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German Pages 264 Year 2023
Robert Forkel, Bianca Patricia Pick (Hg.) Literarische Interventionen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945
Erinnerungskulturen / Memory Cultures Band 9
Editorial Die Reihe Erinnerungskulturen / Memory Cultures versammelt Studien, die aktuelle Fragestellungen der Erinnerungsforschung bearbeiten und das Forschungsfeld durch innovative Perspektiven bereichern. Diese Studien aus dem breiten Fächerspektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen insbesondere die Rolle, die Erinnerungen bei Integrationsprozessen und als Konfliktgeneratoren spielen. Sie beleuchten dabei spezifische kulturhistorische Kontexte in Hinblick auf die Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht nur für den Aufbau und Zusammenhalt von sozialen und politischen Kollektiven, sondern gerade auch in Konflikt-Konstellationen durch divergierende, rivalisierende, gegenläufige und unvereinbare Erinnerungen. Die Reihe schenkt darüber hinaus den transnationalen Akteuren und Medien des Erinnerns in Kontexten der Globalisierung besondere Aufmerksamkeit. Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann.
Robert Forkel (Dr.) ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen kognitive Literaturwissenschaft, Narratologie und Erinnerungsliteratur. Bianca Patricia Pick (Dr.) war bis 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie wurde im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit einer Arbeit zur Literatur von Überlebenden der Shoah promoviert und studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Zeitgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie forscht zu ExilPreisausschreiben.
Robert Forkel, Bianca Patricia Pick (Hg.)
Literarische Interventionen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
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Inhalt
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose Positionen und Stationen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945. Eine Einleitung Robert Forkel/Bianca Patricia Pick....................................................7 »Jankélévitch vermied es, die Themen anzusprechen, die der eigentliche Grund meines Besuches waren« Bianca Patricia Pick im Gespräch über das Verzeihen mit Wiard Raveling und Klaus-Michael Kodalle ........................................................... 31 Züge einer narrativen Ethik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder als Beitrag zur Versöhnung nach 1945 Stephan Grätzel .................................................................... 63 Resistance and Reconciliation Martin Buber’s Stance towards Nazi and Post-War Germany Francesco Ferrari .................................................................. 83 Fremdheit und Versöhnung Paul Ricœurs narrative Identität und Paul Celans Atemwende Dennis Marten......................................................................105 Unversöhnlichkeit aus Solidarität Poetiken nach Auschwitz von Ilse Aichinger und Lisa Fittko Anna-Katharina Gisbertz ...........................................................127 Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot im deutschen Nachkriegsdiskurs Birgit M. Körner ....................................................................145
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald Anmerkungen zur Stuttgarter Rede Robert Forkel ......................................................................169 Schuld und Versöhnung Poetik einer komplizierten Beziehung in Katharina Hackers Eine Art Liebe Saskia Fischer ..................................................................... 191 Rachekunst Unversöhnlichkeit als literarischer Topos deutschsprachiger jüdischer Gegenwartsliteratur Luisa Banki ........................................................................213 Gegentheater Kritisches Erinnern mit den Mitteln der Bühne Sebastian Schirrmeister........................................................... 235 Beiträgerinnen und Beiträger .................................................... 257
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose Positionen und Stationen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945. Eine Einleitung Robert Forkel/Bianca Patricia Pick
›Versöhnung‹ gilt in den europäischen Erinnerungskulturen als übergeordnetes Ziel zur Beilegung von Konflikten zwischen Tätern und Opfern des Nationalsozialismus. Die damit einhergehenden Bestrebungen, eine ›Normalisierung‹ des Verhältnisses beider Seiten zueinander einzuleiten, werden jedoch häufig von gegensätzlichen Erwartungen genährt. Vonseiten der Opfer und deren Nachfahren wurde seit jeher immer wieder beanstandet, dass der dominierende erinnerungspolitische Kurs über tieferliegende Differenzen hinwegsieht und damit eine kritische Auseinandersetzung mit abweichenden Erinnerungs- und Identitätsbedürfnissen blockiert. So warnt Jean Améry in den Siebzigerjahren vor einer übereilten Versöhnung auf Grundlage bloßen Vergessens: Die Opfer sterben weg, es ist gut so, sie sind überzählig, seit langem schon. Auch die Henker krepieren, erfreulicherweise und dem Gesetz des biologischen Absterbens entsprechend. Aber neue Generationen wachsen ständig heran in beiden Lagern, und zwischen diesen, die jeweils geprägt sind von Herkunft und Umwelt, tut wiederum die alte unüberbrückbare Kluft sich auf. Die Zeit wird irgendwann sie schließen, das ist gewiß. Aber es darf nicht faule, gedankenlose, grundfalsche Versöhnlichkeit sein, die jetzt schon den Prozeß des Zeitigens beschleunigt. Im Gegenteil: Da es eine moralische Kluft ist, bleibe sie vorläufig weit geöffnet […].1
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Jean Améry: Vorwort zur Neuausgabe 1977 von Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966]. In: Ders.: Werke. 9 Bde. Bd. 2: Jenseits von
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Diese Vorläufigkeit scheint sich über die Jahrzehnte hinweg ihrerseits ›normalisiert‹ und als Gegenentwurf zu den Normalisierungsbedürfnissen der Täterseite etabliert zu haben. In den Neunzigerjahren bringt Salomon Korn diese abweichenden Erwartungen an eine deutsch-jüdische ›Normalität‹ auf folgende Formel: Während in Deutschland die »Tätergeneration« und ihre Nachfahren eher dazu neigen, eine »Normalität« einzufordern, in der die jüngste Vergangenheit bereits historisiert ist, bestehen die überlebenden Opfer des Holocaust und deren Nachkommen auf einer von der Vergangenheit weiterhin beherrschten »Normalität«.2 Paradoxerweise könne das historisch belastete Verhältnis zwischen Deutschen und Juden erst dann als ›normal‹ eingestuft werden, wenn sich die Frage nach ›Normalität‹ schon gar nicht mehr stelle.3 In dieser Begriffslogik ist jedes Sprechen über Versöhnung und jede öffentlich artikulierte Normalisierungsdiagnose nichts anderes als ein Beleg für eine inhärent schwelende Unversöhnlichkeit.4 Diese wird vonseiten der Opfer und ihrer Nachfahren jedoch auch explizit benannt, um nicht zu sagen eingefordert. So meldet sich in Deutschland zunehmend eine junge jüdische Generation zu Wort, die selbstbewusst eigene Identitätsbedürfnisse artikuliert und einer wie auch immer gedachten ›Normalität‹ eine Absage erteilt. »Es wird nie wieder alles gut«5 , verlautbaren die Enkelinnen und Enkel von Opfern der Shoah.6
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Schuld und Sühne, Unmeisterliche Wanderjahre, Örtlichkeiten. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 11–19, hier S. 15. Salomon Korn: Rückkehr der Mythen? Zur Zukunft des »deutsch-jüdischen« Verhältnisses. In: FAZ (21. April 1999), S. 54. Vgl. Salomon Korn: Auf der Suche nach der deutsch-jüdischen ›Normalität‹. In: Ders.: Die fragile Grundlage. Auf der Suche nach der deutsch-jüdischen ›Normalität‹. Mit einem Geleitwort von Joschka Fischer. Berlin/Wien 2003, S. 153–159, hier S. 158. Die Alternative besteht Robert Schindel zufolge im Schweigen: »Wenn wir dies erschweigen, also als Faktum akzeptieren, dass Normalität obszön ist zwischen Juden und Nichtjuden hierorts, dann ist der Dialog jenseits der Plappersuppen möglich.« (Robert Schindel: Schweigend ins Gespräch vertieft. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in den Täterländern. In: Ders.: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen. Frankfurt a.M. 2004, S. 15–22, hier S. 22.) Max Czollek: Desintegriert Euch! München 2018, S. 182. Siehe hierzu den Beitrag von Luisa Banki im vorliegenden Band.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
Um die diskurs- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe dieser jüngeren Entwicklung greifbar zu machen, skizzieren wir im Folgenden grob die wichtigsten Stationen und Positionen des deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurses7 seit 1945. Anschließend kommen wir auf einige Beispiele aus der Literatur zu sprechen, die sich über Jahrzehnte hinweg als kritische Gegenstimme zu gesellschaftspolitisch motivierten Versöhnungserwartungen etablierte. Dabei nehmen wir spezifisch literarische Interventionspotenziale in den Blick und leiten damit über zum gemeinsamen Thema des vorliegenden Sammelbandes.
1. ›Wiedergutmachung‹ und die Legende von der deutsch-jüdischen Symbiose Mit Blick auf die deutschen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus ist in der Gründungsphase der Bundesrepublik auf höchster staatlicher Ebene eine Rhetorik der Versöhnung dokumentiert. Theodor Heuss forderte schon 1949 nichts Geringeres als den »Mut zur Liebe«8 , während Konrad Adenauer in seiner Erklärung der Bundesregierung über das deutsch-jüdische Verhältnis am 27. September 1951 »moralische und materielle Wiedergutmachung« versprach,
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Mit Versöhnung beschäftigen wir uns nicht als Realphänomen, sondern vornehmlich als Element eines gesellschaftlichen Diskurses. Alles andere würde eine breitere disziplinäre Aufstellung des vorliegenden Sammelbandes erfordern. Zu dieser methodisch-begrifflichen Problematik vgl. auch Hans Henning Hahn, Heidi Hein-Kircher u. Anna Kochanowska-Nieborak: Einleitung: Überlegungen zum Verhältnis von Erinnerungskultur, Versöhnung und Versöhnungskitsch. In: Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Hg. v. dens. Marburg 2008, S. 3–15, hier S. 5. Theodor Heuss: Mut zur Liebe. Sonderdruck der Rede des Bundespräsidenten Theodor Heuss anläßlich der Feierstunde der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wiesbaden am 7. Dez. 1949. Bad Nauheim: Dt. Koordinierungsrat der Christen und Juden 1949. Mit diesem Appell greift Heuss das Programm des britisch-jüdischen Verlegers Victor Gollancz auf, der immer wieder öffentlichkeitswirksam gegen die Kollektivschuldthese argumentierte und sich für eine versöhnliche Haltung auf allen Seiten einsetzte: »Wohlwollen ruft Wohlwollen hervor, und wenn wir lieben – wenn wir wahrhaftig und rückhaltlos lieben –, so treten damit nicht nur wir selbst in ein reicheres Leben ein, sondern auch die, denen wir unsere geistigen Hände entgegenstrecken.« (Victor Gollancz: Rede im ›Sheldonian Theatre‹. In: Ders.: Versöhnung. Hamburg 1948, S. 9–39, hier S. 21.) Eine ähnliche Rede, die ebenfalls in diesem Heft abgedruckt ist, hält Gollancz im selben Jahr (1947) in Wilton Park vor deutschen Kriegsgefangenen.
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um den »Geist wahrer Menschlichkeit«9 wiederzubeleben. Sämtliche Parteien des Bundestages teilten die Ansichten des Bundeskanzlers. Diese augenscheinliche Geschlossenheit möge, so die Hoffnung von Bernhard Reismann (Zentrum), »dazu beitragen, daß das erklärliche Ressentiment bei denen, die so schweres Leid durch eine voraufgegangene Regierung Deutschlands haben ertragen müssen, aus der Welt geschafft wird«10 . Paul Löbe (SPD) mahnt in diesem Zusammenhang zur Rückbesinnung auf ein einstmals ungestörtes Verhältnis zu den deutschen Juden: »Wir wissen uns insbesondere mit den Juden, die gleich uns als Deutsche geboren sind, unlösbar verbunden und können ihren Beitrag aus unserer gemeinsamen Geschichte nicht fortdenken.«11 Allesamt berufen sie sich auf einen Status quo ante – so auch tags darauf die Süddeutsche Zeitung: Was auch immer das politische Ergebnis dieser deutschen Erklärung sein mag: ihre schöne Menschlichkeit erinnert uns an jene andere Epoche unserer Vergangenheit, deren wir uns wahrlich nicht zu schämen haben. In ihr wurden jüdische Namen auf jene Ehrentafel großer Deutscher eingetragen, der auch die übrige Welt ihre tiefe Achtung nicht versagt hat. Laßt uns also diese Vergangenheit heraufbeschwören, damit in ihrem warmen, versöhnlichen Lichte, zwar nicht vergessen, aber verziehen werden möge.12 Diese Rückbesinnung auf ein vermeintlich friedliches Zusammenleben ist teilweise historisch nachvollziehbar, etwa insoweit auf die Anerkennung wissenschaftlicher und künstlerischer Leistungen, aber auch auf die wirtschaftliche Bedeutung und politische Aktivität deutscher Juden verwiesen wird: »Sowohl auf sozialer wie auf beruflicher und auf politischer Ebene waren durch die Jahrzehnte seit der Reichsgründung, aber besonders seit dem
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Konrad Adenauer: [o. T.]. In: Deutschland und das Judentum. Die Erklärung der Bundesregierung über das deutsch-jüdische Verhältnis. Hg. v. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Bonn 1951, S. 3–5, hier S. 4. Bernhard Reismann: »Atmosphäre der Humanität«. In: Deutschland und das Judentum. Die Erklärung der Bundesregierung über das deutsch-jüdische Verhältnis. Hg. v. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Bonn 1951, S. 7–8, hier S. 7–8. Paul Löbe: »Erneuerung des Rechts«. In: Deutschland und das Judentum. Die Erklärung der Bundesregierung über das deutsch-jüdische Verhältnis. Hg. v. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Bonn 1951, S. 5–6, hier S. 5. Süddeutsche Zeitung (28. September 1951), zitiert nach: Deutschland und das Judentum. Die Erklärung der Bundesregierung über das deutsch-jüdische Verhältnis. Hg. v. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Bonn 1951, S. 16.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
Ende des Kaiserreiches, Juden und Nicht-Juden unentwirrbar miteinander verflochten und schließlich nur mit Gewalt zu trennen.«13 Nicht zuletzt wird die Kameradschaft im Ersten Weltkrieg immer wieder herangezogen, welche vor allem aus jüdischer Perspektive eine innere Verbundenheit offengelegt zu haben schien – so im zweiten Kriegsjahr die Einschätzung des jüdischen Philosophen Hermann Cohen: Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des deutschen Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde.14 Bald schon jedoch ist diese »Legende«15 von einer einstmaligen ›deutschjüdischen Symbiose‹ verstärkt in Zweifel gezogen oder gar gänzlich zurückgewiesen bzw. nachträglich ›begraben‹ worden.16 Schon 1939 verkündet Martin
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Frank Mecklenburg: Als deutsch-jüdisch noch deutsch war. Die digitalisierten Sammlungen des Leo Baeck Institut Archivs bis 1933. In: Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern. Hg. v. Elke-Vera Kotowski. Berlin [u.a.] 2015, S. 500–510, hier S. 502. Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus. Gießen 1915, S. 38. Vgl. Wolfgang Benz: Die Legende von der deutsch-jüdischen Symbiose und die Konstruktion des neuen Mythos der christlich-jüdischen Tradition des Abendlandes. In: Deutsch-jüdische Identität. Mythos und Wirklichkeit. Ein neuer Diskurs? Hg. v. Norbert Honsza u. Przemysław Sznurkowski. Frankfurt a.M. 2013, S. 9–17. Umfassend zu Begriff und Geschichte jener ›Symbiose‹ siehe Manfred Voigts: Die deutsch-jüdische Symbiose. Zwischen deutschem Sonderweg und Idee Europa. Tübingen 2006. Dies im Übrigen auch schon vor Hitlers Machtübernahme, vgl. etwa die – bereits 1921 in Mein Weg als Deutscher und Jude vorgelegte – kritische Analyse von Jakob Wassermann, der »stets um eine Synthese von Deutschtum und Judentum gerungen hat, mit der schmerzlichen Einsicht allerdings, daß diese Synthese angesichts des pathologischen Rassenhasses und der Gleichgültigkeit allzu vieler bürgerlicher Repräsentanten vor allem nach dem Ersten Weltkrieg unmöglich erschien« (Hans Otto Horch: Deutschtum und Judentum – eine unmögliche Synthese? Jakob Wassermann im Kontext der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Jakob Wassermann. Deutscher – Jude – Literat. Hg. v. Dirk Niefanger, Gunnar Och u. Daniela F. Eisenstein. Göttingen 2007, S. 69–89, hier S. 86).
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Buber das »Ende der deutsch-jüdischen Symbiose«17 und die Unmöglichkeit ihrer Wiederherstellung. Unmittelbar nach Kriegsende meint Leo Baeck sogar, die deutsch-jüdische Symbiose sei nicht mehr als eine »Illusion«18 gewesen. Adolf Leschnitzer spricht von »Zertrümmerung«19 , Hans Mayer später vom »Widerruf«20 der Symbiose, während H. G. Adler rückblickend konstatiert, »von Deutschen wurde keine Symbiose angestrebt, es sei denn mit Juden ohne ihr Judentum oder solchen, die keine Juden mehr waren.«21 Eindringlich kritisiert Gershom Scholem das Gerede von einer ›Wiederherstellung des Gesprächs‹ zwischen Deutschen und Juden, und zwar mit der Begründung, dass man nichts ›wiederherstellen‹ könne, was es vorher nicht
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Martin Buber: Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. 2., durchgesehene u. erw. Aufl. Gerlingen 1993, S. 629–632. »Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei –.« (Zitiert nach Albert H. Friedlanders u. Bertolt Klapperts Vorbemerkungen zu Epochen der jüdischen Geschichte in Leo Baeck: Werke. Bd. 5: Nach der Schoa – Warum sind Juden in der Welt. Schriften aus der Nachkriegszeit. Hg. v. Albert H. Friedlander u. Bertolt Klappert. Gütersloh 2002, S. 207–208.) Adolf Leschnitzer: Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft. Heidelberg 1954, S. 175. Vgl. Hans Mayer: Auf Widerruf. Deutsche und Juden. Frankfurt a.M. 1994. H. G. Adler: Die Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. München 1987, S. 162.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
gegeben habe.22 Die ›deutsch-jüdische Symbiose‹ sei ein »Mythos«23 – und auf einem Mythos lasse sich schwerlich ein freundschaftliches Verhältnis gründen. Wohlgemerkt weist Scholem die Bemühungen um eine Annäherung nicht zurück, sondern fordert lediglich die Anerkennung der historischen Tatsachen als deren Bedingung ein – wie etwa in folgender Äußerung von 1965: »Ich gehöre nicht zu denen, die der Wiederaufnahme solcher Beziehungen ablehnend gegenüberstehen. Um solche Wiederaufnahme in einem ernsten Sinne fruchtbar zu machen, bedarf es aber nicht nur der Erkenntnis dessen, was ist, sondern auch dessen, was war.«24 Insofern ist der Ausdruck ›Wiedergutmachung‹ – der sich im politischen Diskurs frühzeitig gegen Bezeichnungen wie ›Reparation‹ oder ›Entschädigung‹ durchgesetzt hatte – nicht nur unangemessen angesichts der Schwere der Verbrechen des Nationalsozialsozialismus,25 sondern auch problematisch
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Vgl. Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Ders.: Judaica 2. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, S. 7–11. Mit dieser Rede »[formulierte] er seinen Einspruch […] gegen die Vereinnahmung des Mythos von der deutsch-jüdischen Symbiose durch eine nachkriegsdeutsche Versöhnungspolitik, die über das Vergangene hinwegsehen wollte« (Sigrid Weigel: Shylocks Wiederkehr. Die Verwandlung von Schuld in Schulden oder: Zum symbolischen Tausch der Wiedergutmachung. In: ZfdPh Sonderheft, 114 (1995). S. 3–22, hier S. 10. – Mit ›Gespräch‹ meint Scholem, wie er im Nachtrag klarstellt, nicht etwa jegliche Form von Auseinandersetzung, sondern er verwende »das Wort in jenem erhöhten und leidlich präzisen Sinn […], wie ihn die Philosophen des ›Dialogs‹ für bestimmte geistige Auseinandersetzungen eingeführt haben« (Gershom Scholem: Noch einmal: das deutsch-jüdische »Gespräch«, S. 13). Naheliegend ist, dass er damit auf Martin Buber anspielt, siehe hierzu den Beitrag von Francesco Ferrari im vorliegenden Band. Vgl. hierzu auch die historische Analyse von Julius H. Schoeps: Deutsch-jüdische Symbiose oder Die mißglückte Emanzipation. Darmstadt 1996. Scholem: Noch einmal, S. 14. Bei genauerer Betrachtung ging es in dieser erinnerungspolitischen Phase der Bundesrepublik tatsächlich kaum ernsthaft um Fragen der Schuld oder die Übernahme von Verantwortung, geschweige denn um die (moralische wie juristische) Verurteilung von NS-Täterinnen und NS-Tätern. Adenauers zugesagte Wiedergutmachung beruht nicht auf einem Schuldbekenntnis, sondern sie ist der Versuch einer ›Entschuldung‹, beruhend auf der Annahme, Schuld durch Schulden ausgleichen zu können, vgl. Weigel: Shylocks Wiederkehr. Vgl. hierzu auch Birgit R. Erdle: Aus der Geschichte des Schadensdiskurses nach 1945. In: Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges. Hg. v. Jakob Tanner. Zürich 2002, S. 323–348, sowie ferner Jenny Wüstenberg: Civil Society and Memory in Postwar Germany. Cambridge 2017, hier S. 32–75.
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hinsichtlich seiner Implikation, dass das deutsch-jüdische Verhältnis früher einmal ›gut‹ gewesen sei.26 Aber auch ihren Inhalten nach war die ›Wiedergutmachungspolitik‹ keineswegs repräsentativ für die Stimmung in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik,27 wo der Rückhalt in der Gesellschaft fehlte: Laut einer Umfrage von 1952 hielten 44 Prozent der Deutschen eine ›Wiedergutmachung‹ im Wert von drei Milliarden Mark für »überflüssig«, nur 11 Prozent befürworteten sie ausdrücklich.28 Im Übrigen gab es auch in Israel seitens der Opposition und in der Bevölkerung lautstarken Protest: »Die von Ben-Gurion eingeleitete Versöhnung mit Deutschland hielten die meisten seiner Landsleute und viele Diasporajuden für eine Verhöhnung der Toten.«29 Vielmehr wurde öffentlich darüber diskutiert, ob private Kontakte mit Deutschen unter Strafe gestellt und deutsch-israelische Handelsbeziehungen grundsätzlich verboten werden sollten.30 Noch 26
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Zu den zahlreichen – materiellen, moralischen, religiösen, juristischen und erinnerungskulturellen – Begriffskonnotationen und damit einhergehenden (auch falschen) Erwartungen vgl. Hans Günter Hockerts: Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld. In: Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? Hg. v. dems.u. Christiane Kuller. Göttingen 2003, S. 7–33. In der DDR war die Wiedergutmachungsfrage von Beginn an anders gelagert, und zwar sowohl aufgrund eines abweichenden Verständnisses von Täter- und Opferzugehörigkeiten und dementsprechend divergenten Gerechtigkeitsvorstellungen als auch wegen der ungleich schlechteren ökonomischen Ausgangsbedingungen, vgl. Constantin Goschler: Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten in West- und Ostdeutschland im Vergleich. In: Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland? Hg. v. Hans Günter Hockerts u. Christiane Kuller. Göttingen 2003, S. 115–137, sowie den Abriss von Nora Goldenbogen: Juden in der DDR. Erwartungen – Realitäten – Wandlungen. In: Der Anfang nach dem Ende. Jüdisches Leben in Deutschland 1945 bis heute. Hg. v. Günther B. Ginzel. Düsseldorf 1996, S. 123–149. Antijüdische Repressionen und Antisemitismus in SBZ und frühen DDR werden exemplarisch dokumentiert in Andreas Weigelt/Hermann Simon (Hg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biographien. Berlin 2008. Vgl. Renate Köcher: Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach. Eine Repräsentativbefragung im Auftrag des Stern. Allensbach: Institut für Demoskopie [o.J.], S. 10–11, 17. Köcher beruft sich hierbei auf Daten aus dem Archiv des IfD Allensbach. Michael Wolffsohn. Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen. 3. Aufl. München 1989, S. 115. Vgl. Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 257. Zur Ächtung Deutschlands trotz diplomatischer Annäherung siehe auch Neima Barzel: The Attitude of Jews of German Origin in Israel to
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
in den Sechzigerjahren gibt Jean Améry zu Bedenken, »ob nicht gerade die sogenannte Wiedergutmachung oder die deutsche Bereitschaft, ›den Juden zu helfen‹, das moralische Problem einer deutsch-jüdischen Auseinandersetzung eher belastet als entschärft«31 . Nichtsdestotrotz verstärkte sich neben wirtschaftlichen und touristischen Beziehungen zunehmend auch der Austausch und die Vernetzung in den Bereichen Kultur, Bildung, Wissenschaft32 und Medien sowie der Museums- und Gedenkstättenarbeit. Dabei waren neben staatlichen Projekten – wie etwa der Eröffnung des Goethe-Instituts in Tel Aviv – auch zahlreiche dezentrale Anstrengungen – wie etwa Städte- und Universitätspartnerschaften – zu verzeichnen.33 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Bild ab den Sechzigerjahren zu einem Medium der Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden entwickelt hat. Ihr Engagement war in der überregionalen deutschen Presselandschaft bespiellos und fand sich nicht annähernd in dieser Weise bei der Konkurrenz.34 Mit ihrer dezidiert anti-
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Germany and Germans after the Holocaust, 1945–1952. In: Leo Baeck Institute Year Book 39 (1994), S. 271–301, hier S. 281–285, und Niels Hansen: Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion. Ein dokumentierter Bericht. Mit einem Geleitwort von Shimon Peres. Düsseldorf 2002. Jean Améry: Nachwort zur fünften Session des Jüdischen Weltkongresses. In: Deutsche und Juden, ein unlösbares Problem. Reden zum Jüdischen Weltkongress. Hg. v. Abraham Melzer. Düsseldorf 1966, S. 103–107, hier S. 105. Vgl. Israel Pecht: Deutsch-israelische Zusammenarbeit in der Wissenschaft: Brückenschlag durch Forschung und ihre Förderung. In: Impulse geben – Wissen stiften. 40 Jahre VolkswagenStiftung. Göttingen 2002, S. 481–489, und Dan Diner: Israel und Deutschland: Über Nähe und Distanz ihrer Wissenschaftskulturen. Ein Bericht über die Förderung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Israel und ihre historischen Voraussetzungen. In: Impulse geben – Wissen stiften. 40 Jahre VolkswagenStiftung. Göttingen 2002, S. 491–506. Vgl. Kompendium der deutsch-israelischen Beziehungen. Hg. v. Deutschen ÜberseeInstitut, Übersee-Dokumentation, Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, Bonn. Hamburg 1995. Beim Stern etwa fanden sich zahlreiche ehemalige NS-Propagandisten zusammen und schürten in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren rassistische und antisemitische Ressentiments, während über den Holocaust und deutsche Verbrechen konsequent geschwiegen wurde, vgl. Tim Tolsdorff: Von der Stern-Schnuppe zum Fix-Stern. Zwei deutsche Illustrierte und ihre gemeinsame Geschichte vor und nach 1945. Köln 2014. Auch der neu gegründete SPIEGEL reproduziert in seinen Anfangsjahren antisemiti-
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faschistischen Haltung und einer konsequenten Thematisierung jüdischer Interessen sollte die Zeitung die Empathie mit jüdischen Einzelschicksalen fördern und nicht zuletzt zentrale gesellschaftliche Erziehungsaufgaben übernehmen.35 Allerdings geht dieser Impuls einzig und allein von dem Verleger Axel Springer aus, der seine Redakteure vertraglich zum »Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen«36 verpflichtete und somit – letztlich aus einem privaten Anliegen heraus – »eine positive mediale deutsch-jüdische Symbiose [schuf]«37 . So ehrenwert dieses Anliegen sein mag und so sehr Springer sich in der Tat um die deutsch-israelischen Beziehungen verdient gemacht hat,38 handelt es sich bei diesem Lebensprojekt doch ganz ersichtlich um eine symbolisch überformte Konstruktion: Axel Springer führte seine mehrheitlich nationalsozialistisch belastete Leserschaft in eine massenmediale Einheit hinein, in der eine zerbrochene deutsch-jüdische Geschichte holographisch wiederhergestellt werden sollte. Es war ein beispielloser Versuch einer frühen medialen projüdischen Überformung der Realität im Land des Holocaust.39 Angesichts der enormen medialen Reichweite des Verlagshauses dürfte der damit einhergehende mentalitätsgeschichtliche Effekt kaum zu überschätzen sein, jedoch hat Springer mit seiner einseitigen Agenda gleichwohl vergleichsweise wenig zu einer historisch adäquaten gegenseitigen Wahrnehmung im deutsch-jüdischen bzw. deutsch-israelischen Verhältnis beigetragen und einen differenzierten Diskurs vielleicht sogar blockiert.40
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sche Vorurteile, verkehrt das Täter-Opfer-Verhältnis und kritisiert die deutsche Wiedergutmachungspolitik, vgl. David Heredia: Der Spiegel and the Image of Jews in Germany: The Early Years, 1947–1956. In: Leo Baeck Institute Year Book 53 (2008), S. 77–106. Vgl. Karl Christian Führer: Schuld und »Selbstbestimmung«. Axel Springers Bild-Zeitung und die Juden in den 1950er und 1960er Jahren. In: Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden. Hg. v. Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin u. Raphael Gross. Göttingen 2012, S. 17–25. Auszug aus einem Redakteursvertrag, zitiert nach Belkin: Mediale Symbiose, S. 11. Ebd. Während Springer in Deutschland bekanntlich bis heute umstritten ist, wurde er in Israel geradezu verehrt, vgl. Ephraim Kishon: Symbol der Versöhnung. In: Axel Springer. Die Freunde dem Freund. Hg. v. Friede Springer. Berlin/Frankfurt a.M. 1986, S. 120–121. Dmitrij Belkin: Mediale Symbiose. Das Jüdische bei Axel Springer. In: Bild dir dein Volk! Axel Springer und die Juden. Hg. v. Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin u. Raphael Gross. Göttingen 2012, S. 11–16, hier S. 11–12. Vgl. Belkin: Mediale Symbiose, S. 16.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
Wie sehr der versöhnungswillige Teil der Gesellschaft – insbesondere auf politischer Ebene – den bundesdeutschen Versöhnungsdiskurs über Jahrzehnte hinweg einseitig zentriert und ›beherrscht‹ hat, zeigt sich exemplarisch in Richard von Weizsäckers viel beachteter Bundestagsrede vom 8. Mai 1985. Darin spricht er von Versöhnung als »Wiedervereinigung des Getrennten«41 und behauptet damit implizit, es habe vor dem Nationalsozialismus einmal eine ›Normalität‹ im Verhältnis zwischen Juden und Deutschen – gar eine ›Einheit‹ beider Seiten – gegeben, zu der man nun zurückkehren könne und solle.42 Wie wenig sich diese Denkweise mit dem Erinnern und den gesellschaftlichen Erfahrungen der meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland verträgt, belegen nicht nur die oben exemplarisch angeführten Widerworte innerhalb des öffentlichen Diskurses, sondern auch die im nachfolgenden Kapitel zusammengestellten statistischen Erhebungen.
2. Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 Als Jüdin oder Jude in Deutschland zu bleiben oder dorthin zurückzukehren bedeutete, den Unmut und mitunter Verachtung derer ertragen zu müssen, die das Land der Täter bewusst und für immer verlassen hatten. Während in der Knesset darüber diskutiert wurde, den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden die Volkszugehörigkeit abzuerkennen,43 sprach der Jüdische Weltkongress 1948 formal ein Verbot aus, sich erneut in Deutschland anzu-
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Richard von Weizsäcker: Ansprache bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages (8. Mai 1985). In: Ders.: Reden und Interviews 1. 1. Juli 1984–30. Juni 1985. Hg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1986. S. 279–295, hier S. 284. Die Rede von ›Deutschen und Juden‹ oder ›Deutschtum und Judentum‹ ist problematisch, denn sie vermengt nationale, kulturelle und religiöse Begriffsdimensionen und ist offenkundig nicht distinkt. Wir behalten diese unscharfe Ausdrucksweise hier und im Folgenden dennoch bei, da sie im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs (wie im Übrigen auch schon vor 1933) durchgängig Verwendung findet, vgl. zu dieser Problematik den begriffsgeschichtlichen Abriss von Christoph Schulte: Nicht nur zur Einleitung. Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. In: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Hg. v. dems. Stuttgart 1993, S. 5–27. Vgl. Tamara Anthony: Ins Land der Väter oder der Täter? Israel und die Juden in Deutschland nach der Schoah. Berlin 2004, S. 96.
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siedeln.44 Dabei gab es hierfür – neben sprachlichen und kulturellen Motiven sowie wirtschaftlichen Erwägungen – sehr unterschiedliche Gründe.45 Davon abgesehen sind in den ersten beiden Jahren viele nicht zuletzt deswegen in Deutschland geblieben, um ihre früheren Peiniger der Gerichtsbarkeit zuzuführen oder auf die eine oder andere Weise Rache zu üben46 – und sei es nur durch ihre Präsenz.47 Andere sind – wenigstens vorerst – geblieben, um Angehörige (oder zumindest etwas über deren Schicksal) ausfindig zu machen. Länger in Deutschland gebliebene Jüdinnen und Juden saßen indes zumeist auf gepackten Koffern – die Auswanderung nach Israel wurde offiziell aus beruflichen Gründen oder aber aufgrund aktuell instabiler Verhältnisse im Nahen Osten aufgeschoben. »So versuchte man die Synthese zwischen emotionaler Verfolgungsangst und nüchternen politischen und wirtschaftlichen Erwägungen.«48 Der anhaltende Wunsch, dem Nachkriegsdeutschland den Rücken zu kehren, beruhte indes nicht nur auf den nationalsozialistischen Verbrechen der Vergangenheit, sondern wurde noch verstärkt durch die mangelnde Toleranz jüdischen Lebens in der frühen Bundesrepublik.49 Demoskopische Daten aus dem Allensbacher Archiv belegen einen nur langsam voranschreitenden Bewusstseinswandel: »1952 waren noch 37 Prozent überzeugt, es sei
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Vgl. Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995, S. 99–100. Diese sind vielfach autobiografisch dokumentiert, etwa von Richard Chaim Schneider (Hg.): Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute. München 2000, Katja Behrens (Hg.): Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute. Gerlingen 2002 und Henryk M. Broder/Michel R. Lang (Hg.): Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 1979. Vgl. hierzu auch Anthony: Ins Land der Väter oder der Täter? S. 27–74. Dokumentiert ist eine (weitgehend unbegründete) ›Vergeltungsangst‹ innerhalb der deutschen Bevölkerung während der Besatzungszeit, vgl. Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Reinbek bei Hamburg 2019, S. 49–57, sowie John Sack: Auge um Auge. Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten. Hamburg 1995. Zum Topos der jüdischen Rache siehe auch den Beitrag von Sebastian Schirrmeister im vorliegenden Band. Vgl. Atina Grossmann: Home and Displacement in a City of Bordercrossers. Jews in Berlin 1945–1948. In: Unlikely History. The Changing German-Jewish Symbiosis, 1945–2000. Hg. v. Leslie Morris u. Jack Zipes. New York 2002, S. 63–99, hier S. 82–84. Seligmann: Mit beschränkter Hoffnung, S. 73. Vgl. Irmela von der Lühe/Axel Schildt/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«. Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008.
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für Deutschland besser, keine Juden im Land zu haben, 1958 22 Prozent, 1965 19 Prozent, 1983 9 Prozent […].«50 1986 geben noch 22 Prozent der 2254 befragten Westdeutschen an, Juden ›nicht so gern‹ als Nachbarn haben zu wollen, und 20 Prozent stimmten der Aussage zu, es sei ›am besten, wenn alle Juden nach Israel gingen‹.51 Dieses gesellschaftliche Stimmungsbild bestätigt sich in den Erfahrungen der anderen – jüdischen – Seite: Anfang der Sechzigerjahre befragt Walter W. Jacob Oppenheimer 274 in der BRD lebende jüdische Kinder und Jugendliche und kommt zu dem Schluss, dass die in deren Erziehung geförderte Ausbildung eines jüdischen Selbstbewusstseins das Verhältnis zu ihrer nicht-jüdischen Umwelt und die Identifikation mit dem Land, in dem sie leben, generell stört.52 Diesen »seelische[n] Konflikt«53 bestätigt eine die erwachsene jüdische Bevölkerung einschließende (ebenfalls noch in den Sechzigern durchgeführte) Studie von Doris Kuschner, bei der 255 Personen befragt werden54 – die Mehrheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gab an, früher oder später nach Israel oder in die USA auswandern zu wollen. Auch belegt Kuschner, dass Jüdinnen und Juden (insbesondere in Städten mit größeren jüdischen Gemeinden) nur selten Nicht-Juden zu ihren Freunden zählen. Nach
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Köcher: Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach, S. 22. Vgl. ebd., S. 27, 35. Dabei zeigen die Zahlen aus den Achtzigerjahren (auch im internationalen Vergleich mit Österreich, Frankreich und den USA), dass dieses Unbehagen besonders bei denen ausgeprägt ist, die in ihrem persönlichen Umfeld keinen Kontakt zu Jüdinnen und Juden haben, vgl. ebd., S. 29. Indes betont Köcher, dass dieses Unbehagen nicht zwangsläufig mit antisemitischen Vorurteilen einhergehe: »Die Berührungsängste und Abgrenzungswünsche, die unabhängig von der Fragestellung bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung sichtbar werden, sagen zunächst nichts über die Motive und Hintergründe dieser Haltung. Gerade im Land des Holocaust ist davon auszugehen, daß es Motive für Berührungsängste teilweise abseits jeglicher antisemitischer Tendenzen gibt, aus Befangenheit, Unsicherheit, Schuldgefühl.« (Ebd., S. 34.) Ungeachtet dessen belegt die Studie – erwartungsgemäß – einen verbreiteten Antisemitismus in der Bundesrepublik: Köchers Berechnungsmodell zufolge liegt bei 15 Prozent der Bevölkerung eine stark antisemitische Einstellung vor, vgl. ebd., S. 54; zudem zeichne sich eine zunehmende Toleranz gegenüber antisemitischen Äußerungen und Aktionen sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich ab, vgl. ebd., S. 55–56. Vgl. Walter W. Jacob Oppenheimer: Jüdische Jugend in Deutschland. München 1967. Ebd., S. 168. Vgl. Doris Kuschner: Die jüdische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse. Köln 1977.
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einer neunmonatigen Reise durch die BRD, die DDR und Österreich im Jahr 1967 und nach unzähligen Gesprächen mit dort lebenden Jüdinnen und Juden zieht Leo Katcher folgendes – überspitzt formuliertes – Fazit: From all my journeying, all my inquiring, one fact emerged more clearly, more incontrovertibly, day by day, interview by interview. It mocket my purpose. For what does it matter to be a Jew in Germany today? History will list one final victory for Adolf Hitler. In a short time – and no one, neither Jews nor Germans, can halt it – Germany will be Judenrein.55 Noch 1984 zeichnet sich in einer mit 83 (ausschließlich nach 1945 geborenen) in Frankfurt lebenden Juden beider Geschlechter zwischen 25 und 39 durchgeführte Befragung ein Muster ab, das Lynn Rapaport als eine unsichtbare, aber lebensbestimmende Grenze oder Barriere bezeichnet, die jüdische und nichtjüdische Deutsche voneinander trenne.56 Gegenwärtige Erhebungen belegen, dass das in den Neunzigerjahren einsetzende Anwachsen jüdischer Gemeinden infolge verstärkten Zuzugs aus
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Leo Katcher: Post-Mortem. The Jews in Germany Today. New York 1968, S. 267. Diese Prognose – liest man sie wörtlich – ist schon in den Sechzigerjahren völlig realitätsfern bzw. historisch falsch. Im übertragenen Sinn jedoch (den der subjektive Duktus des Berichts nahelegt) gibt Katcher damit seinen Eindruck wieder, dass das verbliebene jüdische Leben in den beiden deutschen Staaten sowie in Österreich vergleichsweise ›bedeutungslos‹ geworden sei. In Bezug auf die DDR liegt der besondere Fall vor, dass die Juden dort in den letzten Jahren der Stalinära politisch motivierten Repressionen ausgesetzt gewesen waren (was eine Fluchtbewegung in den Westen ausgelöst hatte), während nach 1953 der Staat demonstrativ seine schützende Hand über die wenigen jüdischen Gemeinden hielt, um damit seinen antifaschistischen Gründungsmythos zu stützen, vgl. Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995, S. 199–203. Zur DDR vgl. weiterhin Erica Burgauer: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945. Reinbek bei Hamburg 1993, hier S. 137–264, sowie Weigelt/Simon (Hg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Vgl. Lynn Rapaport: Jews in Germany after the Holocaust. Memory, Identity, and Jewish-German relations. Cambridge 1997. Zu diesbezüglichen Unterschieden zwischen ›erster‹ und ›zweiter Generation‹ vgl. Stephanie Tauchert: Jüdische Identitäten in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000. Berlin 2007.
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Russland und Osteuropa57 diese Barriere vielleicht verschoben, nicht jedoch abgebaut hat. Eine 2021 (unter anderem) von der Hanns-Seidel-Stiftung in Auftrag gegebene Studie fasst deren Vorsitzender wie folgt zusammen: Die Umfrage zeigt, dass jüdisches Leben in Deutschland für viele abstrakt bleibt, weil zum einen greifbare Berührungspunkte fehlen, zum anderen, weil die Wahrnehmung sich nicht auf den jüdischen Alltag, sondern auf historische und politische Ereignisse wie den Nahostkonflikt fokussiert. Damit wird man den hier lebenden Juden in keiner Weise gerecht. Statt Neugierde ist eine Distanz entstanden, die durch mehr Bildung und Wissensvermittlung dringend aufgelöst werden muss.58
3. ›Negative Symbiose‹ Im bundesrepublikanischen Versöhnungsdiskurs lassen sich somit zwei Grundtendenzen ausfindig machen: Die einen rückbesinnen sich auf einen vormaligen Zustand, der als ›deutsch-jüdische Symbiose‹ bezeichnet wird und den es wiederherzustellen gelte. Die anderen halten die Kluft zwischen Deutschen und Juden für unüberwindbar bzw. den Bruch für irreparabel. Dazwischen entsteht Ende der Achtzigerjahre eine – gewissermaßen dialektisch vermittelnde – dritte Position: Dan Diner fragt nicht nach dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden vor Hitler, sondern sieht gerade in der Shoah den Ursprung einer ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ – genauer: einer negativen Symbiose im Sinne »eine[r] Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit«59 . Diner ruft damit eine Denkfigur auf den Plan, die einen tiefgreifenden ethischen Appell an beide Seiten beinhaltet: Einerseits können die Gräben nicht zugeschüttet werden (wie es jede naive Rede von Versöhnung suggeriert). Andererseits ist 57
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Zur daraus resultierenden strukturellen Veränderung der Jüdischen Gemeinden vgl. Eliezer Ben-Rafael/Yitzhak Sternberg/Olaf Glöckner: Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland. 2010: https://archive.jpr.org.uk/object-ger188 [21.08.2022]. Markus Ferber in der Pressemitteilung der Hans-Seidel-Stiftung, zitiert nach https://w ww.presseportal.de/pm/51081/5079667 [21.08.2022]. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hg. v. Dan Diner. Frankfurt a.M. 1987, S. 185–197, hier S. 185. Die eine Seite werde beherrscht durch ein Schuldgefühl, das auch in die nächsten Generationen weitergegeben werde und eine Normalisierung des Verhältnisses zu den Juden unmöglich mache. Auf der anderen Seite stehe die Scham der Juden, sich nicht zu wehren imstande gewesen zu sein.
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man – aufgrund der gemeinsamen Geschichte – unauflöslich miteinander verbunden. Damit gelangt Diner zu einer Konsequenz, die sich in Gershom Scholems begrifflichen Horizont bereits abgezeichnet hat: Auch Scholem sieht einen unermesslichen Abgrund zwischen Juden und Deutschen und äußert seine Zweifel daran, dass dieser jemals geschlossen werde. Gleichwohl lässt er sich von dieser Landschaftsmetaphorik zu einigen abstrakten Lösungsvorschlägen – um nicht zu sagen Versöhnungsvisionen – hinreißen: Eine Möglichkeit sieht er darin, »[m]oralische Brücken«60 zu bauen, die »von beiden Seiten her fest verankert und gegründet werden [müssen], wenn sie Bestand haben sollen«61 . Scholem fordert somit eine beiderseitige Aktivität und wirbt auf diese Weise am Ende doch noch für einen deutsch-jüdischen Dialog – dessen Antrieb und Fundament nicht Zuneigung und Gemeinsamkeiten sind, sondern »Distanz und Respekt[]«62 . Damit ist aber auch – mit Diner – gesagt, dass »[v]on solch emotionaler Tiefendisposition ausgehend […] alle Versuche, das Leben nach und trotz Auschwitz zu normalisieren […] notwendig scheitern [müssen]«63 . Diese Dialektik lässt sich auf den eingangs aufgerufenen Diskursbegriff der ›Normalität‹ übertragen, und zwar – mit Salomon Korn – im Sinne einer »›Normalität der Anormalität‹ oder […] ›Anormalität der Normalität‹«64 , die er wie folgt ausführt: Die heute in Deutschland lebenden Juden sind nicht angetreten, das frühere deutsche Judentum zu ersetzen. Allein der Versuch, unmittelbar an eine der vernichteten Traditionen anzuknüpfen, wäre ein Vergehen gegen die grausam gemordeten Opfer, denn er würde, im Falle seines Gelingens, den endgültigen Verlust, den tiefen geschichtlichen Bruch verkleinern, wenn nicht gar überbrücken. Da die historische Monstrosität in ihrem ganzen Ausmaß bestehen bleiben muss, wenn den Opfern des Nationalsozialismus nicht noch einmal Unrecht widerfahren soll, bedeutet dies […] ›neu‹ zu
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Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In: Ders.: Judaica 2. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, S. 20–46, hier S. 45. Ebd. Ebd., S. 46. Diner: Negative Symbiose, S. 191. Salomon Korn: Vorbemerkung. In: Ders.: Die fragile Grundlage. Auf der Suche nach der deutsch-jüdischen ›Normalität‹. Mit einem Geleitwort von Joschka Fischer. Berlin/ Wien 2003, S. 11–12, hier S. 12.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
beginnen, ohne alt-neue Traditionen in Deutschland anzustreben. Unter diesen Umständen gilt für Juden wie für Nichtjuden gleichermaßen, dass aufrichtige Annäherung und dauerhaftes Miteinander nur im Bewusstsein des dauerhaft Trennenden möglich ist.65 Aus diesem Kräftefeld von Versöhnungserwartung, Unversöhnlichkeit und ›negativer Symbiose‹ bezieht die Erinnerungsliteratur ihre zentralen Themen und Konfliktpositionen. Mit welchen Mitteln und Zielen sie hierbei auftritt, skizzieren wir im nachfolgenden Kapitel anhand einiger ausgewählter Beispiele sowie mit Vorausblick auf die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes.
4. Literarische Interventionen Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, welche Rolle die Literatur im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs bisher eingenommen hat und gegenwärtig einnimmt. Bevor wir das kritische Interventionspotenzial der Literatur herausstellen, muss zunächst festgehalten werden, dass es über Jahrzehnte hinweg immer wieder (in der Regel nichtjüdische) Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegeben hat, die das vermeintlich symbiotische Verhältnis von Deutschen und Juden fiktional konstruiert und die im politischen Diskurs der Bundesrepublik verankerten Versöhnungserwartungen literarisiert haben.66 Die Romane von Bruno Apitz, Alfred Andersch und Hans Scholz aus den 1950er Jahren etwa bezeichnet Ruth Klüger treffend als literarische »Wiedergutmachungsphantasien«67 . Bei genauer Betrachtung werde die Verfolgung der Juden durch ein fast schon konträres Narrativ ersetzt: »Dort werden Juden von Deutschen ganz außergewöhnlich gut behandelt, und zwar mit der größten Selbstverständlichkeit, als seien solche Fälle eher typisch als Ausnahmen.«68 Ein ähnliches literarisches Wunschdenken greift Raum bei der Thematisierung von Schulddiskursen. Eine diesbezüglich beinah schon kitschig moralisierende Position kann man dem – wohl nicht zuletzt aus
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Ebd., S. 11–12. Vgl. hierzu die typologische Bestandsaufnahme von Klaus Briegleb: Negative Symbiose. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. dems.u. Sigrid Weigel. München 1992, S. 117–150. Ruth Klüger: Gibt es ein »Judenproblem« in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9–38, hier S. 12. Ebd. S. 13.
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diesem Grund in den Schulkanon eingegangenen – Vorleser von Bernhard Schlink vorwerfen. Während die Romanhandlung seitens der Bildungs- und Kulturpolitik offenbar für eine historisch und erinnerungskulturell adäquate Darstellung gehalten wurde, erweist sie sich aus einer literaturkritischen und erinnerungspluralistischen Perspektive als gänzlich realitätsfern.69 Das spezifische Funktionspotenzial der Literatur besteht unserer Einschätzung nach weniger darin, gesellschaftspolitisch angestoßene Versöhnungsprozesse zu bekräftigen oder gar kontrafaktisch zu suggerieren, sondern vielmehr fungiert sie als kritischer Gegendiskurs, der »den institutionalisierten deutsch-jüdischen Konsens infrage stellt«70 . Dabei haben wir es nicht nur mit autobiografischen Erfahrungsberichten und deren Fiktionalisierungen zu tun, sondern auch mit komplexen Gesellschaftsporträts, in denen über das Figurenpersonal unterschiedliche Kollektiverfahrungen transportiert und verständlich gemacht sowie in der Interaktion der Figuren auf ihre Versöhnlichkeit oder Unversöhnlichkeit hin geprüft werden. Neben Versöhnung als literarischem Thema und neben den gesellschaftlichen Funktionen einer solchen – Versöhnung thematisierenden – Literatur ist auch nach spezifischen Schreibweisen bzw. Erzähltechniken zu fragen. Hierbei mag man zu der Erkenntnis gelangen, dass man in der Literatur anders über Versöhnung sprechen kann als in politischen Reden, in Schulbüchern, in der Kirche oder zu Hause und vielleicht auch anders als im Film oder im Radio. Die Versöhnungsverweigerung erfolgt gelegentlich ausgesprochen explizit: »Nur an meinen Unversöhnlichkeiten erkenn ich mich, an denen halt ich mich fest. […] Verzeihen ist zum Kotzen«71 , resümiert Ruth Klüger gegen Ende ihrer literarischen Autobiografie weiter leben. Diese entschiedene Verweigerungsrhetorik setzt sich bis in die ›dritte Generation‹ fort. So legt Mirna Funk ihrer Protagonistin Lola einen ganz ähnlichen Wortlaut in den Mund: »Verzeihen ist Bullshit«72 . Dabei hat es den Anschein, als trete die literarische Form der Widerrede umso lautstarker hervor, je mehr sich die Mehrheitsgesellschaft in einer normalisierten deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft
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Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hält die Handlung des Romans für »das Abstruseste, Abartigste, Konstruierteste […], das man sich überhaupt vorstellen kann«, so Löffler im Literarischen Quartett vom 14.12.1995. Magnus Klaue: Die institutionalisierte Symbiose. Über den ›deutsch-jüdischen Dialog‹ in der deutsch-jüdischen Literatur. In: Medaon 2 (2008), H. 3, o. S. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 279. Mirna Funk: Winternähe. Roman. Frankfurt a.M. 2015, S. 183.
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beheimatet wähnt oder gar der trügerischen Dialektik des Philosemitismus verfällt. Von letzterer handeln Bücher wie Der Musterjude (1997) von Rafael Seligmann und Der gebrauchte Jude (2009) von Maxim Biller sowie Ein ganz gewöhnlicher Jude (2005) von Charles Lewinsky, die philosemitische Stereotype zur Darstellung bringen und dabei unmissverständlich Kritik üben an der gesellschaftlich verbreiteten Faszination für alles Jüdische. Damit machen sie auf das Dilemma aufmerksam, dass Förderung und Platzierung jüdischer Kultur im öffentlichen Raum – etwa mittels jüdischer Film- und Musikfestivals – immer auch Gefahr läuft, ein bloß voyeuristisches Interesse zu bedienen und mit dem Fokus auf folkloristische Elemente einem romantisierenden Blick Vorschub zu leisten.73 Während hier vermittels einer zentrierten Erzählperspektive jüdische ›Gegenpositionen‹ zur Geltung gebracht werden, arbeitet Robert Schindel in seinen Romanen Gebürtig (1992) und Der Kalte (2013) mit wechselnden Fokalisierungsinstanzen und konstruiert in seinen Figurenkonstellationen einen Querschnitt der (konträren) Positionen innerhalb des gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurses.74 Die zahlreichen jüdischen und nichtjüdischen Figuren, die überdies unterschiedliche Generationszugehörigkeiten aufweisen, können sich in Wien nicht aus dem Weg gehen und produzieren permanent eine emotionale und politische Spannung. Dementsprechend zeichnen sich beide Romane einerseits durch eine hohe Dichte an Ohrfeigen, Raufereien und verschütteten Getränken aus – Konflikte, die üblicherweise in Cafés und Kneipen aufbrechen –, andererseits durch sprunghafte sexuelle Konstellationen und »prekäre[] Liebesbeziehungen«75 . Jede Form von Versöhnlichkeit scheint bloß
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Vgl. hierzu Karen Remmler: Encounters Across the Void. Rethinking Approaches to German-Jewish Symbioses. In: Unlikely History. The Changing German-Jewish Symbiosis, 1945–2000. Hg. v. Leslie Morris u. Jack Zipes. New York 2002, S. 3–29, hier S. 23. Zu stereotypisierten sowie philosemitischen und antisemitischen Darstellungen des ›Jüdischen‹ im deutschen Film vgl. Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west-)deutschen Film und Fernsehen nach 1945. Berlin 2016. Dieser ist in Österreich, wo sich das Narrativ vom ›ersten deutschen Opfer‹ bis in die Neunzigerjahre hinein hartnäckig hielt, anders geartet als in (West-)Deutschland. Als literarische Beweisführung der ›negativen Symbiose‹ von Juden und Nichtjuden sind Schindels Romane aber ohne Weiteres über den Mikrokosmos Wien hinaus verständlich und in ihrem thematischen Aussagegehalt verallgemeinerbar. Norbert Otto Eke: »Ich hab mich schon in der Erd«. Robert Schindels Gegen-Sprechen. In: Fährmann-Sein. Robert Schindels Poetik des Übersetzens. Hg. v. Iris Hermann. Göttingen 2012, S. 64–84, hier S. 72.
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vorübergehend oder macht sich verdächtig. Stellvertretend werden hierbei kollektive Identitäten und kontrastierende Erinnerungsbedürfnisse ins Bild gebracht. Indes bleibt es den Leserinnen und Lesern als Aufgabe überantwortet, sich innerhalb der perspektivischen Vielfalt zu orientieren und gegebenenfalls Partei zu ergreifen, wobei es ihnen bewusst schwergemacht wird, einseitige moralische Urteile zu fällen: Holocaustüberlebende erweisen sich als schlechte Väter, Nazisöhne als große Aufklärer. Antagonismen werden somit einerseits formal (durch multiperspektivisches Erzählen) ermöglicht und andererseits inhaltlich (durch das Figurenhandeln) als gesellschaftliches Phänomen vorgeführt. Die teils exzessive Darstellung von Feindseligkeit bei Schindel bis hin zur spielerischen Übertreibung bei der Artikulation und Verteidigung eigener Positionen ist programmatisch für eine politisch engagierte und erinnerungskulturell verankerte Literatur. Peter Weiss erlaubte sich derlei literarische Freiheiten sogar bei der getreuen Wiedergabe historischer Fakten. In der Ermittlung ging es ihm augenscheinlich nicht um die – dem Vorbild der Gerichtsverhandlung entsprechende – neutrale Feststellung realer historischer Ereignisse und Abläufe, wie er im Nachgang klarstellt: »Bei der Schilderung von Raubzug und Völkermord ist die Technik einer Schwarz/Weiß-Zeichnung berechtigt, ohne jegliche versöhnliche Züge auf seiten der Gewalttäter, mit jeder nur möglichen Solidarität für die Seite der Ausgeplünderten.«76 So lässt sich dann auch der Aufruhr derer verstehen, die sich – zu Recht oder Unrecht – in die Ecke der »Gewalttäter« gestellt und in die Verantwortung genommen sahen.77 An die Stelle der Auseinandersetzung mit den »Fakten« zu Auschwitz traten der – im Stück auch tatsächlich mehr oder weniger explizit erhobene – Vorwurf mangelnder Aufarbeitung in der Bundesrepublik sowie die Anspielungen auf einen systembedingten Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus.78 76 77
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Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater. In: Ders.: Rapporte 2. Frankfurt a.M. 1971, S. 91–104, hier S. 99. Die Ringuraufführung der Ermittlung von Peter Weiss an 14 west- und ostdeutschen Bühnen zog in den beiden Staaten erwartungsgemäß unterschiedliche Reaktionen nach sich. In der DDR wurde das Stück durchgängig positiv aufgenommen und erhielt, indem es u.a. in der Volkskammer aufgeführt wurde, geradezu einen staatstragenden Charakter. Die komplexe Rezeptionsgeschichte ist ausführlich dokumentiert in Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die »Ermittlung« im Kalten Krieg. St. Ingbert 2000. Diese Anklagefunktion erfüllt vor allem der ›Zeuge 3‹, der von Beginn an als Stellvertreter der Positionen des Autors erkannt wurde, vgl. hierzu Mirjam Wenzel: Peter Weiss:
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Wenn hier die gesellschaftliche Wirkung den ästhetischen Gehalt in den Hintergrund drängt, so zeigt sich darin eine mehr oder weniger verlässliche Konstante der Erinnerungsliteratur. Denn gerade hier entfaltet die Literatur – über ihre Geschichten und Darstellungsweisen hinaus – ihr spezifisches Potenzial auf pragmatischer Ebene, etwa indem sie appellative Strukturen im Rahmen gesellschaftlicher Kommunikation ausbildet. So analysiert AnnaKatharina Gisbertz in ihrem Beitrag Aspekte der Solidarität bei Ilse Aichinger und Lisa Fittko und verweist in diesem Zusammenhang auf verschiedene »Formen des Miteinanders«, die trotz ihrer Betonung der sozialen Bindung gerade nicht mit Versöhnung zu verwechseln sind. Vielmehr implizieren die literarischen Solidaritätsnarrative eine Aufforderung zum Handeln gegen das Vergessen als Grundlage für die Bildung einer »Erinnerungs- oder Aktionsgemeinschaft«. Während Aichingers Solidaritätsnarrativ im Wesentlichen auf einer Bindung zu den ermordeten Familienangehörigen beruhe, sei Fittkos Verständnis von Solidarität im Kontext ihres politischen Engagements zu betrachten. Für beide Autorinnen aber gelte, dass solidarisches Handeln mit einer unversöhnlichen Haltung gegenüber dem Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen einhergeht. Pragmatische Aspekte der Literatur sind indes nicht nur von Kontexten, sondern auch stark von den Interpretationsbedürfnissen oder gar der Willkür jeweiliger Rezeptionsgemeinschaften abhängig, wie sich exemplarisch im Beitrag von Birgit M. Körner nachvollziehen lässt. Körner skizziert die von Ephraim Kishon und seinem Übersetzer Friedrich Torberg initiierte »Konstruktion eines ›israelischen Humors‹«. Diese Konstruktion habe für deutschsprachige nichtjüdische Leserinnen und Leser entlastend gewirkt, weil ein jüdischer Autor in den 1960er Jahren ein Lachen über Juden in Israel evozierte, ohne die Shoah direkt zu thematisieren. Dadurch habe der ›israelische Humor‹ auf der Rezeptionsebene einen kompensatorischen Effekt entwickelt, der dazu geführt habe, dass das subversive Potenzial dieses Humors vom deutschen Publikum auf seine versöhnende Wirkung reduziert wurde. Kishons eigene Überlebenserfahrung, die in seinen Werken durchaus präsent und der Leserschaft in Deutschland spätestens in den 1990er Jahren bekannt gewesen war, aber auch die Widerständigkeit seiner Texte gegen ein einseitiges Versöhnungsnarrativ, wurden dabei weitgehend ignoriert.
Die Ermittlung (1965). In: HolocaustZeugnisLiteratur. 20 Werke wieder gelesen. Hg. v. Markus Roth u. Sascha Feuchert. Göttingen 2018, S. 125–139, hier S. 133–136.
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Weitaus weniger ›missverständlich‹ sind Konfigurationen der Rache. Diese können sich auf die Inhaltsebene beschränken – so etwa bei Michel Bergmann, der in seiner Romantrilogie Die Teilacher (2010), Machloikes (2011) und Herr Klee und Herr Feld (2013) Erfahrungen mit Anti-Semitismus und Rachefantasien jüdischer Figuren in der frühen Nachkriegszeit schildert.79 Rache kann aber auch über die historische Referenz hinaus aktualisiert werden, wie Luisa Banki in ihrem Beitrag anhand des Phänomens der ›verschobenen Rache‹ aufzeigt. Am Beispiel von Mirna Funk und Max Czollek zeigt sie auf, wie ein dezidiert jüdisches Erinnern den erinnerungskulturellen Konsens der deutschen Mehrheitsgesellschaft durchkreuzt und damit in gewisser Weise auch – wenigstens symbolisch – beschädigt. Ergänzt werden diese Überlegungen durch den Beitrag von Sebastian Schirrmeister, der seine Beispiele für jüdische Rache aus der Bühnenkunst bezieht, die er passend als ›Gegentheater‹ ausweist. Rache konkretisiert sich hier jeweils als Mittel jüdischer Selbstermächtigung mit dem Ziel, die Unversöhnlichkeit im deutsch-jüdischen Verhältnis aktiv zu verstetigen. Wenngleich die bisher angeführten Beispiele den inhaltlichen Schwerpunkt auf jüdische Positionen und Perspektiven lenken, sollte nicht der Eindruck entstehen, dass der deutsch-jüdische Versöhnungsdiskurs ein einseitig auf Versöhnungserwartungen ausgerichtetes erinnerungskulturelles Gebilde darstellt und die im Titel des Sammelbandes angekündigten ›Interventionen‹ ausschließlich von jüdischen Autorinnen und Autoren bzw. den Nachfahren von Shoah-Opfern koordiniert werden. Denn selbstverständlich werden die Grenzen der Versöhnung und Erinnerungskonflikte auch vonseiten nichtjüdischer Autorinnen und Autoren wahrgenommen und – zumindest in der jüngeren Vergangenheit – mit gebührender Umsicht literarisch perspektiviert. Dies demonstriert Saskia Fischer in ihrem Beitrag über Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe (2003). Mit Blick auf eine ›Poetik der Schuld‹ zeigt Fischer auf, dass gerade das Unvermögen der Sprache und die Unabschließbarkeit des Dialogs die Verständigungsprozesse über Schuld am Laufen lassen und letztlich doch eine »Aussicht auf eine Form von Versöhnung« ermöglichen. Die Gattung des Romans erweist sich hierbei als prädestiniertes Medium für damit einhergehende Suchbewegungen und Deutungsversuche. Auch Robert Forkel beschäftigt sich mit einer nichtjüdischen Perspektive auf das 79
Vgl. hierzu den Aufsatz von Thomas Nolden: Alles was war. Michel Bergmanns Frankfurter Triptychon. In: Identitätsdiskurs im deutsch-jüdischen Dialog. Hg. v. Norbert Honsza u. Przemysław Sznurkowski. Frankfurt a.M. 2017, S. 67–76.
Versöhnung, Wiedergutmachung und (negative) Symbiose
deutsch-jüdische Verhältnis, indem er eine umfassende Interpretation von W. G. Sebalds Rede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses vorlegt. Dieser kurze poetologische Abriss ist bis heute rätselhaft, weil Sebald kurz darauf starb und somit keine Gelegenheit mehr hatte, sich präziser zu den darin aufgestellten Thesen zu äußern. Insbesondere seine Zweckbestimmung des literarischen Schreibens als »Versuch der Restitution« hat in der Forschung zahlreiche Fehldeutungen nach sich gezogen. Wie Forkel in seinem Beitrag nachweist, rekurriert diese Formulierung auf Gershom Scholems Hoffnung auf Versöhnung von Deutschen und Juden. Die bis hierhin erwähnten Beiträge markieren den literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt des vorliegenden Sammelbands, der aber insgesamt bewusst interdisziplinär angelegt ist. Den originär literaturwissenschaftlichen Analysen werden daher mehrere Beiträge vorangestellt, die sich stärker aus moralphilosophischer Sicht mit historischen und begrifflichen sowie ästhetischen Aspekten von Schuld und Versöhnung auseinandersetzen. Wir beginnen diesen Abschnitt mit einem Beitrag von Bianca Pick, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg mit Klaus-Michael Kodalle und Wiard Raveling über den Begriff des Verzeihens verständigt hat und die Ergebnisse hier in Form eines Gesprächsprotokolls vorlegt. Während Kodalle darin auf die Ergebnisse seiner Studie Verzeihung denken (2013) zurückgreift, berichtet Wiard Raveling ausführlich von seiner Kontaktaufnahme mit dem französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch (1903–1985) und der darauf folgenden öffentlichen Wahrnehmung und Deutung dieses vielbeachteten Versuchs einer deutsch-jüdischen Annäherung. Auch Stephan Grätzel hat jüngst ein philosophisches Grundlagenwerk zur Versöhnung vorgelegt. In seinem Beitrag weitet er seine begrifflichen Kategorien zu einer ›narrativen Ethik‹ aus, die er am Beispiel von Thomas Manns vierteiligen Roman Joseph und seine Brüder veranschaulicht. Indem der Erzähler den Toten seine Stimme leihe und die Leser mitnehme auf eine Fahrt in die ›Unterwelt‹, mache er ein Angebot zur Versöhnung mit dem ›Unvergangenen‹. Thomas Mann habe damit (noch vor dem Ende der NS-Diktatur) ein Angebot zur Versöhnung zwischen Juden und Deutschen literarisch vorbereitet. Dennis Marten greift Grätzels dialogisches Versöhnungsmodell auf und verbindet es sowohl mit Paul Ricoeurs Konzept der ›narrativen Identität‹ als auch mit Paul Celans dialogischer Lyrik. Versöhnung wird hier als andauernder geschichtlicher Prozess verstanden, der sich in Form eines fortgesetzten Gesprächs zwischen den Tätern und Opfern sowie zwischen deren Nachfahren vollzieht. Statt sich gegenseitig – von Schuld und Schmerz – zu befreien,
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wirken die wechselseitig kommunizierten historischen Rollen identitätsbildend und insofern versöhnend. Anhand von Celans – unter anderem in der Meridian-Rede dargelegten – Dichtungskonzept demonstriert Marten, wie die sprachliche Konstitution des Gedichts verändernd auf die Lebenswelt seiner Leserinnen und Leser einwirkt, indem es sie zum Eingedenken ihm fremder und fremdartiger Vergangenheiten anleitet. Die dialogischen Aspekte von Versöhnung werden schließlich noch einmal ausführlich in dem Beitrag von Francesco Ferrari dargelegt, und zwar am Beispiel der insgesamt versöhnungsoptimistischen Positionen des jüdischen Philosophen Martin Buber, der sich mit großer Leidenschaft für eine ›Normalisierung‹ des deutsch-jüdischen Verhältnisses in der Nachkriegsgesellschaft einsetzte.
»Jankélévitch vermied es, die Themen anzusprechen, die der eigentliche Grund meines Besuches waren« Bianca Patricia Pick im Gespräch über das Verzeihen mit Wiard Raveling und Klaus-Michael Kodalle
Wie vielfältig die Formen eines Gesprächs sein können, davon zeugt der vorliegende Beitrag. Zu dritt ein Gespräch über das Verzeihen und Versöhnen zu führen, diese Idee entstand mitten in der Coronapandemie. Angesichts dieser Umstände sahen wir uns zu einem Gedankenaustausch veranlasst, der ohne eine leibhaftige Begegnung aller Teilnehmer*innen auskommen musste. Die Vorteile, die mit einer unmittelbaren Gesprächssituation einhergehen, sind dadurch ausgeblieben. Entstanden ist aber ein Dialog, der reichlich Raum und Zeit ließ, über einzelne Aspekte nachzudenken, sie gemeinsam gegenseitig abzuwägen und manche Gedankengänge zu vertiefen. All das wirkt sich nicht nur auf die Länge der einzelnen Redebeiträge aus, die mitunter die Gestalt kleiner Textmodule annehmen. Auch die Struktur des gesamten Textes weicht von der anfänglich geplanten Variante eines Interviews ab. So veränderten sich beispielsweise die damit verbundenen Rollen des Fragens, Antwortens und Moderierens. Über einen längeren Zeitraum hinweg hat sich somit ein im wörtlichen Sinne vielschichtiges Gespräch über das Verzeihen entwickelt, in dem der jeweilige disziplinäre Hintergrund oder persönliche Erfahrungshorizont das Spektrum prägt.
Das Verzeihen – ein außerordentliches Ereignis, das ›passiert‹ Beim Verzeihen handelt es sich um ein in vielerlei Hinsicht außerordentliches Ereignis: Es verändert die Sicht auf das Vergangene, indem es den ›natürlichen‹ Lauf der Zeit auf sonderbare Weise zu durchbrechen scheint und einen ›neuen‹ Anfang setzt. Dadurch kann weder das Geschehene ungeschehen noch die Erfahrung rückgängig gemacht werden. Erwähnenswert ist diese Tatsa-
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che, weil ein solcher Neuanfang oftmals nur vorstellbar ist, wenn der Verzeihende das Vergangene als vergangen behandelt, es gewissermaßen loslässt, statt daran festzuhalten. Dann gewinnt nicht die Vergangenheit an Bedeutung, sondern die Zukunft. So kann aber der Eindruck entstehen, als ob die vergangenen Ereignisse verdrängt werden – zugunsten eines neuen Anfangs. Dabei bedeutet ein möglicher Neuanfang erst einmal nur, das Vergangene auf neue Weise in den Blick zu nehmen. Und ob das Verzeihen tatsächlich gelingt, lässt sich, wenn überhaupt, ausschließlich aus der Retrospektive beurteilen. So verhält es sich offenbar auch mit der Einschätzung, das Verzeihen als einen Akt zu betrachten, der bereits geschehen ist, auf den sich Menschen aber auch prospektiv beziehen können. Exemplarisch hierfür ist der Satz »Das Verzeihen passiert«1 von Klaus-Michael Kodalle in Verzeihung denken (2013). Er enthält beide Richtungen, von der Gegenwart aus richtet er sich in die Vergangenheit und Zukunft. Aber was genau heißt das, ›das Verzeihen passiert‹? Und was ›passiert‹, wenn sich jemand gegen die Gesten und Regungen einer versöhnenden Annäherung ausspricht?
Versöhnung und Ressentiment Mindestens zwei Reaktionen gibt es, wie Menschen auf historisches Unrecht reagieren, mit Versöhnung und mit Ressentiment (David Heyd). Zugleich markieren diese beiden Reaktionen zwei grundlegend verschiedene Perspektiven im Versöhnungsdiskurs. Während die eine Perspektive auf der Vorstellung beruht, dass sich ein zerrüttetes Verhältnis normalisieren lässt, der Konflikt beigelegt und eine vorhergehende Situation wieder hergestellt werden kann, stellt die andere eine solche Beilegung und Wiederherstellung grundsätzlich infrage. Auch weil sie nicht mit der Vorstellung kompatibel ist, Versöhnung als einen ›abgeschlossenen‹ Zustand zu denken. Begegnet uns auf der Seite der Geschädigten, zum Beispiel der jüdischen Opfer, eine versöhnungsunwillige Haltung, kann sich darin eine Kritik am Umgang der Deutschen mit dem Vergan-
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Klaus-Michael Kodalle: Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. München 2013, S. 19. Kodalle entwickelt einen Ansatz vom Verzeihen als »Mitte des Ethos« (ebd., S. 10). In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass ein Zusammenleben nur möglich ist, wenn man anerkennt, im Handeln auf eine gegenseitige Nachsicht angewiesen zu sein. Damit wird das Verzeihen in seiner Studie vornehmlich als Neubeginn betrachtet.
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genen ausdrücken. Insbesondere dann, wenn der Umgang der Nachkriegsdeutschen auf das sogenannte Heilen der Wunden, also auf die gewöhnlich voranschreitende, die Erinnerung verdrängende Zeit setzt. Zwangsläufig geraten dabei vergangene Ereignisse zunehmend aus dem Blick.
Unversöhnlichkeit im Dialog Einer, der nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Biographie dieses Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft nach 1945 thematisiert, ist der französisch-jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch (1903–1985). Für ihn war das Verzeihen nach dem Holocaust unmöglich, nicht zuletzt auch deshalb, weil Verzeihen ohne Vergessen nicht denkbar sei. Er vertrat die Auffassung, dass der ›natürliche‹ Fortgang der Zeit das Vergessen und Verzeihen befördere, ob man wolle oder nicht. Wie sehr er sich trotzdem gegen diese zeitbedingten Tendenzen wehrte, hat er in seinen philosophischen Texten, persönlichen Stellungnahmen und öffentlichen Interviews immer wieder betont. ›Alles Deutsche‹ sei für Jankélévitch gestorben und begraben.2 Unversöhnlichkeit kann somit für das konsequente Abbrechen von Beziehungen stehen, sie kann dabei aber auch selbst produktiv werden, in der Philosophie, Literatur und Kunst. Dann entstehen ästhetische Orte und semantische Räume des Erinnerns. Produktiv wird Unversöhnlichkeit, wenn es jemanden gibt, der darauf mit einem »Wort des Verständnisses und der Sympathie« (Jankélévitch) reagiert. Dass beim Verweigern des Verzeihens also ganz offensichtlich auch etwas passiert, zeigt der Dialog zwischen einem Deutschen und einem Juden, der hier der Ausgangspunkt für das folgende Gespräch sein soll: Im Jahr 1981 begegnen sich der Philosoph Jankélévitch und der Lehrer Wiard Raveling (*1939). Raveling suchte den Kontakt zu Jankélévitch, den er in einer französischen Radiosendung gehört hatte. In dieser Sendung sagte Jankélévitch 1980 über die 2
Georges-Arthur Goldschmidt, der eine Begegnung schildert, die wenige Monate vor dem Eintreffen des Briefes von Wiard Raveling zwischen Jankélévitch und einem anderen Besucher im Jahr 1981 stattgefunden habe, zitiert Jankélévitch mit den Worten: »[…] tout ce qui est allemand est pour moi mort et enterré.« (Georges-Arthur Goldschmidt: Vorwort. In: Wiard Raveling: Ist Versöhnung möglich? Meine Begegnung mit Vladimir Jankélévitch (Briefe – Besuche – Begegnungen – Betrachtungen)/La Réconciliation est-elle possible? Ma recontre avec Vladimir Jankélévitch. Oldenburg 2014, S. 56, hier S. 5).
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Deutschen: »Sie haben sechs Millionen Juden getötet, aber sie schlafen gut, sie essen gut, und der Mark geht es gut.« Daraufhin schreibt Raveling dem in Paris lebendem Jankélévitch einen Brief. Um Vergebung bittet Raveling nicht, darauf besteht der Verfasser, und dennoch wird sein Brief als Bitte um Vergebung rezipiert. Raveling lädt Jankélévitch nach Deutschland ein. Jankélévitch antwortet auf den Brief, lehnt den Besuch jedoch ab. Dafür bietet er dem Deutschen an, er könne ihn in seiner Pariser Wohnung besuchen. Und dann schreibt Jankélévitch: »Wir werden nicht von den Gräueln sprechen. Wir werden uns ans Klavier setzen […].« (1980)
Vladimir Jankélévitch, »Chez lui, dans les années 70«. Foto von Louis Monier. In: Magazine Littéraire 333 (1995), S. 47, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.
Obwohl bei der Begegnung zwischen Raveling und Jankélévitch, wie Derrida sagt, »zwei Logiken« aufeinandertreffen, die der Aussöhnung einerseits und der Unversöhnlichkeit andererseits, hat sich zwischen beiden etwas ereignet, das sich nicht vorhersehen ließ und nur schwer auf andere Personen, Situationen oder Konstellationen übertragbar ist. Über die Musik, »dem Ge-
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sang ohne Worte«,3 entsteht zwischen zwei Personen eine »musikalische Korrespondenz«4 oder »Gleichgestimmtheit«5 . Könnte man also nicht auch sagen, dass Unversöhnlichkeit einen Ermöglichungsraum schafft für einen Dialog ›jenseits des Wortes‹ (Derrida)?6 Und inwiefern ist Unversöhnlichkeit sogar eine Bedingung für Versöhnung? Durch die Reaktion eines Anderen – und damit in gewisser Weise auch durch die Anerkennung der Unversöhnlichkeit seines Gegenübers – können gesellschaftliche Konfliktlinien, individuelle Hürden und persönliche Wünsche sichtbar werden. Ob sie ohne diese ›neue‹ Verbindung zwischen zwei Menschen, Biographien und Sichtweisen jemals zur Sprache gekommen wären, bleibt Spekulation. In Ihrem Buch Ist Versöhnung möglich? Meine Begegnung mit Vladimir Jankélévitch/La Réconciliation est-elle possible? Ma rencontre avec Vladimir Jankélévitch (2014) berichten Sie von all dem. Dieser Text kann als Versuch gelesen werden, einen besonderen Moment in Ihrem Leben nachträglich zu beschreiben und ihn mit Hilfe verschiedener Perspektiven in einen größeren Kontext zu stellen. Darin erwähnen Sie zum Beispiel Augustinus, der in seinen Confessiones die berühmte Frage nach der Zeit stellt. Auf unsere Thematik übertragen bedeutet das, dass im Grunde jeder weiß, was gemeint ist, wenn wir die Begriffe Verzeihen, Versöhnen oder Vergeben gebrauchen. Sobald wir aber danach gefragt werden, nur schwer erklären können, was das Verzeihen eigentlich ist. Versteht man das Verzeihen nur, solange man nicht danach gefragt wird? Im wörtlichen Sinn ist das Verzeihen also alles andere als selbstverständlich: Es bleibt eine Ausnahme und ist als Phänomen schwer zu fassen. Wie würden Sie das, was zwischen Ihnen ›passiert‹ ist, aus heutiger Sicht bewerten? Und was hat diese Begegnung mit Ihnen gemacht?
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Jacques Derrida: Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare [Pardonner. L’importdonnable et l’imprescriptible, 2012]. Wien 2018, S. 49. Derrida: Vergeben, S. 48. Derridas Formulierung »correspondance musicale« übersetzt Wiard Ravelings mit »musikalischer Gleichgestimmtheit« (Raveling: La Réconciliation est-elle possible?, S. 147, Ders.: Ist Versöhnung möglich?, S. 156). Derrida spricht von »einem gewissen Jenseits des Wortes« (Derrida: Vergeben, S. 49) und Peter Banki, dessen Studie The Forgiveness to Come maßgeblich von Derrida beeinflusst ist, beschreibt diese ›Korrespondenz‹ und den Bereich, der zwischen Raveling und Jankélévitch entsteht, wie folgt: »[T]he allusion on both sides to music, to music played and listened to together, to the sharing of music is significant to the extent that it designates a realm beyond words.« (Peter Banki: The Forgiveness to Come. The Holocaust and the Hypher-Ethical. New York 2018, S. 97).
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Wiard Raveling: Während meines Gesprächs mit Jankélévitch vermied er, die Themen anzusprechen, die der eigentliche Grund meines Besuches waren: seine unversöhnliche Haltung Deutschland und der deutschen Kultur gegenüber. Ich hatte mir vorgenommen, mit ihm darüber zu sprechen. Ich hatte mir auch ein paar Fragen zurechtgelegt, die mir bei der Lektüre eines Briefes von Carl Friedrich von Weizsäcker gekommen waren. Ihn hatte ich gebeten, mir deutsche Philosophen zu nennen, die sich mit den Verbrechen des Dritten Reiches befasst haben. Er nannte mir dann einige und schickte mir zusätzlich zwei seiner eigenen Schriften, in denen er das Thema behandelt hatte. Vor allem aber schrieb er mir einen sehr persönlichen Brief, in dem er sein eigenes Verhalten während der Naziherrschaft kritisch hinterfragte. Während der Lektüre dieser Texte hatte ich mir ein paar Fragen vorbereitet, die ich Jankélévitch während meines Besuches stellen wollte. Auch wollte ich ihn fragen, was ihm Heine und Schubert angetan hätten. Aber jeder Versuch, diese Themen anzusprechen, war vergeblich. Ich habe mich seitdem gefragt, wie er wohl reagiert hätte, wenn ich insistiert hätte. Das kann man natürlich nicht wissen. Ich bin aber sicher, dass er ziemlich schnell vom Versöhnlich-Modus auf den Unversöhnlich-Modus umgeschaltet hätte. Er wäre wahrscheinlich sehr emotional geworden und hätte die Argumente wiederholt, die er in seinen polemischen Schriften gegen Deutschland immer wieder äußerte. Ich bin auch sicher, dass er es auf eine solche Situation nicht ankommen lassen wollte, weil er durch seine Einladung an mich ganz bestimmt eine versöhnliche Atmosphäre angestrebt hatte. Der jüdische französische Schauspieler Bruno Abraham Kremer trug im Theater Lucernère in Paris zwei Monate lang jeden Abend Teile des Briefwechsels zwischen Jankélévitch und seinem Freund Louis Beauduc vor. Zum Schluss trug er auch meinen Briefwechsel mit Jankélévitch vor. Nach einer Vorstellung, zu der er mich und meine Frau eingeladen hatte, unterhielten wir uns etwa zwei Stunden lang. Während dieses langen Gesprächs hat er mir folgende Informationen übermittelt: Seine Mutter war eine Schülerin von Jankélévitch. Ihre Familie und die Familie Jankélévitch waren gut bekannt bis befreundet. Als Frau Lucien Jankélévitch gestorben war, wurde der Haushalt in der Straße Quai aux fleurs aufgelassen. Herr Kremer war bei der Gelegenheit in Jankélévitchs Wohnung und hat mir unter anderem zwei Sachen mitgeteilt, die zur Interpretation und zur Spekulation auffordern. Er hat gesehen, dass Jankélévitch drei Fassungen des Briefes an mich geschrieben hat. Erst die dritte Fassung hat er dann abgeschickt. Welche Schlüs-
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se kann man daraus ziehen? Doch wohl, dass der Brief für ihn wichtig war und dass wir jedes Wort, jede Formulierung ernst nehmen sollten. Er schrieb »Sie werden empfangen werden wie der Bote des Frühlings.« Wenn er vom (doch wohl erhofften) Frühling spricht, hat er dann nicht ganz selbstverständlich auch an den Sommer gedacht, das heißt an eine erhoffte bessere Zukunft? Als wir uns am Ende meines Besuchs bei ihm verabschiedeten, hat er gesagt: »Das nächste Mal müssen Sie Ihre Frau mitbringen.« Das kann man doch nur so verstehen, dass ihm dieser eine kurze Besuch nicht genügte und dass er eine weitere (engere?) Beziehung zu mir und meiner Frau nicht ausgeschlossen hat. Hätten wir dann vielleicht über seine Beziehung zu Deutschland gesprochen? Wäre es dann auch möglich gewesen, dass sich seine verhärtete Haltung Deutschland gegenüber gelockert hätte? Es tut mir jetzt noch leid, dass ich diesen Besuch bei ihm mit meiner Frau nicht gemacht habe. Ich habe zu lange gewartet und bald war es dann zu spät. Er wurde schwer krank und starb 1985. Das Zweite, was Kremer mir erzählte, ist, dass man ganz oben in der zweiten Reihe in einem Bücherschrank, verdeckt von Noten und Partituren französischer und russischer Komponisten, die Partituren sämtlicher Wagner-Opern gefunden hat. Daraus hat Christoph Vormweg vom Deutschlandfunk gefolgert: »Wagner war für immer tabu; aber ganz wegwerfen konnte er ihn nicht.« Das sei beinahe eine Metapher für seine Haltung der deutschen Kultur gegenüber: Nie wieder deutsche Kultur – aber so ganz konnte er sich von ihr nicht lösen. Das ist natürlich Spekulation, aber ganz abwegig scheint mir dieser Gedanke nicht zu sein. Pick: Zwischen Ihnen und Vladimir Jankélévitch hat sich etwas ereignet, das – so anmaßend es auch klingt – oberflächlich betrachtet nicht das Verzeihen ist. Durch Jankélévitchs Unversöhnlichkeit und Ihrer Reaktion darauf entsteht aber ein Bezugsraum, der unvorhersehbare Möglichkeiten und andere Ausdrucksformen beherbergt. Und dazu gehört die Musik, nach Jankélévitch beginne sie dort, »wo es an Worten fehlt«. Wenn Jankélévitch vorschlägt, sich gemeinsam an das Klavier zu setzen, es sich jedoch zur Bedingung gemacht hat, nicht über das Grauen zu sprechen, treten jene »unüberwindlichen Barrieren« hervor, von denen Jankélévitch in seinem Antwortbrief spricht. Diese »Barrieren« waren für ihn offenbar unvereinbar mit dem Verzeihen. Welche Grenzen sind hier konkret gemeint? Wie offen kann ein Prozess des Verzeihens eigentlich sein, wenn bestimmte Grenzen bestehen bleiben? Für Jankélévitch selbst sind die »Barrieren« unüberwindbar, für die kommenden Generationen aber vielleicht nicht mehr. So kommentiert Derrida Ih-
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Bianca Patricia Pick im Gespräch mit Wiard Raveling und Klaus-Michael Kodalle
ren Briefwechsel. Sind diese »Barrieren«, die Jankélévitch nicht überwinden kann oder will, im Laufe der Zeit entstanden? Können sie überhaupt unabhängig von dem Verhalten der Schädiger gesehen werden? Raveling: In dem letzten großen Interview in der Zeitung Libération, das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte, sagt er an einer Stelle: »Erst vor kurzen habe ich einen Kontakt mit einem Deutschen aufgenommen – das ist recht spät (c’est bien tard).« Heißt das, wenn er viel eher einen solchen Kontakt mit einem Deutschen gehabt hätte, wäre seine Beziehung zu Deutschland eine andere geworden? Er sagt gleich am Anfang seines Briefes: »Auf diesen Brief warte ich seit dreißig Jahren.« Catherine Clément schreibt in ihrem Buch La putain du diable: »[…] man bedenkt, dass er auf ein Zeichen wartete, ein einziges… Und als dieses Zeichen kommt, ist es zu spät. Er weigert sich, den jungen Deutschen, den er so freundlich bei sich empfangen hat, in Deutschland zu besuchen. Er sagt, er sei zu alt, um eine neue Zeit einzuläuten.« Wenn der Briefwechsel und mein Besuch dreißig Jahre früher stattgefunden hätten, was wäre dann an seiner Beziehung zu Deutschland anders geworden?
Ma misère Raveling: Dazu passt glaube ich ganz gut, was er in dem schon erwähnten letzten Interview gesagt hat. Als er sich wieder einmal zu seiner Unversöhnlichkeit den Deutschen und ihrer Kultur gegenüber äußeren sollte, sagte er, er könne nicht anders und: »Je ne peux pas pardonner, et je n’aspire pas à le faire…c’est mon lot, c’est ma misère personnelle. Je me porte bien, d’ailleurs, malgré ma misère, mais je n’irai jamais en Allemagne. Je n’y suis pas retourné depuis la guerre.« (Ich kann nicht vergeben, und ich will es auch gar nicht… Das ist mein Los, das ist mein persönliches Elend, aber ich werde nie nach Deutschland fahren. Ich bin seit dem Krieg nie wieder dorthin gefahren oder dort gewesen.) C’est ma misère würde ich frei übersetzen mit »Darunter leide ich« (wörtlich: Armut/Elend/Not/Jammer/Unglück – im Micro Robert: misère : sort digne de pitié, malheur extrême = bemitleidenswertes Schicksal, äußerstes Unglück). Obwohl er immer wieder betonte, dass ihm seine Abkehr von Deutschland und der deutschsprachigen Kultur überhaupt nicht schwerfalle, kann ich das nicht so recht glauben. Hier haben wir auch wieder ein Beispiel für seine Liebe zu Paradoxa: »Es geht mir übrigens gut trotz meiner ›misère‹.«
»Jankélévitch vermied es, die Themen anzusprechen«
Jankélévitch hatte übrigens noch nicht gleich nach dem Krieg seine unversöhnliche Haltung allem Deutschen gegenüber verfestigt. Catherine Clément schreibt in La putain du diable: »Was mich erstaunt, ist diese ständig fortschreitende Verhärtung. Im Jahre 1948 hält Janké in Wien im Kammersaal des Musikvereins, in diesem der klassischen europäischen Musik gewidmeten Tempel, einen Vortrag über Fauré, wobei er sich selbst am Klavier begleitet. Zehn Jahre vorher hatte Wien den Einzug Adolf Hitlers beim Anschluss beklatscht. 1955 zitiert Jankélévitch in einem wunderbaren Buch über Die Rhapsodie noch Nietzsche, Bach und ein wenig Schubert. Dann mit den Jahren bäumt er sich auf.« Ob irgendwann eine besondere Information, eine Begegnung, ein Erlebnis diese unversöhnliche und endgültige Haltung gefestigt hat – oder ob es sich um einen »kumulativen Effekt« gehandelt hat, wird man wohl nie erfahren können. Übrigens sind die Österreicher in Jankélévitchs Augen um keinen Deut besser als die Deutschen. In einem Gespräch sagte er in den 60er Jahren: »Ich verabscheue (j’ai horreur de) alle Viennoiserien, egal ob es sich um Gebäck oder um die Walzer von Strauss handelt.« (Das französische Wort »vienoiserie« bedeutet »Feingebäck«.) Übrigens hat Jankélévitch auch später nicht ganz konsequent vermieden, deutschsprachige Philosophen und Musiker in seinen Schriften zu erwähnen. Man findet hin und wieder durchaus die Namen Kant, Schopenhauer, Simmel, Schumann, Wagner, Hegel – aber immer nur kurz und oft (aber nicht immer) als Beleg für eine negative Kritik. Einmal schrieb er: »Wir gehören nicht zu denen, die einen Widerspruch in einer versöhnenden Synthese auflösen. Das überlassen wir Hegel und seinen Dialektikern.« Einmal konnte man in einer Äußerung über Deutschland eine leichte Selbstironie spüren. Da sagte oder schrieb er: »Ich bin in meinem Deutschenhass (mon antigermanisme) so gefestigt, dass ich mir hin und wieder erlauben kann, in meinen Schriften einen Deutschen zu erwähnen.« Pick: Zu den wohl bekanntesten Sätzen von Jankélévitch gehört, dass die Verzeihung in den Todeslagern gestorben sei. Er selbst sah sich außerstande, zu verzeihen – nicht lebensweltlich zum Zwecke der Selbstheilung und schon gar nicht stellvertretend für die Opfer. Trotzdem versucht er das Verzeihen als etwas zu denken, das weder stirbt (»Das Verzeihen kann nicht sterben«) noch Ausnahmen kennt (»Das Verzeihen muss alles verzeihen«). Theoretisch mag das Verzeihen grenzenlos sein, in der Praxis stellt es sich jedoch anders dar, »man kann nicht alles verzeihen«, so Jankélévitch. Hier zeigt sich jenes Spannungsverhältnis, das Klaus- Michael Kodalle die »Theorie
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des Pardon« und die »Praxis der Verweigerung« nennt. Jankélévitchs Essay Pardonner? (1971) steht im Zeichen dieses verweigerten Verzeihens. Jankélévitch, aber auch schon Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne (1966), greifen in ihren Texten die Unversöhnlichkeit auf. Interessanterweise beziehen sie sich dabei auf den Begriff des Ressentiments und den Faktor Zeit. Beide betrachten die Zeit als »Vorgang ohne normativen Wert« (Jankélévitch) und entlarven die Zukunft als einen »Wertbegriff« (Améry). Gemeint ist damit, dass die Zukunft bei der Versöhnung wichtiger erscheint als die Vergangenheit: »Gras wächst und begräbt die Moral unter sich« (Jankélévitch). »Was morgen sein wird, ist mehr wert als das, was gestern war« (Améry). Auch deshalb beharrt Jankélévitch vehement auf einer Pflicht zum Ressentiment (»Pflicht zur Nicht-Vergebung«7 ). Aus seiner Sicht müssen die »Barrieren« unüberwindbar bleiben, damit die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen als »unendliche«, »nichtvernähbare Wunde« (Derrida) nicht in Vergessenheit geraten. Versöhnung kann und wird in späteren Generationen möglich sein, für Jankélévitch sind es aber auch dann, trotz aller Bemühungen, immer nur Phänomene der voranschreitenden Zeit. Indem Jankélévitch und Améry der Zeit eine moralische Komponente implementieren, wird nicht nur die Spannung zwischen dem zurückschauenden Blick in die Vergangenheit und dem vorwärts gerichteten Blick in die Zukunft beschreibbar, sondern auch zwischen dem subjektiven Zeitempfinden des Einzelnen und der objektiven Zeit eines Kollektivs. Dieses Spannungsverhältnis, das bei dem Thema Versöhnung immer mitschwingt, wird nirgendwo so klar beschrieben wie in den Essays Ressentiments von Améry und Pardonner? von Jankélévitch. Améry bestimmt sein Verhältnis zur Zeit, das dem seiner gegenwärtigen Umgebung entgegensteht, und widersetzt sich so dem Zeitverständnis Außenstehender, das sich seiner Ansicht nach auf Zukünftiges konzentriert und den einzelnen Betroffenen dabei aus dem Blick verliert.8 Klaus-Michael Kodalle: Als Vladimir Jankélévitch noch nicht in der bekannten Verhärtung seine feindselige Haltung gegenüber allem Deutschen und allen Deutschen öffentlich artikuliert hatte, widmete er sich in einer subtilen Untersuchung dem eigentlichen Akt des Verzeihens (in der Schrift Le Pardon).
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Derrida: Vergeben, S. 21. Vgl. Bianca Patricia Pick: Distanz in der Literatur von Überlebenden der Shoah. Jean Améry, Albert Drach, Edgar Hilsenrath, Imre Kertész, Ruth Klüger. Bielefeld 2022, S. 74–95.
»Jankélévitch vermied es, die Themen anzusprechen«
Als kategorialen Rahmen der Erklärung benutzte er die Klarstellungen aus der Philosophie Kants: Der Mensch als raum-zeitliches Wesen hat Anteil an einer Vernunft, die an diese Raum-Zeitlichkeit nicht gebunden ist. Das heißt: Der Mensch in seiner empirischen Existenz kann nach Zwecken und Zielen handeln, deren Verfolgung ihm nach seiner rationalen Triebstruktur passend erscheint; er kann aber nach Kant auch handeln ›aus Freiheit‹. Denn er ist ein ›intelligibles‹ Wesen und hat gemäß dieser Wesensstruktur Anteil an Vernunft im Allgemeinen (die nach Kant nicht einmal an die Wesensstruktur des endlichen Menschen gebunden ist!). Dieses Handeln-aus-Freiheit vollzieht sich mithin im Selbstverhältnis und ist als Erscheinung der absoluten Vernunft in den Weltverhältnissen nicht zu identifizieren. In der kritischen Überprüfung ist demnach jeder Handlungsvollzug nach Kategorien wie Ursache und Wirkung zu beurteilen, ist also insofern immer ein ›bedingter‹. Und an dieser Stelle meldet sich nun Jankélévitch zu Wort mit der starken Behauptung, es gebe in unserem Zusammenleben einen einzigen Akt, in welchem das Absolute unbedingter Freiheit doch ausnahmsweise zur Erscheinung kommt – und das sei der Akt des Verzeihens. Pick: Während die Freiheit für Kant auf ein Selbstverhältnis der Vernunft zurückführbar ist, können wir als handelnde Wesen von ›außen‹ nicht erkennen, ob eine Tat tatsächlich aus Freiheit erfolgte oder ob sie ›nur‹ dazu diente, bestimmte Interessen zu verfolgen und eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Es geht also auch um die Identifizierbarkeit einer Handlung. Was bedeutet das für das Verzeihen? Offenbar ist das Verzeihen kein reines Selbstverhältnis. Doch wer kann den Akt des Verzeihens als solchen überhaupt identifizieren? Zumal sich die Wahrnehmung des Subjekts, dem verziehen wird, deutlich von der des verzeihenden Subjekts unterscheiden kann. Während sich das verzeihende Subjekt im Nachhinein weit weniger intensiv mit diesem intimen Ereignis zwischen ihm und dem Schädiger zu beschäftigen scheint, kommt es auf die Wahrnehmung des Subjekts an, das die Zuwendung des anderen erfährt: Dieses Subjekt erkennt das Verzeihen, weil es etwas in ihm bewegt. Womöglich sieht sich das Subjekt als ganze Person angenommen und fühlt sich so von einer Last befreit. Sich mit einem Brief an Jankélévitch zu wenden, das war, lieber Herr Raveling, Ihre eigene persönliche Entscheidung. Zu einem außergewöhnlichen Ereignis wurde Ihre Begegnung nicht nur aufgrund ihres Zustandekommens. Erstaunlich ist doch auch, welches öffentliche Interesse es für dieses (eigentlich private) Versöhnungsereignis gab. Wie haben Sie selbst die anhaltenden
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Bianca Patricia Pick im Gespräch mit Wiard Raveling und Klaus-Michael Kodalle
Reaktionen auf Ihren Briefwechsel über die Jahrzehnte hinweg erlebt? Wie nehmen Sie die unerwartete und anhaltende Aufmerksamkeit für Ihre Person wahr?
Lettres pour un pardon Raveling: So wird die erste Veröffentlichung meines Briefwechsels mit Jankélévitch im Magazine littéraire überschrieben (Nr. 333, Juni 1995). Seine ehemalige Schülerin und zeitweilige Assistentin Catherine Clément schreibt in derselben Nummer der Zeitschrift unter der Überschrift »Le messager du printemps« : »L’extraordinaire correspondance inédite que publie le Magazine Littéraire dans ce dossier ouvre et referme la blessure qu’on croyait inguérissable.« (S. 26) (Der außergewöhnliche, bisher unveröffentlichte Briefwechsel, den das Magazine Littéraire in diesem Dossier [vgl. S. 51] veröffentlicht, öffnet und schließt die Wunde, die man für unheilbar hielt.) Das ist nicht das einzige Mal, dass mein Brief so verstanden wird, als hätte ich in ihm um Verzeihung gebeten. Und Jankélévitchs Reaktion wird dann oft so verstanden, als hätte er vergeben. Aber wem denn? Mir? Deutschland? Den Judenmördern? Wir brauchen das nicht weiter zu interpretieren. Weder habe ich direkt oder indirekt in meinem Brief um Vergebung gebeten noch hat Jankélévitch sie gewährt. Für mich steht fest: Vergeben kann nur ein Opfer dem Täter. Und kein Kollektiv (die Deutschen, die Juden, die Täter, die Opfer) kann um Vergebung bitten oder Vergebung gewähren. Ich bin immer peinlich berührt, wenn unser Bundespräsident in Israel oder Polen um Vergebung für das deutsche Volk bittet. Was zwischen Kollektiven möglich ist, ist Versöhnung. Ich bin immer noch überrascht über die Fülle von Reaktionen auf den Briefwechsel und auf mein Buch. Beide werden inzwischen auf allen Kontinenten von zahlreichen Autoren – darunter vor allem Philosophieprofessoren –, die sich mit der Frage der Vergebung und Versöhnung beschäftigen, zitiert und kommentiert. Pick: Wie kam es überhaupt dazu, dass Ihr Briefwechsel in dieser französischen Zeitschrift veröffentlicht wurde? Ging das auf Ihre Initiative zurück? Raveling: Nein, ich habe mich damals nicht um eine Veröffentlichung des Briefwechsels im Magazine Littéraire bemüht. François-Régis Bastide, der das Gespräch mit Jankélévitch in der Sendung Le Masque et la Plume geleitet hatte, hat mich dazu gedrängt und hat dem damaligen Chefredakteur der Zeit-
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schrift, Jean Jacques Brochier, empfohlen, sich an mich zu wenden. Er hat auch die Verbindung zum Radiosender France Culture hergestellt, für den ich dann anlässlich der Gedenksendung zum 10. Todestag des Philosophen eine zweistündige Sendung gemacht habe. Bastide hatte in den Chefetagen der wichtigsten kulturellen Medien immer jemanden, den er »mon ami« nannte. Übrigens war auch Jankélévitch für ihn »mon ami«. Sein Interesse für und seine Zuneigung zu Deutschland war notorisch. Er hat uns seinen überwiegend in Deutschland spielenden Roman La fantaisie du voyageur geschenkt mit der handgeschriebenen Widmung »pour la famille Raveling ce roman allemand, avec sympathie et voeux des meilleurs«. Auf dem Deckblatt ist ein Bild mit Franz Schubert am Klavier. Pick: In dem ersten Teil unseres Gesprächs konnten wir sehen, dass die vehemente Haltung Jankélévitchs einen Prozess in Gang setzt. Unversöhnlichkeit kann somit eine Voraussetzung für einen Dialog sein. Was uns im Nachhinein hier begegnet, ist ein Phänomen, das Grenzen des Verzeihens sichtbar macht und zugleich einen neuen Weg des Annäherns schafft. Den Grenzen der Versöhnung scheint demnach immer auch ein Bereich eingeschrieben zu sein, der über das Miteinandersprechen hinausgeht. Mit der Unmöglichkeit der Versöhnung ist die Möglichkeit, sich aufeinander zuzubewegen, also keineswegs ein für alle Mal abgebrochen. Die Unmöglichkeit der Versöhnung beherbergt durchaus neue Möglichkeiten, sich anzunähern und auf verschiedene Weise Anfänge zu setzen: Sie beginnen mit der Dialogbereitschaft mit oder in dem Bewusstsein vom Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart. Im zweiten Teil unseres Dialogs kommen wir auf das Verzeihen zurück und widmen uns dabei konkreten Fragen. Das Verzeihen verlangt offenbar viel, vor allem Zeit. Dass die Zeit vergeht, bleibt aber ein Vorgang ohne unser Zutun. Zwar mag das Vergehen der Zeit heilsam sein, entscheidend ist doch aber, wer auf solche Kräfte setzt – ein Geschädigter, der darauf hofft, oder ein Schädiger, der darauf vertraut oder gar danach schielt. Der Literaturwissenschaftler und Gesellschaftskritiker Hans Mayer schreibt in seinem Buch Über Deutsche und Juden, dass es »keine Heilkräfte der Geschichte« gibt. Die Zeit vergeht, die Toten bleiben. Daher möchte ich meine Frage so formulieren: Ist die Annahme, dass der zunehmende zeitliche Abstand zum Ereignis, zur Tat oder Untat, das Verzeihen begünstigt, nicht vor allem hilfreich für den Schädiger, weil sie gewissermaßen eine verlässliche Konstante ist? Und wie kommt es, dass die Geschädigten sich nicht selten einem normativen Druck ausgesetzt sehen, früher oder später einen Schritt
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auf die Schädigerseite zugehen zu müssen? Wird damit nicht eine gewisse Bereitschaft zur Verzeihung erwartet? Und gibt es gute Gründe dafür, als geschädigte Person nicht zu bereitwillig und zu schnell zu verzeihen? Raveling: Täter könnten eine zu bereitwillige Vergebungsbereitschaft irrtümlich so verstehen, als hätten das Opfer und unbeteiligte Dritte letztlich gegen die Tat nichts einzuwenden. Das schwächt ihr Unrechtsbewusstsein und verschafft ihnen Erleichterung für ihr Gewissen. Unserem Gerechtigkeitsempfinden leuchtet es aber ein, dass jemand, der Unrecht getan hat, an seinem schlechten Gewissen leiden sollte. Das Verzeihen könnte sein Gewissen beruhigen und ihn geneigt machen, wieder Unrecht zu tun. Nicht nur die Vorwürfe des Opfers, auch die Selbstvorwürfe des Täters erfüllen eine wichtige soziale Funktion in Sachen Unrechtsvorbeugung. Das schlechte Gewissen der Täter hat damit etwas Gutes für die Gemeinschaft. Ich vermute, dass sowohl Derrida als auch Jankélévitch diese Argumente für Ihre Argumentation nicht berücksichtigen würden. Sie beschäftigen sich wenig oder gar nicht mit der Tatsache, dass das Verzeihen ja in einem jeweiligen sozialen Umfeld geschieht, dessen Reaktionen und Einflüsse ja meistens auch eine Rolle spielen. Ihre Aufmerksamkeit konzentriert sich vielmehr auf den Verzeiher, auf seine Motivation, seine Gründe, Schwierigkeiten und Grenzen beim eigentlichen/absoluten Verzeihen. Kodalle: In der Tat ist das außer-ordentliche, das unbedingte (also bedingungslose) Verzeihen des Opfers rücksichtslos, d.h. ohne Rücksichten auf die – erhoffte – Besserung, ja Umkehr des Täters oder der Täterin und ohne Rücksicht auf die soziale Mitwelt von Täter und Opfer. Aus diesem Grund meidet das verzeihende Subjekt die Öffentlichkeit bzw. Veröffentlichung seiner Haltung. Das KZ-Opfer Eva Mozes Kor (1934–2019) ist demgegenüber ein besonderer Fall, insofern sie in ihren Erklärungen nicht nur ihren Folterern verziehen hat, sondern in bestimmten Stellungnahmen ›den‹ Deutschen. Ich bin ganz sicher: Diese Frau meint es mit ihren Erklärungen ehrlich, aber indem sie sich mit öffentlichen Verlautbarungen zu ihren Motiven und Absichten nicht zurückhält, erregt sie, obwohl sie doch nur für sich sprechen will, den Widerspruch anderer direkt betroffener Opfer – und natürlich erst recht den Unmut derer, die die moralische Dimension der Geschichtspolitik und der Pflege des Schuldbewusstseins im Blick haben.
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Also, authentisch erweist sich die Stärke und Unbedingtheit des Verzeihens in der Wahrung des Inkognito. Die Person, der die Verzeihung gilt, behält ihre Freiheit. Zu erwarten ist, dass diese Person unter dem Impuls erwiesener Verzeihung ihre Einstellungen und ihr Verhalten grundlegend ändert. Aber wie weit eine solche Person ›in sich geht‹, wie weit sie wirklich eine andere wird und damit wieder in das ›ethische gemeine Wesen‹ (Kant) integriert wird, darüber hat niemand ein Urteil zu fällen. Auch das verzeihende Opfer behält keine Kontrollmacht. Sollte ein Täter die ihm erwiesene Verzeihung missverstehen – ›meine Tat war ja verzeihlich, war also halb so schlimm‹ –, erweist er nur seine Primitivität und Unbelehrbarkeit; dagegen ist dann kein Kraut gewachsen. Natürlich setzt das verzeihende Subjekt auf eine Wirkung der unbedingten Zusage einer Verzeihung; wird doch dem in seiner Schuld verhärteten Täter die Perspektive einer Erneuerung auch seiner moralischen Integrität eröffnet! Und das kann auch zu einer Erneuerung des kommunikativen Verhältnisses zwischen Opfer und Täter führen. Ja, dieses Verhältnis kann sogar an Komplexität und Tiefe gewinnen, verglichen mit der Zeit vor dem schuldhaften Ereignis. Allerdings bleibt es bei der Freiheit; alles würde verdorben, wollte das verzeihende Subjekt eine Art Kontrollmacht behalten darüber, in welcher Weise und bis zu welchem Grade beispielsweise ein Täter oder eine Täterin ›sich bessert‹. Das Argument, Täter sollten gefälligst an oder unter ihrem Schuldbewusstsein leiden, ist nicht leicht zugänglich. Denn entweder leiden sie darunter, dann empfinden sie die entgegenkommende Erfahrung von Verzeihung als eine Art Gnade, oder sie leiden nicht oder nur wenig darunter, dann nehmen sie eben die Rhetorik der Vergebung als eine willkommene Zusatzentlastung. Die Empörung der Gesellschaft, zu der Täter und Opfer gehören, hat ihrerseits Konjunkturen und fällt als wirklicher Maßstab-Geber aus. Die öffentliche Meinung ist immer durchsetzt von Opportunismus. Auf einer ganz anderen kategorialen Ebene sind deshalb öffentliche Schuldbekenntnisse und öffentliche Vergebungsbitten, die durch Repräsentanten einer in Schuld verstrickten Gemeinschaft geäußert werden, zu behandeln. Hier spielen strategische Interessen eine nicht unwesentliche Rolle. Seit ca. zwanzig Jahren sind öffentliche Schuldbekenntnisse und öffentliche Vergebungsbitten fast inflationär im öffentlichen Diskurs anzutreffen. In diesen Zusammenhang gehören auch zum Beispiel die Amnestien nach politischen Systemwechseln. Dieser ganze Komplex bedürfte einer eigenen Erörterung.
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Es gibt gewiss so etwas wie ein leichtfertiges Verzeihen. Es begegnet uns meines Erachtens häufiger auf der Ebene institutioneller Regelungen. So gehört es fast zu einer Art historischer Gesetzmäßigkeit, dass nach dem Ende einer Diktatur im Übergang zur Demokratie fast regelmäßig Amnestie-Gesetze verabschiedet werden. Je tiefer und komplexer ein einzelner Mensch in seiner Integrität und Würde verletzt worden ist, desto schwerer wird er sich damit tun, den Tätern zu vergeben. Das kann ein langer innerer Kampf sein und in diesem spielt ganz gewiss auch eine gewisse Abwägung eine Rolle, wie wohl der Täter oder die Täterin auf eine zugesagte Vergebung reagieren wird. Erst recht, wenn es sich um Vorgänge des intimen Lebens handelt. Sobald die Öffentlichkeit und die Politik in diesen Vorgängen berücksichtigt werden müssen, entstehen ungeheure Ambivalenzen. Das Verzeihen hat seine eigene Qualität und Würde, völlig unabhängig von den Folgen beim Täter oder von den Resonanzen im Publikum nach einem Systemwechsel. Raveling: Sowohl Jankélévitch als auch Derrida sprechen von einem reinen, einem absoluten Verzeihen, das unabhängig sein solle von Gründen, von Vorbedingungen, von Zielvorstellungen, von Wünschen und Motivationen des Täters, von seiner Bereitschaft zur Reue, sich zu ändern, von politischen Erwägungen usw. Kann es sinnvollerweise ein solches absolutes oder reines Verzeihen geben? Beide Philosophen benutzen die Formel: »Verzeihen kann man eigentlich nur das Unverzeihliche.« Wie sinnvoll ist ein solcher Satz? Kodalle: Mit der paradoxalen Formulierung wird zunächst einmal erreicht, dass die Handlung und Haltung des Verzeihens der Trivialität einer Beurteilung durch unbeteiligte Dritte entzogen wird, die sich vielleicht anmaßen, eine Art Kriteriologie für das Verzeihbare bzw. Unverzeihliche zu elaborieren, als eine Art Urteilsmaßstab für das Publikum. A ist von B verletzt worden. Über die Tiefe und Komplexität dieser Verletzung befindet allein die Person A. Sie kann den Vorgang ›leichtnehmen‹ und mit Nonchalance über die Ereignisse hinweggehen. Dann könnte man meinetwegen von einer Tat sprechen, die verzeihlich ist. Oder A nimmt das Geschehene schwer, fühlt sich in seiner personalen Würde verletzt – so schwer, dass die Beziehung zu B zur Disposition steht. In der Verletztheit gewichtet A die Tat als unverzeihlich. Dann nimmt das Geschehene den Charakter des Unverzeihlichen an. Die Verbindung zwischen A und B steht damit ›auf dem Spiel‹.
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Wenn dem Opfer A die Person des Täters B gleichgültig ist, wird der Hass das Opfer an den Täter binden. Pick: Warum ist die Verbindung zwischen Täter und Opfer wichtig? Aus der Perspektive des Opfers ist es doch nicht selbstverständlich, dass ihm etwas an der Beziehung zum Täter liegt. Ich denke da zum Beispiel an Texte von Holocaust-Überlebenden, die eine Verbindung zum und Versöhnung mit dem Täter für sich selbst ausschließen. Bitte erlauben Sie mir die skeptische Nachfrage: Widerspricht sich das nicht, schließen sich Gleichgültigkeit und Hass nicht gegenseitig aus? Ist es nicht eher so, dass entweder der Täter dem Opfer gleichgültig ist oder das Opfer Hass für den Täter empfindet? Kodalle: Ausgehend von der paradoxalen Formulierung ›Verzeihung des Unverzeihlichen‹ habe ich versucht, der kommunikativen Grundstruktur des Verzeihungsvorgangs nachzugehen. Der Verweis auf ein überlebendes Opfer des Holocaust zieht die Analysen auf eine andere Erklärungsebene. Die Juden wurden als homogene Rasse behandelt und gerade ihrer Personwürde im Grundansatz der offiziellen politischen Feinderklärung beraubt. Der Einzelne zählt also gar nicht, war mit der Herabwürdigung auch nicht als dieser Einzelne gemeint, sondern verschmolz mit der Masse der Juden als Volksfeind. Jede einzelne Erniedrigung tagtäglich war natürlich eine einzelne Tat, aber sie ereignete sich als konkreter Ausdruck eines brutalen menschenverachtenden Handlungskollektivs. Wie soll ein Opfer da wem verzeihen? Natürlich kommt es zu solchen Artikulationen wie im Falle der Eva Mozes Kor, aber das sind merkwürdige Ausnahme-Vorgänge. Für die meisten Opfer ist selbst ein mit 14 Jahren in den Wachdienst gezwungener Junge eine Inkorporation eben dieses Bösen – eben weil er dabei war, egal aus welchen Gründen oder egal ob gezwungen. Also insofern gab es für Holocaust-Opfer unsäglich viel zu verzeihen – aber gab es ein konkretes personales Gegenüber, dem die Verantwortung für all die vielen Schritte bis ins Vernichtungslager hinein zuzuschreiben war? Auf meine soeben vorgenommene Beschreibung würde die Bemerkung ›Das Verzeihen ist in den Lagern gestorben‹ von Vladimir Jankélévitch wahrscheinlich passen, eben weil es das Gesicht, das konkrete verantwortliche Du für all das Erniedrigende nicht zu geben scheint. Die Gestalt des Bösen ist da zu amorph, wenngleich sie so übermächtig konkret war.
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Bezugnehmend auf Ihre Nachfrage: Ja, der Einwand leuchtet auf Anhieb ein. Indessen möchte ich dies zu bedenken geben – und ich hoffe, mein Argument kann Sie teilweise überzeugen: A und B kennen sich oberflächlich oder gar nicht, stehen vielleicht in einer rein funktionalen beruflichen Beziehung. Da diese Beziehungen selten gleichgewichtig sind, sondern in der Regel irgendwie asymmetrisch – A ist eher von B abhängig als umgekehrt – kann man doch sagen: in einem existenziellen Sinne ist der B dem A, aber auch der A dem B relativ gleichgültig. Wenn in einer solchen Beziehung ein beleidigender, erniedrigender, verletzender Vorgang passiert, löst das Enttäuschung, Wut, Irritation auf mehreren Ebenen aus. Ob wir nun die Reaktionsweise des Opfers mit Wut oder mit Hass kennzeichnen, ist nicht so wichtig. Auf jeden Fall ist das Allerletzte, was das Opfer in dieser Situation erwägen wird, ein Akt oder eine Einstellung von Verzeihung. Es bleibt dieser bohrende Ärger, der Angriff auf das Selbstwertgefühl, der eigentlich nur – wenn es denn möglich sein sollte – auf rechtliche Weise durch Anklage des Täters bearbeitet werden könnte. Aber es gibt Verletzungen in solchen Beziehungen, die kann man auch juristisch nicht aufarbeiten. Und dann ist die Reaktion mit Wut und Hass trefflich beschrieben. Da die Zeit auch hier an Opfer wie Täter arbeitet, wird die Intensität nachlassen, aber die bohrende Verletzung wird auch noch in 30 Jahren spürbar sein, wenn der Name des Täters fällt. Das ist gemeint, wenn gesagt wird: passiert die Verletzung in einer Beziehung der Gleichgültigkeit, bleibt die Bindungskraft des Hasses. Wenn demgegenüber zwischen A und B ein Verhältnis wirklich gegenseitiger Anerkennung und Schätzung besteht, bis hin zu Freundschaft/Liebe, dann wird einerseits die Verletzung als viel tiefer und komplexer empfunden werden, und dennoch wird A, dem der B wichtig war für die eigene Existenz, um diese Beziehung in einem inneren Kampf ringen. Und ein wichtiges zentrales Medium dieser Selbstverständigung ist das Verzeihen. Das ist natürlich ein langwieriger, tastender Vorgang, der bei jedem Zuge von der Resonanz des B abhängig ist. Irgendwie muss ja erkennbar sein, ob der B überhaupt gewillt ist, sich mit dem Ereignis erneut zu konfrontieren, und zwar so, dass er wirklich ›in sich geht‹. Wir können hier diesen Vorgang auch als einen beschreiben, in dem deutlich wird, inwiefern das Verzeihen die Voraussetzung der Reue sein kann. Dieser Hass und der ihm entsprechende Wille zu Vergeltung muss so bearbeitet werden, dass das Opfer wieder zu einer souveränen Freiheit und Selbstachtung gelangt. Auch hier kann ein Wille zur Verzeihung des Geschehenen
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eine Rolle spielen. Das kann zum Beispiel in einer Umdeutung der Tatintention bestehen. Der komplexere Fall einer Herausforderung, sich der Frage zu stellen, ob und inwiefern Verzeihung überhaupt möglich ist, liegt dann vor, wenn zwischen Opfer und Täter ursprünglich eine humane Beziehung auf Augenhöhe bestand, die durch eine Tat oder Unterlassung großen Schaden genommen hat. Dann geht es nicht nur um die restitutio in integrum des Opfers, sondern im Prozess des Verzeihens ringt das Opfer auch darum, die Logik des Vorwerfens gegenüber dem Täter zu überwinden – in der Grundannahme, die Zuwendung des Opfers werde dazu führen, dass schließlich der Täter sich der Verwerflichkeit seines Handelns stellt und dankbar die Chance eines Neubeginns des kommunikativen Verhältnisses ergreift. In einer Schwundform des Verzeihens könnte sich A mit dem Ereignis ›abfinden‹ und – unter Verzicht auf Rache o.Ä. – den B seines Weges ziehen lassen. Die Beziehung wäre beendet. Auch hier wäre schon ein subtiler innerer Prozess nötig geworden, um sich aus dem Opfer-Status herauszuarbeiten und wieder Souveränität im eigenen Dasein zu gewinnen. Darin ist die Entscheidung impliziert, dass der Person A die Person B offenbar nicht ›lebenswichtig‹ war (oder eben nach der Tat es nicht mehr ist). Ganz anders stellt sich die Gewichtung des Verletzungsvorgangs dar, wenn die Person B für die Existenz von A eine wesentliche Bedeutung hat. Dann ist vermutlich der Prozess des Verzeihens ein langwieriger des Ringens von A mit sich selbst. Vieles wird da abgewogen, nicht zuletzt auch die Frage (deren Beantwortung nur im Geist der Hoffnung zu wagen ist): Wie weit kann ich darauf bauen, dass der Akt des Verzeihens bei B eine gründliche Selbstprüfung und das auslöst, was man Reue zu nennen pflegt, so dass B in Konsequenz dieser Zuwendung auch ›ein anderer‹ wird? Das Entscheidende dabei ist die Wahrung der Freiheit von B. Das verzeihende Subjekt A hat über den von ihm durch den Akt des Verzeihens ausgelösten Prozess bei B keine Kontrolle. A setzt auf den Wandel bei B, auf die Auflösung jener Verhärtung, die sich B nach der niederträchtigen Handlungsweise, vielleicht aus Gründen der Selbstachtung, zugelegt hat. Indessen, sollte der Vorgang dieser Zuwendung gelingen, dann könnte das Verhältnis von A und B eine größere Komplexität und Tiefe erreichen als je zuvor. Der Akt des Verzeihens gilt also nicht der Tat, sondern der Person des Täters oder der Täterin. Geht der Akt des Verzeihens von einer einzelnen Person aus, kann er nicht einem ganzen Kollektiv gelten.
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Die Mitwelt mag sich von diesen Vorgängen betroffen fühlen und sich gar mit A oder mit B solidarisieren. Dem Vorgang der Verzeihung bekommt das in der Regel nicht. Sie übt zum Beispiel Druck auf Opfer und Täter aus, sich doch endlich gefälligst auszusöhnen. Ist doch das Interesse an einer schnellen Normalisierung der Lebensverhältnisse in der Regel dominant. Opfer, die auf der moralischen Disqualifikation des Täters beharren, werden leicht als Störenfriede empfunden; den Tätern, die vielleicht eine oberflächliche Reue bekunden und sich den neuen Handlungsmustern einpassen, vergibt die Gesellschaft leicht. Die Forderung nach Amnestien pflegt sofort nach einem politischen Systemwechsel laut zu werden. Amnesien sind die Folge (sie können auch strategisch ›von oben‹ erzwungen werden). Raveling: Kann man nur vergeben, wenn der Täter seine Schuld eingestanden, Reue gezeigt und um Vergebung gebeten hat? Kodalle: Die Bitte um Vergebung ist ein Zeichen für den Willen eines Übeltäters oder einer Übeltäterin zur Aussöhnung. Aber diese Geste kann oberflächlich oder vorschnell sein. Sie kann ein Opfer unbillig unter Druck setzen. Das Opfer braucht ›SEINE Zeit‹ um sich mit der Erfahrung seiner Verletzung auseinanderzusetzen und wieder Stand zu gewinnen. Wenn ein Täter oder eine Täterin sich glaubwürdig so verhält, dass sein/ihr Gesinnungswandel sich durch sein/ihr Tun und Lassen bezeugt, dann kann das für das Opfer ein überzeugender Anstoß werden, sich seinerseits auf den Täter oder die Täterin zuzubewegen. Der expliziten Worte ›ich vergebe dir‹ bedarf es dann gar nicht mehr. Denn die Situation ist geheilt. Pick: Das Handeln der Person bezeugt die Schuldeinsicht und vermutlich findet ein Gesinnungswandel statt, der nicht nur die Einstellung des Täters oder der Täterin betrifft. Vor dem Hintergrund des historischen Kontextes und der (Un)Möglichkeit des Verzeihens nach dem Holocaust erscheint es beinahe banal, welche Rolle der ›Gesinnungswandel‹ eines ›Täters‹ spielt, sofern man bei Täter an NS-Verbrecher denkt. Was ist aber mit der ›eigenen‹ Zeit des Opfers, die Sie erwähnen? Dass die »Intensität« der Verletzung nachlasse, bleibt eine Annahme Außenstehender, die seitens der Opfer häufig kritisiert wird. Raveling: Es stellt sich oft auch die Frage, ob ein Schuldiger nach vielen Jahren noch »derselbe« Mensch ist, der damals (vor langer, langer Zeit) die Tat beging. Wenn man ihm jetzt vergibt, wie sinnvoll ist das dann noch?
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Kodalle: Wir unterstellen also: Das Leben ist – von außen her betrachtet – scheinbar bruchlos weitergegangen. Der einst schuldig gewordene Täter hat für sich und seine Mitwelt längst neue moralische Maßstäbe gesetzt bzw. gewonnen; er hat sich glaubwürdig von jenen Auffassungen und Werten distanziert, die ihn einst schuldig werden ließen. Wenn er sich vor Zeiten wirklich glaubwürdig und vor seinem eigenen Gewissen überzeugend mit dem verwerflichen Verhalten auseinandergesetzt hat und durch Einsicht und Hilfe seiner Mitmenschen ›ein neuer Mensch‹ geworden ist, dann bedarf er für die Sanierung seines Selbst des Zuspruchs ›dir ist vergeben‹ eigentlich nicht. Anders verhält es sich, wenn der Täter sich in ein neues anständiges Leben eingefügt hat, ohne sich an einem entscheidenden Schnittpunkt mit dem eigenen Versagen, der eigenen Niederträchtigkeit überhaupt auseinandergesetzt zu haben. Das Übel ist gleichsam eingekapselt in eine neue Lebensgeschichte. In diesem Fall könnte ein Opfer, das die alte Geschichte in Erinnerung ruft und sogar mit einer Verzeihungszusage verbindet, den Täter (vielleicht widerwillig!) dazu veranlassen, sich der überwunden geglaubten Phase seiner Existenz, in der er schuldig geworden ist, wirklich erstmalig intensiv zu stellen. Wenn erkennbar ist, dass jemand unter einer Schuld aus der Vergangenheit auch gegenwärtig leidet, so hat er vielleicht Anspruch auf mein Mitleid. Einen Anspruch auf eine Verzeihungszusage indessen gibt es nicht. Pick: Damit eine Wandlung des Täters als authentisch gelten kann, ist auch hier wieder der Faktor Zeit von Bedeutung: Er muss sich eine längere Zeit mit seinem Vergehen, seiner Schuld auseinandersetzen. Seiner Einsicht muss also eine längere Phase der Konfrontation vorausgehen, aber wer entscheidet darüber, ob seine Auseinandersetzung »wirklich glaubwürdig« ist? Welche Beurteilungsinstanz kommt dafür überhaupt infrage, die darüber entscheidet, ob das Verhalten des Täters glaubwürdig ist? Kodalle: Selbstverständlich kann man diese Frage stellen. Aber man kann dann im unendlichen Regress auch wieder die Frage nach der Beurteilungsinstanz der Beurteilungsinstanz stellen … Wer soll das sein? Die öffentliche Meinung? Die sogenannte Zivilgesellschaft? Ein Menschenrechte-Gerichtshof? Es gibt keinen objektiven Maßstab für Glaubwürdigkeit. Ich selbst sehe keinerlei Instanz in der Gesellschaft/Öffentlichkeit, die authentisch über die Glaubwürdigkeit des Gesinnungswandels qua Lebenswandel einer Person zu befinden vermöchte.
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Wer soll das denn sein? Eine irgendwie verlässliche gesellschaftliche Beurteilungsinstanz ist für mich außerhalb jeglicher Sichtweite. Raveling: Welchen Sinn kann es haben, wenn die heutigen Nachkommen der Opfer den heutigen Deutschen vergeben? Kodalle: Post-Holocaust-Generationen beispielsweise in Deutschland sind nicht schuldig und haben deshalb auch nicht um Verzeihung zu bitten. Sie stehen aber im Schuldzusammenhang mit den Vätern und Müttern und müssen deshalb in ihrer gesellschaftlichen und politischen Ordnung und im Verhältnis zu anderen Völkern dieser nationalen Verschuldung Rechnung tragen. Aber sie sind nicht angewiesen auf die Zusage einer Verzeihung durch andere nationale Körperschaften, die sich zugehörig wissen zu jenen Nationen, die der verbrecherischen Politik der Deutschen zum Opfer fielen. Eine Politik der Aussöhnung und der internationalen Verständigung ist Ausdruck der Verantwortungsübernahme einer früheren Schuld durch spätere Generationen. Da hier moralphilosophische Zurechnungen und Schuld-Versprachlichungen sich in der Konfrontation mit ›unsäglicher‹ Schuld gleichsam erschöpfen, sind vorsprachliche symbolische Handlungsweisen angebrachter, um die intergenerationelle Verantwortungsübernahme zu verdeutlichen – so wie der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt im Warschauer Ghetto. Aus der Tatsache, dass ein Kollektiv stellvertretend durch seine Repräsentanten andere Gruppen oder Völker um Verzeihung bittet, lässt sich nichts Erhellendes für das Verständnis der Struktur des Verzeihens ableiten. Es gibt kein handlungsbevollmächtigtes kollektives Subjekt, das stellvertretend für die konkreten Opfer die Bereitschaft zur Verzeihung signalisieren könnte. Bei diesen öffentlichen Schuldbekenntnissen und Vergebungsbitten handelt es sich um kollektive Rituale der Selbstreinigung. Sie sind nicht zu unterschätzen, denn in ihnen zeichnen sich ja Bilder eines neuen kollektiven Selbstverständnisses ab, die für die Kommunikation der Völker untereinander von Belang sein können. Passender als der Begriff der Verzeihung wäre mit Bezug auf diese Rituale und ihre Auswirkungen der Begriff der Aussöhnung. Raveling: Kann man von einem Opfer erwarten oder sogar verlangen, dass es sich in den Täter hineinversetzt, vielleicht sogar versucht, ihn zu verstehen? Kodalle: Ein Opfer, das mit einer Verletzung seiner Würde ringt und seine Integrität wiederzugewinnen versucht, wird geradezu notgedrungen auch ver-
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suchen zu verstehen, was einen Täter oder eine Tätergruppe dazu gebracht haben mag, auf das Niveau von Gemeinheit und Niedertracht herabzusinken. Aber das Verstehen eines anderen stößt immer an Grenzen; ich und der andere haben selbstverständlich getrennte Weltentwürfe und bleiben uns insofern immer auch fremd. Das gilt auch für die Sprachspiele, mit denen eine scheinbar gemeinsame Welt erschlossen werden soll. Vladimir Jankélévitch weigerte sich strikt, sich in ein Gespräch über Aussöhnung mit ›den‹ Deutschen überhaupt einzulassen. Seine Rhetorik der Abwehr und der Feindseligkeit war extrem schroff. Wenn ein (damals) »junger deutscher« Familienvater in einer ganz persönlichen und privaten Initiative diese Abwehrwand durchbrach und es schließlich zu einer Begegnung kam, die von tastender Zuwendung und von Freundlichkeit geprägt war, dann hatte die Einladung, sich – anstelle eines Diskurses über Gut und Böse in der Vergangenheit – gemeinsam ans Klavier zu setzen und sprachlos im ästhetischen Raum eine Gemeinsamkeit zu finden, die vielleicht der Sprache gar nicht bedarf, eine Art Stellvertreterfunktion. Hier wird signalisiert ›ich bin offen für dich und dein sich mir zuwendendes Sein‹, aber bitte ›zwinge mich nicht in die Explizitheit der Versprachlichung, in der ich dann mein ganzes Elend und meine verhärteten Freund-Feind-Empfindungen zur Sprache bringen müsste‹. Der Glaube an eine angemessene Versprachlichung ist irrig. Jankélévitch war mit seinem Herzen und seinem Geist in der Musik mehr zu Hause als in der Theorie. So eröffnete sie ihm auch in jener denkwürdigen Situation mit einem jungen Gast aus Deutschland eine Möglichkeit, Nähe zu verdeutlichen, ohne die Verwundungen einfach zu verdrängen. Jankélévitchs Worte der Bitterkeit und Ablehnung wurden in einen Musiksatz der Versöhnung eingebaut. Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Jankélévitch und Raveling sind in die Komposition mit dem Titel Après Tout (»Nach alldem«) von Fabien Lévy eingegangen. Schon der Titel nimmt Worte von Jankélévitch auf. Die Komposition ist von Jankélévitchs musiktheoretischen Erörterungen beeinflusst. Über die Musik, ihre Beziehung zur Stille, zum Schweigen und zur Erinnerung hat Jankélévitch wichtige Erfahrungen aufgeschrieben – zum Beispiel in dem Buch La Musique et l’Ineffable (1961, Die Musik und das Unaussprechliche, 2016). Musik existiert für ihn unabhängig von Ideen, von Erklärungen, von der Sprache. Sie ist ein Mysterium und hat keine außermusikalische Funktion oder Bedeutung. Pick: Das erwähnte Stück von Fabien Lévy und Elisa Primavera-Lévy Après Tout widmet sich dem Thema Verzeihen und Versöhnen, indem es auf verschiede-
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ne philosophische Positionen zurückgreift und diese zum Beispiel im Libretto kunstvoll arrangiert. Es handelt sich dabei um ein Auftragswerk des französischen Kulturministeriums (Commande d’État du Ministère de la Culture), das 2013 im Rahmen des Ultraschall Festivals von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart und dem französischen Ensemble 2E2M in Berlin präsentiert wurde. In Ihrem Buch Verzeihung denken schreiben Sie, dass das Stück Après Tout als Zeichen deutsch-französischer Versöhnung im Medium der Kunst verstanden werden kann. Sie betrachten es als ein Werk der Versöhnung, das der schroffen Unversöhnlichkeit des zitierten Autors widerspricht. Oder zurückhaltender formuliert: Durch die Musik von Fabien Lévy werde die Unversöhnlichkeit Jankélévitchs ›aufgehoben‹. Angenommen das Stück wäre nicht speziell für die Feierlichkeiten »50 Jahre Elysée-Vertrag« geschrieben worden, hätte das Auswirkungen auf Ihre Interpretation? Halten wir fest: Der letzte Abschnitt von Après Tout (»end«) wird mit den Worten Jean Amérys eingeleitet, in seinem Essay Ressentiments heißt es: »Die Zeit tat ihr Werk, in aller Stille.« Und »Was morgen sein wird, ist mehr wert als das, was gestern war.« Damit greift das Stück an zentralen Stellen auf unversöhnliche Positionen zurück. Und so wird es zumindest punktuell fraglich, ob damit die Einsicht hervorgehoben werden soll, dass nur die Zeit die Wunden heilen kann.9 Wir haben also erstens die Primärwerke, aus denen die Zitate entnommen wurden, zweitens die künstlerische Auseinandersetzung und drittens die Rezeption. Interessant sind hier vor allem zwei Aspekte: Zum einen, was dieses Stück auf der produktionsästhetischen Ebene mit Jankélévitchs Unversöhnlichkeit ›macht‹ – zum Beispiel ›anders‹ über Versöhnung zu sprechen als in politischen Reden, und zum anderen, wie diese musikalische ›Intervention‹ wahrgenommen wird. Wie verhält sich die Rezeption des Werkes zu der Intention des Komponisten? Wollte er tatsächlich ein Werk der Versöhnung schaffen? Unabhängig von dem Anlass der Uraufführung zum 50. Jahrestag deutschfranzösischer Aussöhnung sind die Komposition und das Libretto von Après tout dem Thema Versöhnung näher als der Unversöhnlichkeit. Das Stück präsentiert und initiiert die versöhnende Begegnung, inszeniert aber auch gleichzeitig Grenzen der Versöhnung. Darauf verweist der Programmtext:
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Vgl. dazu die Rezension von Clemens Haustein: »Wie leicht wird aus ›vergeben‹ ein ›vergebens‹«, Berliner Zeitung vom 23.1.2013, zit.n. Kodalle: Verzeihung denken, S. 50.
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»Wie nach all dem leben, sei man nun Sohn des Opfers oder Tochter des Henkers? Könnte jemand trotzdem um Vergebung bitten wollen? Und in wessen Namen? Und wen überhaupt? Könnte sich jemand anmaßen, nach all dem Geschehenen zu verzeihen oder im Gegenteil niemals zu verzeihen? Und wem denn? Und in wessen Namen?« Kann die Kunst, in dem Fall die Musik, diese Fragen beantworten? Ist mit dem Stück von Lévy und seiner Frau PrimaveraLévy eine Antwort möglich? Kodalle: Da ist die Welt der konkreten Opfer, da ist die Welt der konkreten Täter (der unbelehrbaren und der – oberflächlich oder abgründig – in ihrer Existenz Gewandelten); und da ist die Welt der Schumann, de Gaulle und Adenauer, die – wunderbar – eine Versöhnung proklamierten, die erst durch ihre Bevölkerungen überhaupt verlebendigt werden musste, allmählich. Aber was bedeutete das jeweils im inneren Gefüge dieser Völker? Adenauer baute die Republik mit vielen einst führenden Nazis auf – und schloss den ersten völkerrechtlich gültigen internationalen Vertrag der Aussöhnung mit Israel ab. Alle am Verhandlungstisch Sitzenden hatten als Muttersprache Deutsch – aber verhandelten aus Rücksichtnahme in Englisch. Und in Frankreich? Eine ganz schnelle Aussöhnung mit dem faschistischen Teil Frankreichs um der Einheit der Nation willen. Aber erst Präsident Chirac brachte zum ersten Mal offiziell das Eingeständnis über die Lippen, dass die französische Polizei eifriger, als es die Deutschen vorgegeben hatten, die Juden zusammenjagte und für den Transport in die Vernichtungslager bereithielt. Das alles stand gewiss auch dem Komponisten, der für eine Feier der Aussöhnung seine Musik komponierte, vor Augen. Diese konkreten Fragen, die Sie stellen, kann ich nicht zufriedenstellend beantworten. Vielleicht müssen sie als Fragen stehen bleiben. Auf jeden Fall ist es eine wunderbare Musik… Pick: Durch die Komposition von Fabien Lévy entsteht ein künstlerischer Reflexionsraum, in dem das Verzeihen nur vorstellbar wird, wenn ›genug‹ Zeit vergangen ist. Die Bezeichnung »Après tout« beinhaltet eine zeitliche Dimension (»nach all dem«). Laut Lévy und Primavera-Lévy sei sie mit »nach allem, aber trotz allem« bzw. »nach allem, aber auch trotz allem« oder »nach allem, wenn auch dies und jenes vorgefallen ist« oder auch »nach allem, obwohl meine, deine und anderweitige Vorbehalte und Hindernisse vorliegen« besser übersetzt, sodass im Titel auch eine versöhnungsbereite Dimension aufscheint. Dem Programmtext, den wir von Lévy erhalten haben, ist außerdem
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zu entnehmen: All die Stimmen, die in dem Stück vorkommen, repräsentieren das »große Theater des Vergebens«. Das »heißt aber nicht zwangsläufig unecht oder heuchlerisch – auch wenn dies mögliche Modalitäten des Pardons sind. Die gleichfalls von Derrida verwendete Theater-Metapher verweist vielmehr auf das Prozesshafte und die Rahmenbedingungen jeden Vergebens, das heißt auf die beim Sprechen und Schreiben mitgedachten Zeugen, auf die Konvulsionen und Transformationen, die Kritiker und Fürsprecher des Ressentiments, freimütig oder widerstrebend Vergebende, stellvertretend oder für sich selbst Um-Vergebung-Bittende oder überzeugt Nicht-Vergebende durchlaufen.« Als Komponist ist er, so Fabien Lévy, maßgeblich von Jankélévitchs musikalischen Konzepten in La Musique et l’Ineffable (1961) und Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien (1957) beeinflusst worden. Ausgangspunkt für Après tout sei aber vor allem Jankélévitchs Haltung zu Deutschland gewesen, die Lévy, dessen deutschjüdische Großmutter Deutschland 1933 verlassen hatte, bestürzt habe. Auf die Frage, ob Lévy mit seiner Komposition Après tout Jankélévitchs Unversöhnlichkeit etwas entgegensetzen und ein Zeichen der Versöhnlichkeit geben wollte, antwortet er uns wie folgt: »Zu Après-tout gibt es natürlich viel zu sagen […]. Am einfachsten ist es zu sagen, dass es ja ein im Sinne Derridas ›théâtre du pardon‹ ist. Wir wollten keine Wahrheit, keine Antwort, sondern verschiedene Fragen, die die Musik schieben und orientieren.« Das Stück versucht selbst, so Lévy, »diese eigentlich nicht einzugrenzende Vielfalt des Vergebens musikalisch ›in den Blick‹ zu nehmen. Insbesondere der dritte Satz (›le grand théâtre du pardon‹) inszeniert die teilweise einander völlig entgegengesetzten Positionen und setzt sie zusammen (Améry, Nietzsche, Eva Kor, Neues Testament usw.).« Schließlich handele es sich bei Après tout um ein Stück mit Musik. »Das wiederum heißt ganz schlicht, wo ein Text ohne Musik eine fast unidirektionale Logik haben muss, kann man hier auf intelligente Weise (in einer strategischen Reihenfolge) verschiedene Positionen nebeneinander stellen, und die Musik dient als Rahmen, um je nach Hörer verschiedene Interpretationen vorzuschlagen. Mein Werk bietet vor allem keine eindeutige Lesart und Interpretation«. Bereits der Titel verweise auf die Mehrdeutigkeit: Adverbiale Wendungen im Französischen, die Lévy auch als Titel für andere Stücke wie A propos, Avant-demain oder Jusqu’à peu verwende, »haben oft die wunderbare Eigenschaft, dass sie einfach klingen, aber mehrere Bedeutungen umfassen.« Wie bereits erwähnt, enthält das Libretto von Après tout Passagen aus Ihrem Briefwechsel mit Jankélévitch. Herr Raveling, Sie selbst waren bei der Ur-
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aufführung am 21. Januar 2013 anwesend. Welche Eindrücke sind Ihnen von diesem Abend in Erinnerung geblieben? Welche Reaktionen erfuhren Sie und wie nehmen Sie ihre eigene ›Rolle‹ in dem Geschehen wahr? Raveling: Es war ein seltsames Gefühl zu erleben, wie ca. 300 Menschen sich in einem altehrwürdigen Theaterbau eingefunden haben, um etwas zu hören und zu sehen, wofür ich (mein Brief an Jankélévitch) der Auslöser war. Anwesend waren unter anderem: der deutsche Staatsminister für Kultur, die französische Kulturministerin, die französische Ministerin für auswärtige Kultur, die Ministerpräsidentin des Saarlandes als Kulturbeauftragte der Länder, der Intendant des Deutschlandradio, der für die Kultursendungen zuständige Mann des Deutschlandradio – u.v.a.m. Natürlich auch unser Freund, der Komponist des Abends, Fabien Lévy und seine Frau. Vor der Aufführung von Après tout wurden mehrere Reden gehalten: Intendant, Staatsminister, Kulturministerin – in allen Reden wurde mein Name genannt. Ich war froh, dass man nicht auf mich gezeigt hat. Ich hatte schon befürchtet, dass ich aufstehen und mich verbeugen oder sogar auf die Bühne treten müsste. Nach dem Konzert erhielten die Beteiligten Musiker, der Dirigent und Fabien reichlich Beifall. Dies war für ihn sein erster großer öffentlicher Erfolg als Komponist. Ich habe sonst selten Gelegenheit, mit Ministern zu plaudern. An dem Abend ist mir jedenfalls sehr viel Interesse und Sympathie entgegengebracht worden. Immer wieder merkte ich, dass jemand erfahren hatte, dass ich der vertonte Briefschreiber sei. Dann schauten sie mich an, wie jemand angeschaut wird, der plötzlich als Prominenter entdeckt wird. Pick: Kommen wir zu Ihren Fragen zurück, zum Beispiel, ob man einem Menschen vergibt oder man eine Tat vergibt. Diese Frage greifen Sie, Herr Raveling, in Ihrem Buch auf. In Vita activa schreibt Hannah Arendt dazu, dass der Person verziehen wird, nicht die Tat selbst. Dieses in unserem Gespräch bereits erwähnte Verhältnis von Tat und Person, ob es beim Verzeihen also möglich ist, die Handlung vom Schädiger zu trennen und sich so von den Folgen der Taten zu befreien, berührt im weitesten Sinne auch Ihre folgende Frage. Raveling: Kann man einem Täter, der mehrere Taten begangen hat, eine Tat vergeben, die andere(n) aber nicht? Kodalle: Diese Frage klingt so einfach, aber sie provoziert doch ein ganzes Bündel Überlegungen, die auf verschiedenen Sinnebenen abzuhandeln sind.
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Ist das Opfer verletzender Handlungen immer dieselbe identische Person? In diesem Falle ist es doch psychologisch evident, dass sich die Bereitschaft, verletzende Handlungsweisen zu verzeihen, mit der Zeit erschöpft. Der Täter oder die Täterin verspielt in ihrer wiederholten Renitenz die eröffneten kommunikativen Spielräume der Aussöhnung. Indessen, dieses Beispiel ist sehr eindimensional. Betreffen die verletzenden Handlungsweisen verschiedene Personen, so kann es sein, dass die Person A (womöglich sogar in Unkenntnis der Wiederholungstäterschaft) dem Täter vergibt, während die Person B dazu nicht bereit ist. Ganz unabhängig davon, ob ihr die Wiederholungen in anderen sozialen Kontexten bekannt sind. In dieser Hinsicht ist bezüglich Verzeihung-Nichtverzeihung jedes Opfer absolut. Die Resonanz der ausdrücklichen oder indirekt (durch Gesten und Handlungen zum Beispiel) mitgeteilten Verzeihungszusage aufseiten der für die Tat verantwortlichen Person kann den kommunikativen Sinn der Verzeihungszusage pervertieren. Dieser Sinn ist letztendlich die restitutio in integrum der Person, die Schuld auf sich geladen hat. Raveling: Anlässlich dieser Bemerkung stellt sich doch die Frage, ob mit der Gewährung von Verzeihung unvermeidlich, ja womöglich intentional eine Entlastung der schuldbeladenen Person vom Schuld-Druck verbunden ist. Kodalle: Zweifellos ist der Effekt der Verzeihung eine Entlastung der für das Übel verantwortlichen Person, der sich die Wiederanerkennung als Mitglied der rechtlichen und moralischen Gemeinschaft eröffnet. Diese Chance wird verspielt, wenn die Person, der Verzeihung gewährt wurde, diese Eröffnung eines zukünftigen Lebensweges im Rückblick auf die eigene Vergangenheit so interpretiert, als sei dann doch das verwerfliche Handeln gar nicht so schwergewichtig gewesen. Eine solche rückwärtsgewandte nachträgliche Selbstentlastung des Gewissens ist nicht nur einfach primitiv, sondern desavouiert auch jene Personen, die sich zu einer Haltung der Verzeihung durchgerungen hatten. Wer Verzeihung erfährt, hat diesen befreienden Impuls in eine vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu überführen. Diese kritische Beobachtung ändert freilich nichts an dem grundsätzlichen Tatbestand, dass der zunächst zwingend erscheinende Ausschluss aus der Gemeinschaft der moralischen Wesen im Lichte der Verzeihungszusage entdramatisiert wird, denn die scheinbar unwiderrufbare Exklusion aus der
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Gemeinschaft wird in der Verzeihung zurückgenommen. Man kann durchaus mit Grund die Frage stellen, ob es im Menschen nicht ein fundamentales Entlastungsbedürfnis gibt, das auch schon seinen Ausdruck in Texten großer Philosophen gefunden hat: Die Zeit heilt alle Wunden, ohne dass Narben bleiben (Hegel). Raveling: Wie verhält sich der erwähnte Schuldentlastungseffekt der Verzeihung zu den in der Öffentlichkeit geführten Schuld-Diskursen? Kodalle: Wie schon an einer anderen Stelle hervorgehoben: Abgesehen vom Gottesverhältnis (das hier in die Erörterung nicht einbezogen werden kann) gibt es keine dritte Instanz – etwa die sogenannte öffentliche Meinung –, die sich hier ein Urteil anmaßen könnte, wenngleich eine flankierende Urteilsbildung sehr schnell bei der Hand ist mit der Festlegung, die Tat X oder Y oder gar deren Kumulieren in Gestalt einer verwerflich handelnden Person sei doch unverzeihlich. (Die Zeitgeistabhängigkeit der öffentlichen Moralisierungsdiskurse ist evident. Die dynamischen Triebkräfte auf diesem Feld zu erfassen und kritisch zu beleuchten, ist eine – hier nicht zu leistende – philosophischdiagnostische Aufgabe, zumal seit einigen Jahrzehnten eine Welle öffentlicher Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten Aufmerksamkeit erregt.) Pick: Die Literatur, die immer auch Raum für Kritik, Reflexion und subjektiven Ausdruck bietet, nimmt hier eine besondere Rolle ein. Sie stellt der Zuwendung eines Opfers nicht nur einen imaginären Raum bereit. Eine Versöhnung und demzufolge auch Unversöhnlichkeit thematisierende Literatur kann auch eine Produktivkraft entwickeln. Besonders eindrücklich zeigt das die 1970 in Deutschland erschienene und 2015 neu aufgelegte Erzählung von Simon Wiesenthal Die Sonnenblume. Schuld und Vergebung. Im Zentrum der Handlung ist die Situation eines sterbenden SS-Soldaten (»Karl«), der an schweren Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden teilgenommen hat und der nun in der Stunde seines Todes einem jüdischen KZ-Häftling, gleichsam »Simon« als Stellvertreter der Opfer, seine Taten beichtet. Auf das Bekenntnis des SS-Mannes reagiert Simon mit Schweigen: sowohl während seiner eigenen Gefangenschaft am Bett des Täters sitzend als auch nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager, als er der Mutter begegnet. Das erste Schweigen ist das Stummbleiben im »Sterbezimmer«. Simon hört dem Täter zu, verlässt aber wortlos den Raum. Später schickt er der Mutter die letzten Habseligkeiten ihres verstorbenen Sohnes und nimmt darüber hinaus einen beschwerlichen Weg auf sich, um
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sie persönlich aufzusuchen. Während dieser Begegnung entwickelt Simon ein großes Mitgefühl für diese Frau. Er lässt sie im Glauben, dass ihr Sohn ›ein guter, anständiger Junge‹ gewesen sei, und verschweigt ihr somit die Verbrechen, die Karl begangen hat. Simon entscheidet sich, die Erinnerungen der Mutter an ihren Sohn nicht anzutasten und vermeidet es, bei ihr eine die Wahrheit verharmlosende, abwehrende Reaktion hervorzurufen. »Welche Brücke führte von mir zu ihr?«, fragt er sich. Beantworten könne er die Frage nicht, aber dass ihm in dieser intimen Situation die Erinnerungen der Mutter und die historischen Tatsachen unvereinbar erscheinen, ist bereits Teil einer Antwort. Mit diesem zweiten Schweigen, dem Zurückhalten der Tatsachen, lässt er ihr »das Letzte«, was sie noch habe. Zugleich erfüllt er damit Karl den Wunsch, dass seine Mutter ihn auch nach seinem Tod so sehen solle, wie sie ihn sehen wollte. Mit diesen Schwellenphänomenen wie das Schweigen und das Zuhören des Opfers in der Erzählung Die Sonnenblume oder das gemeinsame Musikhören von Jankélévitch und Raveling rückt das Verzeihen in den Bereich der wortlosen Kommunikation und schafft damit wiederum neue Begegnungs- und Erfahrungsräume. Es handelt sich dabei um Phänomene, die deshalb eine Interpretationsvielfalt erzeugen, gerade weil sie auf die Unmöglichkeit des Verzeihens verweisen. Wiesenthals Erzählung endet mit der Frage: »[H]ätte ich, hätte überhaupt jemand, ihm verzeihen sollen, verzeihen dürfen?«. Damit richtet sich der Autor gezielt an seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und fordert sie auf, sich zu dem Thema zu äußern. Wiesenthals dialogisch ausgerichtete Erzählung ist ein außerordentliches Beispiel dafür, was Literatur bewirken kann. Die Grenzen der Versöhnung werden nicht nur zum Gegenstand der Erzählung, der Text ruft auch Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dazu auf, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Versöhnung auseinanderzusetzen.10 Raveling: Hat der SS-Mann explizit um Vergebung gebeten oder hat er sich nur zu seinem üblen Verhalten bekannt? Pick: Tatsächlich ließe sich fragen, ob es sich nicht eher um eine Art »Beichte« und weniger um eine Bitte um Vergebung handelt. Schließlich erwähnt der SS-Mann ›nur‹, dass er das »Bedürfnis« gehabt habe, mit »einem Juden« über 10
Und so erschienen in der deutschsprachigen Erstausgabe (1970) 43 und in der Neuausgabe (2015) insgesamt 59 Antworten.
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die schrecklichen Verbrechen zu sprechen und »ihn um Vergebung zu bitten«. Offenbar fordert er von dem Opfer eine Vergebungszusage ein, weil er »ohne Antwort« nicht in Frieden sterben könne. Kodalle: Der KZ-Häftling – willkürlich ausgewählt und also ohne eigenes Zutun in die Rolle des Hörers einer Lebensbeichte geraten – kann natürlich gar nicht die Machtvollkommenheit in Anspruch nehmen, dem reuigen SS-Mann Vergebung in Aussicht zu stellen. Wohl vermag er, Mitgefühl mit dem Sterbenden zum Ausdruck zu bringen. Aber wie könnte er denn stellvertretend für die zahlreichen Opfer dem Täter Verzeihung zusagen? Die Abgründigkeit der Stellvertretung in diesen kommunikativen Kontexten lässt sich an der traditionellen religiösen Beichte verdeutlichen: Der Hörer der Beichte (Geistlicher) hat auf vorbehaltlose Wahrhaftigkeit des Schuldbekenntnisses zu dringen. Und er übermittelt dann die Verzeihungszusage in Stellvertretung Gottes. (Übrigens ist das Bemühen um Wiedergutmachung conditio sine qua non dieses Prozesses.) Zwar hat man in den kirchlichen Lehren diesen komplexen Vorgang noch einmal unter einen Generalsvorbehalt gestellt, dass nämlich jeder Mensch sich nach seinem Tode einem göttlichen Endgericht werde zu stellen haben, dessen Grausamkeit und Schrecken womöglich in nichts anderem besteht als in der ungeschönten unausweichlichen Selbstkonfrontation der Handlungen und Handlungsmotive eines ganzen Lebens. Aber dennoch ist angesichts der grauenvollen Erfahrungen mit der Bösartigkeit der menschlichen Natur insbesondere im 20. Jahrhundert die Frage nicht verstummt, ob sich eigentlich ein Gott der Gnade mit seiner Verzeihungszusage über das Votum der Opfer hinwegsetzen dürfe. Auch wenn vielen Zeitgenossen diese Zuspitzung zu abstrakt-spekulativ erscheinen mag, ist es vielleicht doch erwähnenswert, dass die Wiesenthal-Geschichte einen katholischen Theologen, Eberhard Tiefensee,11 bewogen hat, das Urteil des gnädigen Gottes an diese Zustimmung der Opfer zu binden. 11
Eberhard Tiefensee (2015). In: Simon Wiesenthal: Die Sonnenblume. Über die Möglichkeiten und Grenzen der Vergebung. Hg. v. Nicola Jungsberger. Berlin 2015, S. 344–349. Dass Tiefensee – bis zu seiner Pensionierung Professor für Religionsphilosophie und Ethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt – eine solche Haltung einnimmt, ist völlig konsequent, wenn die Ausrichtung des zwischenmenschlichen Ethos an der supererogativen Idee der Verzeihung an keiner Stelle und in keinem Verhältnis (auch nicht im Gottesverhältnis) zur Disposition gestellt werden darf. Allerdings kollidiert dieser Denkimpuls mit der traditionellen theologischen Fassung der Idee und des Vorrangs ›unvordenklicher‹ göttlicher Allmacht. Insofern stellt
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Raveling: Wäre das schönste und überzeugendste Vergeben nicht dort, wo ein Opfer einem Täter vergibt und niemand anders erfährt davon? Kodalle: Es verhält sich meines Erachtens so, wie Sartre es in der Theorie des Blicks (Das Sein und das Nichts) beschrieben hat: Der Blick des Dritten lässt die Liebenden in ihrem Verhältnis erstarren. So verhält es sich auch mit dem Wagnis der Verzeihung. Diese fragile Kommunikation ist außerordentlich und unterliegt insofern auch nicht irgendwelchen Imperativen eines Moralsystems. Mithin ist der Satz ›du sollst verzeihen‹ unsinnig. Das Verzeihen ist überschüssig, es sprengt die Koordinaten von Recht und Moral. Sobald sich die Öffentlichkeit des Vorgangs der Verzeihung bemächtigt, ist sofort mit Forderungen und Druckausübung auf die Beteiligten zu rechnen. Authentisch bleibt das Verzeihen, solange sein Geheimnis gewahrt bleibt. Die Vermutung von Herrn Raveling findet also meine volle Zustimmung.
die Position Tiefensees für die katholische Dogmatik einen nonkonformen Denkanstoß dar.
Züge einer narrativen Ethik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder als Beitrag zur Versöhnung nach 1945 Stephan Grätzel
Die narrative Ethik ist abhängig von der gelungenen Gestaltung der Erzählung. Gute Geschichten im Sinne der narrativen Ethik sind also gut erzählte Geschichten, die so figuriert sind, dass sie über mindestens drei Zeitalter hinwegreichen und dabei die SchuldVerstrickungen der Generationen entwickeln. Der Erzähler stellt sich dabei in den Dienst der Toten und leiht ihnen seine Stimme, indem er die Hörer und Leser auf die Fahrt in die Unterwelt (Vergangenheit) mitnimmt und dabei ein Versöhnungsangebot mit dem Unvergangenen macht. Dieser Dienst ist stellvertretend und damit ein Opferdienst. Thomas Mann hat mit seinem Roman noch zu Zeiten der Nazi-Diktatur und des Holocaust ein literarisches Angebot zur Versöhnung zwischen Juden und Deutschen gemacht. Die Nachwirkung dieses Angebots ist aber abhängig von der Rezeption dieses Romans, die allerdings eher schwindet. Der Roman sollte deshalb wieder stärker beachtet werden, vor allem in Schulen, Universitäten und bei der Fort- und Weiterbildung für Lehrer.
Vorbemerkung Die Entstehungsgeschichte des Romans Joseph und seine Brüder reicht bis in das Jahr 1922 zurück. Thomas Mann besucht eine Ausstellung in der Galerie Caspari in München, die Lithographien der biblischen Josephs-Geschichte zeigt (GKFA 7.2, S. 221 ). Im März 1925 fährt Thomas Mann für drei Wochen nach
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Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Heinrich Detering u.a. Kommentar von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stephan Stachorski. Band 7 und 8 in jeweils zwei Teilbänden. Frankfurt a.M. 2018. Zitiert als GKFA mit Band- und Teilband.
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Ägypten. Die Reise soll dem Josephs-Plan »nützlich« sein (GKFA 7.2, S. 25). Zunächst ist nur eine Novelle geplant. Doch das »Religiöse«, zu dem er bislang immer auf Distanz geblieben war, fesselt ihn plötzlich, so dass er die Geschichte ausweitet, nachdem er sie 1926 zu schreiben beginnt. Am ersten Teil schreibt er bis 1930, der Text wird 1933 unter dem Titel Die Geschichte Jaacobs publiziert. 1934 folgt nach kurzer Zeit der zweite Roman Der junge Joseph. Thomas Mann möchte die Romane eigentlich nicht getrennt und gewissermaßen vorab publizieren, aber die politischen Umstände lassen keine andere Wahl. Den dritten Roman Joseph in Ägypten, der 1936 erscheint, schreibt er schon weitgehend im Exil. Der letzte Band Joseph der Ernährer wird in seinem zweiten Exil in Kalifornien zwischen 1940 und 1943 geschrieben. Er erscheint im gleichen Jahr. Erst nach dem Krieg im Jahre 1948 erscheint die eigentlich gewünschte einbändige Ausgabe.2 Die Kommentatoren der Großen kommentieren Frankfurter Ausgabe weisen drauf hin, dass das Werk sich damit zu einem Exil-Roman gewandelt hat. Das Exil Josephs in Ägypten spiegele die Exilsituation des Autors wider (GKFA 7.2, S. 55). Die persönlichen und politischen Umstände spielen tatsächlich stark in den Roman hinein, wenngleich sie nicht explizit gemacht werden, wie dies im direkt anschließenden Doktor Faustus (1943–47) der Fall ist. Die Rezeption der Joseph-Romane in Israel ist sehr positiv. Von den jüdischen Rezensionen sei an die von Shalom Ben-Chorin erinnert, der dem Dichter und seiner »Gotteskenntnis« hohen Respekt zollt. Joseph ist für Ben-Chorin die Symbolfigur des modernen Judentums (GKFA 7.2, S. 408). Die bedeutende jüdische Publizistin Bertha Badt-Strauss sieht in Thomas Mann einen »Fortsetzer der Midrash-Tradition« (GKFA 7.2, S. 409), also der hermeneutischen Auslegung und Neuerzählung der Schrift. Nichts war für Thomas Mann wichtiger als diese jüdische Beachtung und Wertschätzung.
Narrative Ethik Grundzüge Ethik ist nach klassischer Vorstellung die Lehre vom gelingenden Leben. Ein gelingendes Leben zeichnet sich am Ende eines Lebens in der gelungenen Lebens-Geschichte ab. Die Lehre vom gelingenden Leben ist damit die Lehre von 2
S. u. Fußnote 13.
Züge einer narrativen Ethik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder
der gelungenen Lebensgeschichte. Eine Lebensgeschichte ist dann gelungen, wenn sie nicht nur einen guten Verlauf des Lebens aufzeigt, sondern auch beispielhaft oder vorbildlich für andere ist, insbesondere wenn es um die Bewältigung von Krisen geht. Um das zu erkennen, muss eine Geschichte abgeschlossen sein. Nur so kann sie von außen, also gewissermaßen objektiv betrachtet werden. Weiterhin muss die Geschichte weitergegeben werden, indem sie erzählt oder niedergeschrieben wird. Es reicht nicht aus, dass sie nur subjektiv gelebt wurde. Solche abgeschlossenen und weitergegebenen Geschichten sind immer Geschichten von Toten. Der Tod ist für das Subjekt der Abschluss seiner Geschichte. Für die Außenstehenden ist es der Punkt, von dem aus seine Geschichte überschaut werden kann. Der Tod ist aber nicht nur ein solcher Grenzstein, er hinterlässt den Hinterbliebenen und Außenstehenden auch eine Leerstelle, die zur Erzählung, zur Weitergabe oder zur Verdrängung anregt oder sogar auffordert. Diese Forderung dient der Bewahrung und dem Andenken von Menschen und ihrem Schicksal. Eine abgeschlossene Geschichte ist von daher kein neutraler Text, sondern er soll erzählt oder er soll verschwiegen werden. Dieses implizite Soll einer Erzählung ist die Basis der narrativen Ethik, sie ergibt sich aus dem grundsätzlichen Auftrag der Erzählung, gelebtes Leben weiterzugeben. Beim Rezipienten wird durch die Erzählung eine Beziehung zu der abgelebten Welt aufgebaut oder vertieft. Dabei offenbart der Abbruch und das Ende der Lebensgeschichte die Machtlosigkeit der Toten, selbst noch Zeugnis ablegen zu können. Dennoch entsteht aus der Leerstelle das Soll und die Macht der Toten, ihre Geschichte zu erzählen oder zu verschwiegen. Das fundamentale Soll verbindet die Sprecher und Hörer, die Welt der Toten mit der Welt der Lebendigen. Die narrative Ethik bezieht sich weiterhin auf die Möglichkeit der Weitergabe der Lebensgeschichte. Sie wendet sich also der Frage zu, wie zu dem Vergangenen eine Verbindung hergestellt werden kann. Dabei geht es um die Verknüpfung mit dem abgelebten Leben und die Frage, wie realistisch oder authentisch eine Erzählung ist. Im Zentrum narrativer Ethik steht aber nicht allein die Realitätstreue einer Erzählung. Auch Biographien, zumal Autobiographien haben fiktive Anteile. Die Suche nach historischer Wahrheit ist zwar die oberste Pflicht des narrativen Solls. Für die Spannung und Rezeption bei den Hörern ist aber auch die Gestaltung der Erzählung und ihre Rückführbarkeit in das Leben der Zuhörer und Leser wichtig. Dieser erzähltechnische und
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künstlerische Aspekt ist dabei wichtiger als die bloße Aufzählung von Fakten. Die Erzählung geht also über die Aufzählung hinaus. Ein weiteres Merkmal der narrativen Ethik ist, dass sie keine in eine Erzählung gepackte Moral hat, wie wir das etwa bei der klassischen Fabel vorfinden. Sie handelt nicht vom Guten, sondern sie ist gut erzählt. Die narrative Ethik unterscheidet sich gerade darin von einer Moral im Gewand der Erzählung, dass sie nicht moralisch erscheint, dass keine Moral sichtbar wird, sondern dass der moralische Effekt, wenn man es so nennen möchte, durch die Aufrichtigkeit des Erzählers und die Spannung der Erzählung, durch das Ansprechen und Mitnehmen in die Handlung hinein, also durch ihre empathische Wirksamkeit stattfindet. Diese dramaturgischen Effekte werden handwerklich und künstlerisch erzeugt. Die narrative Ethik ist damit abhängig von der gelungenen Gestaltung der Erzählung.
Gestaltung Wie Paul Ricoeur immer wieder in seinen poetologisch-philosophischen Untersuchungen herausgearbeitet hat, gehören zur Gestaltung einer Erzählung drei unterschiedliche Formen der Figuration, die Prä-Figuration, die Kon-Figuration und die Re-Figuration.3 Die Präfiguration gilt der Sammlung und Aufbereitung des Stoffes der Geschichte, des Materials, die Konfiguration ist der Gestaltungvorgang selbst und die Refiguration ist die Aufnahme und Integration der Geschichte beim Rezipienten. Damit ist der äußere Rahmen der Gestaltung einer Erzählung und der Kreis der Beteiligten festgelegt. Dieser Kreis umfasst den Autor, die Rezipienten und den Stoff. Der Stoff ist dem Autor vorgegeben, er ist präfigurativ. Es sind die Geschichten, derer er sich bedient und die er gestaltet. Dabei wird der Stoff für die Rezipienten aufbereitet. Der gesamte Vorgang gleicht dem Aufgreifen und Weiterspinnen eines Fadens, den der Held oder die Heldin einer Geschichte gewirkt und mit dem Tod aus der Hand gelegt hat. Der Stoff ist immer vorgegeben, auch wenn die Handlung vom Autor ausgedacht oder erfunden wird. Was nämlich nicht ausgedacht werden kann, ist der allgemeine Rahmen der Handlung, der sich aus den Formen des Miteinander ergibt, der Familie, der Gesellschaft, des Zeitalters, des kulturellen Umfeldes. Sie sind geprägt von der Endlichkeit jedes Mitwirkenden und deren 3
Vgl. Paul Ricoeur: Die erzählte Zeit. In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Übers.u. hg. v. Peter Welsen. Hamburg 2005, S. 183–207.
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Brüchen, Abschlüssen und Neuanfängen. Diese Strukturen sind vorgegeben. Allem voran spielen die familiären Zusammenhänge die grundlegende Rolle, auch dort, wo sie nicht direkt angesprochen und behandelt werden. Denn jeder Mensch geht aus einer Geschichte hervor, der Geschichte der Eltern, ihrer Liebesgeschichte und Vorgeschichte. Jeder Mensch ist eine leibgewordene Geschichte. Natürlich ist das nicht immer eine Liebesgeschichte und natürlich gibt es auch Gewalt in Liebesbeziehungen, Liebe kann sogar diese Gewalt auslösen, aber sie geht nicht in Gewalt auf, sondern bleibt immer der Gegensatz von Gewalt. Liebe braucht Sprache, sie realisiert und erfüllt sich im Dialog mit dem begehrten und geliebten Wesen. Dazu ist es notwendig, in diesen Dialog einzutreten und den anderen zu verzaubern und zu verführen. »Sprechen ist ein Geschlechtsakt«, wie Eugen Rosenstock-Huessy feststellte.4 Mit Gewalt kann das nicht gelingen. Gewalt ist sprachlos und hinterlässt auch keine Liebesgeschichte. Gerade solche fehlenden Liebesgeschichten können aber durch Literatur ersetzt werden. So ist bei ungeliebten Kindern diese Suche nach einer Geschichte, und sei es eine fiktive, von fundamentaler Bedeutung. Normalerweise aber beginnen Geschichten in der Realität als Familiengeschichten. Hier liegt alles bereit, was auch den Stoff von literarischen Geschichten spannend macht, die Vorgeschichte als Liebesgeschichte der Eltern, die Haupthandlung, die Heldenreise des Ich und sein Erwachsenwerden mit allen seinen Kämpfen, Niederlagen, Triumpfen und der versöhnenden Heimkehr in eine eigene Familie, und deren Nachgeschichte, die biologisch in den Kindern oder literarisch in den Erzählungen fortlebt. Eine Familiengeschichte geht also über mindestens drei Generationen. Diese Struktur bildet auch den Kern der literarischen Geschichte. Thomas Manns Roman Buddenbrooks ist in der Hinsicht klassisch zu nennen. Sein Untertitel ist aber »Verfall einer Familie«. Aber auch bei einer Erzählung vom Niedergang kann von »narrativer Ethik« gesprochen werden. Wie gesagt geht es hierbei nicht um eine moralisch einwandfreie Geschichte, es geht literarisch um eine exemplarische Geschichte. Um diese Frage näher zu beleuchten, müssen weitere Kriterien der narrativen Ethik zusammengetragen werden. Zunächst sei daran erinnert, dass Geschichten nicht vom Guten handeln müssen, sie müssen gut erzählt oder gut
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Eugen Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik. In: Die kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie. Hg. v. Stephan Grätzel. Freiburg/ München 2012. S. 51–105, hier S. 80.
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geschrieben sein. Dazu ist es notwendig, dass sie nach Grundregeln der Komposition auf mindestens drei Ebenen »figuriert«, also gestaltet werden. Da es um den Stoff der Familiengeschichte geht, können die Prä-, Kon- und Refiguration direkt auf die drei Generationen der Geschichte selbst übertragen werden. Die Erzählung der Familiengeschichte geht dann also auch grammatisch über die drei Zeitformen hinweg. Wenn die Erzählung sich nur auf eine Zeitform beschränkt, heißt das aber nicht, dass nicht die andern auch gegenwärtig wären. Sie müssen sogar eine Rolle spielen, sonst ist die Geschichte oberflächlich oder – wie man auch sagen kann – kitschig. In jedem Fall ist sie dann nicht wahr, denn die Wahrheit, auch die Wahrheit der Fiktion, ist abhängig von ihrer zeitlichen Tiefe. Die Oberfläche, also die Gegenwart, aber auch der Erzählfluss, sind nur der Ort, an dem die Geschichte spielt, also gewissermaßen ihre Bühne. Eine Erzählung geht immer und gewissermaßen von selbst in die Tiefe, wenn sie sich der Vergangenheit zuwendet. Sie holt den Stoff in die Gegenwart und macht ihn gegenwärtig. Gute Geschichten sind im Sinne der narrativen Ethik also gut erzählte Geschichten, die so figuriert sind, dass sie über mindestens drei Generationen hinwegreichen und sie durch Zeitformen grammatisch verbinden. Damit haben wir den äußeren Rahmen.
Verstrickung Kommen wir nun zu den inneren Beziehungen, durch die eine solche Zusammenstellung notwendig wird. Hier finden wir das Geflecht der Verstrickungen derer, die darin ver-wickelt sind. Die Erzählung hat die Aufgabe, sie zu ent-wickeln. Verstrickung ist aber ein Bild für Beziehungen, die mit Schuld zu tun haben. Wer in eine Geschichte verstrickt ist, hat Dreck am Stecken, also eine mehr oder weniger große Teilschuld. Schuld hat für modern denkende Menschen mit Fehlhandlungen zu tun. Sie erzählerisch aufzuklären ist das Geschäft z.B. von Krimis. Soweit Krimis Unterhaltungsliteratur sind, vermeiden sie es dabei, in die Tiefe zu gehen, also etwa die tiefere Schuld einer Fehlhandlung aus ihrer Vorgeschichte zur rekonstruieren. Stattdessen wird die Verstrickung aus niedriger Gesinnung oder aus den vorgeblich niederen Motiven der Täter heraus abgeleitet. Der Böse handelt dabei zumeist aus Gewinn- oder Geltungssucht. Soweit es um Unterhaltung geht, wird normalerweise nicht weiter geforscht, wo diese Motive herkommen. Deshalb wird hier auch keine narrative Ethik entwickelt. Der pseudo-moralische Aufweis, dass in den Krimis die Schurken meist erwischt werden, ist banal und ethisch belanglos. Umge-
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kehrt sind ethische Zusammenhänge wenig unterhaltsam. Gleichwohl spielt ein Krimi durch seine Thematisierung eines gewaltsamen Todes immer mit dem Schuldbewusstsein der Zuschauer und gleicht hier durchaus der Tragödie. Allerdings werden die Fälle meistens gelöst und haben im Unterscheid zur Tragödie ein Happy End. Werden aber die Hintergründe eines Verbrechens durch die Erzählung erfasst und entwickelt, dann öffnet sich auch ihre ethische Dimension. Dann wird nicht nur die Schuld des Täters, sondern vor allem die Mitschuld aller für die Tat Verantwortlichen thematisiert. Damit sind wir dann zunächst wieder bei der Familie des Täters, den Eltern und Großeltern und allen anderen, die dazugehören. Wie weit sind sie an seiner Schuld mitschuldig? Im archaischen Recht war bei einer Fehlhandlung immer der gesamte Clan schuldig. Das ist auch heute noch der Fall, wo Clans und Familien regieren. Europa hat diese Clan-Herrschaft nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend abgeschafft, der Weltkrieg selbst war noch der gigantische Auswuchs eines Familiendramas des europäischen Hochadels. Auch der Versailler Friede mit seiner Allein- und Kollektivschuld der Deutschen war davon geprägt. Das gesamte Volk musste bezahlen und wurde als Verbrecher verurteilt und entehrt. Das schuf den Nährboden für die radikale Politik zwischen den Weltkriegen. Ist die Mitschuld aber einmal thematisiert, dann muss sie differenziert werden. Der Versuch von Karl Jaspers5 , nach dem Zweiten Weltkrieg die Schuld zu differenzieren, zu bestimmen und zu begrenzen, indem auch die Mitschuld an Nazi-Verbrechen bei den europäischen Anrainern gesehen wurde, war keine Strategie der Exkulpation der Deutschen, sondern galt der Anpassung des politischen Denkens an ein modernes Rechtsverständnis mit seiner Differenzierung der Schuldformen. Die Verteilung auf unterschiedliche Träger wird dann notwendig, wenn die Schuld nach Verbrechen oder Großverbrechen zu diffundieren droht.6 Die Diffusion der Schuld aktiviert ein Gefühl, das der Psychotherapeut und Philosoph Viktor von Gebsattel wie folgt charakterisiert hat: Normalerweise steht jedes Leben mehr oder minder unter einem gewissen Druck von Schuld. […] Normalerweise reinigt sich eben der Mensch von seinen Fehlhandlungen und Unterlassungen […], indem er die besondere Ein5 6
Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Heidelberg 1946. Vgl. Stephan Grätzel: Metaphysische Schuld und ihre Begrenzung bei der Aufarbeitung von Großverbrechen. In: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX Deutscher Kongress für Philosophie. Vorträge und Kolloquien. Berlin 2004. S. 701–712.
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zelschuld hinter sich lässt, um in die Zukunft hinein weiterschreitend, in gesteigerter Tat-, Werk- und Liebesgestaltung die allgemeine Schuld des Daseins abzutragen.7 Es geht bei der »allgemeinen Schuld des Daseins« um die Schuld, die sich aus der bloßen Tatsache der Existenz heraus ergibt (vgl. hierzu auch: »und was ich bin, das blieb ich anderen schuldig«, Goethe, Tasso V. 105). Die Tatsache, zu existieren und da zu sein, ist ja keine Selbstverständlichkeit, sie ist der Vorwelt verdankt und geschuldet. Von der Täterschuld über die Mitschuld der Familie, des Clans und der Gesellschaft sind wir hier bei dem Abstraktum der Daseinsschuld angekommen.8 Alle diese Schuldarten hängen zusammen und können durch die Erzählung in ihrer Verbundenheit sichtbar gemacht, aber auch differenziert werden, soweit die Erzählung, um es zu wiederholen, gut erzählt und gestaltet ist. Jetzt wird auch deutlich, warum dieser künstlerische Aspekt für die narrative Ethik so wichtig ist. Die Gestaltung geht in die Zukunft hinein und soll dabei die Vergangenheit, genau genommen das Unvergangene aus der Vergangenheit »abschließen« und die Zukunft vor der ständigen, zwanghaften »Wiederholung« bewahren, wie von Gebsattel sagt. Der narrative Effekt ist also auch ein therapeutischer Effekt. Er hat mit Handwerk und künstlerischer Meisterschaft zu tun. Die narrative Ethik einer Geschichte braucht also eine handwerklich und künstlerisch gut erzählte Geschichte, die ihre Figurationen auf mindestens drei Zeitformen einer Großfamilie verteilt und dabei die SchuldVerstrickungen der Generationen entwickelt.
Künstlerische Form des Narrativs Werfen wir also einen Blick in die Werkstatt des Erzählers. Wie geht er handwerklich-künstlerisch vor, um die Verstrickungen der Geschichten zu entwickeln? Da es ein vorwiegend schöpferischer Akt ist, lassen sich natürlich nur allgemeine Andeutungen machen. Der Erzähler greift einen Faden aus diesem Gespinst auf und entwirft zunächst eine Handlung. Dieser Vorgang spielt sich auf der Oberfläche des Geschehens ab. Ist ein Plot entwickelt, dann ist es 7
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Viktor von Gebsattel: Die Störungen des Werdens und der Zeiterlebens im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen. In: ders.: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin 1954. S. 128–144, hier S. 141f. Stephan Grätzel: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive. Göttingen 2004, S. 31ff.
Züge einer narrativen Ethik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder
gewissermaßen die Entscheidung des Autors, die tieferen Schichten, die im Vor und Nach des Geschehens liegen, aufzudecken oder zu entdecken. Da Geschichten immer die Tendenz haben, in die Vergangenheit zu gehen, bedarf es schon einer gewissen Anstrengung des Autors, um nicht in größere Tiefen abzurutschen und nur Spaß und Unterhaltung zu bieten. Die Erzählung ist ja immer ein Gang in die Vergangenheit und nimmt damit die Richtung in die Unterwelt auf. In Thomas Manns Josephsromanen wird dieser Gang schon von Anfang an ins Auge gefasst und mit dem Symbol des Brunnens verbunden. Der deswegen berühmt gewordene erste Satz zu Beginn Romans lautet: »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollten wir ihn nicht unergründlich nennen?« Mit dem Gang in die Unterwelt kommt die abgelebte Welt zu Wort. Der Literaturwissenschaftler Robert Harrison widmet sich diesem Thema in seinem Buch: The Dominion of the Dead – Die Herrschaft der Toten, wie es dem Inhalt folgend wohl richtig übersetzt heißen müsste. Er sagt dort: »Wir leihen den Toten eine Stimme, damit sie uns anreden, unterweisen, tadeln, segnen, aufklären und ganz allgemein den geschichtlichen Schrecken und die Einsamkeit des Seins in der Welt mindern.«9 In den Erzählungen bekommen die Toten eine Stimme, der Erzähler wird zum Medium einer abgelebten Welt. Er gleicht darin dem Schauspieler, der im antiken Drama hinter seiner Maske, die ja ursprünglich eine Totenmaske war, den Toten Sprache und Leben gibt. Auch moderne Schauspieler sind Stellvertreter, auch wenn sie nicht mehr ausschließlich Tote repräsentieren. Der Schauspieler und der Erzähler – man müsste hier noch den Musiker dazuzählen, der die Gefühle, die Erwartung, den Schmerz der Abgelebten im Klang wiedergibt – stellen sich für diese Äußerung zur Verfügung, indem sie sich selbst zurückstellen, um den Toten das Wort zu geben. Dieser Dienst ist ein Opferdienst. Die Toten brauchen dieses Opfer der Lebenden, um sich äußern zu können. Im 11. Gesang der Odyssee geht Odysseus in die Unterwelt, um sich vom Seher Teiresias das Orakel geben zu lassen. Doch die toten Seelen und auch Teiresias können erst sprechen, wenn sie vom Blutopfer getrunken haben. Nur das Leben kann den Geistern Sprache geben, umgekehrt sind aber auch die Lebenden auf die Geister angewiesen, denn nur die Toten kennen die Zukunft und nur hier kann sich Odysseus seine Zukunft weissagen lassen. Der Besuch der Unterwelt verbindet also Vergangenheit und Zukunft im Jetzt der Gegenwart.
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Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes. München/Wien 2006, S. 223.
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In Thomas Manns Joseph-Romanen ist es das Wort einst, das im Deutschen sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen werden kann. Er verwendet es mehrfach in diesem Doppelsinn des ehemaligen und des künftigen Einst. Diese Verbindung der Zeiten gelingt aber nur dem Erzähler, dem Schauspieler oder Musiker, die sich mit und durch ein gegenwärtiges Opfer zu Boten der abgelebten Welt machen, um die Zukunft als das nicht-gelebte Leben der Toten aufzuzeigen und zu verdeutlichen. Indem der Erzähler diesen Dienst übernimmt, betritt er das tieferliegende Terrain der Mythologie. Er wird vom Pädagogen, der er als Erzähler, Schauspieler oder Musiker ist, zum Mythologen. Jetzt geht es um die große Menschheitserzählung, dass das Leben nur aus dem Tod von anderen Leben hervorgehen kann. Diese Lebensordnung fordert ein Geben und Nehmen. Sie ist nur mit Schuld und Scham, mit Anspruch und Verzicht durchführbar, aber auch mit Betrug, List und Humor. Als eine von vielen Figuren, die das Unabwendbare des Tötens in eine Komödie umwandeln, kann der Stiertöter (bouphonos) in den antiken Festen der Buphonien angesehen werden,10 der trotz seines tödlichen Geschäfts ein Hampelmann bleibt, der mit dem heutigen Buffo in der Oper durchaus zu vergleichen ist. Auch der Harlekin, der ja vom Totenfürsten Harilo-King abstammt, ist eine Witzfigur. Der Humor ist ein wesentliches Element bei der Gestaltung des mythologischen Zusammenhanges, bei dem es um Leben und Tod, um Fressen und Gefressenwerden geht. Damit haben wir ein weiteres Kriterium einer narrativen Ethik: Handwerker und Künstler müssen sich in den Dienst der Toten stellen und ihnen ihre Stimme leihen. Dieser Dienst ist ein Opferdienst.
Die Versöhnung im Narrativ Versöhnung kann als der formale Abschluss von Geschichten gesehen werden. Damit ist nicht ein grundsätzliches Happy End gemeint, sondern in erster Linie die Zusammenführung des Unvereinbaren. Wenn in einer Geschichte am Ende alles gut wird, dann ist das als Aufwiegen und Aufhebung der Schuld zu verstehen. Da Schuld aber auch abgründig sein kann, ist dieser Vorgang nicht mehr mit einer einfachen Befriedung zu erreichen. Nach jedem Streit und auch nach jedem Krieg gibt es trotz Schlichtung, Befriedung und Verzei-
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Vgl. Karl Meuli: Griechische Opferbräuche. In: Gesammelte Schriften, Band 2. Hg. v. Thomas Gelzer. Basel 1975, S. 1004ff.
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hung eine Zeit, die der Aufarbeitung und Heilung gewidmet sein muss und über Generationen weg gehen kann. Auch wenn ein Verzeihen nicht mehr oder grundsätzlich nicht möglich ist, kann es zu einer Versöhnung kommen. Versöhnung ist von Verzeihung zu unterscheiden. Verzeihung ist ein zwischenmenschlicher und persönlich ausgesprochener Verzicht auf Rache, Strafe oder auf andere Formen der Vergeltung und Entschädigung. Sie ist also eine Sprachhandlung, ein Sprachakt. Als persönliche Form des Verzichtes unterscheidet sie sich auch von anderen Formen des Verzichtes wie etwa der Amnestie oder des Schuldenschnitts. Verzeihung bezieht sich deswegen auf eine besondere Form der Schuld, die aus einer Entzweiung eines persönlichen oder der Zerstörung eines zwischenmenschlichen Verhältnisses hervorgeht. Die Verzeihung findet zwischen Täter und Opfer in einem Sprachakt statt, den das Opfer an den Täter richtet, nachdem der Täter darum gebeten hat. Auf diese wichtige Voraussetzung der Bitte hat Vladimir Jankélévitch hingewiesen.11 Unbeteiligte und Dritte können weder um Verzeihung bitten noch diese gewährt bekommen. Bei einer Versöhnung ist das anders. Versöhnung ist ein geistiger Weg der Überwindung von Gegensätzen, wie Hegel es in und mit seiner Phänomenologie des Geistes und überhaupt mit seiner dialektischen Logik zum Ausdruck bringen wollte.12 Sie verlangt zunächst die narrative Rekonstruktion der Geschichte und der Schuldverhältnisse. Ein Wiederbeginn (soweit er stattfindet) kann hier nur rational vor sich gehen. Ratio ist die Rechnung, also auch die Abrechnung am Ende einer Geschichte. Es werden dabei Handlungen aufgezählt, die das Schuldkonto be- und entlasten.Diese Aufzählung ist noch keine Erzählung, weil ihr die Gestaltung, der Plot, fehlt. Einzelne Vorkommnisse, Taten und Geschehnisse sind auch nicht von sich aus bedeutend, sie bekommen ihre Bedeutung erst durch die geschichtliche Einbindung, wie sie durch die Erzählung hergestellt wird. Diese Einbindung gibt ihnen eine Struktur, die den Zusammenhang von Schuld, Verantwortung, Vergeltung, Vergebung und Versöhnung erkennen lässt. Mithilfe des Plots werden die Ereignisse aufgearbeitet, die zu einer Trennung oder Entzweiung geführt haben.
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Zu dieser Diskussion siehe Stephan Grätzel: Versöhnung – die Macht der Sprache. Freiburg 2018, S. 111ff. Vgl. ebd., S. 42ff.
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Die narrative Ethik in den Joseph-Romanen Der Gang in die Unterwelt Die hier skizzierten Grundzüge einer mythologischen Gestaltung wollen wir nun in den Joseph-Romanen nachverfolgen. Der Segensbetrug von Jakob bildet chronologisch den Anfang der biblischen Geschichte, soweit sie hier zugrunde gelegt wird. Thomas Mann wird sich ihm aber erst im 4. Hauptstück der Geschichten Jaakobs und dort konkret in dem Abschnitt Der große Jokus zuwenden. Die schon in der Überschrift dieses Abschnittes angezeigte Verharmlosung des Betruges wird in der Erzählung beibehalten. Joseph wird aufgrund von Jakobs Segens-Betruges, aber auch wegen dessen Zeit bei Laban, mehrfach im Roman als »Sohn eines Schelmen« bezeichnet. Für den Erzähler hat Jakob also – nicht zuletzt auch mithilfe seines erschlichenen Segens und trotz des eigenen Betrogenseins durch Laban – die Unterwelt überlistet. Er ist ein Schelm und Joseph ist der Sohn eines Schelms. Joseph steht aber ein anderes Schicksal bevor. Zwar dient er auch in der Unterwelt, aber er überlistet sie nicht. Er bekommt auch nicht den Segen, obwohl Jakob hier auch über einen ähnlichen Betrug wie bei ihm selbst nachdenkt. Immerhin erschleicht sich Joseph das Hochzeitskleid seiner Mutter, die Ketonêt. Er fühlt sich nach seinem Himmelstraum mit den Worten: »Ich gönne, wem ich gönne, und erbarme, wes ich erbarme!« (344)13 dazu berufen und schreckt auch nicht vor den Warnungen zurück, die sein Bruder Ruben in dem Abschnitt Von Rubens Erschrecken an seinen Hochmut richtet. »Ich und die Mutter sind eins. Weißt Du nicht, daß Mami’s Gewand auch des Sohnes ist und daß sie’s tragen im Austausch14 , der eine an Stelle des andern? Nenne mich, und du nennst sie. Nenne das Ihre, und du nennst das meine.« (369f.) So weiß Joseph zu antworten. Thomas Mann gibt hier nicht nur eine Anspielung an das Kapitel 10 des Johannes-Evangeliums vom Guten Hirten und seinen Schafen, in dem der Ausspruch Jesu »Ich und der Vater sind eines« (Joh 10,30) auch den Unmut seiner Zuhörer auf sich zieht und als »Gotteslästerung« (Joh 10,33) bezeichnet
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Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Frankfurt a.M. 1964. Die Ziffer hinter den Zitaten gibt die Seitenzahl an. Trotz der Neuausgabe in der Neuen Kommentierten Frankfurter Ausgabe wird diese Ausgabe hier noch angeführt, weil sie über Jahrzehnte als Zitierausgabe galt. Das gilt besonders für den ausführlichen Kommentar von BerndJürgen Fischer: Handbuch zu Thomas Manns ›Josephsromanen‹. Tübingen 2002. Hervorhebung hinzugefügt.
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wird, bekanntermaßen der Grund seiner Verurteilung. Bei Thomas Mann findet sich im Schlusssatz des Abschnittes auch eine weitere Anspielung auf die Passion Jesu: »Beim Abendmahl aber trug dieser das Kleid, so daß die Brüder wie Klötze saßen und Jaakob sich fürchtete.« (370) Indem Thomas Mann aber die Mutter zur Bezugsperson macht, wird der Bezug zum Reich der Mütter, der Unterwelt hergestellt. Das betrifft auch den Tausch, für den das Gewand steht, das im »Austausch« getragen wird. Der Gang in die Unterwelt, der Joseph bevorsteht und der in diesen Sätzen angedeutet und angekündigt wird, wird von Thomas Mann mit dem christlichen Theologumenon des ›fröhlichen Tauschs‹ in Verbindung gebracht. Die Schuld wird durch diesen Gang nicht nur überlistet, sondern analog zur christlichen Passion bewältigt. Thomas Mann sieht in diesem Ereignis den mythologischen Grund und wendet ihn auf die Josephs-Geschichte an. So wird auch die Schuld Jakobs, sein Betrug, durch die Geschichte Josephs ausgeglichen. Erst durch Josephs Geschichte wird Jakobs Schuld gesühnt. Zwar war schon Jakobs Zeit bei Laban eine »Unterweltszeit«, seine Schuld wurde jedoch nicht aufgelöst. Für beide ist das Leben im symbolischen Totenreich der Unterwelt eine Sühnezeit. Bei Jakob bleibt aber die Schuld bestehen, Joseph dagegen wird seine und die Schuld der Väter sühnen. Jakob hatte den Segen von oben, den Segen von seinem Vater, erschlichen, der Segen von unten durch Laban wurde ergaunert. Joseph bringt den Segen von unten als Opfer, der Segen von oben ist damit ein verdienter. Er muss aber dazu in die Unterwelt eingehen und seinen symbolischen Tod erleiden. Der symbolische Schlund zur Unterwelt ist der Brunnen. Deshalb beginnt seine Geschichte auch an einem Brunnen, doch trifft er dort nicht auf seine geliebte Frau wie einst Jakob, sondern er beginnt seine Todesfahrt, indem er in den Brunnen geworfen wird. Der alte Joseph stirbt, der neue geht unter seinem Totennamen Osarsiph ins Totenreich. Der Brunnen ist das zentrale Motiv der Wende in Josephs Leben, es ist aber auch das Motiv der Geschichte seiner Familie, wie der Ismaeliter feststellt: »Du sprichst, und das Wort Brunnen schlägt an mein Ohr jeden Augenblick. Ihr wechselt Weide und Brunnen. Ihr habt des Landes Brunnen am Schnürchen. Euer Vater hat einen Brunnen gebaut, sehr tief und breit. Euer Großvaters Großknecht freite am Brunnen. Euer Vater auch, wie es scheint. Es summt mir wahrhaft im Ohre von Brunnen, die du erwähnst.« (448) Mit dem Durchgang durch den Brunnenschlund, der auch an einen Geburtsvorgang erinnert, beginnt für Joseph sowohl die Unterweltzeit als auch die Zeit
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seiner Entwicklung und Reifung als eines eigenständigen Selbst. Joseph verliert seinen Namen durch seine Brüder, die ihn nur noch »Heda« u. dgl. nennen, er legt sich selbst einen neuen Namen zu, den er seinen Totennamen nennt. Auf der Erzählebene wird Joseph dann zwar aus dem Brunnen gezogen, auf der mythologischen Ebene aber bleibt er in der Grube, in der Unterwelt, und sinkt hier sogar immer tiefer hinab. Während die Zeit Jakobs bei Laban als Frondienst erzählt wird, die nur mit Anspielungen an das Totenreich umspielt wird, ist die Geschichte Josephs von vornherein als eine Fahrt ins Totenreich gekennzeichnet. Sie beginnt mit dem 5. Kapitel Die Fahrt zu den Brüdern. Die Symbole, die Thomas Mann zur Veranschaulichung dieser Todesfahrt heranzieht, sind neben dem Hochzeitskleid, das als Zeichen des Tausches und des Zerrissenen zu Jakob zurückgebracht wird: Hulda, die Eselin, Hermes, der Mann auf dem Felde – der Todesbote –, und dann vor allem der Brunnen: Hierzu steht am Ende dieses 5. Hauptstückes: »Es war der Abgrund, in den der wahrhafte Sohn steigt, er, der eins mit der Mutter ist und ihr Gewand trägt im Austausch. Es war der unterirdische Schafstall, Etura, das Reich der Toten, darin der Sohn Herr wird, der Hirte, der Dulder, das Opfer, der zerrissene Gott.« (432) Hier ist neben der christlichen Sprache die Dionysos-Anspielung auf den »zerrissenen Gott« nicht zu übersehen, ein Bild, das auch auf Christus übertragen wurde.15 Mit der Überschrift des 6. Hauptstückes Der Stein vor der Höhle wird diese Symbolik als Auferstehung in ein neues Leben weiterverfolgt, wobei die Analogie zu Christus in der Sprache und in den Bildern gewahrt bleibt. Die Geschichte Josephs in Ägypten, im Totenland und in der Unterwelt, ist ein Opfer, das der Tilgung einer Schuld gilt, die das Leben und die Geschichte ihm hinterlassen hat. Sie ist keine Fortsetzung des Betruges und der Erschleichung, sondern deren symbolische Beendigung. Deshalb wird Joseph auch am Ende der Erzählung zum Abgesonderten in der Familie, er bleibt auch nach seiner Wiederkunft ein Toter. So sagt Jakob ihm beim Wiedersehen: »›Gott hat dich gegeben und genommen‹ raunte Jaakob, und hat dich wieder gegeben, aber nicht ganz; er hat dich auch wieder behalten. Wohl hat Er das Blut des Tieres gelten lassen für das des Sohnes, und doch bist du nicht, wie
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S. u. Fußnote 18.
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Isaak, ein verwehrtes Opfer. […] Dich hat er erhöht und verworfen, beides in einem‹.« (1298) Deshalb ist der Segen nur ein weltlicher, kein geistlicher (vgl. 1298). Doch gerade darin liegt das Angebot an den Leser, mit Joseph in die Grube zu gehen und aus der Grube auffahrend seine Erhöhung mitzuerleben.
Das Leben als Toter Erst mit dem dritten Roman Joseph in Ägypten beginnt Thomas Mann die chronologische Erzählung, die er dann, bis auf die auch wörtlich genommene »Einschaltung« (1143) der Thamar-Erzählung im 5. Hauptstück von Joseph der Ernährer, bis zum Schluss beibehält. In den beiden vorhergehenden Romanteilen hatte es immer wieder Zeitsprünge nach vorn und hinten gegeben. Jetzt wird der Leser mit auf die Fahrt genommen. Er bleibt nicht mehr auf Distanz, wie in den vorhergehenden Geschichten, oder gar wie im Vorspiel, das mehr einer theoretischen Betrachtung gleicht. Mit dem Gang in die Toten- und Unterwelt beginnt in einer eigentümlichen Verkehrung der Realität das Leben in chronologischer oder wie man jetzt sagen kann, biographischer Form. Joseph lebt – als ein Toter – das Leben der Toten. Es ist zu erinnern, dass dieses neue Leben eine zweite Geburt hinter sich hat, die mit dem Absterben des alten, kindlichen Teils alle Züge der Initiation und ihrer mythologischen Aussage beinhaltet. Der mythologische Sinn dieses Absterbens liegt in der Aufhebung der Schuld, die durch die erste Geburt entsteht und an die Familiengeschichte gebunden ist. Mit der zweiten Geburt wird diese Erbschuld abgestreift. Auch Joseph ist durch die zweite Geburt seinem Vater und damit seinem Stamm und Erbe gestorben. Er trifft auch keine Anstalten, in dieser seiner Unterweltszeit wieder zu seiner Familie zurückzugehen, obwohl dazu Gelegenheit bestanden hat. Dieser Punkt ist so wichtig, dass der Erzähler selbst dazu Stellung nimmt. In dem Abschnitt Vom Schweigen der Toten lässt Thomas Mann seinen Erzähler sagen: »Wir legen Gewicht auf diesen Aspekt, weil es uns dringlich scheint, schon hier einen Vorwurf, für jetzt und später von Joseph abzuwehren, der oft bei der Betrachtung seiner Geschichte gegen ihn erhoben worden ist: die Frage nämlich, die ja ein Vorwurf ist, warum er nicht, dem Loche entronnen, aus allen Kräften darauf gesonnen habe, mit dem bedauernswerten Jaakob die Verbindung aufzunehmen und ihn wissen zu lassen, daß er lebe. Gelegenheit dazu habe sich doch schon bald ergeben müssen.« (497)
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Dieser begreifliche und naheliegende Vorwurf wird mit dem Hinweis auf Josephs Rolle als Toter abgewiesen. Joseph ergibt sich dem neuen Leben, sein Schweigen ist das Schweigen eines Toten. »Ein solcher schweigt seinen Lieben nicht aus Lieblosigkeit, sondern weil er muß; und nicht grausamerweise schwieg Joseph dem Vater. Sogar sehr schwer wurde es ihm, und je länger, je schwerer, das darf man glauben – nicht leichter, als auf dem Toten die Erde liegt, die ihn bedeckt.« (498) Erzählung und Deutung werden an dieser Stelle und mit dieser Überlegung zusammengebracht. Wenige Seiten später resümiert der Erzähler: »Daß aber Jaakob das Blut des Tieres notwendig und unwidersprechlich für Josephs Blut halten mußte, wirkte auch wieder auf Joseph zurück und hob in seinen Augen den Unterschied zwischen dem ›Dies ist mein Blut‹ und ›Dies bedeutet mein Blut‹ praktisch auf. Jaakob hielt ihn für tot, und da er’s unwidersprechlicherweise tat – war Joseph also tot oder nicht? Er war es.« (498) Indem Thomas Mann hier den seit dem 9. Jahrhundert schwelenden Abendmahlstreit in der christlichen Theologie, der immerhin ein entscheidender Grund für die Spaltung der Kirche und die Trennung in Konfessionen und Sekten ist, mit einem Federstrich vom Tisch fegt, gibt er auch –wie man sagen muss – mit überlegener Geste die Tiefe seiner Erzählung in der Frage um Schuld und Sühne zu erkennen. Joseph behält seine Rolle als symbolisch Toter bis zum Schluss. Auf die Frage des Pharaos an Jakob, wie viele Kinder er habe, antwortet dieser: »Ich zeugte zwölf Söhne […], und dieser [Joseph]16 war einer der Zahl. […] Wie aber einer erwählt wird, bleibt er in Liebe verworfen. Da ich ihn verlor, sollt’ ich ihn finden, und da ich ihn fand, war er mir verloren. Auf erhöhtem Sockel tritt er zurück aus dem Kreis der Gezeugten […].« (1307) Alle anderen Söhne treten das Erbe der Vergangenheit, also der Schuld an, niemand wird hier verworfen. Damit ist ein wichtiger Schritt zur Kontinuität des ehemaligen und künftigen Einst geleistet. Der Gesamtsegen, den Jakob spendet, garantiert das Weiterleben trotz der Schuld. Nicht Joseph, sondern der vierte Sohn Juda ist der Segensträger, er wird zum Zeichen Shiloh, eines künftigen Helden. Wir kommen darauf gleich zurück. Der Held wird auf einem »Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin« (1339) in seine Stadt rei-
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Klammer hinzugefügt.
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ten. Diese Ankündigung des Friedenskönigs aus dem Buch Sacharja 9,9 wird auch bei Matthäus 21,5 für Jesus beim Einzug in Jerusalem geltend gemacht. Obwohl Joseph aus dem Erbe und damit auch aus der Erb-Schuld herausfällt und in der Rede von Jakob vor Pharao sogar aus dem Kreis der Gezeugten herausgenommen und damit gewissermaßen zu einer Jungfrauengeburt wird, ist er nicht der Messias. Zwar gibt es im Roman, wie wir kurz andeuten konnten, immer wieder Anspielungen an Jesus Christus und Parallelen zu Joseph, doch liegt die Verheißung nicht auf Joseph oder Christus, sondern auf Juda. Von ihm wird das Friedensangebot kommen. Für Thomas Mann ist das offenbar ein wichtiger Punkt.
Das Friedensreich Thomas Mann sucht in und mit seinem Roman nach einer Versöhnung von Juden und Christen, aber auch von Juden und Deutschen. An einer zentralen Stelle im Roman im Hauptstück Thamar macht er das literarisch an dem Wort Shiloh fest. Diesen Namen möchte er mehrdeutig verstehen: »Shiloh war nichts als ein Stadtname vorderhand, der Name einer ummauerten Ortschaft weiter nördlich im Lande, wo öfters die Landeskinder, wenn sie gekriegt und gesiegt hatten, zusammenkamen, um untereinander die Beute zu teilen, – kein sonderlich heiliger Platz. Er hieß aber Ruhe- und Rastplatz, denn das meint ›Shiloh‹; Frieden meint es und frohes Eratmen nach blutiger Fehde und ein Segenslaut, tauglich als Eigenname so gut wie als Name des Platzes.« (1156) Dass Shiloh Frieden bedeutet, ist keine Verwechslung mit »Schalom«, wie die Kommentatoren der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe zu dieser Stelle erwägen, es ist auch mehr als ein bloß »metaphorischer«17 Gebrauch, es ist die literarische Konstruktion eines Fensters, in dem sich die Versöhnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Blick erkennen lässt. »Darum, wie Sichem, der Burgsohn, ebenso hieß wie seine Stadt, mochte auch Shiloh als Name dienen für einen Mann und Menschensohn« (1156). Shiloh ist also der neue Name, der »Verheißungsname« für Juda (1339), aber auch der Name des in Jesaja 9,5 prophezeiten »Friedensfürsten« (1156), der auch für Christus geltend gemacht wird. Thomas Mann führt in dem Namen Shiloh, den er 17
»Dass ›Shiloh Frieden meint‹ […], kann nur metaphorisch gemeint sein, ansonsten läge eine Verwechslung mit ›Schalom‹ vor.« GKFA 8.2, S. 1475
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mit »Friedreich« (1156) übersetzt, einen Ort, eine Figur und eine jüdisch-christliche Verheißung zusammen. Shiloh ist damit auch ein Zeichen der Verwandlung: Er ist einerseits ein blutiger Ort, der aber zum Rast- und Ruheplatz wurde, er ist der neue Name von Juda, der nun das Zeichen einer friedlichen Verheißung sein soll. Juda weist in der Verheißung aber nicht nur auf Christus hin, er trägt auch Züge des Weingottes Dionysos und damit einer archaischen Religion: »[…] da war nichts als trunkene Lust wie von rotem Weine bei seinem Anblick, und er selber war einem trunkenen Weingott gleich, der die Kelter tritt, hoch geschürzt und begeistert: das Weinblut netzte seinen Schurz und der rote Rebensaft sein Gewand.« (1339)18 Wenn also von einem metaphorischen Gebrauch gesprochen werden soll, dann aber weniger im Sinne einer bloß bildlichen Übertragung als vielmehr als theologischer und kultureller Transfer einer Friedensverheißung. Dabei geht es darum, Versöhnungsmotive aus verschiedenen Religionen und aus unterschiedlichen Zeitaltern zusammenzubringen und zur wechselseitigen Deutung zu verwenden. Wie wir heute allzu gut wissen, sind Friedensvorstellungen unwirksam, wenn sie nur von einer Seite oder aus einer Kultur angeboten werden. Thomas Mann legt hier einen sehr modernen und aktuellen Ansatz eines gegenseitigen Transfers unterschiedlicher Vorstellungen von Frieden vor, indem er die Gemeinsamkeiten findet und sie narrativ zusammenstellt. Diese Konfiguration, um hier nochmal den Begriff Ricoeurs zu verwenden, ist das Ergebnis von Thomas Manns umfangreichen Studien der Mythenforschung und Religionswissenschaft.19 Der Name Friedreich, der das alles umfasst und benennt, ist aber zunächst Thomas Manns einsamer Ruf aus Amerika in ein sehr unbefriedetes Europa, das diesen Ruf auch erst einmal nicht hören wird. Als er diese Zeilen zwischen 1941 und 1942 schreibt, ist er selbst schon im Exil in Kalifornien und damit auf seiner eigenen Unterweltfahrt. Er teilt das Schicksal seines Helden. Auch er ist ein Abgesonderter. Er schreibt in Amerika als Deutscher und auf Deutsch und tritt damit genauso aus der Geschichte heraus, wie sein Protagonist. 18
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Bernd-Jürgen Fischer (s. Fußnote 13) geht in seinem Kommentar zu dieser Stelle auf S. 765 auf die Bedeutung des Bildes von Christus in der Kelter ein. Die Kommentatoren der GKFA sehen hier ein Zusammenfließen der »Bilder von Jesus und Dionysos wie in Hölderlins Elegie Brod und Wein.« (GKFA 8.2, S. 1576) Neben diesen Hinweisen soll hier noch auf die einschlägige Arbeit von Alois Thomas: Die Darstellung Christi in der Kelter. Eine theologische und kulturhistorische Studie. Düsseldorf 1936, hingewiesen werden. Sie befasst sich mit der häufig vorkommenden Ikonographie dieses Motives und war von daher vielleicht Thomas Mann bekannt. Fischer: Handbuch, S. 3ff., insbesondere S. 37–41.
Züge einer narrativen Ethik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder
Das Friedensreich, von dem er schreibt, mag literarisch oder messianisch am Ende der Zeit stehen, für ihn ist es die dringliche Hoffnung auf das baldige Ende des Nationalsozialismus, des Judenhasses und seiner mörderischen Konsequenz. So hat der Roman noch eine weitere Tiefenschicht neben der mythologischen, nämlich die zeitgeschichtliche. Sie wird aber nicht, wie dann im Doktor Faustus, den er sofort nach Abschluss des Josephs 1943 beginnt, zum Gegenstand der Erzählung, sie bleibt in solchen Andeutungen versteckt. Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb werden die Joseph-Romane zum wichtigsten Friedens- und Versöhnungsroman der Nachkriegszeit.
Epilog Diesen Umstand können wir uns heute noch zunutze machen, wenn es gilt, den Versöhnungsdiskurs mit Israel weiter zu vertiefen. Dazu gehört, dass dieser Roman in einem größeren Maße professionell gelesen werden müsste als es aktuell geschieht. Leider wird der Roman an Universitäten und Schulen kaum behandelt. Neben der pädagogischen Herausforderung, die ein so umfangreiches Werk in der Tat darstellt, hat sich aber ein Vorurteil festgesetzt, dass ein solcher Roman zu unmodern geschrieben sei und schon zu seiner Zeit nicht mehr so hätte geschrieben und gelesen werden können. Dieses wohl auf seinen Sohn Klaus Mann zurückgehende Verdikt20 , das sich eher an der Erzählweise als an dem Inhalt festmacht, übersieht aber den ethischen Aspekt, den auch ein traditionell erzählter Roman heute noch zu entfalten in der Lage ist. Gleichwohl muss die narrative Ethik nicht ausschließlich aus einer solchen Erzählweise hervorgehen, wie ja auch schon der moderne Roman an sich, also Ulysses von James Joyce, zeigt. Auch hier ist eine Ethik zu entdecken, die den Kriterien einer narrativen Ethik entspricht, wobei nicht die Erzählweise oder der Stil entscheidend sind, sondern die Komposition oder Konfiguration von Handlungen und Ereignissen und ihre zeitliche Strukturierung. Diese Struktur bildet nicht nur das Zeitspektrum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab, sondern erzählt vor allem von dem Schuld- und Verdanktsein zwischen den Generationen. Dies literarisch anschaulich zu machen, ist die eigentliche ethische Leistung solcher Literatur. Die Joseph-Romane geben diese Anschaulichkeit wieder, sie sind darüber hinaus auch gut lesbar. Sie nicht nur
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Leider ist es mir nicht geglückt, die Quelle hierzu aufzufinden.
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dem müßigen Leser zu überlassen, sondern sie professionell in Schule, Universität und in der Fort- und Weiterbildung für Lehrer einzubinden, sei hier als Appell zum Schluss geäußert.
Resistance and Reconciliation Martin Buber’s Stance towards Nazi and Post-War Germany Francesco Ferrari
This paper reconstructs Martin Buber’s stance towards Nazi and Post-War Germany, presenting it as a complex dynamic of resistance and reconciliation.1 During Hitler’s dictatorship, Buber, a Vienna-born Jew, was exposed to an increasingly violent and dreadful conflict, through which he suffered systematic human rights violations. Yet, he faced it with steadfast, tireless agency, without ceasing to recognize his German opponents as members of a shared moral and human community. After the end of World War II, Buber became one of the first Jewish intellectuals who actively engaged in reconciliatory processes, i.e. in the “creation of ‘normal’ and, if possible, good relationships after grave violent incidents”2 with the German Federal Republic. Buber was a charismatic and well-known figure already during the Weimar Republic, whose influence was considerable not only on younger generations of German Jews3 , but also on many Christian theologians.4 In several confer-
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This paper takes up, expands, and originally rearticulates some key elements from the Einleitung the author wrote for volume 11 of Buber’s Werkausgabe. In continuity with the historical-philosophical character of the Einleitung, this paper also benefits from the hermeneutical perspective of the agonistic approach to reconciliation. All the translations into English of Buber’s texts are, where not expressly indicated, by the author. Cf. Francesco Ferrari: Einleitung. In: Martin Buber: Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie (MBW 11.1 and MBW 11.2). Eds. Francesco Ferrari, Stefano Franchini, Massimiliano De Villa. Gütersloh 2019, p. 15–100. Martin Leiner: From Conflict Resolution to Reconciliation. In: Alternative Approaches in Conflict Resolution. Eds. Martin Leiner, Christine Schliesser. Cham 2018, p. 175–186, here p. 176. Cf. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Cf. Karl-Josef Kuschel: Martin Buber. Seine Herausforderung an das Christentum. Gütersloh 2015.
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ences and public roundtables5 , which also involved members and supporters of the NSDAP, he did not avoid addressing issues from the contemporary historical moment. Welcoming the challenge of a conversation frequently connoted as an open confrontation amid a collapsing democracy, Buber made clear in a profound and provoking way that encountering the other as a “Thou” takes place also by sustaining adversarial debate. Guided by the “courage to be an outsider”6 , he asserted the strength of his dialogical principle by facing irreducible differences. Buber’s dynamic of resistance and reconciliation did not exclude (rather: required) dissent, and can, therefore, be properly understood as an agonistic one.7 During the Nazi time, Buber engaged himself in a spiritual resistance8 , disseminated throughout manifold debates, initiatives, and publications for the sake of the German Jewry in its more desperate hour. In the twilight of the Weimar Republic, the philosopher was invited by the Indologist Jakob W. Hauer – founder of the Deutsche Glaubensbewegung in 1933 and member of the NSDAP from 1937 – to give a lecture at the conference Der Mensch als Maßstab der Gesellschaftsordnung, hosted by the youth movement Bund der Köngener in January 1931. The range of participants included exponents of German National Bolshevism (Karl Otto Paetel) as well as members of the SA (Hans Dannemann), but also liberal sociologists (Marianne Weber). Buber’s address Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee provided a typical example of his religious socialism from the Weimar Era.9 The philosopher welcomed the transfer of power over the means of production from the hands of the entrepreneurs to those of the collective as theorized in Marxism in terms of a desirable outcome, although not yet 5 6
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Cf. Francesco Ferrari: Einleitung, p. 50. Cf. Paul Mendes-Flohr: The Courage to be an Outsider. In: Dialog und Konflikt (Martin Buber-Studien 3). Eds. Ursula Frost, Johannes Waßmer and Hans-Joachim Werner. Bodenburg 2018, p. 17–28. According to Sarah Maddison, “the form of tolerance that is required in agonistic reconciliation rests on respect for the other as a moral equal, allowing members of a community to see themselves as part of a shared community even though they continue to strongly disagree” (Sarah Maddison: Can We Reconcile? Understanding the Multi-Level Challenges of Conflict Transformation. In: International Political Science Review 38(2). 2017, p. 155–168, here p. 161). For a theoretical framework of the agonistic approach to reconciliation, see Fanie Du Toit: When Political Transitions Work. Reconciliation as Interdependence. Oxford 2018, p.167-186. Cf. Ernst Simon: Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Widerstand. Tübingen 1959. On Buber’s religious socialism, see Ferrari: Einleitung, p. 41–50.
Resistance and Reconciliation
a sufficient one, for an authentic renewal of the society. Rather, he argued that this process must be accompanied by a communitarian regeneration of interpersonal relationships, restoring the immediacy of Miteinandersein [togetherness] toward the establishment of a “gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechts”10 [community-based community of the humankind]. On the eve of Hitler’s rise to power, Buber was newly invited by the leader of the Bund der Köngener to participate to the conference Die geistigen und religiösen Grundlagen einer völkischen Bewegung, which took place between January 2 and 7, 1933. With his lecture Israel und die Völker 11 , the philosopher raised the Jewish question in front of representatives of Nazi ideology such as the pedagogist Ernst Krieck (Buber’s colleague at Frankfurt University, whose rector he will become in April 1933) and the philosopher Paul Krannhals (closely associated with the antisemitic ideologist Alfred Rosenberg). Friedrich Hielscher, eminent voice of the Konservative Revolution and founder of the Unabhängige Freikirche, participated too, as well as members of the feminist movement like Gertrud Bäumer and Elsbeth Kruckenberg-Konce. Buber basically presented the theses he had recently developed in Königtum Gottes.12 He portrayed Israel as a nation sui generis, a theocratic one, which, arising from the covenant between God and Jacob, was directly governed by God, and not by the priestly class, which would take over this task only later. From the belief in a divine sovereignty, accompanied by a people seeking the direct rule of God, descended, according to the Jewish thinker, the second rank of every earthly leader. Buber’s politics configured itself as a theopolitics, which, not devoid of anarchistic elements, may be understood as the opposite of any instrumentalization of religion operated by any political theology à la Carl Schmitt. Samuel H. Brody aptly summarized it: “if political theology deploys the power of the divine in the service of the authoritarian state, theopolitics denies any possibility whatsoever of legitimizing institutional human power. If political theology borders on the fascistic, theopolitics is its anarchistic antipode”.13 Buber’s theopolitical message was brave – if not temerarious – if
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Martin Buber: Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee. In: MBW 11.1, p. 378–383, here p. 378. Martin Buber: Israel und die Völker. In: MBW 11.1, p. 388–411. Martin Buber: Königtum Gottes. In: Id.: Schriften zum Messianismus (MBW 15). Ed. Samuel Hayim Brody. Gütersloh 2015, p. 93–276. Samuel Hayim Brody: Is Theopolitics an Antipolitics? Martin Buber, Anarchism, and the Idea of the Political. In: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s
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we consider the audience to which and the historical moment in which they were pronounced. With the Nazi seizure of power, Buber’s freedom of expression dramatically diminished, but his engagement for the sake of the German Jewry did not. On the contrary, he took upon himself the task of leading a spiritual resistance amid increasing antisemitism in the Dritte Reich. The search of his house by the Gestapo took place on March 7, 1933. A few weeks later Buber was removed from teaching (April 25, 1933). His Doctor of Philosophy was revoked in the following year (July 14, 1934). Buber’s agency nevertheless found new forms, so that he became the undisputed teacher of Judaism in darker and darker times.14 During his direction of the Freies Jüdisches Lehrhaus in Frankfurt and of the Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der deutschen Juden till his migration to Jerusalem (March 1938), Buber conceptualized and practiced a Hebräischer Humanismus15 , the symbolical epicenter of which can be found in his ceaseless work of translating the Jewish Bible into German, the Verdeutschung der Schrift.16 Buber continued to address the Jewish question in debates with religious and political opponents, above all the theologian Gerhard Kittel, very close to NSDAP. Considering the German Jews as “foreigners” through a specious reference to the biblical notion of Ger, Kittel argued, already in 1933, in favor of stripping the German Jews of all civil rights, revoking their citizenship and replacing it with the status of guests (Gastzustand).17 Buber replied with an open letter, and also took stances in many periodicals, such as the Jüdische Rundschau, to raise awareness of German Jewry. In articles like Der jüdische Mensch von Heute and Das Erste, both from April 1933, he defined the current, uncer-
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Philosophy of Dialogue and its Contemporary Reception. Ed. Paul Mendes-Flohr. Berlin 2015, p. 61–88, here p. 66. Rivka Horwitz: Buber als Lehrer und Erzieher der deutschen Juden zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Eds. Werner Licharz, Heinz Schmidt. Frankfurt am Main 1991, Vol. 1, p. 96–115. Martin Buber: Hebräischer Humanismus. In: Id.: Schriften zum Judentum (MBW 20). Eds. Paul Mendes-Flohr, Michael Fishbane. Gütersloh 2018, p. 147–158. See Martin Buber: Der Mensch von heute und die jüdische Bibel. In: Id.: Schriften zur Bibelübersetzung (MBW 14). Ed. Ran HaCohen. Gütersloh 2012, p. 38–55. See Martin Buber: Offener Brief an Gerhard Kittel und Zu Gerhard Kittels »Antwort«. In: Id.: Schriften zum Christentum (MBW 9). Ed. Karl-Josef Kuschel. Gütersloh 2011, p. 169–174.
Resistance and Reconciliation
tain, and shocking circumstances as a “Feuerprobe”18 [ordeal by fire] for the Jews, from which they, as “der innerlich ausgesetzteste Mensch unserer Welt”19 [the most inwardly exposed person(s) in our world], will come out either shattered or uplifted. In writings such as Zur Ethik der politischen Entscheidung and Politik aus dem Glauben20 , Buber newly formulated his theopolitical conception of the community, according to which God alone has the right to rule, in antithesis to any earthly sovereign. Exhorting to “eine bestimmte Art der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der wir mitten in der Auseinandersetzung mit Welt und Politik den Blick auf das Gottesreich hin gerichtet halten”21 [a kind of participation in public life, in which, in the midst of the debate on the world and politics, our gaze is turned to the Kingdom of God], Buber outspokenly criticized the faith in a party, in a people (Volk), or in a kingdom (Reich) as widespread current forms of self-deception. To this list, he courageously added a contemporary, peculiarly insidious kind of idolatry: the one, according to which “man erklärt heute freilich auch gern, man glaube ›an den Führer‹”22 [one gladly declares to believe ‘in the Führer’]. Faith, according also to Buber’s Die Frage an den Einzelnen23 , concerns a I-Thou relationship with God, that shapes a one-on-one dialogue taking place by addressing and responding, and cannot be substituted by any political leader or group. Faith, therefore, is about an irreplaceable responsibility, which is nonetheless jeopardized by authoritarian personalities and totalitarian societies. The Nuremberg Laws (September 1935) deprived German Jews of their fundamental rights: in particular, their German citizenship was revoked, so that they were no longer permitted to work in government-regulated professions (including education). Buber, who had been prohibited from speaking since February of the same year, denounced it, saying: “Es gibt den Raum nicht mehr, in dem wir zu den andern sprechen und von ihnen vernommen werden können. Es gibt den Dialog nicht mehr”.24 [There is no longer the space in which we can talk to oth18 19 20 21 22 23 24
Martin Buber: Das Erste. In: MBW 20, p. 94–95, here p. 94. Martin Buber: Der jüdische Mensch von heute. In: MBW 20, p. 97. Martin Buber: Zur Ethik der politischen Entscheidung. In: MBW 11.1, p. 412–415. Martin Buber: Politik aus dem Glauben. In: MBW 11.2, p. 327–331. Martin Buber: Politik aus dem Glauben, p. 330. Martin Buber: Zur Ethik der politischen Entscheidung, p. 412. Martin Buber: Die Frage nach den Einzelnen. In: Id.: Schriften über das dialogische Prinzip (MBW 4). Eds. Andreas Losch, Paul Mendes-Flohr. Gütersloh 2019, p. 151–195. Martin Buber: Erkenntnis tut not. In: MBW 11.1, p. 417–418, here p. 417.
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ers and be heard by them. There is no longer the dialogue.] Antisemitic violence quickly and relentlessly escalated, culminating in the Kristallnacht (November 1938). In an article published shortly afterwards, on November 26, 1938, Gandhi had expressed his empathy for the suffering of the Jews, as pariahs of the Christian world. Yet, he was skeptical about their migration to Palestine. Therefore, he advised them to practice non-violence and civil disobedience when facing their Nazi oppressors. Making explicit reference to the burned synagogues, to the concentration camps to which Jews were deported, to the tortures they experienced, as well as to their lost rights, Buber argued his refusal to consider Gandhi’s Satyagraha as a concrete option facing such an increasingly violent conflict.25 Although the history of the Jewish Galuth might be characterized by a structural and chronic lability, the author of Ich und Du once believed in a profound and fruitful alliance, even in a symbiosis, between Germans and Jews. The Kristallnacht, on the contrary, represented for Buber the “Verrat”26 [betrayal] by the German state – noteworthily, he differentiated among the German state and the German people – towards its own Jewish citizens. This meant to him the breaking of a pact: therefore, the end of such a symbiosis, which finally appeared to him, on the wake of the German state-organized violence, as a dreadful “Illusion”.27 [illusion.] Once again, Buber encouraged his fellows to engage in an active resistance, this time with more fighting words than ever, portraying it as the war of God against the sacrilegious Amalek represented by Hitler.28 In September 1939, NS-Germany started World War II, during which the so-called “Final Solution to the Jewish Question”, i.e. the policy that ratified the genocide of the Jewish people, also through the opening of extermination camps, was enacted. In December 1942, Buber, Rabbi Binyamin, Judah Magnes, Hugo Bergmann, Shmuel Agnon and others founded the group Al-Domi [“do not keep silent”].29 Named after Psalm 83:1, it was created as a committee to move the world to action in face of the destruction of European Jews, and mobilized in the search for ways to save lives and to collect 25
26 27 28 29
Cf. Martin Buber: Brief an Gandhi. In: Id.: Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage (MBW 21). Eds. Samuel Hayim Brody, Paul Mendes-Flohr. Gütersloh 2019, p. 150–162. See also: Martin Buber: Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose. In: MBW 11.2, p. 24–26. Martin Buber: Sie und wir. In: MBW 11.2, p. 340–345. Martin Buber: Sie und wir, p. 340. Martin Buber: Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, p. 24. Cf. Martin Buber: Sie und wir, p. 345. See Dina Porat: Martin Buber in Eretz-Israel during the Holocaust Years, 1942–1944. In: Yad Vashem Studies (17). 1986, p. 93–144.
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Jewish self-testimonies. Buber expressed his full awareness of the Shoah in an article from Spring 1944, entitled Schweigen und Schreien.30 Within this writing, he announced a “Katastrophe, […] [die] unermeßlich größer ist als jede andere in unserer Geschichte”31 [catastrophe […] immeasurably greater than any other in our history], something so huge and appalling that it could not be ignored, even if speaking about it might seem to be barely possible. Any form of spiritual resistance seemed to be on the verge of capitulating, together with the perspective to reconcile with an opponent, which, unrestrainable, was committing atrocious and massive crimes against humanity, by killing millions of human beings. Buber’s stance towards the Shoah raised controversial reactions, from ethical, political, but also theological standpoints.32 Among all, Richard Rubenstein defined Buber’s “indifference to the Holocaust as a religious problem”.33 This harsh sentence is partially understandable, if we take into account that Rubenstein is basically referring to Gottesfinsternis34 , one of the most significant post-war works of Buber, that stems out of a series of lectures he delivered in the USA from November 1951 to April 1952. Here, the Shoah is not so directly addressed. This drastic judgement, however, requires reassessment, if we consider another text that Buber delivered in late 1951 for a US audience too: Der Dialog zwischen Himmel und Erde. Here, just few years after the end of World War II, Buber raised the question par excellence regarding the possibility of a theology after Auschwitz: In this our own time, one asks again and again: how is a Jewish life still possible after Auschwitz? I would like to frame this question more correctly: how is a life with God still possible in a time in which there is an Auschwitz? The estrangement has become too cruel, the hiddenness too deep. One can still ‘believe’ in the God who allowed those things to happen, but can one 30 31 32
33 34
Martin Buber: Schweigen und Schreien. In: MBW 11.2, p. 346–349. Id., p. 346. Cf. Yoram Lubling: Buber and the Holocaust. Hero or Fool. In: Studies in Jewish Civilization (6). 1995, p. 239–250; Jerry D. Lawriston: Martin Buber and the Shoah. In: Martin Buber and the Human Sciences. Ed. Maurice Friedman. Albany 1996, p. 295–312; David Forman-Barzilai: Agonism in Faith. Buber’s Eternal Thou After the Holocaust. In: Modern Judaism (23/2). 2003, p. 156–179. Richard L. Rubenstein: Buber and the Holocaust. Some Reconsiderations on the 100th Anniversary of His Birth. In: Michigan Quarterly Review (18/3). 1979, p. 382–402. Martin Buber: Gottesfinsternis. In: Id.: Schriften zu Philosophie und Religion (MBW 12). Ed. Ashraf Noor. Gütersloh 2017, p. 359–444.
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still speak to Him? Can one still hear His word? Can one still, as an individual and as a people, enter at all in a dialogic relationship with Him? Can one still call to Him? Dare we recommend to the survivors of Auschwitz, the Job of the gas chambers: ‘Give thanks unto the Lord, for He is good; for His mercy endureth forever’ (Psalm 106:1)?35 Buber’s relationships with the Divine, with the German state and people, but also with oneself (as a Jew) were severely wounded, if not entirely broken. Estrangement seemed to be the last word, given the unprecedented violence of the Shoah and the betrayal he suffered as a citizen of Jewish faith from the German state. Consequently, possibilities of reconciliation appeared hardly attainable or even just desirable to Buber, at least in the beginning. Healing injured (or even broken) relationships on multiple levels, challenging widespread alienation and pervasive mistrust, reopening a dialogue like the German-Jewish one, Buber challenged a state of irreconcilability, which appeared to be invincible. Along the way he gained the epithets of Gosher HaG’sharim, “builder of bridges” by his disciple and friend Ernst Simon, as we learn from Laurence J. Silberstein: This most appropriate metaphor conveys the image of one who devoted his life and thought to traversing the chasms which separate the realms of thought and culture from one another, to healing broken relationships between individuals as well as groups, and to restoring unity and wholeness to the lives of persons. Throughout his life, Buber dedicated himself to overcoming the estrangement dividing person from person, person from God, person from his socio-cultural world, the Jew from Judaism, Jew from Christian, Jew from Arab, and nation from nation. In fact, Buber’s writings could be appropriately described as one of the most significant attempts in modern times to combat the alienating conditions of modern life, and to help people in general and the Jew in particular recover a sense of meaning, rootedness, sanctity, and wholeness in their lives.36
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Martin Buber: Der Dialog zwischen Himmel und Erde. In: MBW 20, p. 345–353, here p. 352. English translation from Martin Buber: The Dialogue between Heaven and Earth. In: Id., On Judaism. Edited by Nahum N. Glatzer. New York 1996, p. 224. On the question if a Jewish life is still possible after Auschwitz, see also Buber’s letter to Ernst Szilagyi (02.07.1950). B3, p. 255. Laurence J. Silberstein: Martin Buber. The Social Paradigm in Modern Jewish Thought. In: Journal of the American Academy of Religion (49/2). 1981, p. 211–229, here p. 211.
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The issue of healing German-Jewish relationships was accompanied by Buber’s engagement to rethinking and facilitating peace in the middle of the Cold War as well as the Israeli-Palestinian conflict.37 The last two decades of his life were indeed marked by intense civil activism, which included his struggle against the threat of extermination of humankind through the atomic bomb; his commitment to victims of human rights violations, included those of the Apartheid in South Africa; his stance against the death penalty, even if someone like Adolf Eichmann was the condemned man.38 Buber’s I-Thou encounters became of paramount concern in these issues. They comprehended personalities like Bertrand Russell39 , Eleanor Roosevelt together with Martin Luther King40 , but also the UN-secretary Dag Hammarskjöld41 , who nominated Buber for the Nobel Peace Prize in 1959. In the Early 1950s, Martin Buber was one of the first Jewish intellectuals willing to set foot in Germany after the Shoah, and who was ready to reconcile with the Germans after the Jewish genocide. His openness to reconciliation may have stemmed from his relational ontology of mutual interdependence, yet many I-Thou encounters with Germans had no less impact in this direction. His “confidence in the peace-making power of dialogue and his amicable engagement with Germany’s public sphere”42 must be regarded as highly significant for the earliest Jewish-German reconciliation. Yet, this path was neither an easy nor a straightforward one. On July 7, 1947, Buber delivered his lecture Individualismus und Kollektivismus at the home of his friend the Swiss psychotherapist Hans Trüb in Zürich.
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Italics mine. See also Ernst Simon: The Builder of Bridges. In: Judaism (27). 1979, p. 148–160. On Buber’s engagement for the Israeli-Palestinian reconciliation, see Ferrari: Einleitung, p. 65–70. See Martin Buber: Nachbemerkung [Nach dem Eichmann Prozeß]. In: MBW 11.2, p. 338–339. Buber took already a stance against the death penalty during the Weimar Republic. See Martin Buber: Über die Todesstrafe. In: MBW 11.2, p. 375. Cf. Martin Buber: Greetings to Bertrand Russell. In: MBW 11.2, p. 337. Cf. Letter of Eleanor Roosevelt (with bishop James Pike and Martin Luther King) to Martin Buber (14.10.57). B3, p. 432, 433. Cf. Martin Buber: Erinnerung an Hammarskjöld. In: MBW 11.2, p. 364–365; Dag Hammarskjöld: Om Martin Buber. In: Judistik tidskrift (39/2). 1966, p. 18–21. See also: Lou Marin: Können wir den ehrlichen Dialog in den Zeiten des Mistrauens retten? Die Begegnung zwischen Dag Hammarskjöld und Martin Buber. Frankfurt am Main 2012. Sonja Boos: Speaking the Unspeakable in Postwar Germany. Toward a Public Discourse on the Holocaust. Ithaca 2014, p. 25–51, here p. 26.
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This represents his first public appearance in a German-speaking country after World War II, but also the last station of Buber’s first post-war journey through Europe, which included France, Great Britain, the Netherlands, Sweden, Belgium, Denmark – but not Germany.43 In his lecture, the Jewish thinker explicitly recalled the nine years he was cut off from Europe, and the perceived relevance of his travel back as “etwas Wesentliches nach diesem Zeitunterbruch”44 [something essential after that temporal interruption]. Those years interrupted his dialogue with the Western world, yet they awakened a need for reconciliation, first and foremost with oneself, which he stated in a letter to Hermann Hesse, symbolically written on Yon Kippur just few days after the end of World War II: “Es ist der Abend nach dem ›langen Tag‹, wie die Juden ihn nennen: nach dem ›Versöhnungstag‹. Ich habe mich mit niemand zu versöhnen gehabt, nur mit allen, zumal mir selber. Das ist nun doch endlich geschehn”.45 [It is the evening after the ‘long day’. As the Jews call it: after the ‘Day of Reconciliation’. I have had to reconcile with no one, but with everyone, especially myself. This has now finally happened.] Buber was slowly ready to meet German people, yet only in the I-Thou dimension of one-on-one encounters. Personal dialogues he conducted via letter with eminent personalities of German culture and politics paved his way towards reconciliation with the Federal Republic. On the other hand, Buber was not willing, at least not at first, to meet German people and institutions in the I-It sphere. Even if he did not deny his sympathy towards single initiatives aiming at the construction of a new humanism in Germany, Buber refused to cooperate with German public organizations, for instance with the Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, who contacted him in Spring 1950 through Alfred Döblin: I have also expressed, through public statements of various kinds, my undiminished interest in the German people of good will. I cannot, however, decide to take part in the activities of German public institutions, for this would require a degree of boundary to which I do not feel myself capable.
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During this time, for instance, Buber’s meetings with his friend and publisher Lambert Schneider took place at the Swiss-German border near Basel. See Lambert Schneider: Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925–1965. Ein Almanach. Heidelberg 1965, p. 90. Martin Buber: Individualismus und Kollektivismus. In: MBW 11.2, p. 87–97, here p. 87. Letter of Martin Buber to Hermann Hesse (16.09.1945). B3, p. 90.
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However, I have a deep and unreserved sympathy for everything existing and happening in Germany in terms of genuine spirituality and humanity.46 A recurrent issue in Buber’s stance towards post-war Germany was his reluctance to give speeches in the country, given what he called the “Antlitzlosigkeit”47 [facelessness] of the German public. After the Pogroms of November 1938, Buber felt unable to reconcile with Germans as a public being. Considering what Jews had to suffer during the Hitler era, Germans as a nameless collective had become an uncomfortable entity to Buber. An anonymous crowd, which might also include former perpetrators, was not a counterpart he felt he could re-open a dialogue with. In response to his winning the Hạnsischer Goethe Preis [Hanseatic Goethe Prize], which he was awarded in December 195148 , the philosopher articulated his perplexities: As much as it is granted to me, in every genuine encounter with a German man, to accept him unreservedly as a person, and, accordingly, also to communicate with every circle formed by such persons, it has not yet been possible for me to overcome the facelessness of the German public, that exists for me since the events of 1938. An audience which is not composed by intentional selection, such as the students of a university, does not fulfil for me the indispensable condition under which alone I am able to speak publicly: to be able to regard every face to which I turn […] as that of my legitimate counterpart. Among the burdens that the history of this time has imposed on me, I feel that this is one of the heaviest; its weight cannot yet be lessened.49 Reconciliation, we are learning from Buber, requires a partner, even an agonistic counterpart (Gegenüber) to be encountered as a Thou. It needs the unicity and the authenticity of one-on-one I-Thou dialogues. Single individuals (“victims”) might be reluctant to reconcile with an out-group (“perpetrators”), which appears as a nameless, faceless entity.
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Letter of Martin Buber to Alfred Döblin (26.04.1950). B3, p. 249. Letter of Martin Buber to Bruno Snell (25.01.1952). B3, p. 310. Letter of Bruno Snell to Martin Buber (07.12.1951). B3, p. 297. Buber finally accepted the award and delivered his speech Geltung und Grenze des politischen Prinzips on Juny 24, 1953 (MBW 11.2, p. 297–306). Letter of Martin Buber to Bruno Snell (25.01.1952). B3, p. 310. See also Martin Buber: Nachtrag zu einem Gespräch. In: MBW 21, p. 441–443.
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It was the evangelical theologian Karl Heinrich Rengstorf, director of the Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, who convinced Buber to trust coming back to Germany. Significantly, when Rengstorf invited him in March 1950 to a conference entitled Israel – unser Land50 , Buber once again refused, because he could not bear the aforementioned “facelessness” of the German public. The Christian theologian then renewed his invitation to him to deliver a lecture in front of a small and selected circle of participants, and the Jewish philosopher finally accepted.51 On January 31, 1951 in Münster, Buber gave his first (semi)public talk in Germany since more than ten years, and chose the binding of Isaac as the topic.52 Buber was positively surprised by the renewed open-mindedness and willingness of the German people to engage in genuine dialogue and listening without stepping back. As he read Romano Guardini’s Verantwortung in December 1952, he finally declared himself ready to take the last step: speaking to a broader audience in Germany, and wrote to him: “Ich danke Ihnen für die Übersendung Ihrer Rede, die mir bereits bekannt war (sie kursiert hier). Noch während des Lesens merkte ich, daß sich etwas für mich geändert hatte: es war mir wieder ermöglicht, in Deutschland öffentlich zu sprechen”.53 [Thank you for sending me your lecture, which was already known to me (it is circulating here). While reading it, I noticed that something has changed for me: it was once again possible for me to speak publicly in Germany.] Buber witnessed his rapprochement with the Federal Republic of Germany in the most clear and significant way on the 27th of September 1953. On this date, he was awarded the prestigious Friedenspreis des Deutschen Buchhandels [Peace Prize of the German Book Trade], whose most recent winner was his colleague – just now mentioned – Romano Guardini. Announcing his being awarded, Arthur Georgi described the mission of the prize as honoring those who promote thoughts of peace, humanity and the mutual understanding among the nations.54 In the Pauluskirche in Frankfurt, Buber received the award from the German President Theodor Heuss, and began an enduring
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Cf. Letter of Karl Heinrich Rengstorf to Martin Buber (11.03.1950). B3, p. 239–240. Letter of Karl Heinrich Rengstorf to Martin Buber (10.07.1950). B3, p. 255–256. Cf. Letter of Martin Buber to Karl Heinrich Rengstorf (19.01.1951). B3, p. 266. See also Martin Buber: Die Opferung Isaaks. In: MBW 13.1, p. 576–580. Cf. Letter of Martin Buber to Romano Guardini (12.12.1952). B3, p. 323. See also Romano Guardini: Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage. Eine Universitätsrede. Munich 1952. Cf. Letter of Arthur Georgi to Martin Buber (17.06.1953). B3, p. 347.
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friendship with him.55 After a Laudatio from the Protestant theologian Albrecht Goes56 , the philosopher delivered his speech Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens57 , undoubtedly the key text of his reconciliation with the Federal Republic of Germany as well as of his meditation on peace amid the Cold War. An audience composed of an unusual amount of young people attended the event. Among them, Jürgen Habermas, at the time still a student, was present too. More than 60 years later, he would recollect58 the profound impact that those words had on him. It was “einen Beginn, nicht nur für Bubers eigenes Wirken in der Bundesrepublik, sondern auch für ein neues Miteinander zwischen Deutschen und Juden in diesem Lande”59 [a beginning, not only for Buber’s impact in the Federal Republic, but also for a new coexistence between Germans and Jews in this country]. Buber’s talk proved indeed, paradigmatically, his readiness to reconcile toward Germany: One may assume that seven years after the end of the war, at a time when Israel and the Federal Republic, represented by their highest political representatives, had begun negotiations about a state reparation of the historical injustice, Buber also thought that the time had come to appear again in the German public, to exert influence on it, and thus at the same time to make it clear in Israel that he wanted to work for a ‘reconciliation’ between the parts of German society that were ‘of good will’ and the forming Israeli society.60 Rejecting the extremes of nurturing hatred and of granting forgiveness as desirable options, Buber’s pathways of reconciliation with Germany required, once again, not to overlap the German state and the German people. Already in 55 56
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See, for instance, letter of Theodor Heuss to Martin Buber (24.01.1958). B3, p. 447–449. See Albrecht Goes: Lebendige Legende. Martin Bubers Wagnis der Versöhnung durch Eifer, Geduld und Heiterkeit. In: Die Zeit (7). 13.02.1958, p. 6; Id, Erinnerungen an Martin Buber. In: Die neue Rundschau (79). 1968, p. 448–458. See also: William Rollins, Harry Zohn (Eds.): Men of Dialogue. Martin Buber and Albrecht Goes. New York 1969; Helmut Zwanger: Albrecht Goes. Freund Martins Bubers und des Judentums. Eine Hommage. Tübingen 2008. Martin Buber: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens. In: Id.: Sprachphilosophische Schriften (MBW 6). Ed. Asher D. Biemann. Gütersloh 2003, p. 95–101. Jürgen Habermas: A Philosophy of Dialogue. In : Dialogue as a Trans-disciplinary Concept, p. 49–60. Ernst Ludwig Ehrlich: Martin Buber (1878–1965). In: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid (Eds.): “Meinetwegen ist die Welt erschaffen”. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. Frankfurt am Main/New York 1997, p. 33. Bernd Witte: Martin Buber und die Deutschen. Gütersloh 2021, p. 186.
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the pages of Sie und wir, written in the middle of World War II, Buber warned not to declare “the German” as an enemy per se through that distinction. In Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens the philosopher invited his audience to acknowledge diverse moral stances and forms of agency Germans took in NS-time, particularly towards the Shoah. With an astonishing understanding61 , the Jewish thinker rejected the idea of condemning a people as such, and the idea of a German collective guilt à la Jaspers. On the contrary, in his speech Buber differentiated between: 1. “Actively guilty”62 , i.e., “perpetrators”63 : Thousands of Germans became executors of state-organized killings of millions of Jews with unprecedented systematicity and cruelty. Buber’s words for them were clear and severe: “I, who am a survivor, I have only formally common humanity with those who participated in this action through whatsoever function. They are so radically removed from the gathering of human beings, have moved in a sphere of monstrous inhumanity so inaccessible to my conception, which to me has not even been able to give birth to hatred. […] And who am I to presume to grant forgiveness?”.64 61
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See Siegbert Wolf: “…vom Gebot einer Gerechtigkeit getrieben und das Herz von ihm bewegt”. Martin Buber und Deutschland nach der Shoah. In: Martin Buber neu gelesen (Martin Buber-Studien 1). Eds. Thomas Reichert, Meike Siegfried, and Johannes Waßmer. Lich 2013, p. 213–252. For Buber’s differentiation between “actively guilty”, “passively guilty” and “not guilty”, see Martin Buber: Zur Klärung. In: MBW 9, p. 320–325, especially p. 322. The distinction among “victims”, “perpetrators”, “passive/active bystanders” I am adopting here (beside Buber’s differentiation) follows a standard terminology in reconciliation studies, yet a problematic one, as thematized by Trudy Govier: Taking Wrongs Seriously: Acknowledgment, Reconciliation, And the Politics of Sustainable Peace. New York 2006, p. 27–44. Martin Buber: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, p. 95. On a personal level, Buber was ready to write a couple of letters of denazification (Persilschein) to some of his contacts who had been NSDAP members, like Jakob Hauer (who even spied him!) and Martin Rang, son of the theologian Florens Christian Rang. See Dominique Bourel: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie. Gütersloh 2017, p. 696. Furthermore, as Clemens Count Podewils, general secretary of the Bavarian Academy of Fine Arts in Munich, wished to organize the conference Wort und Wirklichkeit [word and reality] with the participation of Buber and Heidegger, he invited both the philosophers, who met in Spring 1957. See: Paul Mendes-Flohr: Martin Buber and Martin Heidegger in Dialogue. In: The Journal of Religion (94/1). 2014, p. 2–25.
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2. “Passively guilty”, but “active bystanders”: Buber referred then to those Germans who realized the extent of Nazi atrocities during the Shoah but did not rebel nor engage in resistance, showing words of rapprochement towards them: “My heart, who knows the weaknesses of the human being, he refuses to condemn my neighbor who could not win on himself to become a martyr”.65 3. “Passively guilty”, and “passive bystanders”: Buber addressed those Germans who did not know what was kept hidden from the public opinion and did not try to find out the terrible truth, with profound understanding towards the “sense of anguish, which I know well, of the human creature in front of a truth that is afraid of not being able to bear”.66 4. “Not guilty”, i.e., “victims”: Buber empathetically acknowledged and praised those Germans who refused to follow orders and consequently had been killed or killed themselves. He defined them as “friends”, who “become familiar to me in their face, behavior and voice. […] I see these human beings very close to me, in that special intimacy that binds us to the dead ones, and with them alone. Respect and love for these Germans now fills my heart”.67
Buber was willing to reconcile with the Germans by recognizing them as bearers of a “face”, trusting the majority of them as reliable members of a shared moral and human community. His visits to Germany were “important to the Germans, controversial for the Jews”.68 His readiness to accept prestigious acknowledgments from German public institutions triggered lively polemics in the Israeli newspapers Haaretz and Davar, as well as critical stances among Jewish intellectuals, even ones who were not conservative, like Gershom Scholem, Mascha Kaléko and Jean Améry.69 In the same months, during which
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Martin Buber: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, p. 95. Id., p. 96. Ibid. Abigail Gillman: “Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander”. Martin Buber’s Message to Postwar Germany. In: Nexus. Essays in German Jewish Studies (2). 2014, pp. 121–151, here p. 123. Id., p. 129–130; p. 136–137. See also Schalom Ben-Chorin: Zwiesprache mit Martin Buber. Gerlingen 1978, p. 76–84; 113–115; 119–120; Asher D. Biemann: Kommentar. In: MBW 6, p. 166–171; Siegbert Wolf: Schuld und Versöhnung. Martin Buber und die Deutschen in den Nachkriegsjahren. In: Dialog und Konflikt, especially p. 331–334.
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the Reparations Agreement between Israel and the Federal Republic of Germany were signed (September 1952), Buber accepted two German awards, both about 10.000 DM. Furthermore, he devoted most of them to Jewish-Arab cooperation initiatives, like the monthly Ner, organ of the binationalist party Ihud he cofounded in 1942. In those years, during which he received other awards and acknowledgments from Germany70 , Buber’s friendship with the first president of the German Federal Republic Theodor Heuss also grew and contributed towards Jewish-German reconciliation on a broader scale. In 1953, as we have seen, Heuss welcomed Buber in Frankfurt, as he was awarded the Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In 1960, the two nations had not yet officially resumed diplomatic relationships, which would be inaugurated only in 1965. Yet, Buber took the initiative to invite Heuss to Israel. This time, the philosopher introduced the statesman, who delivered his lecture Staat und Volk im Werden at the Hebrew University of Jerusalem (May 9, 1960). Introducing his venerable friend, Buber defined Heuss as a genuine humanist, i.e. a “Mann des lebendigen Gedankens und des lebendigen Wortes” [man of the living spirit and word], who represented also for him the “deutsche Selbsttreue” [German self-loyalty] during the Dritte Reich and who could, therefore, accompany Germany in the renewed freedom of peoples in the world of the nations.71 Buber’s trust in Heuss accompanied his renewed positive expectations to welcome Germany into the moral community of the nations. In the second part of his speech Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, Buber addressed the question of peace as a theoretical and practical issue. He fiercely stated that “the goal of dialogue must not only be the end of war, a cease-fire, but also the beginning of peace, of peaceful coexistence”.72 Therefore, he criticized the widespread understanding of peace as a mere condition of non-war, by stating: “Was man in der Geschichte Frieden nennt, ist ja nie etwas anderes gewesen als eine – angstvolle oder illusionsselige – Pause zwischen zwei Kriegen”.73 [What is called peace in history has never been anything else than a 70
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73
For instance: Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main (1958); Kulturelle Ehrenpreis der Landeshauptstadt München (1960); Ehrendoktorwürde, Münster (1962) and Heidelberg (1964) University. Martin Buber: Gruß und Willkomm. In: MBW 11.2, p. 333–334. Paul Mendes-Flohr: Der Dialog und die Möglichkeit des Friedens. In: Dialog, Frieden, Menschlichkeit. Beiträge zum Denken Martin Bubers. Eds. Wolfgang Krone, Thomas Reichert, Meike Siegfried. Berlin 2011, p. 17–24, here p. 18. Martin Buber: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, p. 98.
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fearful or illusionary pause between two wars.] In contrast, the philosopher exhorted us to think, practice and invent a “great peace”74 ex positivo. Buber’s great peace lies at the core of his plea for a reconciliation of humankind, which goes across and beyond the dichotomic fronts, which is usually divided into states and peoples. To articulate his view of peace and reconciliation, Buber referred to the three leading ideals of the French Revolution (Liberty, Equality, Fraternity) in his speech Hoffnung für diese Stunde, he delivered at the Carnagie Hall in New York on April 6, 1952.75 Fraternity, he defined as the promise of a common humanity, has been progressively forgotten, so that Liberty and Equality took hegemonic positions, which respectively degenerated into the excesses of individualism and collectivism, that represented, finally, the backbones of the US-capitalistic and of the USSR-communist ideology. Formulating his message for a worldwide reconciliation amid the Cold War, Buber argued also that the us-them divisions, promoted by its main stakeholders, have led to a massive mistrust in the counterpart, which has made more and more difficult, if not impossible, to express dissensus through a genuine openness to the other via dialogue. Such a massive mistrust constitutes the epiphenomenon of an unprecedented crisis of the human being, but also the soil of a frozen conflict, which may degenerate into an open war any time: “Der Mensch in der Krisis, das ist der Mensch, der seine Sache nicht mehr dem Gespräch anvertraut, weil ihm dessen Voraussetzung, das Vertrauen, verlorengegangen ist. Darum hat der kriegsbesessene Widerfriede, der sich heute Frieden nennt, über die Menschen kommen können”.76 [The human being in crisis is the one who will no longer entrust his cause to dialogue because its presupposition, trust, is lacking. This is the reason why the war-possessed anti-peace which today goes by the name of peace has been able to overcome humankind.] For the sake of all of humanity, rethinking peace was necessary according to Buber. Asked in 1961 about how he would have imagined the world in twenty years, he replied in one of his very last texts: “Alles hängt davon ab, was hier das Wort ›Friede‹ bedeutet: bloßes Aufhören des kalten Kriegs oder wirkliche Koexistenz”.77 74
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See Francesco Ferrari: Frieden als Ars Videndi. “Inventing Peace” mit Martin Buber. In: Dialog und Konflikt, p. 263–274. Buber introduced a reference to the “great peace” already in his essay Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus (MBW 11.2, p. 31–32), which was published by the Internationale Friedensakademie just few weeks the before the outbreak of the World War II. Cf. Martin Buber: Hoffnung für diese Stunde. In: MBW 11.2, p. 275–282. Martin Buber: Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens, p. 99. Martin Buber: In zwanzig Jahren. In: MBW 11.2, p. 371.
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[Everything depends on the meaning of the word ‘peace’ – mere cessation of the Cold War or real coexistence.] This final message we owe to Buber anticipated one of the pillars of the contemporary peace and reconciliation studies: the seminal difference between “negative” and “positive” peace78 – whose distinction has to be found in the (re)establishment of “real coexistence” after violent conflict, i.e., in the healing of broken relationship, which is the work of reconciliation.
Bibliography Buber’s texts are quoted from his Werkausgabe: Schriften über das dialogische Prinzip (MBW 4). Eds. Andreas Losch, Paul Mendes-Flohr. Gütersloh 2019. Sprachphilosophische Schriften (MBW 6). Ed. Asher D. Biemann. Gütersloh 2003. Schriften zum Christentum (MBW 9). Ed. Karl-Josef Kuschel. Gütersloh 2011. Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie (MBW 11). Eds. Francesco Ferrari, Stefano Franchini, and Massimiliano De Villa. Gütersloh 2019. Schriften zu Philosophie und Religion (MBW 12). Ed. Ashraf Noor. Gütersloh 2017. Schriften zur biblischen Religion (MBW 13.1). Ed. Christian Wiese. Mitarbeit von Heike Breitenbach, Andreas Losch, Michael Fishbane. Gütersloh 2019. Schriften zur Bibelübersetzung (MBW 14). Ed. Ran HaCohen. Gütersloh 2012. Schriften zum Messianismus (MBW 15). Ed. Samuel Hayim Brody. Gütersloh 2015. Schriften zum Judentum (MBW 20). Eds. Paul Mendes-Flohr, Michael Fishbane. Gütersloh 2018. Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage (MBW 21). Eds. Samuel Hayim Brody, Paul Mendes-Flohr. Gütersloh 2019.
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See Johan Galtung: Peace by Peaceful Means. Peace and Conflict, Development and Civilization. London 1996.
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Buber’s texts quoted in the paper: Bemerkungen zur Gemeinschaftsidee. In: MBW 11.1, p. 378–383. Brief an Gandhi. In: MBW 21, p. 150–162. Dankesrede für den Münchner Kulturpreis. In: MBW 11.2, p. 335. Das echte Gespräch und die Möglichkeiten des Friedens. In: MBW 6, p. 95–101. Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose. In: MBW 11.2, p. 24–26. Das Erste. In: MBW 20, p. 94–95. Der Dialog zwischen Himmel und Erde. In: MBW 20, p. 345–353. Der jüdische Mensch von heute. In: MBW 20, p. 97. Der Mensch von heute und die jüdische Bibel. In: MBW 14, p. 38–55. Die Frage nach den Einzelnen. In: MBW 4, p. 151–195. Die Opferung Isaaks. In: MBW 13.1, p. 576–580. Erinnerung an Hammarskjöld. In: MBW 11.2, p. 364–365. Erkenntnis tut not. In: MBW 11.1, p. 417–418. Geltung und Grenze des politischen Prinzips. In: MBW 11.2, p. 297–306. Gottesfinsternis. In: MBW 12, p. 359–444. Greetings to Bertrand Russell. In: MBW 11.2, p. 337. Gruß und Willkomm. In: MBW 11.2, p. 333–334. Hebräischer Humanismus. In: MBW 20, p. 147–158. Hoffnung für diese Stunde. In: MBW 11.2, p. 275–282. Individualismus und Kollektivismus. In: MBW 11.2, p. 87–97. In zwanzig Jahren. In: MBW 11.2, p. 371. Israel und die Völker. In: MBW 11.1, p. 388–411. Königtum Gottes. In: MBW 15, p. 93–276. Nachbemerkung [Nach dem Eichmann Prozeß]. In: MBW 11.2, p. 338–339. Nachtrag zu einem Gespräch. In: MBW 21, p. 441–443. Offener Brief an Gerhard Kittel und Zu Gerhard Kittels »Antwort«. In: MBW 9, p. 169–174. Politik aus dem Glauben. In: MBW 11.2, p. 327–331. Schweigen und Schreien. In: MBW 11.2, p. 346–349. Sie und wir. In: MBW 11.2, p. 340–345. Über die Todesstrafe. In: MBW 11.2, p. 375. Zur Ethik der politischen Entscheidung. In: MBW 11.1, p. 412–415. Zur Klärung. In: MBW 9, p. 320–325. Zwei Beiträge zur Klärung des Pazifismus. In: MBW 11.2, p. 31–32.
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Other References: Schalom Ben-Chorin: Zwiesprache mit Martin Buber. Gerlingen 1978. Sonja Boos: Speaking the Unspeakable in Postwar Germany. Toward a Public Discourse on the Holocaust. Ithaca 2014, p. 25–51. Dominique Bourel: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie. Gütersloh 2017. Martin Buber: On Judaism. Edited by Nahum N. Glatzer. New York 1996. Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Samuel Hayim Brody: Is Theopolitics an Antipolitics? Martin Buber, Anarchism, and the Idea of the Political. In: Dialogue as a Trans-disciplinary Concept. Martin Buber’s Philosophy of Dialogue and its Contemporary Reception. Ed. Paul Mendes-Flohr. Berlin 2015, p. 61–88. Fanie Du Toit: When Political Transitions Work. Reconciliation as Interdependence. Oxford 2018. Ernst Ludwig Ehrlich: Martin Buber (1878–1965). In: »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. Eds. Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid. Frankfurt am Main/New York 1997. Francesco Ferrari: Einleitung. In: MBW 11.1, p. 15–100. Francesco Ferrari: Frieden als Ars Videndi. »Inventing Peace« mit Martin Buber. In: Dialog und Konflikt (Martin Buber-Studien 3). Eds. Ursula Frost, Johannes Waßmer, Hans-Joachim Werner. Bodenburg 2018, p. 263–274. David Forman-Barzilai: Agonism in Faith. Buber’s Eternal Thou After the Holocaust. In: Modern Judaism (23/2). 2003, p. 156–179. Johan Galtung: Peace by Peaceful Means. Peace and Conflict, Development and Civilization. London 1996. Abigail Gillman: “Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander”. Martin Buber’s Message to Postwar Germany. In: Nexus. Essays in German Jewish Studies (2). 2014, p. 121–151. Albrecht Goes: Lebendige Legende. Martin Bubers Wagnis der Versöhnung durch Eifer, Geduld und Heiterkeit. In: Die Zeit (7). 13.02.1958, p. 6. Albrecht Goes: Erinnerungen an Martin Buber. In: Die neue Rundschau (79). 1968, p. 448–458. Trudy Govier: Taking Wrongs Seriously: Acknowledgment, Reconciliation, And the Politics of Sustainable Peace. New York 2006. Romano Guardini: Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage. Eine Universitätsrede. Munich 1952.
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Fremdheit und Versöhnung Paul Ricœurs narrative Identität und Paul Celans Atemwende Dennis Marten
Eine Antwort auf die Frage, ob Versöhnung angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus möglich oder überhaupt erstrebenswert sei, ist angehalten, die Dialektik des Versöhnungsbegriffs zu berücksichtigen. So kann die Hoffnung auf Versöhnung, zumindest auf Seiten jener, die weder Leidtragende noch deren Nachkommen sind oder waren, den unausgesprochenen Anspruch beinhalten, das Vergangene nicht mehr thematisieren zu müssen.1 Wenn also überhaupt von Versöhnung gesprochen werden soll, muss sie als ein Weg verstanden werden, der durch beschädigte Wirklichkeiten führt, die nicht restituiert werden können. Die Trümmer dieser Wirklichkeiten müssen als solche kenntlich bleiben, damit Versöhnung nicht als metaphysisch grundierte Erlösung missverstanden wird, die die Ermordeten übergeht. Mit Paul Celan kann dieser Weg als Meridian interpretiert werden,2 der Dichtung, Welten und Menschen miteinander verbindet und schließlich die Identität des Lesers und damit dessen lebensweltliche Perspektive umbildet. Die Annäherung an die Dichtung Celans geschieht daher vor dem Hintergrund einer rezeptionsästhetischen Fragestellung, die sich an seiner Poetik orientiert: Welche Prozesse finden im Dialog des Lesers mit dem Gedicht statt? Was bewirkt das Gedicht für die Weltwahrnehmung des Subjekts? Zunächst sei jedoch etwas über den Zusammenhang von Versöhnung und Sprache sowie die Theorie der narrativen Identität Paul Ricœurs gesagt, die 1
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Der vorliegende Essay greift auf meine Dissertation zurück: Schuld und Sprache. Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n). Baden-Baden 2022, insbesondere auf die Kapitel 2.2., 2.3.4.2., 4. und 5. Vgl. Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung Vorstufen Materialien. Herausgegeben von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull. Frankfurt 1999, S. 12.
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meines Erachtens ein geeignetes Paradigma für die Aufnahme geschichtlich tradierter Schuld – als Bedingung der Möglichkeit von Versöhnung – bietet und damit in der Nähe der Überlegungen Celans verortet werden kann.
1. Versöhnung und Sprache Für Stephan Grätzel ist Versöhnung zunächst die Rückkehr des Menschen aus einer krisenhaften Isolation zu einem ursprünglichen Miteinander. Der Mensch ist von sich selbst, den anderen Menschen und der Welt getrennt. Versöhnung stellt die Verbindung wieder her.3 Grätzel zufolge vollzieht sich dieser Rückgang dialogisch über Sprache, »zunächst über einfache Sprachhandlungen, aber auch über Erzählungen und andere Sprachkunstwerke.«4 Versöhnung ist gleichsam »der Motor der Sprache.«5 Das, was getrennt ist, strebt wieder zueinander. Dies geschieht jedoch nicht bruchlos und vollständig. Versöhnung ist ein Prozess, der weder abgeschlossen werden kann noch nach vorgegebenen Regeln verläuft. Die Sprechenden »sind immer nur Teil und Fragment und bauen Brücken zu den fehlenden Teilen und Fragmenten. Diese Brücken sind die Versöhnungen.«6 Brücken aber schwanken und können abgebrochen werden und müssen dann erneut gebaut und beschritten werden. Denn Sprache versöhnt nicht nur. Durch Sprache wird »auch getrennt und entzweit, vernichtet und getötet. Die Sprache segnet und flucht, ihre Macht ist gerade hier besonders spürbar […].«7 Das Sprechen von Versöhnung muss auch diese destruktive Kraft der Sprache berücksichtigen. Wie Victor Klemperer in seinen Ausführungen zur Lingua Tertii Imperii, zur Sprache des ›Dritten Reiches‹, gezeigt hat,8 gibt es einen engen Zusammenhang, ja eine Bedingtheit zwischen gewalttätiger und mörderischer Sprache einerseits und gewalttätigen und mörderischen Taten andererseits. Nicht allein deshalb, weil Sprachhandlungen eben immer auch schon Handlungen sind, die Andere
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Vgl. Grätzel, Stephan: Versöhnung. Die Macht der Sprache – Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs. Freiburg 2018, S. 19. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 35. Vgl. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand hg. und kommentiert von Elke Fröhlich. Stuttgart 2018.
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massiv verletzen können, sondern weil der Sprachgebrauch für gesellschaftliche Verrohung sorgen kann und damit Gewalt- und Mordtaten den Boden bereitet. Klemperer sieht die Wurzel für Verrohung und Entgrenzung, die schließlich zum eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten geführt hat, weit in die deutsche Sprach- und Kulturgeschichte zurückreichen.9 Ähnlich äußert sich George Steiner, wenn er bemerkt, dass die deutsche Sprache […] an den Schreckenstaten des Nazismus nicht ganz unschuldig [war]. Es ist kein bloßer Zufall, daß ein Hitler, ein Goebbels, ein Himmler deutsch sprachen. Das Nazitum fand in dieser Sprache genau vor, was es brauchte, um seiner Grausamkeit Stimme und Nachdruck zu verleihen.10 Ein »Reservoir an Giftstoffen und moralischer Unbildung«, so Steiner weiter, hätte es in jeder Sprache geben können, »nur standen sie ihm [Hitler] nirgends so bequem zur Verfügung, lagen nirgends so nahe an der Oberfläche der Umgangssprache.«11 Sicherlich müssen neben der Sprach- und Geistesgeschichte ebenso die sozialen und politischen Verwerfungen ab dem Niedergang des Wilhelminischen Kaiserreiches bis hinein in die Weimarer Republik mit in den Blick genommen werden, um die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland, an deren Ende die industrielle Massenvernichtung stand, analysieren zu können. Dennoch verdeutlichen Klemperers und Steiners Ausführungen die geschichtliche Dimension, die mit der Sprache gegeben ist und die im Sprechen immer mit entfaltet wird. Die Sprache ist vergiftet, wie Steiner feststellt.12 Das Miasma der Mördersprache haftet an der deutschen Sprache und durchdringt sie. Aufgrund der geschichtlichen Dimension der Sprache gilt dies auch retrospektiv. Steiner zitiert einen Tagebucheintrag Klaus Manns, der fragt, ob wohl die Sprache Hölderlins und Nietzsches durch Hitler geschändet worden sei, und gibt darauf die lakonische Antwort: »Sie ist es.«13
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Vgl. das Kapitel Die deutsche Wurzel in LTI, S. 148–161. Steiner, George: Das hohle Wunder. In: Ders.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Berlin 2014, S. 155–176, hier S. 161. Ebd. Vgl. ebd., S. 163. Klemperer konstatiert ähnliches im Kapitel Die Sprache des Siegers: Vgl. Klemperer: LTI, S. 213–224. Steiner: Das hohle Wunder, S. 165.
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Der Shoah-Überlebende Jean Améry schildert in seinem Essay An den Grenzen des Geistes, in dem er die Isolation des Intellektuellen in Auschwitz beschreibt, wie ihm dort ein memoriertes Hölderlin-Gedicht keinen Halt mehr geben konnte, die geistige Welt angesichts der materiellen Hölle unwirklich wurde und ihm die deutsche Kultur – bis dato seine intellektuelle Heimat – entrissen wurde.14 Auch später konnten ihm deutsche Kultur und Sprache keine Heimat mehr werden, »der so schwere Wirklichkeitsgehalt der Muttersprache« war »von schrecklicher Dauerhaftigkeit […].«15 An solchen mitgeteilten Erfahrungen, an solchen Erinnerungen, müssen sich die Überlegungen über Sprache und Versöhnung orientieren.16 Denn die deutsche Sprache ist mit geschichtlicher Schuld belastet, die, über die konkrete subjektive Täterschuld hinaus, auf die nachfolgenden Generationen übertragen wird.17 Hier setzt nun auch die Versöhnung an, die, wie Grätzel ausführt, im Unterschied zum persönlichen und intimen Verzeihen und Vergeben ein geschichtlicher Prozess ist.18 In der Versöhnung wird das Unverzeihliche »zum Vermächtnis künftiger Generationen, die geschichtliche Schuld nicht zu vergessen und sie als gemeinsames Erbe zu verstehen.«19 Ein gemeinsames Erbe bedeutet aber keine Nivellierung oder Relativierung der Schuld. Die nichtjüdischen Deutschen bleiben gegenüber Jüdinnen und Juden und dem Staat
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Vgl. Améry, Jean: An den Grenzen des Geistes. In: Ders.: Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Stuttgart: 2002, S. 23–54, hier S. 32–34. Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Ders: Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Stuttgart: 2002, S. 86–117, hier S. 105. Enzo Traverso schreibt dazu: »Die Erinnerung erlischt mit den Zeugen, die ihre Träger sind, das Gedächtnis kann aber in der gesellschaftlichen Tradition bewahrt werden.« Traverso, Enzo: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah. Hamburg 2000, S. 265. Geschichtliche Schuld ergibt sich, so Grätzel in Dasein ohne Schuld, bereits aus der bloßen Existenz des Menschen, insofern dieser auf Geschichten verwiesen ist, die weit vor seine Geburt zurückreichen (i.e. die Lebensgeschichten seiner Eltern, Großeltern etc.). Um diese in seine Lebensgeschichte zu integrieren, muss er sich auch mit den Fehlern und Versäumnissen seiner Vorgeschichte auseinandersetzen. Diese bilden, ob thematisiert oder nicht, den Hintergrund seiner Geschichte (vgl. Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive. Göttingen: 2004, S. 126–129). Vgl. Grätzel: Versöhnung, S. 189. Ebd.
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Israel Täter (bzw. die Erben dieser Täter).20 Aber es kann ein gemeinsames Gespräch geben, welches wiederum konstitutiv ist für die Identität der Nachfahren der Täter. Dieses Gespräch als Auf- und Übernahme geschichtlicher Schuld auf Seiten der Deutschen ist nicht abzuschließen und muss immer wieder erneuert werden. Die Schuld bleibt bestehen, aber im besseren Fall blockiert sie nicht mehr den Weg hin zum Anderen und schließlich auch hin zum Selbst. Sie wird zum integralen Bestandteil der narrativen Identität, das heißt der Erzählung der eigenen Lebensgeschichte, in die die Geschichten der Opfer eingewoben sind. Hierbei bleibt das Problem der Repräsentation bestehen. Eine Versöhnung, die eine Versöhnung mit dem Anderen, mit der Welt und schließlich mit sich selbst sein soll, sieht sich mit der innerweltlichen Abwesenheit der Ermordeten konfrontiert. Die Ermordeten können nicht mehr sprechen, sie können aber auch nicht von Anderen (auch nicht von den Überlebenden) repräsentiert werden. Jedes Zeugnis enthält also eine Lücke,21 durch die das Bezeugen auf seine eigene Unmöglichkeit verwiesen ist.22 Die gewaltsam abgebrochenen Geschichten können daher nicht einfach in der Gegenwart wiederhergestellt werden. Versöhnung steht dementsprechend gewissermaßen unter einem eschatologischen Vorbehalt. Doch kann, wie sich zeigen wird, der Leser zum Zeugen dieser Geschichten werden, indem er auf die Leerstellen hinweist, die ihre Subjekte hinterlassen haben. Im Sinne Walter Benjamins kann er, der Ermordeten eingedenk, »für die unterdrückte Vergangenheit« einstehen und die Geschichten der Ermordeten aus »dem ho-
20 21 22
Vgl. ebd. Vgl. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt 2017, S. 29–32. Vgl. Traverso: Auschwitz denken, S. 268. Die Abwesenheit des Zeugen ist auch für Derrida einer der Gründe, weshalb die Vergebung (pardon) letztendlich auf ein Unmögliches zielt. Mit Referenz auf Celans Gedicht Todtnauberg führt er aus, dass derjenige, der sich anschickt, zu vergeben, so wie derjenige, dem vergeben werden soll, jeweils mit den Namen derer verbunden sind, die nicht mehr teilhaben können an diesem Akt (vgl. Derrida, Jacques: Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare. Wien 2018, S. 40–44). Vergebung existiert somit nur »im unendlichen Aushalten des Un-Möglichen als unmöglich […]« (ebd., S. 64). Sie ist ungerecht, insofern durch sie der Andere, der nicht mehr vergeben kann, verraten wird (vgl. ebd., S. 68). Jede Vergebung impliziert also die Notwendigkeit einer weiteren Vergebung. In dieser Unabschließbarkeit ähnelt sie der Versöhnung bei Grätzel.
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mogenen Verlauf der Geschichte«23 heraussprengen. Damit legt er Einspruch ein gegen das Immer-weiter-so des Geschichtsverlaufs. Die Geschichten der Ermordeten können in diesen nicht integriert werden, insofern sie niemals als ganze erscheinen und ihnen eine Lücke oder Leere inhärent ist. Versöhnung ist also ein Dialog zwischen Welten, die niemals ganz zusammenkommen können. Dementsprechend ist ihr das Verstummen, der Kommunikationsabbruch, bereits mitgegeben. Welche Rolle die Literatur für diesen Dialog mit den Geschichten der Ermordeten spielt, möchte ich anhand der Dichtung und Poetik Paul Celans darstellen. Zunächst ist allerdings Grundsätzliches zur Theorie der narrativen Identität Paul Ricœurs zu erläutern.
2. Die Theorie Ricœurs Ricœurs Theorie der narrativen Identität überschneidet sich mit seinen Überlegungen zur lebendigen Metapher. Beide stellen die Frage, inwiefern ein (literarischer) Text die Wirklichkeit verändern kann.24 Dementsprechend werden im Folgenden diese zwei Komplexe behandelt. Ricœurs narrative Theorie beruht auf der Unterscheidung dreier Ebenen der Mimesis (wir können sagen: der Erzählung überhaupt), die aufeinander bezogen sind, dabei aber irreduzibel bleiben. Die erste Ebene ist die Ebene vor der Erzählung, die allerdings bereits die Struktur einer Erzählung in sich trägt. Ricœur nennt sie die Ebene der Präfiguration.25 Wir sind je schon in ein Feld von potentiellen und tatsächlichen (überlieferten) Erzählungen eingebunden. Nur so können wir unser Leben verstehen, es leben und gestalten. Dies zeigt sich in allen möglichen Alltagsriten und fängt schon bei der Begrüßung an. Wir können Gesten und Handlungen überhaupt nur deshalb deuten, weil wir über »symbolische[…] Ressourcen« verfügen,26 die diese Handlungen verständlich machen.
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24 25 26
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders: Gesammelte Schriften. Band I,2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt 1991, S. 691–704, hier S. 703. Vgl. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher. München 1986, S. 7–10. Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung. München 1988, S. 88. Ebd., S. 94.
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Diese pränarrative, von einem Symbolnetz durchwachsene Ebene ist die Grundlage für die eigentliche Erzählung: Die Konfiguration.27 In der Konfiguration wird die Handlung, die wir meist präreflexiv aufgrund ihrer »symbolischen Vermittlung«28 bereits als Erzählung verstehen, tatsächlich erzählt. Dies kann in den traditionellen Gattungen, als Epos bzw. Roman, als Drama oder als Gedicht geschehen, aber auch als unsere je eigene Lebensgeschichte, wie wir sie Anderen mitteilen oder im Tagebuch oder einer Autobiographie ausformulieren. Bemerkenswert ist dabei, dass sich mit der erzählten Handlung (ergo dem erzählten Leben) eine Zeiterfahrung artikuliert. Um Zeit überhaupt wahrnehmbar zu machen, muss sie erzählt werden. Unser Handeln und Erleiden strebt danach, erzählt zu werden. Ricœur schreibt, »daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach dem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.«29 Die Erzählung ist der Hüter der Zeit.30 Zeitlich (und räumlich) möglicherweise weit voneinander entfernt liegende Ereignisse werden in einen Zusammenhang gebracht und erst in diesem Zusammenhang sinnvoll und damit zum Teil einer Geschichte. Ricœur spricht von einer dissonanten Konsonanz, die Zeiten, Leben und damit auch Identitäten zusammenschweißt: Eine Synthesis des Heterogenen.31 Dabei kommt der schöpferischen Einbildungskraft eine konstitutive Rolle zu: Geschichten werden variiert, ›durchgespielt‹, verändert, um sinnvoll werden zu können beziehungsweise immer wieder neuen Sinn zu produzieren.32 Selbst die eigene Lebensgeschichte basiert nicht nur auf harten Fakten, dem tatsächlichen Geschehen, sondern ebenso auf einem fiktionalen Anteil.
27 28 29 30 31 32
Vgl. ebd., S. 104–113. Ebd., S. 94. Ebd., S. 87. Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit. München 2007, S. 389. Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung I, S. 106. Ricœur nennt dies imaginative Variationen. Der Leser hat Teil an der Gestaltung der Erzählungen und an den Erfahrungen der Gestalten der Erzählung und baut durch seine Einbildungskraft Brücken zu seiner eigenen, außertextlichen Lebenswirklichkeit (vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung II, S. 172; Ders.: Die lebendige Metapher, S. 303–304; sowie: Ders.: Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 182–186). Die imaginativen Variationen sind somit das Bindeglied zwischen der zweiten und der dritten Ebene der Mimesis, ergo zwischen der Konfiguration und der Refiguration.
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Begegnungen und Ereignisse werden häufig, bewusst oder unbewusst, ausgeschmückt, geschönt oder dramatisiert. Vergangenes kann so erzählt werden, als sei es gegenwärtig. Damit wird auch die lineare Zeitvorstellung der physikalischen Zeit aufgesprengt. Es wird eine Brücke zur Vergangenheit und zur Zukunft geschlagen. Kollektive wie individuelle Narrative sind an Geschichten angebunden, die lange vor die Geburt des Einzelnen bzw. vor die Entstehung eines Kollektivs zurückreichen. Damit befinden wir uns auf der dritten Ebene, die Ricœur die Ebene der Refiguration nennt.33 Die Erzählung, die auf der konfigurativen Ebene gewissermaßen autonom ist und die Bezüge zur Lebenswelt des Lesers (und auch des Autors) abgebrochen hat, tritt nun wieder in die Zeit des Handelns und Leidens ein. Die Welt des Textes schreibt sich in die Lebenswelt des Lesers ein. Dessen Lebenswelt wird symbolisch angereichert, ihre Bedeutungen werden erweitert durch die Lektüre. Indem die Lektüre eines Textes die symbolischen Ressourcen auffüllt und erneuert, das tradierte Verständnis eines Symbols (einer Konvention oder Norm) eventuell sogar durchkreuzt, erweitert der Leser seinen Verstehenshorizont. Er kann Zeit und Welt anders wahrnehmen als zuvor. Ricœur betont dabei ausdrücklich, dass es sich beim Rückbezug der Refiguration als dritter Ebene der Mimesis auf die Ebene der Erfahrung und Handlung nicht um einen »circulus vitiosus« handelt,34 was letztendlich hieße, dass sich das Subjekt ausschließlich auf tradiertes ›Material‹ beziehen könnte, ohne dabei sich und seine Wirklichkeit zu verändern. Vielmehr weist die Refiguration durch die Lektüre auf unerzählte Geschichten hin, die in die pränarrative Erfahrung eingehen und schließlich zur Erzählung drängen. Insbesondere Leidensgeschichten, die durch die Lektüre in die Erfahrungswelt übergehen und dort fragmentarisch aufscheinen, rufen die Erzählung herbei.35 Werden diese Geschichten aufgenommen, greift das Subjekt zwar einerseits auf diese Überlieferungen zurück, setzt andererseits aber auch einen Anfang, insofern es das Unerzählte innerhalb seiner eigenen Lebensgeschichte beginnen lässt, welche so eine Neuausrichtung bekommt. Die Lektüre ist somit durch Unterbrechung und Neubeginn des Handelns in der Welt ausgezeichnet. Je krasser die Welt des Textes mit der Welt des Lesers kollidiert, desto einschneidender kann die Wirkung des Textes auf die Wirklichkeit sein.36 Dabei können die
33 34 35 36
Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung I, S. 113–135. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 119. Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 292.
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Diskontinuitäten nicht immer vollständig aufgelöst werden. Mit der Irritation durch den Text bricht die Nicht-Identität des Anderen in den Horizont des Eigenen ein. Die personale Identität des Subjekts wird in Frage gestellt und mit ihr dessen Selbst-Verständnis, Selbst-Gewissheit und Selbst-Herrlichkeit. Das Selbst kann sich nicht in seiner Selbigkeit (mêmeté; personale, substantiell gedachte Kontinuität) durchhalten, es wird durch die Befremdung der absoluten Andersheit des Textes in ein erneuertes Verhältnis zu sich selbst gesetzt und erscheint sich als Selbstheit (ipséité),37 als eine Art Verdoppelung des Selbst, das sich immer auch ein anderes ist, wodurch die Vorstellung einer personalen Substanz, die unverändert bleibt, herausgefordert wird. Ein ähnlicher Prozess wird durch die lebendige Metapher ausgelöst. Diese zeichnet sich vor allem durch eine verdoppelte Referenz aus,38 die der Bewegung zwischen Identifikation in der Welt und Befremdung durch Differenz auf der Ebene des Textes entspricht. Die Referenz ist verdoppelt in dem Sinne, dass der ostensive Bezug der poetischen Rede auf die Welt außerhalb des Textes zugunsten einer postulierten metaphorischen Quasi-Welt, die sich im Gedicht entfaltet, suspendiert wird.39 Bezogen auf die metaphorische Aussage selbst heißt das: Die wörtliche Bedeutung einer Metapher, die ihr Korrelat in der Lebenswelt des Lesers findet, wird durchkreuzt. Innerhalb des Gedichts, das ein Netz aus Metaphern darstellt, die aufeinander verweisen und nur in ihrer Beziehung zueinander sinnvoll ausgelegt werden können, wird die gewohnte, wörtliche Bedeutung sinnwidrig.40 Der Aussage muss nun also eine neue, eine andere Bedeutung zugesprochen werden, die eine Gültigkeit beanspruchen kann, welche in die metaphorisch behauptete Quasi-Welt des Gedichts ›passt‹. Die einzelne metaphorische Aussage ist daher von ihrer Umgebung innerhalb des Gedichts abhängig. Entgegen der klassischen Substitutionstheorie steht in der Metapher also nicht einfach ein Wort für ein anderes.41 Vielmehr nötigt die zertrümmerte wörtliche Bedeutung dazu, der metaphorischen Aussage einen Sinn zu geben, der einzigartig ist und nur in der Welt des Gedichts
37 38 39 40 41
Vgl. ebd., S. 396–400; sowie: Ders.: Das Selbst als ein Anderer, S. 173–186. Vgl. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher, S. 220, S. 287–292. Vgl. Ricœur, Paul: Was ist ein Text? In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hamburg 2005, S. 79–108. Hier: S. 84. Vgl. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher, S. 226–227. Vgl. Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hamburg 2005, S. 109–134, hier S. 116.
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gilt.42 Dies macht dann auch ihre Lebendigkeit aus: Die Einmaligkeit ist nicht einfach übertragbar, so wie es bei toten, abgeschliffenen Metaphern, die bereits in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen sind, der Fall ist. Dennoch ist es gerade ihre Einmaligkeit, die die metaphorische Aussage aus dem Absoluten des Gedichts heraustreten lässt. Gerade weil sie sich gegen gewohnte Interpretationen sperrt und den Leser irritiert, motiviert sie dessen Kreativität, die Welt außerhalb des Textes mithilfe des als Metapher verstandenen Gedichts neu zu beschreiben. Die suspendierte wörtliche Referenz ermöglicht es der neuen metaphorischen Referenz, sich in die Welt des Lesers einzuschreiben und, ähnlich wie bei der Refiguration, die symbolischen Ressourcen zu erweitern. Das Sein wird metaphorisch behauptet – und behauptet sich in der Überschneidung der Welt des Gedichts mit der Wirklichkeit.43 Die Lebenswelt des Lesers wird erhoben zum Sein wie.44 Poetik und Ontologie überschneiden sich: Durch das Sein wie dieser poetischen Weltanschauung werden Defizit und Potential der Wirklichkeit sichtbar.45 Hier lässt sich die strukturelle Verwandtschaft der Mimesis und ihrer drei Ebenen mit der Metapher erkennen: Die Mimesis der Erzählung erhebt die menschlichen Handlungen über sich selbst, die Metapher tut das Gleiche mit der Sprache und erweitert so ihre Möglichkeiten zur Beschreibung von Wirklichkeit.46 So kann auch eine Wirklichkeit beschrieben werden, die sich jeder Beschreibung entzieht – wie Celan es mit seinen Gedichten versucht. Es findet ein Perspektivwechsel statt: Das Selbst sieht seine Welt nicht mehr (nur) mit seinen eigenen Augen, sondern muss die Geschichten der Anderen, die sich im Gedicht kundtun, berücksichtigen, seine eigene Geschichte phantasievoll variieren, mithin sie anders erzählen als bisher. Es wird in ein anderes Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Geschichte gesetzt und kann sich als Selbstheit (ipséité) entdecken und behaupten angesichts einer Welt, die in ihrer absoluten Negativität offenbar wird. Das Gedicht, das sich derart mit der Wirklichkeit des Lesers überkreuzt, hat damit den Charakter einer Spur – bzw. macht die je vorhandenen Spuren in der Welt sichtbar, die unerzählten, verdrängten und vergessenen Geschichten, und spricht seinem Rezipienten die Verantwortung für die Geschichte zu, die diese Spuren hinterlassen hat.
42 43 44 45 46
Vgl. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher, S. 162–165. Vgl. ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 240, S. 290. Vgl. ebd., S. 292. Vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 133.
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Eine Spur zeichnet sich phänomenologisch dadurch aus, dass sie hier, im Raum, und jetzt, in der Gegenwart, das Vorübergegangensein lebendiger Wesen anzeigt,47 also eine anwesende Abwesenheit 48 sichtbar macht, indem sie das Gewesene vertritt. Die Spur zeugt also von jemandem oder etwas, der oder das selbst nicht mehr da ist, und der oder das auch nicht direkt über diese Spur erreicht werden kann. Somit ist die Spur merkwürdig hybrid. Sie ist von einem Anderen hinterlassen, steht aber für sich selbst, da dieser Andere für immer vorübergegangen und vergangen ist. Nur seine Spur bleibt, sonst nichts. Um sich dennoch der Geschichte desjenigen anzunähern, der die Spur hinterlassen hat (wohlgemerkt: seiner Geschichte und nicht einem irgendwie substantiell gedachten Anderen), ist der Leser wieder auf die Einbildungskraft verwiesen, mit der er die anwesende Abwesenheit bezeugt, indem er das abgebrochene Vergangene in seine Geschichte aufnimmt, ohne allerdings die Nicht-Identität des ermordeten Anderen integrieren zu können. Der Leser tut dies in der Lektüre (Konfiguration → Refiguration). Der Dichter, wenn er einen Text schreibt (Präfiguration → Konfiguration). Der Dichter kann die Spur so zum Sprechen bringen – auch wenn dieses Sprechen ein gebrochenes bleibt. Das Gedicht nimmt Spuren auf und wird selbst zur Spur, die dann wiederum vom Leser bezeugt wird: Es datiert vergangene Ereignisse und variiert sie zugleich. Mit anderen Worten: Es macht die historische Zeit erfahrbar, markiert sie im Hier und Jetzt, treibt aber zugleich einen Keil in die chronologische Zeitauffassung,49 insofern es das Vergangene und Verlorene sich entfalten lässt – und dies immer wieder aufs Neue. Die Zeit des (eigenen) Lebens und Überlebens sowie die Zeit der großen historischen und linear verlaufenden Erzählung, die gemeinhin das Vergangene vergangen sein lässt, überkreuzt sich im Gedicht mit der abgebrochenen Zeit der Ermordeten und schreibt diese in die Jetztzeit ein. Damit konfrontiert es den Leser, der hier und jetzt lebt und liest, mit der Schuld gegenüber den Ermordeten: Mit ihren (gewaltsam abgebrochenen) Geschichten, mit ihrer abgebrochenen Zeit, 47 48
49
Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III, S. 192. Dieser Begriff wird auch von Axel Dunker (Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003) und von Achim Landwehr (Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt 2016) verwendet. Ich leite ihn von den Spurbegriffen Ricœurs und Jacques Derridas her (vgl. Grammatologie. Frankfurt 2016, S. 82). Eingeführt wird die Wendung allerdings bereits 1935 von Paul Ludwig Landsberg in Die Erfahrung des Todes (Berlin 2009), eine phänomenologische Analyse des Todes des Nächsten. Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III, S. 195–200.
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die er ihnen schuldet, die er also aufnehmen muss in seine Lebensgeschichte und seine Identität. Eine solche Überkreuzung der Zeiten scheint mir eine, wenn nicht die Motivation Celans gewesen zu sein.
3. Paul Celan: Der Weg durch die Fremdheit des Gedichts »Verbracht ins/Gelände/mit der untrüglichen Spur«, heißt es im Gedicht Engführung (1957/58, veröffentlicht 1959 in Sprachgitter; V. 1–3).50 Hier lässt sich durchaus an eine Spur im Sinne Ricœurs denken. Eine Spur, die eingeschrieben ist in die Dinge (hier zunächst in die Dinge innerhalb der Welt des Gedichts), die das Gras auseinanderschreibt und sich als Schatten der vereinzelten Halme über die Steine legt (V. 4–5). Untrüglich, unübersehbar ist diese Spur in ihrer Vereinzelung und Einzigartigkeit. Und sie ruft: »Lies nicht mehr – schau!/Schau nicht mehr – geh!« (V. 6–7). Sie scheint den Leser direkt anzusprechen und ihm einen Auftrag zu geben. Peter Szondi bemerkt in seiner Studie zu Engführung, dass der Leser »ins Innere des Textes versetzt«51 werde und das lesende Subjekt mit dem Subjekt des gelesenen Gedichts zusammenfalle.52 Der Leser finde sich selbst verbracht »in eine Landschaft […], wo Tod und Schatten herrschen – die Toten und ihr Gedächtnis.«53 Von dort aus wird er nun aufgefordert, nicht mehr zu lesen, sondern zu schauen und zu gehen, also mit dem Gedicht den Text zu durchschreiten, der sich weigert, »weiter im Dienst der Wirklichkeit zu stehen« und deshalb keine Repräsentation mehr ist, sondern eine eigene »[p]oetische Realität«, als die er sich selbst »entwirft und begründet.«54 Der Text als Konfiguration einer Handlungsfolge löst sich hier also von der außertextlichen Welt ab. Er löst ihren Zusammenhalt auf, insofern er den Leser auf die Geschichten der Ermordeten fokussiert und ihn, der nun durch das Gedicht geht, der innerweltlichen Chronologie enthebt. Dabei schreibt die Textur des Gedichts den Weg des Lesers vor. Das Gedicht lässt keinen Fluchtpunkt zu. Der Leser 50
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Celan, Paul: Engführung. In: Ders.: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2020, S. 117–122, hier S. 117. Die Versangaben im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe. Szondi, Peter: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: Ders: Celan-Studien. Frankfurt 2016, S. 47–111, hier S. 49. Vgl. ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52.
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geht schließlich derart in den Text ein, dass er aufhört, Subjekt zu sein. So zumindest deutet Szondi die Zeilen »du bist –/bist zuhause. […] nirgends/fragt es nach dir.« (V. 9–10, 14–15)55 Der Leser wird durch die Konfiguration aufgesaugt und de-subjektiviert. Das Gedicht ist, derart autonom und absolut, kein Sein-wie, sondern in diesem Moment die einzig mögliche Wirklichkeit, die durch keinen Vergleich relativiert werden kann. Der Leser wird mit einer Leerstelle konfrontiert, die er nicht auszufüllen vermag. Er wird schließlich selbst zu dieser Leerstelle. Die Ambiguitäten, die die Struktur des Gedichts ausmachen,56 verhindern zunächst, dass er sich wieder als Subjekt konstituiert, da sie keine abschließenden Sinnkonstruktionen zulassen. Beispielhaft steht dafür der Beginn der zweiten Partie: »Der Ort, wo sie lagen, er hat/einen Namen – er hat/keinen. Sie lagen nicht dort.« (V. 18–20) Hier zeigt sich die anwesende Abwesenheit der Ermordeten im Gedicht sowie die Problematik, das Grauen der Shoah zu benennen. Ortsnamen wie Auschwitz sind konnotiert mit diesem Grauen und tragen die Geschichten der Ermordeten unabweisbar in sich. Kein Wort, keine Benennung aber vermag es, die historische Realität auf den Begriff zu bringen, semiotisch gesprochen, Signifikant und Signifikat zur Deckung zu bringen. Das Nicht-Identische, das Namenlose, auf das jede Benennung verweist, bringt jede Identifikation ins Schwanken und ist auch noch, wie in Engführung, in der Leerstelle wirksam, die die Nicht-Benennung hinterlässt.57 So ist es auch mit der Spur, wie wir sie bei Ricœur kennengelernt haben, und die nach Jacques Derrida in ihrer Anwesenheit eine »irreduzible Abwesenheit« anzeigt, »[d]ie Abwesenheit eines anderen Hier-und-Jetzt, einer anderen transzendentalen Gegenwart, eines anderen Ursprungs der Welt […].«58 Mit anderen Worten: Von den Ermordeten bleibt nur diese Spur, die zunächst im Gedicht aufscheint, das ja selbst wiederum eine Spur in der Wirklichkeit des Lesers ist, und einen Widerstand, einen Bruch in dieser Wirklichkeit bedeutet. Nur dank dieser Spuren gibt es Gedächtnis und Eingedenken.59 Diese Erfahrung der Befremdung und der Fremdheit durch die Spur, die das Gedicht 55 56 57
58 59
Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 50. Dunker bemerkt, dass es in Engführung die Leerstellen sind, die darauf verweisen, dass »[d]er Holocaust […] in die Sprache selbst eingegangen [ist].« In Engführung »wird dann nicht mehr über Auschwitz gesprochen, sondern Auschwitz spricht gleichsam selbst; es wird Teil der Sprache und der Struktur, gerade indem die Mordtaten ›verschwiegen‹, d.h. nicht benannt werden […].« (Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 78). Derrida, Jacques: Grammatologie, S. 82. Vgl. Szondi: Durch die Enge geführt, S. 102.
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auf den Leser überträgt und so das Eingedenken motiviert, ist der Ausgangspunkt für Celans poetologische Überlegungen. Seine Gedichte sind dem ›Andenken‹, dem ›Eingedenk sein‹ verpflichtet.60 Zu Beginn seiner Bremer Rede evoziert Celan Orte, Menschen und deren Geschichten, die verloren sind – die zerstört und vernichtet wurden. Er evoziert eine Landschaft, die Bukowina, ein kulturelles Zentrum des osteuropäischen Judentums.61 Sie sind nurmehr Spuren und als solche in Celans Dichtung eingegangen. Benennung im Gedicht und faktische Abwesenheit stehen in einer Spannung zueinander, die nur im Gang durch das Gedicht aufgehoben werden kann. Unverloren indessen, so gibt sich Celan hoffnungsvoll, sei hingegen die Sprache. Die verstummte zwar und musste »hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.«62 Sie scheint also durchaus vergiftet zu sein. Jedoch ging sie »hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.«63 Die Sprache ist angereichert mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, sie ist aber auch Trägerin der deutschsprachigen jüdischen Kultur von Celans Geburtsstadt Czernowitz. Celan versucht, indem er mit der Sprache durch das Gedicht geht, seine sprachlich-kulturelle Heimat zu retten. In seinem Gedicht Die Schleuse gibt es dazu eine vielsagende Strophe: »Durch/die Schleuse mußt ich,/das Wort in die Salzflut zurück-/und hinaus- und hinüberzuretten:/Jiskor.«64 Jiskor ist die Jussiv-Form des hebräischen Verbs zakhor, also ganz eindeutig ein Befehl oder eine inständige Bitte: Er möge gedenken/eingedenk sein. Das Eingedenken ist das Wort, das durch die Schleuse, die Engführung der angereicherten Sprache, gerettet werden soll und in dem andere Worte und Geschichten gerettet sind. Das Eingedenken ist eine Versöhnung mit den Ermordeten und schließlich mit sich selbst durch das Gedicht. Mit dem Gedicht und im Gedicht betreibt Celan »Toposforschung«, er sucht in ihm »den Ort meiner eigenen Herkunft.«65 Das Durchschreiten des Gedichts und die Suche nach Orten und Menschen in ihm 60
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Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Dritter Band. Gedichte III. Prosa. Reden. Herausgegeben von Beda Allemann. Frankfurt 1992, S. 185–186, hier S. 185. Im Folgenden zitiert als Bremer Rede. Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Ebd. Celan: Die Schleuse. In: Ders.: Die Gedichte, S. 135. Celan: Der Meridian, S. 12.
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werden zu einer utopischen Unternehmung, da der Ort Celans Herkunft – die in der Bremer Rede beschworene Landschaft – geographisch wie kulturell vernichtet ist. Celan betreibt Toposforschung »im Lichte der U-topie.«66 So sind die Anderen, die Ermordeten, ihre Geschichten und Orte in den Versöhnungsprozess eingebunden. Das Gedicht ist ein Dialograum, in dem ein Gespräch mit jenen stattfinden kann, die außerhalb des Gedichts zum Schweigen verurteilt sind, weil sie dort nicht mehr existieren. Das Gedicht tritt dem Schreibenden und Lesenden als Du entgegen. Es bringt sein Anderssein mit.67 Und mehr noch: »Noch im Hier und Jetzt des Gedichts […], noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.«68 Celan beschreibt das Gedicht als Spur. In ihm entfaltet sich die Zeit des Anderen, es weist auf diesen in der Welt abwesenden Anderen hin, gibt ihm seinen Raum und seine Zeit, lässt im Hier-undJetzt – dem Moment des Schreibens oder Lesens – ein anderes Hier-und-Jetzt mitsprechen. Die Freisetzung des Anderen im Gedicht nennt Celan »Atemwende«.69 Sie beginnt mit einem »furchtbare[n] Verstummen«, das »den Atem und das Wort« verschlägt.70 Dies ist der Moment, in dem die poetische Realität des Textes als einzig mögliche Wirklichkeit Geltung beansprucht, der Moment, in dem das schreibende oder lesende Subjekt vollkommen im Text aufgegangen ist, be- und entfremdet von sich selbst.71 Es tritt zugunsten des Anderen zurück. Zeit und Raum des Gedichts sind in ihrer Absolutheit »das Inkommensurable des Anderen«,72 das sich jedem Vergleich mit innerweltlich Seiendem entzieht, da die Brücken zu diesem Seienden für den Moment abgebrochen sind. Deshalb nennt Celan nicht nur den Anderen, sondern auch den ganz Anderen, in dessen Sache das Gedicht spreche.73 Hiermit mag er zu verstehen geben, dass sich der Andere nicht festhalten lässt, dass sich seine Anwesenheit im Gedicht immer wieder in die Abwesenheit zurückzieht und er nur in diesem Rückzug überhaupt anwesend sein kann. Die Brücken der Versöhnung verbinden Fragmente miteinander und müssen immer wieder neu gebaut und beschritten werden. Dennoch gibt Celan der verhaltenen 66 67 68 69 70 71 72 73
Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 9–10. Ebd., 7. Atemwende ist auch der Titel des Gedichtbands von 1967. Ebd., S. 7. Vgl. ebd. So Celan in Notizen zur Meridian-Rede (ebd., S. 141). Vgl. ebd., S. 8.
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Hoffnung Ausdruck, dass »vielleicht […] sogar ein Zusammentreffen dieses ›ganz Anderen‹ […] mit einem nicht allzu fernen, einem ganz nahen ›anderen‹ denkbar – immer und wieder denkbar [ist].«74 Dieses Zusammentreffen geschieht dann – immer wieder und immer einmalig – in der »Atempause«,75 aus dem Verstummen des lesenden Subjekts heraus, das sich, für den Moment, in Hoffnung verwandelt. Aus seiner Absolutheit drängt das Gedicht nun seinerseits zu einem Anderen als sein Gegenüber. Es baut die abgebrochenen Brücken wieder auf: »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.«76 Hier beginnt gewissermaßen die Refiguration: Aus dem Gedicht heraus aktualisiert sich die Sprache.77 Mit dieser aktualisierten Sprache – der vom Gedicht ›angereicherten‹ Sprache – kehrt das Ich, welches sich ins Gedicht entäußert hatte, zu sich zurück. Durch Auflösung und Rekonstituierung des Ich ist dieses nun in der Lage, im Sinne der ipséité, sich selbst und seine Wirklichkeit anders wahrzunehmen und neu zu beschreiben. Es ist, durch die Fremdheit des Gedichts hindurch, freigesetzt. Es kann sich nun besser verstehen als zuvor und seine Wirklichkeit mit anderen Augen betrachten. Die Atemwende besteht also aus drei Schritten: 1) Der Atem stockt, das Gedicht verschlägt den Atem: Das Ich, als das der Leser an das Gedicht herantritt, wird befremdet und frei von sich selbst. Die absolute Fremdheit des Gedichts befreit vom je Eigenen und setzt damit eigentlich erst die Potentiale der Person frei, die nur dann umkehren und eine andere Perspektive einnehmen kann, wenn sie von sich selbst frei wird. 2) Atempause: Nun kann auch das Gedicht in den Augen des Rezipienten für sich selbst stehen, »in seiner eigenen, allereigensten Sache«78 sprechen, die die Sache des ganz Anderen, also der Ermordeten ist. Das Gedicht wird in diesem Sinne absolut, zumindest für einen kurzen Moment: Seine
74 75 76 77 78
Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 9. Vgl. ebd. Ebd., S. 8.
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Wirklichkeit wird zur einzig möglichen Wirklichkeit. Der direkte Weltbezug wird aufgeschoben, wie wir bei Ricœur gesehen haben. Das Subjekt ist gänzlich ins Gedicht eingegangen. 3) Der Atem ändert seine Richtung: Das Ich kehrt aus dem Gedicht zu sich selbst zurück; mit dem Fremden sozusagen als Gepäck. Dieses Ich hat sich im Gedicht konstituiert, d.h. seine Identität verändert. Jetzt ist der Bezug zur Außenwelt wiederhergestellt: Der Meridian, der in das Gedicht führte, wendet sich nach außen und wird wieder zu einem Anfang,79 insofern das Gedicht nun in der Welt anfängt zu wirken. Das Bild des Meridians beschreibt also die Bewegung eines Neuanfangs aus dem Gedicht heraus: Eine Neubeschreibung der Wirklichkeit sowohl des Dichters als auch des Lesers durch das Gedicht. Das Fremde des Gedichts führt zum Eigensten,80 zur Selbstheit (ipséité). Die »untrügliche[…] Spur«81 ist die des Anderen, der ich folgen muss, um mir selbst zu begegnen und meine Geschichte vollständig erzählen zu können. Dies gilt für Celan als Überlebenden, aber auch für alle, die seine Gedichte lesen. Die sich im Gedicht entfaltende Welt verpflichtet uns, jene Toposforschung zu betreiben, die die verlorenen Orte und ermordeten Menschen wieder zusammenführt, auch wenn diese Arbeit prekär bleibt. Das Gedicht als Ort des Eingedenkens beansprucht mit der Atemwende über seine Textualität hinaus Geltung und Wirksamkeit. Wie also lassen sich durch das Gedicht die einzigartigen Geschichten der Menschen, die sich in ihm entfalten, hineinschreiben in die Welt außerhalb des Textes? Wie können die Spuren in der Welt, d.h. in unserer Alltagswirklichkeit, auf die das Gedicht, das selbst Spur ist, hindeutet, sichtbar gemacht werden? Ricœurs Theorie der lebendigen Metapher zeigt eine Möglichkeit auf. Die lebendige Metapher erhebt die Sprache über sich selbst und erweitert so ihre Möglichkeiten zur Beschreibung von Wirklichkeit (s.o.). Die Bilder, die Celan verwendet, sind lebendige Metaphern im Sinne Ricœurs. Wenn Celan nun die Verwendung von Metaphern zurückweist,82 so bezieht sich seine Kritik auf ›tote‹ Metaphern, deren symbolische Ressourcen erschöpft sind, die also lediglich ein Wort für das andere setzen. In Celans
79 80 81 82
Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 11. Celan: Engführung, S. 117 (V. 3). Vgl. Celan: Der Meridian, S. 10.
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Notizen ist zu lesen: »Wer nicht mittragen will, spricht von Metaphern –«83 Demgegenüber sind lebendige Metaphern also solche, die nicht übertragen werden können, sondern mitgetragen werden müssen in all ihrer Unerträglichkeit. Mittragen auf Seiten des Lesers heißt, die Macht des Gedichtes über die eigene Welt zuzulassen und durch die eigene schöpferische Einbildungskraft zu unterstützen. Mithin die Wirklichkeit von der Dichtung durchdringen zu lassen. Was dies bedeuten kann, gibt das Gedicht Hüttenfenster zu verstehen (veröffentlicht 1963 in Die Niemandsrose): Das Aug, dunkel: als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den WanderOsten, die Schwebenden, die Menschen-und-Juden, das Volk-vom-Gewölk, magnetisch ziehts, mit Herzfingern, an dir, Erde: du kommst, du kommst, wohnen werden wir, wohnen, etwas – ein Atem? ein Name? – geht im Verwaisten umher, tänzerisch, klobig, die Engelsschwinge, schwer von Unsichtbarem, am wundgeschundenen Fuß, kopflastig getrimmt vom Schwarzhagel, der auch dort fiel, in Witebsk, […]84 Die Parallelisierung von »Aug, dunkel« mit »Hüttenfenster« (V. 1–2) und dem, was das Auge als Hüttenfenster ›tut‹, nämlich Sammeln, wie es in den folgenden Versen beschrieben wird, bewirkt eine Kollision semantischer Felder und 83 84
Ebd., S. 158. Celan: Hüttenfenster. In: Ders.: Die Gedichte, S. 161–163, hier S. 161–162.
Fremdheit und Versöhnung
generiert einen Sinnüberschuss.85 Die Termini passen zunächst nicht zueinander. Ein Auge ist kein Hüttenfenster. Die metaphorische Aussage ist also zunächst eine semantische Impertinenz, sie fällt aus den gewohnten Sinnbezügen heraus,86 ihre wörtliche Bedeutung, die ihr Korrelat in der Lebenswelt des Lesers findet, wird suspendiert. Die Atemwende setzt ein, das Gedicht verstummt, es ist absolut losgelöst von der Wirklichkeit außerhalb. Der Leser muss nun durch das Gedicht schreiten, er muss selbst zum Auge werden, das als Hüttenfenster »sammelt,/was Welt war, Welt bleibt […].« (V. 2–3) Er muss innerhalb der Welt des Gedichts einen Sinn generieren, der Gültigkeit beanspruchen kann, der also ins Gedicht ›passt‹. Erst wenn er derart das gesamte Gedicht durchschritten hat, kommt er wieder zu sich selbst, beladen mit der im Gedicht aktualisierten Sprache, die nun auch zu seiner Wirklichkeit wird – und diese aus dem Gedicht heraus aktualisiert, d.h. neu beschreibt. Derart schreibt er die Wirklichkeit des Gedichts in seine Wirklichkeit ein – das, was Ricœur Refiguration nennt. Die untergegangene Welt des osteuropäischen Judentums, die sich im Gedicht entfaltet und von ihm aufgehoben wird (was Welt war, bleibt dort, im Gedicht, auch Welt), beansprucht auch jenseits des Gedichts ihren Platz. Das Gedicht gibt den Weg vor: »du kommst, du kommst,/wohnen werden wir, wohnen, etwas/– ein Atem? ein Name? –/geht im Verwaisten umher […].« (V. 10–13) Die Erde, die hier mit »du kommst« angerufen wird, legt eine eschatologische Interpretation nahe: Die (neue) Erde kommt erst noch. Dort haben auch die Ermordeten als Auferstandene ihren Platz, dort werden sie wohnen. Doch etwas oder jemand (»ein Atem? ein Name?«) geht auch heute schon »im Verwaisten umher […].« Die Namen und ihre Geschichten sind noch da, sie sind Leerstellen im Verwaisten, auf die das Gedicht hindeutet und für die nun auch der Leser, der aus dem Gedicht in seine Lebenswelt zurückgekehrt ist, einstehen kann. Er kann sie zum Teil seiner narrativen Identität machen, indem er die Leerstellen offenhält und auf die Abwesenheit der Ermordeten in der Gegenwart hindeutet: Sie fehlen, aber sie sprechen mit durch das Gedicht und eben auch über das Gedicht hinaus, welches als Konfiguration von Handlungen und Geschichten durch die Refiguration auf die prä-narrative Ebene des unmittelbaren Erlebens zurückwirkt, sodass dieses wiederum unter Einbeziehung fremder Perspektiven weitererzählt werden kann. Das Auge des Lesers wird zum Geschichten sammelnden Hüttenfenster. Es sieht die Trümmer, sieht, »was Welt war, Welt 85 86
Vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 116–117. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 226.
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bleibt« (V. 3) und sprengt das nun Verwaiste aus dem homogenen Verlauf der Geschichte heraus, indem er nach dem Atem und dem Namen fragt (V. 12). Das Verwaiste – in etwa die ehemaligen Wohnhäuser der Verfolgten und Ermordeten – wird von der unterdrückten Vergangenheit erfüllt, von dem, was sich »auch dort […] in Witebsk« (V. 20) ereignete.87 Dies geschieht nicht einfür-alle-Mal, sondern immer wieder und immer einmalig: Der ganz Andere, das Nicht-Identische, bleibt uneinholbar, zieht sich ins Verstummen zurück und lässt den Atem stocken, der dann seine Richtung ändern muss und aus der Begegnung in die Einsamkeit entlassen wird, um neue Begegnungen suchen und eingehen zu können. Der Leser trägt das Gedicht mit seinem Dasein und macht es zum Teil seines Daseinsentwurfs, der ihn vom Sprechen durch das Verstummen hin zur im Eingedenken aktualisierten Wirklichkeit führt. Er fügt, soweit ihm dies möglich ist, die fragmentierten Geschichten zusammen, die jedoch immer wieder auseinanderstieben. Eingedenkend lebt er den Gedichten nach und bewährt und bezeugt deren Wahrheit.88 Im Dialog mit dem Gedicht schafft er ansprechbare Wirklichkeiten,89 in denen die Ermordeten noch etwas zu sagen haben.
Bibliografie Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt 2017. Améry, Jean: An den Grenzen des Geistes. In: Ders.: Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 23–54. Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Ders: Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 86–117.
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Im Gegensatz zu Engführung nennt Celan hier einen konkreten Ortsnamen. Die Wirkung auf den Leser ist jedoch m.E. ähnlich, insofern die Nennung von Witebsk zurückgebunden ist an jene, deren Namen nicht mehr genannt werden können (V. 12), also ebenfalls auf die Abwesenden verweist und zur Spur wird. »Gedichte sind ja irgendwo auch ein Wiedererinnern, manchmal sogar ein Vorerinnern. Und bei diesem Vorerinnern, wenn ich das Wort gebrauchen darf, lebt man den Gedichten irgendwie nach. Damit sie wahr bleiben.« Celan, Paul: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bernhard Badiou. Frankfurt 2005, S. 191. Vgl. Celan: Bremer Rede, S. 186.
Fremdheit und Versöhnung
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders: Gesammelte Schriften. Band I,2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt 1991, S. 691–704. Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Dritter Band. Gedichte III. Prosa. Reden. Herausgegeben von Beda Allemann. Frankfurt 1992, S. 185–186. Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung Vorstufen Materialien. Herausgegeben von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull. Frankfurt 1999. Celan, Paul: Die Schleuse. In: Ders: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2020, S. 135. Celan, Paul: Engführung. In: Ders.: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2020, S. 117–122. Celan, Paul: Hüttenfenster. In: Ders.: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2020, S. 161–163. Celan, Paul: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bernhard Badiou. Frankfurt 2005. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt 2016. Derrida, Jacques: Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare. Wien 2018. Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003. Grätzel, Stephan: Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive. Göttingen 2004. Grätzel, Stephan: Versöhnung. Die Macht der Sprache – Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs. Freiburg 2018. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand hg. und kommentiert von Elke Fröhlich. Stuttgart 2018. Landsberg, Paul Ludwig: Die Erfahrung des Todes. Herausgegeben, mit einer Einleitung und einem Nachwort versehen von Eduard Zwierlein. Berlin 2009. Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt 2016.
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Marten, Dennis: Schuld und Sprache. Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n). Baden-Baden 2022. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München 1996. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher. München 1986. Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hamburg 2005. Ricœur, Paul: Was ist ein Text? In: Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Hamburg 2005, S. 79–108. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung. München 1988. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit. München 2007. Steiner, George: Das hohle Wunder. In: Ders.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Berlin 2014, S. 155–176. Szondi, Peter: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: Ders: Celan-Studien. Frankfurt 2016, S. 47–111. Traverso, Enzo: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah. Hamburg 2000.
Unversöhnlichkeit aus Solidarität Poetiken nach Auschwitz von Ilse Aichinger und Lisa Fittko Anna-Katharina Gisbertz
1. Einleitung Der Ruf nach Solidarität ist in den letzten Jahren lauter geworden.1 Der vorliegende Beitrag widmet sich daher zwei Autorinnen und ihren Werken, die sich mit Formen der Solidarität auseinandersetzten und eine Vorbildfunktion in der deutschen Erinnerungskultur erfüllt haben: Ilse Aichinger und Lisa Fittko. Die Textauswahl bezieht sich auf ihre Publikationen aus den 1980er Jahren, in denen sie sich den Erinnerungen an den Nationalsozialismus aus der Perspektive des Widerstands gestellt haben. Für beide gilt, dass sie für die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust erst eine Sprache haben finden müssen, die sich von der Sprache des Dritten Reiches abhob und sie verweigerte.2 Während sich Ilse Aichinger schon seit den 1960er Jahren um einen präzisen Ausdruck des Gewesenen bemühte, schrieb Lisa Fittko erst ab den 1980er Jahren für die Öffentlichkeit. Beide fanden auch in dem Jahrzehnt Gehör, in dem Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, also 40 Jahre nach dem Kriegsende, eine Wende in der Erinnerungskultur eingeleitet hatte. Der Bundespräsident appellierte an die Erinnerung als eine Mahnung, die Anfänge von 1933 in Erinnerung zu behalten und das Kriegsende entsprechend 1
2
Vgl. Ahmad Mansour: Solidarisch sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass. Frankfurt a.M. 2020; Gesine Schwan: Allein ist nicht genug. Für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit. Freiburg 2007; Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt a.M. 2009; Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M. 2001; Erhard Eppler: Eine solidarische Leistungsgesellschaft. Epochenwechsel nach der Blamage der Marktradikalen. Bonn 2011. Vgl. Barbara Breisach: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen 2005, S. 17.
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als Tag der Befreiung von Hitler zu betrachten.3 Er entfachte damit einen breiten Diskurs über die Opfer und den Widerstand gegen Hitler. Beide Autorinnen beziehen sich im Zuge der Neuordnung der Geschichte auf die Verfolgung und Vernichtung der Juden. Und beide legen großen Wert auf soziale Bindungen, die sie in die Vergangenheit und die Gegenwart führen. In ihren Texten entwickeln sie Formen des Miteinanders, die mit dem Begriff der Solidarität erfasst werden können. Dabei bezieht sich das Miteinander bei Aichinger auf die Gemeinschaft mit ihren Familienangehörigen, die in der Shoah ermordet wurden. Bei Fittko ist die Gemeinschaft der Kämpfer*innen gegen den Nationalsozialismus im politischen Sinn gemeint, die auch als Appell an die Zukunft wirkt. Mit diesen Formen des Miteinanders vermitteln die Autorinnen moralische Haltungen, die in der Gesellschaft – spätestens seit den 1980er Jahren – Anerkennung finden, obwohl sie sich gegen das Paradigma einer Täter-OpferVersöhnung richten. Beide Autorinnen weisen durch ihren Fokus auf soziale Bindungen zu den Opfern und zum Widerstand unterschiedliche, neue Wege im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs auf. Wenn sie sich unversöhnlich zeigen, richten sie sich nicht gegen bestimmte Menschen oder Gruppen, sondern gegen antisemitisches Verhalten und die Zumutungen der Geschichte.
2. Den Schmerz schreiben – Ilse Aichingers späte Prosa Ilse Aichinger veröffentlichte nach einer langen Schaffenspause 1987 den Band Kleist, Moos, Fasane mit Kürzestprosa und Aufzeichnungen zwischen 1950 und 1985. Die Titelgeschichte führt gleich zu Beginn in die Vergangenheit. Das erzählende Ich erinnert sich an die Küche der Großmutter als Ort der vollkommenen Freude, an dem Freundinnen bei süßen Speisen und durch hoffnungsfrohe Gespräche zusammenfanden. Der Ort bildet einen Mittelpunkt, der auf der einen Seite den Blick auf die Kirche freigibt und auf der anderen Seite auf das Krankenhaus hinweist – Wege, die dem Kind vertraut sind. Die Erzählerin hält über die Erinnerung an den Ort fest: »Die Kräfte der Kindheit hielten die Welt zusammen.«4 Das Ich teilt die dort verbrachte Zeit auch in Lichtverhältnisse ein, die vom einheitlichen Vormittag in den zerfallenden Nachmit-
3 4
Richard von Weizsäcker: Erlösung heißt Erinnerung. 08. Mai 1985. https://zeithistorisc he-forschungen.de/1-2015/5177 (zuletzt abgerufen am 08.03.2021). Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a.M. 1987, S. 9. [Nachfolgend im Fließtext abgekürzt unter der Sigle »KMF« mit Angabe der Seitenzahl.]
Unversöhnlichkeit aus Solidarität
tag wechseln und den Mittag in eine sehr lange Zeit verwandeln: »Die Hitze umfing uns, der Mittag, der lange, unzerbrechliche Sommer.« (KLM 12) Vom Sommer geleitet, schweift die Erinnerung zur Beerensuche auf dem Land, die als Zeitlosigkeit erlebt wird. Zeitlos ist diese Erinnerung, weil nicht klar ist, ob das Ich sich selbst an Erlebtes erinnert oder ob es nicht vielmehr umgekehrt der Fall ist, dass sich die Dinge in einer zeitlosen Ewigkeit ereignen und das Ich von einer Wiederholung allen Geschehens erzählt, an dem es zu einer bestimmten Zeit einmal teilhat.5 Diese Zeitlosigkeit, die zugleich als paradiesisch erträumt wird, wird analog durch den Blick in Milchkannen und ihre rosigen Schatten dargestellt, die sich zu einem überzeitlichen Bild formen: »Die Welt war darin geordnet wie auf den Tafelbildern der verlassenen Kirchen in den Tälern, Spinnen und Heilige hatten Platz darauf, und alle vertrugen sich.« (KMF 13) Dieses Bild verdichtet sich weiter zur Phantasie einer stillen Stunde, die »aus der Zeit gehoben« erscheint. (KMF 13) Die letzten beiden Absätze rufen erst die Zeitlichkeit zurück in die Erinnerung, verdeutlichen aber auch »die Unaufhörlichkeit der frühen Zeit.« (KMF 14) Aichinger belässt es mit dem Blick auf die Milchkannen allerdings nicht bei einer süßen Kindheitserinnerung, sondern es geht ihr, wie bei der weiteren Lektüre deutlich wird, um den ungeheuren Versuch, den rosigen Schatten der Kindheit ein Glück abzutrotzen, das auch in die Dunkelheit der Verfolgung und Vernichtung ihrer Angehörigen hinein Bestand hat. Denn das erzählende Ich hofft am Schluss, dass die Sterbenden in der Schoah der Geruch der Beeren umgab und »die Dunkelheit […] dem wunderbaren Schatten in den Kannen ähnlich ist.« (KMF 14) Diese Erinnerungen bleiben in der sprachlichen Verdichtung folglich Aichingers Angehörigen verpflichtet: »Sie verleiht in scharfen Erinnerungsbildern ihrer Verbundenheit mit ihren im Holocaust ermordeten Verwandten Ausdruck […].«6 Vor allem bildet die jüdische Großmutter einen festen Bezugspunkt ihres Schreibens, die vor ihren Augen auf einen Viehtransport geladen und abtransportiert wurde.7 Sie kam nach Minsk und wurde dort 1942 ermordet. Der Schrecken dieser Trennung wird erstmals in Aichingers 5 6
7
Anna-Katharina Gisbertz: Tag, Stunde, Zeit. In: Ilse Aichinger Wörterbuch. Hg. v. Birgit Erdle u. Annegret Pelz. Göttingen 2021, S. 258–262. Dagmar C. G. Lorenz: »Die leicht abhanden kommende Genauigkeit im Bereich der Literatur und die zunehmende Schärfe der Erinnerung«: das Bild der Großmutter bei Ilse Aichinger. In: Ilse Aichinger: »Behutsam kämpfen«. Hg. v. Irene Fußl u. Christa Gürtler. Würzburg 2012, S. 53–66; hier S. 55–56. Vgl. Ilse Aichinger: Wien 1945, Kriegsende. In: Dies.: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt a.M. 2001, S. 56–64.
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Roman Die größere Hoffnung aufgegriffen und in weiteren Texten variiert und wiederholt. Darin sah man eine Traumaarbeit am Werk, die sich um die »Konstruktion alternativer Welten« bemüht.8 Auch in Kleist, Moos, Fasane kehrt das Moment der Deportation in mehrfachen Verdichtungen wieder. Gleich in der zweiten Geschichte Vor der langen Zeit wird die Frage aufgeworfen, ob das Leiden nicht doch zu etwas gut sein könne, ob nicht der Schmerz der Freude diene. Gefragt wird genauer, ob das Weihnachtsfest nicht wieder zum Tragen kommen könne. Damit ist ein lebengebender Augenblick in seiner Fülle gemeint, der auch einen Ausgleich zwischen äußerster Bedrängnis und äußerster Geborgenheit schaffen kann: »Aber vielleicht, […] daß die späteren furchtbaren und oft ohne Trost durchstandenen Leiden so vieler der kurzen und ebenso ungeschmälerten Freude dieses Festes zu Hilfe kamen.« (KMF 18) Die Erzählerin denkt an die Wohnung ihrer Großmutter zurück, an der die Bahnlinien vorbeifuhren, die wenig später den Deportationen dienten. Dort hatte sie zum letzten Mal als Kind Weihnachten erlebt. Diese kindliche Freude sieht sie erst dann wiederkehren, wenn sich der erfahrene Schmerz auch durch Freude aufwiegen lässt, wenn damit also auch die Schulden vom »ungetrösteten und ungestillten Schmerz aller Jahrtausende« abgetragen werden. (KMF 18) So verschiebt sich die Erfüllung in eine künftige Möglichkeit, die aber dennoch lange auf sich warten lässt. Denn die Verzweiflung über die Schoah verdunkelt den Tag und lastet schwer über dem Schreiben. Die Verbundenheit zu den verstorbenen Angehörigen bleibt das Wichtigste, sodass auch kein Trost gewünscht wird, der die Bindungen lösen könnte und die Toten ins Vergessen verbannt. In einer Notiz von 1962 heißt es: »Ich kann nicht getröstet leben.« (KMF 65) So bildet die Suche nach Entlastung vom Schmerz zwar immer neue Rettungsringe in Aichingers Werk, um Sinnlosigkeit und Verzweiflung mit Widerstand zu begegnen – sie halten aber nicht lange stand. Das erzählende Ich begibt sich an Orte, die mit Hoffnung und Sinn verbunden sind. Andernfalls verliert sich der Realitätssinn vor dem erlebten Grauen, sodass man sich fragen muss, ob es wahr war. »Hatten sie jemals existiert, diese Bewohner?« (KMF 25), fragt das Ich etwa im jüdischen Ghetto Wiens nach vielen Jahren, in denen die Spuren getilgt wurden. Hier bleiben die Erinnerungen an die Orte gebunden und wirken auch von dort aus: »Wo sie [die Ghettobewohner, Anm. A.-K. G.] Hilfe und im inneren Sinn Rettung gefunden hatten, fand sie auch die Erinnerung. Ich sah uns wieder an der alten Kirchenmauer lehnen […]« 8
Lorenz: »Die leicht abhanden kommende Genauigkeit«, S. 61.
Unversöhnlichkeit aus Solidarität
(KMF 25). Erinnert wird die Hilfsstelle der katholischen Kirche, die das Gefühl von Schutz und Geborgenheit vermittelte und die Möglichkeit einer anderen Existenz bewahrt hatte. »Angst und Verlassenheit […] wurde hier verwandelt. Von Weihnachten begonnen wurde jedes Fest sich selbst wiedergegeben und stand neu aus den Schatten auf.« (KMF 26) Vergleichbare Hoffnungsfunken springen auch vom seinerzeit ausgehängten Fahndungsplakat nach der Weißen Rose über. (KMF 28) Sie zeigen sich im Augenblick der Erinnerung, die so einerseits auch eine Hoffnung enthält. (KMF 78) Andererseits aber werden diese Hoffnungen in Sinnlosigkeit aufgelöst, sodass die Spannung dieser Prosa in einem fortwährenden Wechsel aus Hoffnung und Depravation besteht. 1977 heißt es verzweifelt: »Nichts, was auch nur im entferntesten an Rettung erinnert.« (KMF 78) In Kleist, Moos, Fasane suchen die kurzen Texte genau wie die Straßennamen, die der Titel aufgreift, nach einem Netz, das das Zufällige in eine Landkarte verwandelt und die Linien als Wege und Ziele erkennbar macht. Wo der Irrsinn der Verfolgung und Ermordung der Juden das verzweifelte Ich mit sich konfrontiert, das eine Antwort sucht, wird die Verantwortung einer anderen Instanz überlassen, die vielleicht mehr weiß – das sind zufällige Namen, Orte, Erinnerungen oder auch Dinge aus früherer Zeit. So wird der Glaube an Sinnhaftigkeit nicht aufgegeben, aber auch nicht selbst gefunden. Eher mag jener Schiffskoffer den Zusammenhang der Wirren kennen, die mit dem Wechsel von Quartier zu Quartier ab 1939 beginnen: »Der Schiffskoffer war hell und innen grau ausgelegt. […] es scheint mir immer noch, als wüßte er mehr als ich. Über den 1., 2. und 3. September 1939 und alle andern Tage.« (KMF 23) Festzuhalten ist über das schreibende Ich, dass es aus der empfundenen Nähe zur ermordeten Großmutter und den Angehörigen den Antrieb zum Schreiben gewinnt. Mit ihnen teilt es einen Moment der Unzugehörigkeit, die auch als »Poetik des Exils« gedeutet wurde.9 Es sei der Anspruch, »sich im Leben und im Schreiben dauerhaft in einer Position des Dazwischen aufzuhalten und sich jeglicher Form der Vereinnahmung zu verweigern.«10 Indem die Autorin in ihren Werken eine Antwort auf Sinn und Erlösung offenlässt, bleibt auch die Vernichtung der Juden als Thema eine offene Frage. Das Wachhalten des Schmerzes bildet Aichingers Schreibprogramm. Es ist zugleich der Preis
9
10
Vgl. Barbara Thums: Grenzräume des Schreibens – Blitzlichter des Erinnerns: (Dis-)Kontinuitäten in der Poetik Ilse Aichingers. In: Ilse Aichinger: »Behutsam kämpfen«. Hg. v. Irene Fußl u. Christa Gürtler. Würzburg 2013, S. 35–51; hier S. 51. Ebd.
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für eine Sprachautonomie, die entweder von der Selbstauslöschung ausgeht oder von der Erinnerung als Widerstand. Das Schweigen und Zuhören gehören zu den wesentlichen Merkmalen dieses Erinnerns. Es gibt im Grunde kein echtes Dazwischen, sondern nur ein Entweder-Oder; entweder den eigenen Tod oder den Widerstand gegen das Vergessen: »Schreiben kann man wie Beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen. Dann ist es das Leben selbst.« (KMF 38) Schreiben und Leben werden hier gleichgesetzt. Zentral ist dafür der Bindungscharakter ihres Schreibens, der die Kraft zum Widerstand und das Wachhalten der Wunde gibt. Aichingers Schreiben ist der Erinnerung an ihre ermordeten Verwandten verpflichtet. Dieses Schreiben steht repräsentativ für die vielen Opfer, die sich selbst nicht mehr äußern können. Ihr Widerstand richtet sich nicht gegen eine bestimmte Person, sondern macht die Unmöglichkeit einer Versöhnung deutlich. Ihre Texte fordern dazu auf, die Shoah nicht zu vergessen. Aus der Kraft, mit der die Erinnerung an die Großmutter und die ermordeten Angehörigen immer wiederkehrt, kehrt auch die Einsicht in die Unfassbarkeit des Geschehenen wieder. Die Leserschaft, die Einblick in Aichingers Schreiben zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Widerstand erhält, wird mit ihrem Leben und Schreiben als unmissverständliche Alternative zur Selbstaufgabe im Tod konfrontiert.
3. Kollektive Wahrheitssuche in Lisa Fittkos Prosa Eine ganz andere Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Ideologie, die jedoch ebenfalls aus sozialen Bindungen ihre Kraft schöpft, findet die Widerstandskämpferin Lisa Fittko. Aus einem linksliberalen Elternhaus stammend, verlegte ihr Vater die Zeitung Die Waage in Wien, die er angesichts des Hitler-Terrors in Wage! umbenannte. In Berlin schloss sich Fittko dem Sozialistischen Schülerbund an. Ihr älterer Bruder Hans war ebenfalls politisch aktiv. Die Autorin war schon als Schülerin an Aktionen in Berlin beteiligt, unter anderem am »Blutmai« 1929, dem sie nur knapp mit dem Leben entkam.11 Als die Eltern nach der Machtergreifung nach Prag flohen, wollte sie zunächst aus Solidarität bleiben – »gerade jetzt sollte
11
Vgl. dazu Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. München 1989 [1. Aufl. 1985], S. 9. [Der Titel wird nachfolgend unter der Sigle »MWP« und Angabe der Seitenzahl im Fließtext angegeben.]
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ich den Kampf aufgeben, meine Kameraden im Stich lassen?«12 Mit hunderttausend Berliner*innen hatte sie gegen den drohenden Faschismus noch im Lustgarten demonstriert. Beim Fackelzug 1933 erkannte sie die große Macht der Gegnerschaft: »Es wird große Opfer kosten. Aber Angst dürfen wir jetzt nicht haben, Angst lähmt, und man muß jetzt unsere Stimmen hören.«13 Diese Stimmen werden fünfzig Jahre später wieder hörbar, nachdem Gershom Scholem Fittko gebeten hatte, ihre Fluchthilfe für Walter Benjamin schriftlich niederzulegen. Ihr Bericht war ursprünglich in englischer Sprache verfasst und erschien 1982 in deutscher Übersetzung im Merkur.14 Aus dem Artikel entstand ihr Buch, das 1985 im Hanser Verlag unter dem Titel Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41 veröffentlicht wurde und ein großes Echo auslöste. Die Darstellung ihrer Flucht aus Paris in Frankreichs Süden, die Internierung im Lager Gurs und ihre Ausreiseversuche aus Marseille sowie die eigene Fluchthilfe, die Fittko gemeinsam mit ihrem Mann über die Pyrenäen organisierte und Hunderten das Leben rettete, führte zu mehreren Auszeichnungen. Dazu gehörte der Preis als »Bestes Politisches Buch des Jahres.« Der Mut zum Handeln hatte eine Vorbildfunktion. »Dieses Buch, so voller Leben und Tod, kann man gar nicht genug – vor allem jungen Lesern mit auf ihren Weg geben,« schrieb die Presse.15 »Denn es zeigt, unaufdringlich und beispielhaft zugleich, wofür sich das Wagnis des Lebens lohnt.«16 Jürgen Habermas meinte zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, Fittkos Erinnerungen gehörten zu den gewissen Büchern, »hinter denen eine der Weißen Rose
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Ebd., S. 10. Lisa Fittko: Solidarität unerwünscht. Erinnerungen 1933–1940. München, Wien 1992, S. 10. [Der Titel wird nachfolgend im Fließtext unter der Sigle »Su« und Angabe der Seitenzahl abgekürzt.] Vgl. dazu den Hinweis im Buch von Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen, S. 4. Die Übersetzung übernahm Christoph Groffy im Merkur 403, 1982. Franz Loquai: Traum von Frieden und Freiheit. Lisa Fittkos Erinnerungen an den antifaschistischen Widerstand. In: Fränkischer Tag (04.10.1985) o.S. Siehe weitere Erläuterung zu Fittkos Leben und Taten bei Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen: die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940–41. Hg. u. mit einem Anhang versehen v. Wolfgang D. Elfe u. Jan Hans. München 1986; Montserrat Bascoy Lamelas: Eine Geschichte von Opfern und Helden. Lisa Fittkos Autobiographie Mein Weg über die Pyrenäen (1985). In: Beststeller – gestern und heute. Ein Blick vom Rand zum Zentrum der Literaturwissenschaft. Hg. v. Albrecht Classen u. Eva Parra-Membrives. Tübingen 2016, S. 56–66. Loquai: Traum von Frieden und Freiheit.
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würdige Lebensgeschichte steht.«17 Fittko las in Bibliotheken und an Schulen, wo sie für Deutsche und Juden gleichermaßen ein Beispiel für den Widerstand gegen Hitler gab. Als jüdische Widerstandkämpferin konnte sie einen Ausweg aus der »negativen Symbiose« weisen, die Deutsche und Juden als Täter und Opfer verband.18 Denn Fittko zeigte, dass aktiver Widerstand unter Lebensgefahr möglich war und auch stattgefunden hat. Auf den Erfolg ihres Debuts folgte sieben Jahre später ihr zweites Buch Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa. Erinnerungen 1933–1940. Es erzählt von den Anfängen der kommunistischen Aktivität, ihrer Flucht 1933 nach Prag, Basel und Amsterdam, bevor sie mit ihrem Mann nach Paris ging. Weitere Erzählungen wurden zum Teil in deutschsprachigen Literaturzeitschriften veröffentlicht. Zuletzt befasste sie sich mit den Verwandten aus ihrer Elterngeneration um 1900 und starb 2005 hochbetagt in Chicago. Mein Weg über die Pyrenäen setzt mit einer unwillkürlichen Erinnerung ein, die in der Tradition der Moderne entstanden ist: »Wenn ich in alten Papieren herumsuche, bleibe ich immer bei etwas hängen, das ich längst vergessen habe. […] Jetzt erinnere ich mich daran.« (MWP 7) Das Widererwachen von mündlicher Rede und detaillierten Situationen bildet eine Nähe zu den Leser*innen, da sie durch ihr plötzliches Auftauchen im Gedächtnis eine besondere Präsenz gewinnen. Die Rekonstruktion der Internierung in Gurs und der nachfolgenden Flucht bis nach Marseille, zu den Pyrenäen und weiter über Portugal nach Kuba bringt die akuten Gefahren, Hoffnungen und die unsichere Zukunft in eine lebendige Gegenwart. Fittkos Text erlaubt empathisches Nachempfinden. Dem unwillkürlichen Erinnern zum Trotz bleibt das Erzählen dennoch stringent einem Ziel verpflichtet, sich dem Kampf gegen Hitler unter allen Umständen zu stellen und seiner Herrschaft ein Ende zu bereiten. Beim Einmarsch der deutschen Truppen in Paris 1940 schreibt Fittko über den Widerstand: Doch wir, sagten wir, wir ergeben uns nicht./Wir haben eine Aufgabe. Unsere Aufgabe ist jetzt, aus dieser Falle zu entkommen. Wir müssen uns selber retten … wir müssen versuchen, uns gegenseitig zu retten. Damit wir dabei
17 18
Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI. Frankfurt a.M., 1987, S. 14f. Vgl. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hg. v. Dan Diner. Frankfurt a.M. 1987, S. 185–197.
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sein und helfen können, Europa und die Welt von der Barbarei zu befreien. (Su 214–215.) Das »Wir« bezieht sich auf den antifaschistischen Widerstand, und Fittko bemüht sich – ergänzend zu den plötzlichen Einfällen – um Genauigkeit bei der Rekonstruktion des Geschehens. Sie stellt die eigenen Erinnerungen selbst in Frage und flicht lange Berichte der Freundin und des Bruders in ihr erstes Buch mit ein. Hinzu kommen Tagebuchaufzeichnungen, sodass ein diskursives Feld entsteht, das zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, eigenen Mitschriften aus unterschiedlichen Zeiten und den Stimmen anderer vermittelt, wobei auch widersprechende Aussagen nebeneinanderstehen können. Oft fügt sie direkte Dialoge in die Prosa ein, sei es durch gemeinsame Gespräche über die Vergangenheit, sei es durch ein historisches Präsens, das die Leser*innen unmittelbar in das historische Geschehen versetzt. Daraus entsteht ein interaktiver Diskurs über die zu vermittelnde Wahrheit, den Jürgen Habermas als eine »kooperative Wahrheitssuche« bezeichnet hat.19 Diesem Ansatz liegt eine Auffassung von Kommunikation zugrunde, bei der das Sprechen die Form der kooperativen Tätigkeit annimmt. Der Wahrheitsanspruch ist dazu da, dass er von anderen gehört, bestätigt, also geteilt wird oder potentiell auch kritisiert oder zurückgewiesen werden kann. Zugleich wirbt ihr Schreiben für die Glaubwürdigkeit des Erzählten durch die eigene Zeugenschaft, mit der Fittko sich gegen eine Wiederholung von Auschwitz einsetzt. Sie wendet sich an junge Leser*innen. Die kurzen Szenen der Erinnerung und Befragung formen eine Gedächtnisspur durch Internierungslager und Fluchtwege, die Wahrhaftigkeit, Gewissheit und den Glauben an das Gesagte einfordert. So bleibt mit dem Versuch, als Zeugin auch wahr zu sprechen, ein »ethischer Impuls« enthalten, mit dem die Gegenwart verändert werden soll: »Der ethische Impuls besteht nicht vorrangig darin, – theoretisch – den Geltungsanspruch auf Wahrheit zu erheben, sondern – praktisch – Leben zu verändern.«20 Diese aktivische Komponente wird durch die Einbeziehung der Lesenden angestrebt.
19 20
Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 139. Sybille Krämer: Spur, Zeuge, Wahrheit: Zeugenschaft im Spannungsfeld zwischen diskursiver und existentialer Wahrheit. In: ÜberZeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure. Hg. v. Matthias Däumer, Aurélia Kalisky u. Heike Schlie. Paderborn 2017, S. 147–166; hier S. 164–165.
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Fittkos Bücher stellen den Kampf gegen Hitler nicht bloß als Ergebnis ihres eigenen Mutes dar, sondern sie bilden darüber hinaus eine Schule der Solidarität, die zu Selbstreflexion und Distanz anleitet: Wie man wohl selbst gehandelt hätte, begleitet die Lektüren als offene Frage. Überzeugend formiert sich in wechselnden Wir-Konstellationen der Wille zum politischen Widerstand, dem Fittko ihre ganze Kraft widmet und wovon sie Zeugnis ablegt: »Alles kommt jetzt darauf an, den Faschismus zu schlagen, da kann ich keine Zeit verschwenden mit bequemem Leben und Universität.« (MWP 9) Wie er zu schlagen ist, wird durch eine dichte Reihe von Situationen und Begegnungen reflektiert. Dazu gehört vor allem eine klare Erkenntnis der faschistischen Absicht, den Gegner zu vernichten, sodass keine falschen Illusionen entstehen. Die »heimlich-unheimliche Kontinuität« des Antisemitismus bis in die 1930er Jahre wird deutlich gemacht.21 Fittko begegnet ihr mit Mitleid und Zorn. Sie geht in einem Moment in einen jüdischen Schuhladen am Alexanderplatz, als sich eine Gruppe davorstellt und »Kauft nicht beim Juden!« (Su 35) skandiert. Die Angst des Verkäufers empört sie – »als ich sah, wie seine Hände zitterten, wurde mir heiß vor Zorn.« (Su 36) In Prag begleitet sie Gefolterte, die entflohen sind, zum Arzt, den wiederum »das Grauen [packt], wenn ich sehe, was Menschen bei Ihnen da drüben imstande sind, anderen Menschen anzutun.« (Su 98) Die Paradoxie, dass das Jüdische Komitee in Prag sie nicht unterstützt, weil sie nicht in erster Linie wegen ihres Judentums verfolgt wird, kritisiert sie. (Su, 89) Ihr Vater versucht, durch seine beruflichen Verbindungen im Ausland eine Arbeit zu finden und lässt sein altes Leben noch viel schwerer hinter sich als sie selbst: »Ihm wurde nun langsam klar, daß es für ihn diese Verbindungen nicht mehr gab, daß er keine normale Existenz mehr finden konnte: er war Jude, er war ›untragbar‹ geworden.« (Su 169) Auf ihrer Flucht durch Frankreich unterscheiden sich die unpolitischen Emigranten vor allem aufgrund ihrer Naivität von den politischen. Auf das Mitleid der Gegner baut Fittko in keinem Fall. Als roter Faden wird zudem versucht, die Solidarität stets auch spürbar zu machen, um die weitere Verbreitung von Angst und Isolation zu verhindern. Der Titel Solidarität unerwünscht beschreibt das Interesse totalitärer Regime, Solidarität möglichst zu unterdrücken:
21
Vgl. Katja Behrens: Von Symbiose war einmal die Rede. Eine Bestandsaufnahme. In: Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute. Hg. v. ders., Gerlingen 2002, S. 75–99 (http://www.schoah.org/antisemitismus/symbiose.htm, zuletzt abgerufen am 04.03.2021).
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Sie versuchen, die Bürger voneinander zu isolieren, damit jeder, der auf die Idee kommt, es könne etwas nicht stimmen, unsicher darüber bleibt, wie viele andere dasselbe denken mögen und zu ihm stehen würden, wenn er die Stimme erhebt.22 Fittko und ihre Mitstreiter*innen wissen, dass sie »die Verbindung zueinander nicht verlieren« dürfen. (Su 11) Direkt nach der Machtergreifung wird das Zusammensein existentiell: »Aber gerade jetzt, in den letzten Wochen, war das Zusammensein so wichtig geworden, weil es beim Durchhalten half.« (Su 29) Beim Weg in den Untergrund in Berlin erlebt Fittko die Vernichtung des organisierten Widerstands aus nächster Nähe mit. Der aktive Kreis wird immer kleiner, bis sie selbst gesucht wird und nach Tschechien flieht. In Prag sucht sie wieder aktiv den Anschluss an Gleichgesinnte: »Ich konnte helfen!« (Su 108) Auch auf dem Weg in das Frauenlager Gurs bleibt das Ziel, mit den zurückgelassenen Pariser*innen »in Verbindung zu bleiben.« (MWP 18) »Es war so wichtig zusammenzubleiben.« (MWP 21) Durch eine Freundin findet sie eine Wegbegleiterin für eine lange Strecke der Flucht. Auf den Schmerz und die Demütigung ihrer unpolitischen Leidensgenossinnen im Lager reagiert Fittko erneut mit Zorn. Dabei lässt sie ihre Freundin zuerst zu Wort kommen: »Stacheldraht? Das demütigt euch? Hätte ich mich im deutschen KZ auch erniedrigt fühlen sollen? Weil ich Flugblätter gegen die Nazis verteilt habe?« Ich konnte nicht still sein: »Erniedrigt, wir? Wer sperrt uns hier ein? Frankreich, England, alle haben sich um Hitlers Gunst bemüht, während wir gegen die Nazis gekämpft haben. Wir hassen den Stacheldraht, denn er beraubt uns unserer Freiheit. Ein Symbol? Er ist ein Symbol für die Gesinnung derer, die hier Antifaschisten einsperren.« (MWP 32) Die Suche nach Gleichgesinnten stärkt die Gemeinschaft im Sinne des Brechtschen Verses: »…und nicht vergessen,/worin unsere Stärke besteht./Beim Hungern und beim Essen:/die Solidarität.« (MWP 42) Auch auf der Flucht wechselt Fittko die Zugehörigkeiten zu den Gruppen, denkt aber nach wie vor in der Wir-Form: »Wir alle – wer war damals gerade ›wir alle‹?« (MWP 76) Die Fähigkeiten ihres späteren Mannes Hans zur Schaffung von Verbindungen, der seit der Jugend in Spandau politisch aktiv war, kommt dem Widerstand
22
Charles Taylor: Einige Überlegungen zur Idee der Solidarität. In: Ders.: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M. 2001, S. 51–63; hier S. 55–56.
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zugute: »[W]o immer wir während der Emigration hinverschlagen wurden, für Hans gab es fast immer einen Kreis von alten Bekannten, von Freunden, von Helfern […].« (Su 144) Demgegenüber ist in der Einsamkeit auch die Angst am größten. Alpträume und Panik verfolgen Fittko in diesen Situationen. Sie fühlt sich dann »abgeschnitten, ohne Verbindung« (Su 79). Im Lager von Gurs schrumpft die Welt ebenfalls zusammen und reicht nur bis zur Umzäunung, sodass einige sogar Angst haben, das Lager zu verlassen, weil dahinter »das beziehungslose Draußen« beginne. (MWP 48) Zu dem Zusammenhalt, der Fittkos Handeln deutlich bestimmt, kommt eine klare Abgrenzung zu den Gegnern hinzu, denen sie entschlossen, aber nicht mit den gleichen Mitteln begegnet. »Nein, wir sind keine Gestapo. Wir arbeiten nicht mit ihren Methoden. […] Leicht ist es nicht, was wir hier tun müssen.« (Su 140) Die Arbeit konzentriert sich vielmehr auf Veränderung durch die Sprache. Damit wird die Hoffnung verbunden, die Deutschen zum Umdenken zu bewegen. In Prag lernt Lisa ihren späteren Ehemann kennen, der als Journalist Artikel, Flugblätter und Aufrufe an das deutsche Volk verfasst. Von den Grenzen Tschechiens, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreichs aus schreibt das Paar während der 1930er Jahre Flugblätter und Schriften, um sie nach Deutschland zu bringen. Die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten ermöglicht ihnen, ganz Baden und Württemberg mit ihrem Druckmaterial zu versorgen. Das Vertrauen auf die Macht der Sprache wird durch Misstrauen gegenüber den Begriffen ergänzt, die Spaltung und Ausgrenzung ermöglichen. Fittko dekonstruiert die Sprache dort, wo sie willkürlich und erhaben erscheint. Immer wieder wird die kontingente Anwendung von Ausschlussmechanismen enttarnt. Als die deutschen und österreichischen Emigranten 1940 von den Franzosen in Lager gebracht werden sollen, fällt Fittkos Staatsbürgerschaft in kein Raster, sodass sie der Entscheidung des Polizeikommissars ausgeliefert ist, der erklärt: »Wer Deutscher ist, bestimme ich!« (MWP 12) Die Geflohenen werden beim Einmarsch der Nazis als Deutsche beschimpft und bekämpft. Vor dem Krieg wurden sie noch als Kriegshetzer beschimpft. »Aber jetzt war Krieg, da wurde der feine Unterschied zwischen Nazis und Antifaschisten nicht gemacht. Der Feind waren wir.« (MWP 17) Fittko lehnt sich so gegen die groben Verzerrungen durch die Sprache der Mächtigen auf. Obgleich sie mit tausenden Emigrant*innen für die französischen Behörden »lästige Fremde« waren (MWP 87), die keine Arbeitserlaubnis erhielten und auch nicht als Freiwillige gegen die Deutschen kämpfen durften, stößt sie
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auf der anderen Seite auch auf Hilfe von einzelnen Menschen in Verantwortung. »Doch hätte keiner von uns überleben können ohne die Hilfe von Franzosen in jedem Winkel des Landes – Franzosen, deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese vertriebenen Fremden aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren.« (MWP 87) Sie erkennt somit das Problem der Verallgemeinerung durch Sprache, zumal die Wirklichkeit als erlebte Realität keine pauschalisierenden Urteile zulässt. Wenn man sie frage, wie die Franzosen sie behandelt haben, wisse sie keine Antwort, denn: »Frankreich – welches Frankreich? ›Die Franzosen‹ – wer ist das?« (MWP 86) Sprachkritisch verhält sich Fittko auch gegenüber ihrer Zuschreibung als Jüdin, da sie assimiliert war und sich keine erzwungene Identifikation aufdrängen lässt. Differenziert geht die Autorin ferner mit den Regeln für Pässe, Transits und Visa um, die laufend wechseln. Sie betreibt eine Mimikry der Form, indem sie Stempel fälscht und manipuliert, um weiter fliehen zu können. Ihr ist klar, »daß die bestehenden Regeln ihren Sinn verlieren in einer Welt, in der alle Werte auf dem Kopf stehen.« (MWP 207)23 So entgleitet der Zusammenhalt, wenn Regeln nicht sinnhaft eingesetzt werden und anarchistische Zustände entstehen: »Man lernt, sich auf nichts zu verlassen, auf niemanden.« (Su 136) Die Rezeption zeigte sich von der Selbstverständlichkeit der Hilfeleistung besonders beeindruckt, mit der die Fittkos ihre eigene geplante Ausreise nach New York 1940 über mehrere Monate hinauszögerten, um durch den gefundenen Grenzübergang möglichst viele Flüchtlinge nach Spanien zu retten. Dabei wurde besonders hervorgehoben, dass sie ihr eigenes Schicksal zugunsten von einer höheren Idee zurückstellten. Sie seien ihren Überzeugungen treu geblieben. Lisa habe in vielen Ländern gelebt »– leben müssen, und doch trotz aller Anfechtungen, nie sich selbst verloren – und andren das Leben gewonnen […].«24 Sylvia Pötscher betont, dass »ihre Texte […] immer auf etwas Über23
24
Den Zweifel an der Beständigkeit der Begriffe zeigte Fittko anhand ihrer gebürtigen Nationalität auf, die mehrfach wechselte. Sie wurde im ungarischen Ungvar oder auch Uschhorod geboren, das damals zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Im Dreiländereck zwischen Ungarn, der Slowakei und der Ukraine gelegen, gehörte der Ort nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschechoslowakei. Ab 1938 wurde er ungarisch, und im zweiten Weltkrieg eroberte ihn die Sowjetunion. 1991 erhielt sie Post in die USA, dass sie durch die neue gegründete Republik nunmehr gebürtige Ukrainerin sei. Stephan Reinhardt: Ein uralter Schmugglerweg in den Pyrenäen. Lisa Fittkos Erinnerungen Mein Weg über die Pyrenäen. In: Communale Nr. 41 (10.10.1985) S. 33–34; hier S. 34.
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geordnetes zu verweisen [scheinen]: auf die Solidarität unter den Flüchtenden, auf die Fluchthilfe, wie sie auch viele andere geleistet haben, auf politisches Engagement, welches in Fittkos Darstellungen so selbstverständlich erscheint.25 Fittkos Texte öffnen folglich einen Raum zur Reflexion über den Widerstand, den sie auf der Handlungsebene als politische Aktivistin und auf der sprachlichen Ebene durch ihre Sprachkritik vorführt. Ihre Texte werden als Solidaritätsauftrag lesbar. Es sind Appelle, denen zufolge die Unterstützung durch andere zentral ist.
4. Solidarität erwünscht In seiner nachmetaphysischen Deutung des Begriffs der »Solidarität« hat der Philosoph Richard Rorty davon abgesehen, nach einem wesenhaften menschlichen Verhalten zu fragen, das einen moralischen Kern aufweist. Gegen Immanuel Kants Appell an die Vernunft erinnerte Rorty daran, dass Freud »die Allgemeinheit des Moralgefühls rückgängig« gemacht habe und »das moralische Bewußtsein als genauso historisch bedingt« ansah wie das politische oder ästhetische.26 Konsequent sah Rorty auch die Solidarität nicht als ein moralisches Prinzip an, das sich aus der menschlichen Vernunft oder seinen Wesenselementen ergibt. Als Lehre von Auschwitz deutet Rorty die Solidarität »als das wechselseitige Erkennen der Menschlichkeit, die uns allen gemeinsam ist«.27 Doch wie erkennt man sich als menschlich? Die Tatsache, dass Juden in unterschiedlichen Ländern Europas und der Welt während des Nationalsozialismus ganz verschiedene Erfahrungen machten, erklärt Rorty mit dem Argument, dass die jeweils unterschiedlich wahrgenommenen gemeinschaftsstiftenden Überschneidungen zwischen Gruppen den Ein- und Ausschluss regulieren. Das Spektrum der Ähnlichkeiten und Differenzen entscheide somit über die Solidaritätsgefühle, die in demokratischen Gesellschaften auch erfolgreich erweitert worden seien. Diesen Fortschritt schätzt Rorty indes nicht
25
26 27
Sylvia Pötscher: »Leben im Exil in Frankreich«. Eine vergleichende Analyse der autobiographischen Exil- und Widerstandsdarstellungen im Werk der Autorinnen Lisa Fittko und Hertha Pauli. Diplomarbeit. Universität Wien 2009. S. 71. http://othes.univie.ac.a t/4633/ (zuletzt abgerufen am 12.03.2021). Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1992, S. 64. Ebd., S. 306.
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als das Ergebnis menschlicher Eigenschaften ein, sondern als Fähigkeit zur Solidarität: die Fähigkeit, immer mehr zu sehen, daß traditionelle Unterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen Unterschiede) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von uns sind, doch zu »uns« zu zählen.28 Rortys Bestimmung der Solidarität als Zufallsereignis, das dennoch wünschenswert und erweiterbar ist, wird folglich nicht auf moralische Voreinstellungen hin verstanden, sondern auf Ähnlichkeiten und Empfindungen hin zugespitzt. Es geht ihm darum, »immer mehr zu sehen«:29 Solidarität ist historisch und entwickelt sich weiter in Prozessen der Demokratisierung. Sie ist eng verbunden mit Gefühlen des Mitleidens und Wohlwollens, Gefühle, die in der Moralphilosophie entwertet werden. Rorty versucht sie gegen das Kantsche Pflichtgefühl aufzuwerten und sie zur Vermeidung von Grausamkeit und Demütigung zu sensibilisieren.30 Solidarisches Verhalten verlangt somit ein Gefühl, einen Sinn für eine Verbundenheit, die sich auch in chaotischen Zeiten behaupten kann.31 Hier sucht Rorty die Nähe zum Einzelnen und die »einfühlsame Identifikation mit den Einzelheiten im Leben anderer«.32 Er bezieht sich auf Wilfried Sellars »Wir-Intentionen«, die aus dem Kontrast Wir-Ihr hervorgehen und sich sukzessiv erweitern können. Erst dann könne Solidarität auch hilfreich sein, um Grausamkeit und Demütigung, den Minimalkonsens also, zu vermeiden. Die Werke von Ilse Aichinger und Lisa Fittko bieten entsprechend poetische Neubeschreibungen zu einem solidarischen Miteinander, das sich gegen Menschenverachtung und Gewalt wendet und die Erinnerung an Auschwitz lebendig halten will. Unversöhnlich sind sie im Beharren darauf, dass die Menschenverachtung nicht vergessen wird und mahnend zum Handeln auffordern
28 29 30 31 32
Ebd., S. 310. Ebd. Thomas Leithäuser: Buchbesprechung zu: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1992. Journal für Psychologie 2.2 (1992), S. 89–90; hier S. 90. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 306. Ebd.
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soll. Beide Autorinnen erschaffen autonome Wirklichkeiten durch die Sprache. Sie setzen sich für die Verbindung mit anderen ein und bilden Erinnerungs- und Aktionsgemeinschaften. Für Ilse Aichinger ist die Solidarität mit den Getöteten Anlass des Schreibens, wobei sie den Schmerz über die Verbrechen immer neu zum Thema macht. Lisa Fittko bezieht die Leser*innen ein und bringt Zorn und Handlungswillen als Antwort auf Ungerechtigkeit zur Sprache. Sie appelliert an eine Form der Solidarität, die nicht etwa in Begeisterung und Hingabe besteht, sondern Verbindungen mit anderen stets selbstkritisch und sprachskeptisch prüft. Beide Autorinnen bringen somit ganz unterschiedliche Formen der Bindung ein. Ihre Prosa macht jedoch gleichermaßen deutlich, dass Widerstand ohne Bindungen und der Verpflichtung gegenüber anderen kaum möglich ist. In der Sprache muss das Geschehene dabei immer neu beglaubigt werden. Durch die Hervorhebung der Bindungen werden die Werke von Ilse Aichinger und Lisa Fittko sowohl als soziale Handlungsanweisungen als auch als ästhetisch individuelle Gestaltungsweisen lesbar, die dem deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs neue Richtungen weisen können.
Bibliographie Aichinger, Ilse: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a.M. 1987. Aichinger, Ilse: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt a.M. 2001. Behrens, Katja: Von Symbiose war einmal die Rede. Eine Bestandsaufnahme. In: Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute. Hg. v. ders., Gerlingen 2002, S. 75–99. (http://www.schoah.org/antisemitismus/symbi ose.htm, zuletzt abgerufen am 04.03.2021) Breisach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen 2005. Bude, Heinz: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München 2019. Diner, Dan: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hg. v. Dan Diner. Frankfurt a.M. 1987, S. 185–197. Eppler, Erhard: Eine solidarische Leistungsgesellschaft. Epochenwechsel nach der Blamage der Marktradikalen. Bonn 2011. Fittko, Lisa: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. München 1989 [1. Aufl. 1985].
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Fittko, Lisa: »Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte«. Lisa Fittko (1909–2005) erzählt aus ihrem Leben. Ein Hörbuch von Hanne und Hubert Eckart. 3 CDs. Abacus Medien 2006. Fittko, Lisa: Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa. Erinnerungen 1933–1940. München/Wien 1992. Fry, Varian: Auslieferung auf Verlangen: die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940–41. Hg. u. mit einem Anhang versehen v. Wolfgang D. Elfe u. Jan Hans. München 1986. Gisbertz, Anna-Katharina: Tag, Stunde, Zeit. In: Ilse Aichinger Wörterbuch. Hg. v. Birgit Erdle u. Annegret Pelz. Göttingen 2021, S. 258–262. Habermas, Jürgen: Kleine politische Schriften VI. Frankfurt a.M. 1987. Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984. Krämer, Sybille: Spur, Zeuge, Wahrheit: Zeugenschaft im Spannungsfeld zwischen diskursiver und existentialer Wahrheit. In: ÜberZeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure. Hg. v. Matthias Däumer, Aurélia Kalisky, Heike Schlie. Paderborn 2017, S. 147–166. Lamelas, Montserrat Bascoy: Eine Geschichte von Opfern und Helden. Lisa Fittkos Autobiographie Mein Weg über die Pyrenäen (1985). In: Beststeller – gestern und heute. Ein Blick vom Rand zum Zentrum der Literaturwissenschaft. Hg. v. Albrecht Classen, Eva Parra-Membrives. Tübingen 2016, S. 56–66. Leithäuser, Thomas: Buchbesprechung zu: Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1992. Journal für Psychologie 2.2 (1992), S. 89–90. Loquai, Franz: Traum von Frieden und Freiheit. Lisa Fittkos Erinnerungen an den antifaschistischen Widerstand. In: Fränkischer Tag (04.10.1985) o.S. Lorenz, Dagmar C. G.: »Die leicht abhanden kommende Genauigkeit im Bereich der Literatur und die zunehmende Schärfe der Erinnerung«: das Bild der Großmutter bei Ilse Aichinger. In: Ilse Aichinger: »Behutsam kämpfen«. Hg. v. Irene Fußl und Christa Gürtler. Würzburg 2012, S. 53–66. Mansour, Ahmad: Solidarisch sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass. Frankfurt a.M. 2020. Oesterreich, Detlef: Politische Bildung von 14-Jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education. Wiesbaden 2002. Pötscher, Sylvia: »Leben im Exil in Frankreich«. Eine vergleichende Analyse der autobiographischen Exil- und Widerstandsdarstellungen im Werk der
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Autorinnen Lisa Fittko und Hertha Pauli. Diplomarbeit. Universität Wien 2009. http://othes.univie.ac.at/4633/ (zuletzt abgerufen am 12.03.2021). Reinhardt, Stephan: Ein uralter Schmugglerweg in den Pyrenäen. Lisa Fittkos Erinnerungen Mein Weg über die Pyrenäen. In: Communale Nr. 41 (10.10.1985) S. 33–34. Rifkin, Jeremy: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt a.M. 2009. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1992. Schwan, Gesine: Allein ist nicht genug. Für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit. Freiburg 2007. Taylor, Charles: Einige Überlegungen zur Idee der Solidarität. In: Ders.: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M. 2001, S. 51–63. Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M. 2001. Thums, Barbara: Grenzräume des Schreibens – Blitzlichter des Erinnerns: (Dis-)Kontinuitäten in der Poetik Ilse Aichingers. In: Ilse Aichinger: »Behutsam kämpfen«. Hg. von Irene Fußl und Christa Gürtler. Würzburg 2013, S. 35–51. von Weizsäcker, Richard: Erlösung heißt Erinnerung. 08. Mai 1985. https://zeit historische-forschungen.de/1-2015/5177 (zuletzt abgerufen am 08.03.2021)
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot im deutschen Nachkriegsdiskurs Birgit M. Körner
Der aus Ungarn stammende israelische Autor Ephraim Kishon (1924–2005) kann als Versöhnungsikone der westdeutschen Nachkriegszeit bezeichnet werden. Der von ihm und mit ihm vermarktete sogenannte »israelische Humor«1 hatte besonders in den 1960er bis 1980er Jahren einen beispiellosen Erfolg.2 Von einer Gesamtauflage von ca. 43 Millionen Büchern in mehr als 37 Sprachen erschienen ca. 34 Millionen auf Deutsch. Kishon erlangte den Ruf, mit seinen humoristischen Texten zur Versöhnung zwischen Juden/Jüdinnen und nichtjüdischen Deutschen sowie Deutschland und Israel nach der Schoah beigetragen zu haben.3 So wird Christina Weiss, damalige Staatsministerin für Kultur, nach Kishons Tod 2005 zitiert: »›Er war ein Entwicklungshelfer im besten Sinne, der vielen Deutschen half, ihre antisemitischen Verblendungen
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Die Begriffe »israelischer« und »ostjüdischer« Humor werden hier als Konstruktionen innerhalb des Diskurses über »jüdischen« Humor verstanden. Nach Wolfgang Preisendanz: Humor. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 2. Hg. v. Georg Braungart u.a. Berlin/New York 2000, S. 100–103, hier S. 100, 103, ist Humor stets kein überzeitliches, sondern ein geschichtlich verortbares Phänomen. Zu Kishons Erfolg in (West-)Deutschland vgl. Gabriel N. Finder: An Irony of History: Ephraim Kishon’s German Triumph. In: A Club of Their Own. Jewish Humorists and the Contemporary World. Hg. v. dems. u. Eli Lederhendler. New York 2016, S. 141–153. Silja Behre: Ephraim Kishon für Deutsche. Der israelische Autor und Satiriker im Literaturbetrieb der Bundesrepublik. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. 16 (2019) 3, S. 495–519. URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2 019/5791 (19.04.2020), weist nach, dass Kishon in den 1950er Jahren durch sein von Max Brod übersetztes Drama Die große Protektion »im Rahmen einer von deutscher Seite organisierten Versöhnungsinitiative« in den westdeutschen Nachkriegsdiskurs eingetreten ist.
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zu überwinden.‹ Die Deutschen hätten durch ihn gelernt, wieder gemeinsam mit den Juden zu lachen.«4 Dass die Absicht »wieder gemeinsam mit den Juden zu lachen« gerade in den 1960er Jahren problematisch ist, wird dadurch verstärkt, dass Kishon selbst Schoah-Überlebender war. Details darüber, wenn auch humoristisch gefärbt,5 erfahren die deutschsprachigen Lesenden erst 1993, als er zusammen mit dem israelischen Journalisten Jaron London seine Autobiographie Nichts zu lachen vorlegte.6 Obwohl Kishons Status als Schoah-Überlebender seinen Leser/innen nicht vollkommen unbekannt war – zum Beispiel äußert er sich 1979 zur Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie Holocaust explizit als Zeitzeuge7 –, ist dies im Rezeptionsprozess in der Bundesrepublik häufig ausgeblendet worden. Kishon selbst sah sich zumindest als Schriftsteller, der zur »Versöhnung zwischen Deutschland und Israel« beigetragen habe, so formulierte er es anlässlich der Rückgabe seines »Ordens wider den tierischen Ernst«.8 Doch der Weg zu seiner eigenen Form der Versöhnung war von Ambivalenzen geprägt. So hatte er sich in den 1950er Jahren gegen das Zeigen deutschsprachiger Filme in Israel, wohin er 1949 geflohen war, ausgesprochen (Nzl 135) und sich der Linie der israelischen Tageszeitung Maariv angeschlossen, die Verhandlungen mit der Bundesrepublik um Reparationszahlungen ablehnte.9 Hingegen empfand er in den 1990er Jahren seinen Erfolg in der BRD als »riesige Genugtuung«, sodass von einer Versöhnung durch Erfolg gesprochen werden kann:
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O.A.: Ephraim Kishon gestorben. »Ein Genie des Humors«. In: Spiegel, 30.01.2005. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ephraim-Kishon-gestorben-ein-geniedes-humors-a-339343.html (19.04.2021). Martin Doerry: Adolfs süßer Traum. In: Spiegel, 39 (1993), S. 230‒233. Ephraim Kishon: Nichts zu lachen. München/Wien 1993. Zitatnachweise aus dieser Ausgabe im Folgenden mit Sigle Nzl und Seitenzahl in Klammern im Text. Ephraim Kishon: Soll das Fernsehen dieses Drama zeigen? In: HÖRZU 3/79 (20.–26. Januar 1979), S. 18‒20, hier S. 18. Thorsten Pracht: Kishon verschärft den Ton im Ritterstreit. In: Aachener Zeitung, 20. August 2002. URL: https://www.aachener-zeitung.de/nrw-region/Kishon-verschaerftden-ton-im-ritterstreit_aid-28868149 (19.04.2021). Kishon entschied sich, seinen Orden zurückzugeben, da Norbert Blüm sich als Ordensbruder der antisemitischen Diskursstrategie bedient hatte, Begriffe aus der NS-Zeit auf die gegenwärtige Politik Israels zu übertragen. Vgl. Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 1.
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot
Ich wurde zum Lieblingsautor der Nachkommen meiner Henker. Das ist die wahre Ironie der Geschichte. Eine riesige Genugtuung, dass ihre Enkel Schlange stehen für eine Unterschrift von mir. Die richtige Antwort auf das dritte Reich heißt: nicht weinen, sondern signieren.10 Im Folgenden wird der Prozess betrachtet, der sich zwischen diesen beiden Standpunkten vollzogen hat. Dabei sind vor allem die Ambivalenzen von Interesse, die sich in Kishons Selbstaussagen und seinem Werk, aber auch in der westdeutschen Rezeption finden lassen. Zunächst ist zu zeigen, dass die Konstruktion eines »israelischen Humors« nach 1945 durch Kishon selbst und seinen Übersetzer ins Deutsche, den österreichischen jüdischen Autor Friedrich Torberg, als Intervention im westdeutschen Nachkriegsdiskurs zu verstehen ist, die ein Entlastungsangebot an das deutschsprachige nichtjüdische Publikum mitlieferte. Dennoch gibt es Texte von Kishon und Übersetzungsentscheidungen von Torberg, die Widerstand gegen ein einseitiges Versöhnungsnarrativ leisten. Kishons Weg zur Versöhnung wurde über Torbergs Beteiligung an der deutschsprachigen Fassung, die damit ein »jüdisches Projekt« blieb, ermöglicht und durch den enormen Erfolg als eine Art Rache stabilisiert. Kishons Bereitschaft zur Versöhnung hatte jedoch Grenzen gegenüber der Tätergeneration und führte durch die Zusammenarbeit mit dem rechtslastigen Verleger Herbert Fleissner11 zu problematischen Interventionen im bundesdeutschen Erinnerungsdiskurs.
1. Die Konstruktion eines »israelischen Humors« zwischen zionistischer Intention und Entlastungsangebot Um 1960 konzipierte Kishon mit Look back, Mrs. Lot! seine erste Satirensammlung in englischer Übersetzung, vorrangig für den US-amerikanischen Markt.12 Friedrich Torberg empfahl Kishon dem Langen Müller Verlag und bot sich für die Übersetzung ins Deutsche an.13 Auf der Basis einer angenom-
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Ephraim Kishon: »Endlösung«. In: Ders.: Allerbeste Geschichten. München 2005, S. 16. Hans Sarkowicz: Rechte Geschäfte. Der unaufhaltsame Aufstieg des deutschen Verlegers Herbert Fleissner. Frankfurt a.M. 1994. Ephraim Kishon: Look Back, Mrs. Lot! New York 1961. Zuvor waren seit 1951 Satiresammlungen von Kishon auf Neuhebräisch in Israel erschienen. Zu Kishons vorhergehenden Publikationen in der Bundesrepublik u.a. im Fischer Theaterverlag vgl. Behrle: Kishon für Deutsche, Abschnitt 1–2.
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menen »Seelenverwandtschaft«, die sich aus der gemeinsamen zionistischen und antikommunistischen Einstellung und der Prägung durch den österreichungarischen Kulturraum ergab, produzierte Torberg auf Deutsch freie Übertragungen aus den englischen Übersetzungen der ursprünglich hebräischen Texte.14 Torberg ist weniger ein Übersetzer als ein Mitschöpfer der deutschen Fassungen und außerdem der Vermittler Kishons an das deutschsprachige Publikum. Er bereitet damit Kishons Weg zu einer Versöhnung über einen »jüdischen« und zionistischen Kanal. Dabei passte Torberg die Texte den deutschsprachigen Zielkulturen an, indem er Einfluss auf ihre Anordnung nahm, Pointen änderte oder seiner Meinung nach ungeeignete Stellen und Satiren kürzte.15 Doch trotz der deutlichen Prägung von Kishons Schreiben durch den »jüdischen Humor«-Diskurs in der ehemaligen österreich-ungarischen k. u. k. Monarchie16 nutzte Torberg den Klappentext der ersten Ausgabe, um Kishons Humoresken und Satiren17 als erste Exemplare eines neuartigen »israelischen Humors« zu vermarkten: Was bisher in der Welt als ›jüdischer Humor‹ bekannt und geschätzt war, tritt hier nur noch als Komponente auf […]. Aber Wesen und Grundzüge des von Ephraim Kishon in die Welt gesetzten Humors sind bereits durch und durch israelisch. Das selbstkritische Element seiner Satire nimmt die kleinen Mängel und Defekte des israelischen Alltags nicht deshalb aufs Korn, um einer
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Torberg, der selbst kein Hebräisch konnte, übersetzte Kishons Texte aus der englischen Fassung, proklamierte aber, dem Original viel näherzukommen. Torbergs Nachlassverwalter David Axmann: Zwei wahlverwandte Urheber. In: Ephraim Kishon/Friedrich Torberg: Dear Pappi – My beloved Sargnagel. Briefe einer Freundschaft. Hg. v. Lisa Kishon/David Axmann. München 2008, S. 13–17, hier S. 15, spricht von »Nachschöpfungen«. So urteilte schon Kishons Konkurrent, der einen »ostjüdischen Humor« in israelischer Umgebung sah: Mosche Yaakov Ben Gavriel: Der jüdische Witz. Ein Post Mortem. In: Merkur 16 (1962) 175, S. 893‒896. Kishons ins Deutsche übertragene Texte werden meist als Satiren bezeichnet. Ihr oft versöhnlicher Charakter als »[h]eitere, zumeist im bürgerlichen Alltag angesiedelte« kurze Prosaerzählungen weist viele als Humoresken aus. Vgl. Johann Holzner: Humoreske. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. Hg. v. Georg Braungart u.a. Berlin/New York 2000, S. 103‒105, hier S. 103.
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feindlichen Kritik zu steuern, sondern um sie fröhlich einzubekennen: als normale Begleiterscheinungen eines normalen Lebens.18 »Israelisch« heißt in diesem Fall, dass es sich nicht mehr um den »jüdischen Humor« der Diaspora handele, sondern es Torberg zufolge durch die Gründung des israelischen Staates gemäß dem zionistischen Narrativ zu einer Normalisierung jüdischen Lebens gekommen sei. Damit verbunden ist ein doppeltes Rezeptionsangebot an die deutschen nichtjüdischen Lesenden, denn [d]ieser neue israelische Humorist vermittelt zwei wichtige neue Erkenntnisse: 1. daß in Israel alles ganz anders ist als anderswo und 2. daß in Israel alles ganzgenau so ist wie anderswo. Denn es sind Menschen, von denen diese Geschichten handeln, Menschen mit menschlichen Eigenschaften – und damit allein bieten sie schon Grund zur Heiterkeit.19 Die israelischen und meist jüdischen Protagonist/innen werden in ihrer ›Menschlichkeit‹ erfahrbar und Kishons Humor damit universalisiert. Dabei wird gleichzeitig zur Exotisierung (›ganz anders als anderswo‹) und zur Identifikation (›ganzgenau so wie anderswo‹) eingeladen. Beide Mechanismen erlaubten es, diesen Humor eines jüdischen Autors unter dem neuen Label »israelisch« in den 1960er Jahren unbeschwert von der deutschen Vergangenheit zu konsumieren. Torberg deutet in dieser Konzeption nur an, dass der »frühere jüdische Humor« gerade als Reaktion auf »feindliche«, also antisemitische Kritik gilt,20 sodass dieses »früher« ‒ also der europäische Antisemitismus und die Schoah – von den Lesenden getrost ausgeblendet werden konnte. Torbergs Agenda war vermutlich, eine Version des vernichteten »jüdischen Humors« in einer »israelischen« Gestalt zu retten und so
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Friedrich Torberg: Klappentext. In: Ephraim Kishon: Drehn Sie sich um, Frau Lot! München/Wien 1961. Ebd. Der traditionelle »jüdische Humor« im Sinne des ostjüdischen Humors gilt im Diskurs um »jüdischen Humor« als »letzte Waffe der Wehrlosen«, also als Kompensationsstrategie und einzig mögliche Verteidigung der Minderheit gegen den Aggressor. Vgl. u.a. Salcia Landmann: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung. Olten/Freiburg i.Br. 1960, S. 34. Landmann führt das Zitat auf Sigmund Freud zurück, der es aber so nicht verwendet. Wahrscheinlicher als Quelle ist Chajim Bloch: Ostjüdischer Humor. Berlin 1920, der in dieser Anthologie den Witz als »oft gebrauchte Waffe des Unterdrückten« bezeichnet hat (ebd., S. 9).
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ein Weiterbestehen zu ermöglichen.21 Darüber hinaus war es ihm zeitlebens ein großes Anliegen, eine proisraelische Haltung in der Bundesrepublik und in Österreich zu fördern,22 sodass von einem zionistisch motivierten Projekt gesprochen werden kann. In der Rezeption wurde vor allem das Entlastungsangebot, das diese Konzeption im postnationalsozialistischen deutschsprachigen Rezeptionsgebiet mitlieferte, aufgenommen und anhand der Lektüre von Kishons Texten eine Versöhnungstechnik etabliert. Dies wird bereits 1961 in einer Rezension zu Kishons erstem auf Deutsch erschienenen Satirenband Drehn Sie sich um, Frau Lot! deutlich, in der das Paradigma dieser vermeintlichen Versöhnung folgendermaßen formuliert wurde: »Wie also sollen wir den Juden begegnen? Mit vollem Bewußtsein sei es gesagt: als wäre nichts geschehen.«23 Es sei daran erinnert, dass parallel zum Erscheinen der Eichmann-Prozess in Jerusalem stattfand (11. April bis 15. Dezember 1961), bei dem zum ersten Mal die Aussagen der Opfer gehört wurden,24 und der auch in Deutschland stark rezipiert wurde. Die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt a.M. (1963–1968) hatten noch nicht stattgefunden. Über ein »volle[s] Bewußtsein« über die Verbrechen während der Schoah verfügte also noch kaum einer der Lesenden in der Bundesrepublik. Die Strategien der Normalisierung und Universalisierung und das Label »israelisch« des mit Kishons Erzählungen konstruierten Humors boten in den Debatten der westdeutschen Erinnerungskultur über Wiedergutmachung, »Kollektivschuld« und Schuldabwehr eine Kompensation eventueller Schamoder Schuldgefühle an. Die Texte ermöglichten einen leichten Zugang durch ein scheinbar harmloses Lachen über Juden und Jüdinnen in Israel, unbelastet von der NS-Vergangenheit und der Schoah. Hierbei half die Konstruktion einer ›positiven Satire‹, wie sie als »deutscher Humor« gerade in der NS-Zeit 21
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Vgl. Finder: An Irony of History, S. 144‒145: »Torberg was apparently motivated […] by his belief that Kishon’s work represented nothing less than the salvation of Jewish humour in Germany«. So ersichtlich während des Sechstagekriegs 1967, als sich Torberg für die israelische Botschaft in Wien engagierte. Brief Torberg an Kishon, 22. Juni 1967. ÖNB, Sig. 37.457, 160. Rudolf Krämer-Badoni: Kishon, Ephraim: Drehn Sie sich um, Frau Lot. In: FAZ (28.11.1961), S. 27. Stephan Landsman: The Eichmann Case and the Invention of the Witness-Driven Atrocity Trial. In: Columbia Journal of Transnational Law 51 (2012), S. 69‒119, hier S. 69, beobachtet »[a] shift to the in-court narration of the victims’ stories«.
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geschätzt wurde25 : »Kishon bringt ein unglaubliches Kunststück fertig: Er mokiert sich über die Zustände im heutigen Israel derart, daß man dortselbst am liebsten einwandern möchte. So etwas hat es lange nicht gegeben – einen unmittelbar positiven Satiriker.«26 Wie ein selbstkritischer Rezeptionsbericht der Journalistin und Publizistin Caroline Fetscher zeigt, wurde das Angebot gerade deswegen sehr gerne angenommen: »Möglicherweise hat Deutschland den leicht konsumierbaren Entlastungs-Kishon nach dem Wirtschaftswunder vor allem darum genossen, weil man sich über die Genese dieser Emotion keinerlei Klarheit verschaffen wollte und musste.«27 Auch Jörg Magenau kommt zu dem Schluss: Mit Kishon normalisierten sich die deutsch-israelischen Beziehungen; Lesen bewährte sich als Versöhnungstechnik. […] Für ihn [Kishon] war der milde Humor seiner Satiren ein Beitrag zur Aussöhnung. Für uns war es ein Beitrag zur Wiedergutmachung, wenn wir seine Bücher kauften, mit ihm lachten und Israel als friedliches, freundliches Ländchen kennenlernten.28 Mit Verweis auf Alexander und Margarete Mitscherlichs Diagnose einer Unfähigkeit zu trauern (1967)29 hebt Alfred Bodenheimer hervor, wie problematisch diese Haltung war: Das Angebot jedenfalls, mit Juden zu lachen, ohne ihrer ermordeten Kinder zu gedenken, wie die Mitscherlichs es erwähnt haben, konnte kaum ausgeschlagen werden. Die versöhnende Funktion, die dem ›gemeinsamen Lachen‹ zugeschrieben werden konnte, überhob einen in der Regel der Rückfrage, ob man sich von Hitler nicht lösen konnte oder nicht lösen wollte – auf paradoxe Art schien das grundsätzliche Verbinden von Verdrängen und 25
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Patrick Merzinger: Humour in the »Volksgemeinschaft«. The Disappearance of Destructive Satire in National Socialist Germany. In: The Politics of Humour: Laughter, Inclusion, and Exclusion in the Twentieth Century. Hg. v. Martina Kessel. Toronto 2012, S. 131‒152. Zitat einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung, abgedruckt in: Ephraim Kishon: Arche Noah, Touristenklasse. Neue Satiren aus Israel. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 172. Caroline Fetscher: Kishons Komik und ihre deutsche Konjunktur. Israelische Satiren als Medizin gegen deutschen Antisemitismus? In: Deutsch-Israelische Zukunftsperspektiven 2007, S. 17–22, hier S. 20. Jörg Magenau: Bestseller. Bücher, die wir lieben – und was sie über uns verraten. Hamburg 2018, S. 149. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper 1967.
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Nichtverdrängen der Vergangenheit dort möglich, wo Juden es anscheinend ebenso taten. Man konnte mit ihnen die Vergangenheit retten und in die Zukunft schauen und sich dabei auch noch köstlich über sie (oder, wie man zu denken geneigt war, mit ihnen) amüsieren.30 Kishons Texte wurden von in den 1940er Jahren geborenen Deutschen und Angehörigen der zweiten Generation gelesen, um sich ein neues, nicht von der antisemitischen NS-Propaganda geprägtes Bild von Juden und Jüdinnen zu schaffen und sich weitgehend unbefangen der israelischen Kultur und Gesellschaft anzunähern. Sie prägten das westdeutsche Bild von Israel und den Israelis, motivierten zu Besuchen und weckten ein Interesse an moderner israelischer Literatur31 : »Wir genossen Kishons ›Israel‹ als ein literarisches Ambiente, in dem offener Nepotismus und komische Korruption sich mit den Naivitäten oder Gerissenheiten der Bürgerinnen und Bürger des Judenstaates am Mittelmeer mischten.«32 Wie hier mit dem Begriff »Gerissenheiten« schon anklingt, war diese Rezeption von unterschwelligem Wissen über die Schoah und antisemitische Diskurselemente mitmotiviert.
2. Widerständige Satiren und unheimliche Stellen Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, Kishon habe die Schoah oder den Nationalsozialismus in seinen Texten bis zu seiner Autobiographie 1993 nie thematisiert,33 widersetzten sich einige Texte, die in Kishons Satiresammlungen zwischen 1961 und 1967 auf Deutsch erschienen sind, dem versöhnlichen Humorangebot: Neben dem Angebot an das westdeutsche nichtjüdische Nachkriegspublikum, nach der Schoah unbeschwert ›gemeinsam mit den Juden‹ oder zumindest unbelastet über die ›chaotischen‹ Israelis zu lachen, 30
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Alfred Bodenheimer: Die Fähigkeit zu lachen. Jüdischer Humor ohne Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Studien zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur. Standortbestimmungen eines transdisziplinären Forschungsfeldes. Hg. v. Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz. Wien: Böhlau 2020, S. 109–119, hier: 118. Vgl. zu dieser Einschätzung Anat Feinberg: Kishon, Ephraim. In: Encyclopaedia Judaica. Second Edition. Bd. 12. Hg. v. Fred Skolnik u. Michale Berenbaum. Detroit 2007, S. 200. Fetscher: Kishons Komik, S. 18. So Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 1, Finder: An Irony of History, S. 150, Bodenheimer. Die Fähigkeit zu lachen, S. 118.
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finden sich satirische Texte, die einer harmlosen Lesart widersprechen. Kishons eigene Überlebenserfahrung und Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sind in einigen Texten präsent, zum einen als direkter Bezug, zum anderen als unheimliche Stellen34 . Es ist sogar anzunehmen, dass gerade die unterschwellige Präsenz der Schoah in einigen ‒ bzw. auf einer Metaebene durch Kishons Biographie in allen ‒ Texten das Interesse der Lesenden weckte. In diesem Kontext ist zu beachten, dass Torberg als Mitschöpfer der deutschsprachigen Fassungen nicht alle in den hebräischen und englischen Fassungen enthaltenen expliziten Referenzen auf die Schoah oder die NS-Zeit aufnimmt. Besonders im Kontext des Sechstagekriegs 1967 strich oder entschärfte Torberg explizite Stellen, z.B. wenn er die Satire Split Personality, in der Kishon die Lage Israels direkt mit der Lage der Tschechoslowakei 1938 verglich, erst gar nicht in die deutsche Version der Sammlung aufnahm.35 In der Erzählung skizziert Kishon die weltgeschichtliche Utopie einer Tschechoslowakei, die sich 1938 ebenso wie Israel 1967 wehrhaft verhält, und impliziert damit eine verhinderte oder zumindest in den Opferzahlen drastisch reduzierte Schoah: AFTER nerveracking [sic!] negotiations lasting for many months […], an agreement was signed in Munich and world peace saved at the last moment. True, Czechoslovakia was delivered into the clutches of the mad Hitler, but there was no choice. Neville Chamberlain and M. Daladier convinced the Czechs that they could not resist the armed might of Germany … Next day in the afternoon, Czechoslovakia destroyed Hitler’s army and occupied Nazi Germany. By the evening not a trace of it was left.36
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Dennis Bock: Literarische Störungen in Texten über die Shoah. Imre Kertész, Liana Millu, Ruth Klüger. Frankfurt a.M. 2017, entwickelt das Konzept einer »literarischen Störung«, die mit Erwartungen, deren Enttäuschung und dem Wissen der Lesenden arbeitet und macht dies für kanonische Texte der Schoahliteratur fruchtbar. Er spricht außerdem von einer »literarischen Strategie des Verletzenwollens« bei Autoren und Autorinnen, die die Schoah überlebt haben (S. 451). Dies trifft auf Kishons »harmlose Satiren« nur vereinzelt zu. Ephraim Kishon/Dosh: So Sorry We Won. Tel Aviv 1967, S. 90. In Ephraim Kishon: Pardon, wir haben gewonnen. Vom Sechstagekrieg bis zur Siegesparade 1 Jahr danach. Satiren mit Cartoons von Dosh. München, Wien 1968, fehlt die genannte Satire. Ephraim Kishon/Dosh: So Sorry We Won, S. 90.
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Andere Bezüge schaffen es in die deutschsprachigen Fassungen. Ein Beispiel für einen direkten Verweis auf die NS-Zeit durch Kishon ist die Satire 2 x 2 = Schulze. Ein avantgardistisches Fragment (1963).37 Kishon bezieht sich hier direkt auf den Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961). Es handelt sich um einen szenischen Dialog zwischen dem Staatsanwalt und dem Angeklagten »Adolf«. Kishon liefert hier eine erstklassige Satire, die die der Verantwortung ausweichende Argumentationsstrategie und den bürokratisierenden Stil des Angeklagten bloßstellt: Staatsanwalt: Sie wissen also nicht, wieviel zwei mal zwei ist? Adolf: Ich kann darüber keine Angaben machen, Herr Staatsanwalt. Staatsanwalt: Und wenn ich Ihnen auf den Kopf zusage, daß Sie es wissen? Adolf: Ziffern waren die Sache von Schulze. Staatsanwalt: Immer, wenn Sie wissen wollten, wieviel zwei mal zwei ist, haben Sie nach Schulze geschickt? Adolf: Nicht immer. Manchmal konnten die betreffenden Fragen auch telefonisch geklärt werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, daß Schulze Ende 1943 in das Salzkammergut versetzt wurde und daß ich ihn erst dort zusammen mit Lehmann getroffen habe. Staatsanwalt: Wußte Lehmann, wieviel zwei mal zwei ist? Adolf: Daß weiß ich nicht. Danach habe ich ihn nie gefragt. Mein Vorgesetzter war, wie schon erwähnt, Schulze. Staatsanwalt: Wußte Schulze die richtige Antwort auf die Frage: »Wie viel ist zwei mal zwei?« Adolf: Das kann ich nicht sagen. Ich hatte keine Möglichkeit, in sein Inneres zu sehen. Staatsanwalt: Aber Sie durften sicher sein, daß er die Antwort wußte? Adolf: Ich habe mir niemals ein Urteil über meine Vorgesetzen angemaßt.38 Bis zum Ende der Szene weigert sich der Angeklagte Adolf eine eindeutige Antwort zu geben, und so endet die Satire folgendermaßen: Adolf: Bitte sehr. Ich kann nach bestem Wissen und Gewissen nur aussagen, daß das Ergebnis der hier wiederholt gestellten mathematischen Aufgabe annähernd dem entspricht, was Sie, Herr Staatsanwalt, vor einigen Minuten
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Ephraim Kishon: 2 x 2 = Schulze. Ein avantgardistisches Fragment. In: Ders.: Arche Noah, Touristenklasse. München/Wien 1963, S. 134‒138. Ebd., S. 134‒135.
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als Ergebnis festgestellt haben. Staatsanwalt: Also vier. Adolf: Soweit ich das beurteilen kann. Staatsanwalt: Vier! Adolf: Nach allgemeinem Dafürhalten. Staatsanwalt: Zwei mal zwei ist vier – ja oder nein? Adolf: Das erstere. Staatsanwalt: Danke. Das ist alles, was ich wissen wollte.39 Das Schuldeingeständnis wäre so einfach wie die Antwort auf die Frage »Wieviel ist 2 mal 2?« und gerade in der Verweigerung der Antwort wird die Absurdität der ausweichenden Argumentationsstrategie erfahrbar, entlarvt und schmerzhaft lächerlich. Diese Weigerung verbunden mit Elementen, die auf den realen Argumentationsgegenstand, also die Verantwortlichkeit für die Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen in der Schoah verweisen ‒ die Erwähnung von Dachau oder dem Salzkammergut, die Jahreszahl 1943, der Namens des Angeklagten (der zusätzlich auf Hitler verweist) oder der NS-Dienstgrad »Gauleiter« ‒ erzeugen eine besondere Spannung. Die satirische Szene findet sich mitten unter den zum harmlosen ›gemeinsamen‹ Lachen einladenden Humoresken und wird von Kishon in einem kurzen Einleitungstext explizit dem Eichmann-Prozess zugeordnet: »Hingegen ist es uns [Israel] gelungen, den Mann einzuholen, der die Vernichtung unseres eigenen Volkes durchzuführen hatte, und ihn vor Gericht zu stellen.«40 Ein anderer Text, dessen Subversion im deutschen Erinnerungsdiskurs diesmal Torbergs Übersetzung zuzuschreiben ist, ist die Einleitung zu Arche Noah, Touristenklasse (1963).41 Es handelt es sich um eine Erzählung über einen narzisstischen jüdischen Kolumnisten, der beobachtet, wie ein Mann eine Ausgabe der Zeitung liest, für die er schreibt. Je nachdem, ob der Leser den Artikel überblättert, zurückblättert, an der richtigen Stelle lacht oder nicht lacht, steigert sich der Autor abwechselnd in eine Haltung der extremen Abwertung oder der extremen Überhöhung hinein. Dabei verwendet er Klischees über Juden aus dem antisemitischen Diskurs, wie den Blutmythos, die Form der Nase, hohe Intelligenz, Geld und den Verdacht der Täuschung. In der englischen Übersetzung heißt die Erzählung lediglich Preface42 und ge39 40 41 42
Ebd., S. 138. Ebd., S. 134. Ephraim Kishon: An den Leser. In: Ders.: Arche Noah, Touristenklasse, S. 9–12. Ephraim Kishon: Noah’s Ark. Tourist Class. New York 1962, S. 3‒6.
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winnt ihren Humor daraus, dass ein jüdischer Autor für ein primär jüdisches (israelisches oder amerikanisches) Publikum mit antisemitischen Klischees hantiert. Eine noch heute von jüdischen Comedians genutzte Strategie. Wenn diese Erzählung jedoch auf ein deutsches nichtjüdisches Publikum nach der Schoah trifft, gestalten sich Wirkung und angestoßener Diskurs ganz anders. Torberg ändert den Titel von Vorwort (Preface) in An den Leser und nimmt damit eine explizite Adressierung vor. Die Vorführung der psychologischen Mechanismen, die zu irrationaler Überhöhung und Abwertung aufgrund eigener narzisstischer Defizite führen und die den antisemitischen Diskurs prägen, wird zur direkten Botschaft an die deutschen Lesenden. Mit Blick auf Torbergs feines Sprachgefühl und seine Neigung zur Polemik im Sinne der von Burkhard Meyer-Sickendieck beschriebenen jüdischen Tradition des literarischen Sarkasmus43 ist zu vermuten, dass er hier durchaus darauf anspielt, dass die deutschsprachigen nichtjüdischen Lesenden sich bewusst oder unbewusst von diesen in der NS-Zeit tradierten antisemitischen Klischees angesprochen fühlen mussten. Torbergs kleine Änderung wirkt wie ein Metakommentar, der wiederum als Signal von einem jüdischen deutschsprachigen Publikum in der Art verstanden werden konnte, dass Torberg sich mit seiner Übersetzung und Unterstützung Kishons nicht ›naiv‹ im zeitgenössischen Humordiskurs bewegte. Auch Formen sublimierter Rachephantasien finden sich in Kishons Humoresken und Satiren. Häufig wird das Ausgeliefertsein gegenüber einer Macht, Organisation oder deren Vertretern, oft in Form eines undurchschaubaren bürokratischen Apparats, dargestellt. Das rettende Narrativ ist jeweils, dass der Protagonist seiner auferlegten Ohnmacht mit dem Durchschauen des Systems, dessen Überbietung oder durch subversive Akte begegnet und dadurch eine Machtumkehr erreicht.44 Mit motivischen Bezügen zu den Verbrechen der Schoah ist dieses Narrativ in der Groteske Gibt es einen typisch israelischen Humor? 45 gestaltet. Die eigentlich harmlos beginnende Erzählung über einen Autor, der zu einem Vortrag geladen ist, aber aufgrund der Vehemenz der »israelischen Ordner« kaum an
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Burkhard Meyer-Sickendiek: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutschjüdischen Moderne. München 2009. Beispiele für dieses Narrativ sind die Erzählungen Jüdisches Poker (Kishon: Frau Lot, S. 12‒17) oder Nehmen Sie Platz (ebd., S. 48‒52). Ephraim Kishon: Arche Noah, S. 61‒64. Im Folgenden zitiert mit Seitenangabe in Klammern.
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot
den Veranstaltungsort gelangt, endet in einer Gewaltorgie. Hier stellt Kishon die Ermordung eines als osteuropäisch markierten Juden und den potenziellen Erstickungstod eines jüdischen Lyrikers in einer »Ventilationsanlage« (S. 64) der sich »israelisch« siegreich bis zum Podium durchkämpfenden Autorfigur (»blutverschmiert, aber unbesiegt«, S. 63) gegenüber. Durch Begriffe wie »Gittertor« (S. 61) oder das Ersticken in der »Ventilationsanlage« (S. 64) werden Assoziationen zu Symbolen der Schoah aufgerufen und verursachen beim Lesen ein unheimliches Gefühl. Diese symbolische Einschreibung der Schoah muss für zeitgenössische Lesende zumindest unbewusst wahrnehmbar gewesen oder bewusst überlesen worden sein, um Kishons Humor unbeschwert von der Vergangenheit genießen zu können. Viel eher kann wohl eine Mischung aus Entlastung und unterschwelliger Verständigung über ein vergangenes Geschehen zwischen Autor, Erzähler und Lesenden angenommen werden, wie es bezüglich des Erfolgs des Bandes Götter, Gräber und Gelehrte (C.W. Ceram [d.i. Kurt Wilhelm Marek], 1949) über zerstörte Zivilisationen nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert worden ist.46 Kishons Marke eines »israelischen Humors«, der leicht verdaulich sei und niemandem weh tue, ist also in der Anfangsphase durchaus ambivalent zu beurteilen und wird ab 1967 durch Kishons Patriotismus im deutschen Diskurs zusätzlich durch das Bild eines politischen »Hardliners« irritiert. Des Weiteren hat Kishon ab den 1990er Jahren nach Veröffentlichung seiner Autobiographie seine Erfahrungen der Schoah in seine Humorpoetik integriert. Er definierte Humor als Strategie, die das psychische und geistige Überleben eines Menschen ermöglicht: »Es bleibt nur lachen. Wer lacht ist nicht besiegt. Solange ich lachen kann, bin ich ein Mensch mit Ehre.«47 Seine Überlebensgeschichte wird damit seinem Wirken als Humorist und Satiriker bzw. seiner Humorpoetik genuin eingeschrieben. Sein erstes satirisches Werk überhaupt, das unter dem Titel Mein Kamm48 in Anspielung auf Adolf Hitlers Mein Kampf auf Deutsch 1997 erschien, schrieb er nach eigenen Angaben untergetaucht im Versteck in Budapest (Nzl 107–111). Diesem Narrativ zufolge wurde Kishon also gerade durch seine Überlebenserfahrung zum Autor von »israelischen Satiren«.
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Magenau: Bestseller, S. 23. Kishon: Allerbeste Geschichten, S. 26. Ephraim Kishon: Mein Kamm. Satirischer Roman. München, Berlin 1997.
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3. Voraussetzungen und Grenzen für eine Versöhnung bei Kishon Die widerständigen Momente gegen ein reines Entlastungs- oder Versöhnungsnarrativ basieren also auf Kishons Überlebenserfahrung der Schoah, die in einigen Texten direkt thematisiert wird oder unterschwellig präsent ist. Erst in seiner Autobiographie erfahren die deutschsprachigen Lesenden Details über Kishons Zwangsarbeit im Rahmen des ungarischen »Arbeitsdienstes« für wehrpflichtige jüdische Männer. Kishon, damals noch Ferenc Hoffmann, wurde als knapp Zwanzigjähriger am 15. Mai 1944 im Kontext der Deportation der Juden und Jüdinnen aus Ungarn zum Arbeitsdienst eingezogen. Er musste in den Lagern Jolsva und Fulek (heutige Slowakei) Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten.49 Kishon berichtet von Zwangsmärschen, schlechter Ernährung, Krankheit, unzureichender Unterbringung, Bestrafungen, Erschießungen und lebensgefährlicher schwerer körperlicher Arbeit ohne entsprechende Ausrüstung, aber auch von Freundschaften unter den Batallionsmitgliedern. Weil ein Lagerkommandant ihn aufgrund seiner Kenntnisse im Schachspiel als Mitspieler ins Büro holt, erhält er Informationen über bevorstehende Deportationen und flieht mit seinem Freund János Lissauer. Bis zur Befreiung Budapests durch die Rote Armee im Januar 1945 überlebte er untergetaucht in der Stadt (Nzl 58–70). Basierend auf diesen Erfahrungen hat sich Kishons Versöhnungsbereitschaft erst über einen gewissen Zeitraum entwickelt – und sie hat Grenzen. Der Hauptantrieb dafür scheint nach einhelliger Meinung sein enormer Erfolg in der BRD gewesen zu sein, den er selbst als »Genugtuung« empfand.50 Es gibt jedoch weitere persönliche und lebensgeschichtliche Bedingungen, die es Kishon im Laufe der Zeit ermöglicht haben, zu einer versöhnlichen Haltung zumindest gegenüber einem Teil der bundesdeutschen Gesellschaft zu finden. Während seiner Anfänge als Kolumnist für Maariv in den 1950er Jahren stand Kishon einer Versöhnung oder auch nur Annäherung an die Bundesrepublik zunächst sehr kritisch gegenüber51 :
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Beide Lager wurden im Rahmen des Gesetzes zur Zwangsarbeitsentschädigung 2003 in das Haftstättenverzeichnis der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« (EVZ) aufgenommen. URL: https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/haftstaetten /index.php (21.10.2020). Vgl. Finder: An Irony of History, S. 150; Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 1. Vgl. Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 1.
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot
Jaron: 1952 haben Sie sich aber gegen kulturelle Beziehungen zu Deutschland ausgesprochen. [Kishon:] Ja, das war sieben Jahre nach Kriegsende. Ich war damals dagegen, in Israel deutschsprachige Filme zu zeigen. Aber auch damals wohnten bereits zwei Seelen in meiner Brust […]. Der Verstand argumentierte, daß Deutsch ja auch die Sprache Goethes, Heines, Herzls und Kafkas war, es also unlogisch wäre, diese traditionsreiche Sprache abzulehnen. »Hier geht es nicht um Logik«, antwortete das Herz, »die Logik ist in Auschwitz verbrannt.« (Nzl 135) Deutlich polemisch hakt Jaron London nach: Jaron: In der Zwischenzeit hat sich Ihre Logik offenbar wieder erholt. [Kishon:] Das ist nicht eine Frage der Logik, sondern der Heilkraft der Zeit. Bedenken Sie doch, ein heute 60jähriger Deutscher war in der Nazizeit noch ein Kind. Er kann also gar nicht zur Verantwortung gezogen werden. (Nzl 135) Basis für Kishons Annäherung an eine versöhnliche Haltung ist erstens, dass Kishon von Kind an einen Bezug zur deutschsprachigen Kultur hatte. Er wuchs in der österreichisch-ungarischen Kultur auf, hatte als Kind Deutsch gelernt und seine erste Ehefrau Chawa Klamer war eine österreichische Jüdin. Ganz selbstverständlich nennt er Heinrich Heine, Franz Kafka und Theodor Herzl als literarische Vorbilder. Seit den 1960er Jahren näherte sich Kishon der deutschsprachigen Kultur stark an. So ging er mit Torberg in der Bundesrepublik auf Lesereisen und inszenierte dort und in der Schweiz seine Theaterstücke. Seine Deutschkenntnisse baute er so weit aus, dass er nach Torbergs Tod mit Hilfe von Verlagsmitarbeiterinnen seine Texte auf Deutsch schreiben und bearbeiten konnte.52 Diese Entwicklung wurde durch seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Torberg vermittelt, die die deutschen Übersetzungen seiner Satiren zu einem »jüdischen Projekt« machten, und durch seinen großen Erfolg verstärkt. Außerdem bot Kishon diese Annäherung einen Zugang zu Europa, der ihm zum kommunistischen Ungarn einige Jahrzehnte verwehrt war. Kishon differenzierte zweitens in seiner Haltung die unterschiedlichen Generationen von Deutschen: Ich erwähnte ja bereits, daß es eine Genugtuung für mich ist, die Söhne und Enkel der Mörder meines Volkes zu meinen begeisterten Lesern zu zählen 52
Vgl. Impressum von Ephraim Kishon: Nichts zu lachen: »Aus dem Hebräischen von Ursula Abrahamy und Ephraim Kishon«.
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[…]. Ich fühle bis heute tödlichen Haß gegen jene Nazimonster, die danach gierten, meine Mutter nackt im Kreis herumzujagen, aber mit der heutigen Generation in Deutschland habe ich längst Frieden geschlossen. Der Begriff Kollektivschuld existiert für mich nicht, wenn es auch eine kollektive Schande gibt. Diese Empfindung erwarte ich sogar von meinen deutschen Freunden. Und nicht nur ich denke so, auch meine in Israel geborenen drei Kinder sind meiner Meinung. Die haben keinerlei Vorurteile gegenüber den Enkelkindern der Nazis. (Nzl 87–88) Aus diesem Zitat geht außerdem hervor, dass Kishons Differenzierung zwischen den Generationen auf einer Unterscheidung zwischen Schuld und Scham beruht. Er verneint in den 1990er Jahren eine Kollektivschuld, besteht aber auf einem kollektiven Schamgefühl der Deutschen; einem Schamgefühl, das einem verharmlosenden »Als wäre nichts Geschehen« entgegenstehen müsste. Für Kishon bleibt etwas Unverzeihliches, gibt es keine Versöhnung mit der Generation »der Nazis«, d.h. den direkt oder indirekt an der Schoah Beteiligten.53 Dies schließt jedoch keine Übertragung auf die Generation der Enkel ein. Kishons Bereitschaft zu verzeihen beruhte drittens auch darauf, dass er seine Verfolgung weitgehend durch ungarische Bewacher in von ungarischem Militär betriebenen Zwangsarbeitsstätten erlebt hatte. Deshalb betonte er früh die europäische Dimension der Beteiligung an der Schoah: Jaron: Es gibt Israelis, die reisen nur nach Deutschland, wenn es ihr Beruf erfordert, niemals aber als Touristen. [Kishon:] Israelis, die so denken, müßten ganz Europa von ihren Reiseplänen streichen. Glauben Sie etwa, die Slowaken oder Ungarn waren besser als die Deutschen? […] Hat die rumänische ›Eiserne Garde‹ nicht massenweise Juden umgebracht? Und die Polen waren wohl völlig unschuldig daran, daß ihr 53
Dies unterscheidet Kishon von der Haltung des französischen jüdischen Philosophen Vladimir Jankélévitch, der 1971 im Rahmen der Debatte um die Verjährung der Kollaborationsverbrechen in Frankreich für das Unverzeihliche der Verbrechen der Schoah, eine radikale Unversöhnlichkeit gegenüber allem, was mit Deutschland zu tun hatte, sowie eine Übertragung der Schuld auf die Enkelgeneration plädierte und daran bis zu seinem Tod 1985 festhielt. Vladimir Jankélévitch: Verzeihen? Frankfurt a.M. 2006 [1971]. Kishon äußerte seine versöhnliche Haltung erst in den 1990er Jahren, in denen er sich auf die Kinder- und Enkelgenerationen konzentrieren konnte. Zu Beginn seiner Karriere in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren gehörten jedoch viele Angehörige der »Tätergeneration« zu seinem Publikum.
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot
Land als günstigster Platz für die Vernichtungslager ausersehen wurde, nicht zu reden von den kollaborierenden französischen Polizeichefs und den guten Holländern, aus deren Reihen sich 110.000 freiwillig zu den Sturmtrupps der SS gemeldet haben. Wer in diesem Punkt ehrlich zu sich selbst ist, wird in Europa wohl kaum ein Fleckchen finden, das er guten Gewissens betreten kann. (Nzl 136) Mit seiner These eines europäischen Völkermords an den Juden und Jüdinnen Europas macht Kishon indirekt ein Entlastungsangebot an die deutschen Lesenden, denn dass die Schoah im Deutschen Reich geplant und unter deutscher Leitung in den besetzten Ländern ausgeführt wurde,54 tritt in dieser Sichtweise in den Hintergrund.55
4. Versöhnung, Erfolg – und ihr Preis Kishons Erfolg und Popularität basierten auf persönlichen Beschädigungen, die er vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen hielt. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit übernahm außerdem Torberg die Rolle, Kishons Engagement im deutschen Erinnerungskurs zu mediieren. Erst nach Torbergs Tod 1979 kam es in den 1990er Jahren zu problematischen Interventionen, in denen Kishons Position als Schoah-Überlebender eine wichtige Funktion hatte. Kishon hat seine Überlebenserfahrung im Vergleich mit dem, was andere in den Vernichtungslagern erleben mussten, als weniger gravierend angesehen und u.a. deshalb erst spät über seine Erinnerungen gesprochen (Nzl 63).56 Dies führte dazu, dass Kishons Überlebensgeschichte von Beginn an und sicherlich ebenso aus vermarktungstechnischen Gründen durch eine humoristische Darstellung entschärft wurde und dadurch lange Zeit im Rezeptionsprozess ausgeblendet werden konnte. So ist dem ersten Satirenband Drehn Sie sich um, Frau Lot! ein Lebenslauf beigefügt, in dem Kishons Überleben der Schoah indirekt formuliert wurde: »am 23.8.1924 geboren in Ungarn, neugeboren
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Vgl. Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880–1945. Frankfurt a.M. 2017, S. 10. Aly betont gleichzeitig die »Tatherrschaft der Deutschen«. Vgl. hierzu auch die Einschätzung von Doerry: Adolfs süßer Traum, S. 232. Doerry beunruhigte »die Wirkung auf das deutsche Publikum«: »Nicht in einer einzigen Zeile nötigt Kishon ihn [den Leser, Anm. BMK] zu Anerkennung von Schuld.« Hier spielt sicherlich die späte Anerkennung der Leiden der Zwangsarbeiter/innen erst in den 2000er Jahren eine Rolle.
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1949 in Israel. Zu viele Schulen. Zu viele Arbeitslager, ungarische, deutsche, russische.«57 Sein Überleben als Zwangsarbeiter wird also durchaus benannt, aber durch die Parallelisierung mit »zu viele Schulen« humoristisch verharmlost. Durch die Aufzählung verschiedener nationaler Verantwortlichkeiten verschwindet die primäre Verantwortung des Deutschen Reichs für die an ihm begangenen Verbrechen. Auch seine Autobiographie verpackt Kishon »in ein ironisches Parlando, das den erlebten Schrecken zuweilen zur Petitesse macht«.58 Entgegen Kishons Behauptung, keine psychischen Schäden davongetragen zu haben (Nzl 83), war sein Privatleben stark von seiner Überlebenserfahrung geprägt. Aus den Erzählungen seiner Kinder Rafi, Amir und Renana sowie seiner letzten Ehefrau, der Autorin Lisa Kishon-Witasek, lässt sich auf eine intensive Beschäftigung mit der NS-Zeit und tiefe Verletzungen schließen. Dies bestätigen Anekdoten wie etwa, dass Kishon sein Motorrad nach dem österreichischen SS-Funktionär Ernst Kaltenbrunner59 , der bei den Nürnberger Prozessen als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet wurde, benannte (Nzl, Abb. 14). Im Dokumentarfilm Kishon (Israel 2017, Regie: Eliav Lilti) berichten seine Kinder, er sei im Auto durch Tel Aviv gefahren und habe sich auf Kassette Reden von Hitler oder Goebbels angehört. Dies kann als eine Art Rache des Überlebenden verstanden werden.60 Amir Kishon berichtet von den psychischen Verletzungen, die sein Vater durch die Verfolgung während der Schoah davongetragen hatte: Die Augen meines Vaters glichen einer Weitwinkelkamera mit einem hochempfindlichen Film, die […] noch die kleinsten Einzelheiten der Realität und des menschlichen Verhaltens ausspür[t]. […] Dieses Gespür half ihm, ein wunderbares Lebenswerk zu hinterlassen, aber zu einem hohen Preis auf der persönlichen Ebene. Während des Holocaust war der hochempfindliche Film zu lange dem Blitzgewitter von Hass, Gewalt […] ausgesetzt, die ringsum herrschten. Die Menschen, die ihn aus nächster Nähe erlebten, wussten,
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Torberg: Klappentext. Doerry: Adolfs süßer Traum, S. 232. Ernst Kaltenbrunner, ab 1943 Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und damit u.a. verantwortlich für die Einsatzgruppen. Lisa Kishon-Witasek: Geliebter Ephraim. München 2012, S. 56.
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dass sich hinter der öffentlichen Person ein »persönlicher Film« verbarg, der Schaden genommen hatte und zu einer chronischen Depression beitrug.61 Die tiefsitzenden Ängste durch seine Fluchtgeschichte (aus dem Arbeitslager, von einem russischen Gefangenentransport, aus dem kommunistischen Ungarn) führten zu Albträumen und einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis, das sich in einer »hochentwickelten Alarmanlage«62 ausdrückte. Im Alter reiste Kishon immer mit sehr viel Bargeld, verschiedenen, zum Teil selbstgebastelten Ausweisen, einem Revolver und ausreichend Zyankali, um in einer Gefahrensituation nicht wehrlos zu sein.63 Ein Verhalten, das sich auf sein »alterprobte[s] Flüchtlingsbenehmen«64 zurückführen lasse. Ungeachtet der eigenen traumatischen Überlebensgeschichte wirkte Kishon mit seiner Haltung der Versöhnung durch Erfolg in irritierender Weise auf den bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurs ein. Dies betrifft vor allem Kishons Loyalität zu seinem Verleger Herbert Fleissner, der 1967 den Langen Müller Verlag übernahm und eine Publikationsstrategie verfolgte, die neben jüdischen ›Alibi‹-Autoren, wie Kishon, Torberg und Simon Wiesenthal auch ehemalige NS-Autoren und Autor/innen der Neuen Rechten publizierte.65 Kishon verteidigte seinen Verleger, dem er 1989 einen »Ephraim KishonPreis« für den »besten Verleger von allen« verlieh,66 gegen diesbezügliche Anschuldigungen. Aus dem Briefwechsel von Kishon und Torberg geht hervor, dass beide sehr wohl über Fleissners zweifelhaftes Engagement Bescheid wussten. Nicht umsonst nannten sie ihn in ihren Briefen »Sudetendoc« oder »Sudetenfleissy«.67 Torberg selbst, der einen Großteil seines Gesamtwerks dem Langen Müller Verlag anvertraut hatte, zog nach mehreren Vorfällen – rechtslastige Bücher und Werbeanzeigen im Verlagsprogramm sowie ein Coverentwurf für Die Tante Jolesch (1975), der mit antisemitischen Klischees operierte – ein 61
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Amir Kishon: Der Humorist – eine Weitwinkelkamera. In: Ephraim Kishon: Der beste Vater von allen. Ausgewählte und kommentierte Geschichten von Rafi, Amir und Renana Kishon. München 2016, S. 142‒143. Ebd., 134. Vgl. Kishon-Witasek: Geliebter Ephraim, S. 45‒47. Ebd., S. 56. Vgl. Hans Sarkowicz: Rechte Geschäfte. Ebd., S. 32. Diese Passagen wurden für den in Auswahl publizierten Briefwechsel unkommentiert gestrichen. Sie finden sich u.a. in: Kishon an Torberg, 05.12.1968, Torberg an Kishon, 27.12.1968. In: Friedrich Torberg: Nachlass. ONB, Sig. 37.457.
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resigniertes Fazit und bereute an seinem Lebensende seine Zusammenarbeit mit dem Verlag unter Fleissner.68 Ganz anders Kishon, der nach Torbergs Tod 1979 weiter mit dem Langen Müller Verlag zusammenarbeitete. Sarkowicz urteilt: »Kishon, selbst Überlebender des Holocaust, scheint sich mit Deutschland ausgesöhnt zu haben«, und verweist auf die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Autor und Verleger und die für beide günstigen finanziellen Erfolge.69 Es waren tatsächlich Fleissners neue Vermarktungsmethoden, vor allem die unzähligen Taschenbuchausgaben, die Kishon ab 1967 zu einem Bestsellerautor gemacht haben, dessen Satiresammlungen in fast jedem Bücherregal in der Bundesrepublik zu finden waren.70 Des Weiteren verband Fleissner und Kishon politisch ein Nationalismus (freilich aus vollkommen unterschiedlichen Erfahrungen)71 , den sie auf das literarische Feld übertrugen und dessen Funktion die »Abgrenzung von der politischen und intellektuellen Linken«72 gewesen sei. Dadurch trug Kishon mit seinem Namen indirekt zur Verharmlosung und Rehabilitierung rechter Autoren und (neu)rechten Gedankenguts in der Bundesrepublik gerade nach der Wiedervereinigung bei.
5. Fazit Die Marke Ephraim Kishon umfasst Aspekte einer Versöhnung zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden und Jüdinnen, zwischen Deutschland und Israel auf individueller, poetologischer, gesellschaftlicher und erinnerungspolitischer Ebene. Die Versöhnung in Kishons Namen ist aber nicht ohne Ambivalenzen, weder auf der Ebene des Autors, der deutschsprachigen
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Vgl. u.a. Torberg an Fleissner, 07.03.1979. In: Friedrich Torberg: Nachlass. Wienbibliothek, ZPH 8/5 Langen Müller Verlag. Sarkowicz: Rechte Geschäfte, S. 31. Auf letzteres weist auch Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 3 hin. Behre, ebd., betont die Bedeutung Kishons als »Symbol für den ökonomischen Strukturwandel des westdeutschen Buchmarktes«. Ebd. Kishons Antikommunismus, der sich aus seinen Erfahrungen im kommunistischen und stalinistischen Ungarn in den 1940er Jahren speiste, und seine pro-israelische Haltung, die er als Überlebensgrundlage verstand, unterscheiden sich entschieden von Fleissners Engagement für Sudetendeutscheverbände sowie neurechte und ehemalige NS-Autoren. Behre: Kishon für Deutsche, Abschnitt 3.
Ephraim Kishons »israelischer Humor« als ambivalentes Versöhnungsangebot
Lesenden, noch in Bezug auf die Rolle, die Kishon in der Erinnerungspolitik zugeschrieben wurde und wird. Sie gilt nicht einmal auf der Ebene der Texte uneingeschränkt, da einige sich als widerständiger erweisen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Kishons Selbstaussagen machen deutlich, dass über seine Texte zu lachen, ›gemeinsam mit Juden und Jüdinnen‹ lachen zu wollen, als ethische Voraussetzung ein nicht weglachbares Schamgefühl über die deutschen Verbrechen und die deutsche Tatherrschaft in der Schoah erfordert. Auch bei Kishon als Ikone der Versöhnung zwischen Israel und Deutschland, Juden/Jüdinnen und nichtjüdischen Deutschen bleibt das Unverzeihliche der Schoah und ein Nichtverzeihen gegenüber der Tätergeneration bestehen. Auch ein »israelischer Humor« in Form einer »harmlosen Satire« kann und möchte diese Entlastung nicht bieten.
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Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald Anmerkungen zur Stuttgarter Rede Robert Forkel
Bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte, der Eröffnung des Literaturhauses Stuttgart am 17. November 2001, unternimmt W. G. Sebald eine Funktionsbestimmung von Literatur, die seither immer wieder zitiert und Interpretationen unterzogen wird: Wozu also Literatur? […] Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.1 Da Sebald diese These nicht weiter ausführt und vier Wochen später plötzlich stirbt, bleibt der von ihm verwendete Restitutionsbegriff rätselhaft – was die Sebald-Forschung nicht daran hindert, ihn zunehmend als poetologischen Grundbegriff zu handhaben. Seine Aufnahme in die Titel zahlreicher Aufsätze, Monografien und Sammelbände (bzw. in darin enthaltene Zwischenüberschriften) scheint nur in den seltensten Fällen durch einen damit erzielten Erkenntnisgewinn gerechtfertigt. Vielmehr fallen die Versuche,
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W. G. Sebald: Ein Versuch der Restitution. In: ders.: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. München/Wien 2003. S. 240–248, hier S. 247f. Im Folgenden zitiert als CS mit Seitenzahl. Im originalen Redemanuskript heißt es – handschriftlich von Sebald ergänzt – »bloße Wissenschaft«, vgl. das fotokopierte Autograph sowie den Wiederabdruck in der Fassung von W. G. Sebald: Zerstreute Reminiszenzen. Gedanken zur Eröffnung eines Stuttgarter Hauses. Hg. v. Florian Höllerer. Warmbronn 2008, S. 25. Diese Fassung berücksichtigt die letzten schriftlich festgehaltenen (nach meiner Zählung 15) Änderungen, ist aber in einer Auflage von lediglich 800 – längst vergriffenen – Exemplaren erschienen und somit nur schwer zugänglich. Daher wird im Folgenden, sofern keine relevanten Abweichungen vorliegen, aus der Druckfassung von 2003 zitiert.
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den Restitutionsbegriff in der Analyse von Sebalds Werken zur Anwendung oder mit bereits vorliegenden Forschungsergebnissen in Übereinstimmung zu bringen, oftmals recht abenteuerlich aus. So wird in manchen deutschsprachigen Publikationen der Latinismus kurzerhand durch vermeintliche Synonyme oder Entsprechungen ersetzt, etwa durch »Wiedergutmachung«2 , »Rückerstattung«3 , »Rekonstruktion« und »Heilung«4 oder gar »Aufhebung einer Verbannung«5 . Dass Sebald bewusst den Latinismus ›Restitution‹ gewählt haben könnte, um voreiligen Deutungen vorzubeugen, wird gar nicht erst in Erwägung gezogen.6 Überdies wird der (bei Sebald unbenannte) Gegenstand der Restitution nach eigenem Ermessen ergänzt. So spricht Johanna Bohley von einer »Restitution der Opfer«7 , Uwe Schütte von »Restitution geschehe-
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Jan Ceuppens: Vorbildhafte Trauer. W. G. Sebalds Die Ausgewanderten und die Rhetorik der Restitution. Eggingen 2009, S. 342. Ceuppens stellt seiner Dissertation den DudenEintrag zu ›Restitution‹ gleichsam als Motto voran und verwendet den Begriff dann – ohne weitere Schärfung und erst auf der letzten Seite seiner Arbeit – im Sinne von Wiedergutmachung. »Restitution, nicht als Schadenersatz oder Entschädigung, nicht als Wiederherstellung und sicherlich nicht als Heilung. Restitution eher im juristischen Sinn von Rückerstattung.« (Irene Heidelberger-Leonard: Zwischen Aneignung und Restitution. Die Beschreibung des Unglücks von W. G. Sebald. Versuch einer Annäherung. In: W. G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Hg. v. ders. u. Mireille Tabah. Berlin/Münster 2008. S. 9–23, hier S. 21.) Rebekka Schnell: Natures Mortes. Zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W. G. Sebald und Claude Simon. Paderborn 2016, S. 197–199. Peter Schmucker verweist auf den originalen Terminus ›restitutio‹ und schlägt dessen Bedeutungen im Lateinwörterbuch nach. Eine davon – »Aufhebung einer Verbannung« – übernimmt er für seine Sebald-Interpretation: »im Kontext der zitierten Passage aus der Stuttgarter Rede kann ›Restitution‹ somit auch die Aufhebung einer Verbannung ins Vergessen bedeuten, die Rückführung in das individuelle und kollektive Gedächtnis« (Peter Schmucker: Grenzübertretungen. Intertextualität im Werk von W. G. Sebald. Berlin/Boston 2012, S. 436). Mit Ausnahme von Lynn L. Wolff: »Der Autor zwischen Literatur und Politik«: H. G. Adler’s »Engagement« and W. G. Sebald’s »Restitution«. In: Witnessing, Memory, Poetics. H. G. Adler & W. G. Sebald. Hg. v. ders. u. Helen Finch. Rochester (NY) 2014. S. 137–156, hier S. 147f. Johanna Bohley: Zur Poetik blinder Flecken in W. G. Sebalds Austerlitz im Kontext der Nachkriegszeit. In: Geschichte und Gedächtnis in der Literatur vom 18. bis 21. Jahrhundert. Hg. v. Janusz Golec u. Irmela von der Lühe. Frankfurt a.M. 2011. S. 161–176, hier S. 162.
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald
nen Unrechts«8 , Stephan Seitz sowohl von »Restitution vergangener Zeit«9 als auch von »Geschichte als Restitution«10 , Paul Whitehead von »Restitution der Vergangenheit«11 und Anna Seidl von »Restitution von Geschichte«12 . Espen Ingebrigtsen hingegen sieht das restituierende Moment in Sebalds Schreibverfahren, namentlich in seiner literarischen Technik des Zitierens.13 Ungeachtet dieser auffallend unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Begriffsverwendungen wurde ›literature of restitution‹ sogar als Gattungsbegriff ins Gespräch gebracht.14 Kurzum, in der Forschung ist die Annahme verbreitet, mit dem Restitutionsbegriff einen Schlüssel zu Sebalds Poetologie an die Hand bekommen zu haben, mit dem sich ein – vielleicht sogar abschließendes – literaturgeschichtliches Urteil über sein Werk fällen lasse.15 Man kann sich aber auch fragen, ob der Stuttgarter Rede die gleiche Aufmerksamkeit zuteilgeworden wäre, wenn Sebald nicht kurz darauf gestorben wäre. Denn tatsächlich entsteht manchmal der Eindruck, diesen Worten werde nur deshalb so viel Gewicht beigemessen, weil sie das Ende seines Schaffens markieren. Die Zentralstellung des Restitutionsbegriffs scheint dabei häufig mehr der Apotheose des Autors als dem literaturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu dienen. Eine genauere Lektüre des Redemanuskripts in seinem argumentativen Gesamtzusammenhang findet jedenfalls – soweit ich die Forschung
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Uwe Schütte: Annäherungen. Sieben Essays zu W. G. Sebald. Wien [u.a.] 2019, S. 55. Stephan Seitz: Geschichte als bricolage – W. G. Sebald und die Poetik des Bastelns. Göttingen 2011, S. 48. Ebd., S. 44. Paul Whitehead: Im Abseits. W. G. Sebalds Ästhetik des Marginalen. Bielefeld 2019, S. 238. Anna Seidl: W. G. Sebalds poetische Wallfahrten: Geschichte zwischen Untergang und Rettung. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68 (2016) H. 2, S. 136–152, hier S. 136. Vgl. Espen Ingebrigtsen: Bisse ins Sacktuch. Zur mehrfachkodierten Intertextualität bei W. G. Sebald. Bielefeld 2016, S. 48–55. Vgl. Russell J. A. Kilbourn: The question of genre in W. G. Sebald’s ›prose‹ (towards a post-memorial literature of restitution). In: A literature of restitution. Critical essays on W. G. Sebald. Hg. v. Jeannette Baxter, Valerie Henitiuk u. Ben Hutchinson. Manchester/New York 2013. S. 247–264. Dabei ist strenggenommen nicht einmal mit Gewissheit anzunehmen, dass sich Sebald mit seinem Restitutionspostulat auf sein eigenes Werk bezieht, vgl. hierzu Mario Gotterbarm: Die Gewalt des Moralisten. Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik bei W. G. Sebald. Paderborn 2016, S. 14.
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überblicke16 – so gut wie nie statt. Dabei haben wir es mit einem sehr präzise ausgearbeiteten Vortrag zu tun, in dem Sebald seine Poetologie nicht nur erläutert, sondern auch unmittelbar demonstriert. Der vorliegende Beitrag skizziert die inter- und intratextuellen Bezüge der Rede und bietet daran anknüpfend eine Lesart an, die den Restitutionsbegriff in den Kontext einer deutsch-jüdischen Versöhnung stellt.
1. Zerstreute Reminiszenzen Der prononciert formulierte und zugleich doppeldeutige17 Titel Ein Versuch der Restitution verleitet leicht zu der Annahme, die Rede wolle insgesamt vor dem Hintergrund des Restitutionsgedankens verstanden werden.18 Dabei wird übersehen, dass der Text ursprünglich mit Zerstreute Reminiszenzen. Gedanken zur Eröffnung eines Stuttgarter Hauses überschrieben war. Diesen Titel hatte Sebald handschriftlich dem Redemanuskript hinzugefügt, das er vorab der Stuttgarter Zeitung für die Erstpublikation am 19. November 2001 hatte zukommen lassen.19 Die Ersetzung des originalen Titels erfolgt im Zuge der Herausgabe des Nachlassbandes Campo Santo – Sebalds Rede wird somit erst postum insgesamt unter das Thema einer Restitutionspoetik gestellt. Für die zahlreichen autobiografischen Erinnerungssequenzen (insbesondere in der ersten Hälfte der Rede) wäre die ursprüngliche Ankündigung 16
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Was wohlgemerkt kaum möglich ist – Uwe Schütte etwa zählt »mehr als fünfzig Monografien, die alleine zwischen 2009 und 2016 erschienen sind« (Uwe Schütte: Von der Notwendigkeit, ein anderes Bild von W. G. Sebald zu zeichnen. In: Über W. G. Sebald. Beiträge zu einem anderen Bild des Autors. Hg. v. dems. Berlin/Boston 2017. S. 3–15, hier S. 3). Der Titel »Ein Versuch der Restitution« zitiert einerseits den vorletzten (und vermeintlich zentralen) Satz der Rede, ließe sich aber auch auf die Rede insgesamt beziehen. In dieser zweiten Deutung würde Sebald seiner Funktionsbestimmung von Literatur, die er am Ende der Rede vornimmt, schon während der Rede entsprechen. So etwa bei Ruth Franklin: A Thousand Darknesses. Lies and Truth in Holocaust Fiction. Oxford/New York 2011, S. 194. Siehe das fotokopierte Autograph in Sebald: Zerstreute Reminiszenzen, sowie die Erläuterungen von Florian Höllerer: Nachbemerkung. In: W. G. Sebald: Zerstreute Reminiszenzen. Gedanken zur Eröffnung eines Stuttgarter Hauses. Hg. v. dems. Warmbronn 2008. S. 26–27, hier S. 26. Auf drei weitere Publikationen im deutschsprachigen Raum sowie ihren englischsprachigen Erstdruck im New Yorker verweist Wolff: »Der Autor zwischen Literatur und Politik«, S. 155.
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald
›zerstreuter Reminiszenzen‹ sicherlich passender gewesen: 1949 gelangt Sebalds Familie in den Besitz eines Kartenspiels mit Vorkriegsansichten deutscher Städte, mit dem der damals Fünfjährige nicht nur zu einem Leser heranreifte, sondern auch eine geografische Leidenschaft entwickelte, die später seine literarischen Arbeiten maßgeblich prägen sollten. Den auf der vierten Karte in der Serie ›Neckarland‹ abgebildeten Stuttgarter Hauptbahnhof zieht Sebald als Schnittpunkt einer Anzahl disparater Ereignisse heran und knüpft ein Band zwischen seiner frühen Kindheit und der Stadt, wo und zu deren Ehren er gerade spricht. Dass er deren Wahrzeichen aus den Zwanzigerjahren kurzerhand als »Natursteinbastion« (CS 242) bezeichnet und die moderne Konstruktion des Bonatz-Bahnhofs folglich mit einer militärischen Festung assoziiert, mag auf das anwesende ortsansässige Publikum anstößig gewirkt haben. Aber zum einen spielt Sebald hiermit, wie mir scheint, auf den Architekturdiskurs in Austerlitz an und zum anderen benötigt er diesen Seitenhieb, um Schwung zu holen für seinen »absurde[n] Gedankensprung« (CS 242) zu jener Ansichtskarte, die eine gewisse Betty »drei Wochen vor dem sogenannten Ausbruch des Zweiten Weltkriegs« (CS 242) in die Heimat nach England geschickt hatte, und die Sebald Ende der Sechzigerjahre in einem Secondhand-Shop in Manchester erstand, wo er von 1966 bis 1968 als Lektor tätig war. Abgesehen davon, dass er flunkert (oder sich falsch erinnert), wenn er behauptet, die Abbildungen auf der Spielkarte und auf der Ansichtskarte zeigen den Bahnhof »in genau der gleichen Perspektive« (CS 242),20 leitet er mittels dieser ›Koinzidenz‹21 geschickt zum Thema seines Vortrags über, nämlich zu den Verbrechen und Zerstörungen im Zusammenhang mit der Nazi-Ideologie sowie dem verdrängenden und verdeckenden Umgang mit dieser jüngeren Vergangenheit. Dieser zweite Aspekt – die Verdrängung – bildet bis hierher den Schwerpunkt: Vom »märchenhaft erscheinenden Warenangebot« (CS 240) des Quellekatalogs im auferstandenen Wirtschaftswunderland und der in den anachronistischen Stadtansichten des Quartettspiels bewahrten heilen Welt bis hin zu der erschreckenden Selbstverständlichkeit, mit der Betty in ihren postalischen
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Siehe die Bildmaterialien in Sebald: Zerstreute Reminiszenzen, S. 7 u. 9. Die auffallend starke (und mitunter unglaubwürdige) Gewichtung des Zufalls firmiert in der Sebald-Forschung als ›Koinzidenzpoetik‹, vgl. erstmals bei Marcel Atze: Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W. G. Sebalds Erzählung »All’estero«. In: W. G. Sebald. Hg. v. Franz Loquai. Eggingen 1997. S. 151–175, sowie die kritische Korrektur von Schmucker: Grenzübertretungen, S. 430–431.
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Feriengrüßen die Teilnahme an einem Fest der Hitlerjugend einreiht in eine Aufzählung freudiger Ereignisse wie dem Sonnenbaden, dem Kinobesuch und einer Geburtstagsfeier – aus drei unterschiedlichen Richtungen zeigt sich hier der verstellte Blick auf das zentrale Gewaltereignis des 20. Jahrhunderts. Gerahmt wird dieser historische Abschnitt durch zwei Erwähnungen des Soldatenvaters: Während Sebald ihn im zweiten Satz der Rede aus der französischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren lässt, lokalisiert er ihn zum Zeitpunkt von Bettys Stuttgarter Ferienaufenthalt »vor der polnischen Grenze in der Slowakei« (CS 242) und spannt damit, aus Sicht seiner eigenen Familiengeschichte, einen acht Jahre umgreifenden Bogen der Verheerung, der zugleich jene berühmte Klammer des Schweigens bildet, an der sich Sebald zeit seines Lebens (nicht nur literarisch) abgearbeitet hat. Diese Sichtblende wird nun im weiteren Verlauf der Rede peu à peu archäologisch durchbrochen. Doch bevor Sebald weitere ›zufällige‹ Berührungspunkte seiner Biografie mit den weltgeschichtlichen Zerstörungsmomenten benennt und dabei konkret auf Kriegsverbrechen, brennende Städte, antisemitische Polizeigewalt und bis in die Gegenwart andauernde militärische Konflikte zu sprechen kommt, macht er – wiederum über Stuttgart, dem beständigen Ankerpunkt seines Gedankengangs – einen Abstecher zu einer poetologischen Reflexion, die sich nicht nur auf sein bisheriges schriftstellerisches Werk bezieht, sondern auch Aufschluss geben soll über eben dieses, in seiner Rede vorgeführte ›koinzidenzpoetische‹ Verfahren: Mit dem Maler Jan Peter Tripp verbindet Sebald bekanntlich eine bis auf die gemeinsame Schulzeit zurückreichende Freundschaft, die ihren künstlerischen Höhepunkt in einer (erst nach Sebalds Tod fertiggestellten) gemeinsamen Publikation findet.22 Als Sebald 1976 nach Stuttgart reist, weniger um den Bonatz-Bahnhof erstmals wahrhaftig in Augenschein zu nehmen, als vielmehr um seinem Freund in der Reinsburgstraße einen Besuch abzustatten, überlässt ihm Tripp einen Stich, auf dem »Daniel Paul Schreber zu sehen ist mit einer Spinne in seinem Schädel« (CS 243). Schreber ist bekannt für seinen autobiografischen Bericht Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), mit dem er, selbst unter einer schweren Psychose leidend, eine ausgesprochen wirkmächtige
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W. G. Sebald/Jan Peter Tripp: »Unerzählt«. 33 Texte und 33 Radierungen. Mit einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger und einem Nachwort von Andrea Köhler. München/Wien 2003.
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Fallstudie seiner eigenen Krankheit vorgelegt hatte.23 Insofern dürfte die in Schrebers Kopf hineingezeichnete Spinne als Würdigung seiner Person und vielleicht vielmehr noch seines Denkens verstanden werden, ringt uns die Spinne doch Bewunderung ab angesichts ihrer Fähigkeiten der Strukturbildung mittels eines fast unsichtbaren und dennoch stabilen Fadens. Die Spinnennetzmetaphorik aufgreifend kommt Sebald nun auf seine eigene literarische Schreibweise zu sprechen und charakterisiert sie als »Vernetzung, in der Manier der nature morte, anscheinend weit auseinander liegender Dinge«24 (CS 244).25 Intratextuell kommentiert er damit nicht nur die vorangegangene ›Vernetzung‹ des Städtequartetts mit Bettys Postkarte und seinem ersten Stuttgartbesuch, sondern rechtfertigt auch die nachfolgenden »wuselnden Gedanken« (CS 243) bzw. »zerstreuten Reminiszenzen«. Dabei spinnt er seinen Faden von Tripps Stuttgarter Adresse – der Reinsburgstraße – zu dem früheren DP-Lager, das nach Kriegsende in eben dieser Straße eingerichtet worden war und wo am 29. März 1946 der Auschwitz-Überlebende Samuel
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Das Buch befindet sich in Sebalds Nachlassbibliothek (Deutsches Literaturarchiv Marbach) und dem Gedicht Schaurige Wirkung des Höllentälers auf meine Nerven zufolge hat er es bei einem Besuch in Freiburg gelesen: »Auf dem Münsterplatz/einer vor vielen Jahren/verlassenen Stadt/sitzt der Auswanderer/lesend die geheime Geschichte/des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber« (LW 54). Entstanden ist es vermutlich zwischen 1981 und 1984, vgl. Sven Meyer: Portrait ohne Absicht: Der Lyriker W. G. Sebald. Nachwort. In: W. G. Sebald: Über das Land und das Wasser. Ausgewählte Gedichte 1964–2001. München 2008. S. 105–112, hier S. 106. In der Redemanuskript-Fassung heißt es leicht abweichend »nach der Manier einer nature morte« (Sebald: Zerstreute Reminiszenzen, S. 12). Die dichterische »Vernetzung« erfüllt Sebald zufolge somit eine Art Gedächtnisfunktion, die er an anderer Stelle auch Tripps Bildern zuspricht: »Dem Thema des Todes verbunden ist das der vergehenden, der vergangenen und verlorenen Zeit, die in den Bildern Jan Peter Tripps, ganz nach der Vorschrift Prousts, aufgehoben wird, indem ephemere Augenblicke und Konstellationen ihrem Ablauf entzogen werden. Ein roter Handschuh, ein abgebranntes Zündhölzchen, eine Perlzwiebel auf einem Schneidbrett, diese Dinge tragen dann alle Zeit in sich, sind durch die passionierte Geduldsarbeit des Malers gewissermaßen für immer gerettet. Die Erinnerungsaura, die sie umgibt, verleiht ihnen den Charakter von Andenken […].« (W. G. Sebald: Wie Tag und Nacht – Über die Bilder Jan Peter Tripps. In: ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2009. S. 169–188, hier S. 183.)
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Danziger bei einer antisemitisch motivierten Razzia von einem deutschen Polizisten aus nächster Nähe erschossen wurde.26
2. Feuersee Im darauffolgenden Absatz berichtet Sebald von einem wiederkehrenden Gedanken beim Passieren der Stuttgarter S-Bahn-Station Feuersee: Warum denke ich, wenn ich mit der S-Bahn gegen die Stuttgarter Stadtmitte fahre, an der Station Feuersee jedesmal, daß es über uns noch brennt und daß wir seit der Schreckenszeit der letzten Kriegsjahre in einer Art Untergrund wohnen, obwohl wir doch alles so wunderbar wieder aufgebaut haben ringsherum? (CS 244) Die Station ist benannt nach dem unmittelbar angrenzenden Stadtviertel in Stuttgart-West, dessen Name wiederum auf den dort befindlichen Löschwasserteich an der Johanneskirche zurückgeht. Es ist aber augenscheinlich nicht dieser indexikalische Verweis auf den aktuellen Standort, der Sebald auf der Durchreise zu dem Gedankenspiel reizt, die von Fliegerbomben in Brand gesetzte Stadt stehe noch immer in Flammen. Vielmehr ist der Signifikant ›Feuersee‹ zunächst einmal symbolisch zu verstehen und mit der in dem Zitat aufgerufenen vertikalen Raumsemantik in Verbindung zu bringen. Dazu sollte man wissen, dass es sich bei besagter Haltestelle um eine U-Bahn-Station handelt und Sebalds dystopische Visionen somit an einem Ort unterhalb der Erdoberfläche stattfinden. In dieser ›Unterwelt‹ verweist das Haltestellenschild ›Feuersee‹ allerdings nicht etwa auf die sogenannte Hölle, sondern auf einen Ort der ewigen und somit endgültigen Vernichtung, dessen hebräische und altgriechische Bezeichnung sich von dem historischen Hinnomtal bei Jerusalem herleitet und der in der Lutherübersetzung ›feuriger Pfuhl‹ genannt wird. Während man sich die Hölle – als Ort der Qualen – gewissermaßen noch immer als einen Ort des Lebens vorstellen muss, heißt es in der Offenbarung des
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Die Spinnenmetaphorik erinnert an eine Stelle in Le plaisir du texte von Roland Barthes. In dessen Texttheorie jedoch »löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge« (Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1974, S. 94). Bei Sebald hingegen verschwindet das Subjekt nicht, sondern bleibt – als sinnzentrierendes Bewusstsein (des Schreibens wie des Eingedenkens) – erhalten (siehe dazu weiter unten im vorliegenden Beitrag).
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Johannes, wer nicht geschrieben stehe im Buch des Lebens, werde in den Feuersee geworfen (Offenb. 20, 15). Wer diesen sogenannten ›zweiten Tod‹ (siehe unten) erleidet, hat unwiderruflich jede Chance auf Erlösung verwirkt.27 Wesentlich zugänglicher als diese eschatologische Lesart ist die ikonische Bedeutung von ›Feuersee‹, denn das Kompositum weckt unmittelbar die Vorstellung von brennendem Wasser. Dieses Bild produziert Sebald bereits in seinem Essay Luftkrieg und Literatur, wo es über die Folgen des Brandbombenabwurfs über Hamburg heißt: »In einigen Kanälen brannte das Wasser.«28 Insofern fungiert der Signifikant ›Feuersee‹ nicht nur als synekdochischer Trigger für den Bombenkrieg, sondern legt auch eine intertextuelle Spur frei, die durch den auf den Wiederaufbau verweisenden Konzessivsatz noch verstärkt wird und uns beispielsweise zu folgender Stelle im Luftkrieg-Essay führt: Der inzwischen bereits legendäre und, in einer Hinsicht, tatsächlich bewundernswerte deutsche Wiederaufbau, der, nach den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unterband durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, geschichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.29
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Das Motiv verwendet Sebald bereits in Austerlitz. Seinen ersten Ohnmachtsanfall erleidet Jacques Austerlitz als Student in der Pariser Metro, woraufhin er in das Hôpital de la Salpêtrière eingeliefert wird. »In der halben Bewußtlosigkeit, in der ich mich dort noch Tage befand, sah ich mich herumirren in einem Labyrinth aus meilenlangen Gängen, Gewölben, Galerien und Grotten, in denen die Namen verschiedener Métrostationen – Campo Formio, Crimée, Elysée, Iéna, Invalides, Oberkampf, Simplon, Solferino, Stalingrad – sowie gewisse Verfärbungen und Flecken in der Luft mir darauf hinzudeuten schienen, daß hier der Verbannungsort derjenigen war, die auf den Feldern der Ehre gefallen oder sonst gewaltsam ums Leben gekommen sind. Ich sah Heerzüge dieser Unerlösten in der Ferne über Brücken zum jenseitigen Ufer sich drängen oder in den Tunnelgängen mir entgegenkommen, den Blick starr, kalt und ausgelöscht.« (W. G. Sebald: Austerlitz. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 2017, S. 382–383.) W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Zürcher Vorlesungen. In: ders.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2005. S. 9–110, hier S. 34. Ebd., S. 15–16.
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Indem Sebald hier von einer »zweiten Liquidierung« spricht, greift er einen im Erinnerungsdiskurs der Bundesrepublik gängigen Topos auf.30 Gleichzeitig aber erinnert diese Formulierung an die oben skizzierte eschatologische Figur einer doppelten – und damit endgültigen – Verdammnis. So heißt es in der Einheitsübersetzung: »Der Tod und die Unterwelt aber wurden in den Feuersee geworfen. Das ist der zweite Tod: der Feuersee.« (Offenb. 20, 14) Beim ›zweiten Tod‹ handelt es sich folglich nicht um einen bloß wiederholten Tod, sondern um eine zweite und letzte Stufe, der auch der ›erste Tod‹ zum Opfer fällt und mit der die Hoffnung auf Erlösung endgültig erlischt. Die ›zweite Liquidierung der Vorgeschichte‹, um die man sich – (nicht nur) Sebald zufolge – in der frühen Nachkriegszeit emsig und kollektiv bemüht hatte, steht in dieser Lesart somit für die Verewigung der Entzweiung von Tätern und deren Nachfahren auf der einen und den Opfern des Kriegs und des Holocaust auf der anderen Seite.
3. Eingedenken Der auf die Feuersee-Episode folgende Satz wiederholt den nun bereits mehrfach demonstrierten Erinnerungsmechanismus, indem er die Metapher der besagten »Vernetzung […] anscheinend weit auseinander liegender Dinge« (CS 244) diesmal wörtlich aufgreift: Auf der Fahrt mit dem Taxi in die Innenstadt (vermutlich vom Flugplatz kommend), passiert Sebald in einer »Winternacht«31 (CS 244) den 1990 errichteten Gebäudekomplex des Daimler30
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Vgl. etwa Ralph Giordanos breit angelegte Analyse der ›zweiten Schuld‹ der Deutschen in Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1987. Die Anspielung auf Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht wird von Jürgen Ritte als »Hommage an jene Verschachtelungstechnik Calvinos verstanden […], nach der Sebald seinen Vortrag konstruiert« (Jürgen Ritte: Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Dieter Forte, Walter Kempowski und W. G. Sebald. Berlin 2009, S. 167). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Sebalds Beschäftigung mit Calvinos Harvard-Vorlesungen, die für sein Literaturverständnis richtungsweisend gewesen sein dürften, vgl. Whitehead: Im Abseits, S. 41f. In der ersten Vorlesung spricht Calvino über die Verwandlung der ›versteinerten‹ Welt (und ihrer ›schwergewichtigen‹ wissenschaftlichen Beschreibung) in die ›Leichtigkeit‹ der Dichtung. Er bemüht hierzu den Perseus-Mythos: »In manchen Momenten schien mir, als sei die Welt im Begriff, ganz zu versteinern: ein langsames Versteinern, das je nach Personen und Orten mehr oder weniger weit fortgeschritten war, aber keinen Aspekt des Lebens ausließ. Es war, als
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Konzerns in Stuttgart-Möhringen und nimmt diesen als »in der Dunkelheit glitzernde[s] Lichternetz« (CS 244) wahr. Der daran anknüpfende optische Vergleich mit einem »Sternenfeld, das sich aussät über die ganze Erde« (CS 244), verweist ikonisch auf den Mercedesstern, der nicht nur als sechseinhalb Meter hohes Emblem über dem Firmengelände prangt, sondern auch die Luxuskarosserien »auf den Boulevards von Beverly Hills« (CS 244) sowie die Lastwagen ziere, die weltweit auf zahlreichen Flüchtlingsrouten die Menschen aus ihrer bedrohten oder bereits zerstörten Heimat wegschaffen. Rückblickend lassen sich nun diese drei »Episoden« (CS 244) – der Mord im Stuttgarter DP-Camp, der Bombenkrieg und die Facetten der Automobilisierung – als Anschauungsbeispiele nicht nur für Sebalds literarische Schreibweise begreifen, sondern auch für die damit einhergehenden geschichtsphilosophischen Überzeugungen. Denn was Sebald mit der syntaktischen und intertextuellen Vernetzung auf der discours-Ebene vollzieht, dient ausdrücklich dem »Einhalten einer genauen historischen Perspektive« (CS 244). Damit schwört sich Sebald wohlgemerkt nicht auf die klassischen Methoden der Geschichtswissenschaft ein – im Gegenteil, bekanntlich basiert sein literarisches Werk in weiten Teilen auf einem an Walter Benjamin geschulten geschichtsphilosophischen Messianismus. Immer wieder zeigt Sebald seine Figuren in Situationen, in denen die Zeit stillgestellt erscheint und im Akt des ›Eingedenkens‹ sich eine von Vergangenheit erfüllte sogenannte ›Jetztzeit‹ ausbreitet. Das ›Eingedenken‹ versteht sich dabei als Alternative zur bloßen Verwahrung der Vergangenheit im Gedächtnis – im Gegensatz dazu werde im Eingedenken die Vergangenheit in der gegenwärtigen Erfahrung reaktualisiert.32 Bei Benjamin heißt es: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das
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könnte sich niemand dem unerbittlichen Blick der Medusa entziehen. […] Um den Kopf der Medusa abzuschlagen, ohne dabei zu versteinern, hält Perseus sich an das Allerleichteste, an die Winde und Wolken; und er richtet seinen Blick auf das, was sich ihm nur in einer indirekten Sicht enthüllen kann, als Bild in einem Spiegel. Sofort fühle ich mich versucht, in diesem Mythos eine Allegorie für das Verhältnis des Dichters zur Welt zu sehen, eine Lektion in der Methode, die man beim Schreiben befolgen sollte.« (Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. München 1991, S. 16–17.) In seinem Arbeitsexemplar hat Sebald diese Textstelle handschriftlich mit »Schrecken der Wirklichkeit« kommentiert, siehe Whitehead: Im Abseits, S. 234. Vgl. Stéphane Moses: Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hg. v. Anselm Haverkamp u. Renate Lachmann. München 1993. S. 385–405, hier S. 392.
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auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«33 Wie sich dieses ›Vorbeihuschen‹ im Alltag ereignet, hat Sebald am Beispiel der Reinsburgstraße, der Feuersee-Haltestelle und der Daimler-Zentrale demonstriert.
4. Hölderlin Die nun folgende längere Passage hingegen ist traditionell erzählt. Darin werden Hölderlins34 dichterische Momentaufnahmen von Stuttgart (aus der gleichnamigen Elegie) zitiert und die Lebensstationen innerhalb der Wirren der Revolution und des eigenen Gefühlslebens nachgezeichnet sowie die zahlreichen, häufig zu Fuß zurückgelegten Ortswechsel erwähnt, die ihn bis nach Bordeaux brachten und letztlich hin zu seinem letzten Fluchtort im Tübinger Turm.35 Ein stürmischer Lebenslauf, den Sebald abschließt mit der (Hölder-
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Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. I/2. Frankfurt a.M. 1980. S. 691–704, hier S. 695. Dass sich Sebald in seiner Rede Hölderlin zuwendet, scheint nicht ganz zufällig, denn bekanntlich gibt es in seinem Werk eine Anzahl versteckter, aber auch markierter Hölderlin-Bezüge: Ein abgewandeltes Zitat aus Hölderlins Elegie als Motto der Erzählung Dr. Henry Selwyn; die englische Übersetzung einiger Zeilen aus Brot und Wein und aus Patmos in den Ringen des Saturn, vgl. W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. 11. Aufl. Frankfurt a.M. 2017, S. 206 u. 217, sowie das literarische Porträt Michael Hamburgers an gleicher Stelle, der nicht nur Sebalds Lyrik, sondern auch Hölderlin ins Englische übersetzt hat. Uwe Schütte sieht überdies in der Darstellung Ernst Herbecks in Schwindel. Gefühle. eine Anspielung auf Hölderlin: »so trägt die Schilderung des Ausflugs mit dem Erzähler Ähnlichkeiten zum Bericht von Wilhelm Waiblinger über dessen Besuche beim ›späten‹ Hölderlin« (Uwe Schütte: W. G. Sebald. Leben und literarisches Werk. Berlin/Boston 2020, S. 140). In der Erzählung Paul Bereyter wiederum handle es sich bei Mme. Landaus »selbstvergessen[er]« Äußerung »Le pauvre Paul« um eine Anspielung »auf das berühmte Diktum der Landgräfin von Hessen-Homburg […], die Augenzeugin der gewaltsamen Verbringung Hölderlins in die Authenried’sche Klinik im Jahr 1806 war« (ebd., S. 184). Auch sei die Erwähnung, dass Bereyter eine Hauslehrerstelle in Frankreich angenommen habe, als Parallele zu Hölderlins Biografie aufzufassen, vgl. ebd., S. 186. Sebald folgt hierbei – teilweise bis in den Wortlaut – Adolf Beck/Karl-Gert Kribben: Chronik von Hölderlins Leben. In: Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild. Hg. v. Adolf Beck u. Paul Raabe. Frankfurt a.M. 1970. S. 5–110. Die mit Bildmaterialien angereicherte Einzelpublikation der Stuttgarter Rede enthält eine abfotografierte Seite aus Sebalds Exemplar, vgl. Sebald: Zerstreute Reminiszenzen, S. 21.
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lins Elegie Brot und Wein entlehnten36 ) Frage: »A quoi bon la littérature?« (CS 247) Eine Frage, die ihn zurückführt zu der ersten poetologischen Reflexion, und die nun die – als »Vernetzung […] anscheinend weit auseinanderliegender Dinge« (CS 244) gekennzeichnete – eigene Schreibweise auf eine allgemeine Ebene hebt und zu einer generell gültigen Funktionsbestimmung der Literatur aufwertet, wie die unmittelbar angeschlossene Antwort erkennen lässt: »Einzig vielleicht dazu, daß wir uns erinnern und daß wir begreifen lernen, daß es sonderbare, von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge gibt« (CS 247). Der Beleg dieser metaphysischen Behauptung erfolgt anhand eines Schnittpunkts disparater historischer Daten in der Stadt Tulle, wo sich Hölderlins Route nach Bordeaux, ein an Sebald adressierter Brief einer »dort lebende[n] Dame« (CS 247), Sebalds Geburtsdatum und eine von der SS durchgeführte Massenhinrichtung ›treffen‹, ohne kausal miteinander verbunden zu sein. Wie auch hier wieder zu erkennen ist, sind solche Koinzidenzen nicht ohne Weiteres verallgemeinerbar, sondern immer angewiesen auf ein individuelles Bewusstsein, das diese »Zusammenhänge« auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen herstellt.37 Das ›Eingedenken‹ versteht sich somit nicht als gesellschaftliche erinnerungskulturelle Praxis, sondern kann sich nur aus dem eigenen moralischen Antrieb heraus ereignen. Nachdem Sebald die Frage nach dem Nutzen der Literatur – diesmal auf Deutsch – zu Beginn des nächsten und letzten Absatzes erneut stellt, gelangt er zur dritten (und letzten) poetologischen Reflexion, die sich den ersten beiden – über die »Vernetzung […] anscheinend weit auseinander liegender Dinge« (CS 244) und das Erkennen »von keiner Kausallogik zu ergründende[r] Zusammenhänge« (CS 247) – unmittelbar anschließt. Bezugnehmend auf das längere Zitat aus Hölderlins Elegie (auf das ich weiter unten noch eingehe) heißt es nun: »Der synoptische Blick, der in diesen Zeilen über die Grenze des Todes schweift, ist verschattet und illuminiert doch zugleich das Andenken derer, denen das größte Unrecht widerfuhr.« (CS 248) Hier wird 36
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Dort heißt es in der siebenten Strophe: »wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (Friedrich Hölderlin: Brot und Wein. In: ders.: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 2005, S. 285–291, hier S. 290.) Sebald zufolge muss man als Leser*in immer klar erkennen können, durch welches Bewusstsein die Geschichte erzählt wird, »und zwar aus moralischen Gründen. […] Und dieses Bewußtsein muß ein betroffenes Bewußtsein sein, auf irgendeine Weise, vor allem in unserer historischen Position.« (W. G. Sebald: Ein riesiges Netzwerk des Schmerzes. Gespräch mit Doris Stoisser (2001). In: ders.: »Auf ungeheuer dünnem Eis«. Gespräche 1971 bis 2001. Hg. v. Torsten Hoffmann. Frankfurt a.M. 2011. S. 224–251, hier S. 236.)
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nun die dem Dichter aufgetragene Synopsis des Disparaten, von der uns Sebald im Vorherigen zahlreiche Beispiele gegeben hat, explizit mit einer allgemeinen und mit moralischem Antrieb versehenen Erinnerungsfunktion zusammengebracht.38 Doch statt von Erinnerung, Gedächtnis oder Gedenken zu sprechen, verwendet Sebald den Ausdruck »Andenken«, womit er zweifelsohne auf Hölderlins gleichnamige Hymne anspielt, die ebenfalls mit einer dichtungstheoretischen Funktionshypothese endet: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«39 Damit legt Hölderlin das »Andenken« in die Hände des Dichters und Sebald scheint ihm darin folgen zu wollen. Es gilt daher nun zu prüfen, inwieweit sich Hölderlins ›Theorie‹ des Andenkens mit Sebalds messianischem Erinnerungskonzept des ›Eingedenkens‹ überschneidet.
5. Gespräch und Versöhnung Wie bei Sebald wird auch in Hölderlins Gedicht die Erinnerung durch eine gegenwärtige Sinneswahrnehmung ausgelöst: der Nordostwind (Z. 1) lässt das lyrische Ich, das mit Hölderlin identifiziert werden darf, an die Erlebnisse und Landschaften in und bei Bordeaux zurückdenken. Die erste Strophe verweist auf die tatenfrohen Seefahrer, deren Sinn, wie in der vierten und fünften Strophe weiter ausgeführt wird, auf die Mannigfaltigkeit der weltlichen Dinge gerichtet ist. Die zweite Strophe spricht vom weiblichen Geschlecht und transportiert mit dem »Ulmwald« (Z. 15) und dem »Feigenbaum« (Z. 16) Topoi der Erotik und Fruchtbarkeit.40 Das ›Andenken‹ erfolgt in diesen ersten beiden Strophen im Modus der Vergegenwärtigung. Doch dieser Erinnerungsmodus vermag dem im Schlussvers angezeigten Anspruch der Dichtung (Bleibendes zu stiften) nicht zu genügen. Dessen wird sich der Dichter in der dritten Strophe bewusst, wenn er – exakt in der Mitte des Gedichts – zu Bedenken gibt: 38
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Der hier zitierte Satz bezieht sich syntaktisch erst einmal nur auf das vorangehende Elegie-Zitat. Der nachfolgende Satz aber macht deutlich, dass der Zusammenhang zwischen ›synoptischem Blick‹ und ›Andenken‹ nicht nur für Hölderlin, sondern – aus Sebalds Sicht – auch für die Dichtung (bzw. für das ›literarische Schreiben‹) allgemein gelte. Und auch die den Absatz einleitende Frage (die erst nach dem Elegie-Zitat beantwortet wird) bezieht sich schließlich auf Literatur im Allgemeinen. Friedrich Hölderlin: Andenken. In: ders.: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 2005, S. 360–362, hier S. 362. Vgl. den Kommentar von Jochen Schmidt in Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2019, S. 1021.
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»Nicht ist es gut / Seellos von sterblichen / Gedanken zu sein« (Z. 30–32).41 Die Vergangenheit lediglich vergegenwärtigende Gedanken seien ›sterblich‹ und schaffen folglich nichts ›Bleibendes‹. Zwar seien diese beiden Sphären (der Tat und der Liebe) nicht per se der Vergänglichkeit anheimgegeben, wie Hölderlin am Ende des Gedichts ausdrücklich vermerkt: »Es nehmet aber / und gibt Gedächtnis die See, / Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen« (Z. 56–58). Die Dichtung aber habe sich mit dieser Form der Beständigkeit nicht zu begnügen, sondern solle ›Bleibendes stiften‹. Dieser Fluchtpunkt in Hölderlins Reflexion über das Wesen der Dichtung bleibt innerhalb der Hymne ähnlich blass wie bei Sebald der Restitutionsbegriff, lässt sich aber aus dem Werkkontext heraus wesentlich einfacher konturieren. Jochen Schmidt schließt seinen Kommentar zu Hölderlins ›Andenken‹ wie folgt ab: In ihm [dem Schlussvers, RF] geht es nicht um gedächtnishafte Fixierung des Vergangenen für die Nachwelt durch die Dichtung, vielmehr um ein dichterisches Stiften des Bleibenden aus einem höchsten Bewußtsein, in dem der Dichter alles einzelne, nicht zuletzt die für das menschliche Dasein repräsentative Sphären von Liebe und Taten, im doppelten Sinne des Wortes aufhebt, um es so zur Dauer des Bleibenden zu vermitteln, die dem Einzelnen an sich nicht zukommt und die es nur durch die Vermittlung zum Ganzen erhalten kann.42 Diese einheitsstiftende »Vermittlung zum Ganzen« klingt auch in Sebalds Konzeption an: »Der synoptische Blick […] illuminiert […] das Andenken« (CS 248). Und es ist, wie gezeigt, auch bei Sebald ausdrücklich das Bewusstsein des Dichters (oder auch des Erzählers), in dem sich diese Synthese vollzieht.43 Bei Sebald ist der Gegenstand dieser Synthese freilich ein anderer als bei Hölderlin. Ihm geht es um das »Andenken derer, denen das größte Unrecht 41
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»Seellos« meint hier wohl »gottlos, ruchlos, gewissenlos« (so die zeitgenössische Zweitbedeutung laut Deutschem Wörterbuch); vgl. auch die Wortverwendung in Hölderlins Verserzählung Emilie vor ihrem Brauttag: »ich bin nicht gut, und seellos bin ich auch« (Friedrich Hölderlin: Emilie vor ihrem Brauttag. In: ders.: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1994. S. 579–600, hier S. 596). Jochen Schmidt: Kommentar. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 2005, S. 483–1145, hier S. 1026. An anderer Stelle spricht er auch vom »künstlichen Blick« (Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 33).
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widerfuhr« (CS 248) – und es besteht kein Zweifel, dass hiermit auf den Holocaust angespielt wird. Der unmittelbar darauf folgende (zu Beginn des Beitrags zitierte) und (abgesehen von der schließenden Glückwunschbekundung) letzte Satz unterstreicht diese Bezugnahme, wie ich im Folgenden darlege.
6. Restitution bei Gershom Scholem Im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs der Sechzigerjahre nahm Gershom Scholem eine sowohl kritische als auch vermittelnde Position ein. Die damals vielbeschworene Rückkehr zur ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ hatte er zunächst als »Mythos« zurückgewiesen, und zwar mit der Begründung, dass es jene ›deutsch-jüdische Symbiose‹ auch vor Hitler nie gegeben habe und die Rede von der ›Rückkehr‹ zu einer vermeintlichen Normalität somit die historisch evidenten Differenzen fahrlässig ignoriere. Im weiteren Verlauf der Debatte jedoch verschließt sich Scholem nicht mehr grundsätzlich einer Annährung, sondern fordert die Anerkennung der historischen Tatsachen als Bedingung einer solchen Annäherung ein – wie etwa in folgender Äußerung von 1965: »Ich gehöre nicht zu denen, die der Wiederaufnahme solcher Beziehungen ablehnend gegenüberstehen. Um solche Wiederaufnahme in einem ernsten Sinne fruchtbar zu machen, bedarf es aber nicht nur der Erkenntnis dessen, was ist, sondern auch dessen, was war.«44 Ein Jahr später, nämlich in dem Vortrag Juden und Deutsche (1966), wendet er diese Mahnung ins Positive und formuliert sie als eine Hoffnung auf Versöhnung, und zwar in einer Begrifflichkeit, die Sebald bei seiner Stuttgarter Rede im Sinn gehabt haben dürfte: Nur im Eingedenken des Vergangenen, das niemals ganz von uns durchdrungen werden wird, kann neue Hoffnung auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen keimen.45
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Gershom Scholem: Noch einmal: das deutsch-jüdische »Gespräch«. In: ders.: Judaica 2. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1995. S. 12–19, hier S. 14. Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In: ders.: Judaica 2. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1995. S. 20–46, hier S. 46.
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald
Dies ist der letzte Satz in Scholems Rede – so wie auch Sebald seine Rede mit dem Restitutionsgedanken beendet. Scholems Rede ist im zweiten Band seiner Judaica abgedruckt – und zählt damit zu Scholems Schriftenkanon, den Sebald nicht nur kannte, sondern auch gründlich studiert hat.46 Schon in seiner Dissertation über Alfred Döblin hat sich Sebald ausführlich mit Scholem befasst.47 Noch vor deren Fertigstellung nahm Sebald einen Essayband zur ›Geschichte der jüdischen Assimilation‹ in Angriff und bat Scholem hierfür (in einem Brief im Juni 1972) um Unterstützung48 – der ihm von diesem Vorhaben aller-
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Paul Whitehead hat sich die Mühe gemacht, die Lesespuren in zahlreichen Bänden aus Sebalds Nachlassbibliothek zu dokumentieren, und notiert zu den Judaica 2: »Zahlreiche Umklammerungen; zahlreiche Einkreisungen; wenige Anstreichungen; mehrfach gelesen.« (Whitehead: Im Abseits, S. 276.) Vgl. Uwe Schütte: Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald. München 2014, S. 35. Die Bedeutung Scholems für seine Studie unterstreicht er eigens in deren Einleitung, vgl. ebd., S. 153. Zwar bleibt Sebald in seiner Arbeit im Großen und Ganzen Adorno verpflichtet, aber zugleich kann konstatiert werden, »dass mit den Schriften des Kabbalaforschers Scholem ein neuer, wegweisender Aspekt den kritischen Verständnishorizont von Sebald ergänzt, sobald es um Kategorien wie Messianismus oder Assimilation geht, die in engem Zusammenhang mit jüdischer Mystik bzw. Kulturgeschichte stehen« (ebd., S. 154). Sebald stimmte nicht nur mit Scholems kritischen Ansichten zur jüdischen Assimilation überein, sondern verehrte ihn auch als Person, so die Einschätzung von Schütte (der – das sei an dieser Stelle beiläufig vermerkt – als Sebalds Doktorand in vielerlei Hinsicht Auskünfte über schriftlich fixierte Quellen hinaus zu geben vermag): »Ungleich wichtiger noch [als Martin Buber, RF] ist Gershom Scholem, dessen Bücher zur jüdischen Mystik und Religionslehre seine Annäherungen an jüdische Schriftsteller nachhaltig geprägt haben.« (Schütte: Interventionen, S. 131.) Schüttes Fazit: »Warum Sebald in dem nach Jerusalem ausgewanderten Gelehrten eine besondere Autorität sehen musste, liegt auf der Hand: Er war mit Benjamin befreundet, erkannte frühzeitig das Missglücken der Assimilation und hatte insofern aus, so darf man wohl sagen: Abscheu vor den deutschen Verhältnissen (also nicht aufgrund konkreter Verfolgung) seiner Heimat den Rücken gekehrt, um sich eine neue zu suchen. Letzteres verband ihn mit Sebald, wie auch Scholem seinen Vornamen in einem symbolischen Akt der Neudefinition und Abgrenzung verändert hatte. Dass er zudem den Typus des in seinem enzyklopädischen Wissen ruhenden Gelehrten und charismatischen Lehrer verkörperte, der nicht davor zurückscheute, mit dezidierten und polemischen Stellungnahmen in den öffentlichen Diskurs über die deutsch-jüdische Symbiose einzugreifen, die er von Beginn an für eine Chimäre hielt, dürfte ein Register in dem ähnlich zur polemischen Intervention veranlagten Sebald berührt haben.« (Ebd., S. 156.)
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dings abriet.49 Sebald ließ sich indes von dieser Absage nicht entmutigen.50 Im Herbst 1973 nahm er ein Forschungsfreisemester – im schriftlichen Abschlussbericht teilt er seinen Vorgesetzten mit, dass er sich in der freien Zeit u.a. mit den Problemen beschäftigt habe, die von dem unglückseligen Wunsch herrühren, dass eine jüdisch-deutsche Synthese möglich sei. Im Wortlaut spricht er von »the problems arising from the ill-fated dream that a Jewish-German synthesis might be possible«51 . Kurzum, all dies deutet stark darauf hin, dass Sebald seinen Restitutionsbegriff von Scholem übernimmt, um ihn auf seinen Gegenstand – die Literatur – zu übertragen.52 Im Übrigen zeigen sich beide in ihrer Erwartung zurückhaltend. Bei Scholem nämlich werden nicht etwa die Bedingungen für den Dialog zwischen Deutschen und Juden benannt, sondern die Bedingungen für die Hoffnung auf einen solchen Dialog. In dieser Nuance scheint mir die Erklärung zu liegen für Sebalds Formulierung »Versuch einer Restitution« (meine Hervorh.). Es drückt sich darin der Zweifel aus, den – wie gesehen – beide hatten an einem Gelingen dieser ›Synthese‹/›Symbiose‹ oder, wie es bei Scholem auch heißt, an der »Versöhnung«. Anknüpfend an diese Funktionsbestimmung des Dialogs und der Sprache oder – wie Scholem auch sagt – des »Gesprächs«53 , lässt sich die Analyse von
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Vgl. Schütte: Interventionen, S. 160f. Erst nach zwei weiteren Absagen von Verlagen nahm er von dem Vorhaben Abstand. Nur den als Einleitung des Bandes vorgesehenen Essay über Moses Mendelssohn stellte er fertig und veröffentlichte ihn – mit mehr als zehnjähriger Verzögerung – in Der Deutschunterricht unter dem Titel »Die Zweideutigkeit der Toleranz. Anmerkungen zum Interesse der Aufklärung an der Emanzipation der Juden«. Dass er darin ein – auch auf die Gegenwart zu beziehendes – Negativurteil über das deutsch-jüdische Verhältnis fällt, veranlasst die Herausgeber zu entschiedenem Widerspruch, den sie im Annahmeschreiben gegenüber Sebald deutlich machen: »Wir stimmen mit dem Inhalt Ihrer Arbeit nicht überein, weil Ihre Ausführungen den zukunftsweisenden Aspekten der Toleranzidee nicht genügend Rechnung tragen und werden dies auch in der Einleitung des Heftes zum Ausdruck bringen.« (Zitiert nach Schütte: Interventionen, S. 164f.) Zitiert nach Richard Sheppard: W. G. Sebald’s Reception of Alfred Döblin. In: Alfred Döblin. Paradigms of Modernism. Hg. v. Steffan Davies u. Ernest Schonfield. Berlin 2009. S. 350–375, hier S. 366. In der Forschung wird dieser Prätextbezug meines Wissens erstmals hergestellt von Luisa Banki: Post-Katastrophische Poetik. Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin. Paderborn 2016, S. 205. So in Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen »Gespräch« und Noch einmal: das deutschjüdische »Gespräch« – beide enthalten in den Judaica 2.
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald
Hölderlins Andenken-Hymne wieder aufgreifen. Ich kehre noch einmal zu der bereits zitierten Stelle aus der dritten Strophe zurück: Nicht ist es gut, / Seellos von sterblichen / Gedanken zu sein. Doch gut / Ist ein Gespräch und zu sagen / Des Herzens Meinung, zu hören viel / Von Tagen der Lieb’, / Und Taten, welche geschehen.54 Die besagte Vergänglichkeit der erinnernden Vergegenwärtigung von Taten und Liebe wird mit einer zu präferierenden Alternative kontrastiert: Gut sei es, über Taten und Liebe »ein Gespräch« (Z. 33) zu führen. In der Dialogizität liege demnach das Wesen der Dichtung, soweit es ihr gelingen solle, ›Bleibendes zu stiften‹ – was dem lyrischen Ich hier allerdings nicht gelingt, denn gleich darauf folgt die rhetorische Frage: »Wo aber sind die Freunde?« (Z. 37) In seiner Einsamkeit bringt der Dichter das Andenken nicht zustande, aber immerhin gelangt er in diesem Zustand zu der erkenntnisreichen Reflexion über sein eigenes (der Dichtung verpflichtetes) Verhältnis zu den Taten und der Liebe. Günstiger ist die Situation des lyrischen Ichs in der Elegie, aus der Sebald im letzten Absatz die Zeilen 65 bis 72 vollständig und unverändert55 zitiert. Bei der Elegie handelt es sich um die erste Fassung des unter dem Titel Menons Klagen um Diotima erschienenen Gedichts. Erst in dieser Schlussfassung wird das klagende männliche lyrische Subjekt beim Namen genannt: Menon – ›der Bleibende‹. Diese Namensbedeutung signalisiert nicht nur das Thema der beiden Elegie-Fassungen, sondern lässt auch eine motivische Verknüpfung mit dem Schlussvers im Andenken erkennen. In der Elegie vermag nun das lyrische Ich in einer durch den Trennungsschmerz angeregten Dichtung das vergangene Liebeserlebnis der Zeitlichkeit zu entziehen und somit zu verewigen. Die Verflossene wird angesprochen und wenngleich Diotima selbst nichts erwidern kann, vollzieht sich doch hier eine gänzlich andere Form des Erinnerns als die bloße Vergegenwärtigung des Vergangenen. Das Geschiedene wird aktiv im Geistigen wieder versöhnt und das nun nicht mehr einsame lyrische Ich von seinen Leiden erlöst. Die von Sebald zitierte Passage lässt davon noch nichts erkennen, aber es versteht sich von selbst, dass die Frage, ob sich nun Hölderlin (bzw. die von ihm eingesetzte artikulierende Instanz) von den »rächenden Parzen« (Z. 67, CS 248) in den unseligen »Orkus« (Z. 105) führen lassen soll, mit nein
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Hölderlin: Andenken, S. 361. Abgesehen von einem hinzugefügten Komma, einem fehlenden Apostroph und einer orthografischen Anpassung sowie einem augenscheinlichen Tippfehler (Klang statt Klag), der bei der Publikation nicht korrigiert wurde.
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beantwortet werden muss. Folgerichtig endet die Elegie mit einer der linearen Zeitlichkeit entzogenen messianischen Hoffnung, dass »von neuem ein Jahr unserer Liebe beginnt« (Z. 116). Es handelt sich hierbei unverkennbar um das Motiv der Apokatastasis56 , der versöhnenden Wiederherstellung am Ende aller Zeiten, oder – um den entsprechenden Latinismus zu bemühen – um Restitution. Diese abstrakte und letztlich theologische Pointe des Hölderlin-Prätextes liegt Sebald gewiss fern, wenn er der Dichtung den »Versuch einer Restitution« in Auftrag gibt. Doch die permanente Überlagerung der Texte und Biografie Hölderlins mit den Ereignissen und Folgen des Zweiten Weltkriegs zeigen deutlich an, in welche Richtung er Hölderlin aktualisiert wissen will. Legt man nur die letzten beiden Absätze von Sebalds Rede nebeneinander, so fällt auf, dass er die Frage nach dem Nutzen der Literatur nicht nur zweimal stellt – einmal auf Französisch,57 einmal auf Deutsch –, sondern auch zweimal beantwortet. Es liegt daher nahe, die beiden Antworten als komplementär aufzufassen. Der Gegenstand der ersten Antwort – die »von keiner Kausallogik zu ergründende[n] Zusammenhänge« (CS 247) zwischen Hölderlins Route durch Frankreich und der Hinrichtung der Bewohner von Tulle – bildet demnach den Subtext der zweiten. Dieser tritt dort wieder an die Oberfläche, wo die Rede ist von jenen Menschen »denen das größte Unrecht widerfuhr« (CS 248) – eine Formulierung, die sich in keiner Weise auf die zitierte Passage aus der Elegie, geschweige denn auf die Andenken-Hymne beziehen lässt, sondern offensichtlich die Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges meint. Insofern ist der Brückenschlag zur ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ und zu Scholems oben zitierter »Hoffnung auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden« nicht nur philologisch plausibel, sondern auch schlüssig in Hinblick auf das augenscheinlich vordergründige Thema und die argumentative Gesamtstruktur von Sebalds Stuttgarter Rede. Diese lässt sich wie folgt knapp zusammenfassen: Hölderlins Konzept einer metaphysischen Versöhnung (des in der Vergangenheit Geschiedenen) mit den Mitteln der Kunst wird von Sebald ent-
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Vgl. Schmidt: Kommentar, S. 709. Die Übersetzung mag als Reminiszenz an Hölderlins Aufenthalt in Bordeaux gedeutet werden, aber auch als Distanzierung von Heidegger, der diese Frage auf seine Weise für eine dezidiert deutsche Dichtung vereinnahmt hatte – so die Erklärung von Shane Weller: Language and Negativity in European Modernism. Toward a Literature of the Unword. Cambridge/New York 2019, S. 214.
Restitution als poetologischer Grundbegriff bei W. G. Sebald
theologisiert und im Sinne einer Koinzidenzpoetik reformuliert.58 Diese Koinzidenzen ereignen sich im Modus des Eingedenkens. Das Eingedenken wiederum lässt sich im literarischen Schreiben versprachlichen und gibt uns auf diese Weise Hoffnung, den Dialog zwischen dem bzw. den in der Vergangenheit Geschiedenen wiederherzustellen. Damit wäre ein Ausblick auf Versöhnung gegeben – allerdings nur in der Literatur. Im öffentlichen und privaten Alltag sieht Sebald kollektive Verdrängungsmechanismen am Werk, die – wie er in der Feuersee-Episode sinnbildlich anprangert – die Toten endgültig zum Schweigen bringen.
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Die Verortung dieses Verfahrens im Bereich der Metaphysik behält Sebald ausdrücklich bei: »Wenn sich bestürzende Koinzidenzen ergeben, hat man immer das Gefühl, daß sie doch etwas bedeuten müssen. Aber man weiß nicht, was. Wahrscheinlich sind es Phänomene, die sich am Rande des Lebens abspielen, wo das sogenannte normale Leben vom metaphysischen berührt wird. Metaphysik ist etwas, über das heutzutage nicht mehr geredet werden darf. Sie gilt als lächerlich, kraftlos, sinnlos. Trotzdem finde ich metaphysische Themen im weitesten Sinn des Wortes – und ich meine das nicht in religiösem Sinn, das liegt mir fern – interessant. In jedem Lebenslauf gibt es sehr unwahrscheinliche Zufälle, Überlappungen mit dem Leben von anderen, Elemente, die nicht mit dem Verstand zu erklären sind.« (W. G. Sebald: Echos aus der Vergangenheit. Gespräch mit Piet de Moor (1992). In: ders.: »Auf ungeheuer dünnem Eis«. Gespräche 1971 bis 2001. Hg. v. Torsten Hoffmann. Frankfurt a.M. 2011. S. 71–78, hier S. 74.)
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Schuld und Versöhnung Poetik einer komplizierten Beziehung in Katharina Hackers Eine Art Liebe Saskia Fischer
»Geschichten, wie sie sich stringent erzählen, scheinen mir unschuldig. Ich möchte sagen: verdächtig unschuldig.«1 Diese Formulierung von Katharina Hacker aus dem Jahr 2013 fasst die Poetik ihres Schreibens prägnant zusammen. Kohärente, eindimensionale Erzählungen ohne Störungen und Brüche erscheinen ihr gerade deshalb »verdächtig unschuldig«, weil sie die Herausforderungen, die Darstellungs- und Verstehensprobleme, wie sie eine komplexe Wirklichkeitserfahrung mit sich bringt, zu negieren drohen.2 Doch so intensiv bislang in der Forschung die komplizierte und multiperspektivische Erzählweise Hackers, angeregt auch durch die vielen sprachphilosophischen
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Vgl. Katharina Hacker: Linear gilt nicht mehr – über Gleichzeitigkeit in Texten und übers Nicht-Verstehen. In: Poetiken des Auf- und Umbruchs. Hg. v. Dagmar von Hoff, Monika Szczepaniak u. Lena Wetenkamp. Frankfurt a.M. 2013, S. 9–17, hier S. 16. Es ist ein Erzählen, das Katharina Hacker in ihrem Beitrag anspricht, das auch von digitalen Erzählverfahren inspiriert ist: »Der Umbruch«, so Hacker, »ist das Digitale. Der Umbruch ist, daß Texte ins Auge springen. Daß sie nicht länger stillhalten, sich bewegen, hüpfen.« Gemeint ist eine Erzählweise, bei der verschiedene Erzähltexte zeitgleich auf einer Seite die Aufmerksamkeit des Lesers fordern. Diese ästhetische Konzeption hat Hacker mit ihrem ursprünglich als Trilogie geplanten Erzählprojekt durch die Verwendung von zwei nicht immer direkt miteinander zusammenhängenden Erzählspalten Alix, Anton und die anderen weiter zugespitzt; ein Erzählverfahren, das auch Terézia Mora in ihrem Text Das Ungeheuer von 2013 verfolgt hat. Vgl. Saskia Fischer: Katharina Hackers Poetik einer engagierten Erinnerungsliteratur am Beispiel von Tel Aviv – Eine Stadterzählung (1997), Eine Art Liebe (2003) und Skip (2015). In: Engagierte Literatur im deutschsprachigen Raum nach 1989. Hg. v. Gudrun Heidemann, Joanna Jabłkowska u. Elzbieta Tomasi-Kapral. Frankfurt a.M., Berlin 2020, S. 43–66.
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und erzähltheoretischen Anspielungen in ihren Texten, untersucht wurde,3 so wenig ist bislang die Frage der Schuld und deren Bedeutung für ihr Schreiben eingehender erörtert worden.4 Dies überrascht nicht nur deshalb, weil in ihren Romanen und Erzählungen immer wieder die Shoah und das Fortwirken der nationalsozialistischen Verbrechen eine zentrale Rolle spielen, sondern auch, da der eingangs zitierte Passus explizit den für Hacker engen Zusammenhang von Erzählen und Schuld bzw. Entschuldung anspricht. Geschichten, dies legt das obige Zitat nahe, handeln nicht nur von der Schuld, sie können sich auch selbst ›verschulden‹, indem sie etwa mit ihren Narrativen aktiv Schuldverdrängung oder -leugnung befördern helfen. Damit aber deutet sich in Hackers Kritik an der »verdächtig unschuldig[en]« Stringenz konventioneller Erzählungen zugleich eine moralisch-ethische Dimension ihres Schreibens an, das mehr auf Unterbrechung und Irritation,5 denn auf eine allzu gefällige, mit dem Erzählten versöhnende Rezeptionserfahrung angelegt ist. Die folgenden Überlegungen sind daher dem Versuch gewidmet, die Poetik der Schuld in Hackers Roman Eine Art Liebe (2003) zu rekonstruieren, in dem das Thema der Schuld äußerst komplex behandelt wird. Im Zentrum ihres Textes stehen die Lebensgeschichten von Jean und dem jüdischen Flüchtlingsjungen Moses, später Moshe genannt, der von seinen Eltern in einem katholischen Internat in Frankreich vor den Nationalsozialisten versteckt wurde, während
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Auf die Komplexität und die erinnerungs- sowie erzähltheoretische Dimension ihres Erzählens verweisen u.a. Friedmar Apel: Erinnerung und Wissen bei Saul Friedländer und Katharina Hacker. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 176–182 sowie an ihn anschließend: Jan Andres: Erzählen und Geschichte(n). Zu Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe und seinen Paratexten. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 43 (2012) H. 1, S. 89–100. Einen ersten Versuch in diese Richtung habe ich in Bezug auf ihren Roman Die Habenichtse unternommen: Saskia Fischer: »Der Wunsch die Augen nicht zu öffnen« – Kunst, Medialität und Schuld in Die Habenichtse. In: Der Deutschunterricht 2 (2019), S. 46–55. In dieser Hinsicht habe ich ihr Schreiben an anderer Stelle bereits als Ausdruck einer engagierten Form von Erinnerungsliteratur gedeutet, indem Hackers »Texte eine Form des literarischen Engagements [entwickeln], das primär in der ästhetischen Gestaltung selbst liegt: im Reflexiv-Werden des vermeintlich Selbstverständlichen, im Offenlegen und Aufrechterhalten von Widersprüchlichkeiten und in einem konsequent durchgehaltenen selbstreferenziellen Nachdenken über die Aufgaben, die Möglichkeiten und den Wahrheitsgehalt der Literatur.« Fischer: Katharina Hackers Poetik, S. 43–44. Dies schließt eben auch die Aufmerksamkeit der Literatur für ihren eigenen Anteil an Schuldverstrickungen bzw. an der Reproduktion von Entschuldungsnarrativen mit ein, wie ich im vorliegenden Aufsatz zeigen möchte.
Schuld und Versöhnung
sie in die Schweiz zu fliehen versuchten. An der Grenze wurden Moses’ Eltern jedoch aufgegriffen und nach Auschwitz deportiert. Der Roman kreist um die Frage, ob sie möglicherweise gefasst wurden, weil Jean, Moses’ bester Freund und Sohn eines Vichy-Kollaborateurs, ihre wahre Identität seinem Vater enthüllte. Erzählt wird die Geschichte jedoch weder von Jean noch von Moses oder von einem allwissenden Erzähler, sondern von einer weiteren Figur, der deutschen Studentin Sophie. Sie wird auf der Gegenwartsebene des Romans von dem mittlerweile in Israel lebenden Moshe, mit dem sie sich während ihrer Studienzeit in Jerusalem und Tel Aviv in den 1990er Jahren anfreundete, gebeten, Jeans und damit auch Moses’ eigene Geschichte aufzuschreiben. Mit Hilfe kurzer Notizen Moshes und auf der Grundlage vieler Gespräche mit ihm versucht Sophie, sich den offenen (Schuld-)Fragen der Vergangenheit anzunähern. Mehr und mehr gründet ›ihre‹ Erzählung jedoch auf dem Wissen, dass dies kaum abschließend möglich ist. Ebenso deutet die verwickelte erzählerische Anlage des Romans bereits darauf hin, wie kompliziert die Schuldbeziehungen bis heute sind und wie schwer es ist, sie angemessen zu bewerten. Schuld umfasst dabei im Roman mehr als strafrechtliche Schuldfähigkeit. Sie berührt hingegen den ganzen Bereich zwischenmenschlicher Verfehlungen, bleibt dadurch aber immer auch mehrdeutig und widersprüchlich. Die Poetik der Schuld entfaltet sich dementsprechend, so die These, im Erzählprozess des Romans als fortwährende Suche. Schuld wird dadurch nicht nur als das charakterisiert, was sich immer wieder jeglicher Begrifflichkeit entzieht und mit den ungenügenden Mitteln der Sprache nie vollkommen fassbar ist,6 sondern sie besteht zugleich (oder gerade deshalb) als eine anhalten6
Vgl. ebd. Die grundlegende Bedeutung Wittgensteins für ihr Schreiben und die an Wittgenstein geschulte Sprachskepsis, wodurch Katharina Hacker immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen des Sag- und Darstellbaren in der Literatur selbst reflektiert, lässt sich bereits in ihrer allerersten Erzählung Tel Aviv nachweisen. Das Problem der Darstellbarkeit der Schuld, wie es auch Hacker interessiert, verweist auf einen grundlegenden Diskurs der Literaturgeschichte. So hat kürzlich Philipp Theisohn, bei der Antike ansetzend, die Schuld als ein zentrales Darstellungsproblem westlicher Literaturtradition charakterisiert, indem die Auseinandersetzung mit ihr immer auch die Darstellungsmöglichkeiten an ihre Grenzen treibt. Dies ist ein Problem, das sich jedoch angesichts der Aufspaltung von Verantwortlichkeit in bürokratisierte Handlungsprozesse in modernen Industriegesellschaften zunehmend verkompliziert, wie sich für Theisohn bereits bei Büchner andeutet. Vgl. Philipp Theisohn: Schuld spielen. Über ein theatrales Problem (Aischylos – Shakespeare – Büchner). In: Drama & Theater. Festschrift für Bernhard Greiner aus Anlass seines 75. Geburtstages. Hg. v. Eckart Goebel u. Max Roehl. Tübingen 2020, S. 13–27.
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de Belastung für die Figuren des Romans fort. Die Schuld kann weder gebannt noch überwunden werden. Bewusst im religiösen Milieu situiert, rufen die Figuren in Hackers Roman immer wieder die hoch aufgeladenen Konzepte der Schuld und der Vergebung jüdisch-christlicher Tradition auf, um den im Mittelpunkt des Textes stehenden Verrat irgendwie einordnen zu können, nur um eben diese Kategorien im nächsten Moment als gänzlich ungeeignet zurückzuweisen. Die Schuld, wie es bei Hacker heißt, könne »nicht ermessen« werden.7 Eine Art Liebe verneint die Möglichkeit einer gelingenden Schuldbewältigung, denn die Undurchsichtigkeit und Komplexität der Schuldverstrickung lässt sich eben nicht rein begrifflich und moralisch verstehen, geschweige denn produktiv ›aufarbeiten‹ oder gar in einen ritualisierten Erinnerungs- und Versöhnungsprozess überführen. Und doch ist es eben die durch die Schuld provozierte fortwährende Suche nach ihrer angemessenen Deutung, die das Gespräch zwischen dem Juden Moshe Fein und der deutschen Studentin Sophie und damit den Fortlauf des Erzählens insgesamt in Bewegung hält. Trotz aller komplizierten Wendungen und Brüche reißt dadurch das gemeinsame Gespräch zwischen den beiden Hauptfiguren, das die Poetik des Romans grundlegend bestimmt, eben nicht ab. Deutet sich also in der dialogischen Struktur und somit im ästhetischen Vollzug des Erzählens selbst vielleicht doch das an, was auf inhaltlicher Ebene immer wieder bestritten wird und zu misslingen droht: die Aussicht auf eine Form von Versöhnung im Gespräch, die – zumindest im weitesten Sinne – eine gelingende Art der ›Vergangenheitsbewältigung‹ eröffnet? Ausgehend von einigen knappen Bemerkungen zur Bedeutung sowie zum Irritationspotential der Schuld im kulturellen und literarischen Erinnerungs- und Versöhnungsdiskurs (1) werde ich dieser Frage in meinen weiteren Ausführungen nachgehen (2).
1. Schuld als Störung im (literarischen) Erinnerungs- und Versöhnungsdiskurs Die Deutung von Schuld und Leid scheint die Künste seit ihrer Entstehung zu beschäftigen. Zugleich aber ist die Frage, was Schuld oder vorsichtiger: Fehl7
Katharina Hacker: Eine Art Liebe. Frankfurt a.M. 2003, hier S. 171. »Ich könne seine Schuld nicht ermessen und er nicht, ob es ihm je gelingen würde, Buße zu tun.« Im Folgenden verwende ich im Fließtext für den Roman die Sigle EAL.
Schuld und Versöhnung
verhalten dabei genau meint und welche Anforderungen sich für den Umgang mit diesem Thema an die Literatur stellen, immer wieder Ausgangspunkt hitziger Debatten.8 Dies mag damit zusammenhängen, dass die Vorstellung von Schuld historischen und kulturellen Wandlungen unterliegt und dass Schuldzuschreibungen und Schuldvorwürfe politische und gesellschaftliche Sprengkraft besitzen, die kulturell etablierte Narrative und Selbstinszenierungen entscheidend herausfordern können. Wird Schuld zugeschrieben, sind meist Bestrafungen die Folge, müssen Reparationen geleistet oder Privilegien abgeben werden. Umgekehrt bestimmt, wer über Schuld entscheiden darf, ganz grundsätzlich über die herrschenden Werte und Normen einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe. Etablierte Schuldvorstellungen in Frage zu stellen birgt somit immer die Gefahr oder auch die Chance, je nachdem von welcher Seite man es sehen möchte, das soziale Gefüge im Kern zu treffen und gesellschaftliche und kulturell reformierende oder gar revolutionäre Prozesse anzustoßen. Zudem kann das, was in einem eher weiten Verständnis ›Schuld‹ genannt wird, in seiner meist komplizierten Gestalt nicht immer vollständig im Bereich des Rechts geklärt werden. Schuld wirft vielmehr weitere grundlegende ethische, moralische und (subjekt-)philosophische Fragen auf, die häufig auch das Schuldgefühl miteinschließen.9 Gerade Schuld als Emotion 8
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So gründet etwa die Debatte über die Schuld im antiken Theater darauf, ob sie als ein kausal-ursächliches oder als ein moralisches Geschehen zu verstehen sei. Uneinigkeit besteht in der Forschung z.B. im Hinblick auf Sophoklesʼ König Ödipus darüber, ob der ›Fehler‹ (hamartia) des Helden etwas mit einer moralischen Verfehlung zu tun habe oder sich sein Fehlverhalten nicht doch eher durch einen Erkenntnismangel begründen lässt; letzteres aber kann dann nur schwer als ›Schuld‹ begriffen werden, wie Michael Lurje (Die Suche nach der Schuld. Sophoklesʼ Oedipus Rex, Aristotelesʼ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit. München, Leipzig 2004) argumentiert. Lurje stellt dabei differenziert und umfassend heraus, wie sehr eine moralische Deutung des Geschehens auch der Übertragung in den christlichen Werthorizont und der Rezeption der Tragödien aus eben diesem Erfahrungsraum heraus geschuldet ist. Demgegenüber betonen u.a. Eckhard Lefèvre (Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Unzeitgemäße Betrachtungen zu Sophoklesʼ Oidipus Tyrannos. In: Würzburger Jahrbücher (1987) 13, S. 37–58), Arbogast Schmitt (Wesenszüge der griechischen Tragödie Schicksal, Schuld, Tragik. In: Tragödie. Idee und Transformation. Hg. v. Hellmut Flashar. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 5–49), Hellmut Flashar (Die Familie, Mythos, Drama am Beispiel des Ödipus. In: Colloquia Helvetica 19 (1994), S. 51–74) und Viviana Cessi (Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles. Frankfurt a.M. 1987) die moralische Verantwortung des tragischen Helden. Ich gehe hier von einem weiten, prozesshaften und damit temporal gedachten Schuldbegriff aus, der unterschiedliche Phänomene, die in verschiedenen Disziplinen unter
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aber bleibt zuweilen eher nebulös und diffus, geht das Schuldgefühl doch nicht zwingend aus einer konkreten Ursache oder einem eindeutig moralischen Fehlverhalten hervor.10 Gleichwohl sollen damit Schuldgefühle weder in die Nähe des Pathologischen gerückt noch die oftmals aus dem Schuldgefühl resultierenden und auf Versöhnung angelegten Handlungen (Bekenntnis, Reue, Entschuldigung usw.) generell als falscher Schein verunglimpft werden. Im Gegenteil: Es sind häufig gerade die vermeintlich ungerechtfertigten Schuldgefühle, die das Interesse daran wecken, die Schuldverstrickung Einzelner sowie von Gruppen in vergangenes oder gegenwärtiges Unrecht verstehen zu wollen. Das Schuldgefühl verweist somit auf das, was uns trotz aller Rationalisierung oder Leugnung dennoch beschäftigt und für das wir uns – z.B. aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation – verantwortlich fühlen, selbst wenn wir nicht individuell dafür zur Rechenschaft gezogen werden können.11
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dem Begriff der Schuld verhandelt werden, einschließt. Dies ist allerdings eine nur vage Bestimmung von Schuld als ›umbrella term‹, die hier dazu dient, die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Schuldbegriffs zu verdeutlichen, der wiederum, will er wirklich heuristischen Wert erlangen, immer wieder am konkreten Beispiel präzisiert werden muss. Vgl. dazu Maria-Sibylla Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung: Über die kulturellen Grundlagen der Moral. Frankfurt a.M. 2012. Vgl. weiter die interdisziplinären Beiträge in: Katharina von Kellenbach/Matthias Buschmeier (Hg.): Guilt. A Force of Cultural Transformation. Oxford, New York 2022. Vgl. aber auch die sehr differenzierten Bemerkungen zu einem solch weiten Konzept von Schuld von Juliane Prade-Weiss: Guilt-tripping the ›Implicated Subject‹: Widening Rothberg’s Concept of Implication in Reading Herta Müller’s The Hunger Angel. In: Journal of Perpetrator Research 3.1 (2020), S. 1–25. Das Phänomen der sogenannten ›survivor guilt‹ von Überlebenden der Shoah ist hierfür ein eindringliches Beispiel. Es gehört zur erschreckenden Seite des Schulddiskurses nach 1945, dass es vornehmlich die Opfer waren, die gerade nicht vorgaben, nicht anders hätten handeln zu können. Im Unterschied zu vielen Täter:innen und Mitläufer:innen thematisieren besonders die Opfer, wie sie im Nachhinein von Schuldgefühlen erfasst wurden, obwohl sie als Verfolgte tatsächlich nicht anders hätten handeln können, ohne den sicheren Tod in Kauf zu nehmen. Vgl. dazu Eva-Maria Engelen: Art. ›Schuld‹. In: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Christian Bermes/Ulrich Dierse. Hamburg 2010, S. 291–311. Das Schuldgefühl hat besonders in der empirischen Psychologie und Sozialpsychologie entscheidende positive Aufwertungen erfahren, indem dort die Bedeutung des Schuldempfindens für ein verantwortungsvolles Miteinander herausgestellt und empirisch nachgewiesen wurde. In dieser Perspektive stellt die Neigung und Fähigkeit zu emotionaler Schuld eine Beziehung des Verantwortlichen zum Leidenden her. Die So-
Schuld und Versöhnung
In dieser Perspektive werden Schuld und Schuldgefühle nicht ausschließlich als etwas Destruktives verstanden, das schnell zu überwinden und hinter sich zu lassen wäre, sondern als Möglichkeitsbedingung für zukünftiges moralisch verantwortungsvolles Denken und Handeln begriffen. Schuld zu erinnern, sie zu fühlen und moralisch zu durchdringen wird in religionswissenschaftlichen, sozialpsychologischen und auch einigen kulturtheoretischen Studien als die Voraussetzung dafür angesehen, den Geschädigten Empathie entgegenbringen zu können. Leitend ist dabei die Einsicht, dass Schuld somit auch ein Gefühl sozialer Verantwortlichkeit schaffe12 und eben dadurch die Wiederholung von Fehlverhalten verhindere.13 Folglich wird das Bekennen und Anerkennen von Schuld nicht nur als Last, sondern – pointiert gesprochen – auch als Befreiung gedeutet. Denn letztlich ist in einer solchen Konzeption von Schuld ihre Überwindung immer mitenthalten, da – so die Annahme – aus einem bewussten, auf Reue und Geständnis basierenden Umgang mit Schuld etwas ›Konstruktives‹, ein gewaltfreier neuer Zustand und eine auf Mitmensch-
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zialpsychologie hat daraus den Schluss gezogen, dass Schuldgefühle ein grundlegendes soziales und emotionales Phänomen sind. Schuld scheint somit soziale Beziehungen selbst herzustellen und Menschen in sozialen Gruppen oder Gesellschaften aneinander binden zu können. Vgl. u.a. Roy F. Baumeister/Arlene M. Stillwell/Todd F. Heatherton: Guilt: An Interpersonal Approach. In: Psychological Bulletin 115 (1994), S. 243–267. Hieran anschließend haben jüngere Forschungen betont, dass Schuld und Schuldgefühle umfassende, kulturelle Transformationsprozesse anregen können. Vgl. dazu: Kellenbach/Buschmeier (Hg.): Guilt. A Force of Cultural Transformation. Auch Juliane Prade-Weiss hat auf die wichtige Bedeutung des Schuldgefühls hingewiesen: Prade-Weiss: Guilt-tripping the ›Implicated Subject‹, S. 1–25. Eine solche maßgeblich von der Sozialpsychologie vertretene Vorstellung (Anm. 11) berührt sich aber auch mit der breiten theologischen Diskussion, die herausstellt, inwiefern gerade das Schuldbewusstsein zur Ausbildung zentraler ethischer Tugenden beiträgt, indem sich der Mensch im Schuldeingeständnis als ein verantwortliches und frei handelndes Wesen begreift. Die Diskussion fasst vor allem Jennifer Herdt prägnant zusammen: Guilt and Shame in Virtue Development. In: Developing the Virtues. Integrating Perspectives. Hg. v. Julia Annas, Darcia Narvaez u. Nancy E. Snow. Oxford 2016, S. 235–254. Vgl. dazu weiter John Cottingham: Conscience, Guilt, and Shame. In: The Oxford Handbook of The History of Ethics. Hg. v. Roger Crisp. Oxford 2013, S. 729–743, bes. S. 731. Wandlung oder Umkehr nennt dies die jüdisch-christliche Tradition. Zur Abgrenzung der christlichen von jüdischen Vorstellungen der Umkehr, wobei Letztere nicht immer zwingend Reue und Buße miteinschließen müssen, aber dennoch auf Versöhnung angelegt sind, vgl. David Konstan: Before Forgiveness: The Origins of a Moral Idea. Cambridge, New York 2010.
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lichkeit gründende Gegenwart und Zukunft hervorgehen kann.14 Diese Vorstellung gründet also auf dem Paradox, dass eine konsequente Beschäftigung mit quälenden Schuldgefühlen und einem belasteten Gewissen den Einzelnen moralisch bessern und sogar gesellschaftlich besehen ein gelingendes Miteinander ermöglicht, das sich gerade im Wissen um begangenes Unrecht realisiert.15 Ein solcher Ansatz hat sich im Erinnerungsdiskurs Westdeutschlands seit den 1960er Jahren verstärkt, wenngleich gegen viele Widerstände allmählich durchzusetzen begonnen und eine mahnende und ungeschönte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zum zentralen Bezugspunkt des gesellschaftlichen Selbstverständnisses in der BRD werden lassen.16 Insbesondere der Literatur wird immer wieder zugeschrieben, in der ästhetischen Erfahrung und Reflexion von Schuld das mitausbilden und veranschaulichen zu können, was im westlichen Denken gemeinhin als Gewissen beschrieben wird.17 So ist einerseits vor allem für die Literatur, die
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Vgl. Kellenbach/Buschmeier (Hg.): Guilt. A Force of Cultural Transformation. Besonders aber die Ausweitung des Schuldbegriffs auf soziale Gruppen oder eine Gesellschaft insgesamt wird kontrovers diskutiert. So halten Forscher:innen derzeit einerseits an einem weiten Begriff von Schuld fest und beziehen ihn auf gesellschaftliche und kulturelle Schuldzusammenhänge, grenzen einen solchen Schuldbegriff aber zugleich von einem engen, auf das Individuum konzentrierten Schuldbegriff ab (Kellenbach/Buschmeier [Hg.]: Guilt. A Force of Cultural Transformation). Andererseits gibt es eine Tendenz innerhalb der Schuldforschung, die eine solch weite Vorstellung von Schuld ablehnt und als neurotischen ›Schuldkomplex‹, der allzu leicht politisch instrumentalisierbar sei, stigmatisiert hat: etwa Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa. Übers. v. Michael Bayer. München 2008. Vorschläge, dem Problem einer Schuld jenseits moralischer Vorwerfbarkeit begrifflich konstruktiv zu begegnen, werden zudem häufig mit der Konzentration auf den Begriff der Verantwortung verbunden. So schon bei Hannah Arendt: Persönliche Verantwortung in der Diktatur. In: Dies.: Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze. Hg. v. Eike Geisel u.a. Berlin 1991, S. 7–38, an sie anschließend: Iris Marion Young: Responsibility for Justice. New York 2011, Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung. Vgl. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2005. Die Vorstellung einer vermeintlich gelungenen ›Aufarbeitung‹ der Shoah und des NS wird jedoch in jüngster Zeit wieder zunehmend kritisch bewertet, vgl. u.a. Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Leipzig 2020; Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010. Dies ist ein alter Topos. Erinnert sei hier nur an Shakespeares Hamlet, der seinen Titelhelden – wenngleich nicht ohne manipulative Hintergedanken und damit die Ziel-
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sich mit Genoziden, dem Gulag oder der Shoah beschäftigt, häufig die Annahme grundlegend, dass eine bewusst reflektierte und zugleich emotional erfahrbare Auseinandersetzung mit Schuld Mitmenschlichkeit fördere. Herta Müller spricht daher in ihrer 1998 gehaltenen Bonner Poetik-Vorlesung von einer »sinnlichen Moral«18 der Kunst. Doch das radikale Scheitern der hohen humanistischen Kunst- und Bildungsideale im und am Nationalsozialismus hat andererseits die Verwirklichung der hehren Ziele ästhetischer Erziehung, die sich Schiller, Lessing oder Goethe erdachten, ebenso fragwürdig werden lassen, wie sich die Schuldfrage besonders angesichts der Shoah verkomplizierte. Die systematische und bürokratisch organisierte Verfolgung und Vernichtung von Menschen, die der Nationalsozialismus unter Aufbietung aller in der Moderne entwickelten Möglichkeiten verfolgte, stellt einen kausalen und ausschließlich auf individuelle Verantwortlichkeit abhebenden Schuldbegriff aristotelischer und jüdisch-christlicher Prägung rigoros in Frage, da mit ihm die Dimension kollektiver Schuld und Komplizenschaft aus dem Blick gerät. Dies treibt auch den künstlerischen Umgang mit Schuld an seine Grenzen; ist Schuld in dieser Komplexität doch gerade das, was konventionelle Darstellungstraditionen grundsätzlich übersteigt. Eine solche Schuldverstrickung kann nicht mehr lediglich kausal gedacht werden und ist auch nicht mehr an das individuelle Vergehen ausschließlich eines ›Helden‹ und dessen ›Fehler‹ gebunden. Vor allem aber lässt sich eine solche Schuldvorstellung für viele Autor:innen nach 1945 schon gar nicht durch die Erzeugung »heilsamer Schauer« im Publikum, wie Schiller es nannte, ›überwinden‹ oder gar ›wegläutern‹.19
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setzung einer solchen Wirkungsästhetik auch wieder in Frage stellend – sagen lässt: »I have heard/That guilty creatures sitting at a play/Have, by the very cunning of the scene,/Been struck so to the soul/That presently/They have proclaim’d their malefactions.« William Shakespeare: Hamlet. Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Frank Günther. München 2003, S. 126 (II/2, V. 583–587). Herta Müller: In der Falle. Göttingen 1996, S. 52. Schiller spricht von der »lebendige[n] Glut zur Tugend«, einem »brennende[n] Haß des Lasters« und heilsamen »Schauer[n]«, die die Zuschauer ergreife, wenn Schuldige auf der Bühne zu sehen seien. Vgl. Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? [1784]. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann, Axel Gellhaus u.a., Bd. 8: Theoretische Schriften. Frankfurt a.M. 1992, S. 185–200, hier S. 191. Es ist für Schiller dabei besonders die Wirkung und ästhetischsinnliche Erfahrung von Schulddarstellungen, wie sie die Kunst ermögliche, die dazu führe, dass »jeder sein gutes Gewissen preisen« werde, wenn etwa »Lady Makbeth [sic!], eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche
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Trotz aller Skepsis aber will auch die Literatur nach 1945, die sich einem kritischen Erinnern, dem Aufspüren gesellschaftlicher Strategien der Schuldverleugnung und der Entlarvung kultureller Entschuldigungsrhetoriken verschrieben hat, die Idee eines moralischen Zugewinns aus der Beschäftigung mit Schuld nicht gänzlich aufgeben. So arbeitet sich das Theater, das besonders in Westdeutschland in den 1960er Jahren entscheidenden Anteil an einem zunehmend kritischeren Erinnerungsdiskurs hatte, an Schillers Vorstellung von der Gerichtsbarkeit der Bühne und einer erzieherischen Wirkmacht des Dramas ab.20 Jedoch geht es den Theaterschaffenden mehr darum, die Schuldfrage fortwährend im Bewusstsein zu halten und konsequent zu stellen, statt den Prozess der ›Ermittlung‹ gesellschaftlicher Schuldverstrickung (wie etwa Peter Weiss zeigt) auf deren Überwindung zulaufen zu lassen. Theater und Literatur sind eben nicht mehr die Medien, die sich von einer Implikation in Schuldzusammenhänge selbst freisprechen können und fordern daher einseitig stringente, eben, wie Hacker es nennt, »verdächtig unschuldige« (Entschuldungs-)narrative grundlegend heraus.21 So verstanden und auf diese Weise gestaltet aber lässt sich die Schuld nicht zwingend reibungslos in die oben beschriebene zentrale kulturelle Dynamik aus Fehlverhalten und dessen ›Überwindung‹ oder Versöhnung (sei es durch rechtliche Verurteilung, die Vorstellung moralischer Läuterung oder gar religiöser Reinigung) einfügen. Schuld und besonders das Schuldgefühl drohen somit eine moralische und soziale Funktion, die der Schuld in der deutschen
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Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen.« (Ebd.) Dabei braucht es das freie (oder freiere, denn ganz autonom ist die Kunst letztlich nie) ästhetische Spiel der Literatur, die auf diese Weise für Schiller das kulturelle Medium ist, in dem die Komplexität, Emotionalität und Subjektivität von Schuld intensiv zum Ausdruck kommen kann. Eben deshalb setzt für Schiller die »Gerichtsbarkeit der Bühne« genau dort ein, wo »das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt« und ruft eine solche Aufgabe des Theaters für ihn die Idee einer poetischen Gerechtigkeit auf den Plan. (Ebd., S. 190.) Es ist die Kunst, die einen unabhängigen Raum jenseits politischer Machtinteressen und Verfehlungen eröffnet und die in der ästhetischen Erfahrung die Zuschauer – im Idealfall – zu mehr Humanität, wie es auch Lessing vorschwebte, läutern könne. (Ebd., S. 191.) Saskia Fischer: Performing Guilt. How the Theater of the 1960s Challenged German Memory Cultue. In: Katharina von Kellenbach/Matthias Buschmeier (Hg.): Guilt. A Force of Cultural Transformation. Oxford, New York 2022, S. 205–222. Vgl. weiter auch: Mirjam Wenzel: Gericht und Gedächtnis: Der deutschsprachige Holocaust- Diskurs der sechziger Jahre. Göttingen 2009. Hacker: Linear gilt nicht mehr, S. 16.
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Gedenkkultur häufig zugeschrieben wird, immer auch zu unterwandern. Denn es bleibt, wie Matthias Buschmeier betont hat, fortwährend ein ›Rest der Schuld‹ übrig, der sich nicht auflösen,22 der sich jedoch auch nicht einfach konstruktiv in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge integrieren, oder gar sinnvoll zur ›Aufarbeitung‹ von Unrecht nutzen lässt. Schuld läuft damit Gefahr, zerstörerisch fortzuwirken. Dies gilt besonders dann, wenn sowohl die Vorstellung, dass sich aus der Schuld etwas lernen lasse, als auch die etablierten Rituale der Buße und Sühne oder andere kulturelle Praktiken, die das aus der Schuld entstehende emotionale und aggressive Potential abzuwenden helfen, keine Gültigkeit mehr besitzen. Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe legt von diesem destruktiven Potential der Schuld, die für die Figuren alle Bewältigungsmuster übersteigt, besonders eindringlich Zeugnis ab.
2. Schuld und Schuldgefühl in Katharina Hackers Eine Art Liebe Die komplexe, mehrdimensionale Erzählung, die der Roman Eine Art Liebe entfaltet, gründet auf einer bewusst forcierten Tendenz zur Verwechslung. Der jüdische Flüchtlingsjunge Moses wird im katholischen Internat zum Christen auf den Namen Jean-Marie zwangsgetauft. Schon die beinahe identischen Namen von Moses/Jean-Marie und seinem Freund Jean nehmen vorweg, was der Verlauf des Romans zunehmend bestätigt, dass ihre Lebensgeschichten aufs engste verwickelt sind. Das sich bereits in ihren Namen andeutende Doppelgänger-Motiv durchzieht den gesamten Roman. Es unterstreicht den Verlust von Moses Identität, dessen jüdische Herkunft sich ganz in der neuen aufgezwungenen christlichen Lebensweise aufzulösen droht. Moses erlangt erst nach und nach Selbstbestimmung mit dem Beginn eines neuen Lebens in Israel nach dem Krieg, für das er sich nun selbst den Namen ›Moshe‹ gibt. Zugleich verdichtet sich das Motiv der beiden Freunde, die wie Brüder einander zum Verwechseln ähnlich sind,23 im Verlauf der Handlung zum Kainund-Abel-Motiv (wie es auch das Titelbild des Romaneinbandes zeigt), dessen wirkmächtiger Bedeutungshorizont vom gnadenlosen, im Mord endenden
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Vgl. Matthias Buschmeier: Felix Culpa? Zur kulturellen Produktivkraft der Schuld. In: Communio 47 (2018), S. 38–50. So heißt es bei Hacker etwa: »›Wir hätten tauschen können‹, sagte Moshe […] ›Wer hätte es gemerkt?‹«, EAL 197.
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Bruderzwist zunehmend die Freundschaft der beiden in ein bedrohliches Licht taucht.24 Dabei ist Jean ein blinder Fleck des Romans. Der vermeintliche Freund ist für Moses bzw. Moshe jemand, der sich ihm immer wieder entzieht, der sich als Trappistenmönch in Schweigen hüllt und ein Leben in der Einsamkeit hinter Klostermauern führt. Spätestens aber sein rätselhafter Tod im Rotlichtmilieu lässt umso mehr in Moshe den Zweifel aufkommen, ob er seinen Freund überhaupt gekannt hat und ob dieser wirklich der war, der er vorgab zu sein. Der vermeintliche Doppelgänger wird so zum Fremden, vielleicht sogar zum Feind. Im Roman bleibt jedoch offen, ob der Anspielung auf die biblische Kain-und-Abel-Erzählung als Deutungsperspektive auf das Verhältnis von Moshe und Jean wirklich zu trauen ist. Moshe bestreitet zumindest immer wieder Jeans Aussage, der behauptet: »Wir sind Kain und Abel.« (EAL, 228) Aber das alttestamentliche Leitmotiv zeigt doch im Zuge des Handlungsverlaufes immer deutlicher an, dass die Beziehung der beiden Freunde auf eine Weise belastet ist, die jegliches Vertrauen grundsätzlich zu zerstören droht. Und es ist eben diese Rätselhaftigkeit einer Schuld, die »nicht [zu] ermessen« (EAL, S. 171) sei, wie Jean selbst betont, vor allem aber auch die Frage, worin genau sie bestehen mag, die zum Anlass des Erzählens wird: »Schreib seine Geschichte auf. […] Schreib Jeans Geschichte auf« (EAL, S. 42), lautet also die wiederholte Handlungsanweisung von Moshe an Sophie. Der Roman folgt Sophies Schreibprozess und lässt erzähltheoretisch hoch reflexiv (schon das Motto zitiert aus Ricoeurs Temps et Récit)25 das anschaulich werden, was Katharina Hacker mit ihrem Roman selbst wiederum anstrebt, wie sie im Nachwort verrät: »Das Buch Eine Art Liebe handelt von der Frage, wie 24
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Es scheint mir eine bewusste Entscheidung von Katharine Hacker zu sein, die Tochter einer Kunsthistorikerin ist, dass sie Tizians Kain und Abel (1542–1544; Santa Maria della Salute, Venedig/Curia) als Titelbild des Romaneinbandes ausgewählt hat. Es bedürfte jedoch einer eigenen und genaueren Untersuchung, inwiefern dieses konkrete Bild und nicht nur der Verweis auf die biblische Kain-und-Abel-Geschichte als Kommentar des Erzählten verstanden werden kann. Zu denken wäre hier etwa an die Untersicht auf den Mord an Abel bei Tizian, die dazu führt, dass sich die Betrachter auf gleicher Höhe mit dem am Boden liegenden Abel wiederfinden. Dadurch scheint in besonders eigentümlicherweise die Frage von Opfer und Täter aufgeworfen, die auch Hacker interessiert: Werden die Betrachter bei Tizian in die Rolle des Opfers gedrängt oder werden sie als Zeuge eines Mordes geradezu zu Komplizen Kains gemacht? Generell ist, soweit ich sehe, bislang die zentrale Bedeutung von Bildern und Bildlichkeit für Hackers Schreiben noch nicht untersucht oder bemerkt worden, obwohl Bildbeschreibungen und Referenzen auf Bilder häufig in ihren Texten zu finden sind. Dazu: Apel: Erinnerung und Wissen bei Saul Friedländer und Katharina Hacker.
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es möglich ist, mit Hilfe der Imagination da zu verstehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt.« (EAL, 267) Zugleich bezieht sich der Roman mit dem Handlungsstrang der gemeinsamen Geschichte von Moshe und Jean auf den autobiographischen Text Wenn die Erinnerung kommt (1979) von Saul Friedländer, bei dem Hacker selbst studierte. In ihm hat Friedländer seine Kindheit, die er – wie Moshe im Roman – während der Shoah versteckt in einem französischen Kloster überlebte, den Verlust seiner Eltern, die ihn dort zurückließen und in Auschwitz ums Leben kamen, und sein Leben als junger Mann in Israel nach der Staatsgründung 1948 beschrieben.26 Statt aber Friedländers Geschichte erneut nachzuerzählen, ist der Roman vor allem der Versuch, dem anderen, dem Sohn des politischen Verfolgers, nachzuspüren, der vielleicht selbst zum Täter wurde, und die Geschichte somit erneut aus der Perspektive eines möglichen Verantwortlichen zu erzählen. Zugleich ist der mühsame Erzählprozess, dem wir als Leser:innen beiwohnen, Ausdruck dessen, was die Autorin selbst mit dem Schreiben ihres Romans vollzieht. Es ist also ein Text, der die eigene Poetologie fortwährend selbst thematisiert und der ostentativ die Bedeutung, den Wahrheits- und Erkenntnisgehalt der Literatur ebenso wie die Grenzen des Erzählbaren reflektiert. Immer wieder setzt Sophie27 von neuem an, verwirft, rekonstruiert und führt die Geschichte Jeans, die ihre ganz eigene Interpretation der unvollständigen Versatzstücke ist, die Moshe über seinen Freund erzählen kann, schließlich zu einem fiktiven Ende. Sophie muss die Geschichte Jeans größtenteils erfinden, um die Vergangenheit mit all ihren offenen Fragen, Widersprüchen
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Vgl. Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt. München 6 2008. Die Hauptfigur Sophie lässt sich in Teilen als alter ego Katharina Hackers deuten: Darauf verweisen nicht nur die Selbstbeschreibungen der Figur im Roman als groß und dünn mit kurzen Haaren, sondern auch die Lebensdaten: auch Katharina Hacker studierte in den 1990er Jahren in Jerusalem, lebte auch in Tel Aviv und begann dort zu schreiben. Viel mehr Indizien gibt es allerdings nicht. Der Name der Erzählerin ist in dieser Hinsicht vielleicht wohl eher auch ein selbst-ironisch-sprechender Name in Bezug auf die Tätigkeit von Schriftsteller:innen generell: Sophia aus dem Griechischen mit Weisheit übersetzbar. Zugleich führt der Roman eben diese aber ad absurdum: Denn es lässt sich aus dieser Geschichte weder Weisheit gewinnen, noch ist die Erzählerin allwissend, sondern betont immer wieder selbst die Grenzen des Verstehens. Weisheit scheint geradezu ein gänzlich überkommener Wert, eine Hybris des ›Geniegedankens‹ zu sein, während bei Hacker das Erzählen von Jeans Geschichte immer wieder auch in eine Überforderung Sophies mündet.
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und Lücken überhaupt erzählbar zu machen. Zu einer kohärenten Geschichte im konventionellen Sinne aber gerinnt die Erzählung, die der Roman entwirft, nicht. Vielmehr bleibt sie das Zusammenspiel verschiedener Geschichten und Erzählstränge, in dem sich Erinnerung und Gegenwart unauflöslich durchdringen. In den Erinnerungsprozess mischt sich zum einen die Gegenwartsebene des Romans, auf der sich die Freundschaft zwischen Sophie und Moshe entwickelt und die die Jahre 1990 bis 2002 umfasst und somit vom ersten Golfkrieg über die Ermordung Rabins bis hin zu den bedrohlichen Selbstmordattentaten in Israel zu Beginn der 2000er Jahre reicht. Eingestreut und unterbrochen wird der Erzählfluss zum anderen durch die permanent wechselnden Erzählebenen und Erzählmodi. Entfaltet wird auf diese Weise eine kunstvolle Montage aus Notizen (im Text kursiv gesetzt), die Moshe Sophie zuschickt, in Büchern oder in ihrer Wohnung hinterlässt, einigen verstreuten Briefen von Jean an Moshe, Erzählungen von Moshe über Begegnungen mit Jean sowie weiteren Aufzeichnungen von Telefonaten und Gesprächen (alles durch Anführungszeichen markiert). Hinzu kommen die Erzählungen über die Flucht Moshes mit seinen Eltern nach Frankreich und die Zeit im katholischen Internat (ohne Anführungszeichen). Dabei changiert die Erzählperspektive zwischen der Beschreibung der Ereignisse aus Moshes und Jeans Sicht, die im Präteritum und in der dritten Person geschrieben sind, und Passagen, in denen die Erzählperspektive beinahe unbemerkt aus dem Präteritum ins Präsens wechselt (»Ich wartete, und gleichzeitig wünsche ich, die Zeit stünde still. […]«//Kurz vor Ostern bricht Mosesʼ Vater sich das Bein.«; EAL, S. 75). Überdies gehen stellenweise die Erinnerungen Moshes nahtlos in die nachträgliche Erzählperspektive Sophies über,28 wodurch unvermittelt die Geschichte aus einer anderen Perspektive weitererzählt wird. Hinzu kommen Reflexionen von Sophie über das Schreiben und Erzählen sowie Kommentare von Moshe, die das Erzählte als als bloße Imagination entlarven. »Den Kuchen hat die Kellnerin nicht mir, sondern Jean gebracht, als er mich abholte, um Punkt vier Uhr kam er in den Garten gerannt.« (EAL, S. 99) Es ist ein Erzählen, das immer wieder neue Erinnerungsbruchstücke zutage fördert, und die vermeintlich so gesicherte Sicht auf das Gewesene und
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So heißt es etwa: »›Ich hatte Angst.‹//Der Weg, nicht länger als zehn Minuten, kam ihm endlos vor.« EAL, S. 97.
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Erzählte durch ständige Perspektivwechsel fortwährend neu interpretiert.29 Und es ist eine Erzählweise, die ihren Konstruktionscharakter immerzu offen legt, dabei aber zugleich ihr Spiel mit den Leser:innen treibt. Denn alle vermeintlich authentischen Aufzeichnungen, Briefe und Gesprächsnotizen sind allesamt nur eins: Fiktion. Allerdings ist es gerade die Imagination und die komplexe Erzählkonstruktion, die für das Verständnis einer hoch verwickelten Schuld-Geschichte einen ganz eigenen Wahrheits- und Erkenntnisgewinn eröffnet.30 Durch die multiperspektivische, selbstreflexive, aber auch einfühlsame Erzählweise, die den Beweggründen aller Figuren nachspürt, versucht der Roman auch das Ungesagte und Verdrängte, das kaum rational erfasst werden kann und doch die Geschichten der Figuren und ihre Beziehungen maßgeblich bestimmt, deutlich werden zu lassen: »Über Geheimnisse habe ich mir bisher wenig Gedanken gemacht. Aber neben all dem, was man sich erzählt, wird plötzlich spürbar, was man sich nicht erzählt – eher ein Raum als bestimmte Gedanken oder Begebenheiten, die man nicht preisgeben will.« (EAL, S. 17) Eben diese Art des Erzählens konzipiert den Umgang mit Schuld als ein hoch komplexes Thema zwischenmenschlicher Dynamik: »Vielleicht gibt es Zusammenhänge, vielleicht aber auch nur Täuschungen[.]« (EAL, S. 41) Dabei wird das Thema der Schuld, um das der gesamte Roman kreist, bezeichnenderweise durch den achtjährigen Moses selbst eingeführt, der nicht begreifen kann, warum seine Eltern ihn im Kloster zurücklassen und der eine Schuld auf sich nimmt, die er selbst am allerwenigsten zu verantworten hat. Schuld erscheint dadurch von Beginn an als das alles überschattende, kaum gänzlich zu ergründende, bedrohliche Gefühl, das zugleich ein Erklärungsmuster für eine nicht zu verstehende Wirklichkeitserfahrung anzubieten scheint: »Es mußte irgendeinen Zusammenhang mit der Nacht im Wald geben, vielleicht war es die Strafe dafür, daß ich nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war, vielleicht glaubten meine Eltern, ich hätte weglaufen wollen, und waren enttäuscht von mir.« (EAL, S. 92) In seiner Hilflosigkeit, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, schwankt Moses zwischen Selbstanklage und Schuldzuweisungen, die jedoch aus der Perspektive des bereits erwachsenen Moshe im Erinnern als ungerechtfertigte Fehleinschätzung
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Fortwährend tauchen neue Erkenntnisse und Erinnerungsbruchstücke auf, die die vermeintlich so gesicherte Sicht auf das Gewesene in ein neues Licht tauchen. Vgl. dazu ausführlich: Apel: Erinnerung und Wissen bei Saul Friedländer und Katharina Hacker, S. 176–182. Dazu Andres: Erzählen und Geschichte(n), S. 89–100.
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zurückgenommen wird: »Ich habe es Abbé Gérard und Himmelsteins lange nicht verziehen – als trügen sie Schuld an der Irrfahrt meiner Eltern« (EAL, S. 81). Diese grundlegende Überforderung des jungen Moses, der lange nicht versteht, warum seine Eltern ihn verließen und der kaum begreift, warum er nicht mehr der sein darf, der er war, mündet in einem grundlegenden Misstrauen. Noch bevor er von Jeans ›Verrat‹ weiß, glaubt er sich bereits von ihm hintergangen: Zum »ersten Mal in seinem Leben« habe er sich einem »bösartig markierten Antisemitismus ausgesetzt gefühlt«, wie Moses bzw. Moshe bekennt, »und das durch seinen nächsten Freund.« (EAL, S. 170) Es ist Jean, der – wie sich im Verlauf der Handlung herausstellt – seinem Vater gegenüber Mosesʼ wahre jüdische Identität und die seiner Eltern verraten hat. Der Roman lässt im Unklaren, ob daraus eine konkrete Handlung resultiert. Es bleibt offen, ob Moshes Eltern eben deshalb bei dem Versuch, in die Schweiz zu flüchten, an der Grenze ausgeliefert wurden. Eine andere Passage im Roman, die mehr generalisierend davon spricht, dass kinderlosen Ehepaaren an der Grenze der Schweiz die Einreise verwehrt wurde, lässt diese klare Schuldzuschreibung fragwürdig erscheinen. Doch dies hat wiederum Abbé Gérard nur gehört. Wie es also genau zu der Deportation der Eltern nach Auschwitz kam, wird im Roman nicht aufgelöst. Was bleibt und woran der Roman keinen Zweifel lässt, sind Jeans quälende Schuldgefühle, von denen er sich auch als Trappistenmönch und durch fortwährende Bußhandlungen und Selbstgeißelungen nicht befreien kann. Für Jean ist selbst die Tatsache, dass er ein Kind war, als er seinem Vater das Geheimnis der Identität seines Freundes preisgab, keine Entschuldigung. Er gesteht vielmehr, dass er aus Neid und Wichtigtuerei gehandelt habe und deutet damit an, dass er wusste, was er tat. Doch es ist schwer zu entscheiden, ob dieses harte Urteil Jeans über sich selbst als Kind wirklich gerechtfertigt ist. Ist dies nicht vielleicht eher die Deutung eines Erwachsenen, dem erst im Nachhinein die Tragweite seines Verhaltens bewusst geworden ist? Moshe jedenfalls, dem sich Jean in einem Brief erst kurz vor seinem Tod endlich enthüllt und sich als ›schuldig‹ zu erkennen gibt, wehrt dieses Bekenntnis schroff ab und rationalisiert es zugleich: »Warum jetzt noch die Wahrheit? Er war ein Kind. […] Mein Gott, wozu?« (EAL, S. 100) Zudem versucht Moshe das Vergehen oder das Versehen, wie auch immer man es fassen mag, herunterzuspielen als ginge es lediglich um eine Form der (Selbst-)Erkenntnis und nicht um Leben und Tod seiner Eltern: »Er sei zu alt für Schuld und Buße, sein Name sei immer Moses Fein gewesen, auch ohne Jeans Zutun hätte er das früher oder später begriffen.« (EAL, S. 229) Zugleich aber weiß Moshe, dass eine solch radikale Zurückweisung jeglicher Verantwortung und Schuld
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ebenso unangemessen ist: »Wenn er mich verraten hat, dann hat seine Lüge unser beider Leben bestimmt[.]« (EAL, S. 100) Diese Einsicht, einmal gewonnen, überschattet und verändert alles: »Aber es ist eine Lüge. Die, die auf meiner Bühne erscheinen, sind unschuldig, auch ich selbst, und Jean mehr als wir alle. Nicht die Tatsache, daß ich mir meine Mutter nicht mehr vorstellen kann, seit ich weiß, daß sie vergast worden ist, macht dieses jahrzehntelange Erinnerungsspiel obsolet, sondern Jean, der schon damals mehr wußte als ich.« (EAL, S. 129) Auch so lässt sich erklären, warum Moshe den Versuch Jeans, ihn um Vergebung zu bitten, bereits im Keim erstickt: »Als Jean ihn um Verzeihung bitten wollte, unterbrach er ihn.« (EAL, S. 229) Wenngleich Moshe am Ende sagt, dass Jean ihn doch nur hätte anzurufen brauchen und dass dieser doch hätte wissen müssen, dass er ihn liebte (vgl. EAL, S. 264), scheint es ganz so einfach mit der Versöhnung eben doch nicht zu sein. Darauf deutet einerseits Moshes schwankende und anhaltend skeptische Haltung gegenüber Jean hin, die er jedoch – wie an dieser Stelle – häufig vor sich selbst verbirgt. Andererseits macht der Roman ganz deutlich, dass Moshe Jean eben nicht das geben kann, was dieser von ihm erhofft: die Annahme seiner Abbitte, vielleicht sogar Absolution. Dabei ist dem Verrat, den Jean begangen hat, seinem Fehler, Versehen oder Fehlverhalten, eine eigentümliche Ambivalenz eigen. Möglicherweise ist die Preisgabe der wahren Identität Moshes nur das unbedarfte, folgenlose Gerede eines Kindes, das sich zu Unrecht sein Leben lang für die Ermordung zweier Menschen verantwortlich fühlt. Zugleich aber ist diese Tat auch deutbar als Element in einer langen Kette von Handlungen, die zum Tod von Moshes Eltern führten. In dieser Ambiguität aber ist der ›Schuld‹ mit den Konzepten von Schuld und Sühne, wie Jean und Moshe sie im katholischen Internat gelernt haben, nicht mehr beizukommen: »In unserer katholischen Welt gab es natürlich Schuld und Verzeihung für eine Schuld. Aber Jean und ich waren hilflos, weil sich, was geschehen war, unseren Kategorien entzog. Wir ahnten, daß daran zerbrechen konnte, woran wir glaubten.« (EAL, S. 117) Ist dann aber, wenn die Schuld kaum zu (be-)greifen ist, Versöhnung überhaupt denkbar? Würde Versöhnung basierend auf Verzeihen nicht die Möglichkeit einer klaren Benennung des Fehlverhaltens und seiner Folgen voraussetzen?31 Es sind Jeans 31
Ich folge hier einem bestimmten Verständnis von Vergebung, wie es der Roman durch den christlichen Kontext nahelegt. Dabei gibt es durchaus Theorien des Vergebens, die das Vergeben als eine unbedingte menschliche Möglichkeit außerhalb der reziproken
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quälende Schuldgefühle, die durch die grausame Ermordung von Moshes Eltern in Auschwitz unweigerlich heraufbeschworen werden und die die Realität dieser schwer zu fassenden, vielleicht nur gefühlten Schuldverstrickung anzeigen. Sie bestimmen Jeans gesamtes Leben, indem ihm selbst als Mönch das Religiöse keinen Ausweg aus dieser Verzweiflung bieten kann. Wie also kann man sich mit etwas oder über etwas versöhnen, das kaum zu benennen ist, aber eine Schuld monströsen Ausmaßes andeutet, und das Leben von Moshe und Jean sowie deren Beziehung grundlegend beeinflusst? Der Roman gibt darauf keine Antwort. Vielmehr überschattet beide Figuren – Moshe und Jean – ein tiefer Pessimismus, den Hacker gleich auf den ersten Seiten des Romans anspricht.32 Jean, der ungläubige Mönch, der erschlagen in einer Bar ein klägliches Ende findet, hat über die Melancholie mehrere Abhandlungen publiziert, wie erzählt wird. (EAL, 218) Moshe beschreibt nicht nur Jean und sich als zwei »Beckett-Figuren« (EAL, S. 212), sondern er betont zudem wiederholt die Ausweglosigkeit und das Fortbestehen des Leidens: »Es gab«, sagt er an einer Stelle, »keinen Ausweg. Du hast überlebt; der Preis dafür ist, daß es keine Rettung gibt.« (EAL, S. 170) Man darf einer Autorin wie Hacker, deren Roman so erzähltheoretisch anspielungsreich ist, die ihren Erzählansatz durch das dem Roman vorangestellten Motto direkt auf Ricoeur bezieht und die ihre Poetik in anderen Texten von Wittgensteins Sprachphilosophie hergeleitet hat,33 unterstellen, dass sie mit dem Begriff »pessimistisch« (EAL, S. 28) mehr als ein alltagssprachliches Verständnis von Pessimismus meint, sondern durchaus auf Schopenhauers Interpretation des Lebens als einen unhintergehbaren Leidenszusammenhang hindeuten will.34 Damit unterstreicht der Roman einmal mehr, dass die in Eine Art Liebe
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Ökonomie von Schuld, Moral und Recht begreifen. Demgegenüber wird in anderen Ansätzen Vergebung mit einer Reihe von psychologischen und moralischen Bedingungen verbunden, die der Täter erfüllen muss, damit ihm vergeben werden kann. Dazu gehören, wie es sich auch bei Hacker andeutet, ein Geständnis, Reue, Buße und eine innere moralische Wandlung. Vgl. Maria-Sibylla Lotter: Introduction. In: Dies./Saskia Fischer (Hg.): Guilt, Forgiveness, and Moral Repair. London 2022, S. 1–24. So formuliert Sophie an einer Stelle im Roman: »Moshe, so kam es mir vor, lebte in einem Israel, das nicht mehr existierte. Wenn er damals schon pessimistisch war, zeigte er es nicht, jedenfalls nicht mir.« (EAL, S. 28) Vgl. dazu Fischer: Katharina Hackers Poetik, S. 44–50. In Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) entwirft Schopenhauer eine Sicht auf das Leben, die menschliches Dasein als Objektivierung eines Leiden bewirkenden Willens begreift. Seine pessimistische Philosophie ordnet im Unterschied zur Leibnizschen Theodizee und dem aufklärerischen Optimismus die Entbehrungen des Einzel-
Schuld und Versöhnung
erzählte Schuldverstrickung und das durch sie bewirkte Leiden durch nichts zu rechtfertigen ist oder aufgefangen werden kann. Die Figuren bleiben auf sich selbst zurückgeworfen und können sich, wie Jean, nicht von der Schuld befreien. Alldem kann und will auch Sophie mit ihrer Erzählung keine sinnvolle Deutung beifügen. Die Geschichte von Jean und Moshe, wie Sophie sie erzählt, ist eine der zunehmenden Entfremdung, die – je mehr komplexe Wendungen die Erzählung nimmt – keine einfache Vorstellung von Versöhnung mehr zulässt. Was bleibt, ist das Gespräch zwischen Moshe und Sophie selbst, ihre sich entwickelnde Freundschaft, die der Roman sogar als ›eine Art Liebe‹ beschreibt.
Schlussbemerkungen Der Literaturkritiker Jörg Magenau hat in einer allzu vorschnellen Ineinssetzung der Autorin mit ihrer Hauptfigur deren Mangel an »Verantwortung für die deutsche Geschichte« und ihr fehlendes »Schuldgefühl« beklagt und daraus den Vorwurf abgeleitet, dass sich Katharina Hacker vor lauter »Philosemitismus« und »Identifikation mit einem Überlebenden« aus der »Nachkommenschaft der Täter« herausschreiben wolle.35 Dieses harsche Urteil verkennt, welche zentralen Herausforderungen der Roman durch die Beschäftigung mit einer Schuld, die kaum zu bannen, kaum aufzuarbeiten, kaum produktiv in eine ›Lehre‹ umzumünzen ist, unweigerlich auch für den deutschen Erinnerungsdiskurs formuliert. Weit davon entfernt, moralischen Relativismus heraufzubeschwören, beruht Hackers Roman auf der Einsicht, dass Involviertheit und Schuldigkeit allgegenwärtig und dennoch schwer zu fassen sind. Das Verständnis von Formen der Verstrickung in Schuld, die das Subjekt bedingen und zugleich individuelles Handeln und persönliche Verantwortung un-
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nen nicht mehr in einen übergeordneten Sinnzusammenhang ein. Das Leid und die unerfüllten Glücksansprüche des Subjekts, die durch keinen höheren Sinn mehr zu rechtfertigen sind, werden hingegen zum Maßstab, an dem die fundamentale Unzulänglichkeit der Welt sichtbar wird. Insofern ist dem Pessimismus auch eine grundlegend kulturkritische, vom Subjekt ausgehende Dimension immanent. So weit geht Hacker hier nicht; was sie zeigt, ist eine pessimistische Weltsicht als drastische und für den Einzelnen kaum zu (er)tragende Konsequenz, wenn alle sonstigen Sinnangebote angesichts einer ›unermesslichen‹ Schuld nicht mehr greifen. Jörg Magenau: Abel lebt, doch Kain muß sterben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2003.
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Saskia Fischer
tergraben, ist eine der zentralen Herausforderungen für ein Verständnis der jüngsten Vergangenheit, des von Totalitarismen geprägten 20. Jahrhunderts. Sie findet in Hackers Roman mit Jeans Geschichte, die Sophie aufschreiben soll, einen besonders eindringlichen Ausdruck. Dabei vollzieht die Erzählweise, mit ihrem Changieren zwischen Schuldandeutung und Schuldverneinung, Schuldzuschreibung und Schuldabwehr, selbst die Deutungsunsicherheit, die ein solch komplizierter, schwer zu fassender Schuldzusammenhang mit sich bringt. Der Roman lenkt durch die intensiven Schuldgefühle Jeans und sein verfehltes Leben, das er in Einsamkeit verbringt, ohne Erfüllung oder Trost im Glauben finden zu können, die Aufmerksamkeit auf Schuldzusammenhänge und Folgen von grausamer Gewalt, die größer und weitreichender sind, als wir oft wahrhaben wollen; die aber unser Leben bestimmen können, auch wenn wir sie rational ausblenden oder verleugnen. Dabei gibt der Roman mit seiner komplexen, multiperspektivischen Poetik, in der sich Vergangenheit und Gegenwart unauflöslich durchwirken, entscheidende Einblicke in die prozesshafte, temporale Dimension von Schuld: Schuld ist damit nicht lediglich eine Schuldzuweisung für eine begangene Tat, wie etwa die Preisgabe eines Geheimnisses. Schuld wird durch die komplizierte erzählerische Anlage als eine Struktur erfahrbar, die verdeutlicht, wie ein in der Vergangenheit liegendes Verbrechen oder vorsichtiger formuliert: Fehlverhalten, sei es nun wissentlich oder unwissentlich verursacht worden (je nachdem, auf wen man die Schuldfrage im Roman bezieht), eine versöhnliche Zukunft verhindern kann. Vielleicht lässt sich aus dieser Geschichte keine wirkliche Moral gewinnen, vielleicht bleibt, wie das traurige Ende Jeans, wie die Entfremdung der beiden Freunde und die pessimistische Grundstimmung des Romans andeuten, tatsächlich nur Leiden. Dennoch aber entfaltet der Roman zugleich ein hoch moralisches Erzählkonzept, das darauf zielt, diese Form der Schuldverstrickung eben nicht unausgesprochen und in Vergessenheit geraten zu lassen. Es mag sein, dass der Kern dabei schwer zu fassen ist: »Eine Geschichte ist keine Antwort auf eine Frage, manchmal ist eine Geschichte nicht einmal eine Frage« (EAL, S. 264), und dennoch muss sie interpretiert und trotz allem erzählt werden – auch so ließe sich Moshes Aufforderung an Sophie, Jeans Geschichte aufzuschreiben, verstehen. Sie sollte erzählt werden, nicht weil es etwas Eindeutiges oder Kompensatorisches darüber zu sagen gäbe oder weil sich eine versöhnliche Geschichte daraus formen ließe, sondern weil ein Schweigen darüber eine Form von Komplizenschaft, ein Mittragen der grausamen Verfol-
Schuld und Versöhnung
gung und Ermordung von Menschen wäre.36 Will die Literatur, pointiert gesprochen, nicht selbst schuldig werden, darf sie dort, wo man es mit hochkomplexen Schuldstrukturen zu tun hat, keine – mit Hacker – ›Stringenz‹ und keine einfache Kausalität von Schuldgeschichten behaupten oder nur von rationaler und objektiv nachweisbarer Schuld sprechen. Hackers Roman, indem er nicht auf Schuldzuweisung zielt und alle konventionellen Schuld-Konzepte ablehnt, hält die Frage der Schuld bewusst bis zum Schluss offen, um auch die Leser:innen in dieses Dilemma aus komplizierter Schuld und die Frage einer möglichen oder unmöglichen Handlungsfähigkeit zu verwickeln. All dies erlaubt keine einfache Vorstellung von Versöhnung im Sinne einer ›alles‹ wiederherstellenden Harmonie oder einer vollkommenen Überwindung der Schuld bzw. einem sinnvollen, moralischen Umgang mit ihr. Was jedoch bleibt, ist das Erzählen selbst. So ist es gerade die Vielschichtigkeit und zuweilen auch begriffliche Unverfügbarkeit der Schuld, die auf fortwährende ästhetische Gestaltung und Interpretation drängt – ganz so wie die Suche nach Jeans Geschichte, die sich als eine Suche nach seiner Schuld entpuppt, auch die Poetik und Erzählbewegung des Romans selbst vorantreibt.
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Juliane Prade-Weiss hat diese These sehr überzeugend für die Schuldverstrickung der Sprache in Bezug auf Herta Müllers Atemschaukel entfaltet: Prade-Weiss: Guilt-tripping the ›Implicated Subject‹, S. 1–25. Ihre Überlegungen sind in meine Schlussbemerkungen eingeflossen.
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Rachekunst Unversöhnlichkeit als literarischer Topos deutschsprachiger jüdischer Gegenwartsliteratur Luisa Banki
»Ich fordere«, schreibt Max Czollek 2018, »einen Zusatz zur Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes: Es wird nie wieder alles gut.«1 Czollek verkündet hier als ein Autor der dritten Generation nach der Shoah kämpferisch eine Position jüdischer Unversöhnlichkeit, die sich explizit gegen den von ihm in Anlehnung an Michal Bodemann als »Gedächtnistheater«2 kritisierten Erinnerungsdiskurs im Zeichen der Versöhnung der Nachkommen von Täter*innen und Opfern der Shoah wendet. In seinem Essay Desintegriert euch!, dessen Überlegungen er 2020 mit Gegenwartsbewältigung und 2023 mit Versöhnungstheater fortsetzte,3 ruft Czollek zur Solidarität zwischen Minderheiten in Deutschland auf und kritisiert Kontinuitäten nationalistischen, rechtsradikalen Denkens und Handelns in der – mit dem Begriff Astrid Messerschmidts gesprochen – »postnationalsozialistischen Gesellschaft« der BRD.4 Der deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹ stellt Czollek die Kritik an der Funktionalisierung von Jüdinnen und Juden als ›guten Opfern‹ im Dienste einer »Wiedergutwerdung der Deutschen«5 entgegen sowie die Forderung, die Bedeutung und das Fortwirken der Vergangenheit im gegenwärtigen Leben der Nachgeborenen anzuerkennen.
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Max Czollek: Desintegriert euch! München 2018, S. 182. Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996 (zitiert in Czollek: Desintegriert euch!, bspw. S. 9). Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. München 2020. Max Czollek: Versöhnungstheater. München 2023. Astrid Messerschmidt: Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Frankfurt a.M. 2009, S. 144. Eike Geisel: Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays und Polemiken. Berlin 2015 (zitiert in Czollek: Desintegriert euch!, S. 9).
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Luisa Banki
Auch Mirna Funk setzt sich in ihrem literarischen und journalistischen Schreiben mit den Erfolgen und dem Scheitern deutsch-jüdischer Versöhnung nach 1945 auseinander. Statt auf Versöhnung setzt sie auf Verständigung und verlangt mehr Bildungsarbeit nicht allein zur Geschichte des Holocaust, sondern insbesondere auch zur individuellen Familiengeschichte, um so die direkte Verbindung der Nachgeborenen zu den historischen Ereignissen nachvollziehbar zu machen.6 Funk hält an einer unversöhnlichen Differenz zwischen jüdischer und deutscher Erinnerungskultur fest, die sie mit der (mangelnden) Wahrnehmung persönlicher Betroffenheit erklärt und in ihrem literarischen Debüt Winternähe von 2015 programmatisch zur Darstellung bringt. In den folgenden Überlegungen zum Topos der Unversöhnlichkeit in deutschsprachiger jüdischer Gegenwartsliteratur möchte ich Unversöhnlichkeit im Lichte zweier weiterer Konzepte diskutieren, mit denen sie ihr Zeitempfinden und ihre Überzeugung von der Notwendigkeit, Vergangenheit gegenwärtig zu erhalten und als gegenwärtig wirksam zu erkennen, teilt: Ressentiment und Rache. Um zu verstehen, wie sich Unversöhnlichkeit im Schreiben von Autor*innen der dritten Generation ausdrückt, werde ich zunächst einige frühere Überlegungen – insbesondere Jean Amérys ethischpolitische Konzeptualisierung und Valorisierung des Ressentiments – rekapitulieren und verschiedene nicht immer offensichtliche Formen von Rache, die sich als jüdische Reaktionen auf die Shoah erkennen lassen, besprechen, bevor ich auf meine literarischen Beispiele – Mirna Funks Publizistik und ihren Roman Winternähe sowie das lyrische und essayistische Schreiben Max Czolleks – eingehe. Unversöhnlichkeit, Ressentiment und Rache teilen ein Beharren auf das Wissen um Schuld und Unschuld und müssen für dieses Wissen Ausdrucksformen finden. Die Literatur ist eine solche Form.
Generationen Sowohl Czollek als auch Funk gehören als Enkelkinder einstiger Verfolgter der dritten Generation nach Nationalsozialismus und Shoah an. Sie schrei-
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Vgl. bspw. Mirna Funk: Erinnern kann auch cool sein. In: Zeit Online, 28.1.2018, URL: h ttps://blog.zeit.de/freitext/2018/01/26/holocaust-ns-zeit-erinnerungskultur/?wt_ref= https%3A%2F%2Fmirnafunk.com%2Fjournalism%2F&wt_t=1606721694347&rec_wt _ref=1 (30.11.2020).
Rachekunst
ben als Nachgeborene und erforschen in ihren Texten die Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheit. Es lohnt, bei diesem uns geläufigen Hinweis auf die Generationen in ihrem Verhältnis zur Shoah einen Moment zu verweilen: Wenn wir Autor*innen als Schreibende der ersten, zweiten oder dritten Generation bezeichnen, bedeutet dies, dass wir die Shoah als Beginn einer neuen Zeitrechnung und Generationenzählung ansehen. Die Shoah ist in dieser Perspektive ein die Welt, die Zeit, die Familie so fundamental veränderndes Ereignis, dass wir uns alle von ihm her definieren. Das Insistieren darauf, dass dieses Ereignis eine neue Zeit und Zählung nötig macht, korreliert mit den Darstellungen des transgenerationellen Fortwirkens der Erfahrung der Verfolgung und Ermordung. Hannah Arendts berühmtes Diktum in einem Gespräch mit Günter Gaus im Jahr 1964 – auf das sich Czollek mehrfach beruft7 – behält hier seine Gültigkeit: Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gutgemacht werden können muss. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter […]. Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.8 Eine erste entscheidende Einsicht ist, dass dieses »wir« derjenigen, die mit dem Geschehenen nicht fertig werden, sich sowohl auf die Überlebenden bezieht als auch auf die Nachgeborenen beziehen kann. Die Kinder und Enkelkinder der Überlebenden können sich die Geschehnisse der Vergangenheit nicht in direkter eigener Erinnerung vergegenwärtigen, sondern können mit »Nacherinnerungen« konfrontiert sein, mit, wie Marianne Hirsch formuliert hat, »haunting postmemories«, die durch in Familien kursierende Geschichten, Bilder, Objekte und Verhaltensweisen perpetuiert und gleichsam vererbt
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Vgl. Czollek: Desintegriert euch!, S. 163 und ders.: Inglourious Poets. Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung. Gedanken zum A.H.A.S.V.E.R. In: ders.: A.H.A.S.V.E.R. Berlin 2016, non.pag. [E-Book]. Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt (RBB Interview-Archiv: Sendung vom 28.10.1964). (https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah .html (30.11.2020).
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werden.9 Postmemoriale Erinnerungen halten vergangene Geschehnisse gegenwärtig und können das Leben von Nachgeborenen derart prägen, dass sie Erinnerungen an Episoden aus dem Leben der Eltern gleichberechtigt oder sogar übermächtig neben Erinnerungen an das eigene Leben bewahren. Wenngleich Hirsch ihr Konzept des postmemory mit Blick auf die zweite Generation und den auf der direkten Konfrontation zwischen Überlebenden-Eltern und ihren Kindern basierenden intergenerationellen Austausch entwarf, kann ihr Begriff auch erhellend auf transgenerationelle Modi der Erinnerung bezogen werden.10 Das Nachgedächtnis erlaubt ein Verständnis der psychologischen Effekte der Erinnerung an die Shoah durch die Generationen, wobei solche Erinnerung inzwischen entschieden den Rahmen der Familie überschreitet. Entsprechend müssen Spezifika des Gedenkens der dritten Generation mitbedacht werden, die über die von Hirsch beschriebenen psychologischen Effekte hinausgehen. Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Gedenken der zweiten und der dritten Generation liegt in der Auseinandersetzung mit breiteren gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Erinnerungskulturen, die das individuelle familiäre Erinnern rahmen: ritualisierte, institutionalisierte, kommodifizierte und auch instrumentalisierte Formen der Erinnerung spielen – insbesondere im selbsterklärten »Erinnerungsweltmeister«11 Deutschland – eine wichtige Rolle in der affirmativen ebenso wie der kritischen Beschäftigung mit der Erinnerung an die Shoah. Neben der Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust thematisierten Autor*innen der dritten Generation auch deren Nachwirken und Fortleben: Zur auch für die zweite und dritte Generation unumgänglichen Notwendigkeit, sich dem von Arendt konstatierten ›Nichtfertigwerden‹ zu stellen, tritt die Auseinandersetzung mit der sogenannten Aufarbeitung, mit Erinnerungskultur und der Frage der Versöhnung einstiger Täter*innen und Opfern und ihren Nachkommen. Für die deutschsprachige jüdische Gegenwartsliteratur bildet der
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Vgl. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust. New York 2012. Vgl. Alan L. Berger: Life After Death. A Third-Generation Journey in Jérémie Dres’s We Won’t See Auschwitz. In: Third-Generation Holocaust Narratives. Memory in Memoir and Fiction. Hg. v. Victoria Aarons. Lanham 2016, S. 73–87, bes. S. 76f. Vgl. Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 59
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umstrittene Versöhnungsdiskurs eine notwendige Folie, von der sich die einzelnen literarischen Positionen ausgesprochen kritisch abheben.
Ressentiment Bei aller thematischen, formalen und anderweitigen Verschiedenheit eint alle literarischen Auseinandersetzungen mit der Shoah doch die Anerkennung der Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheit. Ob explizit oder implizit, offensichtlich oder subtil sind literarische Annäherungen an die Shoah und/oder ihr Nachwirken beherrscht von einem Zeitempfinden, in dem die lineare Chronologie gestört ist. In Überlegungen von Überlebenden spielt ein solches, vom traumatischen Geschehen bestimmtes Zeitgefühl eine zentrale Rolle. In einem »Ressentiments« übertitelten Essay seiner zuerst 1966 erschienenen Schrift Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten setzte sich Jean Améry schonungslos mit dem eigenen »reaktiven Groll« auseinander, den er nicht nur angesichts seiner eigenen einstigen – und psychologisch andauernden – Opferposition empfand, sondern vor allem auch angesichts der mangelnden Schuldbekenntnisse der Täter*innen.12 Was Améry als »Groll« empfand und als »Ressentiment« begrifflich, psychologisch und moralisch analysiert, kreist um ein »ver-rücktes« Zeitgefühl, das von der Vergangenheit weder lassen kann noch will: Es ist meinem Nachdenken nicht unentdeckt geblieben, daß das Ressentiment nicht nur ein widernatürlicher, sondern auch ein logisch widersprüchlicher Zustand ist. Es nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit. […] Ich weiß, das Zeitgefühl des im Ressentiment Gefangenen ist verdreht, ver-rückt, wenn man will, denn es verlangt nach dem zweifach Unmöglichen, dem Rückgang ins Abgelebte und der Aufhebung dessen, was geschah.13 Améry stellt dem »sozialen und biologischen Zeitgefühl, das man auch das ›natürliche‹ nennt« und das sich am »Prozeß der Wundheilung« orientiert, ein »moralisches« Zeitempfinden entgegen:
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Jean Améry: Ressentiment. In: ders.: Werke 2. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, S. 118–148, hier S. 119. Ebd., S. 128.
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Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr wie er moral- und geistfeindlich ist. […] Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit – im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat.14 So wie der Überlebende »ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit [genagelt]« bleibe, müsse, so fordert Améry, der »Untäter an seine Untat [festgenagelt]« werden. Angesichts der nach Kriegsende so rasch aufblühenden, kaum durch »Entnazifizierung« gestörten Entwicklung der jungen Bundesrepublik sieht sich Améry mit seinen Ressentiments konfrontiert und formuliert eine Forderung, die sich explizit auch an die Nachgeborenen richtet: Daß die Jungen frei sind von individueller und die individuelle zur kollektiven aufsummierter Schuld, ist einsichtig. Ich muß und will ihr den Vertrauenskredit einräumen, der dem vorwärtslebenden Menschen zukommt. Nur kann man allenfalls von dieser Jugend verlangen, daß sie ihre Unschuld nicht gar so frisch und keck in Anspruch nehme […]. Solange nämlich das deutsche Volk einschließlich seiner jungen und jüngsten Jahrgänge sich nicht entschließt, ganz und gar geschichtsfrei zu leben […], solange muß es die Verantwortung tragen für jene zwölf Jahre, die es ja nicht selber endigte. Die deutsche Jugend kann sich nicht auf Goethe, Mörike, den Freiherrn vom Stein berufen und Blunck, Wilhelm Schäfer, Heinrich Himmler ausklammern. Es geht nicht an, nationale Tradition dort für sich zu reklamieren, wo sie eine ehrenhafte war, und sie zu verleugnen, wo sie als die verkörperte Ehrvergessenheit einen wahrscheinlich imaginären und gewiß wehrlosen Gegner aus der Menschengemeinschaft ausstieß. Wenn deutsch sein heißt, der Nachkomme des Matthias Claudius sein, dann meint es doch wohl auch, daß man den NS-Parteilyriker Hermann Claudius in der Ahnenreihe hat. […] Zur deutschen Geschichte und deutschen Tradition gehören fürderhin auch Hitler und seine Taten.15 Was Améry hier fordert, ist weder Bestrafung noch Vergeltung, sondern Erinnerung. Er fordert die Übernahme der Verantwortung in der Erinnerung an die verübten Untaten, und zwar nicht nur, weil die Schuldigen dies schuldig sind,
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Ebd., S. 133f. Ebd., S. 140f.
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sondern weil er fürchtet, Nationalsozialismus und Shoah könnten als Folge eben des »natürliche[n] Zeitempfinden[s]«,16 das die Zukunft über die Vergangenheit stellt, die Anerkennung ihrer Einzigartigkeit verlieren und als eine unter vielen »dramatische[n] historische[n] Episoden« zu »Geschichte schlechthin« werden.17 Dies zu verhindern, hält Améry an seinem Ressentiment fest und stellt sich der Aufgabe, seine und die der Überlebenden »Verbogenheit neu zu definieren: und zwar als eine sowohl moralisch als auch geschichtlich der gesunden Geradheit gegenüber ranghöhere Form des Menschlichen.«18 Die im Ressentiment ausgedrückte Unversöhnlichkeit19 wird von Améry also gedeutet als Modus der Erinnerung, getragen von einem »ver-rückten« Zeitempfinden, der am vergangenen ungesühnten und vielleicht nicht sühnbaren Verbrechen festhält, um das Wissen um sein Geschehensein und das Wissen um Schuld und Unschuld zu perpetuieren.
Rache Für Améry verbleibt das Ressentiment auf der Ebene des Empfindens und der dadurch motivierten moralischen Analyse. Es kann aber auch zur Motivation und zum Motiv einer Handlung werden, einer Tat außerhalb der analytischen oder literarischen Darstellung, die den »Groll« und das Wissen um Schuld und Unschuld in das Begehren nach Vergeltung in Form von Sühne oder Rache überführt. Wenn Sühne ausgeschlossen ist, weil die Schuld zu groß ist, die Schuldigen zu zahlreich und die Versuche, etwa juristisch Gerechtigkeit zu erwirken, aussichtslos sind, bleibt Rache. Anders als ihr Gegenstück, das Verzeihen, hält die Rache die Beziehung zwischen den Beteiligten, Tätern und Opfern, aufrecht. In diesem Sinne formuliert Hannah Arendt: »Verzeihung zwischen Menschen kann nur heissen: Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen, und
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Ebd., S. 139. Ebd., S. 145. Ebd., S. 127. Zum Ressentiment als literarischer Ausdrucksform vgl. Bianca Patricia Pick: Das Ressentiment als Bestandteil literarischer Distanzierung. In: Johanna Gehmacher u. Klara Löffler (Hg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Wien 2017, S. 175–195.
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das heisst: der grundsätzliche Abschied – während Rache immer nah am Anderen bleibt und die Beziehung gerade nicht abreisst.«20 Ebenso wie das Ressentiment hält die Rache an der Vergangenheit des Unrechts und an der Beziehung zum Schuldigen fest. Anders als das Ressentiment, das in Amérys Beschreibung den Betroffenen an seine Vergangenheit »nagelt« und so einen unfreiwilligen (dann aber möglicherweise willentlich reflektierten) Erinnerungsmodus darstellt, stellt Rache eine aktive, intentionale Form des Festhaltens an der Vergangenheit dar. In der Rache wird nicht allein an der Vergangenheit festgehalten, sondern es wird der andere, auf den die Rache zielt, selbst festgehalten. Sowohl Ressentiment als auch Rache bewirken durch ihr insistierendes Festhalten an der Beziehung zum Schuldigen und an der Vergangenheit der schuldhaften Tat die ungebrochene Gegenwärtigkeit derselben und stellen so Modi des Eingedenkens dar. In diesem Sinne schreibt Berel Lang in einem Essay zu »Holocaust Memory and Revenge«: If one thinks of memory […] as a construct rather than as a natural faculty or repository waiting to be filled, then revenge can well be understood, with the temporal extension it presupposes, as a means of creating memory: not just a particular memory, but memory as such, and so also the sense of personal or collective identity for which memory is a necessary condition.21 In seinen Überlegungen zu Rache nach der Shoah geht Lang von dem Befund aus, dass »[t]he most notable aspect of the place of revenge in the aftermath of the Shoah is its absence – both as a topic of discussion and, before that, in its occurrence.«22 Es sind einige wenige Unternehmungen und Pläne jüdischer Rache nach 1945 bekannt – etwa die Gruppe DIN (ein Akronym, das hebräisch »Gericht« bedeutet und sich aus »Dam Yehudi Noter«, d.h. »das Blut der Juden rächt sich«, zusammensetzt), die sich 1945 in Bukarest um den Partisanenkämpfer Abba Kovner herum formierte und Racheaktionen wie bspw. die Vergiftung der Wasserversorgung deutscher Großstädte plante. Größtenteils jedoch hat sich das Begehren nach Rache nicht in Racheaktionen in Form von
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Hannah Arendt: Denktagebuch. 1950 bis 1973. Hg. v. Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann. München 2002, Bd. 1, S. 3. Berel Lang: Holocaust Memory and Revenge. The Presence of the Past. In: Jewish Social Studies 2:2 (1996), S. 1–20, hier S. 16. Ebd., S. 1.
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Vergeltungsschlägen entladen, sondern andere, verschobene Formen angenommen. In seiner Untersuchung der scheinbaren Abwesenheit jüdischer Rache nach 1945 zielt Lang auf die Erläuterung eines solchen »Verschiebungseffekts«: »a ›displacement effect‹—the appearance of revenge in other guises.«23 Der Begriff der Verschiebung geht, so führt Lang selbst aus, auf Freud zurück, der in Die Traumdeutung die Möglichkeit bespricht, die Bedeutung und Intensität einer Vorstellung könne sich von dieser lösen und auf eine andere übergehen, mit der sie durch eine Assoziationskette verbunden ist.24 Verschobene Rache meint Formen der Rache, in denen anstatt einer Handlung mit manifest rachsüchtigem Ziel oder der offenen Verkündung rächerischer Absicht, auf stille oder verschwiegene Weise Rache bewirkt wird. Als verschobene Rache kann laut Lang bspw. der Morgenthau-Plan verstanden werden, der die Umwandlung des besiegten Deutschland in einen demilitarisierten, deindustrialisierten und geteilten Agrarstaat vorsah; und auch Entscheidungen wie die Weigerung, deutsche Waren zu kaufen oder nach Deutschland zu reisen, können als verschobene Rache betrachtet werden.25 Der Verschiebungseffekt, auf den Lang die Aufmerksamkeit lenkt, ermöglicht, andere Formen der Rache zu erkennen – eine solche Form kann die Literatur sein. Wenn die folgenden Lektüren nach Ausdrücken von Unversöhnlichkeit in deutschsprachiger jüdischer Gegenwartsliteratur suchen, muss das Interesse auch dem Verschiebungseffekt gelten, dem Auftreten von Rache in anderen Erscheinungsformen, in der Literatur.
Literatur als verschobene Rache In ihrem Denken und Schreiben erkunden Mirna Funk und Max Czollek die ungebrochene Gegenwärtigkeit der Shoah, die für sie ungeminderte Dringlichkeit, sich mit dieser Vergangenheit gegenwärtig zu konfrontieren und anzuerkennen, dass man mit ihr konfrontiert ist. Sie formulieren selbstbewusste
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Lang: Holocaust Memory and Revenge, S. 3. Vgl. ebd., S. 10 sowie Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u.a. Bd. II/III, Frankfurt a.M. 1999, S. 1–642 und Jean Laplanche u. Jean-Bertrand Pontalis: »Verschiebung«. In: Dies.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1973, S. 603–606. Vgl. Lang: Holocaust Memory and Revenge, S. 10f.
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junge jüdische Positionen, die sich von der Tatsache der Shoah und dem Umgang mit dieser Tatsache herleiten und die damit immer schon in einem kritischen, agonistischen Verhältnis weniger zu ›den Deutschen‹ (zu denen sie ja schon qua Staatsbürgerschaft selbstverständlich gehören26 ) als vielmehr zum Versöhnungsdiskurs stehen. Die Texte von Czollek und Funk sind aufschlussreiche Beispiele nicht nur, weil beide prominente Positionen im deutschsprachig jüdischen literarischen Diskurs besetzen, sondern vor allem auch, weil sie sich einer Verständigung verschreiben: Sie wollen sich und ihre Position verständlich machen. Verständigung darf hier nicht verwechselt werden mit Versöhnung, denn im Kern der literarischen Projekte von Funk und, sicherlich noch radikaler, von Czollek steht ein unversöhnliches Insistieren, dass die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig ist.27 Dieses Insistieren steht dem gerade von ihren Altersgenossen vielfach gewünschten Abschließen mit der Vergangenheit, die als ›bewältigt‹ gelten soll, kämpferisch gegenüber. Mirna Funk, die 1981 in Ostberlin geboren wurde, ist vor allem publizistisch tätig, sie schreibt Artikel für deutsche Tages- und Wochenzeitungen und für Zeitschriften, in denen sie sich für eine Sicht- und Hörbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland einsetzt. 2018 bis 2020 schrieb sie beispielsweise eine regelmäßige Kolumne für die deutschsprachige Vogue, »Jüdisch heute«, die ganz offensichtlich an ein Publikum gerichtet war, das wenig bis nichts vom Judentum oder jüdischer deutscher Kultur weiß und dem sie in didaktischer Absicht von ihrem Leben und Denken als deutsche Vaterjüdin erzählte. Sie setzte in der Gestaltung ihrer Kolumne offensichtlich auf Nahbarkeit, wozu ihre attraktive, betont weniger intellektuelle als ›hippe‹ Autorpersona ebenso gehörte wie ihr
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In beiden Fällen wird die Frage der Zugehörigkeit zu ›den Deutschen‹ oder ›den Juden/ Jüdinnen‹ weiter verkompliziert, weil Czollek und Funk von jüdischen und nicht-jüdischen deutschen Familien abstammen. Funk teilt dieses biografische Detail mit der Protagonistin ihres Romans Winternähe (vgl. Luisa Banki: Actuality and Historicity in Mirna Funk’s Winternähe. In: German Jewish Literature after 1990. Hg. v. Katja Garloff u. Agnes Mueller. Rochester 2018, S. 169–186). Vgl. Sebastian Schirrmeisters Fazit: »Jüdische Rachekunst – insbesondere, wenn sie in deutscher Sprache stattfindet – ist keine Einladung zur Versöhnung, aber doch eine Einladung zum Gespräch« (Sebastian Schirrmeister: Juden*, Deutsche* und die Sache mit der Rache. In: Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart, Sonderausgabe 01 (2019): Zwischen Literarizität und Programmatik. Jüdische Literaturen der Gegenwart. Hg. v. Luisa Banki, Yevgeniy Breyger, Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro u. Lea Wohl von Haselberg, S. 29–36, hier S. 35).
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umgangssprachlicher Schreibstil.28 Funks Position in ihrem publizistischen, aber auch in ihrem literarischen Schreiben fordert keine Sühne, sondern Anerkennung der radikal unterschiedlichen Erfahrungswelten der Nachkommen von Deutschen und deutschen Jüdinnen und Juden. Dies ist der unversöhnliche Kern ihres Schreibens, dem ich gleich in einer kurzen Lektüreskizze ihres Romans weiter nachgehen will. Anders als Funk artikuliert Czollek, der 1987 ebenfalls in Ostberlin geboren wurde, seine Unversöhnlichkeit direkt und explizit und findet dafür einen poetischen Modus der – mit Lang gesprochen – verschobenen Rache. Inspiriert von Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds (2009) inszeniert sich Czollek als Inglourious Poet und artikuliert im Zeichen der Solidarisierung verschiedener Minderheiten in Deutschland eine Kritik am Integrationsdiskurs.29 Zentrale Überzeugung Czolleks ist, dass sich gerade Minderheiten nicht von der deutschen Mehrheitsgesellschaft in Rollen drängen lassen dürfen, die der Stärkung des Selbstbildes ebender Mehrheitsgesellschaft dienen, die sich selbst als ›Norm‹ sieht: »[W]enn ich Judenlyrik schreibe, schreiben alle anderen Kartoffellyrik!«30 Es geht, wie sich in solchen Formulierungen andeutet, ums Ganze, um die Infragestellung des Ganzen der Gesellschaft und des Literaturbetriebs und seiner Ein- und Ausschlussmechanismen, die Czollek kritisch beschreibt und literarisch bekämpft.
Jüdisches Leben und deutscher Tod: Mirna Funk, Winternähe (2015) In Mirna Funks Debütroman Winternähe (2015) ist die Protagonistin Lola nicht nur mit antisemitischen Vorurteilen und Vorfällen konfrontiert, die dazu führen, dass sie ihre Heimatstadt Berlin verlässt und erst nach Tel Aviv und schließlich nach Thailand reist (bevor sie am Ende wieder nach Berlin 28
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Vgl. Mirna Funk: »Weil es einfacher ist, Jude in Amerika zu sein als in Deutschland«: Mirna Funk über einen Los Angeles State of Mind. (1. Teil der Kolumne »Jüdisch Heute«]. In: Vogue. URL: https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/mirna-funk-juedisch-heute-lo s-angeles-state-of-mind (30.11.2020). Einen Überblick über Funks Publizistik bietet ihre Website https://mirnafunk.com/ (30.11.2020). Vgl. Czollek: Inglourious Poets, non.pag. So eine Äußerung Max Czolleks in einem Gespräch im Berliner Gorki Theater: »Das Gedicht ist ein Symptom der Geschichte – nicht ihrer Heilung!« Ein Gespräch zwischen Max Czollek, Jo Frank und Micha Brumlik im Studio Я des Gorki-Theaters in Berlin im März 2015. In: Max Czollek: A.H.A.S.V.E.R. Berlin 2016, non.pag. [E-Book].
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zurückkehrt). Sondern vor allem ist Lola konfrontiert mit einer von ihr klar als ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ markierten und widersprüchlichen Haltung im Gedenken an die Shoah. Lola – die als in der DDR geborene Vaterjüdin ein konfliktreiches Verhältnis zu ihrem Judentum ebenso wie zu ihrem Deutschtum hat – wird von ihrem Vater »Holocaust-fit«31 gemacht und wächst bei ihrer Großmutter auf, einer Überlebenden, »die immer und überall Vorboten für das Sequel zum Holocaust sah«.32 Als Erwachsene ist sie in der liberalen, hippen Berliner Kreativenszene mit einem sozusagen arrivierten Antisemitismus konfrontiert, der ganz wesentlich von einer Position der deutschen Selbstgerechtigkeit angesichts eines behaupteten Versöhnungsdiskurses aufgrund von erfolgreicher »Vergangenheitsbewältigung« abhängt. Diese Position delegitimiert der Roman mit seinen Schilderungen von Antisemitismus und mit den Reflexionen seiner Protagonistin über die Bedeutung von Geschichte, insbesondere ihrer Überzeugung, »dass wir Gewordene sind«.33 Im Kern des Romans steht die Frage nach dem Status der Shoah. Sowohl die Autorin als auch Protagonistin gehören der dritten Generation an und der Roman öffnet mit einer Gegenwartsbeschreibung, die die deutsche Gesellschaft lakonisch in eine »Der-Holocaust-ist-so-over-Seite« und eine »Wirdürfen-nicht-vergessen-was-geschehen-ist-Seite« aufteilt.34 Neben diesen beiden »Seiten«, auf die Lola nichtjüdische Deutsche verteilt, gibt es allerdings noch eine weitere Position derjenigen, deren Gegenwart als Nachkommen der Opfer so von der Erinnerung an die Tatsache der Shoah geprägt ist, dass sich die Frage, ob sie erinnert werden solle, gar nicht stellt. Tatsächlich lässt sich sagen, dass Lolas jüdische Identität nicht in religiösen oder kulturellen Praktiken gegründet ist, sondern auf der Erinnerung der Shoah basiert. In einer Unterhaltung mit ihrem israelischen Geliebten Shlomo findet Lola für diese Erinnerungsidentität einen ebenso krassen wie aufschlussreichen Ausdruck. Auf Shlomos Frage, ob »die Asche der toten Juden in Deutschland durch die Luft weht«, antwortet Lola: »Natürlich tut sie das. Überall. Sie liegt auf den Autodächern, auf den Schienen der Straßenbahnen, sie schwimmt auf den Seen und auf den Tümpeln, sie liegt auf den Hügeln und Bergen. Sie liegt als Staub auf den Regalen in jeder Wohnung eines jeden Deutschen.«35 Die Ma-
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Mirna Funk: Winternähe. Frankfurt a.M. 2015, S. 124. Ebd., S. 19. Ebd., S. 218. Ebd., S. 21. Ebd., S. 311f.
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terialität der Reste vergangener Geschehnisse garantiert für Lola ihr Fortleben. Sie imaginiert die Asche als den Stoff der Vergangenheit, der unvermeidbar von allen in Deutschland Lebenden aufgenommen und verdaut wird: »Jedes Mal, wenn ich die Luft in Berlin oder in München oder in Hamburg einatme, weiß ich, dass ich die Asche der toten Juden einatme. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, wieso die Deutschen nicht längst an dieser Asche erstickt sind.«36 Wenn die Erinnerung an die Shoah und das Wissen um ihr Fortwirken hier mit einem behaupteten Bewusstsein von jedem einzelnen Atemzug verbunden wird, verdeutlicht sich nicht allein die unvermeidliche Notwendigkeit des Eingedenkens, sondern vor allem auch der Grund für Lolas Unversöhnlichkeit: Sie weiß um jeden Atemzug in Deutschland und weiß um dessen Geschichte, die für sie buchstäblich in der Luft liegt – und sie weiß, dass dies eine ›jüdische‹ Haltung ist. Der entgegen steht ein als ›deutsch‹ beschriebener Wunsch nach Vergessen: Zu viele tote Menschen, zu viele Namen. Was bleibt, ist die Erinnerung. Das haben die Deutschen immer missverstanden und tun es auch noch heute. Den Überlebenden ging es nie darum, Schuldgefühle auszulösen oder den gemeinen Deutschen auf alle Zeit zu verdammen, sondern an die Toten zu erinnern. Es ist das Eingedenken, dieses Erinnerungsgebot zwischen Gott und den Menschen, das das Judentum und seine Tradition prägt. Die Deutschen kennen kein Eingedenken, auch weil es zwischen Gott und den Menschen im Christentum gar keinen Dialog gibt. Alles vergessen. So schnell wie möglich.37 Den Effekt, den dieser Wunsch nach Vergessen zeitigt, beschreibt Lola in einer Schilderung Deutschlands und der deutschen Gesellschaft, die sich gleichermaßen dystopisch und gegenwartsanalytisch liest: Deutschland ist glatt, weißt du das? Deutschland hat man abgehobelt, und danach ist man noch mal mit Schmirgelpapier rübergegangen, bis nichts mehr zu sehen war: vom Bösen. Wenn man das Böse vollständig weghobelt, erwischt man auch lebenswichtige Eigenschaften, die gar nicht böse sind. Das Eckige, das Kantige oder das Schräge zum Beispiel. Eben das andere. Siebzig Jahre haben sie versucht, den Krieg und alles wegzuhobeln und Sicherheit zu schaffen. Und was kommt dabei heraus? Dass sich die Menschen
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in Berlin am allerliebsten über den neuesten Nike Sneaker unterhalten und die Menschen in Bottrop über den Sonntags-»Tatort«. […] Es ist nicht auszuhalten. Es ist ekelhaft. […] Braindead nenne ich das. Ein Land voller Zombies. Bloß nicht aus der Reihe tanzen, bloß nicht mal was Verrücktes sagen. Bloß keine Fisimatenten. Immer schön in der Spur bleiben. Was uns jetzt noch fehlt, ist die Spur verlassen. Nie wieder die Spur verlassen! NIE WIEDER! Was ich an Israel immer geliebt habe, ist, dass sich hier niemand erlauben kann, braindead zu sein, weil man ununterbrochen einer existentiellen Gefahr ausgesetzt ist. Lieber Raketen als Zombies, Shlomo. Ehrlich. Lieber Raketen als Zombies. Hier ist noch Leben, hier hört man noch Herzschlag, hier gibt es noch Zerrissenheit und das Raue.38 Hier verbindet sich der Imperativ »Nie wieder Auschwitz« gerade nicht mit einer ethisch-politischen Haltung des Erinnerns, wie sie im Versöhnungsdiskurs dem »Erinnerungsweltmeister« zugesprochen wird, sondern wird Ausdruck einer deutschen Fühllosigkeit und Denkunfähigkeit. Indem Funks Roman Winternähe jüdisches Eingedenken deutschem »Hirntod« gegenüberstellt, lässt er sich nicht nur als Literarisierung einer Haltung der Unversöhnlichkeit lesen, sondern auch als eine verschobene Rache, in der jüdisches Leben über deutschen Tod triumphiert und »die Deutschen« als »braindead« und »Zombies« in einem Zustand des Todes gefangen sind.
»Inglourious Poet«: Max Czolleks poetische Rache Ebenso wenig bereit, das Wissen um Täter- und Opferschaft während des Nationalsozialismus aufzugeben oder in einen Diskurs der Versöhnung zu überführen, zeigt sich Max Czollek. Er widmet sich in seinem lyrischen und essayistischen Schreiben einem Programm der »Desintegration«. Dieses zielt auf eine Kritik an dem, was Czollek in Anlehnung an Michal Bodemann als »Gedächtnistheater« bezeichnet, in dem die Rollen der am Versöhnungsdiskurs Beteiligten als »geläuterte Deutsche« und »gute Opfer« vorgegeben sind: Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinatenfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären und 38
Ebd., S. 214f.
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künstlerischen Bezug zur Shoah. Ein bisschen Religion und ein bisschen (erfolgreich bewältigte) Migrationsgeschichte geben etwas Würze, erlauben es aber nicht, den gesetzten Rahmen zu verlassen.39 Czolleks Ansinnen ist, mögliche Gegenmodelle zu diesem »Gedächtnistheater« zu entwerfen, die sich weder darin erschöpfen, als »Andere« identitätsbildende Stütze deutscher Nichtjuden/Nichtjüdinnen zu sein, noch auf eine die innerjüdische Heterogenität der Positionen leugnende, ›jüdische‹ Sprechposition reduzieren lassen. Die Artikulation solcher Gegenmodelle nennt Czollek Desintegration. Ein Beispiel für ein derart desintegratives Vorgehen ist poetische Rache: Sowohl Racheaktion wie auch Rachekunst stehen […] in subversiver Spannung zum Gedächtnistheater, weil sie eine Gegenfigur zum friedlichen und wehrlosen jüdischen Opfer erzeugen. Indem die Rachekunst die Erinnerung an die nahezu vergessenen jüdischen Reaktionen auf die deutschen Verbrechen bewahrt, ist sie ein Archiv des Widerstandes. Indem sie einen Raum öffnet, um über die Weise zu reflektieren, in der sich die Gewalt der Vernichtung in den jüdischen Körper, seine Psyche und Sprache eingeschrieben hat, ist sie ein Ort der Trauer. Und indem sie einen legitimen psychologischen Verarbeitungsmechanismus bereitstellt, ist sie eine Form der Selbstermächtigung.40 Als ein Beispiel für Rachekunst bietet Czollek sein eigenes Gedicht »A.H.A.S.V. E.R.« an, das zuerst 2015 in seinem Gedichtband Jubeljahre erschien und ein Jahr später nochmals eigenständig als E-Book in der Edition Binaer veröffentlicht wurde. In dieser Ausgabe ist dem Gedicht die Transkription eines Gesprächs beigegeben, das der Autor mit Jo Frank und Micha Brumlik führte, sowie ein eigener Essay »Inglourious Poets. Gedanken zum A.H.A.S.V.E.R. Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung«. Derart von hilfreichen Kommentierungen umgeben lässt sich das Gedicht recht geradlinig lesen als ein Versuch poetischer Rache, ein literarischer Ausdruck radikaler Unversöhnlichkeit. Im Zentrum des Gedichts steht die Figur »Josef, Iosif, Joseph«, die zwischen der biblischen Josef-Figur, Iosif Stalin und Joseph Goebbels changiert:
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Czollek: Desintegriert euch!, S. 28; vgl. auch Bodemann: Gedächtnistheater. Czollek: Desintegriert euch!, S. 157.
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josef, iosif, joseph wer bist du gewesen wer bist du geworden?41 Diese Figur der Dreiuneinigkeit verbindet sich im Gedicht mit derjenigen des Ewigen Juden und seinen verschiedenen Vorbildern und Interpretationen in christlicher Theologie, Antisemitismus und Literaturgeschichte. Der christlichen Legende zufolge war Ahasver ein Zuschauer am Kreuzweg, der Jesus die erbetene Ruhe versagte und ihn stattdessen verhöhnte, woraufhin Jesus ihn zu ewiger Wanderschaft verdammte. Diese Überzeugung, dass Worte verdammen können – vielleicht gerade dann, wenn andere Möglichkeiten der Verurteilung verschlossen sind –, dass Worte also Rache bewirken können und umgekehrt, dass Worte befreien können, steht im Kern des lyrischen Projekts Czolleks. Mit dieser Überzeugung von der Wirkmacht von Worten tritt Czollek das Erbe des vielleicht scharfzüngigsten jüdischen Dichters, Heinrich Heine, an, dessen Warnung am Ende von Deutschland. Ein Wintermärchen, »Beleid’ge lebendige Dichter nicht«, er gern zitiert: Doch gibt es Höllen, aus deren Haft Unmöglich jede Befreiung; Hier hilft kein Beten, ohnmächtig ist hier Des Welterlösers Verzeihung. Kennst du die Hölle des Dante nicht, Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, Den kann kein Gott mehr retten –42 Czolleks »A.H.A.S.V.E.R.« widmet sich ebensolcher Verdammung. Sie gilt Stalin und Goebbels, die für die Täter des 20. Jahrhunderts stehen: wenn schon ein witz über einen rabbi zu endloser wanderschaft verdammt wie viel mehr ist es dann an dir die erde mit füßen zu treten?43
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Max Czollek: A.H.A.S.V.E.R. In: Ders.: Jubeljahre. Berlin 2015, S. 31–40, hier S. 32. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Hg. v. Werner Bellmann. Stuttgart 2001, S. 75 (Caput XXVII, 81–88). Czollek: A.H.A.S.V.E.R., S. 38.
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Diese Verdammung, die Czollek für die mörderischen Antisemiten des 20. Jahrhunderts ersinnt, schließt die Vorstellung von Versöhnung aus: […] unter deinen toten war kein erlöser, davon kehrt keiner zurück wenn sich fügen wird was zerteilt und schließen was klaffte euer zeugnis bringt euch keine gnade keine bußzeit ist anberaumt die wüste immer neu zu durchmessen44 Das Gedicht verfolgt ein desintegratives Programm insofern es den Mythos des Ewigen Juden aus dem Kontext antisemitischer ebenso wie christlichtheologischer Funktionalisierungen löst und in einen neuen, selbstbewusst jüdischen Kontext überführt. Gleichzeitig ist ebendiese Artikulation jüdischer Selbstbehauptung, das Schreiben eines Gedichts, das Antisemiten verdammt, selbst eine Form der verschobenen Rache. In diesem Sinne schreibt Czollek selbst in seinem das Gedicht kommentierenden Essay: »Sobald ich aus einer jüdischen Position desintegrativ schreibe, entziehe ich mich einer deutschen, um Versöhnung bemühten Position. Der Topos der jüdischen Rache beispielsweise […] ist einer, der sich da nicht integrieren lässt.«45 Rache ist, was Versöhnung stört. Rachelyrik ist damit nicht nur ein Beispiel für eine literarische Praxis der Desintegration, sondern ist als selbstbewusste jüdische deutschsprachige Lyrik selbst ein künstlerischer Akt verschobener Rache. In Hinblick auf die Möglichkeit jüdischer Literatur in deutscher Sprache, zeigt sich Czollek überzeugt, dass »Celan Optimist [war], wenn er glaubte, es gäbe eine Möglichkeit, Mutter- und Mördersprache miteinander zu versöhnen«.46 Darum schreibt Czollek deutsche Gedichte, die weniger von der Geschichte erzählen, als diese anrufen, anklingen lassen und so gegenwärtig hörbar machen: »Ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, ist nicht möglich, ohne die Sprache von Auschwitz immer wieder aufzurufen!«47 Um ebendie-
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Ebd., S. 40. Czollek: Inglourious Poets, non.pag. Czollek/Frank/Brumlik: »Das Gedicht ist ein Symptom der Geschichte – nicht ihrer Heilung!« Ein Gespräch zwischen Max Czollek, Jo Frank und Micha Brumlik, non.pag. Ebd., non.pag.
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sen wiederholten Aufruf geht es in seinem Schreiben; seine Gedichte, für die »A.H.A.S.V.E.R.« hier beispielhaft ist, verlangen die Anerkennung der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit und die Wirkmacht der Worte. Dass er seine Leser*innen die Geschichte und die Geschichte der Sprache, in der er schreibt, nicht vergessen lässt, ist Czolleks Rache. In diesem Sinne ist seine Behauptung, »Rache ist eine poetische Haltung«, zu verstehen: »Lyrik ist ein obsessives Zupfen an den Wundfäden zwischen Gestern und Morgen. Endlos parlieren die Toten durch die Sprache. Schreiben bedeutet für mich, ihnen von der Kanzel meiner Gegenwart die Parade abzunehmen.«48 Hier drückt ein Autor der dritten Generation sein Gefühl der Verbundenheit mit seinen (literarischen, aber auch familiären) Vorgänger*innen aus, das ihn auf das ihnen zugefügte Unrecht reagieren lässt – oder, mit Czolleks eigener Metapher gesprochen, das die Intensität erklärt, mit der er die Fäden wahrnimmt, die ihn an die Toten der Vergangenheit binden. Czollek begehrt Rache allerdings nicht nur im Namen der Toten, sondern auch in seinem eigenen. Mit Blick auf die Verfolgungsgeschichte seiner Familie und deren Auswirkungen auch auf sein Leben, bringt Czollek eine Unversöhnlichkeit zum Ausdruck, die gerade im Kontext der deutschen ›Erinnerungskultur‹ »kein Bedürfnis nach Normalisierung« hat: Ich kann die Freude über das neue Deutschland nicht teilen. Das liegt auch daran, dass ich die Ermordung der eigenen Leute als fundamentale Kränkung wahrnehme. Sie lässt sich unmöglich durch Stelenfelder oder Gedenktage abhaken. […] Wenn mir heute irgendwelche Deutschen meiner Generation erzählen wollen, dass sie genug von der Erinnerung an den Nationalsozialismus haben, dann erlebe ich das als Fortsetzung dieser Kränkung. Und als mangelnden Respekt vor meinen Toten. Die »deutsche Heimat« ist mir ein zutiefst ambivalenter, gewaltvoller und traumatischer Ort.49 Czolleks Unversöhnlichkeit, wie er sie in seinen Gedichten und Essays artikuliert, führt ihn zu einer politischen Haltung der Solidarität mit anderen Minderheiten in Deutschland und zu einer literarischen Haltung der poetischen Rache, die darauf zielt, die gegenwärtige Wirksamkeit der Vergangenheit anzuerkennen und vergangenen Aktionen gegenwärtige Reaktionen entgegenzustellen.
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Czollek: Inglourious Poets, non.pag. Czollek: Desintegriert euch!, S. 174.
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Schluss Im Schreiben der dritten Generation, das hier beispielhaft anhand von Max Czollek und Mirna Funk besprochen wurde, ist Unversöhnlichkeit ein zentraler Topos. In Funks Winternähe ist die Protagonistin eher Anhängerin eines Améry’schen Ressentiments, zeichnet dann aber doch gleichsam dystopische Bilder von Deutschland (dem Land der Asche) und den Deutschen (als braindead Zombies), die sich als Ausdruck einer Rachefantasie lesen lassen. Bei Czollek wird Rache zu einem poetischen Prinzip, das eine Selbstbestimmtheit jüdischer Positionen – und zwar gerade solcher, die die Mehrheit deutschsprachiger Leser*innen vielleicht nicht lesen will – befördern soll. Bei beiden dient ein Versöhnungsdiskurs im Zeichen der ›Vergangenheitsbewältigung‹ als Negativfolie, vor der und gegen die sie ihre jeweiligen literarischen Positionen entwerfen. Der ›Bewältigung‹ der Vergangenheit steht bei ihnen ein Festhalten an vergangenen Taten und Untaten gegenüber, ein insistierendes Erinnern, dessen Unversöhnlichkeit sich literarisch als Ressentiment oder Rache(fantasie) ausdrückt. Anders als Autor*innen der ersten und auch noch der zweiten Generation wissen Czollek und Funk als Schreibende der dritten Generation um ihr Lesepublikum, das die Vergangenheit ›bewältigt‹ wissen will. Ihre Texte und ihre Inszenierungen von Autorschaft begegnen diesem Wunsch mit einer Ablehnung, die zwar darauf abzielt, verstanden zu werden, aber deswegen nicht weniger radikal auf ihrer eigenen Position beharrt: »Es wird nie wieder alles gut.«
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Gegentheater Kritisches Erinnern mit den Mitteln der Bühne Sebastian Schirrmeister All the world’s a stage, And all the men and women merely players William Shakespeare: As You Like It
Vorbemerkungen Die Welt ist eine Bühne und wir alle spielen Theater. Diese Einsicht ist mitnichten neu. Sie findet sich unter anderem prominent bei Shakespeare und bereits eineinhalb Jahrtausende zuvor beim römischen Satiriker Juvenal. Im 20. Jahrhundert hat sich der Schriftsteller Max Frisch der Theaterhaftigkeit des menschlichen Daseins in Texten wie Stiller (1954), Mein Name sei Gantenbein (1964) und Biographie, ein Spiel (1968) ebenso gewidmet wie der Soziologe Erving Goffman, dessen wirkmächtige Studie zu Selbstdarstellung und sozialer Interaktion The Presentation of Self in Everyday Life (1959) auf Deutsch unter dem Titel Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag erschien.1 Während Goffman und Frisch das Alltägliche des zwischenmenschlichen Theaters untersuchen bzw. literarisch gestalten, betrachtet Y. Michal Bodemann in seiner vieldiskutierten Studie Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung (1996) gerade die ›Herausgehobenheit‹ des Theaters aus dem Alltag und die Bedeutung des theatralen Settings für institutionalisierte, kollektive Gedenkrituale.
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Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper 2003.
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Gedenken findet […] immer in theaterartigen Kontexten statt: mit Bühne, Zuschauern, Schauspielern, Bühnenbildern, dem Drama und seiner Inszenierung selbst. Charakteristisch für das Theater ist, daß es sich aus der alltäglichen Praxis heraushebt, daß es zunächst außerhalb des »Stroms der Geschichte« zu stehen scheint. Wie das wissenschaftliche Experiment, so funktioniert auch die Theateraufführung zunächst außerhalb dieser Praxis und kann deshalb nach Belieben wiederholt werden. […] Der Raum des Theaters ist also von dem des Alltags getrennt; historische Ereignisse werden in einer dem Theater eigenen Weise reproduziert, den Zuhörern vorgespielt, um die in das historische Ereignis hineingelesenen Freuden und Leiden nachzu(er)leben.2 Anhand des sich verändernden Gedenkens an die Reichspogromnacht in Deutschland exemplifiziert Bodemann die Funktionsweise dieses »Gedächtnistheaters« im Sinne Michel Foucaults als Heterotopie mit eigenen Gesetzen jenseits von Alltag und Geschichte.3 Besonders aufmerksam und kritisch beleuchtet er dabei die Rolle, welche die Inszenierung des deutschen Gedenkens für Jüdinnen und Juden vorsieht. Diese seien »keine Hauptdarsteller […], sondern eher Statisten«4 , und zwar als »still leidende Opfer«5 . Juden würden, so Bodemann, »zu Akteuren im jährlichen Bußritual, zu Zeugen gegenüber der internationalen Öffentlichkeit, und sie werden schließlich gebraucht, damit Deutsche in jüdische Schuhe schlüpfen und sich mit ihrer Schuld befassen können.«6 Gut zwanzig Jahre später hat der Berliner Lyriker Max Czollek Bodemanns Thesen aufgegriffen und polemisch zugespitzt zur Grundlage seines Essays Desintegriert Euch! (2018) gemacht. Czollek, der einschlägige Theatererfahrung hat und sich entschieden dagegen wehrt, die Rolle eines »Juden für Deutsche« zu spielen, überträgt die Funktionsweisen des deutschen »Gedächtnistheaters« auf das gleichzeitig stattfindende »Integrationstheater«, in dem die deutsche »Dominanzgesellschaft« in Deutschland lebenden, insbesondere
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Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg: Rotbuch 1996, S. 84. Vgl. Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck, Peter Gente u. Heidi Paris. Leipzig: Reclam 1998, S. 34–46. Bodemann: Gedächtnistheater, S. 99. Ebd., S. 115. Ebd., S. 118.
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muslimischen Migrant*innen eine bestimmte Rolle vorschreibe und ihre Erwartungen aus Paradigmen wie »Leitkultur« und »Integration« sowie dem Phantasma vom »jüdisch-christlichen Abendland« ableite.7 Gemeinsam ist diesen Überlegungen, dass sie in ihrer Analyse und Kritik sozialer Verhältnisse das Theater entweder heuristisch als bekannte Größe, metaphorisch als Bildgeber oder rhetorisch zum Zwecke der Überzeugung verwenden. Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages liegt darin, zu fragen, inwiefern Theater auch selbst ein Mittel sein kann, aus postnationalsozialistischer Perspektive in die von einstudierten Abläufen, kulissenhaften Rahmungen und festen Rollenverteilungen geprägten Erinnerungs- und Gedenkdiskurse einzugreifen, sie in Frage zu stellen und zu unterlaufen. Die inhärente Theatralität des Nationalsozialismus selbst ist wiederholt mit den Mitteln des Theaters ausgestellt und lächerlich gemacht worden, etwa in Filmen wie The Great Dictator (US 1940, R: Charlie Chaplin), To Be or Not to Be (US 1942, R: Ernst Lubitsch) oder Mein Führer (D 2007, R: Dani Levy). Funktioniert das auch in Bezug auf die Theatralität des Gedenkens? Können sich gegenwärtige Theatertexte und -inszenierungen in ähnlicher Weise als erinnerungskulturelle »Störenfriede« erweisen wie es Anna Rutka anhand der Prosa von Tomer Gardi und Shahak Shapira gezeigt hat?8 Im Folgenden werden zwei Texte des deutschsprachigen Gegenwartstheaters in den Blick genommen, die sehr ausdrücklich genau auf diese Art der Störung abzielen: Celan mit der Axt von Max Czollek sowie Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet von Tucké Royale, die im Herbst 2017 am Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wurden. Beide Texte schöpfen ihr Störpotential auf ganz unterschiedliche Weise aus einem gemeinsamen Thema: jüdische Rache. Ein Thema, das aus dem deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs nach 1945 weitgehend ausgeklammert wurde, weil es dem erhofften Ausgleich, dem oft bekundeten Wunsch nach ›Normalisierung‹ und ›Vergangenheitsbewältigung‹ auf den ersten Blick entgegensteht. Bereits seine Erwähnung stört gewohnte Diskursverläufe und erzeugt moralisches Unbehagen, weil es die Täter-Opfer-Di7 8
Vgl. Max Czollek: Desintegriert Euch! München: Hanser 2018. Vgl. Anna Rutka: Jüdische Störenfriede im deutschen Gedächtnis- und Integrationstheater. Kritisch-emanzipatorische (Selbst-)Entwürfe in Tomer Gardis Broken German und Shahak Shapiras Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen! In: Oxford German Studies 50,2 (2021), S. 233–251. Zu Tomer Gardi siehe auch Sebastian Schirrmeister: Re-Claiming German Literature. Literarische Praktiken der Aneignung bei Deborah Feldman und Tomer Gardi. In: Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung. Hg. v. Jara Schmidt u. Jule Thiemann. Berlin: Neofelis 2022, S. 111– 130.
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chotomie ins Wanken bringt.9 Rache ist das Gegenteil von ›Schlussstrich‹: Rache ist die andauernde Vergegenwärtigung einer unbewältigten, alles andere als abgeschlossenen Vergangenheit. Dadurch fordert sie im besten Fall zu immer neuen Auseinandersetzungen mit dieser Vergangenheit auf und kann erlernte Geschichtsbilder in Frage stellen.10 Indem sie ausgerechnet das jüdische Verlangen nach Vergeltung für die deutschen Verbrechen auf die Bühne bringen, schreiben sich Czollek und Royale in einen kontroversen Teil der Geschichte des deutschsprachigen Nachkriegstheaters ein. Die immense Spannbreite im Umgang mit jüdischer Rache auf deutschen Bühnen nach 1945 lässt sich am besten anhand der Namen Ernst Deutsch und Rainer Werner Fassbinder verdeutlichen. Als jüdischer Schauspieler von deutschen Bühnen vertrieben, kehrte Ernst Deutsch 1951 in die Bundesrepublik zurück und wurde mit seiner Darstellung der Hauptfigur in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise – dem erwiesenen Lieblingsstück deutscher Nachkriegsbühnen – zur Inkarnation jüdischer Versöhnlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren. Deutsch zeigte den Nathan »als nobles, leidgeprüftes und dennoch edelmütiges Opfer […] – ein Jude, der den Geist des Humanismus verkörperte, der trotz des Mordes an der eigenen Familie keine Rache schwor.«11 In Lessings Dramentext (IV,7) schildert Nathan seine Reaktion auf die grausame Ermordung seiner Familie durch Christen so: NATHAN. Als/Ihr kamt, hatt ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’/und Staub vor Gott gelegen, und geweint. –/Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,/Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;/Der Christenheit den unversöhnlichsten/Hass zugeschworen – KLOSTERBRUDER. Ach! Ich glaub’s euch wohl!
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Zum widersprüchlichen Umgang mit Rache in westlichen Gesellschaften siehe die umfassende philosophisch-kulturanthropologische Arbeit von Fabian Bernhardt: Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne. Berlin: Matthes & Seitz 2021. Vgl. Sebastian Schirrmeister: Offene Rechnungen. Juden*, Deutsche* und die Sache mit der Rache. In: Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart, Sonderausgabe 01 (Nov. 2019): Zwischen Literarizität und Programmatik. Jüdische Literaturen der Gegenwart. Hg. v. Luisa Banki/Yevgeniy Breyger/Micha Brumlik/Marina Chernivsky/Max Czollek/Hannah Peaceman/Anna Schapiro/Lea Wohl von Haselberg, S. 29–36. Anat Feinberg-Jütte: Drama und Theater von 1933 bis zur Gegenwart. In: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur, hg. v. Hans-Otto Horch. Berlin: De Gruyter 2016, S. 491–499, hier S. 492.
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NATHAN. Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder./Sie sprach mit sanfter Stimm‹: »Und doch ist Gott!/Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan! […]« Wie beruhigend müssen Nathans ›vernünftige‹ Worte in den Ohren des deutschen Publikums geklungen haben, dem unter dem Eindruck von NS-Propaganda, alliierter Besatzung und diffusem Schuldgefühl zumindest in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Angst vor jüdischer Rache durchaus nicht fremd war.12 Ähnlich versöhnlich wie sein Nathan, so beschreibt es Anat Feinberg, sei dann auch Ernst Deutschs Interpretation des Shylock in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig gewesen. Erst Ende der 1960er Jahre habe der ebenfalls aus dem Exil zurückgekehrte Fritz Kortner das deutsche Publikum mit einem anderen, tief verletzten und auf Rache sinnenden Shylock konfrontiert.13 Im Gegensatz zu Deutschs betont versöhnlichen Judenfiguren stand die grotesk-stereotype Karikatur »der reiche Jude« in Rainer Werner Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod (1975) von Anfang an ganz im Zeichen sowohl individueller als auch kollektiver jüdischer Rache an Deutschland und den Deutschen. Die als Sozialkritik und »Anti-Philosemitismus« kaschierte, antisemitische Darstellung eines mitleidslosen, triebhaften und rachsüchtigen Shoah-Überlebenden sorgte in der BRD für jahrzehntelange Kontroversen über Kunstfreiheit, politisches Theater und den angemessenen erinnerungspolitischen Umgang mit den deutschen Verbrechen und den jüdischen Opfern. Die verhinderte Uraufführung im Oktober 1985 in Frankfurt a.M. war zugleich ein symbolischer Wendepunkt im deutsch-jüdischen Verhältnis und hat wirkmächtige Bilder produziert. Echte, lebende Jüdinnen und Juden besetzten selbstbewusst und öffentlichkeitswirksam eben jene Bühne, auf der Fassbinders phantasmatisch überzeichnete Judenfigur gezeigt werden sollte.14 Kurz
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Vgl. Frank Biess: Jüdische Rache. In: Ders.: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Reinbek: Rowohlt 2019, S. 49–57. Vgl. Feinberg-Jütte: Drama und Theater von 1933 bis zur Gegenwart, S. 492. Zu Ernst Deutsch, Fritz Kortner und anderen jüdischen Darsteller*innen im deutschen Nachkriegstheater vgl. auch Anat Feinberg: Wieder im Rampenlicht. Jüdische Rückkehrer in deutschen Theatern nach 1945. Göttingen: Wallstein 2018. Vgl. Janus Bodek: Fassbinder-Kontroversen. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, hg. v. Torben Fischer, Matthias Lorenz. 3. überarb. u. erw. Auflage. Bielefeld: transcript 2015, S. 250–252.
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nach dieser erfolgreichen Intervention nahm der Historiker Dan Diner in seinem programmatischen Essay »Negative Symbiose. Juden und Deutsche nach Auschwitz« alle in Deutschland lebenden Juden in die Pflicht, sich »als Wächter der Erinnerung« zu verstehen und sich dieser Aufgabe »bei Strafe des Verlusts ihrer Würde« nicht zu entziehen.15 Vor diesem Hintergrund werden die beiden vorliegenden Theatertexte vor allem auf die konkrete Ausgestaltung des Rachemotivs, auf ihren Umgang mit Geschichte und auf ihre kommunikative Konstellation (wer spricht mit bzw. zu wem?) hin untersucht. Abschließend wird kurz die Frage der Wirkmacht der theatralischen Einsprüche wider die Versöhnlichkeit erörtert.
Einer gegen alle(s). Max Czollek: Celan mit der Axt Czolleks Theatertext gibt sich bereits aufgrund seines Aufführungszusammenhangs als expliziter Einspruch gegen das von Bodemann beschriebene deutsche Gedächtnistheater zu erkennen. Die Uraufführung unter der Regie von Sapir Heller erfolgte am 2. November 2017 zu Beginn der von Czollek gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann kuratierten Radikalen Jüdischen Kulturtage am Maxim Gorki Theater Berlin, die auch den 9. November als Tag des ritualisierten deutschen Gedenkens an die Reichspogromnacht mit einschlossen. Gegen diesen Hintergrund platzierte Czollek auf der Bühne einen ausdrücklich als jüdisch und widerständig markierten Gegenentwurf. Auch der Idee eines deutsch-jüdischen Dialogs wird von vornherein eine Absage erteilt. Ebenso wie die im gleichen Kontext gezeigten Arbeiten von Sivan Ben Yishai (Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden) und Marina Frenk (Valeska Gert – The Animal Show) ist Celan mit der Axt ausdrücklich als »ein Monolog«16 konzipiert. Die drei »Juden-Monologe« greifen gewissermaßen aktualisierend auf Gershom Scholems Einsicht zurück, das vielbeschworene deutsch-jüdische Gespräch sei von jeher ein jüdisches Selbstgespräch gewesen.17
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Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Babylon 1 (1986), S. 7–20, hier S. 20. Max Czollek: Celan mit der Axt (unveröff.), S. 1. Alle Angaben und Zitate beziehen sich auf eine vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellte, 17-seitige Textfassung. Vgl. Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch [1962]. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 7–11, hier S. 9.
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Czolleks für einen einzigen Darsteller (bei der Uraufführung: Till Wonka) konzipiertes Stück führt in einem Vorspiel und sechs unter Anspielung auf Dante Alighieris Commedia als »Höllenkreise« durchnummerierten Bildern zunächst zu ausgewählten Personen und Stationen der jüdisch-deutschen Nachkriegsbeziehung (Paul Celan liest bei der Gruppe 47, Hannah Arendt im Fernsehinterview mit Günter Gaus, Thomas Brasch stellt Forderungen an Deutschland, Ignatz Bubis bei Martin Walsers Paulskirchenrede) und schließlich ins Imaginäre. Gerade mit den letzten beiden Bildern »Amichai Süß« und »Der Großvater« stellt sich Celan mit der Axt sowohl in einen explizit literarisch-fiktionalen Verweiszusammenhang als auch in den Kontext der dritten Generation. Bereits im Vorspiel wird über eine Reihe von Schlüsselwörtern wie »Goldzähne, alte Brillen, Koffer«, »Stolpersteine«, »Lampenschirme«, »Führer« das semantische Feld der Shoah unmissverständlich aufgerufen; die deutschen NS-Verbrechen bilden den Ausgangspunkt für den anschließenden Gang durch die Höllenkreise. Im fünften Bild schließt sich die motivische Klammer und die Kunstfigur Amichai Süß zieht aus den deutschen Verbrechen und dem zuvor episodisch gezeigten erinnerungspolitischen Umgang damit ihre Schlussfolgerungen: [I]ch [sehe] mich eher als Racheengel, eine Art Nachkriegs-Kaufmann von Venedig. Ich bin gekommen um einzufordern, was die Gojim seit Jahr und Tag an uns praktizieren. Gleiches mit Gleichem zu vergelten an den Dieben, Mördern, Sadisten, Schlächtern, Mitläufern, Blinden, Stummen, Tauben, Raubtieren, Bluthunden, Dummen. (Wut) Als sie uns stachen, bluteten wir nicht? Und als sie uns mit Autogas vergifteten, starben wir nicht wie die Fliegen? Zerfetzten die Kugeln aus deutschen Gewehren nicht das Herz unserer Lieben wie es dereinst das Herz ihrer Kinder, Brüder, Frauen zerfetzten wird? Manchmal frage ich mich wirklich, ob die Deutschen denken, wir sind bescheuert, ob die Deutschen denken, sie kämen mit der Nummer so einfach davon. 6 Millionen vergasen und dann ein paar Denkmäler, Kalendertage und nen paar Millionen Euro für die Überlebenden und Schwamm drüber? […] Aber wir sind keine guten Opfer, wir sind böse Opfer. Wir sind nicht vernünftig, ich kann auch nicht vernünftig sein. Ihr habt nicht mit Amichai Süß gerechnet!18
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Czollek: Celan mit der Axt, S. 13.
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Die affirmative Bezugnahme auf Shylocks berühmte Argumentation für ein jüdisches Recht auf Rache und die ausdrückliche Absage an einen ›vernünftigen‹ Umgang mit dem erlittenen Unrecht nach Lessing’schem Vorbild münden in die Fantasie einer zukünftigen Deportation der Deutschen: »Ich komme, um euch alles zu nehmen. […] Steigt ruhig ein in die Züge. […] Ihr habt uns unterschätzt, Freunde. Ihr habt euch das zu einfach vorgestellt.«19 Mit dieser Drohung scheint Amichai Süß das von Dan Diner als deutschen Beitrag zur negativen Symbiose diagnostizierte »archaische Gefühl von Bestrafungserwartung«20 mit einiger Verspätung doch noch erfüllen zu wollen. Ganz ähnlich mit deutschen Ängsten spielt auch das letzte Bild »Der Großvater«, das die zeitweise verbreitete Vorstellung vom alliierten Luftkrieg als jüdischer Vergeltung für die Shoah zu bestätigen scheint. Der aus Deutschland geflohene Großvater wird von den Briten »angeheuert, um es den Nazis als Bomberpilot heimzuzahlen« und empfindet »Freude, wenn […] die Detonationen wie Knallerbsen aufleuchten. Und bei jeder Detonation sagte er einen anderen Namen: der war für Heine, der für Joseph Roth und der für Theodor Kramer.«21 Wie bei Amichai Süß ist auch diese Rachefantasie eine kollektive. Es geht nicht um individuelle Schuld, sondern um gesellschaftliche Verantwortung für antijüdisches Handeln, dessen historischer Horizont durch die Nennung von drei exilierten, deutschsprachig-jüdischen Schriftstellern zudem bis ins 19. Jahrhundert erweitert wird. Historische Anspielungen, Zitat und Collage sowie Verfremdung existierenden Textmaterials, das stellenweise im Originalton (etwa bei Arendt und Walser) eingespielt wird, sind dann auch die wichtigsten Stilmittel des dramatischen Monologs. Auf diese Weise ist das Stück einerseits von historischen Referenzen durchdrungen, andererseits bleibt deren Status unbestimmt. Historische Details, Widersprüche oder Differenzierungen treten hinter eher ungefähren Ahnungen und unspezifischen Assoziationen mit den aufgerufenen »Stationen der Nachkriegsgeschichte«22 als allgemein geteilten Wissensbeständen zurück: »na ihr wisst schon«23 . Es wird nicht erörtert, wie das später kolportierte Bild von Celans Lesung in Niendorf zustande kam oder wer in der Walser-Bubis-Debatte welche Positionen vertrat. Wiewohl
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Ebd., S. 13–14. Diner: Negative Symbiose, S. 12. Czollek: Celan mit der Axt, S. 15. Ebd., S. 3 Ebd.
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die »Quellen« zu Beginn der einzelnen Bilder angegeben sind, handelt es sich ausdrücklich nicht um dokumentarisches Theater, sondern um ein »fake«24 desselben, verbunden mit der teils impliziten, teils expliziten Aufforderung, eigene Recherchen anzustellen: »Ach schauen Sie’s nach. Ich habe keine Zeit dafür.«25 Das Ganze lässt sich als eine komprimierte, strategisch kuratierte Ansammlung von Denkanstößen lesen, die immer wieder auch auf die starke mediale Verarbeitung der Shoah verweisen – etwa durch die leitmotivisch wiederkehrende hebräische Version eines Liedes aus dem Soundtrack des Spielfilms La vita è bella (IT 1997, R: Roberto Benigni). Die mal höfliche, mal vertraute, direkte Ansprache an das Publikum bzw. an ein imaginiertes, kollektives, nicht-jüdisches, deutsches Gegenüber tritt gehäuft im Vorspiel sowie in den beiden letzten Bildern auf und verschiebt sich zuletzt zu einem grotesken deutsch-jüdischen »Wir«, das gemeinsam in einen zukünftigen Krieg gegen einen gemeinsamen Feind zieht, um das »Abendland« zu verteidigen. In dieser ironisch gebrochenen Phantasmagorie einer totalen Integration der Jüdinnen und Juden in der deutschen »Dominanzgesellschaft« verschwindet der Gegensatz von »wir« und »ihr« und mit ihm auch das Irritationspotential einer unversöhnlichen, nichtintegrierbaren Minderheit. Romain Gary hat dieses verlockende ›Angebot‹ der ultimativen Zugehörigkeit vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges in seinem fantastisch-allegorischen Roman La Danse de Gengis Cohn (1967) ebenfalls unter Verweis auf die damit einhergehende Beteiligung an Gewalt und Krieg als eine Versuchung beschrieben, der es um jeden Preis zu widerstehen gelte.26 Als ernst gemeinter Lösungsvorschlag zur Überwindung der Differenz ist die deutsch-jüdische Waffenbrüderschaft (und -schwesternschaft) auch bei Czollek nicht zu lesen. Schließlich ist die deutsch-jüdische Differenz eine der strukturellen Voraussetzungen des Texts, der gerade in den Rachepassagen mit der sich häufenden direkten Ansprache an das Publikum eine erkennbare Abhängigkeit vom deutschen Gegenüber aufweist. Es ist diese geradezu intime Nähe, die sich mit Hannah Arendt als ein wesentliches Merkmal von Rache deuten lässt. Im Gegensatz zum »grundsätzliche[n] Abschied« des Verzeihens, schreibt Arendt 1950 unter dem Eindruck ihres ersten Deutschlandbesuchs, bleibe »Rache immer nah am Anderen«, sodass »die Beziehung
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Ebd., S. 1. Ebd., S. 12. Vgl. den dritten Teil des Romans »La tentation de Gengis Cohn« [Die Versuchung des Dschingis Cohn]. Romain Gary: La Danse de Gengis Cohn. Paris: Gallimard 1967.
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gerade nicht abreißt.«27 Zu dieser engen Beziehung gehört auch, dass antisemitische Stereotype vom »rachsüchtigen Juden«, die das Fassbinder-Stück so problematisch machen, bei Czollek in einem Akt der Selbstermächtigung angeeignet werden. Celan mit der Axt gehört damit ebenso zur jüdisch-literarischen Fassbinder-Rezeption wie einige Texte aus Maxim Billers erstem Erzählband Wenn ich einmal reich und tot bin (1990) oder das hebräische Drama Leylot Frankfurt Ha-Alizim [Frankfurts fröhliche Nächte] von Josef Mundy aus dem Jahr 1988.
Jüdisch und queer. Tucké Royale: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet Auch das als »jüdisch-queeres Rachemusical« untertitelte Stück von Tucké Royale stammt aus dem künstlerischen Kontext des Maxim Gorki Theaters und wurde dort eine Woche vor Celan mit der Axt am 26. Oktober 2017 in der Regie des Autors uraufgeführt. Neben der zeitlichen und institutionellen Nähe fällt die in beiden Texten verwendete Formulierung ›mit … habt ihr nicht gerechnet‹ ins Auge, die eine Geste der Überraschung suggeriert, zugleich eine offene Rechnung mit der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung nahelegt und sich dem vielzitierten ›Schlussstrich‹ entgegenstellt. Beide Texte inszenieren sich so als unerwartete Einsprüche im Erinnerungsdiskurs. Zugleich stellt sich die Frage, wen genau dieses »ihr«, das nicht damit gerechnet hat, eigentlich bezeichnen soll. Während die Formulierung bei Czollek den Abschluss von Amichai Süß’ furioser Shylock-Paraphrase bildet, steht sie bei Royale von Beginn an über dem ganzen Stück und steuert ebenso wie der einschlägige Untertitel die Rezeption des auf der Bühne Gezeigten als Rachegeschichte mit klaren Adressaten. Auf der historischen Ebene beschränkt sich Mit Dolores hab ihr nicht gerechnet nicht auf Andeutungen und Anspielungen auf als bekannt vorausgesetzte Sachverhalte. Vielmehr werden historische Orte, Personen und Ereignisse aufgerufen und gemeinsam mit fiktionalen Elementen und eigens komponierten Liedern zwischen Tango und Klezmer zu einem dramatisch-erzählerischen Ganzen kombiniert. Nach Argentinien geflohene NS-Verbrecher, das Berliner Transvestitenlokal »Eldorado«, der jüdische Sexualwissenschaftler und 27
Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis 1973. Erster Band. Hg. v. Ursula Ludz/Ingeborg Nordmann. München: Piper 2002, S. 3.
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Theoretiker des dritten Geschlechts Magnus Hirschfeld, Leben im Warschauer Ghetto, Feiern und Straßenszenen im Berlin der Kriegsjahre, der Aufstand im Warschauer Ghetto, alliierte Luftangriffe sowie ein Kibbuz in Israel bilden ein zwischen Fakt und Fiktion changierendes Mosaik historischer Versatzstücke. Eine sehr präsente Erzählinstanz gibt teils ausführliche Kontextinformationen, die sich aus der Figurenrede sowie der recht abstrakten Inszenierung mit viel Masken und Musik nicht unmittelbar ergeben, lässt aber keine Rückschlüsse auf den Fiktionalisierungsgrad des Gezeigten bzw. Erzählten zu. Die titelgebende Figur der Dolores, die die 18 Szenen und sechs Songs miteinander verbindet, basiert in ihren Grundzügen auf der Lebensgeschichte von Sylvin Rubinstein. 1914 in Galizien geboren, waren er und seine Zwillingsschwester Maria in den 1930ern als Tanz-Duo Dolores & Imperio auf europäischen Bühnen erfolgreich. Als Maria 1942 deportiert und ermordet wurde, schlüpfte ihr Bruder selbst in die Rolle der Dolores, wirkte aktiv im Widerstand und verübte unter anderem Attentate in Frauenkleidern. Nach dem Krieg lebte er bis zu seinem Tod 2011 als Tänzer und Travestiekünstler im Hamburger Szeneviertel St. Pauli und lieferte in seiner Paraderolle als Flamenco-Tänzerin die Vorlage für Gerhard Wendlands populären Schlager »Das machen nur die Beine von Dolores« (1951). Kuno Kruse, der Rubinsteins schillernde Biografie auf der Grundlage zahlreicher Interviews als Buch und Dokumentarfilm verarbeitet hat, macht in seiner Version von Rubinsteins Lebensgeschichte immer wieder deutlich, dass der Rachewunsch – insbesondere nach der Deportation der eigenen Schwester – ein zentraler Faktor für Rubinsteins Handeln war: »In meinem Herzen ist die Rache so groß, daß es will reißen.«28 Das Musical greift diese Motivation in einer Szene auf, in der sich die Wege der Geschwister trennen: »Mein Zug wird in die Vernichtung fahren, deiner in die Rache.«29 Diesem Hauptmotiv folgend bringt die fiktionalisierte Dolores gleich in einer ersten kontrafaktischen Szene in Buenos Aires 1945 nacheinander vier geflüchtete NS-Verbrecher (Eduard Roschmann, Erich Priebke, Berthold Heilig und Ludolf von Alvensleben) um, die sich in der historischen Realität alle der Strafe entziehen konnten. Es folgen weitere Racheakte aus den Kriegsjahren, die allesamt nicht schauspielerisch dargestellt, sondern lediglich erzählt
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Kuno Kruse: Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000, S. 143. Tucké Royale: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet. Berlin: rua. Kooperative für Text und Regie (55 S., nicht paginiert), S. 17.
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werden. Die Opfer werden erwürgt, erstochen, erschossen, vergiftet oder in die Luft gesprengt. Über das gesamte Stück beträgt der body count von Dolores mehrere Dutzend, darunter ausgewiesene Nationalsozialisten, aber auch deutsche Arbeiter, Mütter und Kinder. Begründet werden die Racheakte mal – wie in der Eingangsszene – durch die persönliche Schuld Einzelner, mal lediglich durch die Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Eine Art übergeordnete, mystische Legitimation erhält Dolores’ Rachefeldzug gegen Ende des Musicals durch das auch bei Czollek zu findende Motiv der alliierten Luftangriffe. Als das Berliner Wintergarten Varieté bombardiert wird, heißt es: »Einzig ein Quadratmeter bleibt verschont – der auf dem Dolores steht.«30 In der unmittelbar folgenden Szene überlebt sie, jubelnd angesichts der Zerstörung, über den Dächern Kreuzbergs einen weiteren alliierten Luftangriff. Ihr Überleben wird hier direkt als göttliches Eingreifen markiert. Die Schlussszene des Musicals treibt die kollektive deutsche Haftung für die NS-Verbrechen auf die Spitze und verknüpft in einem längeren Monolog abschließend die Lebensgeschichte von Sylvin Rubinstein mit dem gescheiterten Plan ehemaliger jüdischer Partisanen, sechs Millionen Deutsche durch vergiftetes Trinkwasser umzubringen.31 An diesem Punkt sind auch unschuldige Opfer Teil einer Rechnung, deren Legitimation das Stück unter dem Verweis, man müsse das »mit den Augen der Menschen sehen, die dem Gas entgangen sind«32 , nicht weiter diskutieren möchte. Die letzte Szene ist nicht nur die radikalste in Sachen Rache, hier wird auch abschließend die vierte Wand durchbrochen und das Publikum mehrfach direkt angesprochen. Die Frage, an wen sich das »Ihr« im Titel des Stücks richtet, wird somit aufgelöst. Es ist nicht nur das historische Gegenüber im Handlungshorizont des Musicals, die auftretenden Nationalsozialisten und anderen Deutschen, die in dem Song »Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet« vor Dolores gewarnt werden und im Verlauf des Stücks dutzendweise das Zeitliche segnen. Angesprochen ist ebenso ein zeitgenössisches Gegenüber, also das
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Ebd., S. 51. Vgl. Jim G. Tobias, Peter Zinke: Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2003 sowie Dina Porat: »Die Rache ist Mein allein«. Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam. Aus d. Hebr. v. Helene Seidler. Paderborn: Schöningh 2021. Die Studie von Porat bildete die Grundlage für den Spielfilm Plan A (D, IL 2020, R: Doron & Yoav Paz). Royale: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet, S. 55.
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Theaterpublikum, dessen eingeübter, eingeschränkter Blick auf die Geschichte gleich mehrfach gestört bzw. erweitert werden soll: »Nie mehr werden Sie sagen können, Sie haben von mir nicht erfahren.«33 Über die Figur der Dolores wird im gleichen Atemzug ein wenig bekanntes Kapitel des bewaffneten jüdischen Widerstandes in Erinnerung gerufen und historische Queerness auf die Bühne und ins Bewusstsein gebracht. Auf diese Weise wird die ausschließlich binäre Gegenüberstellung von Täter und Opfer ebenso fraglich wie die von Mann und Frau. Vor allem aber wird auf Opfergruppen (Homosexuelle und sogenannte »Asoziale«) verwiesen, die im Gedächtnistheater selten in Erscheinung treten. Trotz signifikanter Unterschiede in Umfang und Ästhetik ähneln sich beide Texte doch sehr in ihrem affirmativen Umgang mit jüdischer Rache. Dazu gehört auch die Entscheidung, innere Widersprüche, moralische Bedenken und Schuldgefühle aufseiten der Rächer*innen nicht zu thematisieren. Sylvin Rubinstein hat sein Dilemma so beschrieben: »Ich war ein unschuldiger Mann. Aber ich bin schuldig geworden, auch das haben die Nazis gemacht.«34 Zum Ende von Kruses Rubinstein-Biografie heißt es dann: Rache schenkt keinen Frieden. Die toten Gestapo-Männer in Berlin, das Attentat in der Meinickestraße 10, die Handgranaten auf das Deutsche Haus in Krosno in Südpolen, sie können den Gram nicht zersprengen. Nicht das Feuer in den Autos der SS. Nichts kann Rubinstein erlösen. »Ich weiß nicht, was ist mit mir«, sagt der alte Tänzer. »Ich besitze in mir eine große Grausamkeit. Ich kann mich waschen, ich kann mich baden, die Seele kann ich nicht abwaschen. Ich kann nicht abspülen die Rache.«35 Statt die Komplexität von Rache- und Schuldgefühlen als Heimsuchung zu thematisieren, wie es Friedrich Torberg bereits 1943 in der Novelle Mein ist die Rache tat, stellen sowohl Czollek als auch Royale ihre Arbeiten in die Tradition des Spielfilms Inglourious Basterds (US 2009). Quentin Tarantinos historischkontrafaktische Rachefantasie ist durch ihren internationalen Erfolg zur Hauptreferenz für die popkulturelle Bearbeitung jüdischer Rache an den Nazis geworden und hat dem Thema auch in historischer Hinsicht neue
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Ebd. Kruse: Dolores & Imperio, S. 193. Ebd., S. 262–263.
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Aufmerksamkeit verschafft.36 Konnten Czollek und Royale den mit dieser Bezugnahme angedeuteten Ansprüchen gerecht werden? Wie steht es um die Wirkung der beiden so ausdrücklich als provokative Interventionen im Kielwasser Tarantinos platzierten Stücke?
Mächtiger als das Schwert. Kunst als Waffe im 21. Jahrhundert? »The pen is mightier than the sword« – Edward Bulwer-Lyttons in vielen Sprachen redensartlich gewordener Bühnenvers von 1839 postuliert, dass Kunst, und insbesondere Wortkunst, besser geeignet sei, politische Veränderung herbeizuführen, als Gewaltanwendung. Diese Annahme liegt allen Konzepten von engagierter, politischer oder widerständiger Literatur zugrunde. Mit Blick auf den historischen Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker und auf die besondere Rolle des Theaters brachte der jüdische Arzt, Schriftsteller und Kommunist Friedrich Wolf diese Überzeugung 1928 auf die noch kürzere Formel »Kunst ist Waffe!« und nahm unter Berufung auf Emile Zola, Leo Tolstoi, Heinrich von Kleist, Georg Büchner und anderen die Literatur seiner Gegenwart in die Pflicht: Ein Dichter, der heute noch l’art pour l’art […] vollführt, dieser Verse- und Szenenbastler, er ist in unserer Zeit der Arbeitslosenheere, der Mütterselbstmorde und Abtreibungsparagraphen, der Wohnungsnot, Grubenunfälle und Eisenbetongerüste ein Ziseleur, ein Filigranschmied … aber kein Dichter der unsren Tagen etwas zu sagen hat!37 Wenn er sich hingegen den brennenden sozialen Fragen zuwende, sei der Dichter »Zeitgewissen«38 , so Wolf. Auf der anderen Seite fordert er die arbeitende Bevölkerung auf, ins Theater zu gehen und so als Publikum mitzubestimmen, was auf der Bühne gezeigt wird. Seinen eindringlichen Appell beschließt Wolf mit dem direkt an die Arbeiterschaft gerichteten Gedicht »Kunst ist Waffe!«. Dort heißt es unter anderem: »Aufgewacht! Wir reichen 36
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Vgl. Caspar Battegay: Judentum und Popkultur. Bielefeld: transcript 2012, S. 107–115 sowie die Dokumentationen killing nazis. Die Geschichte eines echten »Inglourious Basterd« (D 2013, R: Andreas Kuba) sowie Inglourious Basterds – die wahre Geschichte (ZDF-History 2013). Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe! Eine Feststellung [1928]. In: Ders.: Aufsätze 1914–1944. Berlin: Aufbau 1967, S. 76–96, hier S. 87. Ebd., S. 86.
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euch kein Schlafpülverlein,/Wir stellen euer Leben in Scheinwerferschein,/ Daß ihr’s endlich seht und euer Antlitz sich straffe:/Kunst ist nicht Dunst noch snobistisch Gegaffe,/Kunst ist Waffe!«39 Sind die beiden hier diskutierten, 90 Jahre später entstandenen Theatertexte in diesem Sinne ›waffenfähig‹? Sind Sie geeignet, vielleicht nicht die herrschende Klasse, aber doch die herrschende Meinung, das herrschende Geschichtsbild herauszufordern? Oder sind sie – wie Wolf es formuliert – »das letzte Memento, das leider meist ungehört verhallt bei seinen Zeitgenossen, für die ›Ruhe und Ordnung‹ die höchste Pflicht ist«40 ? Können zwei von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Kunstprojekte überhaupt glaubhaft in die Erinnerungsdiskurse der bundesdeutschen Dominanzgesellschaft eingreifen? Wie lässt sich ihre Interventionskraft beurteilen? Celan mit der Axt wurde an zwei aufeinanderfolgenden Abenden aufgeführt. Von weiteren Aufführungen ist nichts bekannt. Wahrgenommen wurde der Text fast ausschließlich vom lokalen Berliner Feuilleton und im Horizont der Radikalen Jüdischen Kulturtage. Esther Slevogt konnte in der taz weder Czolleks Text noch der Inszenierung etwas abgewinnen. Gerade im direkten Vergleich zu Ben Yishais vorangegangenem Monolog schlage Celan mit der Axt »den Denkraum, den Teil eins eröffnete, […] sofort wieder zu« und beginne »schon nach fünf Minuten mit seiner Lehrplanerfüllungshaftigkeit« zu nerven. »[D]as großspurige Big-Name-Dropping […] lässt keine Haltung erkennen.« Ausgerechnet über die Fassbinder-Kunstfigur Amichai Süß und ihre Rachefantasie breitete die Rezensentin ausdrücklich »den Mantel des Schweigens.«41 Auf nachtkritik.de las Gabi Hift den Monolog mit belustigtem Befremden als »Mutprobe des Autors Max Czollek, der alle heiligen jüdischen Kühe mal am Schwanz ziehen will«, und kam – ebenfalls unter Verweis auf den offensichtlich eindrücklicheren Text von Ben Yishai – zu dem Schluss: Falls es die Absicht dieser Textcollage von Max Czolleck sein sollte, Unbehagen zu wecken, dann hat sie ihr Ziel erreicht. Aber im Gegensatz zum ersten Monolog ist da keine aufrichtige Suchbewegung zu erkennen, keine Aus-
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Ebd., S. 95. Ebd., S. 86. Ester Slevogt: Die Entfesselung der Neurose. In: taz am Wochenende, 4.11.2017, S. 49. ht tps://taz.de/Die-Entfesselung-der-Neurose/!5457376/ (Zugriff am 26.8.2021).
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einandersetzung mit der Situation der Juden in Deutschland heute, nur ein frech erhobener Stinkefinger.42 Etwas wohlwollender äußerten sich Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (»gehobene Comedy im Dienste der Desintegration«43 ) sowie Jamal Tuschick (»Es wimmelt von bemerkenswerten Einfällen und Sätzen.«44 ) und Konrad Kögler45 in ihren Blogposts. Es ist vermutlich kein Zufall, dass Zustimmung und Ablehnung der Rezensent*innen entlang der Geschlechtergrenze verlaufen. Celan mit der Axt erzählt die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte der Nachkriegszeit nahezu ausschließlich über männliche Figuren, ohne diese maskuline Unwucht zu reflektieren. Weder die Aufführung selbst noch die Rezensionen haben indes weiterführende Debatten oder Kontroversen ausgelöst. Czolleks »Aufräumen in den ›Echoräumen‹ der Erinnerung«46 erfuhr keinen größeren Widerhall. Stattdessen bleibt der Eindruck, die aufgestaute Wut, die sich in der Figur Amichai Süß entlädt, sei zwar auf teilweise amüsierte, aber doch weitgehend gleichgültige Ohren gestoßen. Zieht man die unzähligen Rezensionen zu Czolleks im darauffolgenden Jahr erschienenem, breit rezipiertem Essay Desintegriert Euch! hinzu, verstärkt sich der Eindruck, es handele sich bei dieser Gleichgültigkeit vielleicht auch um ein bewusst-unbewusstes Ausblenden unbequemer Aspekte. In seiner Polemik zitiert der selbsternannte »Inglourious Poet« unmittelbar aus dem Monolog des Amichai Süß,47 spricht wiederholt mit Nachdruck und unmissverständlich affirmativ über jüdische Rache, widmet ihr sogar ein eigenes Kapitel – und doch findet Rache nur in einer einzigen Besprechung überhaupt Erwähnung, verbunden mit dem Hinweis, dass Kunst »einseitig, wütend und unfair« sein müsse, ein gesellschaftspolitischer Essay aber gerade
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Gabi Hift: Warum bist du so brutal wütend? In: nachtkritik.de, 2.11.2017. https://nacht kritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=14587&layout=*&Itemid =100190 (Zugriff am 26.8.2021). Dirk Pilz: Macht bloß nicht mit. In: Berliner Zeitung, 4.11.2017, S. 26. Jamal Tuschick: Joghurt im Knobelbecher. In: Der Freitag, 4.11.2017. https://www.freita g.de/autoren/jamal-tuschick/jogurt-im-knobelbecher (Zugriff am 26.8.2021). Vgl. Konrad Kögler: Die Juden-Monologe. In: Das Kulturblog, 3.11.2017. https://daskult urblog.com/2017/11/03/die-juden-monologe-gallige-auffuehrungen-zum-deutsch-ju edischen-verhaeltnis/ (Zugriff am 26.8.2017). Pilz: Macht bloß nicht mit. Czollek: Desintegriert Euch!, S. 91.
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nicht.48 Bei allen anderen Kritiken klafft dort, wo es um jüdische Rache gehen könnte und müsste, eine beredte Leerstelle. Anders als Czolleks Monolog wurde Royales abendfüllendes Musical nicht nur am Gorki-Theater noch mehrere Male aufgeführt, sondern auch in Hamburg, Halle und Frankfurt a.M. gezeigt. Das Stück war Teil eines größeren Projekts des Schwulen Museums Berlin mit dem Titel »Queering Holocaust History. Künstlerisch-wissenschaftliche Interventionen in die HolocaustErinnerungspolitik(en)«.49 Der Interventionsgedanke war dem Stück also von Anfang an explizit mit eingeschrieben. Dennoch scheint die ›Ausbeute‹ auch in diesem Fall vergleichsweise mager. Die verschiedenen Aufführungen wurden zwar in der Presse angekündigt, aber kaum ausführlich besprochen. Berliner Morgenpost und Hamburger Abendblatt beschreiben das Stück in ihren kurzen Besprechungen eher, als dass sie es bewerten.50 Einige weitere Rezensionen in Online-Magazinen und Blogs reichen vom Verriss (»textlich-breiig ausfransendes pseudoechtes oder pseudowahres biografisches Revuetheater«51 ) über den neutralen Bericht (»Einige verließen das Studio sichtlich enttäuscht vorzeitig. Uninteressant war dieses […] Projekt aber keineswegs.«52 ) bis zur wohlwollenden, ausführlichen Darlegung der Intentionen und Ansprüche des Autors und Regisseurs.53 Von Polarisierung, Skandal oder einem nachhaltigen Einfluss auf die öffentliche Debatte ist auch hier allerdings keine Spur. Es liegt durchaus nicht am Thema. Eine erste Rezension des Spielfilms Plan A (D, IL 2020, R: Doron & Yoav Paz), der die bereits erwähnte Geschichte von der geplanten Vergiftung des Trinkwassers in Nürnberg durch die Gruppe Nakam (hebr. Rache) um Abba Kovner erzählt, hat im August 2021 innerhalb
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Claudia Schwarz: Es ist wieder ein Thema, als Jude in Deutschland zu leben. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.8.2018, S. 35. Vgl. https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/buehne_und_bewegung /detail/queering_holocaust_history.html (Zugriff am 26.8.2021). Max Müller: Ein Travestiestar will sich blutig an den Nazis rächen. In: Berliner Morgenpost, 1.11.2017, S. 17; Jüdisches Rachemusical. In: Hamburger Abendblatt, 13.1.2018, S. 25. Andre Sokolowski: Echt oder wahr? In: Kultura Extra, 31.3.2018. https://www.kultura-e xtra.de/theater/spezial/neuestuecke_dolores_gorkiB.php (Zugriff am 26.8.2021). Konrad Kögler: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet. In: Das Kulturblog, 26.10.2017. h ttps://daskulturblog.com/2017/10/26/mit-dolores-habt-ihr-nicht-gerechnet-das-rach e-musical-im-gorki-studio-geht-unerwartete-wege/ (Zugriff am 26.8.2021). Eva Tepest: »Lange Haare, Tangoschritt, da kommt die SA nicht mit«. In: dis:orient, 7.12.2017. https://www.disorient.de/magazin/lange-haare-tangoschritt-da-kommt-di e-sa-nicht-mit
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weniger Tage mehr als 200 Kommentare provoziert – obwohl der Film selbst zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in den Kinos war.54 In den teils hitzigen Wortmeldungen ist die gesamte Bandbreite der Sichtweisen auf jüdische Rache für die Shoah abgebildet: von Verständnis bis Verachtung, von kruden historischen Vergleichen bis zur Warnung vor antisemitischen Nutznießern. Als ähnlich wirkungsvoll hat sich in der jüngeren Vergangenheit auch Arkadij Khaets Kurzfilm Masel Tov Cocktail (D 2019) erwiesen, der aus jüdischpostsowjetischer Perspektive eine mit Czolleks Haltung vergleichbare Wut auf das Gedächtnistheater der deutschen »Dominanzgesellschaft« inszeniert und dafür von genau dieser Gesellschaft mit Preisen und positiven Kritiken regelrecht überhäuft wurde.55 Geschichten von jüdischer Rache generieren also durchaus Aufmerksamkeit und Irritationen – sofern sie im richtigen Medium erzählt werden. Die besondere Macht des Kinos, gegenüber dem Theater ein anderes und größeres Publikum zu erreichen, war auch Friedrich Wolf bewusst. Gegen Ende von Kunst ist Waffe! heißt es: Ihr Arbeiter, herein in den Arbeitertheaterbund […] und vor allem in den Volksfilmverband! Gerade bei dem Film zeigt es sich heute am klarsten, wie sehr Kunst Waffe ist! Um seines Kunstwertes, um seiner schönen Augen willen, hat der Industriemagnat Hugenberg die »Ufa«, diese größte deutsche Filmgesellschaft, gewiß nicht aufgekauft. […] Er erkannte den gewaltigen Machtfaktor, den der Film heute bildet, da täglich Millionen in die Ufa-Theater gehen.56 Hat das Theater als gesellschaftliches Interventionsmedium also ausgedient und muss die kritische Auseinandersetzung um die Art und Weise, was und wie erinnert wird, gänzlich dem Kino überlassen? Nicht unbedingt, wie abschließend ein Beispiel aus Hamburg zeigen soll – dessen Betrachtung allerdings wiederum im Kino beginnt.
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Vgl. Monty Ott: Juden, die Deutsche töten. In: ze.tt, 18.8.2021. https://www.zeit.de/z ett/2021-08/plan-a-film-holocaust-ueberlebende-juden-rache-rezension (Zugriff am 26.8.2021). Arkadij Khaet war mit der einschlägigen Videocollage Punching Nazis ebenfalls 2017 im Programm der Radikalen Jüdischen Kulturtage vertreten. Wolf: Kunst ist Waffe!, S. 93
Gegentheater
Jenseits des Dialogs. Intersektionale Interventionen aus Hamburg In ihrem Grußwort zur Europa-Premiere des Dokudramas Who Will Write Our History? (US 2018, R: Roberta Grossman) beim Filmfest Hamburg sagte die Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank Folgendes: Eine engagierte Erinnerungskultur gehört seit vielen Jahrzenten zu unserem Selbstverständnis. Hamburg verfügt heute über ein dicht gespanntes Netz an öffentlichen Gedenkorten. […] In Reden, Lesungen und anderen Veranstaltungen lassen wir die Geschichte Jahr für Jahr lebendig werden und erinnern an die Opfer von Krieg und Faschismus in dieser Stadt. Das allein reicht aber nicht. Die Frage ist: Wie erreichen wir jene jungen Leute, die keinerlei Bezug mehr haben zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands und zum Holocaust? Jugendliche, in deren Familien unsere Vergangenheit einfach kein Thema ist. Oder die ihre eigene Emigrationsgeschichte mitbringen – aber so gut wie keine Verbindung haben zu dem, was vor zwei, drei Generationen in diesem Land geschehen ist. Wie schaffen wir es, diesen jungen Frauen und Männern unsere Erinnerungskultur nahezubringen? Und wie vermitteln wir ihnen Deutschlands heutige Verantwortung gegenüber Israel? […] Erst vor knapp einer Woche wurde das Helmut-Schmidt-Gymnasium in Wilhelmsburg offiziell zur Partnerschule von Yad Vashem – und das als erste Hamburger Schule. Ein starkes Signal gegen das Vergessen!57 Es gäbe viel zu sagen über die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem deutschen Selbstlob und dem Film, der die Geschichte des jüdischen Geheimarchivs Oyneg Shabbes im Warschauer Ghetto erzählt und gerade nicht die Frage nach »unserem Selbstverständnis« stellt, sondern die nach historiografischer Deutungshoheit und erinnerungspolitischer agency der Verfolgten und Vernichteten.58 Im Fokus steht hier aber ein zweiter irritierender Aspekt, der in Fegebanks Worten zum Ausdruck kommt: das Postulat einer monodirektionalen Sender-Empfänger-Konstellation zwischen einem imaginären Wir
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Grußwort der Zweiten Bürgermeisterin Katharina Fegebank beim Filmfest Hamburg am 30.09.2018 im Metropolis Kino, zitiert nach dem Redemanuskript (meine Hervorhebungen). Vgl. Sebastian Schirrmeister: Dem Archiv entschrieben. Wege aus dem Speichergedächtnis. In: Exilforschung 37 (2019), S. 58–73, v.a. S. 66–71.
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und »jene[n] jungen Leute[n]«, denen es »unsere Erinnerungskultur nahezubringen« und zu »vermitteln« gelte. Diese Sichtweise ist erstaunlich nah an Czolleks Karikatur eines deutsch-jüdischen Wir, das vereint gegen die muslimisch-migrantische Bedrohung in den Krieg zieht – auch wenn Fegebank diese Zuschreibung in Formulierungen wie »eigene Emigrationsgeschichte« und dem Verweis auf den stark migrantisch und muslimisch geprägten Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg verklausuliert. Das erwähnte Helmut-Schmidt-Gymnasium in Wilhelmsburg ist allerdings tatsächlich seit einigen Jahren wiederkehrender Ausgangspunkt für bemerkenswerte Einsprüche im deutschen Erinnerungsdiskurs. Die TheaterAG »Viel Theater um uns« unter der Leitung von Hédi Bouden hat in Projekten wie Kein deutscher Land (seit 2017) über Radikalisierung unter Jugendlichen59 , NEUgeDENKEN (seit 2018) über die Vergegenwärtigung von Shoah-Erinnerung60 und Why Should I Care about Your History? (seit 2019) über die Relevanz und Akzeptanz der Geschichte der ›Anderen‹61 diverse Formen der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Gegenwart nicht nur auf die Bühne, sondern auch in den öffentlichen Raum gebracht. Mit mehr als 30 einzelnen Veranstaltungen (Theateraufführungen, szenischen Lesungen, Poetry Slams, Workshops, Diskussionen und Performances) etwa am 27. Januar oder am 9. November erheben die Schülerinnen und Schüler unter Einbeziehung ihrer diversen familienbiografischen Perspektiven Anspruch auf eine eigene Rolle im »Gedächtnistheater«. In diesem Setting singt schon mal eine kurdische Schülerin mit Hijab auf Jiddisch oder die »Nürnberger Gesetze« werden auf dem Marktplatz in Wilhelmsburg in türkischer Übersetzung verlesen. Ein zentrales Element der Projekte ist die Begegnung und gemeinsame Theaterarbeit mit Jugendlichen aus Israel, bei der divergierende Geschichtsbilder, wechselseitige Ressentiments und Stereotype, aber auch altersgruppentypische Gemeinsamkeiten, Wünsche und Ängste benannt, diskutiert und schließlich in Szene gesetzt werden.62 Die aus diesen Begeg59 60 61 62
Ausführliche Informationen unter https://keindeutscherland.jimdofree.com (Zugriff am 26.8.2021). Ausführliche Informationen unter https://neugedenken.jimdofree.com (Zugriff am 26.8.2021). Ausführliche Informationen unter https://why-should-i-care.jimdofree.com (Zugriff am 26.8.2021). Vgl. den Dokumentarfilm Why Should I Care? (D 2020, R: Martin Steinmann) über die Israel-Reise der Wilhelmsburger Jugendlichen. Trailer unter: https://youtu.be/HQLFV jwdjHY (Zugriff am 26.8.2021).
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nungen entstehenden, kollaborativen Arbeiten richten sich nicht so sehr an ein ›klassisches‹ Theaterpublikum oder an das Feuilleton. Theater ist hier weniger ein heterotoper, abgeschlossener Raum als eine Methode, sich öffentliche Räume anzueignen, »intersektionales Geschichtsbewusstsein«63 zu demonstrieren und z.B. in der Hamburger Innenstadt mit einem Publikum in den Dialog zu treten, das gar nicht vorhatte, ins Theater zu gehen. Für dieses Engagement sind die Schülerinnen und Schüler u.a. mit dem Hamburger Bildungspreis, dem Hildegard Hamm-Brücher Förderpreis und dem BertiniPreis ausgezeichnet worden. Rache oder Versöhnung spielen als Konzepte bei diesen interkulturellen Theater-Projekten interessanterweise keine erkennbare Rolle. Die Abwesenheit des Rache-Themas ist sicherlich nicht nur pädagogisch-didaktischer Zurückhaltung geschuldet, sondern dem Fehlen der dafür notwendigen, eindeutigen u.a. für die Texte von Czollek und Royale strukturell grundlegenden Polarität von Täter und Opfer, Macht und Ohnmacht, deren Umkehrung im Racheakt angestrebt wird.64 Diese eindeutigen Zuordnungen passen hier nicht. Deutsche Jugendliche mit u.a. afghanischen, albanischen, ghanaischen, iranischen, kurdischen, palästinensischen oder tschetschenischen Wurzeln stehen bereits aufgrund ihrer multiplen Zugehörigkeiten jenseits der Grenzen des Dialogs, haben andere Fragen und Assoziationen. Es kann nicht darum gehen, ihnen erstarrte Gedenkrituale beizubringen, sondern darum, ihre diversen Perspektiven in eine lebendige und veränderliche Erinnerungskultur einzuflechten. Die Projekte am Helmut-Schmidt-Gymnasium sind im besten Sinne postmigrantisches Theater in und für eine postnationalsozialistische Gesellschaft. Der Fokus liegt auf der aktualisierenden, ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, nicht auf ihrer Bewältigung. Ein neuerliches FassbinderMoment werden die Schülerinnen und Schüler durch ihre vergleichsweise sanften Interventionen sicher nicht hervorrufen, aber das scheint auch den beiden Gorki-Stücken nicht gelungen zu sein.
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Vgl. Martin Lücke/Astrid Messerschmidt: Diversität als Machtkritik. Perspektiven für ein intersektionales Geschichtsbewusstsein. In: Sebastian Barsch, Bettina Degner, Christoph Kühberger, Martin Lücke (Hg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Zugänge zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik. Frankfurt a.M.: Wochenschau-Verlag 2020, S. 54–70. Zur Polarität von Handeln und Erleiden als Grundstruktur jeglicher Rache vgl. Bernhardt: Rache, S. 65–76.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Luisa Banki, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte, Bergische Universität Wuppertal; Forschungsschwerpunkte u.a.: moderne deutschsprachige jüdische Literatur, Shoah- und Erinnerungsliteratur bes. der dritten Generation, Transkulturalität und Mehrsprachigkeit, Theorien und Praktiken der Lektüre, bes. historische Leserinnenforschung; Publikationen u.a.: Post-Katastrophische Poetik. Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin. Paderborn 2016; Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie (Mit-Hg., Trier 2017); Lektüre und Geschlecht im 18. Jahrhundert. Zur Situativität des Lesens zwischen Einsamkeit und Geselligkeit (Mit-Hg., Göttingen 2020); »Actuality and Historicity in Mirna Funk’s Winternähe«. In: German Jewish Literature after 1990. Hg. v. Katja Garloff u. Agnes Mueller. Rochester 2018, S. 169–186; »Jenseits des Bindestrichs. Zur Transkulturalität deutschsprachiger jüdischer Gegenwartsliteratur«. In: Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien 8 (2021), S. 197–208. Francesco Ferrari, Dr., Koordinator das Jena Center for Reconciliation Studies, Friedrich-Schiller-Universität Jena, und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Religionsphilosophie und Geistesgeschichte, Goethe-Universität Frankfurt; Forschungsschwerpunkte: Versöhnungsbegriff nach Auschwitz in Bezug auf Autor*innen wie: Buber, Jankélévitch, Adorno, Améry, Arendt. Veröffentlichungen u.a.: Einleitung und Herausgeberschaft: Martin Buber Werkausgabe. Vol. 11: Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie. Gütersloh 2019, S. 15–100; Paper: Between Quest for a Heimat and Alienation. Jean Améry’s Journey after Auschwitz. In: Remembering the Holocaust in Germany, Austria, Italy and Israel. Hg. v. Pinto. Leiden 2021, S. 89–98; Vladimir Jankélévitch’s »Diseases of Temporality« and
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Literarische Interventionen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945
Their Impact on Reconciliatory Processes. In: Contemporary Perspectives on Vladimir Jankélévitch. Hg. v. M. La Caze, M. Zolkos. London 2019, S. 95–116. Saskia Fischer, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Sie hat Philosophie, Komparatistik, Kunstgeschichte, Literatur- und Geschichtswissenschaft in Leipzig und Bielefeld studiert und mit der Studie ›Ritual und Ritualität im Drama nach 1945‹ (erschienen bei Fink 2019) in Bielefeld promoviert. Forschungsschwerpunkte u.a.: deutschsprachige jüdische Literatur, Shoah- und Lagerliteratur sowie das Verhältnis von Religion, Ritual und Kunst. Publikationen u.a.: zusammen mit Mareike Gronich, Joanna Bednarska-Kociołek (Hg.): Lagerliteratur. Schreibweisen – Zeugnisse – Didaktik. Berlin/Bern 2021; Performing Guilt: How the Theater of the 1960s Challenged German Memory Culture. In: Katharina von Kellenbach, Matthias Buschmeier (Hg.): Guilt: A Force of Cultural Transformation. New York 2022, S. 205–222; zusammen mit Maria-Sibylla Lotter (Hg.): Guilt, Forgiveness, and Moral Repair. A cross-cultural Comparision. Cham 2022. Ein Folgeprojekt zu ›Revenge, retributive Emotions, Justice and Moral Repair‹ ist derzeit in Vorbereitung. Robert Forkel, Dr., Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Kognitive Literaturwissenschaft, Narratologie, Erinnerungsliteratur. Publikationen u.a.: Erfahrung aus Narration. Erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur. Berlin/Boston 2020; Historisierung. Begriff – Geschichte – Praxisfelder. Stuttgart 2016 (Hg. zus. mit Moritz Baumstark); Literarisches Geschichtserzählen über die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandsaufnahme und Typologie. In: Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert. Hg. v. Daniel Fulda u. Stephan Jaeger. Berlin/Boston 2019. S. 205–228. Anna-Katharina Gisbertz, apl. Prof., Literaturwissenschaftlerin, Universität Mannheim/TU Dortmund, Forschungsschwerpunkte: Zeitwahrnehmung und Erzählformen, Emotionsforschung, Gedächtnisforschung und Traumaliteratur, Literaturvermittlung, Gender Studies. Publikationen in Auswahl: Die andere Gegenwart. Zeitliche Interventionen in neueren Generationserzählungen. Heidelberg 2018; Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne. München 2009; (Hg.) mit Eva-Tabea Meineke u. Gesa zur Nieden: Non-binäre Identitäten und Konzepte in Literatur, Musik und
Beiträgerinnen und Beiträger
Kunst um 1900. Transgressionen. Literatur, Musik und Künste um 1900. Bd. 1. Freiburg i Br. 2022; (Hg.): Das 20. Jahrhundert in zeitgenössischen Generationserzählungen. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen (2020), S. 63–120; (Hg.) mit Sebastian Zilles: Poetische Zeitgenossenschaft: Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann. Dossier. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 49/4 (2019), S. 539–714; (Hg.) mit Eva-Tabea Meineke u. Jacques Le Rider: Wien – Paris. Im Lichte der Fackel von Karl Kraus. In: Études Germaniques 3 (2016), S. 319–425; (Hg.) mit Michael Ostheimer: Geschichte – Latenz – Zukunft. Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur. Hannover 2017; (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. München 2011. Stephan Grätzel, Prof. Dr., 1998–2018 Universitätsprofessor für Philosophie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, leitete den Arbeitsbereich Praktische Philosophie sowie die internationalen Forschungsstellen zu Maurice Blondel und Eugen Fink. Publikationen u.a.: Philosophie des Weins (mit P. Rehm-Grätzel), Würzburg 2022; Versöhnung: die Macht der Sprache. Freiburg 2018; Was soll ich tun? Orientierungen für den Ethikunterricht in der Oberstufe. Göttingen 2009; Grundlagen der Praktischen Philosophie, Bd. 1–4. London 2006–2008; Dasein ohne Schuld. Göttingen 2004; Herausgeber: Michel Henry, Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens. Freiburg 2019; Maurice Blondel, Die Tat, Freiburg 2018; Mitherausgeber der Buchreihe dia-logik, Freiburg 2012ff. Klaus-Michael Kodalle, Prof. Dr. Dr. h.c. – em. Prof. für Praktische Philosophie, Friedrich- Schiller- Universität Jena. Schwerpunkte: politische Philosophie, Ethik, Religionsphilosophie. Publikationen in themenbezogener Auswahl: 1933 – Die Versuchung der Theologie. Berlin 2022; Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. München 2013; Im Rückblick auf die Wende. Wie mit Schuld umgehen. Würzburg 2008; Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens. Schriftenreihe der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Stuttgart 2006; Amnesty-AmnesiaAnamnesis: Temporal Relations and Structural Antagonisms in the Moral Economy of Forgiveness and Reconciliation. In: Maria-Sibylla Lotter/Saskia Fischer (Hg.): Guilt, Forgiveness, and Moral Repair. A cross-cultural Comparision. Cham 2022, S. 133–152; Carl Schmitt und seine Schuld. In: Der Staat 58 (2019), S. 171–193; Macht und Ohnmacht des Verzeihens. In: Psychosozial 154 (2018), S. 50–59; Öffentliche Schuldbekenntnisse im Zwielicht. Anmaßung und Risiko stellvertretenden Handelns in Prozessen der Aussöhnung. In:
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Literarische Interventionen im deutsch-jüdischen Versöhnungsdiskurs seit 1945
Julia Enxing/Jutta Koslowski (Hg.): Confessio. Beiträge des DFG-Netzwerkes Schuld ErTragen, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 2017. Leipzig 2018, S. 17–52; Der Blick in den Abgrund und das Verzeihen – Herta Müller und die Sache »Pastior«. In: M. O’Malley et al. (Hg.): Thüringen: Braucht das Land Versöhnung?, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 17. Würzburg 2017, S. 173–185. Birgit M. Körner, Dr., Literaturwissenschaftlerin, von 2017 bis 2021 Postdoktorandin am Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur der Moderne und Avantgarde, Poetik, deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte 18. bis 21. Jahrhundert, Holocaustliteratur, »jüdischer Humor« nach 1945, Exil- und Migrationsliteratur und Interkulturelle Germanistik. Veröffentlichungen u.a.: Konstruktionen »jüdischen Humors« nach der Schoah – Ephraim Kishon, Friedrich Torberg und die Nachkriegs-BRD. Berlin 2023; Else LaskerSchülers Poetologie im Kontext des Kulturzionismus. Köln u.a. 2017; zuletzt erschienen: »Global Solidarity Is Something to Warm the Cockles of Your Heart« – Holocaust and Genocide in Ephraim Kishon’s »Israeli Satire«. In: Armenian and Jewish Experience between Expulsion and Destruction. Hg. v. Sarah M. Ross u. Regina Randhofer. Europäisch-jüdische Studien – Beiträge, 51. Berlin/Boston 2022, S. 245–265; »Die Welt da draußen ist viel härter als mein Humor« – »Jüdischer Humor« als Gradmesser jüdischer Existenzerfahrung in Europa. In: Yearbook for European Jewish Literature Studies 8 (2021) 1, S. 118–136. Dennis Marten, Dr., Bildungsreferent im medizinischen Bereich, Mainz. Forschungsschwerpunkte: (Jüdische) Religionsphilosophie, Phänomenologie, Ästhetik, Philosophie des 20. Jahrhunderts, praktische Philosophie, Erinnerungskultur(en), Schnittstellen zwischen Theologie und Philosophie, Philosophie und Literatur. Publikationen: Schuld und Sprache. Hermeneutische Überlegungen zu einer schuld- und leidsensiblen Philosophie der Geschichte(n). Baden-Baden 2022; Zwischen Asymmetrie und Dialog. Exteriorität bei Martin Buber und Emmanuel Levinas. In: Im Gespräch. Hefte der MartinBuber-Gesellschaft. Heft 17. Bodenburg 2018, S. 89–116. Bianca Patricia Pick, Dr., Literaturwissenschaftlerin, 2019 bis 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes GutenbergUniversität Mainz; Forschungsschwerpunkte: Shoah- und Exilliteratur, Er-
Beiträgerinnen und Beiträger
innerungsliteratur und Versöhnung, Subjektivierungstheorien. Veröffentlichungen u.a.: Distanz in der Literatur von Überlebenden der Shoah. Jean Améry, Albert Drach, Edgar Hilsenrath, Imre Kertész, Ruth Klüger. Bielefeld 2022; »Ich muß Zustände beschreiben«. Imre Kertész und sein Roman eines Schicksallosen. In: Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft. Göttingen 2020, S. 235–251; »… es gibt keinen neuen Anfang, nur Fortsetzungen«. Nachträgliches Schreiben ohne erzählten Neubeginn bei Ruth Klüger und Imre Kertész. In: Psychosozial 154 (2018), S. 74–88; Das Ressentiment als Bestandteil literarischer Distanzierung. In: Johanna Gehmacher u. Klara Löffler (Hg.): Storylines and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Wien 2017, S. 175–195. Wiard Raveling, Oberstudienrat i.R., Fremdsprachenlehrer, Studium der Philologie, Pädagogik und Philosophie. Publikationen: Rundfunksendungen (u.a. Hörspiel, Feature, Gespräch), z.B. Eine Lange Nacht über Ambrose Bierce für den Deutschlandfunk. Über Vladimir Jankélévitch Radiosendungen für drei deutsche Rundfunkanstalten und für eine französische (France Culture). Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften: sprachliche, philosophische, historische, belletristische, germanistische, humoristische Themen u.a. über Vladimir Jankélévitch in Sinn und Form; über Robert Gernhardt für den Deutschen Germanistenverband; Texte über die beiden kleinsten europäischen Minderheitensprachen Europas, Manx und Saterfriesisch; Beiträge in der Zeitschrift Der neusprachige Unterricht. Bücher: sprachliche, philosophische, humoristische, linguistische Themen, z.B.: Ist Versöhnung möglich? Meine Begegnung mit Vladimir Jankélévitch. Oldenburg 2014; Die englische Sprache einst und jetzt und demnächst. Ort IFB Verlag 2019. Sebastian Schirrmeister, Dr., Literaturwissenschaftler und derzeit Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Understanding Written Artefacts« der Universität Hamburg. Studium der Jüdischen Studien und der Germanistik in Potsdam, Promotion in Hamburg. Fellowships u.a. in Haifa, Jerusalem und Göttingen. Forschungsschwerpunkte: jüdische Literaturen, German-Hebrew Studies, Exilliteratur, Archive, Übersetzung, Rhetorik; Postdoc-Projekt zu Rache in jüdischen Literaturen nach der Shoah. Buchpublikationen: Begegnung auf fremder Erde. Verschränkungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur in Palästina/Israel nach 1933. Stuttgart u.a. 2019; Das Gastspiel. Friedrich Lobe und das hebräische Theater 1933–1950. Berlin 2012.
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Literaturwissenschaft Julika Griem
Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2
Klaus Benesch
Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2
Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
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Literaturwissenschaft Elias Kreuzmair, Magdalena Pflock, Eckhard Schumacher (Hg.)
Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien September 2022, 264 S., kart., 27 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-6385-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6385-7
Renate Lachmann
Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13. Jahrgang, 2022, Heft 1 August 2022, 192 S., kart., 1 Farbabbildung 12,80 € (DE), 978-3-8376-5900-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5900-3
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