostituieren, sondern entscheidet sich mit Diebstahl wiederum für die Rebellion gegen die bestehende Ordnung.

2.2 Le Morvan Der zweite Ausgangspunkt der Reise ist der Ort, an dem der Protagonist aufgewachsen ist: Le Morvan, eine Region im Burgund. Auch Le Morvan wird im Roman nur in zwei Sätzen konkret erwähnt. Zuerst wird es mit der Kindheit des

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Ich-Erzählers in Beziehung gesetzt: Je fus elevé dans le Morvan par des paysans. (JdV, 48) („Ich wurde im Morvan von Bauern großgezogen“; TdD, 45). Der Verweis auf den Beruf der Pflegeeltern dient ebenso wie der Name der Region selbst als Inferenz auf die ländliche Natur der Gegend, in der der Protagonist groß geworden ist; ein Verweis, der sich auch mit der Natur des realweltlichen Morvan deckt, einer spärlich besiedelten Region im Norden des Massif Central. Die einzige Besonderheit, die der Ich-Erzähler in Bezug auf den Morvan beschreibt, ist der im gesamten Massif Central (vom nördlichen Morvan bis in die südlichen Cevennen) heimische Ginster (JdV, 48), dessen französische Bezeichnung genêt der Protagonist in direkten Bezug zu seinem eigenen Namen setzt: [Les fleurs de genêt] savent que je suis leur représentant vivant, mobile, agile, vainqueur de vent. (JdV, 49) („[Die Ginsterblüten] wissen, ich bin ihr lebendiger, mobiler, agiler Repräsentant – der den Wind besiegt“; TdD, 45) Freilich hat diese sentimentale Beziehung zum Ginster, die als emotionale Bindung des Ich- Erzählers an die Heimat gelesen werden könnte, in für Genet charakteristischer Weise zugleich eine morbide Färbung: Quand je rencontre dans la lande – et singulièrement au crépuscule, au retour de ma visite des ruines de Tiffauges où vécut Gilles de Rais – des fleurs de genêt, j’éprouve à leur égard une sympathie profonde. […] Elles sont mon emblème naturel, mais j’ai des racines, par elles, dans le sol de France nourri des os en poudre des enfants, des adolescents enfilés, massacrés, brûlés par Gilles de Rais. (JdV, 48–49) Wenn ich auf der Heide – und ganz besonders einmal, bei der Rückkehr von meinem Besuch der Ruinen von Tiffauges, in denen Gilles de Rais lebte – auf Ginsterblüten treffe, so empfinde ich für sie eine tiefe Sympathie. […] Sie sind mein natürliches Emblem, aber durch sie habe ich meine Wurzeln in diesem Boden Frankreichs, der genährt ist vom Knochenstaub der Kinder, der Jünglinge, die Gilles de Rais vergewaltigte, massakrierte, verbrannte. (TdD, 45)

Dieser Absatz beinhaltet eine Reihe von Informationen. Erstens erfahren wir, dass der Erzähler, obwohl Paris sein Geburtsort und der Ausgangspunkt seiner Reise ist und er sich selbst spezifisch als Parisien sieht, seine Wurzeln nicht etwa an dem Ort vermutet, wo er geboren wurde, sondern da, wo er aufgewachsen ist. Die übliche Wurzel- und Bodenmetaphorik, derer sich konventionelle Heimatdiskurse so häufig bedienen, wird hier an einer Pflanze festgemacht, die dort heimisch ist, wo das verpflanzte Kind Genet aufgezogen wurde, sich aber nach eigenen Aussagen niemals heimisch fühlte. Zweitens legt die Erwähnung von Tiffauges, das in der Vendée (Pays de la Loire) und damit weitab vom Morvan liegt, nahe, dass der Ich-Erzähler an den Ort seiner Kindheit nicht zurückkehrt; er beobachtet nun die gleiche Pflanze an einem anderen Ort.

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Was auf den ersten Blick also wirkt wie ein Bewegungsraum, der durch die gleiche Vegetation verbunden ist, ist in Wirklichkeit ein Sprung in der Chronologie der Erzählung, dessen Realisierung rein vom geographischen Weltwissen des Lesers abhängt: Der Modell-Leser32 ist hier einer, dem klar ist, dass Tiffauges nicht im Morvan liegt; dass der Erzähler also den heimischen Ginster dezidiert nicht mehr an seinem Herkunftsort, sondern auf der anderen Seite des Massif Central bewundert; dass er also an diesen Herkunftsort nicht zurückkehrt; und dass dort nichts Entscheidendes ist, was nicht auch anderswo wäre. Die Liebe zum Ginster, die im Raum der Kindheit beginnt, wird von einem Satz zum anderen in den Raum des erwachsenen Protagonisten verlegt, ohne dass ein anderes Mittel darauf verweisen würde als ein raumreferentieller Ausdruck. Auffallend, und für den Roman charakteristisch, ist der fließende Übergang von einem Raum zum anderen; die raumzeitliche Origo33 wird destabilisiert. Der Ausgangsort im Morvan, anders als der Ausgangsort Paris, ist einer, den der Erzähler dauerhaft verlassen hat. Seine Herkunft wird nun vage auf den „Boden Frankreichs“ festgelegt, in dem er durch den Ginster, gleichsam als tertium comparationis, verortet ist. Der Bezug auf Tiffauges, die Heimat von Gilles de Rais, einem Weggefährten Jeanne d’Arcs und einem der berüchtigtsten Serienmörder der französischen Geschichte, scheint dem Raum schließlich eine gewisse inhärente Ruchlosigkeit zu verleihen: Zum einen wirkt Frankreich, das hier als eine vom Knochenstaub ermordeter Jungen gesättigte Erde dargestellt wird, als gefährlicher Ort für den Ich-Erzähler selbst, der ja ebenfalls ein junger Mann ist; zum anderen wird die im Roman explizit ausgestellte Gewalttätigkeit und Kriminalität des Ich-Erzählers durch das sowohl konkrete als auch metaphorische Bild des Ginsters im vom Knochenstaub gesättigten Boden als scheinbar logische Folge seiner Herkunft stilisiert. Kriminelles Verhalten wird in eine Art unschuldiger Bosheit umgedeutet, die ohne eigenes Zutun aus dem Herkunftsraum (hier dem ginsterbewachsenen Boden des Massif Central) erwächst. In der Tat wecken die dem Boden Frankreichs entsprungenen Pflanzen weiterhin positive Emotionen im Protagonisten. Dies wird auch anhand der zweiten expliziten Erwähnung des Morvan deutlich, die sich ebenfalls auf die Vegetation bezieht, und zwar in Form eines Verweises auf das im nördlichen Massif Central heimische Gewöhnliche Zittergras. Der Ich-Erzähler fühlt sich durch den Blick

32 Den Begriff des Modell-Lesers verwende ich hier im Sinne Fotis Jannidis’ (2004, 31) als „anthropomorphes Konstrukt, das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über die Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen.“ 33 Dennerlein 2011, 160.

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seines Geliebten an eine feuchte Wiese erinnert, auf der eben solches Zittergras wächst ([ce] qu’on appelle au Morvan l’herbe tremblante; JdV, 170); die Erinnerung an den Boden, in dem er sich selbst verwurzelt sieht, geht einher mit tiefem Vertrauen in den Geliebten, der dieses Bild in seiner Imagination hervorruft. Während also der Boden selbst gleichsam verseucht ist durch die elementaren Überreste vergangener Bosheit, repräsentieren die daraus entstehenden Pflanzen das Leben, das ohne eigene Schuld dieser Bosheit entspringt.34 Die Assoziation des heimischen Bodens mit einem Grab wird auch durch die letzte (implizite) Erwähnung des Morvan gestärkt: Je me souviens de ma honte, en plus de mon étonnement devant un geste […] inutile, quand au cimetière, un dimanche, après avoir regardé autour d’ elle, ma mère nourricière arracha d’ une tombe inconnue et toute fraîche, un pied de soucis qu’ elle repiqua sur la tombe de sa fille. (JdV, 255) Ich erinnere mich an meine Scham – und mein Erstaunen – angesichts einer […] Geste, als an einem Sonntag auf dem Friedhof – nachdem sie sich umgesehen hatte – meine Pflegemutter von einem unbekannten, ganz frischen Grab eine Ringelblumenstaude ausriß und auf dem Grab ihrer Tochter einpflanzte. (TdD, 248)

Wieder wird die Verbindung zwischen dem Boden des Herkunftslandes mit den darin ruhenden Toten und den darauf wachsenden Blumen betont. Tatsächlich ist der Friedhof der einzige menschengemachte Ort im Morvan, der explizit genannt wird. Der kleine Textausschnitt verweist außerdem einmal mehr auf die spärliche Besiedlung und daraus resultierende Leere der Region: Die Pflegemutter sieht um sich und stiehlt dann die Staude; es war also offenbar niemand da, der daran hätte Anstoß nehmen können. Diese Handlung kann als Inferenz auf einen leeren Friedhofsraum gewertet werden, der seinerseits als Bild für die dünne Besiedlung der Region gelten mag. Während alle Inferenzen auf den Morvan, die als raumreferentielle Ausdrücke lesbar sind, auf die spärliche Besiedelung, eine gewisse Trostlosigkeit und morbide Stimmung, eine nach christlichen Moralvorstellungen geordnete Gesell-

34 Die Symbolik der Pflanzen ist in Genets Werk generell auffällig; so verweisen allein zwei Romantitel (Notre-Dame-des-Fleurs und Miracle de la Rose) und zahlreiche Einzelstellen in all seinen Werken auf Blumen und Pflanzen. Aufgegriffen wird diese Verbindung auch ganz zu Beginn des Journal du Voleur, wo der Ich-Erzähler erklärt, zwischen Sträflingen (zu denen er sich zählt) und Blumen bestehe eine enge Beziehung; die brutale Unsensibilität der ersteren sei das genaue Gegenteil der Empfindsamkeit der letzteren (JdV, 9). Gegensätzlichkeit indes ist in Genets Werk immer primär verbindend, nicht trennend: Durch die Identifikation eines Gegensatzes wird das einzelne Oppositionselement erst bedeutsam.

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schaft, ein ländliches Gebiet und eine bei kühlem Wetter sprießende Vegetation verweisen, bleibt ein Aspekt unberücksichtigt, der zur Zeit des Nationalsozialismus geradezu als Markenzeichen des Morvan angesehen wurde: die Résistance. Der Morvan war eines der Hauptrückzugsgebiete für die Kämpfer im französischen Widerstand. Es ist also ausgerechnet die als so freudlos beschriebene Gegend, die sich Deutschland, dem symbole de la cruauté (JdV, 138) beharrlich entgegenstellt. Im Journal du Voleur wird der französische Widerstand indes mit keinem Wort erwähnt. Daraus lassen sich zwei gegensätzliche Hypothesen bilden: a) Der Name der Region steht hier sinnbildlich für den französischen Widerstand, weswegen sie auch mit den Cevennen verglichen wird, der Heimat des Gilles de Rais, der ja neben einem Serienmörder ebenfalls ein Verteidiger Frankreichs war; oder b) die Region wird im Roman absichtlich ihres politischen und moralischen Glanzes beraubt; die Erwachsenen werden (wie Gilles de Rais) primär als Gefahr für die ansässigen Kinder und Jugendlichen und nicht als Widerstandskämpfer begriffen. Verbindet man die Überlegungen zum Raum mit einer autobiographisch informierten Perspektive, scheint die zweite Hypothese plausibler zu sein: In dem berühmtem Interview mit Hubert Fichte erklärt Genet, die erotische Faszination, die er stets für die Nationalsozialisten empfunden habe, habe einen sehr persönlichen Ursprung. Die Ablehnung, die ihm als Waisen in seiner Kindheit in Frankreich entgegengeschlagen sei, habe dazu geführt, dass er die Niederlage Frankreichs im Zweiten Weltkrieg als tiefe Genugtuung empfunden habe; Nazi-Deutschland habe ihn gerächt: [J]e ne pouvais qu’aimer celui qui avait fait prendre un sérieux coup à la société française. („[I]ch konnte nur den lieben, der der französischen Gesellschaft einen ernsthaften Schlag zugefügt hatte.“)35 Ein Verschweigen der Résistance-Aktivitäten im Morvan verhindert jede Abschwächung dieses sérieux coup. Diese autobiographische Lesart könnte durch die zahlreichen Verweise auf die Attraktivität von SS-Soldaten und Gestapo-Mitgliedern im Journal du Voleur36 ebenso gestützt werden wie durch den Verweis auf die unglückliche Kindheit, in der der Ich-Erzähler vom Pech verfolgt und von seiner Familie verlassen wird (JdV, 97). Würde man dieser Lesart folgen, so wäre die Verweigerung, das Widerstandsmotiv anzuerkennen, das üblicherweise mit dem Morvan assoziiert wird, auch eine Verweigerung, das Scheitern der persönlichen Rache anzuerkennen. Obwohl die Nazis Frankreich besetzt hatten, schlug ihnen gerade aus dem Ort, an dem das Kind Genet abgelehnt und stigmatisiert wurde, bis zum Ende der

35 Fichte und Genet 1992, 23–24. Die deutsche Übersetzung stammt von Fichte selbst. 36 Vgl. z. B. Genet 1949, 118, 119, 167, 223, 303. Ähnliche Verweise finden sich auch in Genets anderen Romanen; vgl. Knoop 2013, 215–216.

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Besatzungszeit massiver Widerstand entgegen – ein Widerstand, der im Roman durch die Ablösung des realen durch einen selektiv erzählten Raum literarisch zum Schweigen gebracht wird. Doch auch der Morvan wird im Verlaufe des Romans noch einmal umgedeutet. Ausgerechnet die Region, die als Heimat der Grabräuber, der Armut, der Trostlosigkeit und der Einsamkeit inszeniert wurde, wird in der zweiten Hälfte des Romans im Rahmen eines Traums komplett um-erzählt37 und zumindest vorübergehend zu einem Raum gemacht, der von allen Texträumen dem Konzept des locus amoenus am nächsten kommt:38 [ J ]e ne puis pas ne pas évoquer un rêve: une locomotive me poursuivait. Je courais sur la voie ferrée. J’entendais le halètement proche de la machine. Je quittai les rails pour courir dans la campagne. Méchante, la locomotive me poursuivit toujours, mais elle s’arrêta gentiment, poliment, devant une petite et fragile porte de bois que je reconnus comme l’une des barrières fermant un pré appartenant à mes parents nourriciers et où, enfant, je menais paître les vaches. A un ami racontant ce rêve je dis: „…le train s’arrêta à la barrière de mon enfance…“ (JdV, 234) [Ich kann] nicht umhin, einen Traum zu zitieren: eine Lokomotive verfolgte mich. Ich lief auf den Schienengleisen, hörte das nahe Schnaufen der Maschine. Ich verließ die Gleise und lief in die Felder. Boshafterweise verfolgte mich die Lokomotive weiter, doch dann blieb sie freundlich, höflich vor einer kleinen zerbrechlichen Holzbarriere stehen, in der ich eine der Barrieren wiedererkannte, die eine Wiese meiner Pflegeeltern abschlossen. Auf sie führte ich als Kind die Kühe zur Weide. Einem Freund, dem ich den Traum erzählte, sagte ich: „…der Zug hielt vor der Barriere meiner Kindheit…“ (TdD, 227)39

Der statische Ort der Kindheit, hier in Form der Kuhweide, wird also dem dynamischen Zug gegenübergestellt, der einerseits als Objekt neue Räume zugänglich macht, andererseits aber auch selbst ein Raum ist, in dem der Reisende sich aufhalten kann (was der Ich-Erzähler selber im Laufe des Romans häufig in Anspruch nimmt).40 Anders als sonst wird aber im Traum das Grundstück der Pflegeeltern plötzlich zum unzerstörbaren Idyll, während der Zug weniger als Objekt/Raum

37 Diese Um-Erzählung ist nicht nur die des Ich-Erzählers, sondern auch die Genets: Es handelt sich dabei um eine der Handschrift nachträglich beigefügte Fußnote. 38 Zum locus amoenus siehe Dennerlein 2011, 162; Garber 1974. 39 Die deutsche Fassung bleibt mit der Übersetzung des französischen barrière als „Barriere“ die vielschichtige Bedeutung des Begriffs schuldig, der hier einerseits „(Bahn-)Schranke“, andererseits aber auch „Schwelle“ bedeuten kann und somit sowohl die buchstäbliche als auch die metaphorische Begrenzung des geträumten Raumes markiert. 40 Z. B. auf der Flucht in den Süden Spaniens nach einer Serie von Diebstählen (JdV, 35), auf dem Weg von Barcelona nach Cadiz (JdV, 77) oder bei der Nutzung langsam fahrender Güterzüge, aus denen er herausspringen kann, wann immer ihm der Sinn danach steht (JdV, 101).

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betrachtet wird, mithilfe dessen / in dem der Mensch selbst gewählte Ziele aufsuchen kann, als vielmehr als eigenes Lebewesen, dem Verhaltensweisen und Eigenschaften zugeordnet werden (Bosheit, Freundlichkeit, Höflichkeit) und das den Protagonisten, statt ihn in sich zu tragen, vor sich hertreibt. Die Weide, die durch die barrière de mon enfance abgegrenzt ist, wird als Rückzugsraum entworfen, der in sich geschlossen ist und die Offenheit und Unabgrenzbarkeit von Landschaft aufhebt, die sonst im Roman durchgängig impliziert wird (und dem Protagonisten bei illegalen Grenzübertritten dienlich ist). Der vormals bedrückende Raum der Herkunft ist plötzlich der einzige sichere Hort, während das Objekt, das dem Erzähler sonst Bewegungsfreiheit im Raum ermöglicht, zu einer tödlichen Bedrohung umgedeutet wird. Der Traum erweist sich also räumlich als Gegenpol zur Realität; und so ist auch der Herkunftsort nur im Traum ein Schutz vor der Welt. Im Wachzustand versagt seine Schutzfunktion in dem Moment, als die Pflegeeltern den Ich-Erzähler als Strafe für Faulheit und Träumerei in die Besserungsanstalt nach Mettray schicken (JdV, 50): Am Schauplatz des Traums ist das Träumen verboten. Damit wird die Landschaft des Morvan eingereiht in die lange Folge jener trügerischen Landschaften im Journal du Voleur, die sanft, mütterlich und herzlich (douce[s], maternelle[s] et bonne[s]) wirken können, in Wahrheit aber ernste Gefahren (de graves dangers; JdV, 101) bergen.

2.3 Mettray Ce n’est pas à une époque précise de ma vie que je décidai d’être voleur. Ma paresse et la rêverie m’ayant conduit à la maison correctionnelle de Mettray, où je devais rester jusqu’à ‚la vingt et une‘, je m’en évadai et je m’engageai pour cinq ans afin de toucher une prime d’engagement. Au bout de quelque jours je désertai en emportant des valises appartenant à des officiers noirs. (JdV, 50) Es ist nicht eine bestimmte Epoche meines Lebens, in der ich beschlossen hätte, Dieb zu werden. Faulheit und Verträumtheit brachten mich in die Erziehungsanstalt von Mettray, wo ich bis zum Einundzwanzigsten hätte bleiben sollen; ich flüchtete und verpflichtete mich für fünf Jahre, um die Prämie zu kassieren. Nach ein paar Tagen desertierte ich unter Mitnahme der Koffer einiger schwarzer Offiziere. (TdD, 46)

Auch wenn der Ich-Erzähler nach eigenen Angaben nicht genau weiß, wann er zum Dieb geworden ist, spricht diese Passage doch eine deutliche Sprache: Wegen Faulheit und Träumereien in eine Besserungsanstalt geschickt, kommt er nach einigen Jahren als Dieb wieder heraus, der nicht nur individuellen Besitz stiehlt, sondern auch eine staatliche Prämie kassiert, für deren Erhalt er nicht

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einzustehen gedenkt. In diesem Sinne mag man Mettray als dritten Herkunftsort des Textes lesen, denn es ist der Ort, an dem der Protagonist in seine selbstgewählte Identität hineinwächst und zu dem wird, was der Titel bereits festlegt: ein Dieb. Genau wie die Darstellung der anderen Herkunftsräume wird auch dieser en passant und ohne weitere Beschreibungen erzeugt. Wieder haben wir es mit einem Raum zu tun, der nicht nur nicht beschrieben, sondern zunächst auch weder mit Figuren noch mit Handlungen gefüllt wird, die einen Inferenzrahmen bilden könnten. Das einzige, was dem Leser mitgeteilt wird, ist der Name der Einrichtung, der auf eine reale Institution verweist, eine von 1839 bis 1939 vom französischen Staat betriebene Erziehungsanstalt für jugendliche Straftäter und schwererziehbare Kinder in der Region Indre-et-Loire, die neben ihrer Erwähnung in den Romanen Genets unter anderem auch in Michel Foucaults Surveiller et punir41 thematisiert wird und in der der empirische Jean Genet tatsächlich einsaß. In noch stärkerem Umfang als Paris und Le Morvan wird auch die Anstalt von Mettray im Roman in Form von Beschreibungen und Inferenzen zweiter Ordnung erzeugt. So berichtet z. B. ein jüngerer Bekannter dem Ich-Erzähler von einer Situation sexuellen Missbrauchs in einer ganz anderen Erziehungsanstalt: „Derrière le flat banc qui sépare les hommes, je l’entendais gémir. Il était plus beau que moi et tous les durs se le farcissaient. Je pouvais rien faire.“ Ce qui m’émeut c’est d’apprendre que toujours se perpétue le miraculeux malheur de mon enfance à Mettray. (JdV, 85) „Hinter dem Verschlag – der Trennwand zwischen den Männern – hörte ich ihn stöhnen. Er war hübscher als ich und alle Schläger machten sich über ihn her. Ich konnte nichts tun.“ Es berührt mich zu hören, daß das wunderliche Unglück meiner Kindheit in Mettray noch immer fortlebt. (TdD, 81)

Durch diese Beschreibung der anderen Einrichtung, deren Ähnlichkeit mit Mettray der Erzähler empathisch konstatiert, erfahren wir etwas über die Aufteilung des Raumes der Jugendstrafanstalt. Die Insassen sind durch Sichtschutzwände von den Blicken der anderen abgeschirmt, nicht aber aus deren akustischer Reichweite gerückt. Die Attacke einer ganzen Gruppe auf einen Einzelnen, die dem Erzähler so bekannt vorkommt, deutet auf beengte Verhältnisse und eine problematische Sozialstruktur hin. Abgeschlossenheit nach außen bedeutet hier offenbar auch Ausschluss der Sicherheit. Weitere Figuren, die im räumlichen setting erwartbar wären, nämlich Erzieher und Wärter, treten in dieser Szene

41 Foucault 1975.

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dagegen nicht auf – sie sind offenbar entweder abwesend oder machen sich durch Untätigkeit zu Komplizen. Im Bezug auf Mettray selber werden als Teil der Anstalt ein Krankentrakt und ein eigener Friedhof erwähnt (JdV, 256), was die Abschottung von der außen befindlichen Gesellschaft weiter verstärkt, mit der man nicht einmal im Tod wieder in Berührung kommen kann. Dieser Eindruck der Abgeschlossenheit wird dadurch weiter intensiviert, dass die Anstalt Mettray, die in der realen Welt in einer gleichnamigen Ortschaft liegt, hier von jeder Referenz auf räumliche Anbindung befreit ist. Mettray wird in zweideutiger Weise dargestellt. Der sexuelle Missbrauch, der dort stattfindet, stellt, wie so oft bei Genet, zwar eine seelische Verletzung, gleichzeitig aber auch ein erregendes, emotionales Erlebnis dar (JdV, 198). Das Leid, von dem der Erzähler berichtet (JdV, 85,198), ist immer auch wundersam (JdV, 85); obwohl die Anstalt als endroit vil, als gemeiner Ort, bezeichnet wird, wird sie doch auch mit einem Palast verglichen (JdV, 197–198); und obwohl das Moment des Eingeschlossen-Seins das Individuum gefährdet (JdV, 81), verschafft es ihm auch eine sichere Identität: die des Sträflings (JdV, 98). Diese Zweideutigkeit beherrscht die Bewertung des Raumes; Details zum konkreten Raum, zu seiner Aufteilung und Gestaltung finden sich dagegen nicht. Allerdings lassen sich über die Darstellung von Ereignissen einige Schlüsse ziehen: So beschreibt der Ich-Erzähler, wie beschämt er sich durch das Scheren seiner Haare und die vorgeschriebene Anstaltskleidung fühlt (JdV, 198) – Verweise, die ebenso wie die Erwähnung von Gewaltanwendung und Schlägergruppen dazu dienen, den Ort Mettray nicht einfach als Erziehungsanstalt für Kinder, sondern als Gefängnis erscheinen zu lassen. Interpretiert man Mettray in diesem Sinne als Gefängnis, so lassen sich einige generelle Bemerkungen des IchErzählers zu Gefängnissen im Allgemeinen auch auf diesen Raum, an dem er als Dieb sozialisiert wird, beziehen: Alle Gefängnisse, so stellt er beispielsweise fest, haben Gefängnisstuben mit ähnlichem Mobiliar (Bänke, Tintenfässer, Gesetzbücher, Messlatten) und dem gleichen Geruch (JdV, 21). Die Gefängnisse selbst sind stets überfüllt (JdV, 12) und scheinen einer eigenen Sozialstruktur mit Hierarchien unter den Gefangenen zu unterliegen, während die Wärter bestenfalls als Freunde auftreten, die den Insassen Blumen schenken (JdV, 9, 111). Das Gefängnis entpuppt sich dann auch in mehrfacher Hinsicht als Ausgangspunkt für den Roman: auf der Ebene des discours, denn der Roman setzt ein mit einer Diskussion der Schönheit von Sträflingen; und in räumlicher Hinsicht auf der Ebene der histoire: Es sind die beengten und trostlosen Verhältnisse der Anstalt in Mettray und der enge Kontakt mit anderen Kleinkriminellen, die den Ich-Erzähler zum Dieb machen; und es ist ein anderes Gefängnis, die Santé in Paris, in der der Protagonist nach Abschluss seiner Reise schließlich beginnt,

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seine Geschichte niederzuschreiben (JdV, 193) – womöglich, um dadurch seine soziale Dissidenz salonfähig zu machen und der Gefangenschaft zu entkommen.42 Mettray, wo seine Diebeskarriere beginnt, könnte also als Entsprechung zu demjenigen Gefängnis gelesen werden, das am Anfang der Karriere des Autors steht. Das einzige Land, in dem keine Gefängnisse erwähnt werden, ist wiederum Deutschland: In einem Land, das selbst zum Banditenlager geworden ist, ist diese Art Raum redundant – was es dem im Gefängnis sozialisierten Ich-Erzähler freilich erschwert, seine eigene Identität zu den Zuständen in Berlin in das gewohnte und gewünschte Oppositionsverhältnis zu bringen.

3 Ausblick Wie Oliver Lubrichs Studien herausgestellt haben, ist die Erzeugung der Räume in Journal du Voleur gebunden an die Geschichte des Scheiterns einer paradoxen Verhaltensstruktur: Der Protagonist sucht einen Raum, der in radikaler Opposition zu Frankreich steht; aber gleichzeitig möchte er zu diesem Raum, und zu Frankreich selbst, ebenfalls in radikaler Opposition stehen.43 Ein solcher Raum lässt sich freilich nicht finden; der Protagonist entscheidet sich stattdessen am Ende für die eigene Dissidenz und die Rückkehr in den ungeliebten Herkunftsraum Frankreich. Doch wo ein Scheitern des Reisenden im Sinne Lubrichs deutlich wird, vermag es der Protagonist am Ende zumindest, seine radikale Dissidenz als Erzähler zu verwirklichen, indem er einen Modell-Leser anspricht, dessen eigene vertraute Räume in demjenigen Innenraum liegen, zu dem der Roman jeweils nur das Außen beschreibt. Der Modell-Leser wird explizit aus den beschriebenen Räumen ausgeschlossen, vom Erzähler hinausgedrängt (JdV, 235). Seine Qualifikation besteht darin, dass er sie nicht aus eigener Erfahrung kennt;44

42 Hier fällt eine starke autobiographische Färbung auf; vgl. beispielsweise eine Aussage des empirischen Autors Genet im Gespräch mit Bertrand Poirot-Delpech (1991, 230): Moi, il me semble que, puisque tous nos livres ont été écrits en prison, je les ai écrits pour sortir de prison. („Da ich alle meine Bücher im Gefängnis geschrieben habe, scheint mir, dass ich sie geschrieben habe, um aus dem Gefängnis herauszukommen.“ Übers. d. Verf.). 43 Lubrich 2004b, 260, 273. 44 Auch außerhalb seiner Romane bekennt sich der Autor Genet explizit zu einer solchen Abgrenzung vom eigenen realen und idealen Publikum, z. B. 1985 in einem Interview mit dem BBC: There is a norm on one side, a norm where you are, all of you […], and then there’s an outer margin where I am, where I am marginalized. And if I’m afraid of entering the norm? Of course I’m afraid of entering the norm […]. (Williams 1985).

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er soll nur für den Moment der Lektüre „zu [Genets] Themen verführt“ werden, wie Josef Winkler es ausdrückt.45 Die Darstellung der drei Herkunftsräume zeigt einen kleinen Teil einer verschlungenen, komplexen Textstruktur, in der kaum feste räumliche Gegebenheiten ausgemacht werden können – auch diejenigen Räume, die geographisch gesetzt sind und en détail betrachtet werden, werden im Verlauf des Romans immer wieder neu definiert, unterschiedlich bewertet und aus wechselnden, jeweils wenig zuverlässigen Perspektiven dargestellt. Zur Illustration der nur spärlich beschriebenen Räume der Herkunft in Genets Journal du Voleur dienen primär Inferenzen sowie eine große Bandbreite an Toponymika, Eigennamen und Gattungsbezeichnungen. Gleichzeitig lässt der Roman Räume entstehen, die weder an konkrete Ereignisse und Figuren gebunden, noch durch Handlung ergänzt werden, und die primär über Inferenzen zweiter Ordnung beschrieben werden können, wie z. B. im Falle der Opposition Paris–Berlin. Außerdem erzeugt er Räume, die nicht durch Inferenzen entstehen, sondern selber Information beinhalten, mithilfe derer Schlüsse in Bezug auf andere, nicht-räumliche Elemente der erzählten Welt gezogen werden können (so deutet z.  B. die Existenz einer Strafanstalt auf die Anwesenheit von Wärtern hin, obwohl häufig keine erwähnt werden). Die geographische Verbindung zwischen den verschiedenen beschriebenen Räumen spielt manchmal, aber nicht immer eine Rolle und kann in der Regel nur durch das Weltwissen des Lesers ergänzt werden. Jenseits der Räume der Herkunft wären für weitere Untersuchungen auch die spezifischen Innenräume interessant, die der Erzähler auf seiner Reise aufsucht, besonders Kirchen, Bars, Bordelle, Stundenhotels, Wachhäuschen, Gefängnisse, Polizeistationen und Urinale. Anhand der Darstellung dieser konkreten Räume lassen sich einige zentrale Positionen der Poetik Genets nachvollziehen: seine Vorstellung von Sprache als Raum; seine Stilisierung des Außenseitertums; die Sublimierung des Hässlichen und Abstoßenden; der Hang zur Verwendung von Sprachbildern, die sowohl eine buchstäbliche als auch eine metaphorische Funktion haben; und nicht zuletzt der Umgang mit autobiographischer Fiktion. Diese Räume sind auch deutlich detailreicher entworfen als die Räume der Herkunft, die, wie oben beschrieben, tendenziell eher leer bleiben. Der Grund für das Gefälle in der Beschreibungsgenauigkeit könnte darin bestehen, dass die verschiedenen Herkunftsräume (mit Ausnahme von Paris) nur in der Rückschau eine Rolle spielen. Sie sind keine wichtigen Schauplätze des Romans, dienen aber gleichsam als Erklärungsfolie und Grundmodell für die Räume, die der Protago-

45 Kossack und Winkler 2008; vgl. Genet 1949, 162.

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nist später aufsucht (schäbige Bars und Hotels, Zollhäuschen und Hafengegenden, also jeweils Räume, die sich relativ zu ihrer Umgebung ‚am Rand‘ befinden) und auch für die, die er meidet (dies betrifft primär die Räume, in denen sich ein mittelständisches bürgerliches Leben abspielt). Schließlich wird in weiteren Arbeiten sicher auch ein grundsätzliches Problem einer narratologischen Herangehensweise in den Blick zu nehmen sein, nämlich die spezifische Natur von Genets Sprache, die eine klare Genrezuschreibung seiner Werke verkompliziert. Jean-Paul Sartre bezeichnet Genets Texte als de faux romans écrits en fausse prose („falsche Romane, die in falscher  Prosa geschrieben sind“).46 Und in der Tat stellt Genets lyrische Prosa, die einen klaren Handlungsverlauf und nachvollziehbare Raum- und Zeitdimensionen teilweise verweigert und reich an intertextuellen Verweisen auf die französische Lyrik der Jahrhundertwende ist, eine komplexe Aufgabe für die Narratologie dar – eine Aufgabe indes, an deren Ende auch Erkenntnisse über die Beziehung zwischen dem Genre des Romans und der Erzeugung konkreter Räume im Text stehen könnten.

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46 Sartre 1952, 395. Übers. d. Verf.

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Wolfgang Hallet

Die Re-Semiotisierung von Herkunftsräumen im multimodalen Migrationsroman 1 Raum und Bewegung im Roman Im vorliegenden Beitrag soll von einer Romanart die Rede sein, die sich bereits auf den ersten Blick vom herkömmlichen Roman unterscheidet: In den erzählerischen Diskurs des multimodalen Romans sind vielfältige andere Symbolisierungsformen wie Photographien, kartographische Darstellungen oder handgefertigte Zeichnungen integriert, die nicht Illustrationen im herkömmlichen, paratextuellen Sinn darstellen. Vielmehr sind sie ein integraler Bestandteil der Diegese. Als Artefakte gehören sie der fiktionalen Welt des Romans an und unterliegen, vergleichbar dem geschriebenen Wort, der Verfügungsgewalt der Erzählinstanz. ‚Multimodal‘ heißen diese Romane also, weil sie sich außer der Schriftsprache zahlreicher anderer semiotischer Modi bis hin zur Integration ganzer generischer Formen wie (faksimilierter) handgeschriebener Briefe, eines Zeitungsartikels oder einer (typographisch nachgebildeten) SMS-Nachricht zur Darstellung der fiktionalen Welt bedienen.1 In größerer Zahl lässt sich das Aufkommen solcher Romane seit den 1990er Jahren beobachten, weswegen es sich bei den in diesem Beitrag besprochenen Romanen durchweg um Gegenwartsliteratur handelt. Dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf eine historische Narratologie und die Historisierung des Gegenwartsromans bedeutsam, weil die Erzählgegenstände und die Erzählverfahren dieser Romane als vorläufiger Endpunkt einer Erzähltradition und als medial reflexive Antwort auf die konventionelle, wortbasierte Romanerzählung verstanden werden können, die in der frühen Neuzeit ihren Ausgang nahm.2 Der zeitgenössische, postkoloniale und wohl auch postmoderne Migrationsroman des einundzwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet sich auf vielfache Weise vom traditionellen Roman. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf den traditionellen Roman und seine Entstehung zu richten. Dem Roman waren in seinen neuzeitlichen Anfängen, jedenfalls in seiner Ausprägung als Reiseroman – prototypisch Daniel Defoes The Life and Surprising Adventures

1 Vgl. im Einzelnen Hallet 2009a. 2 Zum Zusammenhang mit dem medialen Wandel vgl. Hallet 2011b.

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of Robinson Crusoe (1719) –, die Expedition und die Reisebewegung des Erzählers gewissermaßen von Beginn an eingeschrieben: jener erzählerische Gestus, mit dem ein Erzähler seinen ‚daheim gebliebenen‘ Leserinnen und Lesern eine distante, nunmehr entdeckte fremdartige Welt zugänglich macht. Die Faszination der symbolischen Überbrückung der kulturellen Differenz und der räumlichen Distanz durch den Akt des Erzählens ist von Beginn an einer der Hauptantriebe der Romanerzählung und ihres Lesepublikums. Der neuzeitliche Roman nach Art des Robinson Crusoe lässt sich daher nicht nur als Ko-Akteur eines größeren kulturellen Projekts, „als Teil und Reflex dieser unerhörten, einmaligen gesellschaftlichen, kulturellen Entfesselung“3 der Neuzeit verstehen, sondern zugleich auch als an der Kolonisierung ferner Welten unmittelbar beteiligte kulturelle und ästhetische Praxis.4 Die Beschreibung ferner, zuvor (durch Europäer!) nicht erkundeter (vermeintlich nicht zivilisierter Räume) im Roman und die Vermittlung einer Vorstellung von ihrer Beschaffenheit ist von Beginn an eine wichtige Dimension der Roman-Erzählung. Nur durch die Evozierung von räumlichen Vorstellungen (Entfernungen, Landschaften, Routen, geographische und biologische Beschaffenheit usw.), von der Nutzbarmachung und von der Unterwerfung der neu erkundeten Räume konnte die Kluft zwischen der (europäischen) Erfahrungswelt der Leser/innen auf der einen und den fernen Schauplätzen des Romans sowie den Erfahrungen des Erzählers auf der anderen Seite überwunden werden.5 Mit der Evokation der fremden, distanten Welt ist zugleich ein Erzählverfahren verbunden, das der Authentifizierung des Erzählten dient: Wie man bereits an Defoes Romantitel erkennt, arbeitet der neuzeitliche Roman regelmäßig mit der Suggestion des realen, authentischen Raums, den der Erzähler vorfindet, erkundet und auf abenteuerliche Weise durchreist. Diese realistische Erzählweise bringt es mit sich, dass der Konstruktcharakter des erzählten Raums, seine Entstehung im Prozess des Erzählens und seine Zeichenhaftigkeit durch die Erzählweise möglichst weitgehend überdeckt werden sollen zugunsten „einer Fiktion, die sich als Nicht-Fiktion ausgibt“,6 der Illusion also, dass von einem der Erzählung vorgängigen, realen Raum die Rede ist. Der Gegenwartsroman hingegen durchbricht regelmäßig die Illusion von der Darstellung und Darstellbarkeit vorgängiger

3 Bode 2005, 46. 4 Zur kolonialen Dimension von Robinson Crusoe vgl. z. B. Wheeler 2009, 136–145; Todd 2010. Zur soziokulturellen Sinnstiftungsfunktion der Literatur und des Romans vgl. Reinfandt 1997, 24–48. 5 Ähnliches gilt für das neuzeitliche Drama (vgl. Ehland 2009). 6 Bode 2005, 48. Zum Verhältnis von Fakt und Fiktion sowie zur Illusionserzeugung im neuzeitlichen Roman vgl. ausführlich ebda., 42–67.

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Gegebenheiten; vielmehr führt er, gerade in der Form des multimodalen Romans, den Leserinnen und Lesern vor Augen, dass die Imagination des fremden Raums auf die zeichenhafte Abbildung und Rekonstruktion angewiesen ist und dass keines der jeweils gewählten Zeichensysteme – auch nicht die Wortsprache – ein vollkommenes Bild dieses Raums zu entwerfen vermag. Im Hinblick auf die hier in Rede stehende Multimodalität der Erzählung ist es durchaus bemerkenswert, dass der neuzeitliche Roman sich trotz seines Bemühens um die Faktualitätsillusion so gut wie ausschließlich des geschriebenen Worts bedient.7 Denn wie Jörg Dünne gezeigt hat,8 war dies in der Neuzeit durchaus keine natürliche Wahl. Vielmehr standen zugleich zahlreiche andere Darstellungsmodi, darunter vor allem die Karte und die graphische Illustration, als semiotische Werkzeuge für die Repräsentation und Evokation fremder, distanter Welten, der dort lebenden Menschen sowie der Beschaffenheit der Dinge und der materialen Lebenswelt zur Verfügung. Dennoch hat der Roman sich historisch aus verschiedenen Gründen, darunter gewiss die massenhafte drucktechnische Reproduzierbarkeit und das Aufkommen eines größeren Lesepublikums, als Gattung des geschriebenen und gedruckten Wortes etabliert. Schließlich ist im Hinblick auf die Entstehung und die Konventionen des Romans von Bedeutung, dass das Erzählinteresse sich auf einen entfernten Raum richtet, der in Opposition zum vertrauten, ‚heimischen‘ Raum der Leser/innen steht. Nicht selten ist er, wie am Beginn von Joseph Conrads Heart of Darkness, im Roman repräsentiert und bildet die kulturelle wie ästhetische Bezugsfolie für die erzählerische Erkundung und Erschließung einer anderen Welt. In Jurij Lotmans Theorie stellt diese topologische Opposition das entscheidende ästhetisch-strukturelle Merkmal des literarischen Textes dar,9 weil die Überschreitung einer kulturellen Grenze den eigentlichen Erzählgegenstand (‚Sujet‘) erzeugt.10 Diese ‚Transgressivität‘11 erfordert die Bewegungen einer Figur oder des Erzählers und ist daher einerseits konstitutiv für die Romanerzählung; zugleich aber ist die literarisch-ästhetische Repräsentation der individuellen Mobilität Teil des größeren historischen Projekts der Herausbildung und Entfaltung des freien, autonomen Subjekts in der Neuzeit. Auch diese große Utopie der ‚Auto-Mobilität‘ muss man sich als historische Bezugsfolie des Migrationsromans der Gegenwart vergegenwärtigen: Hier sind Reise und Bewegung, die Überschreitung der kul-

7 Zur Rolle der Sprache bei der Konstruktion von ‚Welt‘ vgl. Reinfandt 1997, 61–65. 8 Dünne 2005 und 2011. Vgl. auch Buschmeier 2005. 9 Lotman 1972; vgl. Frank 2009: 64–68. 10 Lotman 1972, 338–339. 11 Vgl. Westphal 2011, 37–74.

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turellen Grenzen zwischen Räumen ebenfalls erzählkonstitutiv; aber weder das Verlassen eines Raums noch die Migrationsbewegung noch die spätere Erkundung des Herkunftsraums sind in der Regel das Ergebnis eines wirklich freien Entschlusses oder der Wahl eines selbstbestimmten Ziels. Vielmehr bildet genau diese Erkenntnis den eigentlichen Kern der Migrationserzählung und der Erkundung der Herkunft.

2 Räume der Herkunft in multimodalen Migrationsromanen Migrationsromane, die von der Rückkehr zum Herkunftsraum des Protagnisten oder Erzählers und dessen Erkundung handeln, lassen sich als Erzählungen mit einer bi-direktionalen plot-Struktur, mit einer doppelten Raumstruktur und einer raumrelationierenden Bewegung zwischen diesen Räumen charakterisieren. Die Dopplung von Migration und Re-Migration eines Protagonisten (oft zugleich des Erzählers), die topologische Relationierung des Zielraums der Migration mit dem Herkunftsraum sowie die Bewegungen zwischen beiden resultieren in der Regel in einer Mehrfach-Erzählung und einem Mehrfach-plot. Ihren erzählerischen Mittelpunkt bildet, meist in autodiegetischer Form, die zielgerichtete, explorative Rückkehr zu Räumen der Herkunft. Als Gegenwartsromane sind diese Migrationserzählungen von besonderem Interesse, weil sie als paradigmatisch für prekäre, unsicher gewordene Herkunftserzählungen im Zeitalter postkolonialer, post-imperialer und sozialer Migration gelten können. Exemplarisch sollen die Erzähl-, Raum- und Bewegungsstrukturen am Beispiel von W. G. Sebalds Roman Austerlitz (2001, fortan Austerlitz) untersucht und beschrieben werden. Regelmäßige Vergleiche mit zwei englischsprachigen Romanen, Michael Ondaatjes (unter dem Gesichtspunkt der Multimodalität frühen) Roman Running in the Family (1982, fortan RiF) und Reif Larsens The Selected Works of T.S. Spivet (2009, fortan T.S. Spivet) sollen zeigen, dass es sich um romanübergreifende Erzählstrukturen, Topologien und Bewegungsmuster handelt. Im Folgenden sollen nun vier plotEbenen unterschieden werden, auf denen im Migrationsroman der Herkunftsraum erschlossen und mit dem Gegenwartsraum der Erzählung verknüpft wird.

2.1 Die Geschichte der Migration Zum ersten ist stets die Geschichte der Migration (Flucht und Exil, Immigration, Emigration) zu erzählen, die an den Punkt führt, der die Gegenwartsebene der

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Romanerzählung konstituiert und von dem aus erzählt wird. Natürlich können die Gründe für die Migration vielfältiger Natur sein, selbstgewählt oder erzwungen, als Aufbruch in ein gelobtes Land (wie in T. S. Spivet) ebenso wie als Flucht oder Vertreibung wie in Austerlitz.12 Typisch für die hier untersuchten Romane ist jedoch, dass mit der Rekonstruktion der Migration und der Herkunft stets auch die Geschichte der Kindheit verbunden ist. Für Kinder sind Selbst- oder Fremdbestimmtheit ohnehin relative (und relationale) Kategorien, über die sich nur im Kontext einer Familien-, oft genug sogar einer Kulturgeschichte Aussagen treffen lassen. Diese Aufklärung des Migrationsmotivs, das Ringen um eine Erklärung des ‚Hier‘ durch das Aufspüren des ‚Dort‘ ist einer der Hauptantriebe für die Erkundung und Erzählung der Herkunft. In Austerlitz ist es die Geschichte des titelgebenden Protagonisten, die von einer anonymen Erzählinstanz aufgrund einer zufälligen Begegnung und einer nachfolgenden engen persönlichen Bekanntschaft überliefert wird. Über weite Strecken nimmt Austerlitz’ Lebensgeschichte die Gestalt einer in die heterodiegetische Erzählung eingebetteten Autobiographie an. Die Geschichte seiner Migration nimmt ihren Ausgang in London in der Liverpool Street Station, einem Ort, den Austerlitz ebenso wie andere Bahnhöfe immer wieder in beinahe zwanghafter Weise aufsucht. In diesem Londoner Bahnhof steigt eines Tages die Erinnerung in ihm auf, dass er dort in den 1930er Jahren mit einem der jüdischen Kindertransporte aus Prag angekommen und von seinen britischen Pflegeeltern in Empfang genommen worden ist. Austerlitz’ Kindheitsgeschichte ist also nicht nur die der (ihm bis dahin nicht bewussten) Zwangsmigration, sondern auch die der Trennung von seiner Familie und der traumatischen Auslöschung der Erinnerung an seine Herkunft im Bemühen, „mich an möglichst gar nichts zu erinnern und allem aus dem Weg zu gehen, was sich auf die eine oder andere Weise auf meine mir unbekannte Herkunft bezog.“ (Austerlitz, 205) Es ist kein Zufall, dass unmittelbar darauf ein Satz folgt, der den Blick ins Kontinentale weitet: „So wußte ich, so unvorstellbar mir dies heute selber ist, nichts von der Eroberung Europas durch die Deutschen, von dem Sklavenstaat, den sie aufgerichtet haben, und nichts von der Verfolgung, der ich entgangen war.“ (Austerlitz, 205) Hier entwickelt also die Erkundung des Herkunftsraums im engeren Sinne eine zweifache Dynamik: Seine räumlich-horizontale Dimension kann nur verstanden werden in ihrer ganzen kontinentalen Ausdehnung, in ihrer Einbettung in ein größeres System der Vernichtung und Vertreibung; und vom Standort des erwachsenen Austerlitz aus erschließt sich diese Topologie der Zwangsherrschaft nur in der diachronen, historisch-politischen Dimension der Unterwerfung und Vernich-

12 Vgl. Hallet und Neumann 2009, 20–21.

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tung Europas durch das nationalsozialistische Deutschland. Die Erforschung seines Herkunftsortes Prag ist daher die Bearbeitung eines individuellen und eines kulturellen Traumas zugleich. Dazu gehört auch das erneute Durchleben der Migrationswege, Austerlitz’ Entschluss, „dass ich nun zunächst die Bahnfahrt von Prag nach London, quer durch das mir unbekannte Deutschland, wiederholen müsste.“ (Austerlitz, 294). Auch in den beiden anderen Romanen scheint eine solche historisch-politische Dimension nicht nur auf, auch in Running in the Family und in T.S. Spivet ist der Raum der Herkunft dem Verstehen letztlich nur zugänglich in der Verwobenheit der Familienmigration mit den großen historischen Prozessen der Kolonisierung und Eroberung. Auch stellt sich in diesen Romanen, ähnlich wie in Austerlitz, die Reise der Erzähler vom jetzigen Lebensort als Re-Migration zum Ursprungsort ihrer Familie dar. In Ondaatjes Erzählung Running in the Family beschließt der Erzähler inmitten des winterlichen Kanada 25 Jahre nach der Immigration die Rückkehr zum Wohnort seiner Familie im kolonialen Ceylon: But it was only in the midst of this party, among my closest friends, that I realised I would be travelling back to the family I had grown from. (RiF, 22). In Reif Larsens Roman The Selected Works of T.S. Spivet (2009) stellt sich die Migrationsgeschichte als Durchquerung und Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents von Ost nach West durch die Vorfahren des jugendlichen Erzählers Spivet dar. So ist die Coppertop Ranch seiner Familie in Montana der Ausgangspunkt der Re-Migration. Seine abenteuerliche West-Ost-Reise folgt den Spuren seiner Vorfahren, vollzieht deren Westward-Kontinentalreise jedoch in umgekehrter Richtung.

2.2 Die Geschichte des Herkunftsraums In der historischen Dimension erzählen die Migrationsromane, zweitens, immer auch die Geschichte der Familie und des Herkunftsraums. Die Exploration und Repräsentation dieses historischen Raums bestimmt große Teile des Erzähldiskurses. Bei Oondatje sind es die Topographien und geographischen Bedingungen Ceylons; bei Larsen sind es der nordamerikanische Kontinent, seine Eroberung und Durchquerung und der Ost-West-‚divide‘, die vom Erzähler als historischer Prozess einer kulturellen Teilung und Absonderung nicht nur beschrieben, sondern auch erlebt werden. Am ausgeprägtesten ist die historische Rekonstruktion des Herkunftsraums in Austerlitz, wo sie als detektivische Spurensuche und akribische historische Forschung im Archiv, als Aufspüren von Zeitzeugen und als archäologische Erforschung Prags und Theresienstadts erzählt wird, des Ortes der Vernichtung, der auch Austerlitz’ Mutter zum Opfer fiel. Zu den zentralen Erzählstrategien in Austerlitz und den Migrationsromanen zählt, dass die

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(vertikal-historische) Erforschung der Herkunft und Genealogie unmittelbar verknüpft ist mit einer (horizontal-spatialen) archäologischen Erkundung und enzyklopädischen Beschreibung des Herkunftsraums. Wiederum ist diese historisch-dokumentarische Erzählpraxis in Sebalds Roman am weitesten entwickelt: Austerlitz beschreibt alle Orte und Gebäude des wiedergefundenen Prag und vor allem Theresienstadts nicht nur in der Wortsprache penibel und bis in kleinste Detail, sondern in fast manischer Weise dokumentiert er auch alles photographisch, Ephemera wie Billets oder Briefmarken werden reproduziert, und zur Erforschung des Ghettos Theresienstadt gehören nach Art eines Historikers die Dokumentation des Grundrisses der Festung, die Reproduktion einer Liste von Tätigkeiten im Ghetto, die er in einem soziologischen Werk findet, und sogar Standbilder aus historischen Film-Dokumenten. Mit der Erforschung des Raums erschließt sich Austerlitz also nicht nur die Geschichte seiner Herkunft und Kindheit, sondern zugleich die Geschichte eines monströsen historischen Verbrechens; im Raum verdichten sich die große, allgemeine und die individuelle, eigene Lebensgeschichte zu einer physischen Vergegenwärtigung des Vergangenen: Wenn ich beispielsweise irgendwo auf meinen Wegen durch die Stadt in einen jener stillen Höfe hineinblicke, in denen sich über Jahrzehnte nichts verändert hat, spüre ich beinahe körperlich, wie sich die Strömung der Zeit im Gravitationsfeld der vergessenen Dinge verlangsamt. Alle Momente unseres Lebens scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als existierten die zukünftigen Ereignisse bereits und harrten nur darauf, daß wir uns endlich in ihnen einfinden. (Austerlitz, 367)

2.3 Die Erzählung der Rückkehr Auf einer dritten plot-Ebene ist in den Migrationsromanen die Rückkehr zum Raum der Herkunft mit einer Reise-Erzählung verknüpft (‚root trips‘),13 die verhindert, dass man von einer rein binären Raumstruktur oder gar von einfachen Raumoppositionen sprechen kann.14 Denn der Reise-plot koppelt in den hier untersuchten Romanen die Raumwahrnehmungen und -erkundungen nicht nur an den Protagonisten oder Erzähler,15 sondern er konstituiert auf der Ebene der Romanfiguren und ihrer Bewegung eine topologische Struktur der Verknüpfung

13 Vgl. Antz 2012. 14 Vgl. Frank 2009, 68. 15 Vgl. Dennerlein 2009, 153–155.

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der beiden Räume und der Grenzüberschreitung zwischen ihnen. Diese stellt die Bedingung für das Roman-Sujet dar (die kulturelle Relevanz und tellability der Raumerzählung)16 und weist den Herkunftsraum als stets relational bestimmt aus. In Migrationsromanen ist mit dem Reisenarrativ nicht nur ein emplotment nach der Art eines Reiseromans verbunden, sondern auch eine narrative Strategie: Die Reise ist als Umkehrung der ursprünglichen Migrations- oder Kolonisierungsreisen inszeniert und hebt in dieser zeitversetzten Gegenläufigkeit gewissermaßen den vorigen Migrations-, Kolonisierungs- oder Fluchtakt auf: Austerlitz’ Reise nach Prag kehrt die Route des Kindertransports um und folgt ihr bis in die einzelnen Bewegungen der Kindheit und ihrer Orte hinein an den Punkt, wo eine als glücklich und intakt erlebte Kindheit mit dem Verlassen dieses Ortes endet und in eine europäische Odyssee umschlägt. Auch der junge Spivet in Larsens Roman folgt der Route der Westwärts-Okkupation seiner Vorfahren in umgekehrter Richtung,17 und Ondaatjes Ich-Erzähler remigriert nach Ceylon in das Land seiner kolonialen Vorfahren. Diese doppelten, revertierten und fiktional revidierten Migrationserzählungen erschöpfen sich jedoch nicht in der Erzählung der Reisebewegung, sondern sie zeichnen sich auch durch die Strategien und die Komplexität von Raumbeschreibungen und Raumdeutungen aus, wie sie historisch aus dem travel writing für die Repräsentation (der Exploration) unbekannter Räume bekannt sind. Dazu gehören z. B. topographische und geographische Beschreibungen, archäologische Strategien des Suchens und Sammelns von Objekten, Ephemera und Artefakten oder die Aneignung und Darstellung enzyklopädischen Wissens.18 Die typische relationale topologische Struktur von Ausgangs- und Herkunftsraum, dieser räumliche shift vom Hier zum Dort, korrespondiert mit dem für den Herkunftsroman typischen diachronen shift vom Jetzt zum Damals.19 Man kann daher von einem Herkunftsroman als einem Hetero-Narrativ sprechen in einem zweifachen Sinne: Die narrative Etablierung einer zweiten Raum-Zeit-Ebene weist einerseits stets einen heterotopen Charakter auf, der sich auf den Herkunftsraum als einen ‚Anderort‘ bezieht – durchaus in Foucaults Sinn einer ‚realen‘ kulturellen Utopie.20 Dieser heterotope Raum wird zwar als distant, zugleich aber in der

16 Vgl. Lotman 1972, 338–339; Frank 2009, 67–68; Hallet; Neumann 2009, 17–18; Hallet 2011a, 228–229. 17 Vgl. genauer Hallet 2014. 18 Vgl. Cooke 2013 sowie unten Abschnitt 3. 19 Vgl. Fludernik 2003, 334. 20 Vgl. Foucault 1967, 320.

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Vorstellung, in der Imagination oder, wie bei Ondaatje, im Traum als eigen und präsent erfahren: What began it all was the bright bone of a dream I could hardly hold onto. I was sleeping at a friend’s house. I saw my father, chaotic surrounded by dogs, and all of them were screaming and barking into the tropical landscape. The noises woke me. (RiF, 21) Andererseits handelt das Herkunftsnarrativ stets auch von einem historischen Raum und entspricht auf diese Weise einem weiteren Kriterium der Heterotopie: Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt sie haben Bezug zu Heterochronien, wie man aus rein symmetrischen Gründen sagen könnte. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.21 Diese intrinsische Verwobenheit von Raum- und Zeitstruktur lässt es gerechtfertigt erscheinen, den hier vorgestellten Typus des Migrationsromans generisch als Chronotopos aufzufassen.22

Wie oben bereits kurz angedeutet, handelt es sich wegen dieser historischen Verwobenheit des Raums bei Migrationsromanen nicht bloß um individuelle, sondern stets auch um kulturelle Re-Imaginationen, die eine imperiale und koloniale Vergangenheit explorieren, rekonstruieren und neu erzählen:23 Ohne die Unterwerfung Europas unter den Nationalsozialismus und seinen Vernichtungsfeldzug gegen das jüdische Volk und andere Völker kann der Protagonist in Sebalds Austerlitz seine Herkunft nicht aufklären und erzählen. Austerlitz’ Geschichte ist – in einem auch von ihm so verstandenen enzyklopädischen Sinn – zugleich die Geschichte Europas und der Welt. Diese Art Herkunftsroman referiert also mehr als viele andere fiktionale Erzählungen auf nicht-fiktionale, realkulturell wiedererkennbare Räume24 und trägt aus funktionsgeschichtlicher Perspektive zur kulturellen (Re-)Imagination der jeweils erzählten Räume bei. Herkunftsromane sind damit auch Teil jener komplexen kulturellen (Re-)Signifikation von Räumen, die Soja als real and imagined bezeichnet.25 Die vorliegenden Migrationsromane stellen somit nicht nur fiktionale Repräsentationen heterotoper kultureller Akte dar,26 sondern sie sind damit zugleich selbst Heterotopien. Denn diese Romane besitzen, wie andere fiktionale Heterotopien auch, „die Fähigkeit, mehrere reale

21 Foucault 1967, 324. 22 Bachtin 2008; Frank 2009, 72–75. 23 Vgl. Neumann 2009. 24 Vgl. Dennerlein 2009, 75–84; Ryan 2013, 14. 25 Vgl. Soja 1996, 57. 26 Vgl. Foucault 1967, 326–327.

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Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.“27

2.4 Die meta-semiotische Dimension Auf einer vierten, metafiktionalen und metasemiotischen, meist parallel zu den anderen geführten Ebene erzählen Migrationsromane die Geschichte der Entstehung der Herkunftserzählung selbst, der Explorations- und Dokumentationsstrategien sowie der Problematik der symbolischen Appropriierung des ‚anderen‘ Raums durch den Erzähler oder Protagonisten. Sie stellen damit einen narrativen und epistemologischen Gegenentwurf zum oben beschriebenen Faktualitätsanspruch und zur lllusionserzeugung des neuzeitlichen Romans dar. Wo jener die Gemachtheit und Künstlichkeit der Raumdarstellung im Roman zu verbergen suchte, stellt der postkoloniale Migrationsroman die erzählerischen Akte der Raumerzeugung und deren symbolische Qualität gerade aus. Er begnügt sich nicht damit, eine Herkunftsgeschichte zu erzählen, sondern reflektiert und problematisiert zugleich die Bedingungen ihrer Entstehung und die Möglichkeit des Wissens um die Herkunft (vgl. genauer die Abschnitte 3.4 und 4).28 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Räume der Herkunft in Migrationsromanen wie den vorliegenden Teil der Narration einer relationalen Topologie sind, die sich vom Hier der Erzählgegenwart zum Dort der Herkunft spannt, in Akten der Re-Migration neu erkundet, historisch rekonstruiert und re-imaginiert werden, Akten der symbolischen Re-Appropriation unterworfen werden und dass der Akt der symbolischen Aneignung selbst thematisiert und (skeptizistisch) problematisiert wird (Meta-Semiosis). Im Grunde befindet sich damit der Wille zum Wissen um die Beschaffenheit des Herkunftsraums in einer unauflöslichen Grundspannung mit dem Wissen um die Unmöglichkeit eines verlässlichen Wissens davon. Von den verschiedenen Strategien, diese Aporie zu überwinden, soll im Folgenden die Rede sein.

27 Foucault 1967, 324. 28 Zu diesem Aspekt von RiF vgl. genauer Neumann 2005, 453–462.

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3 Strategien der Raum-Erzeugung im Migrationsroman In den hier in Frage stehenden Romanen lassen sich verschiedene Strategien beobachten, mittels derer der Herkunftsraum erschlossen und re-appropriiert wird. Ihnen soll im Folgenden kurz nachgegangen werden. Es handelt sich um die Erforschung der genealogischen Dimension des Raums, eine archäologische Spurensuche des Aufspürens, Findens und Sammelns von Objekten und Artefakten, die Enzyklopädisierung des Raums sowie die Multimodalisierung der Raumkonstitution und -repräsentation.

3.1 Die Erforschung der genealogischen Dimension des Raums Es ist nicht ganz überraschend, dass die Erkundung des Herkunftsraums mit einer explorativen, forschenden Haltung und Bewegung verbunden ist, die sich auf die eigene Familie als historischen Akteur in dem betreffenden Raum richtet. So ist Spivets minutiös dokumentierte Reise in den Osten der USA von Montana nach Washington über die Lektüre des Tagebuchs seiner Mutter mit der Entdeckung der Geschichte seiner Vorfahren und einer geistigen Verwandtschaft durch das Interesse für die Naturwissenschaft verbunden, das er mit seiner Mutter und seiner Urgroßmuter teilt. In Running in the Family sind die Wände und Decken mit family stories behaftet (z. B. RiF, 25), und vor allem in Austerlitz werden die Reisebewegung und die Erkundung des Raums mit seiner historisch-genealogischen Erforschung verknüpft, der Raum wird genealogisch aufgeladen. Raum und Herkunft werden auf diese Weise eins. Diese Aufladung mit genealogischer Bedeutung bezieht sich nicht nur auf den Makroraum, sondern sie wird auf mehreren Ebenen vollzogen, auch auf der Ebene der Mikroräume wie z. B. einzelner Zimmer, Interieurs und Dekore. In Austerlitz sind es gerade die Innenräume und Zimmer selbst, die spürbar mit seiner eigenen Geschichte und der seiner Mutter verbunden sind. Beinahe atem- und interpunktionslos ist die Beschreibung architektonischer Details und Raumelemente, die unversehens zum Aufrufen völlig verblasster Kindheitserinnerungen gerät: Einmal bin ich eine ganze Zeitlang vor einer Hauseinfahrt gestanden, sagte Austerlitz, und habe hinaufgeschaut zu einem über dem Schlußstein des Torbogens in den glatten Verputz eingearbeiteten und nicht mehr als ein Quadratfuß messenden Halbrelief, das vor einem gestirnten, seegrünen Hintergrund einen blaufarbenen Hund zeigte mit einem Zweig im

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Maul, den er, wie ich, bis in die Haarwurzeln erschauernd, erahnte, herbeigebracht hatte aus meiner Vergangenheit. (Austerlitz, 221)

Der Raum wird auf diese Weise zum Träger, Medium und Archiv der Familiengeschichte; die ihn ihm geborgenen stories müssen lediglich erkannt, aktiviert und aufs Neue erzählt werden.

3.2 Archäologische Spurensuche Während Räume, die, wie im Beispiel oben, ‚zum Erzählen‘ gebracht werden müssen, mit Aleida Assmann als ‚Relikte‘ betrachtet werden können, als „stumme Zeugen, die wieder zum Sprechen gebracht werden“,29 geht es oft auch um die „Verlagerung des Interesses von Relikten auf Spuren“, um die Rekonstruktion der Vergangenheit vor allem aus solchen Zeugnissen, die nicht an die Nachwelt adressiert und nicht zum Dauern bestimmt waren. Sie sollen von dem etwas mitteilen, wovon die Überlieferung in der Regel schweigt: dem unscheinbaren Alltag.30 Die Herkunftserzählungen in den Migrationsromanen sind daher auch mit Bewegungen des Suchens und Sammelns verbunden; die gesuchten und gefundenen Spuren geben als räumliche Gegebenheiten, als Objekte oder als Artefakte Zeugnis vom nicht mehr direkt zugänglichen Denken und den Lebensgewohnheiten der Vorfahren und verbinden ihre individuelle Geschichte mit der größeren imperialen oder kolonialen, wie the depressed garden of java trees, plantains, old forgotten flowerbeds. Whatever ‚empire‘ my grandfather had fought for had to all purposes disappeared. (RiF, 60) Im multimodalen Roman werden solche Fundstücke oder Spuren jedoch oft nicht verbal beschrieben oder erzählt, sondern gezeigt und visuell präsentiert, z. B. als Reproduktionen von handschriftlichen Tagebucheinträgen. T.S. Spivet ist voll von detailgenauen Zeichnungen des jungen Erzählers und enthusiastischen Zeichners von vorgefundenen Objekten, von Tieren, Pflanzen, Fahrzeugen und Raumansichten aller Art oder von selbst gefertigten maps, Diagrammen usw. In Ondaatjes Erzählung sind es Photographien und Archivfunde, die zugleich in der Erzählung ausgestellt werden. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Austerlitz als prototypisch. Sein Vorgehen ist das eines Archäologen, der Details der Landschaft und der Architektur,

29 Assmann 1999, 213. 30 Assmann 1999, 213; Hervorh. im Orig.

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von Straßenzügen und Gebäudekomplexen zu lesen versteht und dokumentiert. In den von ihm gefundenen oder selbst gemachten zahlreichen Photographien, von großen Industrieanlagen und Gebäudekomplexen ebenso wie von einzelnen architektonischen Elementen wie Treppenhäusern, Fenstern und Türen, aber auch von einzelnen Objekten wie „dem verschlungenen Wurzelwerk einer an einem stark abschüssigen Platz sich einhaltenden Kastanie, in dem ich, wie ich von Vera weiß, sagte Austerlitz, mit Vorliebe herumgeklettert bin als Kind“ (Austerlitz, 238–239), ersteht der gesamte Lebens- und Bewegungsraum seiner Kindheit wieder. All die dokumentierten und beschriebenen Objekte sind die räumlichen und architektonischen Anker, in denen die eigene Geschichte sich materialisiert, an denen sie sozusagen dingfest gemacht werden kann. Umgekehrt besitzen auf diese Weise alle Elemente und Objekte eines Herkunftsraums potenzielle Bedeutung für das historisch rekonstruierende und erzählende Subjekt; ‚Raum‘ wird letztlich erst durch diese mit historischer und biographischer Bedeutung versehenen Objekte und Elemente zum Herkunftsraum. Zugleich verändert sich durch deren visuelle Reproduktion der Charakter des Romans: Er wird vom reinen Erzähltext zu einem scrap book, in dem Fundstücke aller Art gesammelt, präsentiert und arrangiert werden. Durch den traditionellen Erzähltext werden sie narrativ verknüpft, also zum Teil einer Geschichte, und ihnen wird Bedeutung in diesem Sinnzusammenhang zugewiesen.

3.3 Enzyklopädisierung des Raums In den hier vorgestellten Romanen richtet sich das Forschungs-, Rekonstruktionsund Verstehensinteresse nicht nur auf den genealogischen Raum im engeren Sinne, also auf die Familienorte. Vielmehr sind die Migrationserzählungen stark vom Willen zu einem kulturellen und enzyklopädischen Raumwissen und dessen Integration in die Herkunftserzählung bestimmt. Diese Enzyklopädisierung schlägt sich nieder in Ausführungen zu den geographischen, topographischen und klimatischen Gegebenheiten des Herkunftsraums. In Austerlitz handelt es sich gar um das Vorhaben einer enzyklopädischen Kulturgeschichte Europas aus der Perspektive der Architektur und der technischen und militärischen Infrastruktur. Dies nicht zuletzt deshalb, weil diese gemeinhin als kulturelle Errungenschaft wahrgenommene Erschaffung von Räumen sich in der Geschichte Austerlitz’ als Voraussetzung und Bedingung der Deportation und Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen darstellt. Daraus erklärt sich der als obsessiv zu bezeichnende Zwang des Protagonisten, öffentliche Gebäude, und gerade die imposanten, zu betreten und genauestens zu studieren.

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Abb. 1: Eine Doppelseite aus Austerlitz mit einem historischen Gleisplan der Liverpool Street Station in London. (Sebald 2001: 194–195)

Für den Zielpunkt des Kindertransports und den Ausgangspunkt der Herkunftserzählung, die Liverpool Street Station in London, liefert Austerlitz als Teil seiner Herkunftserzählung eine ganze archäologische Studie mit, in der er die Geschichte dieses Bahnhofs von den ursprünglichen Sumpfwiesen über einen Klosterbau im siebzehnten Jahrhundert, ein Asyl und Totenfelder bis zum Abriss und Umbau des Bahnhofs in den 1980er Jahren in verschiedenen archäologischen Schnitten nachzeichnet (Austerlitz, 188–201; vgl. Abb. 1).

3.4 Multimodalisierung der Raumkonstitution und -repräsentation Mit der Multimodalität der Herkunftserzählungen ist stets ein semiotischer Skeptizismus verbunden, der sich vor allem, aber nicht nur auf das Ungenügen der Symbolisierung im Wortzeichen bezieht. Mit dem symbolischen Skeptizismus geht stets ein epistemologischer einher, der sich in einer Aporie niederschlägt. Auf der einen Seite steht der Versuch der Authentifizierung des Wissens durch

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eine Vielfalt von Quellen und semiotischen Modi; dem steht auf der anderen Seite die Einsicht in die Vergeblichkeit aller symbolischen Repräsentation bei Sebald (ebenso wie in T.S. Spivet, s. dazu unten Abschnitt 4) oder in die prinzipielle Unzuverlässigkeit der Erzählung bei Ondaatje entgegen: I must confess that the book is not a history but a portrait or ‚gesture‘. And if those listed above disapprove of the fictional air I apologize and can only say that in Sri Lanka a well-told lie is worth a thousand facts. (RiF, 206) In Austerlitz handelt es sich jedoch nicht bloß um einen solchen Fiktionalitätsvorbehalt, sondern dort bricht sich der semiotische und epistemologische Skeptizismus in einem umfassenden Eingeständnis des Scheiterns der Sprache und der Bilder Bahn. Austerlitz verwirft das Vorhaben einer europäischen Kulturgeschichte und damit die Möglichkeit des Wissens überhaupt: Gerade das, was sonst den Eindruck einer zielgerichteten Klugheit erwecken mag, die Hervorbringung einer Idee vermittels einer gewissen stilistischen Fertigkeit, schien mir nun nichts als ein völlig beliebiges oder wahnhaftes Unternehmen. Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Wörter, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen. (Austerlitz, 183– 184)

Die verschiedenen semiotischen Formen der Raumrepräsentation und des Erzählens stellen also immer zugleich die Frage nach der Zuverlässigkeit des Erzählens und der Möglichkeit des Wissens: Was man vom Herkunftsraum wissen und erzählen kann, ist seinerseits bereits symbolisch und narrativ vorgeformt und überliefert, die Imagination des Herkunftsraums ist angewiesen auf Generationen von Imaginationen und Narrativen. Die Multimodalität des Romans und seine vielfältigen symbolischen Formen stellen also die Leistungsfähigkeit der traditionellen Worterzählung in Frage, in denen ‚Raum‘ ausschließlich im Medium der Wortsprache repräsentiert und erzeugt wird. Damit nähert sich die Raumwahrnehmung und -vorstellung im Roman jener in realweltlichen physischen Umgebungen an, die ebenfalls von einer Vielfalt von Eindrücken, Signalen und Wahrnehmungen sowie von der selektierenden, interpretierenden, ordnenden und damit raumsemiotischen Tätigkeit des Individuums geprägt sind.31 Unübersehbar ist auch die Analogie zu kulturellen Symbolisierungsverfahren, die von der Vielfalt und dem Zusammenspiel verschiedener semiotischer Modi der Raumerzeugung und Raumimagination bestimmt sind.32

31 Vgl. Böhme 2005. 32 Vgl. Stockhammer 2005 sowie Dünne 2005 und 2011.

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4 Die symbolische Aneignung des Herkunftsraums Im Lichte der bisherigen Befunde zu den multimodalen Migrationsromanen kann man sagen, dass diese die Erzeugung des Herkunftsraums als eine raumsymbolisierende Tätigkeit der Erzählinstanz ausweisen, die mit der Erkundung des Raums die Erkundung der Leistungsfähigkeit symbolischer Sprachen (‚affordance‘) verbindet. Zum einen wird damit Cassirers Auffassung Rechnung getragen, dass die Art des jeweils erzeugten Raums von der jeweils zur Anwendung gebrachten Symbolisierungsweise abhängt. Der im multimodalen Roman erzeugte Raum (bzw. dessen leserseitige Imagination) entspricht also gleichsam der Gesamtheit und dem Zusammenspiel der jeweils benutzten semiotischen Modi. Der Herkunftsraum ist daher, wie jeder Raum, das Ergebnis eines subjektiven Aktes der Signifikation, der Symbolisierung und der Bedeutungsstiftung: „Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht.“33 Da jeder Raum demzufolge (auch nach Cassirers Ansicht) stets präsymbolisiert ist, stellt jede Raumwahrnehmung und -aneignung einen Akt der Re-Interpretation, der Re-Signifikation und in diesem Sinne eine Neu-Erfindung des Raums dar. Stets geht der Migrationsgeschichte ein koloniales Narrativ mit historisch gewachsenen und verfestigten, den Erzählern zunächst nicht bewussten Raumdeutungen voraus. Dies ist in den vorliegenden Fällen von besonderer Bedeutung, weil auf diese Weise die Welt der Familie und der Kindheit als imperialer und kolonialer Raum erkannt, historisiert und verstanden werden kann. Austerlitz ist daher nicht nur mit der Rückgewinnung seiner Kindheitswelt befasst, sondern auch mit der Neuschreibung der Geschichte Prags, Theresienstadts und Europas. Die Re-Semiotisierung und Re-Signifikation der Herkunftsräume durch neue menschliche und symbolische Sprachen ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Migrationsromane zu postkolonialen Erzählakten werden, die koloniale und imperiale Raumerzählungen (also Prä-Symbolisierung) in Frage stellen. Es überrascht daher nicht, dass in multimodalen Romanen die Semiotiken der Raumerzeugung und die Leistung der Symbolsprachen selbst Gegenstand der Erzählung und der Reflexion werden: Der junge Ich-Erzähler und enthusiastische

33 Cassirer 1931, 26.

Die Re-Semiotisierung von Herkunftsräumen im multimodalen Migrationsroman 

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Kartenzeichner Spivet erkennt z. B. in der Kartographie ein entscheidendes Instrument der Kolonialisierung: [T]hese early cartographers of the Corps of Topographical Engineers […] were conquerors in the most basic sense of the word, for over the course of the nineteenth century, they slowly transferred the vast unknown continent piece by piece into the great machine of the known, of the mapped, of the witnessed – out of the mythological realm of empirical science. (Spivet: 16)

In multimodalen Migrationsromanen wird ‚Raum‘ somit grundsätzlich als symbolische Entität ausgewiesen, die von der schreibenden, aufzeichnenden, zeichnenden oder photographischen Tätigkeit, also von einer raumkonstitutiven, raumsemiotischen Tätigkeit des Subjekts abhängt; Rekonstruktionen des Herkunftsraums sind daher stets Re-Imaginationen, fictions of space.34 In dieser Art der Raumdarstellung, die die Symbolisierungsprozesse in den Vordergrund rückt und meist auch thematisiert, stellt der postkoloniale Migrationsroman einen Gegenentwurf zur Raumrepräsentation im neuzeitlichen kolonialen Roman, paradigmatisch in Robinson Crusoe, dar; denn dessen Bestreben und Strategie war es, den kolonialen ‚Raum‘ mimetisch als etwas natürlich Vorhandenes, als verfügbare, frei zugängliche Naturlandschaft oder als ‚Wildnis‘ darzustellen.35 Freilich stellt sich bei allem mimetischen Realismus auch für den Roman der Neuzeit, gerade wenn er als Reflex auf einschneidende spatiale und epistemologische Veränderungen verstanden wird, stets die Frage nach der semiotischen Interpretation vorgefundener Räumlichkeiten, nach der ‚Lesbarkeit‘ des Raums und nach dessen symbolischer Repräsentation.36 Der multimodale Roman der Gegenwart lenkt mit seiner aufgeladenen symbolischen Ausstattung und seiner meta-semiotischen Reflexivität den Blick nicht zuletzt auf diese semiotische Leistung des Worts im traditionellen schriftsprachlichen Roman.37

34 Vgl. Hallet 2009b. 35 Vgl. Neumann 2009, 120–123; Todd 2010. 36 Vgl. Folkenflik 2009. 37 Vgl. dazu Reinfandt 1997, 46–48.

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 Wolfgang Hallet

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Die Re-Semiotisierung von Herkunftsräumen im multimodalen Migrationsroman 

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Michael C. Frank

The place for me Karibische London-Texte der Nachkriegszeit im Spiegel von Michel de Certeaus Gehen in der Stadt

1 Einleitung Auf der Suche nach theoretischen Ansatzpunkten für eine Betrachtung des Herkunftsraums in der Erzählliteratur stößt man zunächst fast unweigerlich auf Jurij Lotmans 1970 erschienenes Buch Die Struktur literarischer Texte – und sei es nur, weil der darin unternommene Versuch, dem Zusammenhang von Raum und Handlung Rechnung zu tragen, weitgehend konkurrenzlos geblieben ist. Lotman vertritt die bekannte These, zu einem Ereignis (als kleinstem Element des Sujets) könne es nur unter der Voraussetzung kommen, dass der Raum des Textes in mindestens zwei Teilräume unterteilt sei und dass innerhalb dieser Raumstruktur mindestens eine Figur die Grenze zwischen beiden Teilräumen überschreite.1 Angewandt auf die erzählerische Funktion von Herkunftsräumen legt Lotmans Modell folgende Schlussfolgerung nahe: Herkunftsräume werden für die Handlung überhaupt erst dann bedeutsam, wenn eine Figur ihren Herkunftsraum verlässt und/oder ihn wieder betritt.2 Demzufolge wären drei Typen von Sujet denkbar: ein Auszug aus dem Herkunftsraum ohne Rückkehr in denselben; das Verlassen des Herkunftsraums mit anschließender Rückkehr; oder die Heimkehr in den Herkunftsraum nach vorheriger Abwesenheit (wobei der Aufbruch aus dem Herkunftsraum selbst nicht Gegenstand der Handlung ist).3 Ausgeschlossen

1 Nach Lotman 1993, 327–347 wird jeder Teilraum mit einer bestimmten nicht-räumlichen Bedeutung versehen und stellt somit ein distinktes semantisches Feld dar. Zwar enthalten alle Texte handlungslose Passagen, in denen die räumliche Beschaffenheit der erzählten Welt beschrieben wird; Texte mit Handlung lassen auf dieser statischen Grundlage jedoch Bewegung entstehen, die Grenzen überwindet und so die erzählte Welt dynamisiert. 2 Lotman 1993, 342 erklärt: „Nach Überwindung der Grenze tritt der Handlungsträger in das ‚Gegenfeld‘ ein. Soll die Bewegung hier zum Stillstand kommen, so muß er in diesem Gegenfeld aufgehen und sich aus einer beweglichen Figur in eine unbewegliche verwandeln. Andernfalls ist das Sujet nicht abgeschlossen, und die Bewegung geht weiter.“ Im einfachsten Fall kehrt der Held schlicht in den Herkunftsraum zurück (vgl. 343) 3 Vgl. hierzu die Einleitung in diesen Band.

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wäre ein vierter Typ von Sujet, der sich voll und ganz auf den Herkunftsraum beschränkt – in dem die Figur also von Anfang bis Ende in diesem einen Teilraum verweilt. In der Tat fällt es schwer, Beispieltexte zu benennen, die in dieser Weise begrenzt sind. Folgt man Michail Bachtin, könnte es sich bei der Gattung der Idylle um einen solchen Texttyp handeln. Gemäß Bachtin bleibt die Handlung hier räumlich auf das heimatliche „Fleckchen“ Erde beschränkt, kann zeitlich jedoch beliebig weit ausgedehnt werden.4 In diesem Beitrag soll es um eine fünfte Art der Thematisierung des Herkunftsraums gehen. Bei Einsetzen der Handlung haben die Figuren den Herkunftsraum bereits verlassen. Der Übergang vom Herkunfts- in den Ankunftsraum ist zwar Voraussetzung für die Handlung, nicht aber ihr Gegenstand. Ebenso wenig kommt es zu einer Rückkehr in den Herkunftsraum, selbst wenn eine solche in Erwägung gezogen wird. Die Erzählung beschränkt sich folglich auf den Ankunftsraum – eine Grenzüberschreitung bleibt aus. Konkret sollen hier zwei anglokaribische Texte der Nachkriegszeit betrachtet werden, die London als Ankunftsraum einer Migration aus den British West Indies in Szene setzen: der Liedtext London Is the Place for Me (1948/1951) des trinidadischen Calypso-Komponisten und -Sängers Lord Kitchener sowie der Roman The Lonely Londoners (1956) des ebenfalls aus Trinidad stammenden Schriftstellers Sam Selvon. Nach Inkrafttreten des British Nationality Act 1948 genossen Einwanderer aus den Kronkolonien im Vereinigten Königreich zunächst das Recht auf freie Einreise und Aufenthalt sowie freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Als Citizens of the United Kingdom and Colonies (CUKC) waren sie laut Gesetz British subjects.5 Darüber hinaus hatte ihnen das Kolonialsystem von Kindheit an nationale Zugehörigkeitsgefühle suggeriert. England war ihnen als mother country ans Herz gelegt worden, als das Ursprungsland der eigenen Bildungssprache und Zivili-

4 Bachtin 2008, 160 charakterisiert die Idylle – seinem Konzept des Chronotopos entsprechend – über das besondere „Verhältnis der Zeit zum Raum“, das in ihr zum Ausdruck kommt: „Das Leben und seine Ereignisse sind organisch an einen Ort – das Heimatland […] – gebunden, mit ihm verwachsen. Das idyllische Leben mit seinen Ereignissen ist nicht zu trennen von diesem konkreten räumlichen Fleckchen, wo die Väter und Vorväter lebten, wo die Kinder und Enkel leben werden. Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst; sie ist mit anderen Orten, mit der übrigen Welt nicht auf wesentliche Weise verbunden. Doch die in dieser begrenzten räumlichen Mikrowelt lokalisierte Lebensreihe der Generationen kann unbegrenzt lang sein.“ Allerdings wird Bachtins Beschreibung der Idylle nicht näher mit konkreten Beispielen illustriert. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass es sich um einen Idealtypus handelt, der als Vorläufer verschiedener moderner Untergattungen des Romans entworfen wird. 5 Der Gesetzestext ist online verfügbar unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/Geo6/1112/56/enacted (27. April 2013).

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sation. Wir haben es hier also mit einem ganz spezifischen Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsraum zu tun, bei dem die Ankunft zugleich eine symbolische Rückkehr darstellt. Vielleicht ist mit dieser besonderen Konstellation die Tatsache zu erklären, dass die beiden zu untersuchenden Texte Herkunfts- und Ankunftsraum immer wieder miteinander in Berührung bringen. Es kommt zu einer Überlagerung der beiden Teilräume, was das Lotman’sche Modell einer räumlichen Opposition und Trennung an seine Grenzen führt. Die besagte Überlagerung betrifft, mit den Begriffen Katrin Dennerleins gesprochen, sowohl den „Wahrnehmungsbereich“ – also die innerhalb der Texte „wahrgenommenen räumlichen Gegebenheiten“6 – als auch „Bewegungsbereiche“, das heißt die durch mobile Figuren miteinander verknüpften „Ereignisregionen“.7 In der Wahrnehmung der Figuren werden Elemente, die mit Jamaika oder Trinidad assoziiert sind, auf London projiziert. Und auf der Ebene der Figurenhandlungen werden Londoner Schauplätze mit Praktiken erfüllt, welche die westindischen Migranten aus ihren Herkunftsländern mitgebracht haben oder die sie spontan vor Ort entwickeln – in Reaktion auf ihre sozial und ökonomisch prekäre Situation und in Abweichung von der lokalen Handlungsnorm. Während zur Beschreibung des ersteren Phänomens bereits verschiedene Ansätze vorliegen (wie das noch vorzustellende Konzept der ‚Translokalisierung‘), stellt letzteres eine größere Herausforderung dar. Mit Michel de Certeaus Theorie der Herstellung von Raum (espace) durch die kreative Nutzung vorgegebener Orte (lieus) möchte ich argumentieren, dass die Figurenhandlungen raumkonstitutiven Charakter haben. Die Texte rufen ein ‚Konzept‘ von London auf, um es auf Handlungsebene mittels räumlicher Praktiken zu transformieren. Anhand von London Is the Place for Me soll dies einleitend illustriert werden. Lord Kitcheners Calypso-Song eignet sich auch bestens für eine kurze Skizze der historischen Kontexte. Nach einem knappen Exkurs zu Michel de Certeau werde ich abschließend das komplexere Beispiel The Lonely Londoners betrachten.

6 Beide Zitate Dennerlein 2011, 160. Voraussetzung dafür, dass ein „Wahrnehmungsbereich“ vorliegt, ist nach Dennerlein 2009, 146 entweder, dass der „Wahrnehmungsakt durch Wahrnehmungsverben angezeigt wird“, oder dass er „durch das Erzählte impliziert ist“. 7 Ereignisregionen sind Dennerlein 2011, 159 zufolge Einheiten des Raums, „die durch die Lokalisation von Ereignissen geschaffen bzw. akzentuiert werden“. In ihrer Narratologie des Raumes erklärt Dennerlein 2009, 126 das Verhältnis zwischen Ereignisregion und Bewegungsbereich wie folgt: „Ist das erzählte Ereignis eine Bewegung im Raum, wie z. B. bei einer Reise oder einem Spaziergang, können mehrere räumliche Gegebenheiten durch dieses Ereignis zu einer Einheit zusammengefasst werden und eine gemeinsame Ereignisregion ausbilden. Ich möchte in diesen Fällen von ‚Bewegungsbereichen‘ sprechen.“

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2 London Is the Place for Me Am 22. Juni 1948 läuft die Empire Windrush, ein ehemaliger Truppentransporter der britischen Marine, im Hafen von Tilbury ein. An Bord befinden sich 492 Migranten aus den britischen Kolonien Westindiens. Obgleich sie nicht die ersten Afrokariben sind, die ins Land kommen, und obgleich die Windrush nicht das erste Schiff ist, das größere Gruppen westindischer Migranten transportiert,8 beginnt mit diesem Ereignis „die moderne Zeitrechnung der Immigration nach Großbritannien“.9 Die meisten der Passagiere betreten nicht zum ersten Mal britischen Boden. Sie haben während des Kriegs bei der Royal Air Force gedient und wollen nun ihren Dienst wieder antreten.10 Eine zweite Gruppe ist durch eine Annonce in einer jamaikanischen Zeitung angelockt worden, die auf freie Plätze an Bord der Windrush hinwies.11 Trotz Warnungen der Kolonialverwaltung, dass die Jobaussichten für ungelernte Arbeiter in Großbritannien äußerst gering seien,12 hoffen sie auf bessere Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten als zu Hause. Eine dritte Gruppe, bestehend aus Abenteurern, nutzt die Reisemöglichkeit, um das ‚Mutterland‘ persönlich kennenzulernen.13 Zu Letzteren gehört

8 Vgl. Spencer 1997, 51–52. 9 Altmann 2005, 326. Bis heute dient der Name Windrush Generation als Sammelbezeichnung für die westindischen Einwanderer der Nachkriegszeit und den Beginn einer neuen Form der Britishness, wobei den knapp 500 Menschen an Bord der Windrush (die, rein quantitativ gesehen, nur einen kleinen Teil der Immigrationswelle ausmachten) eine primär symbolische Bedeutung zukommt. Mike und Trevor Phillips 1998, 6, selbst Nachkommen der Windrush-Generation, beschreiben diese Bedeutung wie folgt: By the time the Windrush arrived there were already black communities [in Britain] who could trace their ancestry back a couple of centuries. But on 22 June 1948 the Windrush sailed through a gateway in history, on the other side of which was the end of Empire and a wholesale reassessment of what it meant to be British. Die medial aufmerksam verfolgte Ankunft der Windrush initiiert die Epoche der sogenannten Massenimmigration – ein Begriff, der relativ zu verstehen ist. Im ersten Drittel der 1950er Jahre kommen pro Jahr etwas mehr als 2.000 Westinder ins Land. Ab 1955 erreicht die jährliche Zuwanderung das Zehnfache dessen und steigt auf über 20.000. Anfang der 1960er Jahre verdoppelt und verdreifacht sich diese Zahl wiederum (1960 sind es über 50.000 Einwanderer, 1961 über 60.000). Insgesamt siedeln sich zwischen 1952 und 1961 knapp unter 250.000 Westinder in Großbritannien an. Männliche Migranten bleiben in der Überzahl, auch wenn sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen – das 1952 noch 2:1 und 1953 sogar 3:1 beträgt – tendenziell ausgleicht. Vgl. die Tabelle „Approximate numbers of West Indian migrants entering the U.K. in substantial parties, 1952-61“ in Patterson 1963, 417. 10 Vgl. Phillips 2011. 11 Vgl. The National Archives. 12 Vgl. Jamaica Gleaner 2008. 13 Vgl. Phillips 2011.

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der Calypso-Komponist und -Sänger Lord Kitchener (alias Aldwyn Roberts), der in Trinidad und Jamaika bereits zu einiger Popularität gelangt ist, dessen eigentliche Karriere, mit Erfolgen sowohl in Großbritannien als auch und vor allem in der Karibik, jedoch noch bevorsteht. Nach Ankunft der Empire Windrush kommt ein Reporter der Pathé-Wochenschau an Deck, hält Lord Kitchener forsch ein Mikrofon vor das Gesicht und sagt: I am told that you are really the king of Calypso singers. Is that right?14 Sichtlich überrumpelt, erwidert Lord Kitchener: Yes, that is true. Der Reporter fragt weiter, ob Lord Kitchener etwas singen könne. Right now?, fragt dieser zunächst. Als professioneller Performer hat er jedoch keine Schwierigkeiten, sogleich loszulegen. Es folgt eine A-cappella-Version des Stücks London Is the Place for Me, das er auf der Überfahrt geschrieben hat. Die Instrumentalbegleitung deutet Kitchener zwischen den Strophen mit der Stimme an. Ich zitiere die vollständige Fassung des Lieds, die drei Jahre später, 1951, für das Melodisc-Label im Studio aufgenommen wird: London is the place for me, London this lovely city You can go to France or America, India, Asia or Australia But you must come back to London city Well believe me, I am speaking broad-mindedly I am glad to know my mother country I’ve been travelling to countries years ago But this is the place I wanted to know London, that’s the place for me To live in London you’re really comfortable Because the English people are very much sociable They take you here and they take you there And they make you feel like a millionaire So London, that’s the place for me At night when you have nothing to do You can take a walk down Shaftesbury Avenue Yeah, you will laugh and talk and enjoy the breeze And admire the beautiful sceneries Of London, that’s the place for me Yes, I cannot complain of the time I have spent I mean my life in London is really magnificent I have every comfort and every sport

14 Dieses und die folgenden Zitate beziehen sich auf das im Internet verfügbare Newsreel; British Pathé 1948 (meine Transkription).

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And my residence is at Hampton Court London, that’s the place for me (Kitchener 2002 [1951]; meine Transkription)

Bedenkt man die schwierige Situation karibischer Migranten im ökonomisch kriselnden Großbritannien der Nachkriegszeit, erscheint diese Ode an ein noch nicht bekanntes Mutterland auf den ersten Blick geradezu schmerzlich naiv.15 Zu bedenken ist allerdings, dass Lord Kitchener – als Calypsonier der alten Schule – in der Tradition der westafrikanischen Griots steht,16 die nicht nur als Geschichtenerzähler, sondern auch als Preissänger fungieren, deren improvisierte Loblieder genau wie ihre satirischen Lästerlieder eng an ihren jeweiligen Entstehungskontext gebunden sind. In Sweet Jamaica (1952) sollte Kitchener später einen weitaus pessimistischeren Blick auf das Schicksal westindischer Migranten in London werfen und die Perspektive eines desillusionierten Jamaikaners einnehmen, der so schnell wie möglich heimkehren will.17 In jedem seiner in England aufgenommenen Calypso-Songs präsentiert sich Kitchener in einer anderen Rolle, wobei sich in seine witzigen Klagelieder über das englische Essen, weiße Vermieterinnen und weiße Ehefrauen immer wieder sozialkritische Elemente mischen. Nichtsdestoweniger verdeutlicht London Is the Place for Me die Wirkmächtigkeit des imperialistischen Diskurses, wie sie sich unter anderem über den Schulunterricht in den Kronkolonien entfalten konnte. London, Herz und Knotenpunkt des ehemaligen britischen Empire und jetzigen Commonwealth of Nations, wird in scheinbarem Einklang mit diesem Diskurs idealisiert – zwar humorvoll und mit gezielten, komischen Übertreibungen, aber nicht so, dass man die gesamte Darstellung schlichtweg als ironisch deuten und in ihr Gegenteil umkehren könnte. Denn bei allem offenkundigen Witz bleibt das wesentliche Element der Konstruktion Englands als Mutterland erhalten: das damit vermittelte Gefühl der Geborgenheit. London, so beteuert Kitcheners lyrisches Ich, ist allen anderen Orten der Welt vorzuziehen. Die Menschen dort sind gesellig, empfangen Ankömmlinge mit offenen Armen und betätigen sich gerne als Fremdenführer. London mag zwar

15 Vgl. Dawson 2007, 2. 16 Vgl. Liverpool 2001, Kap. 6. 17 In der ersten Strophe heißt es hier: Thousands of people are asking me / How I spend my time in London city / Well, that is a question I cannot answer / I regret the day I left sweet Jamaica. Besonders beklagt wird die Rationierung von Nahrungsmitteln. Am Ende steht die allgemeine Beobachtung: Many West Indians are sorry now / They left their country and don’t know how / Some left their jobs and their family / And determined to come to London city / Well, they are crying, they now regret / No kind of employment that they can get / The city of London they have to roam / And they can’t get their passage to go back home (Beide Zitate Kitchener 2002 [1952]; meine Transkription).

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kein Eldorado sein, wo das Geld auf der Straße liegt, aber immerhin kann man sich dort fühlen wie ein Millionär, da man entsprechend behandelt wird.18 1998, fünfzig Jahre nach der berühmten Reise der Empire Windrush und zwei Jahre vor seinem Tod, erinnert sich Lord Kitchener wie folgt an die emotionalen Hintergründe der Liedkomposition. Er habe schon immer den Wunsch gehegt, the mother country kennenzulernen. Als er dann für einige Monate in einem Club in Kingston, Jamaika, als Musiker angestellt gewesen sei, habe ihn plötzlich eine Art von Heimweh befallen: I started getting a kind of homesick. It was very funny, that it was a homesick, but not homesick for Trinidad.19 Auslöser von Kitcheners Heimweh war demnach nicht seine Abwesenheit von seinem Geburtsland, Trinidad, sondern die Sehnsucht nach einem anderen, noch nicht aus eigener Anschauung bekannten Land. Gleichwohl handelte es sich bei dieser Sehnsucht um kein einfaches Fernweh, da ja das fremde Objekt des Begehrens – scheinbar paradoxerweise – ebenfalls eine Heimat darstellte. Noch deutlicher als das Lied London Is the Place for Me illustriert Kitcheners autobiographische Erzählung das Wirken des Mutterland-Mythos’, der für ihn als Bewohner einer britischen Kolonie die Rolle des Kindes vorsah. Kitchener spricht zweimal von seiner aufgeregten Vorfreude auf den Moment, in dem er mit dem Boden des Mutterlandes in Berührung kommen würde: [E]ntering England, when the boat had about four days to land in England, I get this kind of wonderful feeling that I’m going to land on the mother country, the soil of the mother country. And I started composing this song, London is the Place for Me. […] The feeling I had to know that I’m going to touch the soil of the mother country, that was the feeling I had. How can I describe? It’s just a wonderful feeling. You know how it is when a child, you hear about your mother country, and you know you’re going to touch the

18 Kitcheners Lied folgt hier dem Muster des American Dream: Als Musiker träumt sein Autor davon, vom armen Einwanderer zu einem Star aufzusteigen – ein Traum, der in Kitcheners Fall zumindest ansatzweise in Erfüllung gehen sollte, wenn auch nicht ganz mit der Opulenz seines Liedtextes. Nach seiner Ankunft in London wurde Kitchener schnell ein viel gefragter Sänger, der bisweilen in drei verschiedenen Clubs pro Abend auftrat. Unter seinen ZuhörerInnen war einmal auch Prinzessin Margaret, die angeblich 100 Platten Kitcheners gekauft haben soll, um sie zu verschenken. Aufgrund seiner Erfolge konnte Kitchener 1958 in Manchester einen eigenen Club gründen. Während seiner England-Jahre gewann er auch in seiner trinidadischen Heimat weiter an Popularität. Mit seinen Aufnahmen für Parlaphone und Melodisc landete er dort mehrere Hits. Zugleich tourte er durch die USA und Afrika, wo er in Ghana einen Calypso-Boom auslöste. 1963 verließ er England und kehrte nach Trinidad zurück, wo er bis zu seinem Lebensende als Komponist und Musiker tätig blieb und mit seinen Songs zahlreiche Wettbewerbe für sich entscheiden konnte. Vgl. die Nachrufe des Guardian (Mason 2000) und der New York Times (Pareles 2000). 19 Zitat nach Philips und Phillips 1998, 65.

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soil of the mother country, you know what feeling is that? And I can’t describe it. That’s why I compose the song. Imagine how I felt. Here’s where I want to be, London.20

Der Mythos vom Mutterland hält das koloniale Subjekt dazu an, eine affektive Bindung zu England zu entwickeln. Selbst für den, der auf einer karibischen Insel aufgewachsen und sozialisiert worden ist, soll immer noch eine zweite Heimat existieren: das Ursprungsland der eigenen englischen Sprache und Bildung, das als ein symbolischer Herkunftsort gedacht wird. Wer aus der kolonialen Peripherie in dieses Land reist, kehrt bildlich gesprochen in den Schoß der Mutter zurück.21 So könnte zu erklären sein, warum Kitcheners Liedtext nicht einfach seine eigene autobiographische Erfahrung artikuliert – seine hoffnungsvollen Erwartungen während der Schifffahrt auf dem Atlantik, vor der Ankunft in England –, sondern die Perspektive eines Einwanderers wählt, der bereits in London lebt. Als Neu-Londoner versichert der Sprecher seinen Zuhörern, dass sie, egal wohin sie auch reisten, nach London zurückkehren müssten, so wie er selbst nach diversen Reisen in der Vergangenheit erst in London an seinem Ziel angekommen sei. Dadurch, dass sich Kitchener ein lyrisches Ich vorstellt, das bereits über reichliche Erfahrung mit London und seinen weißen Einwohnern verfügt (während Kitchener selbst noch nie dort gewesen war), erhält seine Identifikation mit der Stadt einen imaginären Charakter.22 Die Referenzen auf reale Orte unterstreichen diesen imaginären Charakter zusätzlich. Wie die Wohlstandsfantasien in der letzten Strophe weisen sie das Beschriebene als eine Wunschvorstellung aus. So ist mit Hampton Court – wo der Sprecher zu wohnen vorgibt – Hampton Court Palace im noblen Londoner Vorort Richmond upon Thames gemeint, die einstige Lieblingsresidenz Königs Heinrich VIII. Der Hinweis auf ungezwungenes nächtliches Flanieren entlang der Theaterstraße Shaftesbury Avenue wirkt nur geringfügig weniger realitätsfern, zumal direkt in der nächsten Zeile von einer angenehmen Brise die Rede ist, die eher an eine Meerlandschaft als an den berüchtigten Londoner Smog denken lässt. Hier werden offensichtlich Möglichkeiten und

20 Zitat nach Phillips und Phillips 1998, 66. Eine weitaus weniger sentimentale Version dieser Geschichte hatte Lord Kitchener in einem früheren Interview präsentiert (demzufolge er eigentlich in die USA emigrieren wollte und er erst dann nach England reiste, als sich sein ursprünglicher Plan nicht realisieren ließ), weshalb Simon Featherstone 2005, 50 anmerkt, Kitchener spreche hier mit der „Maske“ des Calypso-Sängers. 21 Bill Schwarz 2002, 91 kommentiert die Passage mit den Worten: [I]t’s hard to discount the psychic presence in these memories of child and mother, such that arrival in England signifies a deeper emotional return to something indescribably primordial. 22 Vgl. Schwarz 2002, 92.

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Gegebenheiten der trinidadischen Heimat auf London projiziert, so wie auch der Hinweis auf beautiful sceneries viel besser auf eine Karibikinsel passt, selbst wenn das von Kitchener entworfene Stadtbild auf Postkartenmotive beschränkt bleibt (und der historischen Realität einer vom Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogenen Stadt weit entrückt ist). In ähnlicher Weise kann die den Engländern zugeschriebene Eigenschaft der Gastfreundschaft als Übertragung westindischer Merkmale auf London gedeutet werden. Jahan Ramazani spricht von einer ‚Kreolisierung‘ Englands in Kitcheners Lied, die auf linguistischer und musikalischer Ebene durch dezidiert westindische Elemente unterstrichen werde (wie etwa die Verwendung von Dialektformen, die nicht dem Standardsprachgebrauch entsprechen).23 Ramazani sieht hier, wie auch in anderen London-Texten afrikanisch- oder afrokaribisch-stämmiger LyrikerInnen, eine Technik der ‚Translokalisierung‘ am Werk: Though often ‘located’ in London, their poems are ‘translocal’, in that they see the metropolis afresh through the lenses of non-metropolitan history, language and power, and shuttle across and unsettle imperial hierarchies of centre and periphery, motherland and colonial offspring, North and South. In short, they dislocate the local into translocation.24

23 Vgl. Ramazani 2007, 205. 24 Ramazani 2007, 202. Einen ähnlichen Ansatz vertritt John Clement Ball, der allerdings statt ‚Translokalisierung‘ den Begriff ‚Transnationalisierung‘ wählt. Balls Untersuchungsgegenstand sind Prosatexte. In diesen beobachtet Ball 2004, 10 genau das, was Ramazani im obigen Zitat über Lyrik sagt; London-Erzählungen von Migranten oder ihren Nachfahren stellten Verbindungen her zwischen der britischen Metropole und den Herkunftsländern der Protagonisten respektive ihrer Eltern: The metropolitan city becomes textually reinscribed through an Indian or Canadian sensibility; it becomes newly interlinked with Trinidadian or Nigerian spaces and lived realities to which, as imperial capital, it has long been related, but at an oceanic distance. In many postcolonial narratives of London, that distance is figuratively and conceptually reduced, even eliminated. London […] becomes overlaid with and complexly linked to faraway landscapes and cultures. Mit dem Begriff der Transnationalisierung möchte Ball der historischen Tatsache Rechnung tragen, dass die Länder, die das britische Empire einst territorial umfasste, infolge der Immigration aus den Kolonien heute Bestandteil des ehemaligen imperialen Zentrums geworden seien (vgl. 4). Auf diese Weise werde London dezentriert. Und genau eine solche Dezentrierung lasse sich auch in postkolonialen Erzähltexten nachweisen, die London in Bezug auf andere kulturelle Horizonte betrachteten oder die Stadt in die Peripherie rückten – als das Ziel einer Migration, die die Richtung der kolonialen Expansion umkehre. Der Begriff der Transnationalisierung hat allerdings den Nachteil, dass er sich auf die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen zu beziehen scheint. Staatsangehörigkeit war aber ja im Falle Großbritanniens zunächst gar kein Differenzmerkmal zwischen kolonialen Migranten und Einheimischen.

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Während Ramazanis Idee einer kreolisierenden Repräsentation Londons unmittelbar einleuchtet – da sich mit ‚Kreolisierung‘ inhaltliche Aspekte ebenso erfassen lassen wie sprachliche –, bedürfen die Konzepte der ‚Dis-‘ und der ‚Translokalisation‘ einer Erläuterung und Differenzierung. Es ist in Kitcheners Liedtext keineswegs der Fall, dass bestimmte Merkmale ganz von ihren eigentlichen Orten losgelöst werden. Zwar weisen die Referenzen auf Londoner Schauplätze immer über die Grenzen der britischen Hauptstadt auf eine westindische Erfahrungswelt hinaus; doch bleiben die britischen und karibischen Elemente nichtsdestoweniger als solche erkennbar. Der Text ist ‚translokal‘ nur in dem Sinne, dass er zwei räumliche und kulturelle Kontexte miteinander in Beziehung setzt. Man könnte die dabei verwendete Technik auch als Überblendung bezeichnen. Diese Verbindung geographischer Orte findet sowohl auf einer konkret räumlichen Ebene statt (London wird mit Elementen eines karibischen Meeresidylls versehen) als auch auf der Ebene der kulturellen und affektiven Semantisierung der beschriebenen Räume als Heimat. Die neue Heimat London wird mit dem karibischen Herkunftsraum (der ersten Heimat) überblendet; beide Bilder vermischen sich, sind aber dennoch unterscheidbar. Mit der so erzielten Translokalisierung einher geht laut Ramazani eine Inversion der gewohnten hierarchischen Ordnung.25 Dieser Aspekt hängt eng mit der karnevalesken Natur des Calypso zusammen, der aus der Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus in der Karibik hervorgegangen ist. John Cowley erläutert: In many respects [calypso] grew from the hierarchical structure of the Carnival bands which, in masquerade, adopted the European nomenclature of Kings, Queens, Lords, Ladies and other measures of social status. For the black maskers, in a world turned upside down, these served to satirize the symbols of European power as well as to establish an African-American authority over them.26

In dem Lied London Is the Place for Me setzt sich dieses Rollenspiel fort. Lord Kitchener porträtiert einen westindischen Migranten mit einem geradezu königlichen sozialen Status, der im Zentrum des Commonwealth einen Palast bewohnt

25 Vgl. Ramazani 2007, 205. 26 Cowley 1990, 59. Eine Erinnerung an diesen Zusammenhang sind die von Calypso-Sängern gewählten Pseudonyme. Als Sohn eines Schmieds in der britischen Kolonie Trinidad geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, eignete sich Aldwyn Roberts den Namen des militärischen Helden und späteren britischen Kriegsministers Herbert Kitchener (1850–1916) an, der wie kaum eine andere historische Persönlichkeit die Phase des Hochimperialismus verkörpert – und der in Ägypten, im Sudan, im heutigen Südafrika, in Indien und schließlich wieder in Ägypten entscheidend an der Erhaltung und Konsolidierung imperialer Macht beteiligt war.

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– einen Palast allerdings, der mit einer längst vergangenen historischen Epoche verbunden ist (dieses Element von Kitcheners London-Bild entstammt unverkennbar dem Geschichtsunterricht).27 Doch auch jenseits des karnevalesken Schlussbilds kommt in Kitcheners Lied ein powerful feeling of agency28 zum Ausdruck. Die fröhliche Ansage im Refrain, dass London genau der richtige Ort für den Sprecher sei, bedeutet bei genauerer Betrachtung nicht, dass sich das lyrische Ich gleichsam passiv den Gegebenheiten anpasst und sich mit dem Status Quo zufrieden gibt (so, wie London ist, ist es gerade recht, und der Sprecher fügt sich ein). Vielmehr signalisiert die Formulierung the place for me eine symbolische Aneignung, ein selbstbewusstes Beharren auf dem Anspruch, diesen Ort aktiv, nach eigenem Gutdünken zu nutzen und zu gestalten.

3 Theoretisches Intermezzo: Michel de Certeaus Gehen in der Stadt Um diese ‚Aneignung‘ Londons mittels (vorgestellter) räumlicher Praktiken zu beschreiben, bietet sich ein theoretischer Ansatz an, der außerhalb der Literaturwissenschaften entstanden ist: das disziplinär schwer einzuordnende Buch L’invention du quotidien. 1. Arts de faire von Michel de Certeau.29 Certeaus mit Abstand bekannteste Arbeit richtet sich gegen ein Verständnis von Konsum, demzufolge sich Verbraucher rein passiv gegenüber den von ihnen konsumierten Produkten verhalten und sich durch das Erfüllen ihrer Rolle als Konsumenten

27 In Wahrheit gehörte das Finden einer Unterkunft zu den größten Herausforderungen für Migranten. Von den 492 Menschen, die an Bord der Empire Windrush anreisten, mussten 230 zunächst notdürftig in einem Luftschutzbunker unterhalb der U-Bahnstation Clapham Common untergebracht werden. Das von hier aus gesehen nächste Arbeitsamt lag in Brixton, einem vom Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen, teilweise im Verfall begriffenen Stadtteil, weshalb sich dort die meisten der im Bunker notuntergebrachten Westinder niederließen. Vgl. The National Archives. 28 Dawson 2007, 2. 29 Michel de Certeau war ein studierter Altphilologe und Philosoph. Nachdem er dem Jesuitenorden beigetreten war, promovierte er im Fach Theologie. Später wandte er sich unter anderem der Psychoanalyse zu. Certeau publizierte Bücher zur frühneuzeitlichen Mystik, zur Theorie des Glaubens und zum Schreiben der Geschichte. Unter dem Eindruck der Studentenbewegung des Jahres 1968 beschäftigte er sich darüber hinaus mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen und engagierte sich in der französischen Kulturpolitik. In diesem Kontext entstand Die Kunst des Handelns. Einen kurzen Überblick über Certeaus Werkbiographie und die internationale Rezeption seiner Arbeiten bietet Füssel 2007, hier 7–10.

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dem Produktionssystem unterwerfen. Zwar besteht auch für Certeau kein Zweifel daran, dass Verbraucher den „Status von Beherrschten“ (KdH, 12)30 haben. Dies aber bedeutet in seinen Augen nicht, dass sie „passiv oder angepaßt sind“ (KdH, 12). Vielmehr bietet sich ihnen ein gewisser Freiraum. Sie können die von ihnen im Alltag gebrauchten Produkte auf eine Art und Weise nutzen, die von der Produktionsseite aus zumindest nicht in allen Einzelheiten vorhersehbar ist und auch nicht kontrolliert werden kann. So gesehen kommt ihnen ein weitaus aktiverer und kreativerer Part zu, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Certeau definiert Konsum als eine „andere Produktion“, die sich „nicht durch eigene Produkte, sondern in der Umgangsweise mit den Produkten [äußert], die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden“ (beide Zitate KdH, 13). Konsumenten werden zu Produzenten zweiter Ordnung, so wie Leser bei der Lektüre eines Romans – dem vermeintlichen „Höhepunkt von Passivität“ (KdH, 26) – die erzählte Welt aktiv gestalten und sich in sie hineindenken: „An die Stelle des Autors tritt eine völlig andere Welt (die des Lesers)“ (KdH, 27).31 Die im vorliegenden Zusammenhang bedeutendste Passage aus Certeaus Buch ist das in vielen Anthologien wiederabgedruckte und vor allem im englischen Sprachraum breit rezipierte Kapitel „Gehen in der Stadt“ (KdH, 179–208), in dem Certeau sein Modell des aktiven Konsums auf die Nutzung von Großstädten anwendet. Die Verbraucher, die sich durch die Stadt bewegen, konsumieren demzufolge ein Produkt von Stadtplanern, wobei ihre Bewegungen in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Gleichwohl sind ihre individuellen Routen durch die Stadt nicht gänzlich vorhersehbar oder gar planbar. Denn selbst wenn zutrifft, daß die räumliche Ordnung eine Reihe von Möglichkeiten (z. B. durch einen Platz, auf dem man sich bewegen kann) oder von Verboten (z.  B. durch eine Mauer, die einen am Weitergehen hindert) enthält, dann aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. […] Aber er verändert sie auch und erfindet neue Möglichkeiten, da er durch Abkürzungen, Umwege und Improvisationen auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen kann. […] Und wenn er einerseits nur einige der von der baulichen Ordnung festgelegten Möglichkeiten ausschöpft (er geht nur hier und nicht dort lang), so vergrößert er andererseits die Zahl der Möglichkeiten (indem er zum Beispiel Abkürzungen und Umwege erfindet) und der Verbote (er verbietet sich zum Beispiel erlaubte oder vorgeschriebene Wege). Er wählt also aus. (KdH, 190)

30 Hier und im Folgenden wird aus Certeaus Kunst des Handelns (Sigle KdH) mit Seitenzahlen direkt im Text zitiert. 31 Mit einer gleichermaßen frappierenden wie plausiblen Metapher erklärt Certeau: „Durch diese Mutation wird der Text bewohnbar wie eine Mietwohnung.“ (KdH, 27).

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Wesentlich für Certeaus Modell sind dessen Anleihen bei der Sprechakttheorie. Das Gehen des Einzelnen entlang individueller Routen verhält sich laut Certeau zur Stadt wie ein Sprechakt zum Sprachsystem. Selbst wenn ein Sprechakt den Regeln des Sprachsystems gehorcht, entzieht er sich doch zu einem gewissen Grad dessen Kontrolle. Denn die Bedeutung der konkreten Äußerung ergibt sich nicht allein aus einer korrekten Verwendung von Ausdruck und Grammatik. Vielmehr hängt sie von verschiedenen situationsspezifischen Faktoren ab – dem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Kontext der Äußerung, der Art und Weise, wie sie vollzogen wird, sowie möglichen Übereinkünften zwischen den beteiligten Gesprächspartnern. Certeau begreift den Sprechakt als eine Aneignung bzw. Übernahme der Sprache durch den Sprecher (vgl. KdH, 13–14). In ähnlicher Weise, schreibt er, könne jeder individuelle Akt des Gehens in der Stadt als ein „Prozeß der Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger“ (KdH, 189) verstanden werden. Dieser Prozess ist in seinem konkreten, individuellen Verlauf nicht antizipierbar. Systematisch geplant werden kann nur die auf Karten wiedergegebene Struktur einer Stadt, nicht deren Nutzung. Die kartographisch repräsentierbare Stadt nennt Certeau die „Konzept-Stadt“ (KdH, 185). Sie ist ein starres Gebilde, das vor dem Betrachter liegt wie ein Text, „ein ‚theoretisches‘ […] Trugbild […], das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustandekommt“ (KdH, 181). Nach Certeaus Definition wird ein Ort (lieu), an dem alles seinen festen Platz hat, erst durch das Element der Bewegung und den damit verbundenen Faktor der Zeitlichkeit zu einem Raum (espace):32 [L]’espace est un lieu pratiqué.33 Und dementsprechend ist auch der Raum der Stadt erfüllt mit den Bewegungen der Fußgänger, die sich zwar am städtischen Text orientieren, dabei aber ihrerseits „‚Schriften‘“ (KdH, 182) – von Certeau in Anführungszeichen gesetzt – erzeugen: Kollektiv bringen sie eine „metaphorische […] Stadt“ (KdH, 182) hervor. Die „vielfältige Geschichte“ (KdH, 182), die sich aus ihren Bewegungen ergibt, bleibt aus Sicht der Konzept-Stadt unsichtbar, da der Akt des Gehens nicht kartographierbar ist. Wie Certeau ausführt, können Bewegungen auf Karten nur als Linien dargestellt werden, und dies auf Kosten der Zeitlichkeit.34

32 Vgl. dazu den französischen Originaltext: Certeau 1990 [1980], 172–173. 33 Certeau 1990 [1980], 173 (Hervorhebung bereits im Original). 34 In eine Karte übertragbar ist laut Certeau bloß der räumliche Verlauf der Bewegung, also die Strecke, die dabei zurückgelegt wird – nicht aber der körperliche Vollzug dieser Bewegung: „Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. […] Es wird also nur noch ein Überrest wahrnehmbar, der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird. Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat.“ (188–189).

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Im Gegensatz dazu – so lässt sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht ergänzen – vermögen es literarische Erzählungen durchaus, die räumlichen Geschichten von Fußgängern nachvollziehbar zu machen. Denn im Gegensatz zu Karten sind sie Texte mit Handlung, deren Figuren beweglich sind. Die Dimension der Zeit geht dabei nicht verloren. Folgerichtig berufen sich John Clement Ball und John McLeod in neueren Studien auf Certeau, um zu erklären, wie literarische Texte die Nutzung und Verwandlung Londons durch koloniale Migranten repräsentieren: As ex-colonials come to dwell in London and walk its streets, they appropriate it and reterritorialize it. […] The London that once imposed its power and self-constructions on them can now be reinvented by them.35 [R]epresentations of postcolonial London bear witness to modes of authority which attempt to trap London’s newcomers and their families in a particular mapping of the city (if not erasing them from the map entirely), regulating their movements and placing their activities under surveillance. But these texts primarily give expression to the improvizational, creative and resistant tactics of those who make possible new subaltern spaces in the city. Postcolonial London, then, stages the contest between the authoritarian, regulated and policed ‘place’ of the city and the insubordinate, contingent and ultimately creative innovations of ‘space’.36

Certeaus Ansatz wird immer wieder unter zwei Schlagworten zusammengefasst: ‚Aneignung‘ und ‚Widerstand‘37 – so auch in den hier zitierten Passagen. Während der Begriff der ‚Aneignung‘ in der Tat mehrfach von Certeau verwendet wird (wie oben gesehen), handelt es sich beim Begriff des ‚Widerstands‘ allerdings eher um eine bestimmte Auslegung seines Modells. Diese Auslegung kann sich auf Certeaus Konzept einer „kriegswissenschaftlichen Analyse der Kultur“ (KdH, 20) stützen. An der betreffenden Stelle spricht der Autor von einer „Politisierung der Alltagspraktiken“ durch die trickreichen Versuche „des Schwachen, Nutzen aus dem Starken zu ziehen“ (KdH, 20). Die Frage danach, wie der Schwache an Stärke gewinnen und das System selbst verändert werden könnte, bleibt bei Certeau jedoch aus. Nach seiner Theorie des Verbraucherverhaltens gerät das Produktionssystem selbst nicht in Gefahr. Und auch das so präzisierte Konzept des Widerstands impliziert keineswegs, dass alle Aktivitäten von Verbrauchern gleichermaßen politisiert und produktiv sind.38 Im Kapitel „Gehen in der Stadt“ heißt es etwa: „Das Gehen

35 Ball 2004, 9. 36 McLeod 2004, 9–10. 37 Vgl. z. B. Krönert 2009. 38 Wie Kabesh 2011, 4 in einem jüngeren Aufsatz betont, sollte man der Versuchung widerstehen, Alltagshandlungen in diesem Sinne zu homogenisieren. In ihrem Fazit schreibt sie: Certeau’s theory of tactics shows that everyday practices […] are […] necessarily multivocal in nature; they

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bejaht, verdächtigt, riskiert, überschreitet, respektiert etc. die Wege, die es ‚ausspricht‘“ (KdH, 192), womit Certeau – wenn auch eher nebenbei und ohne großen Nachdruck – die Möglichkeit mit einschließt, dass Verbraucher die vorgegebenen Muster reproduzieren (und sich sogar affirmativ zu ihnen verhalten). Der oben diskutierte Calypso-Song Lord Kitcheners zeigt diese Ambiguität von Alltagspraktiken in aller Deutlichkeit. Einerseits reproduziert der Liedtext ein in den Kolonien etabliertes Bild von London (als ‚Konzept-Stadt‘): London erscheint als vorgegebener, durch geschichtsträchtige Gebäude und Straßen definierter Ort. Andererseits aber fungiert die Stadt als offener Raum, der dem lyrischen Ich frei zur Verfügung steht und der ihm genauso gehört wie allen anderen Londonern. Indem er die Metropole in idiosynkratischer Weise für seine eigenen Praktiken und Gewohnheiten gebraucht, hinterlässt der Sprecher dort gleichsam seine Signatur. Und selbiges gilt für Kitcheners Lied, das in seiner Studio-Version mit dem Glockenschlag des Big-Ben-Uhrturms beginnt und endet. Zwischen dieser vertrauten, von einem Klavier intonierten Melodie ertönen die für europäische Ohren seinerzeit unvertrauten Klänge des trinidadischen Calypso. Sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene lässt sich somit eine Certeau’sche ‚Nutzung‘ von London beobachten, die ein anderes, ‚metaphorisches‘ London produziert, welches westindisch geprägt ist. Mit Blick auf die spielerischen Verweise auf Shaftesbury Avenue und Hampton Court sowie das musikalische Zitat der Big-Ben-Melodie formuliert John McLeod treffend: There is a sense throughout that Lord Kitchener is having fun with London signatures, its proper names and its famous sounds.39 Bekannte Londoner Wahrzeichen werden über ihre Namen oder Klänge aufgerufen und zugleich in einen neuen, überraschenden Zusammenhang gebracht. Just dieses Element spielt auch in Sam Selvons 1956 erschienenem Roman The Lonely Londoners eine zentrale Rolle, weshalb mir Certeaus Ansatz im vorliegenden Zusammenhang ausgesprochen produktiv erscheint.

can speak against existing power systems, but can also speak to and in support of such systems (13–14). Dem sollte noch hinzugefügt werden, dass sich die Anwendung des Certeau’schen Modells auf eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern – im vorliegenden Fall: koloniale und postkoloniale Migranten – in entscheidender Weise von Certeau entfernt, dem es in ganz allgemeiner Weise um die „Vorgehensweisen und Handlungsmuster“ (KdH, 11) von Verbrauchern geht. 39 McLeod 2004, 29.

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4 The Lonely Londoners Sam Selvon wurde 1923 in Trinidad als Sohn christlicher Einwanderer aus Indien geboren. Von 1940 bis Kriegsende arbeitete er als Funker für die Royal Naval Reserve, ab 1945 war er als Journalist für den Trinidad Guardian tätig und schrieb nebenbei erste Kurzgeschichten. Von 1950 bis 1978 lebte er in London.40 Von seinen dort entstandenen Romanen spielen etwas mehr als die Hälfte in Trinidad (angefangen mit A Brighter Sun [1952]); die anderen handeln von westindischen Migranten in England: The Lonely Londoners (1956), The Housing Lark (1965) und Moses Ascending (1975).41 In letztgenanntem Roman hat Moses Aloetta, die Hauptfigur aus The Lonely Londoners, ihren zweiten von insgesamt drei Auftritten. Nachdem Selvon England in Richtung Kanada verlassen hatte, vervollständigte er mit Moses Migrating (1983) die Trilogie. Selvons heutiger Status als Klassiker der neuen Literaturen in englischer Sprache beruht vor allem auf The Lonely Londoners. Die Entscheidung des Autors, die Erfahrungen der Windrush-Generation in „modifizierter trinidadischer Mundart“42 zu fiktionalisieren – außer den Figuren spricht auch die Erzählstimme in einem kreolisierten Englisch –, hatte seinerzeit Pioniercharakter.43 Durch die Verwendung einer (wenn auch abgewandelten) trinidadischen Dialektform markiert Selvon die kulturelle Differenz seiner eigenen Erzählperspektive auf London gegenüber derjenigen seiner kanonischen Vorläufer.44 Beispielhaft dafür ist eine Passage, in der ein Migrant mit dem Spitznamen „Sir Galahad“ erstmals auf eigene Faust in London unterwegs ist und er sich an der U-Bahnstation Queensway plötzlich einsam und deplatziert vorkommt. Alle gehen eilig ihren Geschäften nach, nur er hat keine Arbeit, keine Wohnung, kein Geld und auch keinen Freund in dieser fremden Stadt:

40 Zur Biographie Selvons vgl. Patterson 1963. 41 Der doppelte räumliche Fokus von Selvons Romanen spiegelt sich auch in der Kurzgeschichtensammlung Ways of Sunlight wider (1957), deren 19 Texte nach ihrem jeweiligen Schauplatz – Trinidad oder London – aufgeteilt sind. 42 Mit diesen Worten – a modified Trinidadian dialect bzw. a modified dialect which could be understood by European readers – hat Sam Selvon (zit. n. Fabre 1988, 67, 66) die von seinem Erzähler gebrauchte, abgewandelte Dialektform beschrieben. 43 Eine Selvon-Monographie der 1990er Jahre geht sogar so weit, Selvon als Schöpfer einer neuen literarischen Welt bzw., genauer, als Erfinder eines „schwarzen London“ zu identifizieren: In his stories, but more particularly in The Lonely Londoners, Selvon accomplishes that rare thing: he creates a new world whose byways would be mapped by writers that followed. Selvon, in fact, invents a black London whose existence had been ignored, distorted, or even erased by the cultural establishment as well as by society at large (Looker 1996, 60). 44 Vgl. Looker 1996, 75.

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On top of that, is one of those winter mornings when a kind of fog hovering around. The sun shining, but Galahad never see the sun look how it looking now. No heat from it, it just there in the sky like a force-ripe orange. When he look up, the colour of the sky so desolate it make him more frighten. It have a kind of melancholy aspect about the morning that making him shiver. (LL, 23)45

Der von Selvon wiederholt aufgerufene Topos vom Londoner Nebel – dessen bisherige literarische Karriere von Charles Dickens bis T. S. Eliot reichte – evoziert eine vertraute Szene, die dann jedoch von dem überraschenden Bild einer force-ripe orange im trüben Londoner Winterhimmel verfremdet wird. Der Ausdruck force-ripe ist westindischen Ursprungs und bezieht sich auf Früchte, deren Reifung nach dem Pflücken künstlich beschleunigt wird.46 Wie in London Is the Place for Me haben wir es mit dem Phänomen der Translokalisierung zu tun. Zwei geographische Räume werden übereinander geblendet, da sich das wahrnehmende Bewusstsein an den Erfahrungen der karibischen Heimat orientiert und London dementsprechend mit fremden Elementen anreichert.47 Mark Looker betont, dass solche Beschreibungen sowohl den etablierten literarischen Bilderkanon als auch unseren Blick auf London selbst verändern.48 Auch in anderer Hinsicht entfernt sich der Roman von früherer LondonLiteratur. Er verwendet eine episodisch-assoziative Erzählweise und verzichtet auf eine Einteilung in Kapitel. Eine zeitliche Struktur wird nur andeutungsweise sichtbar durch die Geschichten verschiedener Figuren, die auf den ersten Seiten in London eintreffen und aus deren Leben später weitere Episoden berichtet werden. Dazwischen eingestreut sind anekdotische Erzählungen, die teilweise in der Vergangenheit spielen, als der Protagonist Moses selbst neu in der Stadt war. Sie handeln von diversen weiteren Migranten aus westindischen oder afrikanischen Ländern. Trotz der wiederholten Wechsel zwischen Figuren und Zeitebenen – die jeweils nur mit zwei Leerzeilen markiert werden – kristallisieren sich rasch durchgängige Motive heraus. Das sind zum einen alltägliche Begegnungen mit Rassismus und Diskriminierung, etwa auf dem Arbeitsmarkt, zum anderen gesellige Zusammenkünfte im sommerlichen Hyde Park, bei einem Tanzabend mit einer Calypso-Band oder in der Einzimmerwohnung von Moses, in der jeden

45 Hier und im Folgenden wird aus The Lonely Londoners (Sigle LL) mit Seitenzahl direkt im Text zitiert. 46 Vgl. Allsopp 2003 [1996], 240. 47 Vgl. Looker 1996, 65. 48 Looker 1996, 76 schreibt: The introduction of figures that compare the sun to ‘a force-ripe orange’ […] re-situates and reterritorializes the literary as well as the material landscape.

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Sonntag neue Anekdoten und Erinnerungen an die karibische Heimat ausgetauscht werden. Ein weiteres zentrales Thema ist die ‚Eroberung‘ weißer Frauen. Zusammengehalten werden die Episoden allein durch Moses, der mit allen im Roman auftretenden Figuren bekannt ist. Bei Einsetzen der Handlung lebt er bereits seit neun bis zehn Jahren in England. Als man about London (LL, 53) wird er immer wieder gebeten, neu eingereiste Migranten wie den zu Beginn am Bahnhof Waterloo eintreffenden Henry Oliver zu unterstützen. Der Rolle des liaison officer (LL, 2) ist Moses eigentlich überdrüssig. Doch er erinnert sich an seine eigenen Anfangsschwierigkeiten, lange bevor er zum mister London (LL, 20) avancierte. Und so ‚führt‘ er – seinem alttestamentarischen Vornamen entsprechend – weiterhin andere Westinder durch die ihnen feindlich gesinnte und unwirtliche Stadt, indem er ihnen hilft, Unterkunft und Beschäftigung zu finden.49 Henry Oliver ist als Kontrastfigur zu Moses angelegt. Sein Spitzname „Sir Galahad“ verweist auf den Reinen Ritter aus König Artus’ Tafelrunde. Anders als Moses, der desillusionierte veteran (LL, 13), schaut der Neuankömmling zuversichtlich in die Zukunft und kann sich, nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten, für sein Londoner Leben begeistern. Seine Londoner ‚Abenteuer‘ tritt Galahad ohne jegliches Gepäck, ohne geeignete Winterkleidung und auch sonst gänzlich unvorbereitet an. Where you luggage?, fragt Moses ungläubig, als er ihn am Bahnhof abholt. What luggage? I ain’t have any (beide Zitate LL, 13), entgegnet Galahad, dessen Antwort andeutet, dass er im doppelten Sinne unbeschwert nach London gekommen ist – ohne sich mit Dingen aus der Heimat zu belasten, bereit dazu, sich neu einzukleiden und auch sonst neu zu erfinden.50 Dieses erste Zusammentreffen zwischen Moses und Galahad leitet die Haupthandlung ein, die immer wieder durch Anekdoten – bzw. „Balladen“, wie es im Roman heißt – unterbrochen und fragmentiert wird, welche in ihrer narrativen Struktur Calypso-Texten ähneln.51 Die männlich codierte Erzählstimme berichtet durchgehend in der dritten Person und scheint mit keinem der im Roman auftretenden Charaktere identisch

49 Zu dieser Parallele merkt Joseph 1992, 111 an: [T]he Biblical Moses was in exile all his life and called himself a foreigner. He was the leader of his people in their travels from one land to another, but repeatedly tried to excuse himself from leadership although God demanded it from him. Selvon’s Moses becomes as weary of his role, and as saddened by the condition of his people, as the Biblical Moses was. 50 Mark Looker 1996, 64 weist ebenfalls auf die doppelte Bedeutung von luggage hin: [Galahad] carries no baggage, physical or emotional. 51 Margaret Paul Joseph 1992, 89 schreibt dazu: The description of the characters, the nicknaming given to them, and the incidents in which they are involved are reminiscent of the calypso […]. So is the construction of the narrator’s stories. He begins with a name, tells us something about the person, and then narrates an anecdote relating to him.

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zu sein. Dabei hat der Erzähler jedoch eindeutig die Perspektive eines Insiders. Nicht nur beherrscht er das mit Slang- Ausdrücken durchsetzte, kreolisierte Englisch der boys – wie die Gruppe der im Roman auftretenden Migranten tituliert wird –, sondern er gibt auch die Anekdoten so wieder, als habe er sie selbst gehört und als seien ihm die darin auftretenden Figuren persönlich bekannt. Auf diese Weise reduziert Selvon die Distanz zwischen Erzählstimme und Protagonisten. Manchmal geht diese Annäherung so weit, dass die Perspektive des zwar nicht im Roman auftretenden, aber doch figural konzipierten Erzählers von einer internen Fokalisierung abgelöst zu werden scheint. Der Erzähler ist dann so nah an seinen Figuren, dass sich seine Stimme mit ihren vermischt. Beispielhaft dafür ist die Episode, in der sich Galahad in London zu orientieren lernt und er Lieblingsrouten und -orte für sich entdeckt. Galahad ist so stolz darauf, inmitten von Londons weltberühmten Sehenswürdigkeiten zu leben, dass er in Konversationen stets deren Namen aufführt: [Galahad] had a way, whenever he talking with the boys, he using the names of the places like they mean big romance, as if to say “I was in Oxford Street” have more prestige that if he just say “was up the road.” And once he had a date with a frauline, and he make a big point of saying he was meeting she by Charing Cross, because just to say “Charing Cross” have a lot of romance in it, he remember it had a song called “Roseann of Charing Cross”. […] Jesus Christ, when he say “Charing Cross”, when he realise that is he, Sir Galahad going there, near the place that everybody in the world know about (it even have the name in the dictionary) he feel like a new man. (LL, 71–72)

Der erste Absatz beobachtet Galahad von außen und belustigt sich, wenn auch wohlwollend, an seinem Verhalten – wie dies für Selvons anekdotische Erzählweise charakteristisch ist. Im zweiten Absatz befinden wir uns dann jedoch in Galahads Bewusstsein, Galahad fungiert als Reflektor. Der Ausruf „Jesus Christ“ kann als seine eigene, innere Stimme gelesen werden. Galahads gefühlte Wiedergeburt als ein ‚neuer Mensch‘ bzw. ‚neuer Mann‘ resultiert aus seinem Verhältnis zu seiner neuen Umgebung: Charing Cross, dessen Name im Titel eines Volkslieds erscheint und sogar in Wörterbüchern aufgeführt wird, kann er nun persönlich aufsuchen, genauso wie die Waterloo Bridge, die ihm aus dem gleichnamigen Film mit Robert Taylor bekannt ist (vgl. LL, 73). Mehr noch, er kann diese Orte für seine eigene Freizeitgestaltung nutzen und sich dort mit seinem selbstverdienten Geld vergnügen, in Begleitung einer weißen Frau: This was something he uses to dream about in Trinidad (LL, 79). Der Hinweis auf Lieder und Filme deutet an, dass sich Galahad zumindest teilweise in einem imaginären London bewegt, wo sich seine Erfahrungen mit Versatzstücken aus Schulunterricht, Folklore und Popkultur vermengen.

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Ähnlich wie in London Is the Place for Me verdeutlicht Galahads Euphorie die Wirkmächtigkeit der kolonialen Bildung. London und seine Wahrzeichen sind für ihn derart mit „Romantik“ und „Prestige“ aufgeladen, dass er sich mit ihren Namen schmückt, um an diesem Prestige teilhaben zu können. Seine Anwesenheit in London, so meint er, wertet ihn auf. Das zeigt, dass die Transformation der imperialen ‚Konzept-Stadt‘ in eine ‚metaphorische Stadt‘ keinen totalen Bruch bedeutet. Galahad emanzipiert sich nicht von den imperialen London-Mythen, sondern richtet sich im Gegenteil in diesen Mythen ein und eignet sie sich an. So begeistert er sich für die Uhr in der U-Bahn-Station Piccadilly Circus, welche die Zeiten in verschiedenen Teilen der Welt anzeigt. Daisy – die weiße Frau, mit der er sich dort verabreden will – kennt die Uhr gar nicht (vgl. LL, 72), und als Galahad schließlich mit ihr an der betreffenden Stelle steht und ihr sein Herkunftsland Trinidad auf der Uhr zeigen möchte (the island so damn small it only have a dot and the name; LL, 80), zeigt sie wenig Interesse. Die Uhr, die Londons imperialer Rolle als Knotenpunkt im Zentrum der Welt entspricht, wird zu Galahads persönlichem Wahrzeichen. Zu Fuß in London unterwegs, fühlt sich Galahad like a king, wie es im Text gleich zweimal heißt (LL, 73, 75). Dies rückt ihn in die Nähe von Lord Kitcheners Utopie eines in Hampton Court Palace residierenden Einwanderers – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass es sich in Galahads Fall nur um ein Gefühl handelt, nicht eine (vorgestellte) Tatsache. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station Piccadilly Circus, zu einem Rendezvous mit Daisy, ist Galahad cool as a lord (LL, 75). Wieder scheint der Erzähler sich in Galahad hineinzuversetzen: This is London, this is life oh lord, to walk like a king with money in your pocket, not a worry in the world (LL, 75). Im Gegensatz zu den meisten anderen Londonern nimmt Galahad nicht die U-Bahn, sondern geht zu Fuß, so dass die bereits wartende Daisy zunächst in die falsche Richtung schaut, da sie selbstverständlich davon ausgeht, dass Galahad vom Bahnsteig her kommen wird. Zu Galahads individueller Routine gehört es ferner, auf der Uhr des Odeon-Kinos nach der Zeit zu sehen, anstatt seine eigene Armbanduhr zu konsultieren. Der Piccadilly Circus stellt auf seiner mentalen London-Karte das Zentrum dar: Always, from the first time he went there to see Eros and the lights, that circus have a magnet for him, that circus represent life, that circus is the beginning and the ending of the world (LL, 79). Hier, inmitten der Menschenströme, wird sich Galahad seiner Präsenz in der britischen Metropole besonders bewusst, und er kann sich selbst als Teil der Stadt erleben: Galahad Esquire, in all this, standing there in the big city, in London. Oh Lord (LL, 79). Der neue Galahad ist definiert durch sein In-London-Sein, sein Selbstbild wird so direkt an ein Stadt-Bild geknüpft.

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Der Soziologe Stuart Hall, 1951 als Student aus Jamaika nach London gekommen, spielt auf diese Textstelle an, wenn er in einer autobiographischen Passage eines Essays erklärt: [The British] had always said that this [i.e. London] was really home, the streets were paved with gold and, bloody hell, we just came to check out whether that was so or not. And I am the product of that. I came right in. Someone said, “Why don’t you live in Milton Keynes, where you work?” You have to live in London. If you come from the sticks, the colonial sticks, where you really want to live is right on Eros Statue in Piccadilly Circus. You don’t want to go and live in someone else’s metropolitan sticks. You want to go right to the center of the hub of the world. You might as well. You have been hearing about that ever since you were one month old.52

Hall beschreibt hier die Erfüllung eines imperialen Versprechens. London, das für die nicht-weißen Bewohner der britischen Überseegebiete eigentlich nur eine theoretische Heimat darstellen sollte, wurde im Zuge der Massenmigration zur tatsächlichen Heimat für Menschen aus der ‚kolonialen Provinz‘, die den Mythos vom Mutterland beim Wort nahmen. Der Roman The Lonely Londoners deutet an, welche Alltagspraktiken diese Aneignung Londons begleiteten und vollzogen – gegen alle Widerstände seitens der weißen Mehrheit. Das Galahad’sche „Gehen in der Stadt“ ist dafür nur ein Beispiel. Ein anderes ist das Gitarrenspiel Tolroys, der sein aus Jamaika mitgebrachtes Instrument stets bei sich führt und darauf klimpert, wenn er durch die Straßen Londons läuft, mit der U-Bahn fährt oder in Schlangen steht (vgl. LL, 6). Während Tolroy durch die öffentliche Darbietung karibischer Lieder eine Verbindung zu seiner alten Heimat herstellt, verwandelt er für Menschen in seiner Umgebung zumindest temporär deren London-Erfahrung (vgl. LL, 123). Die in diesem Zusammenhang interessanteste Figur ist Tolroys Großtante, „Tanty“, die einzige weibliche Protagonistin des Romans. Sie gestaltet ihr Londoner Leben unbeirrt nach jamaikanischen Gewohnheiten. Gemeinsam mit anderen westindischen Frauen nutzt sie das Einkaufen dazu, Geschichten auszutauschen und sich ausgiebig zu unterhalten. Bürgersteige und Läden werden so zu Schauplätzen geselliger Zusammenkünfte: They getting on just as if they in the market-place back home (LL, 65). Der Import kultureller Praktiken, durch den sich die neue Heimat London mit der alten überlagert, geht einher mit der Ausbreitung westindischer Lebensmittel in Londoner Geschäften (vgl. LL, 63). Tanty bringt darüber hinaus die weißen Ladeninhaber dazu, sich den Bedürfnissen ihrer westindischen Kundschaft anzupassen. In einem Lebensmittelgeschäft setzt sie durch, dass Kunden Kredit gewährt wird und sie ihre Einkäufe erst am

52 Hall 1991, 24.

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Ende der Woche bezahlen müssen: Where I come from you take what you want and you pay every Friday (LL, 66). Und in den Bäckereien verbittet sie sich, dass ihr das Brot mit bloßer Hand gereicht wird: Where I come from […] they don’t hand you bread like that. You better put in a paper bag for me, please (LL, 67). Dieser zweifache Verweis auf den Herkunftsraum – „Wo ich herkomme…“ – ist verbunden mit dem Wunsch nach einer entsprechenden Anpassung des Ankunftsraums: Tanty möchte jamaikanische Gepflogenheiten in London durchsetzen, nicht nur in ihrem eigenen Handeln, sondern auch in demjenigen weißer Briten. Ball spricht davon, dass Tanty ihre Umgebung ‚westindianisiert‘.53 Ihr Einfluss ist allerdings eng auf ihren Wohnort, die Harrow Road, begrenzt, da Tanty vor der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zurückschreckt. Nur einmal wagt sie es, alleine in die outside world (LL, 68) zu reisen und Tolroys Mutter („Ma“) an deren Arbeitsplatz zu besuchen.54 Dessen ungeachtet spielt Tanty eine wichtige Rolle in einer Schlüsselepisode des Romans: der Partysequenz in St Pancras Hall, wo sie den hyperassimilierten Gastgeber Harris – der seine westindischen Wurzeln zu verbergen versucht und die Gesellschaft weißer Briten präferiert 55 – zum Tanz nötigt, als die Band ihren Lieblingscalypso spielt (vgl. LL, 109–110). Die Partysequenz lässt sich als ein vorsichtiger utopischer Ausblick auf eine mögliche Zukunft deuten, in der Schwarze und Weiße zusammen feiern und Großbritannien kulturell kreolisiert wird,56 was sich abermals räumlich, als geographische Überblendung von Trinidad und England manifestiert: It look like Saltfish Hall in London (LL, 107).

5 Fazit Saltfish Hall in London: Diese Formulierung fasst die in meinem Beitrag untersuchten Phänomene prägnant zusammen. Wie ich anhand von London Is the Place for Me und The Lonely Londoners aufzuzeigen versucht habe, unterläuft anglokaribische Migrationsliteratur der Nachkriegszeit eine einfache Opposition

53 Vgl. Ball 2004, 134. 54 Vgl. LL, 68–71. Die beiden älteren Frauen Ma und Tanty werden in ihrer Immobilität den flanierenden Männern gegenübergestellt: [M]ostly she [i.e. Ma] and Tanty sit down before the fire knitting and talking about Jamaica (LL, 68). 55 Harris wird eingeführt mit den Worten: [H]e like English customs and thing […]. And when he dress, you think is some Englishman going to work in the city, bowler and umbrella, and briefcase tuck under the arm, with The Times fold up in the pocket so the name would show (LL, 103). 56 Vgl. die entsprechende Lesart von John McLeod 2004, 38–39; hier: 39.

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von Herkunfts- und Ankunftsraum, indem sie Überlagerungen zwischen beiden Räumen herbeiführt. Das kann einerseits auf Wahrnehmungsebene geschehen, wenn der Londoner Stadtraum mit karibischen Elementen bestückt wird. Vor allem aber geschieht es dadurch, dass Londoner Orte (hier: St Pancras Hall) auf eine Weise genutzt werden, die sie wie Orte in den British West Indies erscheinen lässt (Saltfish Hall). Die verschiedenen ‚Verwendungen‘ Londoner Orte – bzw. des Ortes London selbst – stellen, mit Michel de Certeau gesprochen, Räume her, lieus pratiqués. Sie erfolgen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Nur selten handelt es sich um bewusste Formen des Widerstands. Manchmal sind die genannten Praktiken das Ergebnis purer Not, so wie das Fangen und Verspeisen von Tauben, mit dem Galahad – wie zuvor schon der Nigerianer Cap – gegen den Hunger ankämpft. Dieses sprichwörtliche Wildern im Territorium der ‚Starken‘ passt wie keine andere Episode auf das Certeau’sche Modell, zeigt aber zugleich, wie ‚schwach‘ die Migranten bei Selvon sind – und bleiben. Als drama of movement deutet der Roman immer wieder die Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit an.57 Die Handlung bleibt auf eine Handvoll Orte in West- und Zentral-London beschränkt.58 Genauso beschränkt wie der räumliche Bewegungsradius der westindischen Figuren ist ihre soziale Mobilität. Gegen Ende des Romans, nach weiteren drei bis vier Jahren in London, klagt Moses: [A] fter all these years I ain’t get no place at all, I still the same way, neither forward nor backward (LL, 124). So souverän sich Moses also auch durch bestimmte Teile Londons bewegt, so machtlos bleibt er angesichts der fehlenden Aufstiegschancen für farbige Migranten. Am Ende ist er seines stagnierenden Lebens in England müde und träumt von der Rückkehr nach Trinidad, von einem Leben unter Fischermännern in einem Dorf namens „Paradise“, das er als ein ebensolches verklärt (vgl. LL, 125). In einer Epiphanie auf der letzten Seite des Romans vermischen sich für Moses Bewegung und Stillstand: [H]e could see a great aimlessness, a great restless, swaying movement that leaving you standing in the same spot. As if a forlorn shadow of doom fall on all the spades in the country. (LL, 139)

57 Kabesh 2011, 1 schreibt hierzu: [The Lonely Londoners] maps a London transformed by West Indian immigrants as they search for work, travel to and from their jobs, move in and out of rented apartments, and tour the city’s public spaces in search of women. […] However, Selvon’s novel traces not only mobility, but immobility. It charts where his characters might go and where they might not, where they are free to move and where the colour bar literally bars that movement. 58 Wie McLeod 2004, 34 ausführt, beschränkt sich die Handlung auf die Gegenden in und um Hyde Park, die Bayswater Road, den Marble Arch, das Notting Hill Gate, Queensway, Piccadilly Circus und St Pancras Hall.

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Trotz allem Certeau’schen „Gehen in der Stadt“ geht es demnach nicht voran, gibt es keinen wahren Fort-Schritt zu verzeichnen. Selvon belässt es aber nicht bei diesem düsteren Schlussbild. Er fügt Moses’ Epiphanie noch einen Absatz hinzu, der die Möglichkeit einer literarischen Karriere andeutet. Verschiedene schwarze Migranten, so wird Moses berichtet, hätten es in Frankreich zu Bestseller-Autoren gebracht. In ihrer utopischen Überzeichnung erinnert die betreffende Stelle an Lord Kitcheners Calypso-Song: One day you sweating in the factory and the next day all the newspapers have your name and photo, saying how you are a new literary giant (LL, 139). Da wir jedoch beim Lesen dieser Zeilen Selvons Roman in den Händen halten, erscheint dieser Ausblick nicht als vollkommen unrealistisch. Die Passage macht uns darauf aufmerksam, dass der Roman, den wir gerade fertig gelesen haben, selbst unter den Bedingungen entstand, die in ihm beschrieben werden – und dass er seines Zeichens eine Verwandlung der britischen Gesellschaft und Kultur signalisiert.

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Antje Ziethen

Heteropolis Paris und London in afrikanischer Migrationsliteratur

1 Poetik der Migration Die geographische und diskursive Ab- und Ausgrenzung kolonialisierter Völker von europäischen Orten der Macht wie Paris und London wird zunehmend durch migratorische und transnationale Prozesse angefochten und subvertiert. Immigranten und Transmigranten aus Afrika, Asien und dem Mittleren Osten sind bis ins urbane Herz der einstigen Weltreiche vorgedrungen und verlagern den kolonialgeschichtlichen „Kampf um die Geographie“1 von den ehemals eroberten Gebieten nach Europa, wo sie Ansprüche auf einen ihnen eigenen Raum, Gleichberechtigung und eine bessere Zukunft geltend machen. Von der Heimat aus präsentieren sich Paris und London als El Dorado, das Träume von sozialem Aufstieg und Wohlstand wahr werden lässt. Die Wirkungsmacht dieses Mythos’ ist so groß, dass Menschen immer wieder bereit sind, ihr Leben dafür zu riskieren, wie die dramatischen Ereignisse in Lampedusa, Melilla und Ceuta belegen. Aus der Nähe betrachtet verwandeln sich die Metropolen jedoch in ein Schlachtfeld, auf dem sich verschiedene Gesellschaftsgruppen mit ihren sozialpolitischen Interessen gegenüberstehen. Die Proximität des Anderen, des Fremden, löst auf allen Seiten Schutzmechanismen und Reaktionen aus, die sich sowohl in sozialen als auch in räumlichen Praktiken niederschlagen. Immigranten sind in ihrer neuen Umgebung oft Diskriminierung, Segregation, Marginalisierung und Prekarität ausgesetzt, die sie innerhalb der sozialen Hierarchie und im urbanen Raum nachteilig positionieren und sie auf ,Distanz‘ halten. Um der destabilisierenden Erfahrung von Migration und den ,Reibungseffekten‘ im Ankunftsraum entgegenzuwirken, reproduzieren Immigranten häufig ihre Heimat durch eine Anzahl von alltäglichen, gewohnheitsmäßigen Praktiken, wobei gegebenenfalls existierende Raummodelle und soziale Geometrien überschrieben werden.2 Die Abweichung von bis dahin geltenden normativen Mustern der Raumnutzung,

1 Saïd 1994, 7. 2 Vgl. Soja 2000, 265.

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räumlichen Verhaltens, sozialer Interaktion, der Verteilung von Ressourcen, organisationeller Gruppierung und kultureller Manifestation kann die urbane Morphologie rekonfigurieren. Geographen, Soziologen und Architekten sprechen in diesem Zusammenhang von einem urbanen Palimpsest. Sie bedienen sich dieser literarischen Entlehnung, um den dynamischen Charakter der Stadt sowie das Zusammenspiel zwischen Sediment und Fluss, Permanenz und Erneuerung zum Ausdruck zu bringen. Im Kontext von Immigration möchte ich diese palimpsestische Überlagerung von Herkunfts- und Ankunftsort im urbanen Raum als Heteropolis bezeichnen, d.h. als die ,andere‘, heterogene Stadt. Das sozialgeographische Prinzip der Heteropolis lässt sich meines Erachtens in mehreren Hinsichten auch auf die Literatur übertragen. Mein Interesse gilt dabei besonders der französisch- und englischsprachigen afrikanischen Migrationsliteratur, in der Paris und London als weit verbreitete Topoi fungieren.3 Stellvertretend für das umfangreiche Korpus sollen in diesem Beitrag Abdourahman A. Waberis Transit (2003) und Brian Chikwavas Harare North (2009) zur Analyse herangezogen werden. In beiden Romanen werden zunächst auf thematischer Ebene Überschreibungen des Stadtraumes deutlich, da die europäische und die afrikanische Metropole jeweils ineinander greifen. Einerseits bewirkt der bei Chikwava dargestellte Prozess der Immigration, dass sich der Herkunftsraum (Harare) im Ankunftsraum (London) manifestiert. Andererseits zeigt Waberis Text, dass Dschibuti von architektonischen und toponymischen Spuren der französischen Hauptstadt durchzogen ist. Diese Verquickung von europäischer und afrikanischer Metropole verweist auf den von Martina Löw verwendeten Begriff „Konnex der Städte“,4 der besagt, dass „[d]ie Struktur eines Ortes […] auch Resultat von Prozessen an anderen Orten [ist].“5 In diesem Fall sind es Kolonialgeschichte, neokoloniale Verhältnisse, Migration und transnationale Praktiken, die diese Kausalbeziehung geschaffen haben. Der Begriff der Heteropolis beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Handlung bzw. textinterne Elemente, sondern verweist auch auf die Verbindung zwischen enoncé und énonciation bzw. zwischen Text und Kontext. Jeder Diskurs, so der Kulturtheoretiker Stuart Hall, ist positioniert, d. h. er entstammt einem spezifischen Ort und einer spezifischen Zeit.6 Dies gilt ebenfalls für den literarischen Diskurs. Er entsteht niemals im Vakuum. Auch Waberi und Chikwava schreiben nicht nur über, sondern auch von einem urbanen Raum aus. In diesem Sinne

3 Vgl. Thomas 2007; Cazenave 2005; McLeod 2004. 4 Löw 2008, 110. 5 Löw 2008, 97. 6 Vgl. Hall 2003, 234.

Heteropolis. Paris und London in afrikanischer Migrationsliteratur 

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beeinflusst ihr realer Herkunftsraum (Dschibuti, Harare) die Darstellung des literarischen Ankunftsraumes (Paris, London). Dies wird auch durch die mit Shona, Somali und Straßen-Slang angereicherte bzw. verformte europäische Sprache deutlich, die die Heterogenität des urbanen Raumes vermittelt. In der Heteropolis verschmelzen somit zwei Städte, Kulturen, Sprachen; Realität und Fiktion. Die referentielle Stadt dient als Substrat für die ,literarische Stadt‘ und führt uns somit zurück zum Prinzip des Palimpsests. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um ein sozialgeographisches bzw. morphologisches Phänomen, sondern um die Überlagerung zweier ontologischer Ebenen (realweltlich und literarisch). Im Folgenden soll nun erörtert werden, mit welchen narrativen bzw. ästhetischen Mitteln Waberi und Chikwava die Erfahrung von Immigration und das daraus resultierende Verhältnis von Herkunfts- und Ankunftsraum gestalten. Ziel ist es, das Prinzip der Heteropolis in den beiden Romanen durch eine Analyse in drei Schritten nachzuweisen. Zunächst werden das fiktionale Paris und London aus einer textimmanenten Perspektive untersucht, wobei deren handlungsrelevante und sinnstiftende Verflechtung mit der afrikanischen Stadt im Mittelpunkt steht. Im Anschluss daran möchte ich auf das von den Autoren eingesetzte sprachliche Palimpsest als Charakteristikum der Heteropolis eingehen. Diese Heteroglossie artikuliert auf besonders markante Weise die Geographie der Diaspora sowie die Erfahrung von Immigration und Grenzüberschreitung. Abschließend wende ich mich der Verschiedenstimmigkeit in beiden Romanen zu, in diesem Beitrag als Heterophonie bezeichnet, die auch eine Analyse der unzuverlässigen Erzählinstanz und des mit ihr verknüpften Ironiebegriffs einschließt. Die dreistufige Vorgehensweise beleuchtet die Korrelation von Raum, Sprache und Narration in den ausgewählten Texten, in denen sich Form und Inhalt einem Leitmotiv unterordnen: der Begegnung mit dem Anderen.

2 Heteropolis Transit und Harare North beginnen in der überwachten Transitzone eines europäischen Flughafens (Charles de Gaulle bzw. Gatwick), die Herkunfts- und Ankunftsraum voneinander trennt, sie aber gleichzeitig miteinander verbindet. Der Einstieg erfolgt sowohl zeitlich als auch räumlich in medias res, denn beide Romane setzen chronologisch mitten in der Handlung und geograpisch in einem Grenzbereich ein. Der eingangs inszenierte Zwischenraum thematisiert von Anfang an den Prozess der Immigration, denn der Zugang zum Ankunftsraum wird Waberis Erzähler Bachir und Chikwavas namenlosen Erzähler aufgrund ihrer Herkunft

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nur nach diversen ,Ritualen‘ gewährt, die von der Pass- und Gepäckkontrolle bis zur Befragung durch die Einwanderungsbehörde und Internierung reichen. In Transit eröffnet diese Grenzüberschreitung eine fünfstimmige Erzählung, die Bachir vier weitere grenzgängerische Erzähler gegenüberstellt – Alice, AbdoJulien, Harbi und Alaweh. Sie alle generieren verschiedene, sich überlagernde aber miteinander verbundene Versionen ihres Herkunfts- und Ankunftsraumes, die so jeweils mit instabilen Bewertungen behaftet werden. Harbi hat in Frankreich studiert und lebt mit Alice in Dschibuti. Alice kommt ursprünglich aus der Bretagne und hat Harbi während des Studiums kennengelernt. Abdo-Julien ist der Sohn der beiden. Awaleh, Harbis Vater, hat die Umwandlung der Kolonie in ein französisches Überseeterritorium miterlebt, was für seine nomadische Lebensweise viele Veränderungen mit sich brachte. Das Portrait dreier Generationen lässt eine narrative Dynamik entstehen, in deren Verlauf sich die Herkunfts- und Ankunftsräume der jeweiligen Figuren/Erzähler erst binär gegenüberstehen, sich dann aber entweder überlagern oder ganz verschwinden. Bachirs Äußerungen schaffen zunächst einen frappierenden Kontrast zwischen Dschibuti und der zu einem El Dorado verklärten europäischen Metropole: Je suis à Roissy [Flughafen Charles-de-Gaulle], devant le paradis des Blancs […]. (T 2003, 20) („I’m at Roissy, in front of the paradise of the Whites […].“; T 2012, 9).7 Nous, on n’a pas confort, villa, voiture, congés payés-là comme Français, Anglais, Américains […]. (T 2003, 96) („Us, we don’t got comfort, villa, car, pay vacation like French, English, [sic]“; T 2012, 81). Paris ist für Bachir der Inbegriff von Erfolg und Wohlstand. Er glaubt fest daran, dass ihn seine Kreativität und Gerissenheit weit bringen werden. Die von Bachir entworfene und von diversen kulturellen, sozialen und literarischen Diskursen alimentierte „imaginäre Geographie“8 des Ankunftsraumes Paris ist wirkungsmächtiger als die von Generationen von Migranten erlebte Realität. Dem Pariser Paradies, an dem so viele Hoffnungen hängen, stellt sich, in Bachirs Augen, die Hölle Dschibutis gegenüber: tout le monde il veut quitter pays merde-là (T 2003, 138) („everybody wanna leave this shitty country“; T 2012, 121). Ils ont tiré, à balles réelles, sur la foule éclopée. Y a eu beaucoup de cadavres, beaucoup de blessés sur le boulevard qui mène à la Présidence. (T 2003, 27) („They fired on the crowd of cripples, with real bullets. A lot of corpses, lot of wounded on the boulevard to presidential palace“; T 2012, 15). Der Bürgerkrieg hat seine Spuren nicht nur im urbanen Raum Dschibutis, sondern auch in den Menschen hinterlassen. Bachir wurde als Kindersoldat rekrutiert und hat gemordet, vergewaltigt

7 Zitiert wird hier und im Folgenden nach Waberi 2003 (als T 2003). Zitate aus der englischen Übersetzung folgen der Ausgabe Waberi 2012 (als T 2012). 8 Vgl. Saïd 1978, 55.

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und geplündert: C’est facile de faire choses-là quand tu dors, tu rêves, tu bouffes avec un kalachnikov ou même un uzi (T 2003, 36) („Easy to do things-there when you sleep, you dream, you eat with a Kalashnikov or even an Uzi“; T 2012, 23), kommentiert er seine intimen Enthüllungen. Bachir verweist immer wieder auf die engen Beziehungen zwischen Dschibuti und Paris, die sich in Frankreichs politischem und militärischem Einfluss in der Region ausdrücken oder darin, dass dschibutische Politiker in Paris Zuflucht suchen oder sich dort im Krankenhaus behandeln lassen. Alices Stimme malt ein etwas anderes, subtileres Bild. Sie stammt aus Frankreich und lebt seit langer Zeit in Dschibuti. Sie liebt dieses Land, sowohl seine dunklen Seiten – [v]ingt- sept mille kilomètres carrés de haine et de misère („Seventy thousand square miles [sic] of hatred and misery“) – als auch seine schönen: [s]es lacs de sels, sa petite forêt d’un autre âge, ses hauts plateaux de calcaire (beide Zitate T 2003, 29-30) („The salt lakes, the bald peaks, the whimsical firmament at Lake Assal, the small forest from times long past, the limestone high plateaus“; beide Zitate T 2012, 16–17). Alice bezeichnet Dschibuti als ihr Land, in dem sie die Bretagne nicht vermisst. De la Bretagne rien ne manque, ni les crêpes sucrées ou flambées au chouchen, ni les ciels liquides, ni la pluie-vent du Mont-Saint-Michel, les vacances à Saint-Pierre-de-Quiberon […] (T 2003, 32) („Of Brittany, I miss nothing. Not the sugared crepes or the crepes flambé in chouchen cider, nor the liquid skies and the rain-wind of Mont-Saint-Michel, nor the vacations at Saint-Pierre-de-Quiberon […]“; T 2012, 19). Alices (und auch Abdo-Juliens) Darstellungen von Dschibuti mit seinem Boulevard de Gaulle und Place Rimbaud lassen erahnen, inwieweit sich Spuren der nördlichen Metropole durch den Raum der südlichen Stadt ziehen und damit auf die koloniale Vergangenheit und die bestehenden neokolonialen Verhältnisse verweisen (vgl. T 2003, 61, 111). Im Gegensatz zu Bachir schafft Alice jedoch keine eindeutigen geographischen Hierarchien oder Dichotomien. Auch Abdo-Juliens Erzählung bestätigt die vereinfachten Zuordnungen Bachirs nicht. Die Unterscheidung von Herkunfts- und Ankunftsraum ist für ihn nicht existent bzw. obsolet, da er sich als Nomade betrachtet: Je navigue aisément entre les langues, les références historiques, les cultures, les rumeurs toutes chaudes d’hier, les souvenances plus anciennes; normal, moi je suis issu de l’amour sans frontières, je suis trait d’union entre deux mondes. (T 2003, 48–49) I navigate easily between different languages, historical references, cultures, rumors from yesterday still warm today, and the oldest memories. Totally natural, I’m the product of love without borders; I’m a hyphen between two worlds. (T 2012, 35).

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In diesem Gesichtspunkt ähnelt er seinem Großvater Awaleh, der zu den Nomaden des Horns von Afrika gehörte und die sedentäre Definition von Herkunft ad absurdum führt: Depuis toujours, nous, c’est-à-dire tous mes collègues exerçant à Guistir, la région des trois frontières (Djibouti, Somalie, Éthiopie) qui m’a vu naître, n’avons pas besoin d’état civil […]. […] C’est que le temps des nomades ne se soumet à aucun calendrier, ne s’encombre d’aucune archive, ni signe à la volée ses papiers administratifs exigés par les barbichettes de la troisième République. Tout le monde était ‚né vers‘ de mon temps et il a fallu l’intrusion de l’administration française pour nous imposer cette délicate intention. (T 2003, 113-114) Since the beginning of time, we – that is, me and all my colleagues working in Guistir, the region of the three borders (Djibouti, Somalia, Ethiopia) that saw me born – haven’t needed official documents […]. Because nomadic time is not regulated by any calendar or encumbered by any archive, it does not sign the official papers demanded by the goatees of the Third Republic. Everybody was ‚born circa‘ in my time, and only the intrusion of the French colonial administration could impose such a delicate intention on us. (T 2012, 98)

Das narrative Quintett in Waberis Harare North wird schließlich von Harbi vervollständigt, der sich in der Schlussszene des Romans mit Bachir am Flughafen Charles-de-Gaulle wiederfindet. Er selbst hat die französische Grenze schon viele Male ohne offensichtliche Schwierigkeiten passiert. Als Student, Geschäftsmann und Tourist war die Grenze für ihn durchlässig, als Kriegsflüchtling gehört er nun einer anderen, weniger willkommenen Kategorie von Migranten an, die einen langen administrativen Weg beschreiten müssen, bevor sich ihnen die Grenze öffnet, wenn sie es denn wirklich tut. Während Bachir hoffend dem Neuanfang entgegenfiebert, weiß Harbi um die Situation von afrikanischen Asylbewerbern, die niemand mit offenen Armen empfangen wird. Paris ist für Harbi kein El Dorado, sondern gleicht einem dunklen, kalten Asylheim, einem Gefängnis, das seine neuen Insassen wie Aussätzige behandelt. Il paraît que le personnel qui gère les centres d’accueil de la Croix-Rouge ou du Secours populaire évite tout contact avec nous. Figurez-vous qu’ils nous lavent de loin, un tuyau muni d’un jet à la main. Des masques aseptisés leur protègent le visage et des gants de caoutchouc les mains qui nous tendent le petit éclat de savon comme si nous étions chancis de moisissure et couverts de gale. Les plus téméraires d’entre nous, partis nuitamment à pied du centre de rétention, se retrouvent dans des squats désaffectés en bordure de gare ou de port avant que la commune ne dépose une demande d’évacuation à la préfecture et que les zones ferroviaires ou portuaires n’accueillent un lourd dispositif de surveillance avec grillages et portes automatiques. (T 2003, 153–154) We hear that the personnel managing the reception centers of the Red Cross and the Secours Populaire avoid all contact with us. Can you believe it, they wash us from a distance with a hose. Aseptic masks protect their faces and rubber gloves their hands as they pass us a little

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splinter of soap, as if we were cankered with mold and covered with mange. The boldest of us walk out of the retention center in the night and find themselves in disaffected squats next to some railroad station or port, before the city files an eviction notice with the municipal authorities, and the zones around the trains and ports set up a heavy surveillance system with steel wire fencing and automatic doors. (T 2012, 139)

Dieser Eindruck von Paris und Frankreich wird allerdings nicht zwingend durch positive Beschreibungen von Dschibuti kontrastiert: Un pays où les avenues de la capitale recouvertes d’eaux d’égout dégagent une odeur insupportable que les pompes du soleil n’arrivent pas à évacuer (T 2003, 154) („A country where the avenues of the capital are covered with sewer water and give off an unbearable stench that the pumps of the sun are unable to evacuate“; T 2012, 140). Die Stadt ist dem Bürgerkrieg, Klankonflikten und geopolitischen Machtspielen erlegen. Aufgrund seiner politischen Überzeugungen muss Harbi zwar Dschibuti Richtung Paris verlassen, aber die europäische Metropole ist für ihn nicht wirklich ein Ankunftsraum sondern ein Transitraum, in dem er ausharrt, bis er wieder in seine Heimat zurückkehren kann: Nous sommes à présent en sursis sur cette terre sans promesse autre que celle de l’humiliation, en compagnie de tous les autres rebuts de la planète, à la fois bourreaux, victimes et témoins. Il faut partir pour revenir et construire, on ne peut édifier que sur des ruines (T 2003, 154) („We are now serving a suspended sentence on this earth, with no promise but humiliation at the end, in the company of all the other trash of the planet, at once victims, executioners, and witnesses. You need to leave in order to return and construct something; one can only build on ruins“; T 2012, 140). Diese sich überschneidenden bzw. ineinander verzahnten Darstellungen von Paris/Frankreich und Dschibuti machen eindeutige Zuordnungen (Herkunfts-/ Ankunftsraum) bzw. Bewertungen (Paradies/Hölle) unmöglich. Sie lassen nicht einen streng unterteilten, sondern einen sich ausdehnenden fiktionalen Raum entstehen, der die Dimension transnationaler und diasporischer Beziehungen betont, ohne jedoch die ungleiche Gewichtung, die sich aus der kolonialen Vergangenheit und neokolonialen Gegenwart ergibt, zu verschleiern. Die Thematisierung der Grenze liest sich dabei in zweierlei Hinsicht als kritischer Kommentar: Kritik an nationaler Territorialisierung, an Abschottung, starren Identitäten, vereinfachten Kategorien; aber auch Kritik am problematischen, weil vogelperspektivischen und hegemonialen, Globalisierungsdiskurs, der Grenzen und Nationalstaaten als obsolet betrachtet, wie Michael Smith bemerkt: the state has not withered away as a disappearing relic of the end of modernity. Instead, contemporary national and local states have differentially but ubiquitously mediated the flows of transnational investment, migration, and cultural production through their

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boundaries.9 Die Erfahrungen von Baschir, Habir und den namenlosen Immigranten, denen sie am Flughafen Charles-de-Gaulle begegnen und die teilweise wieder in ihre Heimat abgeschoben werden, widersprechen der Vorstellung eines globalen, entgrenzten space of flows im Sinne Manuel Castells’, in dem Ideen, Güter, Kapital und Menschen stetig und nahezu ungehindert zirkulieren.10 Für Immigranten mit dem falschen Pass erweist sich die Grenze nicht als automatisch durchlässig. Sie passieren die Grenze nicht im Dauerlauf – dies ist ein Privileg für Personen mit dem richtigen Pass – sondern absolvieren eher einen Hindernislauf. Transit zeugt von den vielen (legalen und illegalen) Versuchen der Migranten, die Grenze zu überwinden. Trotz der zunächst hervorgehobenen trennenden Funktion der Grenze in Waberis Text, enthüllt dieser Topos letztendlich die Unumgänglichkeit und Notwendigkeit der Begegnung mit dem Anderen. Wie schon zuvor Waberis Roman geht auch Chikwavas Text aus einer Bewegung vom Herkunfts- zum Ankunftsraum hervor und entwickelt eine transnationale Dynamik, die die europäische Metropole zu einer Verlängerung des afrikanischen Kontinents stilisiert, wie im Titel Harare North deutlich wird. Die Oszillation zwischen London und Simbabwe legt wie bei Waberi unterschiedliche Darstellungen und Wahrnehmungen frei, die hier durch die Dissoziation der narrativen Instanz hervorgebracht werden. Die Erzählstimme erweist sich nicht nur als die des namenlosen Erzählers, sondern auch als die von Shingi, der Figur seines angeblich besten Freundes. Auch wenn die Fusion von Figur und Erzähler im Verlauf des Romans mehrmals sehr subtil angedeutet wird, erfasst der Leser diese Hinweise erst am Ende richtig. In diesem Moment wird klar, dass Harare North nicht nur das Leben von Immigranten in London darstellt, sondern die Besessenheit durch einen Geist, den Mamhepo, thematisiert und dadurch die Zustände in Simbabwe kritisiert. Die physische Dimension des Exils spiegelt eine mit ihr verbundene metaphysische Dimension wider, die durch den Einsatz narrativer Strategien deutlich gemacht wird.11 Ein Mamhepo wird traditionell als zweite Person oder Geist betrachtet. Er wirkt laut Chikwava wie ein Fluch, der den ereilt, der schweres Unrecht getan hat (hier der Mord an einem Oppositionsangehörigen).12 Auch wenn London vordergründig omnipräsent ist, handelt Chikwavas Roman hintergründig von

9 Smith 2001, 2. 10 Vgl. Castells 2008. 11 Auch Waberi lotet die metaphysische Dimension aus. Drei der fünf Erzähler weilen nicht mehr unter den Lebenden (Alice, Abdo-Julien, Awaleh). Der Roman deutet an, dass Alice und Abdo-Julien während Auseinandersetzungen in Dschibuti getötet worden sind. 12 Vgl. Kociejowski 2011, 57.

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Simbabwe. Die Kritik an der britischen Gesellschaft und an Mugabes autoritärem Regime, das die junge Generation für seine Zwecke benutzt, greift durch zwei komplementäre und konkurrierende Erzählungen ineinander. Auf der einen Seite steht Shingi, der versucht, ein normales und ehrliches Leben in London zu führen, auch wenn das bedeutet, als BBC (British Bottom Cleaner) zu arbeiten, sich unterzuordnen, ausgenutzt zu werden, seine Vergangenheit zu leugnen und sich zu assimilieren. Wie auch der Erzähler ist er in London ständig Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt. Auf der anderen Seite steht der Erzähler, ein verurteilter Mörder, der Freunde und Familie ausnutzt, aber auch sexuell missbraucht und von der Regierung manipuliert bzw. indoktriniert wurde. Die Rollen von Opfer und Täter, Protagonist und Antagonist sind nicht eindeutig verteilt. Wie schon in Waberis Roman tritt Komplexität an die Stelle von Binarität. Sieht man sich die Äußerungen des Erzählers und Shingis im Einzelnen an, wird klar, dass sie nicht unbedingt deckungsgleiche Versionen von Herkunftsbzw. Ankunftsraum entstehen lassen. Zunächst ist jedoch auch hier der Mythos vom El Dorado am Werk, denn Shingi kommt nach London, um ein besseres Leben zu beginnen und die Familie in Simbabwe zu unterstützen, während der Erzähler viel Geld in wenig Zeit verdienen und danach so schnell wie möglich wieder nach Simbabwe zurückkehren möchte. Shingi verbindet London mit einem Langzeitprojekt und muss bald erkennen, dass die europäische Metropole alles andere ist als ein El Dorado. Die bereits in Simbabwe erlebte Prekarität bestimmt weiter sein Leben: Now he [Shingi] tell me about how he always go trawling through them neighbourhood’s bins and skips finding good things that wasteful Londoners throw away (HN, 35–36).13 Der Traum, der in Harares townships geboren wurde, wird von der Realität eingeholt: Two mattresses is on rotting floorboards, blankets all over, small heaps of things telling one story of gib journey that is caused by them dreams that start far away in them townships (HN, 30). Shingi lebt in einem Squat, arbeitet u. a. als Reinigungskraft in der Toilette des Parlaments und wird schließlich drogenabhängig. Bis auf einige wenige Details erfährt der Leser nichts von Shingis Vergangenheit. Er war aus einem (zunächst) nicht weiter erläuterten Grund im Gefängnis und hat sich danach mit einfachen Jobs über Wasser gehalten, bis er nach London kam. Auch wenn Shingis Äußerungen durch die Stimme des Erzählers gefiltert werden, wird klar, dass der Herkunftsraum ein Tabuthema für Shingi ist. Seine Energie gilt nicht der Verarbeitung des Traumas sondern einzig und allein der Verwirklichung seines Traumes in London. Als ihn seine Vergangenheit – in der Form des Erzählers, d. h. seiner zweiten Persönlichkeit einholt – verliert Shingi jeden Halt.

13 Hier und im Folgenden wird aus Harare North (Sigle HN) mit Seitenzahl direkt im Text zitiert.

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Das Verhältnis des Erzählers zu London und Harare gestaltet sich dahingegen etwas anders. London ist für ihn nur eine vorübergehende Lösung, ein Übergangsraum, den er so schnell wie möglich wieder verlassen möchte. Wie Shingi versteht auch er recht schnell, dass London nicht seinen Vorstellungen entspricht: Harare north is big con. We have already put many Mars bars inside people’s pockets […] (HN, 51). Vom Tag seiner Ankunft an wird er in die „Geometrie der Macht“14 integriert, die ihm aus sozialer und räumlicher Perpektive einen bestimmten Platz zuordnet. Als illegaler Einwanderer kann er weder eine Wohnung mieten, noch einer regulären Arbeit nachgehen. Er entschließt sich deshalb, mit Shingi ein Zimmer in einem Squat zu teilen und schwarz zu arbeiten. Seine Situation und die anderer Immigranten (legal oder illegal) werden von Profiteuren schamlos ausgenutzt. Die am Anfang des Romans thematisierte nationale Grenze (repräsentiert durch den Flughafen) hat sich auf die Stadtebene verschoben und dabei auch ihre Art verändert, denn sie verwandelt sich von einer patrouillierten physisch-geographischen Grenze zwischen zwei Ländern und Kontinenten zu einer gefühlten Grenze, die Immigranten von Nicht-Immigranten bzw. Prekarität von Wohlstand trennt. Diese Situation spiegelt sich in der Position des Erzählers/Shingis innerhalb der Stadt wider. Er wohnt in Brixton, einem Londoner Stadtteil mit einem hohen Anteil an Einwanderern, wo er auf Kompatrioten aus Simbabwe, andere afrikanische Immigranten und englische Obdachlose trifft. But Brixton is funny place this afternoon. You can just see it when you look around. Them, the street vendors, skunk dealers, the incense vendors, Tube ticket touts, homeless people and thiefs. I don’t trust no one here (HN, 139). Als er versucht, sich in einem besseren Viertel Zugang zu einem Hotel und später zu einer Bank zu verschaffen, um nach Arbeit zu fragen bzw. ein Konto zu eröffnen, wird er des Hauses verwiesen. Der Erzähler wird als jemand erkannt, der sich nicht an seinem Platz befindet. In Harare North wird urbaner Raum oft durch das Verhalten, die Situation und die Position der Figuren erzeugt, denn sie verweisen auf eine hierarchische Stadtgeographie und die damit verbundene Ein- bzw. Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsschichten. Brixton demonstriert außerdem das Prinzip des urbanen Palimpsests, denn in diesem Londoner Viertel existieren und konvergieren verschiedene Herkunftsräume.15 Auch wenn der Ankunftsraum nicht den Vorstellungen des Erzählers entspricht, wird ihm Simbabwe bzw. Harare nicht als stabiler, heimeliger Herkunftsraum gegenübergestellt. Nachdem seine Mutter an einer Überdosis gestorben ist, musste sich der Erzähler/Shingi alleine durchschlagen und ist schließlich Mitglied der Green Bombers geworden, die ihm ein Gefühl von Selbstwert, Macht und Zuge-

14 Massey 1993. 15 Vgl. Soja 2000, 189ff.

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hörigkeit gegeben haben: If you is back home leading rubbish life and ZANU-PF party offer you job in they youth movement to give you chance to change your life and put big purpose in your life, you don’t just sniff at it and walk away when no one else want to give you graft in the country […] (HN, 17). Die Indoktrinierung durch die Green Bombers und deren Gewaltbereitschaft scheinen die Ursache für die Dissoziation des Erzählers zu sein. Während der Erzähler stolz auf seine militärische Vergangenheit ist und sich immer noch zu Mugabe bekennt, vermeidet Singhi jeglichen Verweis auf die Zeit in Simbabwe und kritisiert Mugabes Führungsstil. Der Leser erfährt von den Folgen der Landreform Mugabes, im Zuge derer viele Einwohner obdachlos geworden sind (was der Erzähler nie wirklich glauben möchte): She bawl that the government have send bulldozers to demolish people’s houses and they new four-room house have been demolished in second wave of Operation Murambatsvina. Now many people become homeless, Zimbabwe is no more she cry (HN, 204). Ähnlich wie Waberis Roman Transit macht Chikwavas Harare North Konflikte, Korruption und Gewalt im Herkunftsraum für die Migrationswellen von Afrika nach Europa verantwortlich. In Chikwavas Roman zeigt sich besonders deutlich, was unter einer Heteropolis zu verstehen ist, da sich der Herkunftsraum im Ankunftsraum fortsetzt. Im Stadtteil Brixton existieren Harare und London simultan am gleichen Ort. Die simbabwische Diaspora hat London zum Teil Harares gemacht (Harare North) und Harare zum Teil Londons. Auch die realweltliche Verankerung des fiktionalen Londons bzw. Stadtviertels Brixton mit seinen Straßenzügen und U-Bahnstationen unterstreicht das Prinzip der Heteropolis. In Waberis Transit trifft dies ebenfalls zu, auch wenn Paris nie zum eigentlichen Schauplatz, sondern vielmehr durch den Flughafen, die Grenze, Harbis Beschreibungen sowie die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Dschibuti repräsentiert wird. In Transit und Harare North agiert die europäische Metropole als Medium für einen Diskurs, der totalisierende und streng binäre Darstellungen von Europa und Afrika untergräbt. Das fiktionale Paris und London, und damit der Text selbst, werden zu einer Kontaktzone, in der Perspektiven, Ideen, Menschen und Kulturräume zusammenfließen. Die Verquickung von Herkunfts- und Ankunftsraum generiert eine Heteropolis, die essentialistische Identitäten, territoriale Grenzziehungen und starre Begriffe wie Herkunft, Heimat und Zugehörigkeit problematisiert. Sie vereint außerdem drei Varianten von Paris bzw. London in sich: das von einem kolonialen Diskurs beeinflusste, imaginierte El Dorado, dessen Umkehrung ins Negative durch einen postkolonialen Diskurs und die der afrikanischen Diaspora zugehörige Metropole, in der sich weder Paradies noch Hölle eindeutig verorten lassen.

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3 Heteroglossie In der Einleitung zur zweiten Auflage von The African Palimpsest verweist Chantal Zabus auf die Obsoleszenz der Sapir-Whorf-Hypothese, die besagt, dass eine Sprache die Interessen einer Nation oder Sprachgemeinschaft ausdrückt.16 Der kausale Zusammenhang zwischen Sprache, Kultur und Identität wurde u. a. auch durch die steigende Anzahl an Nicht-Muttersprachlern europäischer Sprachen in Frage gestellt. Die auf einen linguistischen Relativismus bzw. Determinismus hinauslaufenden Theorien sind im Kontext französisch- bzw. englischsprachiger afrikanischer Literatur nicht plausibel. Afrikanische Schriftsteller dekonstruieren die europäische Sprache, um sie mit Differenz aufzuladen und ihrer ursprünglichen Funktion zu entfremden.17 Die Indigenisation der europäischen Sprachen in afrikanischen Erzähltexten bezeichnet Zabus als ein Palimpsest, welches unter der europäischen Sprache die Spuren der afrikanischen Sprache erkennen lässt.18 Dieses Palimpsest ist das Produkt verschiedener Prozesse – Übersetzung, Translation und Transliteration –, die auch in den Romanen von Waberi und Chikwava zum Einsatz kommen. Neben räumlichen und semantischen Aspekten wird die Heteropolis dort durch sprachliche Besonderheiten hervorgebracht, die ich als Heteroglossie bezeichnen möchte. Dieser Begriff beschreibt hier nicht nur, wie schon bei Bachtin, die Präsenz verschiedener Sprachen in einem literarischen Text,19 sondern auch die Verschmelzung zweier oder mehrerer Sprachen zu einer hybriden Form, wie es in Transit und Harare North jeweils der Fall ist.20 Zuerst soll hier die von Chikwavas Erzähler verwendete Sprache – das wohl auffallendste und wirkungsvollste narrative Mittel, die räumlichen, soziokulturellen und psychischen Spannungen poetisch umzusetzen – untersucht werden. Es ist interessant, dass Chikwava die erste Fassung des Romans in standardisiertem Englisch verfasst hat, sich aber schnell bewusst geworden ist, dass er damit die Andersartigkeit sowie Be- und Entfremdung des Erzählers nicht auszudrücken vermag. Chikwava äußert sich dazu in einem Interview wie folgt: The lesson I got from writing the novel is that with any piece of fiction, the standard language has to be modulated to suit the narrative depending on factors such as cultural loca-

16 Vgl. Zabus 2007, XII. 17 Vgl. Vakunta 2011, 1. 18 Vgl. Zabus 2007, 3. 19 Vgl. Nowakowska 2005, 21; Todorov 1984, 56. Bachtin benutzt in seinen Texten das Wort raznojazychie, dass im Allgemeinen als Heteroglossie oder Plurilinguismus übersetzt wird. 20 Heteroglossie setzt sich aus den griechischen Worten héteros (anders, verschieden) und glōssa (Zunge, Sprache) zusammen.

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tion, historical location, psychological or even political location etc. of the story.21 Seine Wahl fiel daraufhin zunächst auf simbabwisches pidgin English, das aber zu viele Ndebele/Shona Wörter beinhaltet, um für eine nicht eingeweihte Leserschaft verständlich zu sein. Am Ende entschloss sich Chikwava dazu, Shona bzw. Ndebele weitgehend ins Englische zu übersetzen und diese zusätzlich mit afrokaribischem Slang und simbabwischer street language zu mischen. Im Roman klingt dies wie folgt: From the market I step off to graft with hands in my pocket. I get to my graft and I start working my tail off cleaning every surface in Tim’s kitchen. I have just work on the other side of the counter, doing them two tables with dishcloth, when them kids come again. I give them powerful look. One of them whisper to others and everyone turn they heads. Suddenly they go kak kak kak. None of they mothers has ever cook supper for me; I jump for the broom and they scatter out like rats. I go kak kak kak kak. Tim give me this vex face and jump into this funny style of talk: yari yari yari […]. (HN, 100)

Das Ergebnis ist, dem Autor zufolge, kein pidgin English im Sinne von gebrochenem Englisch (wie z. B. in Ken Saro-Wiwas Sozaboy), sondern eher eine Form von creole, d. h. eine eigene Sprache. Das vom Autor entworfene Sprachamalgam wird durch nicht übersetzte Shona oder Ndebele Wörter durchsetzt, die den Diskurs des Erzählers geographisch für einige Leser zwar einordnen können, aber für andere den Eindruck der Alienation und Hybridisierung nur erhöhen. Die Zusammenführung von Herkunfts- und Ankunftsraum manifestiert sich hier in einer Sprache, die weder Englisch noch Shona/Ndebele, sondern beides gleichzeitig und noch viel mehr ist. Chikwava bedient sich einer postkolonialen und von Ashcroft, Griffith und Tiffin in ihrem bekannten Buch als writing back identifizierten Strategie, die darin besteht, sich die normative Sprache anzueignen, sie umzuformen und damit Kritik am Kolonialismus sowie den daraus hervorgegangenen Zuständen in Europa und Afrika zu üben.22 Diese Deutung der Verformung europäischer Sprachen wird hier allerdings durch eine zweite ergänzt. Die der Immigration inhärente Grenzüberschreitung und mit ihr verbundenen Unsicherheit lösen sprachliche Mechanismen im Erzähler aus, die seine Situierung zwischen Heimatland und Diaspora, zwischen sozialer Integration und Ausgrenzung, zwischen vergangenheitsverschriebenem Nativismus und vergangheitsverdrängender Assimilation deutlich machen. Sprache wird zu einem zentralen Element der Mediation von Raum, Zeit und Sein im Roman Chikwavas, denn sie artikuliert die historische Tiefe, geographische Breite und ontologische

21 Chikwava in Dutrion http://malfini.ens-lyon.fr/document.php?id=170:. 22 Vgl. Ashcroft u. a. 2002, 37–76.

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Dichte des Phänomens Diaspora. Die Sprache des Erzählers signalisiert daneben auch die Möglichkeit von Neuschöpfungen, die sich nicht nur auf die Summe ihrer Bestandteile beschränken. In Harare North wird Migration zum Motor für die Entstehung kultureller Produkte, die vormals heterogene Elemente zu einem neuen Ganzen verarbeiten. Die von Chikwava erfundene und von seinem Erzähler gesprochene Sprache kann als ein solches neues kulturelles Produkt bezeichnet werden. Sie repräsentiert sowohl den raumzeitlichen Bruch, die Dislokation und Neuorientierung, die Immigration nach sich zieht, als auch die transnationalen Identitäten und Subjektivitäten, die ein Leben durch nationale Grenzen hindurch ermöglichen. Es sei ebenfalls erwähnt, dass Chikwavas sprachliche Neuschöpfung eindeutig urbane Züge trägt (slang, street language) und somit auf den im Stadtraum generierten kreativen Stimulus verweist, der durch die Interferenz von Sozietäten, Kulturen und Ideen entstehen kann. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Stadt und Sprache, Heteropolis und Heteroglossie, denn beide wirken gegenseitig aufeinander ein. Ähnlich wie Chikwava hat auch Waberi das sprachliche Palimpsest erst in der zweiten Fassung eingeflochten, denn die Figur Bachirs gab es am Anfang noch nicht.23 Bachir ist die einzige (und führende) Erzählstimme des Quintetts, die ein gebrochenes Französisch spricht und es mit Wörtern oder Sätzen in Somali, Arabisch und Englisch anreichert. Bachir mobilisiert im Laufe seiner Erzählung nicht nur verschiedene Sprachen, sondern auch ein Arsenal an kulturellen Referenzen, die vom Fußball über Star Trek und Michael Jackson zu BollywoodFilmen reichen und demonstriert damit sowohl die geopolitische Lage am Horn von Afrika als auch den Kosmopolitismus der Region bzw. der Stadt Dschibuti. Im Gegensatz zu Chikwava bringt Waberi in seinem Roman kein eigens kreiertes Kreolisch zum Einsatz, spielt aber ebenso wie Chikwava mit der europäischen Sprache, die durch Bachir mitunter völlig verformt wird, auch wenn dieser sich damit brüstet, sie korrekt zu benutzen: C’est rigolo, quand je dis ‚à la place Rambo‘ [es heißt eigentlich Place Rimbaud], ça donne bon français, non? Ça me rappelle les récitations à l’école, Alaclairefontainééé, menononproméné, jaistrouvélosicair quéjémisuisbaiyé (T 2003, 23) („When I say ‚Place Rambo‘ it’s funny, sounds like real French name Rimbaud, right? Reminds me of singing in school Alaclairefontainééé, menononproméné, jaitrouvélosiclair quéjémisuisbaiyé…“; T 2012, 12).24

23 Vgl. Chikwava in Deblaine http://www.msha.fr/celfa/recherche/auteur/waberi/waberiescale.htm. 24 Es handelt sich hier um ein traditionnelles französisches Lied: À la claire fontaine, m’en allant promener, j’ai trouvé l’eau si belle, que je m’y suis baigné.

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Die laxe und naive Art, mit der Bachir sich des Französischen bedient, steht im Widerspruch zu seinen komplexen Erläuterungen der Situation in Dschibuti. Moussa Ali, c’est frontière. Après c’est Érythrée, faut pas jouer la provocation avec Érythrée comme notre président fait actuellement pace que Érythrée c’est plus fort Zidane à la guerre. C’est Ronaldo, le Brésilien. Y z’ont niqué Mengistou et tous les Éthiopiens quarante fois plus fourmis qu’eux. Éthiopiens c’est fourmis juste après Chinous, Japonais, Hindis et tout tout. Donc les Wadags, ils voulaient tout de suite la paix. C’est normal, ils veulent pas tous mourir. Frud 1, Frud 2, Frud 3, Frud 4, tout ça c’est la même pareille. C’est beaucoup connerie, ouais. À partir de maintenant, nous on appelle Frud-là Scud comme missile irakien pas toujours efficace, pour rigoler. La restauration d’accord, ça c’est bon. La démocratie, c’est blabla de politiciens qui bouffent dans toutes les gamelles. (T 2003, 22–23) Moussa Ali, it’s border. After that it’s Eritrea, careful, don’t mess around with Eritrea like our president doing now cause Eritrea stronger than Zidane for war. It’s Ronaldo the Brazilian. They fucked Mengistu an all the Ethiopians with fifty times more harms than them. Ethiopians they got so much harms, right after Chinese, Japanese, Hindis, and so on – so on. So, Wadags they wanted peace right away. Pretty natural – they don’t all wanna die. Frud 1, Frud 2, Frud 3, Frud 4, all the same and one. Lotta bullshit, yah. From now on, just to kid around we call that Frud-there Scud like Iraqi missile not always effective. Restoration, OK, that’s good. Democracy, that hotair of politicians who take bread from whoever giving it. (T 2012, 11)

Die Deformierung der französischen Sprache, die aufgrund ihrer inkorrekten Grammatik und eher ungewöhnlichen Assoziationen simpel und befremdlich erscheint, enthüllt paradoxerweise einen vielschichtigen politisch und historisch informierten Diskurs. Diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Form ist hier Ausdruck der permanenten Aushandlung und Vermittlung von Sprache, Geschichte, Ideologie und Identität im Kontext von Migration. Zudem bezieht sie die Leserschaft stärker mit ein, da sie mehr Dekodierungsarbeit leisten muss. Ebenso wie die Heteropolis ist die Heteroglossie eine Schnittstelle zwischen intra- und extratextuellen Elementen, Fiktion und Realität, denn sie vereint Herkunfts- und Ankunftsraum sowohl der Erzähler als auch der Autoren selbst. Transit und Harare North reflektieren die soziolinguistische Situation im postkolonialen Djibouti und Harare, wo verschiedene Sprachen (darunter Englisch, Französisch, Somali und Shona) nebeneinander existieren. Sie zeigen auch, dass die poetische Verarbeitung und persönliche Erfahrung von Immigration oft zwei Seiten derselben Medaille sind, denn beide Schriftsteller haben nicht nur über Migration geschrieben, sondern sie auch ge-/erlebt. Abdourahman A. Waberi und Brian Chikwava sind nur zwei der vielen anzuführenden Beispiele von afrikanischen Autoren, die sich (zeitweise) in Frankreich bzw. Großbritannien niedergelassen haben. Der Konnex Paris-Dschibuti bzw. Harare-London geht damit

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über die rein thematische Ebene hinaus und wird zum Konstituens des Textes und des Schreibens selbst.

4 Heterophonie Im folgenden Abschnitt möchte ich auf die Erzählstimmen selbst eingehen, deren Zusammenspiel ich dem der Musik entlehnten und von der Literaturtheorie adaptierten Prinzip der Heterophonie – d. h. der Verschiedenstimmigkeit – gleichsetze. Der Begriff selbst hat seinen Ursprung in Platons Gesetzen.25 Laut Görgemann und Neubecker ist er in der Antike nur bei Platon in musikalischem Sinn belegt.26 Es besteht heute noch viel Uneinigkeit hinsichtlich der exakten Bedeutung von Heterophonie bei Platon, denn Musikwissenschaftler haben die Textstellen in den Gesetzen mitunter sehr unterschiedlich ausgelegt.27 Die größte Akzeptanz findet heute ihre Definition als Vielstimmigkeit, in der alle Stimmen/Instrumente Variationen derselben Melodie singen/spielen. Die Heterophonie unterscheidet sich dahingehend von der Polyphonie, dass Letztere die Gleichwertigkeit und Unabhängigkeit verschiedener Melodien voraussetzt. Die Terminologie in der Musik stimmt weitgehend mit der in der Literatur überein. Dort geht die Bezeichnung auf das von Bachtin in seinen Schriften benutzte Wort raznogolosie zurück, das Todorov richtig als Heterophonie übersetzt, denn das Präfix razno- bedeutet nicht „viel“, sondern „verschieden“.28 Bachtin benutzt den Begriff der Polyphonie (polifonija) ausschließlich im Zusammenhang mit Dostojewskis Werk, wobei er auf die Gleichberechtigung und Selbständigkeit der Stimmen verweist.29 Heterophonie, die Bachtin als Merkmal des Romans im Allgemeinen identifiziert, spielt dagegen auf die unterschiedlichen Stimmen mit ihren jeweiligen Ansichten und diskursiven Strategien an, die jedoch hierarchisch angelegt, miteinander verflochten und einer Einheit untergeordnet sind. Um zur musikwissenschaftlichen Definition des Begriffs zurückzukehren, lässt sich sagen, dass die verschiedenen Stimmen eine Melodie, oder, im literarischen Jargon, ein Thema in verschiedenen Variationen ausloten. Im Falle von Transit handelt es sich um das Thema Migration. Diese ,Melodie‘ wird in fünf Fassungen vorgetragen, von denen Bachirs jedoch (quantitativ und

25 Vgl. Platon Gesetze VII, 812d zitiert in Görgemanns und Neubecker 1966, 151. 26 Ebd. 27 Vgl. Görgemanns und Neubecker 1966, 151ff. 28 Vgl. Todorov 1984, 56. 29 Vgl. Nowakowska 2005, 23.

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qualitativ) die dominante ist. Neben Bachir sprechen auch Harbi, Alice, AbdoJulien und Awaleh über Migration, Bewegung, Begegnung mit dem Anderen, Zugehörigkeit, Veränderung und Unsicherheit, selbst wenn diese unterschiedlich erlebt und erzählt werden. Die Heterogenität der Erzähler erzeugt jedoch keine Unabhängigkeit, wie im Sinne von Bachtins Polyphonie, sondern das Gegenteil, ein in sich geschlossenes Ganzes. Die ,melodische‘ bzw. thematische Verankerung und Verflechtung der Stimmen in Transit ermöglicht es Waberi, verschiedene (zeitliche und räumliche) Perspektiven auszuleuchten: die einer Französin, eines Nomaden, eines Kindersoldaten, eines dschibutischen Intellektuellen und eines Jugendlichen, der zwischen zwei Welten aufwächst. Die Verschiedenstimmigkeit ist so gleichzeitig Ursache und Folge der stetigen Wechselwirkung zwischen Herkunfts-und Ankunftsraum. Die heterophone Technik wird in Chikwavas North Harare auf ebenso prägnante Weise umgesetzt. Die Aufspaltung der narrativen Instanz in Erzähler und Figur lässt zwei Variationen derselben Geschichte entstehen, die sich überlagern, miteinander konkurrieren, sich gegenseitig beeinflussen und am Ende konvergieren. Auch hier existiert eine eindeutige Hierarchie, denn der Erzähler ist Stimmführer, dem sich die Figur unterordnet. Das heterophone Prinzip schlägt sich, im weiteren Sinne, zudem in der Stratifikation der führenden Stimmen nieder, weil sie jeweils zwei verschiedene Narrative erzeugen – eines explizit, das andere implizit. Ersteres wird durch Bachir und Chikwavas Erzähler vermittelt, das zweite durch die Stimme des jeweiligen Autors, die man durch den Erzähler hindurch vernimmt. Damit rückt der Begriff der Unzuverlässigkeit des Erzählens in den Mittelpunkt meiner Analyse. Die Unzuverlässigkeit lässt sich in den hier besprochenen Romanen an stilistischen und linguistischen Besonderheiten, d. h. syntaktischen Störungen30 bzw. verbalen Ticks,31 ablesen. Dazu kommen ein unzuverlässiges Gedächtnis, der Widerspruch zwischen Diskurs und Handlung des Erzählers32 sowie die Diskrepanz zwischen der Darstellung des Erzählers und seinen Erklärungen oder Interpretationen.33 Sowohl Bachir als auch Chikwavas Erzähler verharmlosen Darstellungen ihrer gewalttätigen Vergangenheit und ihres Alkohol- und Drogenkonsums. Die lässige aber gleichzeitig auch besserwisserische Art, die traumatischen Ereignisse zu kommentieren, stellt ihre narrative Autorität und jeglichen Anspruch auf „epistemologische Sicherheit“ in Frage.34 Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Rea-

30 Vgl. Hansen 2007, 235. 31 Vgl. Wall 1994, 23. 32 Vgl. Hansen 2007, 235. 33 Vgl. Nünning 1997, 96. 34 Lornsen 2009, 44.

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lität und Halluzination sind nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden, denn verschiedene (Be)Deutungen konkurrieren miteinander. Die linguistischen Eigenheiten von Chikwavas Erzähler betreffen die bereits erwähnte hybride Sprache im Allgemeinen, sein Soliloquium und Einschübe wie yari, yari, yari oder kak, kak, kak im Besonderen. Auch die ständige Wiederholung der Formel Me I am principled man (HN, 65, 80, 83), die durch sein Verhalten jedoch ad absurdum geführt wird, und die Tatsache, dass der Erzähler den Mord an einem Mitglied der Opposition als „Vergebung“ (vgl. HN, 20) bezeichnet, sind Hinweise auf seine Unzuverlässigkeit. Es ist jedoch vor allem sein psychischer Zustand, der für den Verlust seiner Autorität ausschlaggebend ist. Die dissoziative Störung des Erzählers muss allerdings vom Leser erst erkannt und u.U. während der zweiten Lektüre im Sinne Nünnings „naturalisiert“ werden. Die bedingungslose Verehrung Mugabes durch den Erzähler kann, muss aber nicht unbedingt, auf eine Unzuverlässigkeit hindeuten. Dies hängt von extratextuellen Aspekten, genauer gesagt vom Wissen und den Überzeugungen des Lesers, ab.35 In Transit sind Bachirs fragwürdige politische Überzeugungen und sein moralischer Standpunkt (zu denen auch seine Umbenennung in Benladen gehört) ebenfalls nur ein potentielles, weil vom Leser abhängiges, Symptom seiner Unzuverlässigkeit. Vielmehr gelten hier ebenso die Sprache und stilistische Besonderheiten als eindeutiger Anhaltspunkt. Dazu gehören z. B. die Verwendung von Euphemismen im Zusammenhang mit Mord und Vergewaltigung ( J’ai suicidé des hommes; J’ai troué des filles [T 2003, 36]; „I suicided men […] I drilled girl“; T 2012, 23), die Verharmlosung der am Bürgerkrieg beteiligten Politiker und Generäle (zozo, couillon [T 2003, 45, 72]; „moron“, „asshole“; T 2012, 31, 58) sowie der Vergleich des bewaffneten Konflikts mit einem Fußballspiel. Die häufig auftretenden verbalen Ticks in der Form von Verdopplungen und Onomatopoeia sind ebenfalls Ausdruck seiner Unzuverlässigkeit – vieux vieux; petit petit; trop trop; vite vite (T 2003, 64) („old-old“, „small-small“, „too-too“, „quick quick“; T 2012, 50); oouuiiff ooouiiff, zzzzzzuuuuuuffff (T 2003, 37, 76) („bazoom bazoom“, „zzzzzzooooooffff“; T 2012, 24, 63). Der Einsatz eines unzuverlässigen Erzählers in Harare North und Transit wirft die Alienation der narrativen Instanz auf den Leser zurück, denn Letzterer muss sich ständig zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten entscheiden, ohne je Gewissheit zu haben. Gerade für eine nicht mit Simbabwe und Dschibuti vertraute Leserschaft erhöht sich damit der Grad der Unsicherheit. Heinz Antor bezeichnet literarische Unzuverlässigkeit als eine „Strategie der Leser-Aktivierung, die […] keine fertigen alternativen Konzepte und Rahmen anbietet, sondern das

35 Vgl. Nünning 1997, 100.

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epistemologische und epistemische Dilemma, das sie [die Unzuverlässigkeit] im Leser hervorruft, dazu benutzt, ihn selbst nach einem Ausweg suchen zu lassen“.36 In Harare North und Transit stehen Raum, Erzählung und Rezeption geradezu in einem reziproken Verhältnis, denn die mit der räumlichen Spannung zwischen Herkunfts- und Ankunftsraum verbundene Zerrissenheit, Ambiguität und Unzuverlässigkeit des Erzählers reflektiert sich in der Interpretationsarbeit des Lesers. Dies wird auch durch die enge Beziehung zwischen unzuverlässigem Erzählen und Ironie bestätigt, die Booth bereits in seiner Definition des unreliable narrator erwähnt. Der Erzähler selbst wird in diesem Fall zur Zielscheibe der Ironie, durch die sich Autor und Leser hinter seinem Rücken verbünden.37 Laut Chatman wird der Erzähler während des Erzählaktes ironisiert: „Ein großer Teil der Wirkung beruht auf dem impliziten Verständnis des Lesers, dass der Erzähler sich der Duplizität, Verzerrung oder Naivität seiner Äusserungen nicht bewusst ist oder ihnen zumindest ambivalent gegenüber steht“.38 Die der unzuverlässigen Erzählung inhärente Ironie generiert zwei semantische Ebenen, „die um die Vorherrschaft kämpfen“.39 Diese Zweideutigkeit des Erzählten, die vom Leser erkannt werden muss, ergibt sich aus dem engen Zusammenspiel zwischen der Stimme des Erzählers und der darunter zu vernehmenden Stimme des Autors. Die in diesem Abschnitt besprochene Heterophonie ist daher nicht nur im Sinne Bachtins zu verstehen, d. h. als auf mehreren Erzählern bzw. Figuren beruhend, sondern auch als eine von ironisierendem Autor und ironisiertem Erzähler generierte Doppelschichtigkeit der führenden Erzählstimme. Die vorgangegangenen Beobachtungen zu den hier behandelten Romanen zeigen, dass die Heteropolis textinterne und externe Aspekte einschließt und auf dem palimpsestischen Prinzip im Zusammenhang von Raum, Sprache, Stimme und Bedeutung beruht. Damit begrenzt sich das Ineinandergreifen von Paris/ Dschibuti und London/Harare nicht nur auf die Handlung, sondern schließt sowohl Autor als auch Leser mit ein. Die Gestaltung des Topos’ der europäischen Metropole in afrikanischer Migrationspolitik macht deutlich, dass die Stadt als Medium gesellschaftlicher, diskursiver, ästhetischer und narrativer Prozesse fun-

36 [S]trategy of reader-activation which […] does not present ready-made alternative concepts and frameworks but uses the epistemological and epistemic suffering it engenders in the reader to make him look for a way out himself. Vgl. Antor 2001, 24, zitiert in Lornsen 2009, 49 (Deutsche Übersetzung A. Z.). 37 Vgl. Booth 1983, 304. 38 Chatman 1990, 154. Much of the effect rests on the implied reader’s understanding that the narrator is unconscious or at least ambivalent about the duplicity, distortion, or naiveté of his account (Deutsche Übersetzung A. Z.). 39 Lornsen 2009, 90.

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giert. Sie wird außerdem zum Gegenstand politischer und ideologischer Überlegungen, denn Waberi und Chikwava machen durch sie Systemkritik und Gleichberechtigungsansprüche im Sinne des Postkolonialismus geltend.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Chikwava, Brian. Harare North. London: Jonathan Cape, 2009. Waberi, Abdourahman A. Transit. Paris: Gallimard, 2003.

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Register Achilleus Tatios 45, 50–62 Apuleius 8, 43, 67–72, 78, 80–83, 85 Arnim, Achim von 282, 298 Augé, Marc 282 Bachtin, Michail M. 3, 15, 42–44, 46, 189, 290, 303, 358, 394, 398, 399, 401 Ball, John Clement 370, 378 Bewegungsbereich 141, 172, 209, 359 Bildungsroman 1, 9, 239, 253–255, 286, 301, Cassirer, Ernst 352 Castells, Manuel 390 Certeau, Michel de 10, 359, 367–371, 379, 380 Cervantes, Miguel de 242 Chariton 45, 46, 48–50, 60–62 Chatman, Seymour 189, 401 Chikwava, Brian 384, 385, 390, 393–397, 399, 401 Chrétien de Troyes 157–158, 160, 165 Chronotopos 3, 15, 42, 280, 290, 303, 345, 358 Conrad, Joseph 339 Coudrette 205, 206, 208, 210, 215–217, 219 Cowley, John 366 Dante Alighieri 303–305 Defoe, Daniel 337, 338 Dickens, Charles 373 Dietrichepik 121–143 Dostojewski, Fjodor M. 398 Dünne, Jörg 339 Eckenlied 141 Eco, Umberto 234, 235, 242, 249, 250, 251, 292–295 Eliot, Thomas S. 373 Entwicklungsroman 301 Ereignisregion 10, 13, 22, 36, 141, 142, 155, 206, 208, 209, 221, 222, 359 Fichte, Hubert 265, 326 Fortunatus 229–231, 232 Foucault, Michel 14, 101, 282, 329, 344 Genet, Jean 311–320, 323, 326, 329 Genette, Gerard 5, 41 Geppert, Hans Vilmar 275, 277–279

Goethe, Johann Wolfgang von 233, 249, 250, 260, 268, 270 Gottfried von Straßburg 1, 152, 171, 177, 178, 182, 190, 195, 196 Grenze 15, 23, 26, 27, 37, 70, 111, 122, 136, 142, 149, 160, 179, 180, 181, 194, 198, 215, 216, 226, 235–238, 243, 247, 267, 281, 296, 328, 339, 340, 344, 358, 359, 366, 379, 385, 386, 388–390, 392, 393, 395, 396 Hall, Stuart 377 Handlungsraum 56, 58, 92, 94, 103, 106, 187, 190, 192, 293, 295, 298, 299, 314, 316 Hardenberg, Friedrich von 253–260, 263, 265, 266, 268, 269, 270 Harris, Robert 279 Harrison, Stephen 82 Heimat 2, 19, 20, 22, 24, 28, 31–33, 36, 37, 38, 41, 42, 44, 45, 49, 51, 58, 60, 61, 67, 76–79, 83, 133, 166, 170, 188, 208, 235, 238, 239, 241, 243, 320, 323, 324, 326, 327, 358, 363–366, 373, 374, 377, 383, 389, 390, 393, 395 Heliodor 1, 46, 58, 59, 62, 235, 242 Herkunftsroman 11, 344, 345 Herzog Ernst 93, 95–97, 100–112, 114, 115, Heterotopie 91, 95, 96, 100, 102, 104, 111, 115, 181, 187, 192, 201, 220, 225, 282, 344 historische Metafiktion 279, 346 historischer Roman 233, 275–286, 289–292, 296, 298, 300, 301, 305 Hölter, Achim 303 Homer 1, 11, 21, 22, 49, 147 Inferenz 13, 154, 168, 212, 316, 321–323, 325, 329, 332 Jackson, Michael 396 Jean d’Arras 206, 208, 210, 215, 216, 219 Kitchener, Herbert 358, 359, 361, 362–367, 371, 376, 380 König Rother 9, 91–94, 97, 103, 115 Konrad von Würzburg 190, 196, 197, 200 Koselleck, Reinhart 276

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 Register

Larsen, Leif 340, 342, 346 Laurin 141 locus amoenus 50, 53 Lotman, Jurij 15, 122, 136, 142, 149, 181, 238, 339, 357, 359 Lukács, Georg 277, 278, 283, 284 Manzoni, Alessandro 12, 233, 234, 236, 242, 243, 248–250, 251, 281, 290, 292, 293, 295, 298, 301, 302, 303 McLeod, John 370, 371 Migrationsroman 337, 339, 341, 342–346, 348, 352, 353 multimodaler Roman 1, 11, 337, 339, 340, 348, 350, 352, 353 narrative space 244 narrative universe 244, 248 narrative universe 244 narrative world 244 Nünning, Ansgar 152, 277, 279, 400 Ondaatje, Michael 340, 342, 344, 345, 348, 351 Piatti, Barbara 314 Platon 52, 54, 56, 57, 59, 61, 72, 398 Raabe, Wilhelm 295, 298 Raimondi, Ezio 282, 293 Rais, Gilles de 324, 326 Ramazani, Jahan 365, 366 Ransmayr, Christoph 12, 286–289, 303 Rosengarten 140, 141 Ryan, Marie–Laure 10, 187, 243 Sartre, Jean–Paul 313, 319, 333 Schiller, Friedrich 259, 260, 302 Scott, Walter 8, 250, 278, 280, 281, 283, 285, 287, 288, 290, 295, 296, 298, 301

Sebald, W. G. 11, 282, 289, 340, 343, 345, 351 Selvon, Sam 9, 358, 371, 372, 373, 375, 379, 380 setting 189, 244, 329 Sigenot 141 Smith, Michael 389 Soja, Edward W. 244, 345 spatial frame 187, 244 spatial turn 4, 41 story space 10, 13, 41, 42, 194, 244, 248 Thüring von Ringoltingen 8, 13, 205, 206 Todorov, Tzvetan 398 Topologie 341, 346 topologisch 149, 160, 179, 180, 220, 339, 340, 344 Ulrich von Zatzikhoven 190 Urban, Urs 312, 313 Ursprung 33, 125, 152, 195, 201, 205, 214, 218, 219, 220, 227, 228, 289, 373 Ursprungsort/–raum 45, 55, 74, 191, 342, 358 (Ursprungsland: 358, 364) Utopie 64, 128, 267, 270, 271, 282, 339, 345, 376 Vergil 45, 147, 233 Virginal 135–140, 142, 143 Waberi, Abdourahman A. 384, 385, 388, 390, 391, 393, 394, 396, 397, 401 Wahrnehmungsbereich 25, 29, 170, 171, 173, 359 Wolf, Werner 239, 241 Wolfram von Eschenbach 152, 154, 158, 161, 166, 182, 187, 190, 193 Xenophon Ephesius  45, 47, 48, 60–62